Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Auf der Ehrentribüne hat der Präsident der Nationalversammlung der Republik Korea, Herr Park Kwan
Yong, mit einer Abgeordnetendelegation Platz genommen. Ich darf Sie von hier aus im Namen des ganzen
Hauses herzlich begrüßen.
({0})
Unsere beiden Länder verbindet die Erfahrung der Teilung von Staat und Nation. Uns Deutschen war es vergönnt, sie glücklich zu überwinden - in Ihrem Land dauert sie an. Mit umso mehr Interesse und Sympathie
verfolgen und unterstützen wir Ihre Bestrebungen, die
Lasten der Teilung zu lindern und die Chance zu wahren,
die nationale Einheit in Frieden und Freiheit wiederzugewinnen. Ich hoffe, dass Sie diese Anteilnahme bei Ihren Gesprächen und Begegnungen hier in Berlin spüren werden.
Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und wünsche Ihnen
einen angenehmen Aufenthalt in unserem Land.
({1})
Der Kollege Dr. Ingo Wolf hat am 8. November 2002
auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolgerin hat die Abgeordnete Gisela
Piltz am 11. November 2002 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße die neue Kollegin herzlich.
({2})
Nach § 5 Abs. 1 des Gesetzes vom 17. März 2000 entsendet der Deutsche Bundestag in das Kuratorium der
„Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“
seinen Präsidenten sowie je ein Mitglied des Deutschen
Bundestags pro angefangene 100 Mitglieder der im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen.
Die Fraktion der SPD benennt die Abgeordneten
Eckardt Barthel ({3}), Monika Griefahn und
Michael Roth ({4}), die Fraktion der CDU/CSU
die Abgeordneten Karl-Theodor Freiherr von und zu
Guttenberg, Günter Nooke und Annette WidmannMauz, die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den
Abgeordneten Volker Beck und die Fraktion der FDP den
Abgeordneten Hans-Joachim Otto ({5}). Sind Sie
mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Ich höre keinen
Widerspruch. Damit werden die genannten Kolleginnen
und Kollegen als Mitglieder in das Kuratorium der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ entsandt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Aktuelle Vorwürfe
von Verstößen gegen das Parteiengesetz durch mögliche illegale Finanzzuflüsse bei der FDP
2 Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Eckhardt Barthel
({6}), Ernst Bahr ({7}), Hans-Werner Bertl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Antje Vollmer, Grietje Bettin, Katrin Dagmar GöringEckardt, Krista Sager und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN: Den Deutschen Musikrat stärken
- Drucksache 15/48 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({8})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
3 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU : Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile
der Fraktionen im Ausschuss nach Art. 77 Abs. 2 des
Grundgesetzes ({9})
- Drucksache 15/47 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung
der Bundesregierung zur Situation der öffentlichen Haushalte unter Berücksichtigung der zu erwartenden aktuellen
Steuerschätzung und der damit möglichen Notwendigkeit
eines Haushaltssicherungsgesetzes
5 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach,
Hartmut Koschyk, Günter Baumann, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Ersten Gesetzes zur Korrektur des Versorgungsänderungsgesetzes 2001
- Drucksache 15/45 Präsident Wolfgang Thierse
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({10})
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
6 Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Fördern und Fordern
in der Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe
- Drucksache 15/46 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({11})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäßt § 96 GO
7 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer
Brüderle, Gudrun Kopp, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Arbeitnehmerüberlassung
- Drucksache 15/55 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({12})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit
erforderlich - abgewichen werden. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie-
rung
NATO-Gipfel am 21./22. November 2002 in Prag
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Schäuble,
Christian Schmidt ({13}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Die NATO auf die neuen Gefahren ausrichten
- Drucksache 15/44 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({14})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung
hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwölf
Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges hat die Welt für
uns ein anderes Gesicht bekommen. Wo sich früher zwei
Blöcke in militärischer Konfrontation erstarrt gegenüberstanden, sehen wir uns heute mit einer wesentlich komplexeren weltpolitischen Lage konfrontiert. Auf der einen
Seite können wir vor allem in Europa enorme Fortschritte
bei Frieden, Stabilität und Freiheit feststellen. Auf der anderen Seite erfahren wir täglich von neuen regionalen
Konflikten, sozialen Unruhen oder terroristischen Anschlägen.
Spätestens die Schrecken des 11. September 2001 haben uns verdeutlicht, dass wir von diesen Bedrohungen
direkt betroffen sind. Besonders der Terrorismus richtet
sich direkt gegen uns alle, die wir in offenen Gesellschaften leben.
Aber auch regionale Konflikte und soziale Probleme
werden in einer zunehmend globalisierten Welt für uns
zur immer größeren Gefahr. Unsere Landesgrenzen schützen uns vor diesen asymmetrischen Bedrohungen nur sehr
unzureichend.
Unser Ziel ist, dass alle Menschen in Sicherheit und
Freiheit leben können. Terrorismus muss militärisch entschlossen bekämpft werden. Aber gleichzeitig dürfen wir
uns nicht darauf beschränken; sonst droht ein Scheitern.
Wir müssen politische und soziale Konflikte lösen, die
den Nährboden für die Entstehung der Gewalt und des
Terrorismus darstellen.
({0})
Krisenprävention ist genauso wichtig wie Krisenreaktion. Um dies zu erreichen, brauchen wir mehr denn je ein
System globaler kooperativer Sicherheit. Nur über die
Zusammenarbeit von Nationen kann dies umfassend geleistet werden. Nur in multilateralem Rahmen können wir
auf allen relevanten Ebenen entschlossen gegen das Gefährdungspotenzial unserer Zeit angehen. Wir müssen
weg von einer rein militärisch angelegten Reaktion auf
Konflikte und hin zu einem umfassenden Sicherheitsbegriff. Europa und Amerika stehen vor einer neuen, weit
über unsere Kontinente hinausreichenden und politisch
entscheidenden Ordnungsaufgabe.
Vor diesem Hintergrund treffen sich die 19 NATO-Mitgliedstaaten am kommenden Donnerstag in Prag. Für das
transatlantische Bündnis und seine Rolle in einem System
globaler kooperativer Sicherheit beginnt in der tschechischen Hauptstadt eine neue Ära. In Prag werden sich die
Fähigkeiten des Bündnisses zeigen, sich an eine wandelnde Welt anzupassen. Die Allianz wird dort einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Lösung der großen europäischen Sicherheitsfragen vollziehen.
Der Gipfel wird uns nochmals verdeutlichen, dass die
NATO weit mehr als ein reines Verteidigungsbündnis ist.
Sie ist eine über den Atlantik reichende Wertegemeinschaft, die entscheidend zur Sicherheit und Stabilität in
der Welt und zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ihrer Mitglieder beiträgt.
Im Mittelpunkt der Diskussionen werden drei zentrale
Aufgaben stehen: Es geht um die Öffnung der NATO für
neue Mitgliedstaaten, die Beziehungen der NATO zu
ihren Partnern und die Anpassung der NATO an neue Herausforderungen. Alle drei Themen sind für die Zukunft
der Organisation von großer Bedeutung und damit auch
für die deutsche Außenpolitik entscheidend.
Zum zweiten Mal nach Ende des Kalten Krieges öffnet
sich die NATO für neue Mitglieder. Der Konsens der Bündnisstaaten, sieben weitere Staaten zum Beitritt in die Allianz einzuladen, wird immer wahrscheinlicher. 13 Jahre
nach dem Fall der Mauer wird die NATO somit wichtige
Länder in Süd- und Osteuropa sowie das Baltikum in das
Bündnis integrieren. Diese anstehende Erweiterung ist sowohl für die Allianz als auch für die Beitrittskandidaten
selbst ein Erfolg. Sie leistet einen Beitrag zur europäischen
Stabilität, sie festigt die transatlantischen Beziehungen
und sie beschleunigt notwendige Reformen in den Mitgliedstaaten.
({1})
Die nächste Erweiterungsrunde liegt auch in unserem
Interesse. Daher hat der Bundestag im April dieses Jahres
dieser Einladung mit überwältigender und fraktionsübergreifender Mehrheit zugestimmt. Diese Einladung erfolgt
nach gründlicher Evaluierung der Bereitschaft und Fähigkeit der Kandidaten, dem Bündnis beitreten zu können.
Ihr gingen Jahre intensiver Vorbereitung voraus. Deutschland hat dabei aktiv mitgearbeitet. Mit der Entsendung
militärischer und ziviler Berater, mit Materialhilfe und
Ausbildungsunterstützung haben wir dazu einen wichtigen und anerkannten Beitrag leisten können. Zahlreiche
Experten halten viele der heutigen Beitrittsländer für besser vorbereitet als die drei Kandidaten der ersten Erweiterungsrunde 1997.
Alle Aspiranten haben in den vergangenen drei Jahren
Reformen durchgeführt und erhebliche Fortschritte gemacht. Ihre Anstrengungen beschränkten sich nicht nur
auf Strukturreformen im militärischen Bereich. Auch die
Beilegung interner und externer Konflikte, die Durchsetzung von Menschenrechten und die demokratische Kontrolle der Streitkräfte gehörten dazu.
All diese Vorhaben sind noch nicht ganz abgeschlossen. Es ist klar, dass auch die Kandidaten, die in Prag eingeladen werden, diese Anstrengungen fortsetzen müssen.
Die NATO ist keine statische Organisation. Alle ihre Mitgliedstaaten müssen sich fortlaufend neuen Herausforderungen anpassen. Die Beitrittsstaaten werden sich in einem
Schreiben an den NATO-Generalsekretär verpflichten,
ihre Anstrengungen zur Beseitigung noch vorhandener
Defizite auch nach der Einladung fortzusetzen.
Aber nicht alle Staaten, die Mitglied der NATO werden
wollen, können in Prag eingeladen werden. Wir müssen
daher mit den Ländern, die dieses Mal noch nicht dabei
sind, in intensivem Kontakt bleiben. Wir werden sie in der
Erklärung des Prager Gipfels ausdrücklich ermutigen,
ihre Anstrengungen fortzusetzen. Die NATO muss auch in
Zukunft weitere Mitglieder aufnehmen können; ihre Tür
muss offen bleiben. Dies ist für die deutsche Politik von
großer Bedeutung und darüber besteht auch innerhalb der
Mitgliedstaaten Konsens.
Die letzten zehn Jahre haben gezeigt: Die Perspektive
eines NATO-Beitritts hat - dies ist eines der wichtigsten
politischen Ergebnisse; das ist sehr schnell und unmittelbar schon im Beitrittsverfahren deutlich geworden - zu
Konfliktabbau und Konfliktprävention beitragen können.
Diese Aussicht fördert und dynamisiert den Reformkurs
der Kandidaten. Sie trägt zur Stabilisierung von Ländern
und Regionen bei. Eine Erweiterung der Allianz bedeutet
immer auch eine Erweiterung und Festigung der transatlantischen Wertegemeinschaft. Zusammen mit der Erweiterung der Europäischen Union ist sie daher eindeutig
in unserem Interesse.
({2})
Es ist offensichtlich, dass die Frage nach den Beziehungen der NATO zu ihren Partnern außerhalb des
Bündnisses in direktem Zusammenhang zu ihrer Erweiterung steht. Wir müssen neben der Öffnung des Bündnisses auch die Kooperation mit den Staaten in der Nachbarschaft der NATO weiterentwickeln. Zunächst ist hierbei
unsere Zusammenarbeit mit Russland zu nennen. In Prag
wollen sich die Außenminister im Rahmen des NATORussland-Rats mit ihrem russischen Kollegen treffen,
um die Ziele künftiger Zusammenarbeit festzulegen und
das bislang Erreichte zu bewerten.
Insgesamt ist die Bilanz erfreulich. Seit dem Gipfel in
Rom am 28. Mai hat sich unsere Kooperation mit Russland deutlich verbessert. Vieles beurteilen die Partner
mittlerweile einheitlich. Besonders bei der Bewertung der
Lage auf dem Balkan herrscht zunehmend Übereinstimmung mit unseren russischen Partnern. Für gemeinsame
friedenserhaltende Operationen haben wir ein realisierbares Konzept entwickelt. Diese Schritte zu einer engen Kooperation, für die wir uns immer eingesetzt haben, sind
- wer die Vergangenheit kennt, weiß das - eine beachtliche Leistung beider Seiten.
({3})
Sie sollten uns auch in die Lage versetzen, über Mittel und
Wege zur gemeinsamen Lösung von Sicherheitsproblemen zu reden. Unser Ziel ist dabei, zu übereinstimmenden
Beurteilungen zu kommen. Beim Tschetschenien-Konflikt beispielsweise sind wir unverändert der Auffassung,
dass auf der Basis territorialer Integrität, des Kampfes gegen den Terrorismus und der Wahrung der Menschenrechte nur eine politische Lösung zum Erfolg führen kann.
({4})
Die engen Beziehungen zwischen der NATO und Russland sind für Stabilität und Sicherheit im euroatlantischen
Raum von großer Bedeutung. Ihre Intensivierung hat
letztlich dazu geführt, dass die NATO-Erweiterung für
Russland kein ernsthaftes Problem mehr darstellt. Dies
war vor ein paar Jahren noch völlig anders.
Meine Damen und Herren, ein weiterer wichtiger
NATO-Anrainer und -Partner ist die Ukraine. Auch mit
ihrem Kiewer Kollegen wollen sich die Außenminister
der Mitgliedstaaten in Prag treffen, um zu diskutieren, wie
die Ukraine stärker in die euroatlantischen Strukturen eingebunden werden kann. Wir wollen dabei einen Aktionsplan verabschieden, der die Ziele unserer Zusammenarbeit klar definiert. Im Mittelpunkt stehen dabei die
Intensivierung des politischen Dialogs und die Unterstützung der Ukraine bei ihrer Verteidigungsreform.
Dabei werden allerdings auch kritische Punkte in den
Beziehungen zwischen der NATO und der Regierung in
Kiew auf dem Programm stehen. Unsere Zusammenarbeit wird gegenwärtig von dem Vorwurf an Kiew überschattet, Waffen in Krisengebiete exportiert und Technologie illegal an den Irak geliefert zu haben. Wir
fordern von unseren Partnern die Einhaltung des internationalen Rechts und der Beschlüsse der Vereinten Nationen ohne Wenn und Aber. Daran darf es keinen Zweifel geben.
({5})
In Prag wird auch evaluiert, wie die Beziehungen mit
den anderen Partnern in Nachbarschaft zur NATO praktischer ausgestaltet werden können. In den letzten Monaten haben wir gerade mit unseren Partnerländern in Zentralasien intensiv zusammengearbeitet. Wie wichtig
deren Rolle als Bindeglied in Bezug auf Asien ist, hat uns
die Kooperation bei der Krisenbewältigung in Afghanistan gezeigt. Ähnliches gilt für europäische Partnerländer,
mit denen wir beispielsweise im Rahmen der SFOR und
der KFOR ausgezeichnet zusammenarbeiten.
Schließlich wollen wir auch unseren Dialog mit den
Mittelmeerländern aufwerten. In Prag sollen Vorschläge
hierzu vorgelegt werden. Diesem Austausch messen wir
große Bedeutung bei; denn er kann zur Verbesserung der
regionalen Stabilität beitragen und gegenseitiges - ({6})
- Ich kenne das auch mit Megafon, Herr Kauder. Ich kann
aber auch ohne Mikrofon oder Megafon reden.
({7})
- Das meinen Sie doch nicht im Ernst. Also, substanzreich war die Rede. Das können Sie ja wohl nicht bestreiten.
({8})
Ich lasse es mir gern gefallen, wenn Sie ein bisschen
Recht haben; aber da haben Sie wirklich überhaupt nicht
Recht.
({9})
- Das freut mich, dass Sie hier mit spitzen Ohren weiter
lauschen wollen.
({10})
Verehrter Kollege, ich komme nun auf das Thema Mittelmeerländer zu sprechen. Das ist ein wichtiges Thema,
wie mir bei meinem Besuch in Spanien gerade wieder vermittelt wurde, wo es bezogen auf EU und NATO die große
Sorge gibt, dass die regionale Erweiterungsausrichtung
nach Osten und Südosten wirklich zu einer Abwendung
von den Mittelmeerländern führt. In der EU spielt das eine
noch größere Rolle; es ist aber auch im NATO-Zusammenhang wichtig. Deswegen hören Sie gut zu!
({11})
Schließlich wollen wir, verehrter Kollege, auch unseren Dialog mit den Mittelmeerländern aufwerten. In
Prag sollen Vorschläge hierzu vorgelegt werden. Diesem Austausch messen wir aus den Gründen, die ich gerade schon genannt habe, große Bedeutung bei; denn er
kann zur Verbesserung der regionalen Stabilität beitragen und gegenseitiges Verständnis fördern. Allerdings
ist die Bereitschaft zur Zusammenarbeit in diesem Rahmen unmittelbar von der Lage im Nahostkonflikt bestimmt.
In einem dritten großen Themenfeld wollen sich die
NATO-Mitglieder in Prag damit beschäftigen, dass die
heutigen Herausforderungen neue Anpassungen notwendig machen. Nach dem Ende des Kalten Krieges mit Russland tritt die klassische Territorialverteidigung in den Hintergrund. Wir werden uns zunehmend fragen müssen: Wie
reagieren wir in der NATO auf die neuen Bedrohungen?
Wie können wir zu ihrer Bekämpfung, zu ihrer Eindämmung und zur Prävention von Krisen und Konflikten
nachhaltig beitragen?
Seit dem 11. September 2001, seit den brutalen Terroranschlägen in Djerba und Bali haben diese Fragen
eine bedrückende Aktualität. Der Albtraum eines großen
terroristischen Anschlages ist für uns alle erschreckende
Wirklichkeit geworden. Diesen neuen Herausforderungen
muss sich das Bündnis stellen. In Prag muss die NATO daher die notwendigen Prioritäten setzen, um in den
Dimensionen eines umfassenden Sicherheitsbegriffs planen und agieren zu können.
Zum einen wird es in Prag um Möglichkeiten zur Verbesserung der militärischen Fähigkeiten gehen. Neue Gefahren erfordern angemessene Reaktionen der NATOMitglieder. Auf dem Gipfel steht die Initiative des Prague
Capabilities Commitment zum Beschluss an. Sie setzt
klare Prioritäten auf den Ausbau der militärischen Fähigkeiten der NATO-Mitgliedstaaten, etwa die Stärkung der
Verteidigungsfähigkeit gegen Angriffe mit Massenvernichtungswaffen oder die Bereitstellung von sicherer moderner Führungstechnologie, von strategischem Lufttransport und von Aufklärungstechnik.
In diesem Zusammenhang halten wir die amerikanische
Initiative zur Schaffung einer NATO-Response-Force für
einen konstruktiven Vorschlag. Dieser multinationale Ansatz kann dazu beitragen, die heutigen Sicherheitsherausforderungen zu bewältigen und gleichzeitig die integrierten NATO-Strukturen zu stärken. Daher unterstützen wir
den Plan, in Prag einen Auftrag zur Ausarbeitung eines
Konzeptes für diese NATO-Response-Force zu erteilen.
Wir sind allerdings der Auffassung, dass dafür drei Voraussetzungen erfüllt sein müssen: Die Entscheidungen
über Einsätze dieser Truppe müssen dem NATO-Rat vorbehalten bleiben; eine deutsche Beteiligung ist aufgrund
der geltenden Rechtslage nur mit vorheriger Zustimmung
des Bundestages möglich;
({12})
das Vorhaben - das ist ein sehr wichtiger Punkt - muss mit
dem Aufbau europäischer Krisenreaktionskräfte im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vereinbar sein, Doppelungen sollten ausgeschlossen
werden.
({13})
In Prag wird es aber nicht nur um militärische Fähigkeiten gehen. Wenn die Staats- und Regierungschefs die
internationale Lage erörtern, wird es auch darum gehen,
wie Konflikte besser eingedämmt und Krisen verhütet
werden können. Eine kluge Verzahnung von Politik und
Militär - das hat die Erfahrung gerade auch auf dem Balkan gezeigt - kann hier zum Erfolg führen. Der NATOEinsatz in Mazedonien hat uns bewiesen, dass der rechtzeitige, präventive Einsatz von Streitkräften in enger
Abstimmung mit politischen und diplomatischen Initiativen helfen kann, Konflikte auf friedliche Art und Weise
zu lösen, bevor sie gewaltsam eskalieren.
({14})
Wir messen der Weiterentwicklung solcher Strategien
große Bedeutung bei. Vor allem im Rahmen eines umfassenden und effizienten Kampfes gegen den Terrorismus
halten wir diese enge Verzahnung, gründend auf einem
umfassenden Sicherheitsbegriff, für unerlässlich für den
Erfolg.
Meine Damen und Herren, mit der anstehenden Erweiterung, mit der Intensivierung des Dialogs mit unseren
Partnern, mit der Anpassung unserer Mittel und Strategien
an die aktuelle Lage und schließlich mit der Vertiefung
multilateralen, gemeinsamen Handelns stellt die NATO
ihre Dynamik, ihre Flexibilität und auch ihren umfassenden Anspruch unter Beweis, eine transatlantische Wertegemeinschaft zu bilden. Die NATO ist das wichtigste Bindeglied für die Beziehungen im nordatlantischen Raum.
Sie ist Ausdruck der historischen Verbundenheit und des
gemeinsamen Engagements von Europa und Amerika. Sie
ist wichtiger Pfeiler in einem System globaler kooperativer Sicherheit, wie es die Welt heute mehr denn je
benötigt. Die Bundesregierung wird daher die Vorhaben
des Gipfels in Prag nachhaltig unterstützen und an ihrer
Umsetzung engagiert arbeiten.
Ich danke Ihnen.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Tonregie behauptet - ich sage das ganz vorsichtig -, dass das Mikrofon wieder geht. Lieber Kollege Schäuble, wollen Sie es
probieren? Wir können nur durch Probieren herausfinden,
ob diese Behauptung stimmt.
({0})
Ich erteile Ihnen also hiermit das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es hallt ein wenig nach; aber das Mikrofon scheint zu
funktionieren.
Die Regierungserklärung, die wir soeben vom Bundesaußenminister vorgetragen bekommen haben, hat wenig Falsches enthalten.
({0})
All dem, was Sie zum Thema Erweiterung gesagt haben,
das in der Planung für Prag ursprünglich das Hauptanliegen des NATO-Gipfels gewesen ist, stimmen wir zu, auch
was die Beziehungen zu Russland anbetrifft; ebenso findet das, was Sie zu Tschetschenien gesagt haben, im
Grundsätzlichen unsere Zustimmung.
({1})
Unsere Zustimmung findet, Herr Bundesaußenminister, auch Ihr Satz, dass der Prager Gipfel angesichts neuer
Bedrohungen für Frieden und Sicherheit die angemessenen Prioritäten setzen muss. Aber Ihre Regierungserklärung hat die angemessenen Prioritäten unter diesem
Gesichtspunkt in keiner Weise gesetzt.
({2})
Die eigentliche Frage ist - deswegen wird der Prager
Gipfel wirklich eine entscheidende Bedeutung für die
weitere Entwicklung der atlantischen Gemeinschaft haben -, ob wir in der Lage sind, das transatlantische Verhältnis so auszubauen und weiterzuentwickeln, dass es
Frieden und Sicherheit für uns alle in der Zukunft schützen kann. Gegen dieses Ziel ist in den vergangenen Monaten schwer verstoßen worden. Deswegen wird sich auf
dem Prager Gipfel zeigen, ob es gelingt, die Störungen im
transatlantischen Verhältnis, für die niemand mehr Verantwortung trägt als diese Bundesregierung, zu beseitigen, oder nicht.
({3})
Das Wort Irak, Herr Bundesaußenminister, ist in Ihrer
Regierungserklärung nicht vorgekommen. Ich sage Ihnen
voraus: Sie werden in Prag auf dem NATO-Gipfel nicht
darum herumkommen, sich mit der Problematik des Irak
zu beschäftigen. Deshalb hätten Sie dem Deutschen Bundestag dazu etwas sagen müssen.
({4})
Ich lese heute in einem Interview des Bundeskanzlers
- darüber muss gesprochen werden -, dass er auf die
Frage, ob die Deutlichkeit, mit der Ihre Position zu Irak
artikuliert wurde, eine symbolische Bedeutung gewonnen
habe und ob das nicht als eine Zäsur im Verhältnis zu den
USA verstanden worden sei, geantwortet hat: Nein, denn
das lag in der Konsequenz unserer neuen Außenpolitik.
Was, bitte, ist diese neue Außenpolitik?
({5})
Ist diese neue Außenpolitik, dass wir den Menschen in
Deutschland einreden, Frieden und Sicherheit wären für
uns in Deutschland nicht mehr bedroht, wenn wir uns nur
so verhalten, als wären wir in einer Nische und als würden die Gefahren nur irgendwo anders eintreten? Dann
müssen Sie aber den Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, Hanning, stoppen, damit er nicht mehr jeden Tag
neue Meldungen lanciert, dass der nächste terroristische
Anschlag bei uns in Deutschland drohen kann. Es kann
nur das eine oder das andere die Wahrheit sein.
Ich fürchte, Herr Hanning hat mit seiner Lageanalyse
Recht. Ich fürchte, dass das Tonband, das wir gerade über
al-Dschasira wahrscheinlich von Bin Laden gehört haben, auch bestätigt, dass die Gefahr des internationalen
Terrorismus viel größer ist, dass wir davon betroffen sind
und dass wir uns nur durch eine Stärkung der NATO sowie der europäischen und der transatlantischen Zusammenarbeit dagegen schützen können. Dann darf man diese
Bindungen aber nicht mit „neuer Außenpolitik“
schwächen. Das ist der falsche Weg.
({6})
Das sagen wir nicht aus Solidarität mit unseren amerikanischen Partnern, sondern aus Eigenverantwortung und
Eigeninteresse im Blick auf die Zukunft unseres Landes
und die Sicherheit der Menschen, die uns als Politiker insgesamt und Ihnen als Regierung in besonderer Weise anvertraut sind.
Das eigentlich Problematische ist Folgendes: Aufgrund der Auflösung von staatlichen Strukturen, der vielfältigen Ursachen für Spannungen, die es in der Geschichte der Menschheit immer gegeben hat und die mit
den neuen technischen Möglichkeiten noch verstärkt werden, aufgrund der Tatsache, dass Massenvernichtungswaffen immer mehr verbreitet werden, dass Trägertechnologien in der Lage sind, die Gefahren von jedem Punkt
der Erde an jeden anderen Punkt zu transportieren, und
dass die alten Formen von Sicherheit nicht mehr funktionieren, wird in Amerika über die Frage der nationalen
Sicherheitsstrategie eine intensive Debatte geführt.
Sie lassen zu, dass über diese Gefahren, die sich auch
für uns aus der Kombination von internationalem Terrorismus, Massenvernichtungswaffen und Trägertechnologien ergeben, bei uns keine ernsthafte und substanzielle
Debatte geführt wird. Sie müssen sich auf dem NATOGipfel in Prag mit diesen Fragen beschäftigen. Das sind
die eigentlich entscheidenden Fragen für die Zukunft hinsichtlich Frieden, Freiheit und Sicherheit für die Menschen in Deutschland und in Europa.
Sie haben in den letzten Monaten in einer unverantwortlichen Weise Kriegsangst und Antiamerikanismus
geschürt und ausgebeutet.
({7})
- Ich habe eine Mappe von entsprechenden Zitaten vor
mir liegen. Ich kann sie Ihnen vorlesen, wenn Sie sie
hören wollen. Wir brauchen nicht darüber zu streiten, dass
es so gewesen ist.
Indem Sie so gehandelt haben - das will ich Ihnen jetzt
vorhalten -, haben Sie etwas viel Schlimmeres gemacht:
Sie haben nämlich verhindert - Sie leisten mit dieser Art
Regierungserklärung auch einen Beitrag dazu -, dass in
Deutschland ernsthaft darüber diskutiert wird, worin die
Gefahren für uns liegen und was wir tun müssen, damit
wir auf die bestmögliche Weise Vorsorge zur Vermeidung
dieser Gefahren treffen. Das ist das eigentliche Problem.
({8})
Sie tun so, als wäre das Handeln der Verantwortlichen
in den Vereinigten Staaten von Amerika, die sehr viel
mehr Verantwortungsbereitschaft gezeigt und Vorsorge
getroffen haben, als Sie es in den letzten Monaten getan
haben und in Ihrer Regierungserklärung zum Ausdruck
gebracht haben, die eigentliche Gefahr für den Frieden in
der Zukunft.
({9})
- Natürlich, damit wird doch an den Antiamerikanismus
appelliert.
Wenn man den Artikel liest, den der frühere Staatsminister im Kanzleramt, Herr Naumann, dieser Tage in der
„Zeit“ veröffentlicht hat, dann erkennt man, dass die politische Linke einen Generalangriff gegen die Grundlagen
des Bündnisses zwischen Amerika und Europa führt. Das
ist offenbar die neue Außenpolitik.
({10})
Sie haben nicht ein einziges Wort zu der Frage gesagt,
die für eine verantwortungsvolle Sicherheitspolitik entscheidend ist: Wie können wir angesichts der Bedrohungen durch Massenvernichtungswaffen, Terrorismus und
Trägertechnologien in der Zukunft Sicherheit gewährleisten? Die alte Form der Abschreckung kann dies nicht
mehr leisten. In Amerika wird über die neue Sicherheitsstrategie diskutiert. Sie aber weisen das von sich, indem
Sie davon sprechen, dass jemand Präventivschläge durchführen wolle. Man kann diese Gefahren aber nur vermeiden, indem man Anschläge und den Einsatz von Massenvernichtungswaffen verhindert. Mit Vergeltung, also
einem Zweitschlag, schützen Sie unsere Bevölkerung
nicht. Deswegen muss eine entsprechende Debatte in Prag
und in Deutschland geführt werden. Dazu haben Sie kein
Wort gesagt. Das ist das eigentliche Problem.
({11})
- Damit es alle hören - eigentlich darf er von der Regierungsbank keine Zurufe machen -, wiederhole ich den
Zuruf des Außenministers. Er hat mich gefragt, ob ich für
Präventivschläge sei. Ich frage zurück: Ist das die ganze
Antwort der Bundesregierung?
({12})
Ich frage Sie: Was unternehmen Sie gegen die Bedrohung,
dass biologische Kampfstoffe demnächst vielleicht eingesetzt werden? Wir haben in Deutschland beispielsweise
noch nicht einmal ausreichend Impfmittel gegen Pocken.
Was unternehmen Sie gegen die Gefahr, dass schmutzige
Atomwaffen eingesetzt werden? Was unternehmen Sie
gegen die Gefahr, dass demnächst mit neuen Raketen, die
es überall gibt, von irgendeinem Ort Anschläge verübt
werden? Bin Laden - ich gehe davon aus, dass er auf dem
Tonband zu hören ist - hat angedroht, dass Deutschland
demnächst von einem Anschlag betroffen sein könnte.
Wie wollen Sie im Hinblick darauf Vorsorge treffen? Sie
aber antworten auf diese Fragen nur mit dem Zuruf, ob ich
für Präventivschläge bin.
({13})
Das ist zu wenig und reicht hinten und vorne nicht.
({14})
Das ist Ausdruck Ihrer Politik.
Ich sage es noch einmal: Das Schüren von Antiamerikanismus hat in Wahrheit zur Folge, dass wir eine realistische Bedrohungsanalyse in Deutschland nicht vornehmen. Damit werden wir unserer Verantwortung für die
Sicherheit unseres Landes nicht gerecht. Über diese Fragen muss in Prag gesprochen werden.
({15})
Sie haben kein Wort zum Thema Irak gesagt, obwohl
sich in diesen Tagen erweist, dass diejenigen Recht gehabt
haben, die in einer Kombination aus Druck und Handeln
der Vereinten Nationen am ehesten die Chance gesehen
haben, eine militärische Eskalation zu vermeiden. Deswegen muss man einen Tag, nachdem der Irak die Resolution des UN-Sicherheitsrates akzeptiert hat - wir wissen natürlich, dass Saddam Hussein in den nächsten
Wochen und Monaten sein Spiel weitertreiben wird -, einmal seinen Dank sagen und Respekt dafür zeigen, dass unter amerikanischer Führung dieser große Erfolg erreicht
worden ist, anstatt kein Wort dazu zu sagen. Darauf werden Sie in Prag eine Antwort geben müssen.
({16})
Ich habe öffentlich darauf hingewiesen - ich habe mich
dafür eingesetzt; Sie sind ja schließlich die Regierung unseres Landes -, dass Sie mit unserem wichtigsten Verbündeten vernünftige Beziehungen haben müssen.
({17})
Nur, welche Pressearbeit machen Sie im Hinblick auf
Ihre Hofschranzen!
({18})
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Im Fernsehen war zu sehen, dass der Außenminister bei Colin Powell war. Colin
Powell hat ihn mit dem seltenen amerikanischen Gruß begrüßt: „Good to see you!“ Bereits daraus ist die Meldung
gemacht worden: Das war eine Liebeserklärung zwischen
zwei Außenministern.
({19})
- Herr Bundesaußenminister, es wäre schön gewesen,
wenn Sie uns in Ihrer Regierungserklärung, die Sie zu
Beginn der heutigen Bundestagssitzung abgegeben haben, ein paar substanzielle Auskünfte gegeben hätten, anstatt hier ein so nichtssagendes und allgemeines Larifari
zu verlesen, dass sogar das Mikrofon verzweifelt.
({20})
Der Verteidigungsminister war jetzt bei Herrn Rumsfeld.
Es ist in Ordnung, dass die miteinander gesprochen haben.
({21})
Wenn aber der amerikanische Verteidigungsminister auf
die Frage, wie die deutsch-amerikanischen Beziehungen
jetzt seien, mit sarkastischem Lachen sagt: „Unpoisoned!“,
dann sollten Sie daraus keine großen Erfolgsmeldungen
machen, sondern begreifen, welchen Substanzverlust Sie
den deutsch-amerikanischen Beziehungen, der europäischen Handlungsfähigkeit und damit den Zukunftsinteressen unseres Landes zugefügt haben.
Ich sage noch einmal: Ich wünsche mir, dass es ordentliche Beziehungen gibt. Sie sind die Regierung unseres Landes. Sie sollten sich nicht lächerlich machen. Die
Art, wie Sie sich jetzt in Amerika aufführen, macht Sie
lächerlich. Ich möchte nicht, dass unser Land eine lächerliche Regierung hat. Sie ist schlecht genug und die Zeiten
sind sehr ernst.
({22})
Sie werden auf dem Gipfel in Prag nicht darum herumkommen, auf die neuen politischen Bedrohungen
Antworten zu geben. Der Verteidigungsminister hat dieser Tage in einer Fernsehsendung - das ist mir berichtet
worden; ich selber habe sie nicht gesehen - gesagt, er habe
es satt und er wolle jetzt keine Fragen mehr dahin gehend
beantworten, was wäre, wenn. Sie haben einen ganzen
Wahlkampf damit geführt, dass Sie Fragen beantwortet
haben, die niemand gestellt hat. Sie haben sich dabei
ziemlich lächerlich gemacht.
({23})
Es geht um die politische Unterstützung der Politik
der Vereinigten Staaten und des Atlantischen Bündnisses. Dazu muss in Prag eine klare Auskunft gegeben
werden. Ansonsten wird der Gipfel in Prag in Bezug auf
die Entwicklung der atlantischen Gemeinschaft zwar
eine Weichenstellung darstellen, aber eine zum Schlechteren.
Wenn Sie jetzt die Entschließung des UNO-Sicherheitsrats begrüßen - das tun Sie ja -, dann müssen Sie folgende Frage beantworten, und zwar jetzt - das ist keine
Was-wäre-wenn-Frage, aber das ist eine Frage an die
Bundesregierung, die weder im Ausschuss noch im Plenum beantwortet worden ist -: Wird die Bundesregierung,
die den Beschluss des Weltsicherheitsrats unterstützt,
auch die ernsten Konsequenzen, die der Weltsicherheitsrat formuliert hat, unterstützen und mittragen, ja oder
nein? Sie wollen Ihre eigenen Wähler täuschen; das ist der
Punkt. Sie müssen diese Frage beantworten.
({24})
Dann müssen Sie in Prag noch etwas tun. Sie dürfen
nicht nur sagen: Wir werden den Auftrag erteilen, eine
Konzeption für die NATO-Reaction-Force zu entwickeln. Wenn - und weil - die technologische Lücke zwischen beiden Seiten des Atlantiks immer größer wird, besteht die Gefahr, dass die NATO in Zukunft nicht mehr die
Schutzfunktion für uns leisten kann, wie dies bisher der
Fall gewesen ist. Dabei gibt es zwei Gefahren:
Erstens. Die militärischen Fähigkeiten und die technologische Entwicklung sind so unterschiedlich, dass die
Zusammenarbeit immer schwerer wird.
Zweitens. Das größere Problem ist - davon habe ich
gesprochen -, dass wir zu keiner gemeinsamen Bedrohungsanalyse und zu keiner Klärung der politischen
Grundlagen dessen, was für die zukünftige Sicherheit notwendig ist, mehr fähig sind.
Wenn Sie die Lücke in den technologischen Fähigkeiten schließen wollen, dann ist die NATO-Reaction-Force
ein guter Ansatz. Dann darf man aber nicht sagen: Das
prüfen wir einmal und dann werden wir sehen, wie wir es
mit den ESVP-Strukturen kompatibel machen können.
Das bekommen Sie mit der Art, in der Sie zurzeit Ihre Sicherheitspolitik betreiben, nicht hin. Beides steht nur auf
dem Papier, dann ist es natürlich auch kompatibel. Beides
muss aber in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Die
Helsinki-Komponente müsste schon längst umgesetzt
worden sein.
Demnächst führen wir die Haushaltsdebatte. Unsere
wichtigsten europäischen Verbündeten erhöhen ihren ohnehin höheren Anteil der Verteidigungsausgaben am
Bruttoinlandsprodukt in den nächsten Jahren. Frankreich
steigert ihn wesentlich, Großbritannien noch mehr. In
Deutschland aber sinkt nach dem Stand der Planungen der
Bundesregierung der Anteil des Verteidigungshaushalts
am Bruttoinlandsprodukt weiter. Man wird Sie in Prag danach fragen und wenn Sie keine befriedigende Antwort
geben können, schwächen Sie die NATO. Das ist der
falsche Weg; denn wir brauchen die NATO, um auch in
Zukunft Frieden und Sicherheit zu bewahren.
Wir müssen mit unseren technologischen Fähigkeiten
einsteigen. Dazu brauchen wir auch eine Bundeswehrreform. Das Entscheidende aber ist, dass wir den politischen Willen haben, die Wahrung der Sicherheit auch in
Zukunft als prioritäre Aufgabe zu begreifen und die wirklichen Bedrohungen nicht zu verharmlosen oder wegzureden. Wir müssen sie ernst nehmen und ihnen ins Auge
schauen, um dann auch das Menschenmögliche an Vorsorge zu treffen. Das ist die Weichenstellung, das ist der
Auftrag für den NATO-Gipfel in Prag.
Sie haben dazu kein Wort gesagt und das macht mich
besorgt. Ich bin während Ihrer Regierungserklärung ganz
unglücklich geworden. Ich habe Ihnen vor ein paar Wochen gesagt, dass wir Ihnen nicht den Weg verstellen werden, wenn Sie nach dem unverantwortlichen Wahlkampf,
den Sie geführt haben, zu den Grundlinien der Außenund Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland,
die wir über Jahrzehnte gemeinsam formuliert haben,
zurückkehren wollen. Das können wir gar nicht und das
wollen wir auch gar nicht, weil uns die Zukunft unseres
Landes wichtiger ist als kleinliche parteipolitische Auseinandersetzungen.
({25})
- Wenn Sie sich so echauffieren, dann legen Sie doch einfach einmal die Zeitung weg, dann können wir uns ein
bisschen auseinander setzen. Es gibt doch ein paar Mindestvoraussetzungen.
({26})
Dass Sie Zeitung lesen, ist egal, aber dann machen Sie
auch keine Zwischenrufe. Lassen Sie sich doch beim Zeitunglesen nicht stören!
({27})
Ich will Ihnen sagen, was mich wirklich besorgt
macht: Unser Land befindet sich in einer ungewöhnlich
schwierigen Lage. Das Problem ist übrigens nicht das
verantwortungslose Gerede von Bundeskanzler und
führenden Mitgliedern der Bundesregierung in den letzten Monaten.
({28})
Das Problem, Herr Fraktionsvorsitzender Müntefering,
ist, dass die Bundesrepublik Deutschland in Amerika und
in vielen anderen Ländern der Welt als ein Absteigerland
angesehen wird. Die Kombination von der wirtschaftlichen Lage und den wirtschaftlichen Perspektiven und
dieser außenpolitischen Unzuverlässigkeit ist das eigentliche Problem für Deutschland. Dabei wird einem angst
und bange.
({29})
Glauben Sie doch nicht, dass wir Freude daran haben,
dass diese Regierung von Tag zu Tag immer mehr taumelt
und nicht die geringste Idee entwickelt!
({30})
Auch wir lesen gelegentlich Zeitung, allerdings nicht
dann, wenn wir Zwischenrufe im Bundestag machen. Machen Sie sich doch nicht lächerlich!
({31})
- Ich sage doch etwas zur Sache. Dieses Land braucht
eine Regierung, die wirklich weiß, was sie will, und die
verstanden hat, was die Stunde geschlagen hat.
({32})
- Sie haben die Wahl gewonnen, deswegen bilden Sie ja
auch die Regierung. Ich möchte nur nicht, dass sich die
Regierung so lächerlich macht, wie sie es in den letzten
Wochen getan hat.
Ich möchte, dass die Regierung endlich die eigentlichen Aufgaben in diesem Land annimmt. Deswegen
sage ich: Ein noch größeres Problem als die außenpolitische Unzuverlässigkeit der Regierung ist, dass Deutschland in den Augen anderer in seinen wirtschaftlichen
Fähigkeiten immer schwächer beurteilt wird. Wir werden
einen hohen Preis bezahlen; das können wir jeden Tag an
jedem Punkt sehen. Deswegen ist meine Bitte: Wenn Sie
schon finanz-, wirtschafts- und sozialpolitisch unfähig
sind, die Probleme zu lösen, dann kehren Sie doch wenigstens auf dem Prager Gipfel zu den Minimalia einer
den Zukunftsinteressen unseres Landes entsprechenden
Außen- und Sicherheitspolitik zurück!
Die Wahlentscheidung ist getroffen. Wir akzeptieren
sie: Wir sind in der Opposition, Sie sind an der Regierung.
Wir möchten aber, dass Sie ein bisschen besser regieren.
Eine so perspektivlose, konzeptionslose und substanzlose
Politik hat dieses Land nicht verdient.
({33})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Markus Meckel,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schäuble, was Sie
eben hier dargestellt haben, ist in meinen Augen wirklich
zutiefst erschütternd,
({0})
weil Sie das transatlantische Verhältnis auf „Bild“-Zeitungs-Niveau dargestellt haben. Das ist den Fragen, vor
denen wir stehen, in keiner Weise angemessen.
({1})
Ich habe den Eindruck, dass Sie nicht verkraften, dass
die Bevölkerung unseres Landes gerade in außenpolitischen Fragen zu 80 Prozent hinter der Bundesregierung
steht.
({2})
Sie verkennen deutlich, was die Bundesrepublik Deutschland an internationaler Verantwortung in den letzten Jahren wahrgenommen hat, zurzeit wahrnimmt und was sie
demnächst in Afghanistan im Rahmen der ISAF mit der
Fortsetzung von Enduring Freedom an Verantwortung
übernehmen wird. 10 000 deutsche Soldaten befinden
sich auf der Grundlage von UNO-Beschlüssen in verschiedenen NATO-Einsätzen. Sie nehmen diese Aufgabe,
die mit großen Risiken verbunden ist, aufgrund eines Beschlusses und unter Führung dieser Bundesregierung
wahr. Ich glaube, das haben Sie völlig aus dem Blick verloren.
({3})
Sie sprachen über Stimmungen im transatlantischen
Verhältnis. Darüber können wir auch in der „Bild“-Zeitung lesen, das ist dieser Frage allerdings keineswegs angemessen. Hier geht es um strategische Interessen und darum, wie wir auf der Grundlage unserer gemeinsamen
Werte im transatlantischen Verhältnis und im Westen gemeinsam den Schwierigkeiten der sicherheitspolitischen
Herausforderungen unserer Zeit gerecht werden. Es ist
keine Frage: Das ist für uns alle nicht einfach.
Sie haben hauptsächlich über den Irak und wenig über
den NATO-Gipfel gesprochen. Gerade hier wird aber
deutlich, wie wichtig die Diskussionen der vergangenen
Wochen und Monate waren und gerade sie der Hintergrund der UN-Resolution sind. Die Resolution entspricht
mit Sicherheit nicht der Linie von Herrn Cheney; denn er
hat in seiner Rede von ganz anderen Kategorien gesprochen. Er sprach von einem Regimewechsel im Irak als
Ziel und nicht von der Vernichtung von Massenvernichtungsmitteln. Dies ist aber die Bedrohung, auf die die
UN-Resolution eingeht, und zwar multilateral und nicht
unilateral.
({4})
Diese Diskussion hat übrigens die Reaktion der Bundesregierung hervorgebracht.
Ich halte es für ausgesprochen wichtig, dass wir in der
Frage der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen
differenzierter miteinander reden. Es ist gar keine Frage,
dass der Irak eine ganz zentrale Bedrohung darstellt, auf
die der UN-Sicherheitsrat jetzt - ich denke, in angemessener und erstaunlich geschlossener Weise - reagiert hat.
Wir können nur hoffen, dass dies zum Erfolg führt. Das ist
aber nicht das Einzige, was mit dem internationalen Terrorismus zu verbinden ist. Natürlich haben wir alle die
Schreckensvorstellung, dass Terroristen Massenvernichtungswaffen in die Hand bekommen. Im Augenblick gibt
es aber kaum Belege dafür. Die Verbindung zwischen
al-Qaida und dem Irak ist bisher nicht in der Weise, wie
manche es glauben, nachgewiesen. Gleichzeitig aber
muss man deutlich sagen, dass die Möglichkeit eines
Militärschlags gegen den Irak die Gefahren des internationalen Terrorismus erhöht.
({5})
Dies birgt die Gefahr, dass die internationale Koalition gegen den Terrorismus zerbricht.
Das alles müssen wir uns deutlich machen. Es gibt ein
Spannungsverhältnis und keine einfache Linie, aufgrund
deren man sagen kann: Führer - USA - geh voran, wir folgen dir.
({6})
Das geht nicht. Wir brauchen eine eigene Bedrohungsanalyse und diese ist die Grundlage der Position der Bundesregierung.
({7})
Dazu haben wir in den letzten Wochen durchaus eine
ganze Menge sehr Klares gehört.
Wenn es um Massenvernichtungswaffen geht, geht es
eben nicht zuerst um einen Militärschlag, sondern um
Nonproliferation, die Stärkung internationalen Rechts
und Rüstungsbegrenzung. Dies sind die Instrumente, die
wir stärken müssen. Wir müssen versuchen, alle Beteiligten dazu zu gewinnen, daran möglichst entschlossen und
geschlossen teilzunehmen.
({8})
Natürlich stehen wir gerade angesichts der Militärstrategie der USA vor einer strategischen Diskussion im
Rahmen der NATO. Es ist schon die Frage, wie wir als
NATO auf diese US-Militärstrategie reagieren und ob
man auf Gefahren mit präventiven Schlägen reagiert. Herr
Schäuble, diese Frage ist legitim. Darüber müssen wir
miteinander sprechen. Wir müssen auch darüber reden,
wie dies mit dem Völkerrecht vereinbar ist. Ich sehe jedenfalls nicht, dass die NATO sich darauf einigen könnte,
dieser amerikanischen Strategie einfach zu folgen. Sagen
doch auch Sie das ehrlich oder sagen Sie, dass Sie das
wollen! Lassen Sie uns eine ernsthafte Debatte führen, in
der nicht einfach nur der Bundesregierung unverantwortliches Handeln vorgeworfen wird! Dies kann ich in keiner
Weise akzeptieren, weil es der Sache nicht gerecht wird.
({9})
Kollege Meckel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schäuble?
Ja.
Herr Kollege Meckel, könnten wir nicht einfach danach
fragen, was wir tun können, um Vorkehrungen gegen die
Bedrohungen durch Terrorismus, Massenvernichtungswaffen und Trägertechnologien zu treffen? Bevor wir
diese Fragen beantwortet haben, sollten wir nicht danach
fragen, was alles nicht geht. Ich kenne in Deutschland
viele Debatten darüber, was alles nicht geht. Mir fehlen
aber die Antworten, was geht. Meine Frage ist: Was kann
zum Schutz gegen die neuen Gefahren getan werden?
({0})
Herr Kollege Schäuble, dazu kann man eine ganze
Menge sagen. Übrigens ist auch eine ganze Menge getan
worden. Dem Terrorismus kann eben nicht nur militärisch
begegnet werden. Sowohl die Europäische Union als auch
die USA haben sehr viel getan: in Fragen der Geheimdienstkooperation und in Fragen der inneren Sicherheit,
die von der äußeren Sicherheit nicht zu trennen ist.
Gleichzeitig geht es um Proliferationsfragen.
Hier aber geht es zuallererst um die Stärkung des internationalen Rechtes und hier sind viele Fragen offen.
Übrigens sind auch auf internationaler Ebene manche
Dialoge offen, die wir intensiv miteinander führen müssen. Das betrifft dann auch manche Großmacht.
({0})
Es muss ganz klar gefragt werden: Inwieweit stärken wir
gemeinsam dieses internationale Recht? Ich bin der festen
Überzeugung, dass wir gerade auch in der NATO zu einer
Debatte darüber kommen müssen.
Kollege Meckel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen von Klaeden?
Ja.
Herr Kollege Meckel, Sie sprechen von der Stärkung des
internationalen Rechts. Sind Sie auch bereit, sich an der
Durchsetzung des internationalen Rechts zu beteiligen?
Verehrter Kollege, die deutschen Soldaten tun dies in
wichtigen Zusammenhängen der internationalen Sicherheit
({0})
mit 10 000 Soldaten. Diese Zahl übersteigt bisherige Vorstellungen weit. Jetzt übernehmen wir gemeinsam mit den
Niederländern die Führung von ISAF in Afghanistan.
Dies ist wahrhaftig ein Beweis dafür, dass wir genau dazu
bereit sind.
({1})
Meine Damen und Herren, ich will in der mir verbleibenden Redezeit auch noch auf Prag zu sprechen kommen. Eines ist klar: Wir werden die Debatte zu den Fragen, die wir eben angesprochen haben, in Prag beginnen
müssen; sie wird dort nicht abgeschlossen werden. Es erscheint mir aber wichtig, den Rahmen der NATO zu nutzen, um diese Debatte auch im Rahmen des Rates zu
führen. Hier sehe ich übrigens große Defizite. Bisher ist
es so, dass die Behandlung solcher Fragen im NATO-Rat
eher abgewürgt als dass wirklich debattiert wird.
Ich halte es auch für wichtig, dass die europäischen
Länder, die natürlich ihre eigene Tradition und ihren eigenen Zusammenhalt haben und im Rahmen der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ihre eigenen
Strukturen entwickeln, versuchen, gemeinsame Positionen zu finden, und diese auch in der NATO miteinander
vertreten. Dies ist bis heute leider nicht der Fall. Hier brauchen wir neue Strukturen, einen stärkeren europäischen
Zusammenhalt und einen stärkeren gemeinsamen europäischen Willen, diesen Herausforderungen zu begegnen.
Zu den anderen Fragen - es gibt viele Fragen, die den
Terrorismus betreffen, also gar nicht zuallererst militärische Fragen sind - wird es übrigens einen europäischamerikanischen Dialog auf ganz anderen Ebenen als der
NATO-Ebene geben müssen.
Auf Prag zurückkommend möchte ich doch noch auf
etwas hinweisen, was der Herr Bundesaußenminister bereits zu Beginn dieser Debatte gesagt hat, nämlich auf den
wirklich historischen Schritt, den wir als NATO bei der
Gestaltung Europas miteinander gehen. Anders als 1997
in Madrid, als es während des NATO-Gipfels viele Diskussionen über die Frage der Erweiterung gab, darüber,
welche Staaten aufgenommen werden können oder nicht,
gibt es jetzt schon im Vorfeld einen breiten Konsens, sodass es dazu in Prag selber wohl keine große Debatte mehr
geben wird. Es geht aber um eine gewaltige Erweiterung
um sieben Staaten Ost- und Mitteleuropas, die früher dem
kommunistischen Block angehörten. Damit wird eine völlig neue Gestaltung Europas vollendet. Dies ist etwas, was
man sich vor zwölf oder 13 Jahren kaum hätte vorstellen
können. Damit vollendet sich, was 1989/90 mit der Veränderung Europas begonnen hat, nämlich die Gestaltwerdung einer europäischen Demokratie und Freiheit. Dies
gilt auch für die Frage, wie wir als gemeinsames Europa
künftig unser Verhältnis zu den Nachbarregionen und
überhaupt in der ganzen Welt gestalten wollen.
Wir haben - ich spreche hier als Ostdeutscher - schon
1989/90 diese Perspektive klar beschrieben, indem wir
gesagt haben: Wir als Ostdeutsche, die mit der deutschen
Vereinigung unmittelbar Mitglied von EU und NATO
wurden, wollen, dass unsere östlichen und südöstlichen
Nachbarn auch die Chance bekommen, Teil dieser Strukturen zu werden. Uns war klar, dass dies ein längerer Weg
werden würde. In diesen Wochen werden wir auf diesem
Weg auch im Rahmen der Europäischen Union weitere
wesentliche Fortschritte machen, werden wir zu Entscheidungen kommen, sodass in zwei Jahren sowohl die
EU als auch die NATO um weitgehend die gleichen Länder erweitert sein werden. Dies ist ein wahrhaft historischer Schritt, den es trotz aller Debatten, die wir hier sonst
miteinander führen, zu würdigen gilt. Darüber hinaus
müssen wir aber auch sehen, wie wir gemeinsam mit diesen Ländern dieser neuen Rolle und diesen neuen Herausforderungen begegnen.
({2})
Angesichts der neuen Herausforderungen, über die wir
gesprochen haben, halte ich es für ausgesprochen wichtig,
dass wir die alten und gewissermaßen traditionellen Kernfunktionen der NATO nicht aus dem Blick verlieren. Damit meine ich nicht nur die Frage der Verteidigung; dazu
ist das Nötige gesagt worden. Diese bleibt natürlich eine
wesentliche Grundlage. Gerade in den Umbruchzeiten
1989/90 war es wichtig, dass die neuen Demokratien Ostund Mitteleuropas nicht allein eine nationale Sicherheitspolitik betrieben haben, sondern dass sie sich in integrierte Streitkräftestrukturen und in ein europäisches gemeinsames Sicherheitsdenken hineinbegeben haben. Das
internationale Krisenmanagement, das in den 90er-Jahren so ungeheuer wichtig war, um Friedensprozesse überhaupt erst in Gang zu setzen und auch heute noch zu sichern, wird eine bleibende Aufgabe der NATO sein. Wie
schon vom Bundesaußenminister dargestellt, wird es in
Prag ebenfalls wichtig sein, die partnerschaftlichen Beziehungen zu Russland, zur Ukraine, zum Kaukasus und
dem Mittelmeerraum zu pflegen.
Ich denke, dass diese Aufgaben nun unsere Aufmerksamkeit brauchen. Dann wird es auch wichtig sein, die
neuen Kapazitäten - dazu werden andere Redner meiner
Fraktion sprechen - so zu gestalten, dass wir unseren Beitrag dazu sowohl im Rahmen der NATO als auch im Rahmen der Europäischen Union leisten können. Dies muss
kompatibel sein.
Auch muss klar bleiben: Die Bundeswehr, die diese
Aufgaben für uns erfüllt, ist ein Heer dieses Parlaments
und dieses Parlament hat über seine Einsätze zu entscheiden.
Ich danke Ihnen.
({3})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Werner Hoyer, FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Kollege Meckel, Sie haben dem Kollegen Schäuble vorgeworfen, er habe auf „Bild“-Zeitungs-Niveau argumentiert, als er vom deutschen Abstiegsplatz gesprochen hat.
Ich glaube, Sie tun nicht nur ihm Unrecht, sondern sich
selbst, weil ich weiß, dass Sie auch andere Gazetten dieser Welt lesen. Beim Lesen der Weltpresse werden Sie
feststellen, dass die Weltöffentlichkeit fassungslos vor der
Tatsache steht, dass Deutschland seine Führungsposition
in der Weltwirtschaft aufgrund eigener Reformunfähigkeit aufs Spiel setzt oder bereits verspielt hat und darüber
hinaus sich noch der Möglichkeit begibt, große weltpolitische Entscheidungen mit zu beeinflussen, wie wir das
bei der Irak-Resolution der Vereinten Nationen gesehen
haben. Bei dieser Irak-Resolution ist festzustellen, dass
der Weltsicherheitsrat und die dort Tätigen ein Meisterstück diplomatischer Kunst abgeliefert haben und das Ergebnis nicht zuletzt dem beharrlichen Verhandlungsgeschick sowohl unserer amerikanischen, aber vor allen
Dingen auch einiger unserer europäischen Freunde, insbesondere in Frankreich und auch in Russland, zu verdanken ist. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich von
vornherein jeder Möglichkeit begeben, hierzu einen Beitrag zu leisten. Dieses hätte eine Sternstunde europäischer
Diplomatie sein können;
({0})
es ist eine Sternstunde französischer Diplomatie geworden, weil Deutschland darauf verzichtet hat mitzuwirken.
Der NATO-Gipfel ist sicherlich viel mehr als ein Erweiterungsgipfel. Es ist gut, dass die Entscheidungen über
die weiteren Beitritte jetzt in trockene Tücher kommen.
Das ist eine große Entscheidung für Europa. Ich würde,
Herr Meckel, von Vollendung aber erst sprechen, wenn
auch die Dimension der Europäischen Union dazukommt.
Wir sollten das immer zusammen sehen und den Schlussstrich erst ziehen, wenn Kopenhagen ebenfalls unter Dach
und Fach ist. Wichtig ist auch, dass die NATO Wort gehalten hat. Die Tür ist nach der ersten Erweiterungsrunde,
als die ersten drei Staaten beitreten konnten, nicht zugeschlagen worden, wie es viele Partner in Europa befürchteten.
Prag ist viel mehr als nur Erweiterung. Die öffentliche
Diskussion in Deutschland wird natürlich von der IrakFrage geprägt. Gleichzeitig erwarten viele fasziniert,
wie die Verbiegungen aussehen werden, die die Herren
Schröder, Struck und Fischer auf sich nehmen, wenn sie
ihre Versuche der Wiederannäherung an die Vereinigten
Staaten, an unsere amerikanischen Freunde, unternehmen. Wir drohen dabei die wirkliche Substanz des NATOGipfels zu verschlafen.
Die Amerikaner gehen mit klaren Vorstellungen nach
Prag. Sie wollen zwölf Jahre nach Ende des Kalten Krieges eine neue NATO aus der Taufe heben, eine NATO, in
der die europäischen Partner bereit sind, mehr Lasten zu
tragen, vor allen Dingen aber eine NATO, in der die Europäer für ihre amerikanischen Freunde auch militärisch
relevant sind. Das ist für die Amerikaner sicherlich ein
wichtiger Punkt. Die Tatsache, dass die militärisch-technologische Kluft in den letzten Jahren immer breiter geworden ist, muss endlich Konsequenzen haben. Genau
davon ist bei dieser Bundesregierung nichts zu spüren.
({1})
Wir Europäer sind von den neuen Sicherheitsbedrohungen - sie sind ja schon von zwei Rednern dargestellt worden - mindestens so stark betroffen wie unsere Freunde
jenseits des Atlantiks, wenn nicht deutlich stärker. Wir
Europäer brauchen als Antwort auf diese neuen Bedrohungen die NATO dringender als die Amerikaner; das
muss uns stets bewusst sein.
Umgekehrt müssen wir sehen: Wer über so viel Macht
und militärische Überlegenheit verfügt wie die Amerikaner, der ist natürlich ständig versucht, dem Unilateralismus das Wort zu reden. Wir spüren das seit dem Ende des
Kalten Krieges immer wieder. Dennoch haben sich die
Amerikaner letztendlich doch als bereit und bemüht erwiesen, sich den neuen Bedrohungen multilateral zu stellen. Das ist ihnen auch aufgrund der innenpolitischen Debatte nicht immer leicht gefallen, aber wir sollten
anerkennen, dass sie es am Ende getan haben, übrigens
auch nach dem 11. September, als viele in diesem Hause
der Meinung gewesen sind, die Amerikaner würden ohne
Rückkoppelung blindwütig draufschlagen. Hinterher waren sie erstaunt, wie sehr sie sich rückgekoppelt haben,
wie sehr sie Allianzen geschmiedet und eine weltweite
Aktion ermöglicht haben. Das haben am Anfang manche
hier nicht für möglich gehalten.
Die Amerikaner sagen aber auch: In unserer neuen
Strategie spielt die NATO eine wichtige Rolle. Die Amerikaner sind also durchaus bereit, der NATO eine Rolle
zuzuweisen. Wir Europäer müssen hingegen sehr viel
mehr tun, als uns eine Nische zuweisen zu lassen. Wir selber müssen die europäische Rolle in der NATO definieren
und die eigene Handlungsfähigkeit im Rahmen der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik herstellen.
Wir müssen uns auf der Basis eines fundierten, gewissermaßen mit konzeptioneller Klarheit und militärischer
Hardware unterlegten europäischen Selbstbewusstseins
der Strategiedebatte mit unseren amerikanischen Freunden stellen. Wie weit sind wir davon eigentlich entfernt?
Damit sind wir nach der wachsenden militärtechnologischen bei der zweiten, möglicherweise noch gefährlicheren transatlantischen Kluft. Das sicherheitspolitische
und das militärstrategische Denken in den USA hat sich in
den letzten Monaten entscheidend weiterentwickelt. Die
Bush-Doktrin enthält neben Bekenntnissen zur friedlichen Krisenprävention und Krisenbeilegung, zur Allianz
und zum Völkerrecht das Prinzip der militärischen
Präemption als eine zwingende Handlungsalternative.
Amerika will sich angesichts der neuen Bedrohungen
nicht mehr ausschließlich auf die Wirksamkeit militärischer Abschreckung verlassen. Es will sich dann, wenn
diese zu versagen droht, militärische Präventiveinsätze
vorbehalten. Verglichen damit sind wir Europäer, speziell
wir Deutschen, noch in der militärstrategischen Diskussion der 50er-Jahre gebunden. Die Amerikaner dürften
mit ihren Analysen so Unrecht nicht haben. Nukleare und
konventionelle Abschreckung, komplizierte konsensuale
Entscheidungsprozesse und eine Beschränkung auf den
Wendekreis des Krebses mögen beim Umgang mit international agierenden Terroristen, mit Problemen der Proliferation von Massenvernichtungswaffen und mit Regionalkonflikten an ganz fernen Enden der Welt, die
gleichwohl zu uns herüberschwappen können, nicht mehr
ausreichen. Dennoch dürfen wir das Kind nicht mit dem
Bade ausschütten.
({2})
Das Beharren auf der Herrschaft des Völkerrechts, auf
dem Gewaltmonopol der Vereinten Nationen, auf dem
Vorrang friedlicher Konfliktlösung und Prävention ist et542
was anderes als das Verharren in schönen europäischen
Illusionen. Das ist der epochale Fortschritt vor allem in der
zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, der aus unserer
Kultur und vor allen Dingen aus unseren historischen
Lernprozessen gespeist wurde. Man mag dies nicht 1 : 1
auf den Rest der Welt übertragen können. Aber man darf
diesen Fortschritt auch nicht leichtfertig über Bord gehen
lassen. Das bedeutet auch, dass dann, wenn Präemption
oder Prävention erforderlich sein sollten, die völkerrechtliche Einbindung wichtiger denn je und die Rolle
der Vereinten Nationen von größerer Bedeutung als je zuvor sind.
({3})
Noch ein Wort zur NATO-Response-Force: Natürlich
ist eine solche Truppe im Prinzip zu begrüßen. Aber entscheidende Fragen sind noch unbeantwortet. Es ist zum
Beispiel nicht klar, welche Rolle die NATO-ResponseForce im strategischen Konzept der Vereinigten Staaten
spielen soll. Die „New York Times“ schreibt von einer
„Fremdenlegion des Pentagon“. Das kann es ja wohl nicht
sein. Wir stellen uns darunter mehr vor. Die Frage, wie die
NATO-Response-Force zu den geplanten europäischen
Krisenreaktionskräften passt, ist ebenfalls unbeantwortet.
Es darf ja wohl nicht sein, dass mit dem einen Projekt das
andere unterlaufen wird.
({4})
Wir müssen unsere eigenen Vorstellungen klar definieren.
Wir müssen deutlich machen, dass wir uns hier nicht abkoppeln lassen, und aufpassen, dass sich die amerikanische Lokomotive nicht von dem abkoppelt, was in Europa
geschieht. Wenn wir aber einen Platz im Führerhäuschen
der Lokomotive beanspruchen, dann müssen wir auch
starke Beiträge leisten.
Wenn sich die NATO - damit komme ich zum
Schluss - wirklich zu einer neuen NATO entwickelt, werden viele Partner, sicherlich auch wir, an verfassungsrechtliche Grenzen stoßen. Wir werden uns bald fragen
müssen, ob der NATO-Vertrag wirklich all das hergibt,
was die NATO tut und tun muss. Ich kenne das Argument,
dass man einen besseren NATO-Vertrag so leicht nicht bekommen werde. Auch ich sehe, dass Rot-Grün aus gutem
Grunde eine Debatte über eine möglicherweise notwendige Anpassung des Grundgesetzes an die neuen Herausforderungen scheut wie der Teufel das Weihwasser; denn
sonst würden alte Konflikte sehr schnell wieder aufbrechen. Aber die Rechtsgrundlagen unseres Handelns sind
nicht unbegrenzt dehnbar. Denken Sie nur an die verfassungsrechtliche Rolle des Bundestages bei jedem Militäreinsatz! Sie gilt auch für eine NATO-Response-Force
oder eine EU-Truppe.
({5})
Aus diesem Grund empfehle ich Ihnen sehr, sich mit
dem Antrag, den die Fraktion der FDP zu der Frage der
Beteiligung des Deutschen Bundestages bei Entscheidungen über Einsätze der Bundeswehr eingebracht hat, zu beschäftigen. Wir werden die Rechte des Parlaments, das für
eine Parlamentsarmee verantwortlich ist, zu wahren haben, wenn die neuen Vorstellungen der NATO über ihre
eigene Zukunft Wirklichkeit werden.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ludger Volmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Rede von Herrn Schäuble war genau eine Erkenntnis richtig, nämlich dass alles mit allem irgendwie
zusammenhängt.
({0})
Das hat er bestens ausgedrückt. Aber es haperte schon an
der Analyse, wie genau die Zusammenhänge aussehen.
({1})
Herr Schäuble, Sie haben richtig erkannt: Die Außenpolitik ist ein äußerst komplexes Gebiet. Sie haben aber
nicht erkannt, dass man deshalb einzelne Bereiche betrachten muss. Der Bundestag hat sich eine Tagesordnung
gegeben, in der einzelne Aspekte behandelt werden. Wir
behandeln heute den NATO-Gipfel und nicht alle Aspekte
der Sicherheitspolitik. Das haben wir am letzten Mittwoch in der Debatte um Enduring Freedom getan und
werden es auch morgen tun. Ich bin mir sicher, dass der
Außenminister morgen eine umfassende Grundlinie zur
Bekämpfung des internationalen Terrorismus vorstellen wird. Das hat er im Auswärtigen Ausschuss übrigens
schon getan. Wir haben auch gestern im Ausschuss, dem
Sie ja angehören, darüber diskutiert. Als Herr Hanning davor warnte, Gerüchte über eine angebliche Bedrohung in
Deutschland in die Welt zu setzen,
({2})
haben Sie gefehlt. Sie tun heute genau das, wovor der
Auswärtige Ausschuss gestern gewarnt hat. Deshalb fällt
die Kritik, die Sie an der Bundesregierung geäußert haben, auf Sie zurück.
({3})
Jeder ist sich darüber im Klaren, dass der Kampf gegen
den Terrorismus eine militärische Dimension braucht. Das
sagen auch diejenigen, die in der Vergangenheit militärischen Optionen außerordentlich zurückhaltend gegenübergestanden haben. Wir wissen aber auch, dass die Hauptelemente des Kampfes gegen den Terrorismus politische sein
müssen und dass sich schon bei der Fragestellung entscheidet, wie die dazugehörige Strategie aussehen wird. Auch in
diesem Punkt hat es in Ihrer Rede ganz erheblich gehapert.
Wenn wir - darin sind wir uns völlig einig - den internationalen Terrorismus als die Bedrohung Nummer eins ansehen
und wenn wir festhalten, dass der Irak in den letzten Jahren
eine massive Sicherheitsbedrohung dargestellt hat, dann
müssen wir uns die Frage stellen, in welchem Zusammenhang die Bedrohung, die vom Irak ausgeht, mit dem internationalen Terrorismus steht. Gedanken hierzu haben in
Ihrer Rede völlig gefehlt.
Wenn man diese Frage stellt, dann ergibt sich notwendigerweise die Antwort, dass es im Moment alles andere
als sinnvoll wäre, die Gefährdung, die vom Irak ausgeht,
ins Zentrum der internationalen Politik zu stellen. Das war
die Analyse, die die Bundesregierung - wie ich finde: völlig zu Recht - dazu gebracht hat, vor einem militärischen
Angriff auf den Irak zu warnen. Wie richtig diese Politik
ist, hat sich spätestens gestern herausgestellt, als der Diktator Saddam Hussein den Brief bei der UNO hinterlegt
hat, in dem er zugesteht, dass die Inspekteure nun endlich
ins Land kommen können.
({4})
Es waren unsere Politik, die Politik der Bundesregierung, die völlig klaren Äußerungen des Bundeskanzlers
und des Außenministers, die dazu geführt haben, dass die
vor einigen Monaten anschwellende Diskussion darüber,
ob man nicht militärisch eingreifen sollte, um Saddam
Hussein zu stürzen, nicht etwa um Inspektoren ins Land zu
bringen, abgeflaut ist und dass der multilaterale Weg, vermittelt über die UNO, eingeschlagen wurde, der vorsieht,
die Inspekteure ins Land zu bringen, damit die Waffenarsenale von Saddam Hussein vernichtet werden können.
Das ist ein Erfolg, den auch die deutsche Politik zusammen
mit den Franzosen erzielt hat, die ständig konsultiert wurden, die im Gegensatz zu uns Mitglied des Sicherheitsrates
sind und deswegen an der Resolution mitarbeiten konnten.
Ich meine, der Bundestag sollte der Bundesregierung für
die klare Haltung zur Irakpolitik Respekt zollen.
({5})
Herr Schäuble, Sie lassen, um es wohlwollend auszudrücken, im Unklaren, ob Sie für Präventivschläge sind.
Ich denke, dies impliziert, dass Sie Präventivschläge im
Prinzip für möglich halten. Sie haben - genauso wie Ihr
Kanzlerkandidat während des Wahlkampfs - eine NichtPosition bezogen. Herr Stoiber hat nie klar gesagt, ob er
militärische Optionen gegen den Irak für nötig hält. Stattdessen hat er alles dazu gesagt: Anfangs fand er sie nötig,
dann blies ihm die öffentliche Meinung ins Gesicht und er
war dagegen. Dann wurde er fischig und schlängelte sich
durch, indem er sagte: Eigentlich sind wir dagegen, wenn
aber alle anderen dafür sind, machen wir irgendwie mit. Das war auch Ihre Position heute.
({6})
Wofür sind Sie denn nun? Sind Sie für eine militärische
Option gegenüber dem Irak oder nicht?
Wenn Sie dagegen sind und das aussprechen, haben Sie
ein Diskussionsproblem mit unseren wichtigsten Freunden und Partnern.
({7})
Im Moment gibt es einen sehr begrenzten Disput, der das
grundlegend gute Verhältnis zu den Vereinigten Staaten
nicht berührt und nicht nachhaltig beeinträchtigt, wie wir
bei den Besuchen des Außenministers und des Verteidigungsministers in Washington jetzt erleben konnten.
({8})
Herr Schäuble, wenn Sie Präventivschläge für möglich
halten, frage ich Sie: Wo führen diese eigentlich hin?
Wem wollen Sie denn präventiv begegnen? Wer sind eigentlich die Länder oder Regionen, in denen die Gefährdungen, die Sie per Präventivschlag ausschalten wollen,
am stärksten sind? Führt Sie Ihre Präventivschlagoption
tatsächlich gegen den Irak oder gibt es nicht ganz andere
Kandidaten, die ebenfalls auf der Liste stehen müssten?
Kollege Volmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Pflüger?
Bitte.
Herr Kollege Volmer, Sie haben eben, wie wir alle, begrüßt, dass Saddam Hussein einlenkt und die Waffeninspekteure ins Land kommen lässt. Stimmen Sie zu, dass
er sie weniger wegen der freundlichen Appelle der Bundesregierung, sondern eher wegen des internationalen
Drucks, der mögliche Militärschläge der internationalen
Staatengemeinschaft - leider unter Ausschluss der Bundesrepublik Deutschland - einschließt, ins Land kommen
lässt?
Herr Pflüger, ich stelle vor allen Dingen fest, dass
sich - vermittelt durch die UNO und nach sehr intensivem
Einsatz zahlreicher Staaten, unter anderem auch der Bundesrepublik - jetzt die Linie durchsetzt, die wir im Wahlkampf als wünschenswert vertreten haben, dass nämlich
UNO-Inspekteure ins Land kommen, um die biologischen
und chemischen Potenziale von Saddam Hussein zu beseitigen.
({0})
Wir freuen uns, dass wir diese UNO-Resolution mit den
Amerikanern und allen anderen verabschiedet haben und
auf dieser Basis gemeinsam wieder handlungsfähig werden.
Gestatten Sie eine Zusatzfrage des Kollegen Pflüger?
Bitte nicht. Im Ausschuss und kürzlich in öffentlichen
Fernsehdiskussionen gab es so viele Gelegenheiten dazu.
Es soll kein Dialog werden.
In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern,
dass in Prag auch über die Mittelmeerdimension der
NATO-Politik gesprochen wird. Dieser Aspekt wurde von
einem Ihrer Redner in einer der letzten Debatten abgetan,
und zwar in dem Sinne: Mittelmeer, mein Gott, welches
Nebenthema. - Wir meinen, dass die Mittelmeerdimension der Sicherheitspolitik immer bedeutsamer wird. Unsere Nachbarn südlich des Mittelmeers sind nun einmal
arabisch-islamische Staaten. Wir haben völlig richtig analysiert, dass das Hauptproblem, nämlich der internationale Terrorismus, aus dieser gesamten Region stammt und
dort seinen Ursprung hat. Deshalb muss es in unserem unmittelbaren Interesse liegen, unsere sicherheitspolitische
Zusammenarbeit mit den arabisch-islamischen Staaten zu
verbessern.
({0})
Wir sehen, dass sich diese Zusammenarbeit unter anderem deshalb nicht richtig entfalten kann, weil der ungelöste Nahostkonflikt noch im Raum steht. Nun frage
ich Sie: Werden die Chancen, den Nahostkonflikt zu lösen, durch militärische Optionen gegenüber dem Irak verschlechtert oder verbessert? Unsere Analyse war völlig
eindeutig: Die Bedingungen für eine Lösung des Nahostkonflikts würden durch einen militärischen Angriff auf
den Irak verschlechtert.
Der Nahostkonflikt ist nicht nur irgendein Konflikt,
sondern an ihm macht sich viel Frustration in der arabisch-islamischen Welt fest. Über die Frage, ob dies zu
Recht oder zu Unrecht der Fall ist, kann diskutiert werden.
Wenn aber die Frustration, die mit den Nährboden für den
Terrorismus bildet, abgebaut werden soll, dann muss sich
die Strategie der internationalen Politik darauf richten,
den Nahostkonflikt energisch anzupacken und zu lösen,
statt einen weiteren in der Tat vorhandenen Konflikt über
die Schwelle der militärischen Eskalation zu führen.
({1})
Deshalb waren wir dagegen, dass der Konflikt mit dem
Irak militärisch eskaliert. Deshalb waren wir für die
UNO-Lösung bzw. für die Entsendung von Waffeninspektoren und deshalb sind wir mit der UNO-Resolution
einverstanden. Wir hoffen, dass die internationale Gemeinschaft die Kraft hat, Saddam Hussein zu nötigen, alle
Bedingungen zu erfüllen, die ihm gestellt worden sind.
Das wäre für die Regionalpolitik im Nahen Osten sicherlich ein Segen und würde die Rahmenbedingungen erheblich verbessern, um sowohl konstruktiv auf den Nahostkonflikt einzuwirken als auch dem internationalen
Terrorismus beizukommen.
({2})
Lassen Sie mich noch einen Satz zur NATO-Erweiterung sagen. Ich erinnere mich an die Diskussion vor fünf
Jahren im Plenum, als sehr viel Skepsis zum Ausdruck gebracht wurde. Ich nehme mich selbst nicht davon aus; ich
gehörte damals eher zu den Kritikern, die ihre Befürchtungen vorgebracht haben. Heute kann ich feststellen,
dass sich zum Glück alle Befürchtungen nicht erfüllt haben. Das hängt damit zusammen, dass die NATO-Erweiterung damals durch begleitende Strategien, wie den
NATO-Russland-Pakt, den NATO-Ukraine-Pakt und die
transatlantische Partnerschaft flankiert wurde. All diese
Maßnahmen stehen nicht nur auf dem Papier, wie damals befürchtet wurde, sondern sie wurden mit Leben
erfüllt.
Wir sehen heute mit großer Genugtuung, dass diese Sicherheitspartnerschaft mit Russland bei allen Streitpunkten - Tschetschenien ist der wichtigste - gewachsen ist.
Von daher beurteilen wir es nicht mehr mit Skepsis, sondern begrüßen es, dass weitere mittel- und osteuropäische
Staaten in die NATO aufgenommen werden. Dabei handelt es sich um einen wichtigen Schritt, um den Transformationsstaaten Stabilität zu verschaffen und Sicherheit in
den mittel- und osteuropäischen Raum zu exportieren.
Wir meinen, dass eine in diesem Sinne erweiterte NATO,
die eng mit der OSZE und dem Europarat zusammenarbeitet, einen wichtigen Schritt zu einem System kooperativer Sicherheit darstellt, das sich unter Anerkennung der
Zuständigkeiten der UNO für die globalen Fragen um die
Sicherheit im gesamten Raum zwischen Vancouver und
Wladiwostok bemühen wird. Dabei handelt es sich um
eine sehr positive Entwicklung. Wir ermuntern die Bundesregierung, in Prag mit demselben Selbstbewusstsein,
mit dem sie in den vergangenen Monaten Außenpolitik
betrieben hat, zu verhandeln.
({3})
Nun hat der Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Rede von Herrn Volmer zur NATO kann man nur
verstehen, wenn man einige Jahre zurückblickt. Vor acht
Jahren waren die Grünen noch für die Auflösung der
NATO und einige Jahre davor wurden bei öffentlichen
Gelöbnissen noch „Mörder, Mörder!“-Rufe skandiert. Das ist der Hintergrund.
({0})
Die NATO ist kein Aggressionsbündnis, Herr Volmer,
sondern ein Friedensbündnis.
({1})
Ich würde sogar sagen, die NATO ist die größte Friedensund Freiheitsbewegung in Europa. In Prag findet in der
Tat ein historischer Gipfel statt.
Ich habe in der Vorbereitung auf diese Debatte die Protokolle der großen NATO-Debatte gelesen, die 1955 im
Deutschen Bundestag stattfand. Mit Blick auf die Einheit
Europas und den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland
zur NATO - schließlich muss heute besonders den jungen
Leuten das Bild der NATO nach innen und außen erklärt
werden - hat Bundeskanzler Konrad Adenauer am
15. Dezember 1954 in dieser Debatte erklärt:
Mit dem Abschluss der Pariser Verträge wird die
Bundesrepublik eine sichere Basis gewinnen, von
der sie die Politik der Wiedervereinigung mit Bedacht führen kann. ... Die Verwirklichung der Verträge gewährleistet der Bundesrepublik Wohlfahrt,
Freiheit und Sicherheit.
Adenauer hatte Recht und er bekam von der Geschichte
Recht.
({2})
Wenn ich aus der Debatte von damals weiter zitieren
würde, dann würde ersichtlich - das wissen Sie sehr
wohl -, dass Sie von der SPD damals gegen den Beitritt
Deutschlands zur NATO gestimmt haben. Die NATO als
Verteidigungs- und Wertebündnis, die Freundschaft zu
Amerika und den NATO-Partnern waren für uns in
Deutschland und in Europa der Garant der Sicherheit, des
Friedens, der Freiheit und der Demokratie.
Zum historischen Gipfel in Prag. In der Debatte am
27. Februar 1955 hat von Brentano ausgeführt - daran
wird deutlich, welche Entwicklung wir die letzten
50 Jahre genommen haben -:
Immer stärker empfinden wir, dass der Zweite Weltkrieg im Jahre 1945 keinen Abschluss gefunden hat
und dass die Waffenruhe, die vor nunmehr zehn Jahren eingetreten ist, nur scheinbar einen Friedenszustand geschaffen hat. ... So ist es nicht gelungen, die
Länder am östlichen Rande des europäischen Kontinents zu befrieden. Sie wurden nicht befreit, sondern
erobert und mit den Mitteln des Terrors und der Unterdrückung in den sowjetischen Machtbereich eingegliedert.
Mit dem Gipfel von Prag ist auch für diese Länder die
Spaltung Europas überwunden. Das ist die große historische Bedeutung dieses Gipfels.
({3})
Nach Polen, Ungarn und Tschechien - dafür haben
Helmut Kohl und Volker Rühe die Voraussetzungen geschaffen - werden jetzt die baltischen Staaten, Slowenien,
die Slowakei, Bulgarien und Rumänien dem westlichen
Friedensbündnis beitreten können. Die Tür bleibt auch
für eine noch engere Zusammenarbeit mit Russland
offen.
Für uns, die mittlere Generation - ich bin 1955 geboren -, war und ist es ein Traum: Europa in Frieden und in
Freiheit. Aber leider ist dieser Traum nicht Realität geworden. Wir erleben die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus: die Anschläge vom 11. September 2001,
in Bali und in Moskau. Saddam Hussein ist der gefährlichste Diktator der Welt und fordert uns heraus. Er droht mit dem
Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Der Gipfel von
Prag muss ein Signal der Entschlossenheit und Solidarität
nach Bagdad geben. Wir in der NATO stehen an der Seite
der Amerikaner bei der Durchsetzung der UN-Resolution.
Es darf keinen deutschen Sonderweg geben.
({4})
Herr Bundesaußenminister, Herr Bundeskanzler, nach
dem 11. September 2001 haben Sie den Amerikanern das
Versprechen der „uneingeschränkten Solidarität“ gegeben. Dann war Wahlkampf und es kam die Kehrtwende:
Sie stempelten Bush zum Aggressor dieser Welt. Jetzt
stellt sich die Frage: Wie kommen Sie aus dieser Situation
wieder heraus? Mit ein paar Fernsehbildern und kurzen
Smalltalks in Washington gelingt Ihnen das nicht. Wie
kommen Sie aus der Ecke der internationalen Isolation im
Bündnis und in der Weltvölkergemeinschaft heraus? Herr
Bundesaußenminister, Herr Bundeskanzler, der Preis
dafür kann nicht der Beitritt der Türkei zur Europäischen
Union sein.
({5})
Für dieses Kompensationsgeschäft auf dem Gipfel in
Kopenhagen haben Sie kein Votum, keine Mehrheit im
Volk. Dies ist im Übrigen nicht der richtige Weg.
Die Türkei ist in Europa und in der NATO ein herausgehobener Partner. Ich betone das, damit es nicht zu Missverständnissen kommt. Wir wollen Sonderbeziehungen
und einen ehrlichen, offenen Weg der Kooperation und
Zusammenarbeit mit der Türkei. Volker Rühe hat einen
Weg dazu angedacht. Es gibt weitere Möglichkeiten der
Entwicklung von Sonderbeziehungen. Aber der Preis
dafür, aus der internationalen Isolation herauszukommen,
kann nicht die Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union sein.
({6})
Noch nie seit 1949 hat ein deutscher Bundeskanzler,
innenpolitisch motiviert, außenpolitisch einen solchen
Schaden angerichtet. Saddam Hussein bedroht mit einem
Arsenal von biologischen und chemischen Kampfwaffen,
mit Terrorkommandos und Trägerraketen, mit Milzbranderregern, Nervengas und Pockenviren auch Berlin,
Düsseldorf, Frankfurt.
({7})
- Natürlich auch die Menschen in München. Herr Bundesaußenminister, es ist nicht Ihre Pflicht, auf der Regierungsbank zu gähnen, ein gelangweiltes Gesicht zu machen und dann wieder fröhlich dreinzublicken. Sie
erinnern mich an den Violinisten auf der „Titanic“: La546
chen bis zum Untergang. - Sie werden dem Ernst der Lage
nicht gerecht.
({8})
Es ist die Pflicht der Bundesregierung, der Öffentlichkeit die Wahrheit über den Ernst der Gefährdung mitzuteilen. Herr Bundesverteidigungsminister, Sie werden im
Anschluss reden. Ich frage Sie: Warum warnen die Geheimdienste vor Anschlägen in Deutschland? Wie schützen Sie die Bevölkerung in Deutschland und in Europa?
Die Kernfrage: Welchen Beitrag wird Deutschland leisten, wenn Saddam die Forderungen der UN nicht erfüllt?
Sie drücken sich um die Beantwortung genau dieser Kernfrage: Welchen Beitrag ist Deutschland in der Weltvölkergemeinschaft zu leisten bereit, wenn Saddam
diese Forderung der UN nicht erfüllt? Taten sind gefragt,
meine sehr verehrten Damen und Herren. Es geht darum,
Saddam zu entwaffnen.
({9})
Die Entwaffnung von Saddam ist nur mit unseren
Partnern und nur mithilfe unserer amerikanischen
Freunde möglich, nicht durch einen deutschen Sonderweg, nicht durch einen Alleingang. Wir fordern Sie, Herr
Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, deshalb
dazu auf: Korrigieren Sie Ihre antiamerikanischen Äußerungen und korrigieren Sie Ihre politische Fehleinschätzung! Fehler in der Wirtschafts- und Finanzpolitik sind
für jeden Bürger messbar. Wir erleben es dieser Tage. Es
ist eine katastrophale Bilanz: blauer Brief, 4,2 Millionen
Arbeitslose usw. Es ist eine lange Reihe. Fehler in der
Außenpolitik sind unermesslich und Sie haben auf diesem
Gebiet unermessliche Fehler gemacht.
Machen Sie auch gegenüber der deutschen Bevölkerung klar, dass Saddam der Feind ist, der unsere innere Sicherheit und unser Leben bedroht! Machen Sie deutlich,
dass die Durchsetzung der UN-Resolution der Weg zu
Frieden und Sicherheit ist! Wir können hierbei nicht abseits stehen. Prag muss dazu ein Signal setzen. Wir müssen dabei aktiv mitwirken.
({10})
Eine Schlussbemerkung. Herr Struck, in Prag geht es
natürlich auch um die Frage der NATO-Weiterentwicklung. Wir sagen ein klares Ja zur NATO-Eingreiftruppe
im Sinne von Art. 5. Natürlich sind die Fragen der europäischen Eingreiftruppe und der NATO-Response-Force
offen. Beide Organisationen stehen auf dem Papier, sind
Papiertiger. Wie finanzieren Sie diese Projekte? Wir brauchen Investitionen beim strategischen Transport - Transportflugzeug -, bei der Kommunikation, bei der Aufklärung usw. Herr Bundesverteidigungsminister, neue
Schwerpunkte im Sicherheitsbereich bedeuten auch, dass
dem im Verteidigungshaushalt Rechnung getragen werden muss. Wir brauchen eine moderne und mobile Bundeswehr. Deshalb ist Ihr Kurs, die Bundeswehr jetzt kaputtzusparen, unsere Soldaten ohne modernstes Gerät und
ohne beste Ausrüstung in Auslandseinsätze zu schicken,
falsch und unverantwortlich. Sie müssen zu der Frage, mit
welchem Risiko deutsche Soldaten in einen Einsatz in Kabul, in Afghanistan geschickt werden, Stellung beziehen.
Herr Verteidigungsminister, wo sind Ihre Vorschläge für
eine gemeinsame Streitkräfteplanung in Europa und für
eine Koordinierung der Verteidigungshaushalte? Wo sind
die Vorschläge zur Vergemeinschaftung der Sicherheitspolitik in Europa? Das ist ein eigenes Thema.
In der derzeitigen Bedrohungslage brauchen wir den
Schulterschluss mit Amerika. Wir brauchen den Schulterschluss im Bündnis. Unsere Bürger erwarten in diesen
Kernfragen auch den Konsens in diesem Haus. Die Union
stellt sich ihrer Verantwortung.
Danke schön.
({11})
Ich erteile Bundesminister Peter Struck das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach den Beiträgen der Oppositionsredner zum Prager
Gipfel fragt man sich: In welcher Welt leben Sie eigentlich?
({0})
Was glauben Sie denn, was wir in den Ausschusssitzungen über die internationale Bedrohung vorgetragen haben? Ich kann mir Ihren Beitrag, Herr Schäuble, nur dadurch erklären, dass Sie bei den Ausschusssitzungen nicht
anwesend gewesen sind.
({1})
Wir informieren die Abgeordneten in den Ausschüssen
über die Bedrohungslage und wir diskutieren sogar hier
im Parlament darüber. Angesichts dessen lasse ich mir
von Ihnen nicht den Vorwurf gefallen, wir ließen die
Deutschen in Unsicherheit. Das ist ein unredlicher Vorwurf, aber bei Ihnen nicht neu.
({2})
Nun will ich etwas zu dem Prager Gipfel sagen.
Erstens. Es muss völlig klar sein, dass wir in einer historischen Situation sind und dass neue Aufgaben auf uns
zukommen, übrigens auch auf diejenigen Länder, die wir
zu Beitrittsverhandlungen auffordern. Das ist nicht einfach. Ich habe darüber in der letzten Woche mit dem bulgarischen Präsidenten gesprochen. Was die Verbesserung
ihrer militärischen Fähigkeiten und ihrer Infrastruktureinrichtungen angeht, kommt einiges auf diese Länder zu. Es
wird ein langer Weg für diese Länder sein. Trotzdem sind
wir froh, dass dieser Schritt gelingt. Es ist eine konsequente Fortsetzung des begonnenen Weges und ich hoffe,
dass noch weitere Länder Mitglieder der NATO werden.
({3})
Auf dem Prager Gipfel geht es natürlich auch um die
Verbesserung unserer militärischen Fähigkeiten. Die
Bundesregierung klärt im Moment mit ihren NATO-Partnern ganz intensiv ab, an welcher Stelle die militärischen
Fähigkeiten verbessert werden können. Deutschland hat
in vielen Bereichen sogar die Federführung bei der Verbesserung dieser Fähigkeiten übernommen, zum Beispiel
- um nur einen Fall zu nennen - bei Medical Care. Wir
diskutieren zurzeit darüber, ob wir zwischenzeitlich über
Interimslösungen eine Lufttransportkapazität schaffen
können, bevor die A400M geliefert werden, was auch unter Federführung der Bundesregierung geschieht. Das
heißt, in vielen einzelnen Panels - so werden diese Bereiche in NATO-Kreisen genannt - gibt es eine Verbesserung
der militärischen Fähigkeiten.
Wir müssen natürlich auch bündeln und Konzentrationen vornehmen. Ich sage Ihnen, Herr Kollege, der Sie vor
mir gesprochen haben: Ich handele natürlich auch im Hinblick auf die Haushaltssituation in der Bundesrepublik
Deutschland. Ich mache das, was wir dort angemeldet haben und was nachher umgesetzt wird, selbstverständlich
auch von meinen finanziellen Möglichkeiten abhängig.
Ich verspreche der NATO in Prag keinerlei Luftschlösser.
Diese kann und will ich nicht verantworten.
({4})
Ich verstehe allerdings überhaupt nicht, wie Sie zu dem
Schluss kommen, ich sorgte nicht dafür, dass unsere Soldaten ordentlich ausgestattet sind. Ich will Ihnen hier noch
einmal sagen - wir werden morgen im Zusammenhang
mit Enduring Freedom und vor allen Dingen im Dezember, wenn es um die Fortsetzung des ISAF-Mandats geht,
darüber reden -: Unsere 9 500 Soldaten, die im Ausland,
auf dem Balkan und vor allen Dingen in Afghanistan,
sind, sind so ausgestattet, wie es erforderlich ist. Sie haben den Schutz, auf den sie zur Erfüllung dieses schwierigen Mandats einen Anspruch haben. Die Bundeswehr
verfügt dafür über eine gute Ausstattung. Was diese Aussage angeht, machen wir keine Abstriche, Herr Kollege.
Ich will gar nicht bestreiten, dass wir im Zusammenhang mit den Finanzproblemen, die sich aufgrund der
wirtschaftlichen Entwicklung ergeben haben, natürlich
auch über den Verteidigungshaushalt nachdenken. Wer
wäre ich denn, wenn ich bestreiten würde, dass auch das
Verteidigungsministerium einen Beitrag zum Konsolidierungskurs leisten muss. Aber tun Sie doch nicht so, als
stellten wir unser Land damit schutzlos! Diesen Eindruck
hat Herr Schäuble zu erwecken versucht. Das ist typisch
Schäuble und das ist typisch falsch.
({5})
Ich komme auf die NATO-Response-Force zu sprechen. Die Vorschläge, die die Amerikaner zunächst in
Warschau unterbreitet haben und die vor kurzem konkretisiert worden sind, begrüßen wir. Es gibt natürlich die
Gefahr - das haben die Redner der Opposition und der
Kollege Markus Meckel völlig zu Recht angesprochen -,
dass es Kollisionen mit der EU-Truppe - wir sind dabei,
sie aufzubauen - gibt. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir werden kein Konkurrenzverhältnis zulassen, das daraus erwächst, dass man dem Motto „Es gibt jetzt nur noch die
NATO-Response-Force; die europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik vergessen wir“ folgt. Wir setzen zusammen mit Javier Solana auf die Weiterentwicklung der
europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
({6})
Das ist unsere Aufgabe. Ich denke, darüber besteht zwischen der Opposition und uns Konsens. Es ist gut, dass
wir diesen Konsens haben. Man muss die weiteren Entwicklungen dann im Einzelnen abklären.
Es gibt Vorschläge der Amerikaner, die von einer
Truppe von 21 000 Soldaten ausgehen. Wir haben in den
internen Vorbesprechungen dazu erklärt, dass wir uns vorstellen können, Einheiten der Marine, der Luftwaffe und
des Heeres für eine solche Truppe bereitzustellen. Aber
das muss noch abgeklärt werden. Mir sind in diesem Zusammenhang zwei Dinge wichtig.
Erstens. Auch wenn es zu einer NATO-ResponseForce kommt, gilt das Konsensprinzip. Das heißt nicht:
Einer bestimmt und die anderen müssen mitmachen. Vielmehr müssen alle 19 NATO-Mitglieder - später werden es
26 sein - entscheiden.
({7})
Zweitens. In diesem Zusammenhang muss man die besondere verfassungsrechtliche Situation in unserem Land
bedenken. Das heißt, es wird vor jedem Einsatz einer solchen NATO-Response-Force mit deutscher Beteiligung
einen Bundestagsbeschluss geben müssen. Das muss man
wissen. Wir lassen den Parlamentsvorbehalt nicht einfach fallen; das dürfen und wollen wir nicht.
({8})
- Darüber kann man dann reden, wenn es so weit ist. - Bei
der NATO-Response-Force sind wir noch gar nicht so
weit. Nehmen wir einmal an, diese würde tatsächlich in
die Tat umgesetzt: Nach den bisherigen Planungen ist
dann davon auszugehen, dass diese Truppe nicht vor dem
Jahr 2004 bereit wäre, die entsprechenden Aufgaben zu
übernehmen. Wir werden uns das alles genau und in Ruhe
überlegen und darüber auch in den Ausschüssen diskutieren. Aber dass unser Verfassungsrecht gilt, daran will
wohl keiner rütteln, auch Sie nicht.
Lassen Sie mich noch etwas zum Verhältnis zwischen
den Vereinigten Staaten von Amerika und unserem Land
sagen: Sie haben hier ein Zerrbild gezeichnet. Ich kann absolut nicht bestätigen, dass alles ganz katastrophal sei. Ich
habe ein angenehmes und freundliches Gespräch mit meinem Kollegen Donald Rumsfeld geführt. Ich habe allerdings den Eindruck, dass es Ihnen von der CDU lieber gewesen wäre, wenn wir uns geprügelt hätten. Diesen Gefallen
wollte ich Ihnen aber nicht tun, meine Damen und Herren.
({9})
- Nein, ich hätte nicht den Kürzeren gezogen. - Wir arbeiten eng zusammen und diese enge Zusammenarbeit
wird natürlich fortgesetzt werden. Rumsfeld und ich haben vereinbart, dass wir uns auch am Rande des Gipfels
von Prag noch über verschiedene bilaterale Fragen unterhalten.
Der Kollege Donald Rumsfeld hat gesagt - lassen Sie
mich das hier auch noch darstellen -, dass er dankbar für
den Beitrag ist, den Deutschland im Kampf gegen den internationalen Terrorismus leistet. Zu Recht ist er dafür
dankbar.
({10})
Wir sind nach den Vereinigten Staaten von Amerika das
Land, das das größte Kontingent stellt. Andere, die Sie
hier lobend erwähnen, stehlen sich langsam aber sicher
schon wieder durch die Hintertür heraus: So reduzieren
einerseits Staaten bei ISAF in Afghanistan oder auf dem
Balkan ihre Kontingente, beschwören aber andererseits in
mächtigen Worten die internationale Solidarität. Wir
brauchen uns nichts vorwerfen zu lassen. Es ist gut, dass
die amerikanische Administration das auch im Rahmen
meiner Gespräche mit Donald Rumsfeld anerkannt hat.
Unsere Zusammenarbeit wird sich weiterhin gut entwickeln.
({11})
Nun haben sich gestern die Amerika-Experten,
Herr Pflüger und andere, darüber aufgeregt, dass Herr
Rumsfeld auf die Frage, wie er heute die Beziehungen beurteile, gesagt hat, sie seien „unpoisoned“. Ich habe ihm
gesagt, er habe eine sehr gute Antwort gegeben. Das Wort
von den vergifteten Beziehungen traf nämlich nicht die
Realität der deutsch-amerikanischen Beziehungen und
stammte nicht von Rumsfeld, sondern, wie wir wissen,
anderswoher.
({12})
Wir Verteidigungsminister untereinander haben gute Arbeitsbeziehungen. Manche sagen, dass die Persönlichkeitsstrukturen von Rumsfeld und mir in etwa gleich
gelagert seien und uns das helfen würde. Das gilt für
die Arbeitsebene ohnehin. Es hat zwischen Deutschland
und Amerika bei der Vorbereitung der „Prague Capabilities Commitment“-Gespräche nie Probleme gegeben.
Das haben Sie allerdings nicht mitbekommen, weil Sie
an solchen Gesprächen als Opposition nicht beteiligt
sind; Sie können kritisieren, die Regierung muss arbeiten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Ich erteile das Wort Kollegen Karl Lamers, CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister Struck, wenn überhaupt jemand in diesem Haus in einer Traum- und Scheinwelt lebt, dann ist es
die rot-grüne Bundesregierung und insbesondere deren
Verteidigungsminister, der hier den Eindruck zu erwecken
versucht, als befinde sich die Bundeswehr in einem Topzustand, als sei sie top ausgerüstet, finanziell gut ausgestattet und in der Lage, glaubwürdig ihren Beitrag in der
NATO zu leisten. Das Gegenteil ist der Fall. Sie, meine
Damen und Herren, tragen für diesen Zustand die Verantwortung.
({0})
Der NATO-Gipfel in Prag stellt eine historische Wegmarke dar. Wir freuen uns, dass nach der ersten Öffnung
im Jahre 1999 nun weitere Länder die Chance bekommen,
Mitglied der NATO zu werden. Dies stärkt die Stabilität
in Europa.
Aber eines muss an diesem Tag auch gesagt werden:
Das Tor der Allianz muss auch in Zukunft für neue Mitglieder offen bleiben. Der Wappenspruch der NATO,
„Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit“, ist unverändert
gültig. Verändert aber hat sich die Welt, in der wir leben.
Grundlegend verändert haben sich die Gefahren, denen
wir uns heute, 53 Jahre nach Gründung der NATO, ausgesetzt sehen. Bedroht sind wir von der unheiligen Allianz des internationalen Terrorismus und von Massenvernichtungswaffen.
Deshalb stellt sich für mich die zentrale Frage so: Ist
die NATO heute ausgerichtet auf die neuen Gefahren? Ist
sie in der Lage, unsere Bürger so zu schützen, wie sie das
zu Zeiten des Kalten Krieges über viele Jahrzehnte erfolgreich getan hat? Haben wir gegenüber diesen globalen Bedrohungen eine gemeinsame Strategie im Bündnis? Und,
Herr Minister Struck, haben wir wirklich die notwendigen
modernen militärischen Fähigkeiten?
({1})
Was tut eigentlich diese Bundesregierung, um als
zweitgrößtes NATO-Land einen wesentlichen Beitrag zur
Sicherheit in Europa und in der Welt zu leisten?
({2})
Diese Bundesregierung, der Bundeskanzler, der Außenminister und weite Teile von Rot-Grün haben im Wahlkampf unserem Land und der NATO schwersten Schaden
zugefügt.
({3})
In einer Art spontaner Wahlkampfeinlage mit Ihrer Totalverweigerung, die quasi in dem Spruch gipfelte: „Nur wer
Schröder wählt, wählt den Frieden“, haben Sie Deutschland als Bündnispartner isoliert und so einen dramatischen Vertrauensverlust heraufbeschworen.
({4})
Das Gewicht unseres Landes als zuverlässiger Bündnispartner wurde minimalisiert. Das war Ihnen egal. Die
Dr. Karl A. Lamers ({5})
Drohkulisse gegenüber dem Irak wurde durch die Haltung
der deutschen Regierung geschwächt. Auch das hat Sie
nicht gestört. In der deutschen Öffentlichkeit entstand gar
der Eindruck, die USA seien gefährlicher als die Massenvernichtungswaffen des irakischen Diktators Saddam
Hussein. Wundern Sie sich da, dass die Medien im Irak über
diese unvermutete Schützenhilfe aus Deutschland jubelten?
Die lange Geschichte der NATO zeigt eines deutlich:
Die Stärke unseres transatlantischen Bündnisses lag und
liegt in der Solidarität seiner Mitglieder, im Konsens und
in der Geschlossenheit des Handelns.
({6})
Darum haben Sie sich keinen Deut geschert, ganz nach
dem Motto: Lieber ohne Skrupel wieder ins Amt als seriös in die Opposition.
({7})
- Bleiben Sie ruhig und hören Sie zu, da können Sie noch
etwas lernen!
Ihnen ging es um Wahlkampf pur. Für die Operation
„Wiederwahl“ waren Sie bereit, jeden Preis zu zahlen.
Jetzt muss Schluss sein mit einem deutschen Sonderweg!
({8})
Gehen Sie heraus aus Ihrer selbst verursachten Isolierung!
Beseitigen Sie durch glaubwürdiges Handeln allen Zweifel
an der bündnispolitischen Verlässlichkeit Deutschlands!
Um es hier einmal auf den Punkt zu bringen: Die Vereinigten Staaten von Amerika sind nicht nur unsere Verbündeten, sie sind auch unsere Freunde.
({9})
Seit Konrad Adenauer bis hin zu Helmut Kohl sind wir
stets vertrauensvolle Freunde Amerikas gewesen. Das
muss wieder so werden. Jeder weiß, was wir Amerika verdanken. Jeder weiß aber auch, dass dies im ureigensten
deutschen Sicherheitsinteresse liegt. Allein sind wir auf
verlorenem Posten.
({10})
Nur so gewinnt Deutschland Einfluss und die Chance, Politik auf internationaler Ebene wieder entscheidend mitzugestalten, zurück. Frankreich und Großbritannien haben Ihnen gezeigt, wie man es macht.
Im Bundesrat hat der Bundeskanzler den netten Satz
gesagt: Erst das Land, dann die Partei.- Ja, Herr Bundeskanzler, das gilt auch international: Erst das Land und das
Bündnis, dann lange gar nichts und dann, wenn überhaupt, die Partei. Halten Sie sich daran im Interesse unseres Landes und des Bündnisses!
({11})
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, Herr
Minister Struck. Als Verteidigungspolitiker treiben mich
unsere militärischen Fähigkeiten um. Sie übernehmen
seit Jahren immer wieder neue Verpflichtungen in der
NATO, in der Europäischen Union und in den Vereinten
Nationen. Sie verpflichten sich, im Rahmen der Defense
Capability Initiative der NATO wichtige Beiträge zu leisten. Sie geben Erklärungen ab und Ihre Pläne füllen Tausende von Seiten. Nur eines haben Sie vergessen, nämlich
Ihren Erklärungen auch Taten folgen zu lassen.
({12})
Seit Jahren ist die Misere im Bereich des Verteidigungshaushaltes offensichtlich. Es gibt nicht mehr, sondern immer weniger Geld für immer mehr Aufgaben. Um
schöne Worte sind Sie nie verlegen. Reales Minus heißt
bei Ihnen „Verstetigung“. Aber die Bundeswehr braucht
keine Lyrik, sondern sie braucht Zuwendung und mehr
Geld
({13})
sowie eine bessere Ausrüstung und eine bessere Ausstattung. Nach der Wahl folgt nun die Krönung des Ganzen:
nochmals eine halbe Milliarde Euro weniger für den Verteidigungshaushalt.
Ich frage Rot-Grün und den Minister: Wo sind denn die
Haushaltsmittel, mit denen die Bundeswehr modernisiert
werden soll und Fähigkeiten wie strategische Aufklärung
und Lufttransport ausgebaut und gesteigert werden sollen? Wie wollen Sie, Herr Minister Struck, sicherstellen,
dass Europa technologisch nicht noch weiter von Amerika
abgehängt wird?
Eine dritte Anmerkung. Auf der Tagesordnung in Prag
steht das Projekt einer schnellen Eingreiftruppe, NATOResponse-Force, mit der das Bündnis auf Bedrohungen
durch Terrorismus und Massenvernichtungswaffen reagieren soll. Alle spüren, dass wir bedroht sind. Deswegen
müssen wir etwas tun. Um keinen Zweifel aufkommen zu
lassen: Wir unterstützen dieses Vorhaben; es dient unserer
Sicherheit.
({14})
Aber auch hier gilt das, was ich zuvor gesagt habe: Es
reicht nicht aus, dass die Bundesregierung auf Gipfelkonferenzen den „strammen Max“ spielt, aber anschließend
in Deutschland den Geldhahn zudreht. So kann es in der
Sicherheitspolitik nicht weitergehen.
({15})
Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit. Geschlossenheit und mehr Geld für Verteidigung ist der Preis für unsere Sicherheit. Deshalb unsere Forderung an Sie: Stellen
Sie sicher, dass Deutschland tatsächlich einen substanziellen Beitrag leisten kann und achten Sie darauf, dass es
zu sinnvollen Ergänzungen und nicht zu doppelten Strukturen und zu Konkurrenz zu den ebenfalls wichtigen und
dringend erforderlichen europäischen Krisenreaktionskräften kommt! Unsere Sicherheit kann heute an jedem
Punkt der Erde herausgefordert werden. Dieser Herausforderung muss sich die NATO als Ganzes stellen. Die
NATO-Response-Force wird auch für uns Deutsche in
Zukunft ein wesentlicher Garant unserer Sicherheit sein.
Die Botschaft lautet: Deutschland muss wieder ein berechenbarer Partner im Bündnis werden, auf den man sich
auch in Krisenzeiten verlassen kann. Dazu wollen und
müssen wir alle einen glaubwürdigen Beitrag leisten, insbesondere aber die Damen und Herren der Bundesregierung und von Rot-Grün.
Ich danke Ihnen.
({16})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Beim bevorstehenden NATO-Gipfel in Prag steht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, wie auf die neuen
Herausforderungen des internationalen Terrorismus geantwortet werden soll. Darüber scheint mir aber das andere Thema, nämlich die zweite NATO-Osterweiterung,
zu sehr in den Hintergrund zu treten, als sei es nur ein
Routinevorgang. Das ist es aber ganz und gar nicht.
Tatsächlich ist die bevorstehende Einladung an sieben
Staaten in Mittelost- und Südosteuropa ein historischer
Schritt mit erheblich stabilisierender Wirkung für Europa.
({0})
Das wird besonders deutlich, wenn wir uns die Situation
aus der Perspektive der beteiligten Staaten ansehen.
Ich nenne zunächst das Baltikum. Vor 62 Jahren wurde
das Baltikum von der Sowjetmacht und vor 60 Jahren von
der deutschen Wehrmacht besetzt. Ein großer Teil der baltischen Juden war zu diesem Zeitpunkt schon ermordet
worden. Vor 58 Jahren wurde das Baltikum von den Nazis befreit und dann wieder der sowjetischen Herrschaft
unterworfen. Man kann sich vorstellen, dass diese Vergangenheit, die darin bestand, zwischen den großen
Mächten zu liegen und ihnen dadurch immer ausgeliefert
zu sein, eine traumatische Erfahrung für diese Staaten, für
diese Völker war.
Vor diesem Hintergrund ist die Einladung zum NATOBeitritt ein wirklich historischer Schritt: heraus aus dieser
prekären Zwischenlage und hinein in ein System kollektiver Sicherheit, wobei das Reißen neuer Gräben verhindert wurde.
({1})
Dieser Erweiterungsprozess ohne Brüche wurde möglich,
weil die Erweiterung als ein Prozess gestaltet wurde, der
aus Dialog, Kooperation, inneren Reformen und Konfliktbeilegungen bestand.
Bei den Balkankrisen und -kriegen in den 90er-Jahren
gehörte die NATO zunächst mit zu den vielen, die zu spät
kamen. Inzwischen hat sie sich bei den von ihr geführten
Einsätzen in Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Mazedonien bestens bewährt. Diese Einsätze dienen der Friedensunterstützung im Auftrag der Vereinten Nationen und
im Rahmen der UN-Charta und finden in enger Kooperation mit den anderen internationalen Organisationen, mit
den Vereinten Nationen, der OSZE usw., mit staatlichen
und nicht staatlichen Akteuren statt.
Mit dem 11. September 2001 ist der Wandel hin zu
asymmetrischen Bedrohungen und Konfliktmustern offensichtlich geworden. Die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, durch privatisierte Gewalt und Regionalkonflikte sowie durch die Weiterverbreitung von
Massenvernichtungswaffen steht nun im Vordergrund.
Darauf muss sich die NATO selbstverständlich konzeptionell und in ihren Fähigkeiten einstellen.
Im Antrag der CDU/CSU werden darauf leider sehr
einfache, verkürzte und gefährliche Antworten gegeben.
({2})
- Lesen Sie sich Ihren Antrag noch einmal durch! - Sie
reden in diesem Zusammenhang von der NATO als einzigem Akteur.
({3})
Sie fordern den weltweiten Einsatz gegen den Terrorismus und Massenvernichtungswaffen und schweigen dabei darüber, was in diesem Zusammenhang ein zuallererst
bewährtes Mittel ist - Kollege Meckel hat zum Beispiel
darauf hingewiesen -: Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung, Abrüstungszusammenarbeit, wobei wir gerade mit
Russland erhebliche Erfolge erzielen.
({4})
Wenn Sie hier schweigen und nur von der militärischen
Bekämpfung der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen sprechen, dann ist die eindeutige Schlussfolgerung, dass man gegen Besitzer von Massenvernichtungswaffen militärisch vorgehen will. So wie ich Sie von der
CDU/CSU kenne, können Sie das nicht ernst meinen.
({5})
- Jetzt könnten auch Sie von der CDU/CSU ruhig klatschen.
Die Antworten auf die neuen Herausforderungen
müssen demgegenüber folgenden zentralen Anforderungen genügen:
Erstens. Den hochkomplexen Bedrohungen kann erfolgreich nur multidimensional, also im Rahmen politischer Gesamtkonzepte, mit dem ganzen Spektrum verschiedenster Instrumente und Maßnahmen begegnet
werden.
Zweitens. Der Rahmen dabei muss selbstverständlich
das Völkerrecht, die Charta der Vereinten Nationen, die
Dr. Karl A. Lamers ({6})
Stärkung des Rechts sein. Willkür darf selbstverständlich
nicht mit Willkür begegnet werden; denn Willkür würde
- so sind die handgreiflichen Erfahrungen aus sehr vielen
Jahrzehnten der Terrorismusbekämpfung - neuen Bedrohungen Aufschwung geben, anstatt sie einzudämmen.
({7})
Drittens. Jede internationale Organisation und jeder
Staat - so mächtig er ist - ist mit der Bewältigung der
neuen Bedrohungen hoffnungslos überfordert. Entscheidend ist das komplementäre, also sich ergänzende, Zusammenwirken im multilateralen Rahmen. Der Vorschlag einer NATO-Response-Force kann in diese
Richtung wirken. Eine solche neue Fähigkeit darf aber
nicht der notwendigen Stärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zuwiderlaufen, sie
gar unterlaufen.
Viertens. Wir diskutieren in diesem Zusammenhang
- richtigerweise - sehr viel über neue Fähigkeiten. Dabei
sollten wir aber etwas anderes nicht vergessen: Die NATO
erhebt den Anspruch einer Wertegemeinschaft. Das gilt
nach innen und außen. Angesichts des Terrorkriegs in
Tschetschenien und angesichts von Tendenzen, das internationale Gewaltmonopol unter der Überschrift „offensive Selbstverteidigung“ zu unterhöhlen, ist eine Wertediskussion in der Sicherheitspolitik und in der NATO
überfällig.
In diesem Sinne wünschen wir dem NATO-Gipfel einen erfolgreichen Verlauf und der Bundesregierung dabei
eine sehr wirkungsvolle Rolle.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Heubaum,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
NATO ist es in den letzten Jahren gelungen, in geradezu
beispielhafter Weise militärische und zivile Instrumente
mit dem gemeinsamen Ziel der langfristigen Friedenssicherung und Krisenprävention zu vereinen.
Entgegen einer landläufigen Meinung ist die NATO
keineswegs ein reines Verteidigungsbündnis. Der Nordatlantikvertrag vom 4. April 1949 bekennt sich zu den
Grundsätzen der Satzung der Vereinten Nationen. Die
Vertragspartner setzen sich für die Grundsätze der Demokratie, für die Freiheit der Person und die Herrschaft des
Rechts ein. Sie wollen zu friedlichen, freundschaftlichen
internationalen Beziehungen beitragen und sind bestrebt,
Gegensätze in ihrer Wirtschaftspolitik zu beseitigen und
die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu fördern. Die
NATO hat sich über die Kernaufgabe der kollektiven Verteidigung hinaus der internationalen Konflikt- und Krisenprävention und -bewältigung zugewandt. Das sind
starke zivile Dimensionen.
({0})
Seit 1949 haben sich die Weltsicherheitslage und die
nationalen Gesellschaften erheblich verändert. Das wird
insbesondere am NATO-Beitritt von Polen, Ungarn und
der Tschechischen Republik im Jahre 1999 deutlich. Daran wird doch erkennbar: Aus früherer Konfrontation ist
Kooperation geworden. Das gemeinsame Eintreten für
eine demokratische Werteordnung der NATO-Mitgliedstaaten ist in den letzten Jahren beeindruckend unter Beweis gestellt worden.
Durch das Engagement der NATO im Rahmen der internationalen Gemeinschaft konnte der politische Prozess
der inneren Versöhnung und der Normalisierung der Lebensbedingungen vor allem auf dem Balkan weiter vorangebracht werden. Die Intervention der NATO verhinderte beispielsweise in Mazedonien einen Bürgerkrieg
und ermöglichte dort im September dieses Jahres demokratische Wahlen.
Vor einigen Tagen wurde im Kosovo auf kommunaler
Ebene gewählt. In den neuen Gemeindegremien werden
bedeutend mehr Frauen vertreten sein, sie stellen nunmehr immerhin 28 Prozent aller Ratsmitglieder. Diese
neue Sitzverteilung stellt eine deutliche Veränderung und
einen erheblichen Zuwachs im Vergleich zu den 8 Prozent
bei früheren Wahlen dar.
Der Aufbau solcher demokratischer Strukturen wird
auch durch den Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten ermöglicht. Ihnen gebührt an dieser Stelle für ihre
Leistungen Dank und Anerkennung.
({1})
Aufgrund der Krisenabwendung und der Entschärfung
von Konflikten im Voraus durch den Einsatz der NATO
konnten in der Vergangenheit Zivilgesellschaften aufgebaut werden, in denen die Rechtsstaatlichkeit, die Wahrung der Menschenrechte, die wirtschaftliche Stabilität
und die Aussöhnung der Bevölkerungsgruppen gedeihen.
Die NATO steht mittlerweile für Krisenmanagement
bei präventiven Friedenseinsätzen. Eine der Hauptaufgaben der NATO ist dabei, Verlässlichkeit und Vertrauen zu
vermitteln. Diese Politik führt zu langfristigen sicherheitspolitischen Auswirkungen. Nur dort, wo Vertrauen
und Sicherheit herrschen, kann Rechtsstaatlichkeit gedeihen, können wirtschaftliche Beziehungen zu Wohlstand
und Fortentwicklung führen und Stabilität gesichert werden.
({2})
So heißt es im strategischen Konzept des Nordatlantikpaktes, dass Sicherheit und Stabilität sowohl politische,
wirtschaftliche, soziale und umweltpolitische Elemente
als auch die unverzichtbare Verteidigungsdimension einschließen. Die Erhaltung der natürlichen knapper werdenden Ressourcen, beispielweise von Trinkwasser und
fossilen Energieträgern - auch das ist mit elementarer Sicherheitspolitik verbunden -, zählt zu den gemeinsamen
globalen Zielen.
Eine solche friedliche Entwicklung ist auch im deutschen Interesse. Dabei können wir nicht außer Acht lassen, dass es aufgrund der immer schwieriger werdenden
Weltlage erforderlich ist, noch bessere Fähigkeiten zur
Abwehr neuer Bedrohungen zu entwickeln.
Die Aufnahme weiterer Mitgliedstaaten in die NATO
wird ein großer Gewinn an Sicherheit und Stabilität für
Europa sein.
({3})
Eine abgestimmte Aufgabenverteilung und die Zusammenarbeit der NATO mit der sich ständig vergrößernden
Europäischen Union werden die zukünftigen europäischen Sicherheitsstrukturen maßgeblich prägen. So müssen zum Beispiel der euro-atlantische Raum gestärkt,
Krisen bewältigt und verhütet und die Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen unterbunden werden. Europa
und die NATO haben dazu mehrere Instrumente geschaffen, zum Beispiel die EU-NATO-Arbeitsgruppen zur Entwicklung formaler Beziehungen zwischen beiden Organisationen oder den neu geschaffenen NATO-Russland-Rat.
Die NATO hat dabei die sich aus dem Ende des Kalten
Krieges ergebende Chance zur Verbesserung der Normalisierung der Beziehungen zu Russland genutzt. Zu den im
NATO-Russland-Dialog vereinbarten Themen gehören
unter anderem die Sicherheit im euro-atlantischen Raum,
gemeinsame friedenserhaltende Operationen, nukleare
Sicherheit, Transparenz und Vertrauensbildung. Die Öffentlichkeitsarbeit der NATO konnte seit dem Frühjahr
2001 durch die Einrichtung eines NATO-Informationsbüros in Moskau verbessert werden. Man kann also mit
Recht sagen, dass durch diesen Dialog zwischen der
NATO und Russland aus ehemaligen Gegnern Partner geworden sind.
Aber auch die Funktion der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der außer den 19 NATO-Mitgliedstaaten weitere 17 assoziierte Parlamente - zu ihnen
zählen auch die nun an der NATO-Erweiterung teilnehmenden Staaten - angehören, darf nicht unterschätzt
werden. Diese Institution hat sich im Laufe der Jahre zu
einem euro-atlantischen Parlament entwickelt. Das Gremium sieht seine Hauptaufgabe darin, die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in allen verteidigungs- und sicherheitspolitischen Fragen zu fördern, die Vorstellungen
der Atlantischen Allianz bei der Formulierung nationaler
Politiken einzubringen, zur Entwicklung einer atlantischen Solidarität in den Ländern der Allianz beizutragen
und als Bindeglied zwischen den nationalen Parlamenten
und der NATO zu dienen. Durch ihre verabschiedeten
Empfehlungen und Entschließungen geben die Parlamentarier neue Impulse, unter anderem für die Arbeit des Nordatlantikrats.
Der Beitritt der neuen Mitgliedstaaten, die die hierfür
festgelegten Kriterien erfüllen müssen - sie bekommen die
Mitgliedschaft ja nicht geschenkt - und Reformen durchführen müssen - sie mussten es und sie müssen es weiterhin tun, um noch bestehende Defizite zu beseitigen -, wird
ein großer Gewinn an Sicherheit und Stabilität für Europa
sein. Dadurch wird eine demokratische Einheit in Europa
von der Ostsee bis zum Balkan geschaffen. Deutschland
hat die Vorbereitung der Aspirantenstaaten auf eine Mitgliedschaft aktiv unterstützt und wird diese Unterstützung
auch weiterhin geben. Die Bedeutung der NATO als
Fundament einer europäischen Friedensordnung und als
Grundlage für die Sicherheit Deutschlands bleibt dabei
selbstverständlich bestehen. Die sich abzeichnenden Beitritte sind ein Erfolg für beide Seiten: für die Beitrittsländer, aber auch für die NATO.
Die Unterzeichnung der Beitrittsprotokolle ist für den
März kommenden Jahres vorgesehen; die Ratifizierungsprozesse sollen im Mai 2004 beendet sein. Wir haben uns
stets für einen zügigen Beitrittsprozess ausgesprochen
und werden zu dieser Entwicklung unseren Beitrag leisten. Für uns steht aber auch fest: Die Politik der offenen
Tür muss auch nach Prag fortgesetzt werden.
({4})
In diesem Sinne wünscht die SPD-Bundestagsfraktion
dem NATO-Gipfel in Prag viel Erfolg.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
PDS im Bundestag lehnt den von Ihnen vorgelegten Antrag ab. Wir teilen aber auch nicht die Intention, die Bundesaußenminister Fischer zum bevorstehenden NATOGipfel hier vorgetragen hat.
Grundsätzlich widersprechen wir dem Begehren der
Opposition zur Rechten. Der Antrag von CDU/CSU zielt
unverhohlen auf eine weitere Militarisierung der Außenpolitik, auf eine drastische Aufrüstung und auf eine bedingungslose Solidarität gegenüber der USA-Politik. Einem solchen Irrsinn unterliegt die PDS nicht.
({0})
1989/90 fand eine 40 Jahre währende Blockkonfrontation ihr Ende. Politische Instrumente aus jener Zeit, die
auf eine friedliche Konfliktbewältigung zielten, wurden
seitdem klein gehalten, zum Beispiel die OSZE. Militärische Instrumente, die auf ein Diktat der Stärke setzen,
wurden ausgebaut, damit auch die NATO. Das illustriert
die Grundrichtung. Wir finden diese Grundrichtung
falsch.
Unübersehbar ist auch, dass die UNO immer mehr in
den Schatten der NATO gerät und dass die Weltorganisation von den USA ein ums andere Mal vorgeführt wird.
({1})
Das ist der Rahmen, aus dem sich unsere begründete
Skepsis gegenüber dem NATO-Gipfel speist.
Hinzu kommt die Militärdoktrin der USA. Sie kündigen Abrüstungs- und Kontrollverträge. Sie reklamieren
für sich das Recht auf Präventivkriege und drohen gar mit
atomaren Erstschlägen. Eine solche Politik ist weltuntauglich. Sie passt nicht ins 21. Jahrhundert. Sie wird auch
nicht mit dem Verweis auf terroristische Bedrohungen
besser. Deshalb, Kollege Schäuble, hörte ich heute mit
Schrecken, dass Sie namens der CDU/CSU-Fraktion sagten: „Mit ... einem Zweitschlag schützen Sie unsere Bevölkerung nicht.“ Das ist nichts anderes als die unsägliche
Parole: „Angriff ist die beste Verteidigung.“ Erhellender
konnte Herr Schäuble heute den Schafspelz nicht ablegen.
({2})
Folglich steht die rot-grüne Bundesregierung vor der
Frage, ob sie als NATO-Mitglied sich dieser Doktrin
anschließt, also unterordnet, oder ob die Bundesrepublik
gemeinsam mit anderen eine selbstbewusste Politik verfolgt, die mehr denn je auf zivile, demokratische und humane Lösungen setzt.
({3})
Auf dem Prager Gipfel wird es um die zweite Runde
der NATO-Erweiterung gehen. Es geht um die Beziehungen der NATO zu Russland und zur Ukraine und es geht
um die Modernisierung der NATO. So jedenfalls beschreibt es die veröffentlichte Tagesordnung. Was darüber
hinaus verhandelt wird, entzieht sich wie stets der allgemeinen Beobachtung und Bewertung.
Ich verweise auf diesen Aspekt, weil wir demnächst
- schon heute Abend - über ein Entsendegesetz befinden.
Es soll unter anderem klären, wann und durch wen deutsche Soldaten in Marsch gesetzt werden dürfen - nicht zur
Übung in der Lüneburger Heide, sondern in militärische
Auseinandersetzungen weltweit.
Auf dem NATO-Gipfel wird ebenso wie in der EU über
schnelle Eingreiftruppen beraten. Ich will jetzt nicht fragen, in welchem Verhältnis beide stehen sollen. Ich
möchte aber das Interesse der Öffentlichkeit auf das
kleine Wörtchen „schnell“ richten, denn dahinter verbirgt
sich nicht nur die Frage nach militärischen Gefahren, sondern auch die Frage: Wer entscheidet über solche Militäreinsätze? Noch liegt das Votum beim Bundestag, der
eine Zweidrittelmehrheit benötigt.
Ihrer Rede, Herr Bundesaußenminister Fischer, und
auch Ihrer Rede, Herr Struck, habe ich entnommen, dass
dies so bleiben soll. Es gibt aber auch andere unübersehbare Bestrebungen: Das Parlament soll beispielsweise
durch den heute vorliegenden FDP-Antrag zum Entsendegesetz entmündigt werden.
({4})
Auch dies ist ein Weg, den die PDS nicht mitgehen wird.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/44 an den in der Tagesordnung aufgeführ-
ten Ausschuss sowie an den Verteidigungsausschuss, den
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union und den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Günter Baumann,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/
CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung
vor Sexualverbrechen und anderen schweren
Straftaten
- Drucksache 15/29 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Günter Baumann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Sozialtherapeutische Maßnahmen für Sexualstraftäter auf den Prüfstand stellen
- Drucksache 15/31 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebe ich
dem Kollegen Wolfgang Bosbach von der CDU/CSUFraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Juni 1996: Die erst 13-jährige Ulrike Everts verschwindet
nach einem Ausflug mit ihrer Ponykutsche spurlos. Später
wird ihre Leiche in der Nähe von Oldenburg gefunden.
September 1996: Die siebenjährige Natalie Astner
wird von einem 29-jährigen Mann entführt, sexuell missbraucht und getötet. Der Täter war wegen Vergewaltigung
und sexuellen Missbrauchs verurteilt, aber vorzeitig auf
Bewährung freigekommen.
Januar 1997: Die zehnjährige Kim Kerkow wird missbraucht und ermordet. Die Polizei ermittelt einen Täter,
der bereits viele Jahre zuvor schon einmal ein junges
Mädchen vergewaltigt hatte.
März 1998: Die elfjährige Christina Nytsch kommt
von einem Ausflug nicht mehr nach Hause. Sie wird nach
fünf Tagen aufgefunden, ebenfalls missbraucht und ermordet. Bei der Suche nach dem Mörder werden von etwa
18 000 Männern aus der Heimat des Opfers Speichelproben für die Erstellung eines genetischen Fingerabdrucks
genommen. Darunter war auch eine Probe des Täters, der
später die Ermordung der Ulrike Everts aus dem Jahre
1996 gesteht.
September 2002: Ein vielfach wegen Vergewaltigung
Vorbestrafter vergewaltigt die 16-jährige Jennifer aus
Neumünster und bringt sie anschließend um. Der Täter
war erst im Juni nach Vollverbüßung einer einschlägigen
Vorstrafe aus der Haft entlassen worden.
Dies sind nur wenige Beispiele aus einer ganzen Reihe
von fürchterlichen Verbrechen, die nicht nur für die hilflosen und gequälten Kinder, sondern auch über jede betroffene Familie, über deren Angehörige und Freunde unendliches Leid gebracht haben. Jedes einzelne Verbrechen
hat zu Recht große öffentliche Aufmerksamkeit erfahren
und die gesamte Bevölkerung erschüttert.
Es ist die wichtigste Aufgabe, es ist unsere Pflicht, die
Pflicht des Staates, die Bürger so gut wie möglich vor Verbrechen und Kriminalität in all ihren Erscheinungsformen
zu schützen.
({0})
Diesen staatlichen Schutz benötigen insbesondere die
Schwächsten in unserer Gesellschaft, unsere Kinder.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen CDU und
CSU die Bevölkerung wirksamer vor Verbrechen, insbesondere vor Sexualstraftätern, schützen. Natürlich wissen wir - das wissen wir alle -, dass das Strafrecht und das
Strafprozessrecht immer nur fragmentarisch wirken können. Einen vollständigen Schutz vor Kriminalität können
weder die Gerichte noch die Polizei noch der Gesetzgeber
versprechen oder gar garantieren, jedenfalls nicht in einem freiheitlichen Rechtsstaat. Aber gerade weil das leider so ist, ist es nicht nur unser Recht, sondern unsere
Pflicht, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um die
Bevölkerung vor Kriminalität zu schützen. Was mit
rechtsstaatlichen Mitteln getan werden kann, muss auch
mit rechtsstaatlichen Mitteln getan werden und ist daher
politisch geboten.
({1})
Es kann doch keinen ernsthaften Zweifel daran geben,
dass unser geltendes Recht eine ganze Reihe von Schutzlücken enthält. Die Schutzlücken wollen wir schließen,
und zwar eher heute als morgen. „Wegschließen für immer“, hat der Bundeskanzler als Konsequenz für Sexualstraftäter gefordert. Dabei ging es ihm im Gegensatz zur
Union nicht um die Sache,
({2})
sondern ihm ging es um die Wirkung. Ihm ging es ausschließlich um den Applaus der Öffentlichkeit.
({3})
Wäre es ihm um die Sache gegangen, hätte er uns in
unserem Anliegen unterstützt. Dann hätte die Bundesregierung in der vergangenen Wahlperiode nicht unsere
Initiative für einen besseren Schutz der Bevölkerung verhindert.
({4})
Kriminalität kann man nicht mit Sprüchen, sondern nur
mit entschlossenen Taten bekämpfen.
Als ich vor 14 Tagen von dieser Stelle aus darauf hingewiesen habe, dass und warum dringender Handlungsbedarf besteht, hat die Kollegin Griefahn von der SPD
dazwischen gerufen: Wieso? Die Zahlen gehen doch
zurück! Die geistige Haltung, die hinter diesem Zwischenruf steht, ist unerträglich und ich fürchte, dass sie
leider für viele nicht untypisch ist.
({5})
Im vergangenen Jahr wurden 15 117 Fälle des sexuellen Missbrauchs nur von Kindern registriert.
({6})
Es ist zu befürchten, dass wir gerade im Bereich dieser
Delikte eine sehr hohe Dunkelziffer haben.
({7})
Das ist der politische Unterschied zwischen uns. Sie sagen bei 15 117 Fällen: Es sind 464 Fälle weniger als im
vergangenen Jahr, es besteht kein Handlungsbedarf. Wir
sagen: 15 117 Fälle sind 15 117 Fälle zu viel und deswegen müssen wir etwas tun.
({8})
- Sie, Herr Stünker, regen sich schon auf, wenn man Ihnen nur den Zwischenruf Ihrer eigenen Kollegin vorhält,
die bei ihrer Bemerkung nämlich unterschlagen hat, dass
gerade die Zahl der Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern im vergangenen Jahr erheblich gestiegen ist.
({9})
Deswegen ist es höchste Zeit zum Handeln. Wir wollen,
dass der sexuelle Missbrauch von Kindern im Strafgesetzbuch als genau das bezeichnet wird, was er tatsächlich ist, nämlich als Verbrechen und nicht nur als Vergehen.
({10})
Herr Kollege Bosbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Nein. ({0})
Durch diese Heraufstufung der Tat zu einem Verbrechen
würde endlich auch die Verabredung zum sexuellen Missbrauch eines Kindes unter Strafe gestellt.
Wir wollen die Überwachung der Telekommunikation
bei allen Formen des Kindesmissbrauchs und auch bei der
Herstellung und Verbreitung von Kinderpornographie
ermöglichen. Gerade die Zahl der Fälle von Besitz und
Verbreitung der Kinderpornographie ist im letzten Jahr
dramatisch gestiegen. Ein Auszug aus der polizeilichen
Kriminalstatistik der Bundesrepublik Deutschland verzeichnet bei Besitz und Beschaffung von Kinderpornographie einen Anstieg um 72 Prozent und bei der Verbreitung von Kinderpornographie einen Anstieg von
60,8 Prozent in einem Jahr. Wenn Sie, Herr Ströbele, sagen, im Grunde müssten wir nichts ändern, dann ist das
genau der Grund, warum ich von Ihnen weder eine Zwischenfrage noch einen Zwischenruf akzeptieren kann. Die
Verharmlosung soll hier im Parlament nicht fortgesetzt
werden.
({1})
Wir wollen die Möglichkeit der DNA-Analyse konsequent nutzen. Warum tun wir uns so schwer beim genetischen Fingerabdruck?
({2})
Es ist ernsthaft behauptet worden - der Kollege ist nicht
mehr Mitglied des Deutschen Bundestages -, mit dem genetischen Fingerabdruck könne man die Erbinformationen des Täters oder des Tatverdächtigen offen legen. Das
ist doch verrückt. Wir können mit dem genetischen Fingerabdruck nur feststellen: Stammt die Spur vom Täter
oder vom Tatverdächtigen, ja oder nein? Mehr nicht. Es
ist nichts anderes als ein Fingerabdruck.
Bis jetzt kann der genetische Fingerabdruck nur bei einer Anlasstat von erheblicher Bedeutung genommen werden. Diese Beschränkung ist zu eng. Wir wollen, dass der
genetische Fingerabdruck bei jeder Straftat mit einem
sexuellen Bezug genommen werden kann, also beispielsweise - um hier Klartext zu reden - auch von Spannern
und Exhibitionisten. Mein Mitleid hält sich hier stark in
Grenzen.
({3})
Schließlich sind 75 Prozent aller Vergewaltiger vorbestraft. 25 Prozent aller Vergewaltiger haben ihre kriminelle Karriere als Spanner oder Exhibitionisten begonnen.
Deswegen sagen wir auch an dieser Stelle: Wehret den
Anfängen!
Wir wollen bundesweit und einheitlich die nachträgliche Sicherungsverwahrung einführen. Es gibt Fälle, in
denen das Gericht bei der Aburteilung des Täters fälschlicherweise davon ausgegangen ist, dass er nach Verbüßung
seiner Haft ein straffreies Leben führen wird. Dann hat
sich aber erst während der Haftzeit herausgestellt, dass
der Täter nicht therapierbar und nicht resozialisierbar ist
und dass es in hohem Maße wahrscheinlich ist, dass er
nach der Haftentlassung weiterhin schwere und schwerste
Straftaten begehen wird. Wenn die Lage so ist, dann darf
der Täter nicht in die Freiheit entlassen werden. Dann
muss der Schutz der Bevölkerung Vorrang vor dem Freiheitsinteresse des Täters haben.
({4})
Andere Vorgehensweisen wären im wahrsten Sinne des
Wortes lebensgefährliche Experimente auf Kosten der
Bevölkerung. Sollte die Bundesregierung, wie von Ihnen, Frau Zypries, signalisiert worden ist, auf die Vorschläge der Union tatsächlich eingehen, dann würden wir
das begrüßen. Besser spät als nie! Aber Sie sollten bei
Ihren Bemühungen, sich in unsere Richtung zu bewegen,
nicht auf halbem Weg stehen bleiben; denn wenn Sie eine
Schutzlücke nur halb schließen, dann haben Sie die
Schutzlücke überhaupt nicht geschlossen. Deswegen bitte
ich Sie herzlich: Setzen Sie sich insbesondere in den eigenen Reihen durch; denn entscheidend ist nicht das, was
Sie sagen, sondern das, was Sie tun. Nicht an ihren
Sprüchen, sondern an ihren Taten sollt ihr sie erkennen!
({5})
Heute vor einer Woche haben die Richter, die Polizisten und die Bediensteten im Strafvollzug übereinstimmend erklärt, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung dringend notwendig sei. Wenn Sie schon nicht auf uns
hören wollen, dann hören Sie wenigstens auf die Praktiker,
die tagtäglich mit solchen Schwerverbrechern zu tun haben.
({6})
Denken Sie bei Ihrer Entscheidungsfindung nicht nur an
die Koalition, sondern vor allen Dingen auch an die Opfer.
Danke für das Zuhören.
({7})
Ich erteile jetzt das Wort der Bundesministerin Brigitte
Zypries.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bosbach, Sie haben ja Recht, wenn
Sie sagen, wir sollten alles tun, was rechtsstaatlich möglich und rechtspolitisch notwendig ist. Dafür haben Sie
den Beifall von der rechten Seite dieses Hauses zu Recht
bekommen. Aber wenn wir beginnen wollen, ernsthaft
darüber zu diskutieren, was zu tun ist, dann bedeutet das
auch, dass wir redlich sein müssen. Zur Redlichkeit
gehört, dass man zwischen den gesetzlichen Strafandrohungen und dem unterscheidet, was im Vollzug geschieht.
({0})
Fast alle Fälle, die Sie zu Beginn Ihrer Rede populistisch
aufgelistet haben, waren ja nicht so gelagert, dass das
Maß der Strafandrohung nicht ausreichend gewesen
wäre. Das sind doch alles Fälle, in denen es im Vollzug
gehapert hat,
({1})
in denen die Täter vorzeitig freigelassen wurden oder sich
zum Beispiel selbst befreit haben. Das müssen wir sauber
auseinander halten.
Sie haben dankenswerterweise anerkannt - auch ich
möchte das betonen -, dass uns an einer sachlichen Debatte über das zur Diskussion stehende Thema liegt. Das
ist in der Tat so; denn dieses Thema ist keines, das sich für
kleinliches politisches Gezänk eignet. Wir müssen hier
sachlich sein, weil wir sonst nicht weiterkommen.
({2})
Zur Sachlichkeit gehört aber auch, dass Sie anerkennen
müssen, dass die jetzige Koalition in der vergangenen
Legislaturperiode den Schutz gerade vor gefährlichen
Sexualstraftätern ganz erheblich verbessert hat
({3})
- das müssen Sie schon anerkennen - und dass die Bundesländer, egal ob sie von der SPD oder der Union regiert
werden, in den letzten Jahren im Bereich des Strafvollzugs und des Maßregelvollzugs deutliche Verbesserungen
erzielt haben. Auf diesem Weg müssen wir sie unterstützen. Darauf zielt ja auch Ihr weiter gehender Antrag, den
Sie gestellt haben.
({4})
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Auch wir sind der
Auffassung, dass jedes Opfer einer Gewalttat ein Opfer zu
viel ist. Deswegen dürfen wir hier keine halben Sachen
machen.
({5})
Wir dürfen - das will ich an dieser Stelle betonen - dabei
allerdings nicht nur den strafrechtlichen Rahmen sehen,
sondern es geht auch darum, die Länder mit ins Boot zu
bekommen. Wir haben in der kriminologischen Forschung und in der forensischen Psychiatrie erhebliche
Fortschritte zu verzeichnen. Wir verfügen heute über bessere Prognosemethoden, über bessere Behandlungsmethoden und über eine bessere Aus- und Fortbildung der forensisch-psychiatrischen Gutachter. Auf diesem Weg
müssen wir weitergehen und die Länder dabei unterstützen, dass sie das, was in ihrer Verantwortung liegt, auch
tun.
({6})
Ich komme nun auf einzelne Punkte zu sprechen, auf
die ich schon in meiner Rede bei der Aussprache zur Regierungserklärung des Kanzlers eingegangen bin. Bei der
Neugestaltung von Strafvorschriften, namentlich beim sexuellen Missbrauch von Kindern, stimmen wir mit Ihnen
insoweit überein, als die Verwerflichkeit dieser Taten
durch das Strafmaß zum Ausdruck gebracht werden
muss. Man muss aber trotzdem zu einer notwendigen Abstufung nach der Schwere der Tat kommen, da sich das
sonst im Vollzug als kontraproduktiv erweisen könnte,
weil sich keiner mehr traut, diese Taten anzuklagen, weil
es sich immer gleich um schwere Verbrechen handelt. Ich
bitte Sie ganz herzlich: Lassen Sie uns im Verlauf der
Ausschussberatungen gemeinsam darüber reden, wie wir
das sinnvoll regeln. Die Strafandrohung alleine bringt es
eben nicht.
({7})
Daneben müssen wir auch prüfen, ob § 140 StGB, also
die Belohnung und die Billigung von Straftaten, um den
Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern erweitert werden muss. Ich bin der Auffassung, dass ein
neuer Tatbestand, nach dem sich strafbar macht, wer auf
ein Kind einwirkt, um es zu sexuellen Handlungen zu
bringen, präventiv wirken wird.
({8})
Ich möchte einen Bereich aufgreifen, der in Ihrem Gesetzentwurf nicht zufriedenstellend beachtet wird. Wir
müssen adäquat auf die neuen Möglichkeiten des Internet reagieren.
({9})
Es gibt dort andere Formen, wie man Straftaten begehen
kann. Darauf müssen wir eingehen.
({10})
- Das mag für Sie vielleicht ein Randthema sein; für uns
ist es keines.
Schließlich halte ich es auch für notwendig, die Strafvorschriften gegen Verbreitung und Besitz kinderpornographischer Schriften zu verschärfen.
In einem Punkt - Herr Bosbach, Sie haben das eben
angesprochen - gibt es zwischen uns allerdings keine Gemeinsamkeit: in der Frage der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Eine isoliert angeordnete Sicherungsverwahrung ist aus unserer Sicht Gefahrenabwehr
und damit reine Ländersache.
({11})
Wir haben in der letzten Legislaturperiode dazu Vorschläge vorgelegt und haben den Richtern die Möglichkeit gegeben, einen Vorbehalt auszusprechen. Das heißt,
alle betreffenden Urteile seit dem letzten Jahr sind abgedeckt, es gibt also kein Regelungsdefizit mehr.
({12})
Ihr Vorstoß bezüglich der nachträglichen Sicherungsverwahrung ist erstaunlich. Gerade die unionsregierten
Länder folgen doch unserer Rechtsauffassung und haben
entsprechende Landesgesetze verabschiedet.
({13})
Die ersten Gerichtsentscheidungen zeigen zwar, dass in
dem Bereich in den Ländern noch nachgebessert werden
muss. Ich denke aber, auch das werden wir schaffen.
Ihr Vorschlag würde darüber hinaus neben den Ersttätern auch die Mehrfachtäter umfassen und damit echte
Verwerfungen zur eigentlichen Anordnung der Sicherungsverwahrung zur Folge haben. Das müssten Sie einmal überprüfen.
All diese Punkte erwähne ich nur am Rande; denn ich
möchte viel lieber die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellen und Sie auffordern, da, wo wir uns einig
sind, gemeinsam zu überlegen, wie wir die Situation verbessern können.
({14})
Dabei sollten wir den Blick auch auf die Felder richten,
die für den Schutz der Bevölkerung entscheidend sind und
wozu das Strafrecht, wie wir meinen, einen wichtigen
Beitrag leisten kann. Deswegen halten wir es für richtig,
auch die Sicherungsverwahrung für Heranwachsende
vorzusehen. Es geht darum, dass die Heranwachsenden,
die nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden, in
die Sicherungsverwahrung überführt werden können. Um
es klar zu sagen: Es sind nur ganz wenige Fälle. Es gibt
aber besonders gefährliche frühkriminelle Hangtäter, bei
denen die Prognose bereits gestellt werden kann. Für
diese ganz wenigen Fälle sollten wir so etwas vorsehen.
Meine Damen und Herren, im Rahmen meiner Antrittsrede habe ich schon darauf hingewiesen, dass wir mit
dem gesamten Arsenal der strafprozessualen Möglichkeiten gegen die Verbreitung der Kinderpornographie vorgehen müssen, wobei ich aber nicht glaube, dass jetzt ein
Galopprennen zur Änderung des § 100 a StPO beginnen
muss. Wir haben bereits in der letzten Legislaturperiode
entscheidende Veränderungen durchgeführt. Seither gibt
es die Möglichkeit, zur Aufklärung des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern, des Missbrauchs mit Todesfolge und vor allen Dingen - das ist ein wichtiger
Aspekt für mich - der gewerbs- oder bandenmäßigen Verbreitung der Kinderpornographie die Telekommunikationsüberwachung einzusetzen.
({15})
Für meine Begriffe ist dieses Instrumentarium insbesondere für diese Bereiche besonders gut geeignet.
({16})
Ehe man eine Erweiterung ins Auge fasst, muss man
bedenken, welche Fälle man damit einschließt. Bei den
Abhörmaßnahmen muss man immer auch in Rechnung
stellen, dass man eine erhebliche Anzahl von Unschuldigen und nicht Betroffenen einbezieht. Deshalb muss man
ganz besonders prüfen, ob das im Einklang mit dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu realisieren ist. Ich
glaube, wir gingen über das Ziel hinaus, wenn wir generell sagen würden, dass bei sämtlichen Formen des sexuellen Missbrauchs - auch wenn bei Einzeltätern nur ein
Verdacht besteht - eine entsprechende Überwachung zugelassen werden muss.
Ich denke, eine verantwortliche Kriminalpolitik zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Ermittlungsbehörden
nur die Instrumente an die Hand gibt, die nötig sind. Wie
Sie aus der Rechtsprechung wissen, ist gerade in diesen
Fällen ausgesprochen streng zu überprüfen, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wurde. Deshalb haben wir schon in der vergangenen Legislaturperiode beim
Max-Planck-Institut eine Untersuchung in Auftrag gegeben. Wir wollen feststellen, wie das tatsächlich wirkt und
was dabei herauskommt. Wenn dieser Bericht des MaxPlanck-Instituts vorliegt, werde ich ihn gerne gemeinsam
mit Ihnen erörtern. Wir werden dann gemeinsam überlegen, welche Schlussfolgerungen wir daraus zu ziehen haben.
({17})
- Herr van Essen, ich kann Ihnen nur sagen, dass wir ihn
schon mehrfach beim Max-Planck-Institut angemahnt haben. Ich teile Ihre Auffassung, dass es ein wenig zu lange
dauert. Wissenschaftler kann man aber nur beschränkt
drängen.
({18})
Meine Damen und Herren von der Union, die Vorschläge, die Sie zur DNA-Analyse machen, entsprechen
weitgehend einem Vorschlag, der im letzten Jahr im Bundesrat eingebracht worden und dort stecken geblieben ist.
Wir müssen darüber nachdenken, ob nur Straftaten mit erheblicher Bedeutung Anlasstaten für die DNA-Analyse
sein sollen oder ob wir die Schwelle absenken wollen. Es
gibt Untersuchungen über die Rückfallquote exhibitionistischer Straftäter, die besagen, dass etwa 1 bis 2 Prozent
dieser Straftäter später wegen eines sexuellen Gewaltdeliktes erneut verurteilt werden. Genau hier würde ich ansetzen. Diese Straftäter müssen verhaftet und vor Gericht
gestellt werden. Deshalb bin ich dafür, die Möglichkeiten
zur Durchführung der DNA-Analyse auszuweiten. Das
kann aber nur im Einzelfall geschehen. Wenn der Richter
die Prognose stellt, dass mit einer Schuld des Betroffenen
zu rechnen ist, ordnet er sie an.
Herr Bosbach, ich danke Ihnen, dass Sie in Ihrem Redebeitrag darauf hingewiesen haben, dass Sie das inzwischen wie wir sehen. Auch Sie halten es für besser, die
Formulierung „sexueller Bezug“ anstatt „sexueller Hintergrund“ zu wählen. Damit sind Sie ein wenig konkreter
geworden. Es ist sehr gut, dass wir uns insoweit einig
sind.
Zum Abschluss möchte ich noch einige Worte zur Evaluation sozialtherapeutischer Maßnahmen sagen. Es gibt
einen Antrag von Ihnen. In diesem unterstreichen Sie völlig zu Recht die Notwendigkeit einer Begleitforschung,
was die sozialtherapeutische Behandlung von Sexualstraftätern angeht. Auch ich bin der Auffassung, dass wir
diese durchführen müssen. Ich will mit den Länderkollegen gerne darüber reden. Die Länder müssen diese Aufgabe übernehmen, da sie in ihrem Verantwortungsbereich
liegt; dort gehört sie hin. Sie sind dafür verantwortlich.
Die kriminologische Zentralstelle liefert Daten dazu.
Das Justizministerium wird die kriminologische Zentralstelle selbstverständlich darum bitten, diesen Themenbereich weiter zu verfolgen und die Daten auch weiterhin zu
liefern, damit wir auf der Basis vernünftiger, empirisch erhobener Daten überlegen können, was zu tun und zu ändern ist.
Wie Sie sehen, bin ich der Meinung, dass wir bei der Beratung dieser Gesetzentwürfe in den Ausschüssen zu überzeugenden gemeinsamen Ergebnissen kommen werden.
({19})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk von
der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! In meinem Wahlkreis beginnt in zwei
Wochen der Strafprozess gegen einen Mann, der nach
Verbüßung einer erstmaligen Freiheitsstrafe wegen verschiedener Sexualdelikte aus der Haft entlassen wurde,
obwohl Grund zu der Annahme bestand, dass eine Sicherungsverwahrung dieses Mannes angezeigt gewesen wäre.
Innerhalb weniger Wochen nach seiner Haftentlassung
hat er mehrere Frauen äußerst brutal vergewaltigt. In Baden-Württemberg herrschte vor gut einem Jahr Angst und
Schrecken, bis dieser Mann festgenommen werden
konnte. Die Bevölkerung bringt selbstverständlich kein
Verständnis dafür auf, dass in einem solchen Fall seitens
des Staates nicht präventiv gehandelt wurde und dass dieser Mann nicht in Sicherungsverwahrung kam.
({0})
Die vorliegende Gesetzinitiative wurde in der vergangenen Legislaturperiode bereits beraten und abgelehnt.
Seit August dieses Jahres ist das Gesetz zur Einführung
der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung in Kraft, sodass nur noch ein sehr kleiner Kreis möglicher Straftäter
von der vorliegenden Gesetzesinitiative erfasst wird.
Warum dies nun doch möglich sein soll, muss in den Ausschussberatungen genau geklärt werden. Schließlich ist es
aus rechtsstaatlichen Gründen problematisch, ohne vorherigen richterlichen Vorbehalt mit der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung einen Straftäter ein
zweites Mal zu bestrafen, zumal die Sicherungsverwahrung auf eine lebenslange Inhaftierung hinauslaufen kann.
Hierbei sind auch die Erfahrungen mit der entsprechenden Ländergesetzgebung in Baden-Württemberg, Bayern
und Sachsen-Anhalt zu prüfen, wo nach meiner Kenntnis
die Anwendung von Gesetzen über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Straftäter bisher keine wesentliche Bedeutung erlangt hat.
({1})
Rechtsstaatliche Grundsätze wie das Verbot der Doppelbestrafung und das Rückwirkungsverbot dürfen nicht
leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden.
({2})
Hinzu kommt, dass die Gesetzgebungskompetenz im
Strafrecht beim Bund liegt.
Der zweite Schwerpunkt des vorliegenden Gesetzentwurfs betrifft die Strafverschärfung für sexuellen Missbrauch von Kindern von sechs Monaten Mindestfreiheitsstrafe auf ein Jahr. Damit werden diese Delikte vom
Vergehen zum Verbrechen heraufgestuft. Es steht außer
Frage, dass alle Missbrauchshandlungen an Kindern ein
Verbrechen an deren Seele darstellen.
({3})
Durch die Strafverschärfung nach Ihren Vorstellungen
würde zwar die Bevölkerung, aber sicherlich nicht die
Vielzahl betroffener Kinder geschützt. Der Gesetzentwurf
lässt die Belange der Opfer nach meinem Dafürhalten sogar außer Acht.
Die Straftaten des sexuellen Missbrauchs sind in den
allermeisten Fällen Beziehungstaten und eben nicht solche Taten wie Sie, Herr Kollege Bosbach, sie anfangs aufgeführt haben. In den 15 117 Fällen, von denen Sie gesprochen haben, stammen die allermeisten Täter aus dem
sozialen Umfeld des Kindes; die Fälle sind insofern nicht
mit dem zu vergleichen, was Sie sehr prägnant geschildert
haben und was sicherlich grauenhafte Folgen für die Kinder hat.
({4})
Die Opfer sind oft nur dann zur Aussage und zur Mitarbeit bei der Vielzahl von Missbrauchsfällen, die zur Anzeige kommen, bereit, wenn sie davon ausgehen, dass der
Täter, der oft ein naher Verwandter oder ihnen sonst nahe
stehender Mensch ist, nicht zu hart bestraft wird.
({5})
Kinder haben eher ein Interesse daran, die für sie oft
über lange Zeiträume andauernde und gerade auch seelisch sehr belastende Situation zu beenden, als dass sie
eine Bestrafung der Täter wünschen.
({6})
Ich spreche ausdrücklich aus der Sicht der Kinder.
Diesen Konflikt des Opfers kann eine Strafverschärfung nicht lösen. Vielmehr werden leichtere Formen des
Kindesmissbrauchs weniger ernst genommen werden und
auch für den Täter unbedeutender, da er sich dann, wie es
die Gesetzesvorlage ausführt, auf einen minder schweren
Fall berufen kann. Der Täter fühlt sich in der Auffassung,
es sei ja nicht so schlimm gewesen, eher noch bestätigt.
Ein Schritt in die richtige Richtung ist die Schaffung eines spezifischen Tatbestandes gegen das Anbieten von
Kindern für sexuellen Missbrauch. Hiermit werden die
Möglichkeiten, die die Datennetze bieten, endlich strafrechtlich berücksichtigt werden. Ich denke, dieser Mangel
bedarf dringend der Aufhebung. Es ist höchste Zeit, dass
hier etwas geschieht. Da halte ich den Gesetzentwurf für
sehr richtig.
Über die Möglichkeiten der DNA-Analyse ist in den
Ausschüssen nochmals zu beraten. Insbesondere Belange
des Datenschutzes müssen gewahrt bleiben. Inwieweit
der Ausbau sozialtherapeutischer Einrichtungen und die
Erhöhung der Anzahl entsprechender Haftplätze eine Optimierung der Behandlungsmaßnahmen von Straftätern
nach sich ziehen, sollte nicht zuletzt auch in Anbetracht
der Kosten überprüft werden.
Ich warne davor, den angestrebten Schutz der Bevölkerung vor Sexualstraftaten durch Strafverschärfungen so zu
polarisieren, dass im Ergebnis eine Bagatellisierung der
Vielzahl durchschnittlicher Missbrauchsstraftaten eintritt.
({7})
Damit wäre den Opfern nicht geholfen. Es entspräche sicherlich auch nicht dem Sinn und Zweck der Gesetzesvorlage.
({8})
Frau Kollegin Laurischk, ich beglückwünsche Sie zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard ScheweGerigk von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im letzten
Jahr sind vier Kinder einem der schlimmsten Verbrechen
zum Opfer gefallen, das wir uns vorstellen können. Sie
wurden sexuell missbraucht und getötet. Auch für die Angehörigen ist es kein Trost, wenn wir feststellen, dass die
Zahl dieser furchtbaren Delikte abnimmt. Vor zehn Jahren
waren es sieben Kinder, vor 20 Jahren noch 13 Kinder.
Wir müssen alles dafür tun, um solche Straftaten möglichst zu verhindern. Zu Recht fragt sich die Gesellschaft
nach jedem dieser schrecklichen Fälle: Tun wir wirklich
alles zum Schutz der Kinder?
In diesem Kontext steht auch der heutige Gesetzentwurf der CDU/CSU. Ich nehme Ihnen ab, verehrte Kolleginnen und Kollegen, dass Sie es gut meinen, aber gut
gemeint ist nicht immer gut. Die Mittel, die Sie vorschlagen, sind ungeeignet. Sie missbrauchen die Ängste der
Bevölkerung nach solchen Sexualverbrechen, um populistische Maßnahmen vorzuschlagen.
({0})
Sie suggerieren, mit einer Erhöhung des Strafmaßes
könne der Schutz der Opfer vor Sexualstraftaten verbessert werden. Das ist nicht nur undifferenziert, sondern
auch kontraproduktiv.
({1})
Neben dieser grausamsten Form sexualisierter Gewalt
gibt es eine hohe Zahl an sexuellen Übergriffen. Herr
Bosbach hat es gerade gesagt: Jedes Jahr werden circa
15 000 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern angezeigt. Drei Viertel der Opfer sind Mädchen, ein Viertel
der Opfer Jungen. Hinzu kommen jährlich ungefähr
7 000 Vergewaltigungen. Dabei kommen die Täter meistens aus dem Familien- oder Bekanntenkreis der Opfer.
Sexualisierte Gewalt ist Mord an der Seele der Kinder;
das wissen alle, die sich mit den Opfern beschäftigen.
Wenn fremde Menschen diese Verbrechen begehen, ist die
Traumatisierung der Kinder schon schwer genug zu verarbeiten. Wenn aber der Täter zum vertrauten, familiären
oder sozialen Umfeld gehört, ist die Tat schier unerträglich. Ich nenne in diesem Zusammenhang auch die vielen
bekannt gewordenen Missbrauchsfälle von Priestern.
Die Anzahl der registrierten Fälle von sexuellem Missbrauch hat in den letzten Jahrzehnten insgesamt abgenommen. Wir wissen aber auch, dass die weit überwiegende Zahl der Fälle nach wie vor nicht zur Anzeige
gebracht wird. Hier hilft Prävention durch Information.
Die größere öffentliche Sensibilisierung für das Thema
hat zu einer gestiegenen Anzeigebereitschaft seit Beginn
der 90er-Jahre geführt. Hier müssen wir auch weiter ansetzen; denn die Strafanzeige ist nun einmal die Grundlage, um Täter strafrechtlich verfolgen und auch verurteilen zu können. Herr Bosbach, Ihre Vorschläge gehen da
einfach an der Praxis vorbei. Wenn eine Erhöhung der
Mindeststrafe die Opfer tatsächlich schützen würde, dann
hätten Sie uns an Ihrer Seite. Sie tut es aber nicht.
({2})
Ich habe mir zur Vorbereitung dieser Debatte die
Rechtsprechungspraxis der letzten Jahre angeschaut. Die
Vergleichszahlen von 1984, 1993 und 1998 belegen: Im
Fall von sexuellem Kindesmissbrauch sind insgesamt ein
Anstieg der Zahl der verhängten Freiheitsstrafen und
eine höhere Ausschöpfung des Strafmaßes zu verzeichnen. Aber worauf es hier besonders ankommt, ist: Die Anzahl derjenigen, die zu mindestens einem Jahr verurteilt
wurden, hat ebenso zugenommen wie die Zahl der zu
einer mehr als fünfjährigen Haftstrafe Verurteilten. Das
können Sie in dem ersten periodischen Sicherheitsbericht
von BMI und BMJ aus dem Jahr 2001 nachlesen.
Bereits heute ist jeder Fall von sexuellem Missbrauch,
der die Gefahr einer erheblichen Schädigung der seelischen Entwicklung mit sich bringt, mit einer Mindest560
strafe von einem Jahr belegt. Also das, was Sie wollen,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU, gibt es
schon.
Ihr Vorschlag, den Opferschutz durch eine Erhöhung
des Strafrahmens für „einfachen“ sexuellen Missbrauch
zu verbessern, zielt in die falsche Richtung. Wollen Sie
wirklich, dass die einvernehmliche sexuelle Handlung
zwischen einer 13-Jährigen und einem 14-Jährigen zu einer Jugendstrafe führt?
Und eine andere Folge ist absehbar: Eine Heraufstufung des Strafmaßes hätte voraussichtlich vor allem für
die Opfer negative Folgen; die Kollegin von der FDP hat
es gerade ausgeführt. Es käme immer zu einer Hauptverhandlung mit den entsprechenden schädlichen Auswirkungen für die Kinder. Auch in den leichtesten Fällen
wäre eine Verfahrenseinstellung gegen Auflagen nicht
möglich. Gerade unter dem Aspekt des Opferschutzes ist
dies nur als kontraproduktiv zu bezeichnen, wie es auch
der Anwaltverein in seiner Pressemitteilung formuliert
hat.
Mit der von Ihnen vorgeschlagenen nachträglichen Sicherungsverwahrung und der DNA-Analyse wird sich
gleich mein Kollege Montag intensiv auseinander setzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der vergangenen Legislaturperiode deutliche Verbesserungen
zum Schutz der Opfer erreicht. Ich nenne nur das Gewaltschutzgesetz, die Heraufsetzung des Beginns der
Verjährungsfrist für Schmerzensgeldansprüche wegen
Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung auf das
21. Lebensjahr, die Telefonüberwachung bei schwerem
sexuellen Missbrauch und Kinderpornographie. Das sind
nur einige Punkte.
Wir werden uns weiterhin sowohl für den verbesserten
Opferschutz als auch für die sozialtherapeutische Behandlung der Täter einsetzen. Sich für das Recht von
Mädchen und Jungen auf seelische und körperliche Unversehrtheit einzusetzen, das muss unser aller Anliegen
sein. Mit dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf ist
das nicht möglich. Lassen Sie uns aber in den Beratungen
noch einmal schauen, ob es Dinge gibt, die wir gemeinsam auf den Weg bringen können, um diesem Ziel nahe zu
kommen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Röttgen von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf die Meinungsverschiedenheiten in diesem wichtigen Bereich zu
sprechen komme, möchte ich mit einer positiven Feststellung beginnen. Die Debatte hat sich gegenüber der Debatte, die wir noch vor zwei Wochen geführt haben und
die wir in der vergangenen Legislaturperiode über vier
Jahre geführt haben, verändert.
Wir als CDU/CSU-Fraktion haben immer den Handlungsbedarf auf dem Gebiet des Schutzes von Kindern vor
sexueller Gewalt betont und gefordert, dass der Gesetzgeber tätig wird. Sie haben sich dem über Jahre verweigert.
({0})
Heute anerkennt auch die Bundesjustizministerin, dass
Handlungsbedarf besteht, und zwar - wie sie selbst sagt inhaltlich weitgehend in Übereinstimmung mit den Vorschlägen der CDU/CSU-Fraktion. Das begrüßen wir. Unsere Vorschläge werden nicht dadurch falsch, dass nunmehr auch die Justizministerin, die der SPD angehört, sie
für richtig hält.
Wir bedauern allerdings - das muss auch ausgesprochen werden -, dass der Erkenntnisprozess Jahre gedauert hat. Wenn Sie heute Handlungsbedarf konzedieren
- die Koalition ist ja die gleiche geblieben, wenn auch
nicht die Person der Bundesjustizministerin -, dann heißt
das: Über Jahre bestanden, nunmehr anerkannt auch
durch die Bundesjustizministerin, Lücken im Schutz von
Kindern vor sexueller Gewalt. Das ist der traurige Befund, der mit dem Fortschritt in Ihrer Erkenntnis einhergeht.
({1})
Frau Bundesjustizministerin, es muss uns auch erlaubt
sein, dahin gehend Skepsis zu äußern, ob sich Ihre Ankündigungen am Ende im Gesetzblatt wiederfinden. Für diese
Skepsis haben wir mehrere Gründe. Die Grünen haben sowohl in der Debatte heute als auch in Presseerklärungen
versucht, das Thema, das wir hier beraten, zu tabuisieren.
Ihre Strategie bestand immer darin, zu sagen: Wer über
dieses Thema spricht, der polemisiert, emotionalisiert und
macht kleinkarierte Parteipolitik. Sie haben versucht, die
wichtigen Themen Opferschutz und Kriminalitätspolitik
zu tabuisieren.
({2})
Ich wundere mich nur, dass Sie sich angesichts Ihres
Vorwurfs der Polemik und der Emotionalisierung nicht
über den Bundeskanzler beschweren. Darum müssen Sie
sich den Vorwurf des mangelnden politischen Mutes und
der Scheinheiligkeit gefallen lassen.
({3})
Der Oberpolemiker in dieser Frage ist der deutsche Bundeskanzler. Dazu hätte ich von Ihnen gerne einmal ein
Wort gehört.
Sie brauchen eine Mehrheit. Wir stehen in dieser Angelegenheit zur sachlichen Kooperation - wie stets - zur
Verfügung. Frau Schewe-Gerigk hat mit ihrer Kritik eben
Herrn Bosbach angesprochen. Gemeint waren natürlich
Sie, Frau Bundesjustizministerin. Frau Schewe-Gerigk
hat sich gegen Ihre Vorschläge, die Sie etwa in der „Süddeutschen Zeitung“ gemacht haben, ausdrücklich und
frontal gewendet. Sie sind doch dafür, Kindesmissbrauch
zum Verbrechen heraufzustufen. Die Grünen haben dies
gerade explizit abgelehnt. Sie haben in der Koalition
keine Einigkeit. Ihre Ankündigungen müssen Sie erst
noch realisieren.
({4})
Wenn Sie es ernst meinen, dann haben Sie eine gute
Gelegenheit, dies zu demonstrieren; schließlich sagen
Sie: 80 Prozent des Gesetzentwurfs der Union sind in
Ordnung. Wir schlagen Ihnen vor, auf der Grundlage unseres Gesetzentwurfs zu verhandeln.
({5})
Der Mehrheit fällt kein Zacken aus der Krone, wenn sie
sagt: 80 Prozent dieses Gesetzentwurfs sind gut; im
Hinblick auf die restlichen 20 Prozent stellen wir Änderungsanträge. Lassen Sie uns auf der Grundlage unseres Entwurfs verhandeln! Auf diese Weise werden Sie
den größten Teil Ihrer Vorstellungen durchsetzen können.
Bevor ich zu den Einzelheiten komme und bevor wir
uns in dem damit verbundenen Dschungel vielleicht verirren, liegt mir daran, zu betonen, wie der Maßstab aussieht. Der stellvertretende Vorsitzende unserer Fraktion
hat ihn bereits beschrieben. Da er entscheidend ist,
möchte ich es wiederholen. Was ist der Maßstab des politisch Gebotenen, des politisch Notwendigen in dieser
Frage? Das Notwendige und Gebotene ist nicht weniger
als das rechtsstaatlich Mögliche. Alles, was rechtsstaatlich möglich ist, ist das politisch Gebotene. Das ist der
Maßstab. Wir erbitten auch von Ihnen eine Erklärung
dazu, ob Sie diesen Maßstab akzeptieren oder ob Sie unter dieser Messlatte bleiben wollen, ob Sie also weniger
zum Schutz von Opfern tun wollen als das, was rechtsstaatlich möglich ist.
({6})
Ich glaube, dass Sie die Konstellation nicht wirklich
begriffen haben. Sie leben in der Vorstellung, dass es darum geht, den Staat, der in die Freiheit des einzelnen
Straftäters regulierend eingreifen will, abzuwehren. Wir
müssen das Freiheitsrecht des Straftäters - auch der
Straftäter ist nicht rechtlos - gegen den Schutzanspruch
des potenziellen Opfers abwägen.
({7})
Dass es um diese Abwägung geht, verstehen Sie nicht. Ich
habe, ganz offen gesagt, den Eindruck, dass Sie, Herr
Ströbele, und auch Sie, Frau Schewe-Gerigk, noch im
ideologischen Gefängnis der 70er-Jahre hausen. Befreien
Sie sich von Ihren alten ideologischen Kämpfen!
({8})
Ich möchte auf die entscheidende Meinungsverschiedenheit, die zwischen uns besteht, zu sprechen kommen.
Dabei geht es um die Fragen: Wie geht der Staat mit gefährlichen Straftätern um? Was tut der Staat zum Schutz
der Bevölkerung vor Straftätern, von denen der Staat
selbst aufgrund der Ergebnisse von Gutachtern glaubt,
dass sie so gefährlich sind, dass sie, wenn sie entlassen
werden, mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut ein schweres Verbrechen begehen? Welche Schlussfolgerung zieht
der Staat daraus?
({9})
Die Koalition sagt: Wir können nichts tun. Ich sage Ihnen: Sie, die Vertreter der Koalition, wollen in dieser
Frage nichts tun.
({10})
Das geschieht nicht aus Bösartigkeit, sondern weil Sie in
dieser Frage nicht einigungsfähig und darum politisch
nicht handlungsfähig sind.
({11})
Das ist der entscheidende Punkt. Ihre verfassungsrechtliche Argumentation ist das Alibi für Ihre politische Handlungsunfähigkeit. Das ist die Wahrheit. Sie können politisch nicht handeln.
Ich möchte diese Debatte auch nutzen, um mich mit
Ihren Argumenten auseinander zu setzen. Wir hatten uns
ja vorgenommen, eine argumentative Auseinandersetzung
zu führen.
({12})
- Ja, ich gehe auf Ihre Argumente ein. Sie werden sehen,
Herr Stünker, wie Sie nach jedem Argument, mit dem ich
mich auseinander setze, ein Stück tiefer im eiskalten Wasser stehen.
({13})
Erstes Argument: Von Ihrer Seite wird immer wieder
gesagt, bei der Sicherungsverwahrung handele es sich um
eine Form der Doppelbestrafung. Dieses Argument ist
falsch. Es handelt sich hierbei um eine Maßregel mit dem
Ziel der Besserung und Sicherung, der Resozialisierung
wie der Prävention. Andernfalls müssten Sie alle Maßregeln der Besserung und Sicherung, die im Strafgesetzbuch stehen, streichen. Das Argument kann nur ausschließlich gelten: entweder immer oder nie. Sie können
nicht auf der einen Seite, wie gerade geschehen, eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung beschließen, aber zu jeder anderen Form sagen, dabei handele es sich um eine
Form von Doppelbestrafung. Ihre Argumentation ist in
diesem Punkt also widersprüchlich. Schieben Sie das Argument beiseite; es ist nicht zu halten.
Ihr entscheidendes Argument lautet: Die Kompetenz
für entsprechende Gesetze liege bei den Ländern und
nicht beim Bund; man könne darum nichts machen. Auch
dieses Argument ist aus mehreren Gründen falsch und
nicht tragfähig. Ich will das nun ausführen:
Jede Reaktion des Staates auf eine Straftat - das ist unstrittig - fällt unter die Kategorie Strafrecht, nicht Polizeirecht, und damit in die Bundeskompetenz. Wir sind der
Auffassung, dass die Sicherungsverwahrung eine Reaktion auf die Straftat eines Straftäters darstellt,
({14})
der seine Gefährlichkeit schon unter Beweis gestellt hat.
Darum kommt hier das Strafrecht zur Anwendung.
Die gesetzlichen Maßnahmen von CDU- bzw. CSU-geführten Ländern, auf die Sie hingewiesen haben - Bayern,
Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt -, sind reine
Notstandsmaßnahmen, weil der Bund sich weigert, hier
aktiv zu werden. Das ist doch die Wahrheit.
({15})
Ihr Verweis auf das Landesrecht führt zu absurden Ergebnissen: So sind die Kinder von Herrn Montag und des
Kollegen Götzer, die in Bayern leben, besser geschützt als
meine Kinder, die in Nordrhein-Westfalen leben. Das
kann doch nicht sein. Wir brauchen eine bundeseinheitliche Regelung.
({16})
- In Nordrhein-Westfalen macht man aber nichts, meine
Damen und Herren.
({17})
Es ist doch den Bürgern nicht verständlich zu machen,
dass ein gefährlicher Straftäter in Bayern in Sicherungsverwahrung genommen werden kann, wenn er aber nach
Niedersachsen verlegt wird - Haftverlegungen kommen
ja immer wieder vor -, auf freien Fuß gesetzt wird.
Meine Damen und Herren, in einer Frage, in der es für
den Straftäter um Freiheit oder Haft geht, in einer Frage,
in der es für Opfer um Leben und Tod geht, präsentieren
Sie auf höchster staatlicher Ebene absurdes Theater. Sie
stellen auf reine Zufälligkeiten ab.
({18})
Die Auffassung, die Sie vertreten, ist auch darum unhaltbar, weil sie das Vertrauen in die praktische Vernunft des
Staates infrage stellt. Die Leute fragen: Was ist das eigentlich für ein Staat, der den Schutz von Opfern vor
Mord und schweren Verbrechen von Zufälligkeiten abhängig macht?
({19})
Ich will auch ein rein verfassungsrechtliches Argument
nennen. Wir bewegen uns hier im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung. Da es die vorbehaltene Sicherungsverwahrung schon gibt, hat der Bund - das ist
verfassungsrechtlich zwingend - hier von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht; das heißt, in diesem Bereich ist für die Gesetzgebung der Länder überhaupt kein Raum mehr.
({20})
- Es fällt nicht unter das Polizeirecht. Das Polizeirecht hat
den Pferdefuß, dass es gerade nicht an die Straftat anknüpfen kann, weil das Strafrecht in Bundeskompetenz
fällt.
({21})
- Wir wollen keine reine Gefahrenabwehr, wir wollen nicht
irgendwelche Leute, sondern einen Straftäter in Sicherungsverwahrung nehmen, der gezeigt hat, dass er gefährlich ist.
Darum ist hier eine bundesgesetzliche Regelung nötig.
({22})
Ein weiteres Argument, an dem Ihre Scheinheiligkeit
deutlich wird: Sie fordern die Bundesländer auf, hier tätig
zu werden. Die CDU-geführten Länder sind hier zum Teil
tätig geworden. Die Wahrheit ist doch: Rot-Grün wird auf
Länderebene genauso wenig tätig wie auf Bundesebene.
Sie machen doch nichts.
({23})
Ich habe gerade mit einem Kollegen gesprochen, der im
niedersächsischen Landtag war. Dort hat die CDU-Fraktion vorgeschlagen, eine landesgesetzliche Regelung zur
Sicherungsverwahrung einzuführen; Rot-Grün lehnte dieses Instrument aber ab. Rot-Grün hat weder auf Bundesnoch auf Landesebene die politische Kraft dazu.
Wenn Sie uns schon nicht glauben - das ist mein letztes Argument dazu -, dann glauben Sie doch wenigstens
den Praktikern. Heute hat sich erfreulicherweise der stellvertretende Vorsitzende des Richterbundes, ein praktizierender Richter, zu Wort gemeldet. Er fordert als Repräsentant der Richter in Deutschland den Deutschen
Bundestag auf, die Möglichkeit nachträglicher Sicherungsverwahrung vorzusehen. Er sagt, wir bräuchten dieses Instrument und der Bund sei derjenige, der in der Verantwortung stehe, dafür zu sorgen. Hören Sie auf die
Praktiker, die diese Vorschläge machen!
({24})
Ich komme kurz noch zu unseren anderen Vorschlägen,
zu denen Sie weitgehend Zustimmung signalisiert haben.
Wie gesagt: Bewegen Sie sich auf der Grundlage unseres
Entwurfes, dann sind Sie in sicheren Gefilden.
Wir haben vorgeschlagen, den Kindesmissbrauch
vom Vergehen zum Verbrechen aufzuwerten. Die Grünen
widersprechen und sagen, es sei ihr Vorschlag, sie hätten
ihn gemacht. Wir sehen natürlich einen minderschweren
Fall vor. Sie sollten unseren Gesetzentwurf erst studieren,
bevor Sie ihn kritisieren.
({25})
Selbstverständlich muss es auch dafür eine flexible Regelung geben.
Frau Kollegin von der FDP, Sie haben gleichzeitig vor
Verschärfung und vor Verharmlosung gewarnt. Sie müssen sich, wie ich finde, erstens entscheiden, in welche
Richtung Sie kritisieren. Zweitens kann Ihr Argument,
dass es sich um Beziehungstaten handele, nicht dazu
führen, dass der Staat den staatlichen Strafanspruch
zurücknimmt.
({26})
Denn gerade in diesem Bereich müssen wir der Neigung,
zu sagen: „Reden wir nicht darüber, es ist unangenehm, es
war auch nicht so schlimm“, die zu einem großen Dunkelfeld führt, entgegenwirken. Damit übt das Strafrecht
eine Signalfunktion aus. Die Regelung muss praktisch
handhabbar sein, das ist unser Vorschlag auch. Wir sagen: Kindesmissbrauch ist kein Kavaliersdelikt, sondern eines der schwersten Verbrechen, die unsere
Rechtsordnung kennt. Darum reagieren wir mit dem
schärfsten Instrumentarium, das wir zur Verfügung haben.
({27})
Wir sind übrigens der Auffassung, dass zwar durch das
Strafrecht die Signalfunktion des Staates deutlich werden
muss, aber dass Strafen nicht alles ist. Darum habe ich
mich gefreut, dass Sie auch auf den Teil unseres Antrages
eingegangen sind, in dem wir eine Länder übergreifende,
wissenschaftliche Begleitforschung sozialtherapeutischer Maßnahmen vorschlagen. Wir sind der Auffassung
- ich betone es noch einmal -, dass es auch die Verantwortung gegenüber dem Verbrecher gibt, ihn in die Gesellschaft zurückzuholen, ihn zu therapieren. Dann erwarte ich allerdings von denjenigen, die dies im Bundestag
fordern, dort, wo sie in den Ländern Verantwortung tragen,
etwa in meinem Bundesland Nordrhein-Westfalen - ich
weiß nicht, wie es in anderen rot-grün-regierten Ländern
aussieht -, Therapieplätze zur Verfügung zu stellen. Therapie kostet Geld. Therapie als Lippenbekenntnis ist zu
wenig.
Wir haben als Union ein umfassendes Angebot unterbreitet, und zwar - das möchte ich abschließend sagen - aus zwei Gründen: erstens weil es um die große
Verantwortung geht, die wir als Gesetzgeber gegenüber
den Opfern und den Angehörigen von Opfern haben,
zum Beispiel gegenüber den Eltern von Kindern, die
Opfer geworden und vielleicht umgebracht worden
sind. Zweitens geht es - das reicht über die einzelnen
Schicksale hinaus - nach unserer festen Überzeugung
auch darum, die Akzeptanz der Rechtsordnung sicherzustellen. Weil es immer wieder zu spektakulärem Aufsehen in der Öffentlichkeit kommt, fragen die Menschen: Welches Zutrauen können wir eigentlich in den
Staat haben, der immer bedauert und redet, aber am
Ende nicht handelt?
Handeln wir, meine Damen und Herren, es ist höchste
Zeit dazu. Wir haben Vorschläge gemacht. Schließen Sie
sich ihnen an. Der Staat wird an Vertrauen und Akzeptanz
dadurch zurückgewinnen.
Herzlichen Dank.
({28})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Lambrecht
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Union
wärmt ihre Vorhaben aus den letzten vier Jahren wieder
auf. Herr Bosbach und Herr Röttgen, Sie werden sich von
dieser Seite schon den Vorwurf des Populismus gefallen
lassen müssen.
({0})
- Lassen Sie mich über Sie reden! Das finde ich momentan viel spannender.
Ich habe bewusst noch einmal nachgelesen: Von 1994
bis 1998 gehörten Sie beide schon dem Deutschen Bundestag an. Angesichts der Tatsache, dass Sie heute davon
reden, dass der Staat handeln muss und dass dringender
Handlungsbedarf besteht, frage ich mich - ich weiß, dass
Sie nicht gerne daran erinnert werden -, warum Sie in den
letzten vier Jahren Ihrer Regierungsverantwortung nicht
schon längst gehandelt haben. Sie hätten vieles von dem,
was Sie heute vorschlagen, schon umsetzen können.
({1})
Frau Kollegin Lambrecht, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Röttgen?
Herr Röttgen hatte schon 15 Minuten Zeit, uns mit seinen Vorschlägen, die seine Fraktion damals nicht umgesetzt hat, zu beglücken.
({0})
- Ich habe jetzt das Wort, Herr Röttgen.
({1})
Auch mir als Mutter eines zweijährigen Sohnes hat
sich bei der sehr drastischen Darstellung der grauenhaften
Verbrechen, die Herr Bosbach gegeben hat, im wahrsten
Sinne des Wortes der Magen umgedreht. Das geht wahrscheinlich allen so, die von solchen Verbrechen hören.
Gerade weil ich mich persönlich betroffen fühle, möchte
ich allen Eltern in die Augen schauen können, wenn ich
ihnen sage: Ja, wir haben in der Politik alles getan, was
wir tun können. - Die Frau Ministerin hat es vorhin schon
betont: Die Verantwortung liegt nicht nur bei der Politik,
sondern auch bei Richtern und Therapeuten. Mein Anliegen ist, dafür zu sorgen, dass wir mit Recht sagen können:
Ja, wir haben alles getan, um die Menschen vor Sexualstraftaten zu schützen, um Sexualstraftaten zu verhindern
und um die Täter zu überführen.
Jetzt stellt sich die Frage, was wir in den letzten vier
Jahren getan haben. Wir haben die dauerhafte Unterbringung der Täter zum Schutz der Allgemeinheit durchgesetzt. Wir haben die Telefonüberwachung bei Kinderpornographie verschärft und die Therapiemöglichkeiten für
Täter verbessert. Ohne deren Zustimmung ist mittlerweile
eine Verlegung in eine Anstalt möglich, in der sozialtherapeutische Maßnahmen durchgeführt werden. Ich sage
im Namen der SPD-Fraktion: Wir müssen alles tun, damit
die Opfer besser geschützt werden. Aber das muss innerhalb der rechtsstaatlichen Grenzen geschehen.
({2})
Deshalb verschließen wir uns sinnvollen Vorschlägen
nicht. Aber lassen Sie mich einmal beleuchten, welche
Vorschläge von Ihnen kommen. Es wurde wieder die
Strafverschärfung angesprochen. Jeder, der mit der Praxis zu tun hat, weiß, dass in den seltensten Fällen - ich
würde sagen, dass die Zahl gegen null geht - der Straftäter, insbesondere der Sexualstraftäter, einen Blick in das
StGB wagt, bevor er sich zu einer Straftat entschließt.
({3})
Deswegen kann man nicht von der Strafverschärfung als
einer Wunderwaffe leben.
({4})
- Herr Götzer, dieser Zuruf ist Ihrer nicht würdig.
Darüber hinaus haben Sie, Herr Röttgen, davon gesprochen, dass eine Unterbringung nicht möglich sei, weil die
Länder keine entsprechenden Möglichkeiten haben. Natürlich sind die Länder dazu in der Lage. Nach dem Polizeirecht können sie immer dann eine Unterbringung anordnen,
wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung besteht. Es ist die Aufgabe der Länder, zu handeln.
({5})
Lassen Sie mich auf die Ausweitung der DNA-Analyse eingehen. Ihr Vorschlag scheint mir aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten sehr fragwürdig. Wie ist denn die
derzeitige Gesetzeslage? Wir haben die Situation, dass die
Untersuchung und auch die Speicherung genetischen
Spurenmaterials nach der Strafprozessordnung im laufenden Ermittlungsverfahren immer möglich ist, wenn dadurch für das Verfahren wichtige Tatsachen festgestellt
werden können. Auch für zukünftige Strafverfahren können die gewonnenen Spuren gespeichert werden. Dies ist
allerdings nur dann möglich, wenn der Betroffene einer
Straftat von erheblicher Bedeutung verdächtigt wird und
solche Straftaten auch in Zukunft von ihm zu erwarten
sind. Das heißt, die gefährlichen Sexualstraftäter werden
von dieser Gesetzeslage vollständig erfasst.
Sie möchten nun diese Voraussetzungen ändern und
dafür sorgen, dass jede Straftat - so der ursprüngliche Entwurf - mit „sexuellem Hintergrund“ zur Speicherung zugelassen werden soll. Sie wollen damit auch die Exhibitionisten erfassen.
({6})
Dieses Anliegen mag noch berechtigt sein; da widerspreche ich Ihnen nicht. Aber man muss sich schon fragen, ob man die Richtigen erfasst. Sie argumentieren, dass
Exhibitionisten später gefährliche Sexualstraftäter werden können. Das mag im Einzelfall möglich sein. Die
Studie hat aber ergeben, dass lediglich 1 bis 2 Prozent der
Exhibitionisten später Gewaltdelikte verüben.
({7})
Man muss sich deshalb aufgrund rechtsstaatlicher Gesichtspunkte überlegen, ob man das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung einschränkt. Darüber müssen
wir diskutieren; das ist ein Abwägungsprozess. Denn die
Speicherung des genetischen Materials stellt schon einen
erheblichen Eingriff in dieses Grundrecht dar.
({8})
In Ihrem ursprünglichen Entwurf wurde das alles ziemlich aufgeweicht. Sie hätten nämlich nicht nur den Exhibitionisten, sondern auch den Täter erfasst, der die Straftat
einer sexuellen Beleidigung begeht, typischerweise - so
möchte ich sagen - den Grapscher. Ich weiß nicht, ob Sie
die wirklich erfassen wollten. Ich treibe es jetzt einmal auf
die Spitze: Mit Ihrer ursprünglichen Definition hätten Sie
all diejenigen erfasst, die ohne Führerschein oder betrunken zu einer Prostituierten fahren und damit schon im Vorfeld eine Straftat begangen hätten. Es kann doch nicht
wahr sein, dass das Ihr Ansinnen gewesen ist.
({9})
- Sie sollten Ihre Entwürfe genau lesen und verstehen.
Dann sehen Sie, wie absurd die sind.
({10})
- Das ist der sexuelle Hintergrund. Wenn Sie dies nicht
verstehen, dann kann ich Ihnen nur raten: Gehen Sie in Ihrer Fraktion noch einmal in Klausur!
Aber man muss Ihnen zugute halten: Sie haben dazugelernt. Aus diesem „sexuellen Hintergrund“ ist mittlerweile „sexueller Bezug“ geworden. Von daher sehe ich,
dass Sie auf einem guten Wege sind. Vielleicht schaffen
wir es, nach etwas sachlicheren Beratungen im Rechtsausschuss dahin zu kommen, wohin wir alle wollen: einen
besseren Schutz der Opfer zu ermöglichen.
Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt auf die einzelnen Vorschläge nicht eingehen. Ich denke, es ist sinnvoller, darüber im Rechtsausschuss mit der gebotenen
Sachlichkeit und ohne das Magengrimmen, das man in
diesem Zusammenhang als Mutter bzw. als derjenige hat,
der Verantwortung für Kinder trägt, zu sprechen. Ich
warne davor, dass der Rechtsstaat in einer Form eingeschränkt wird, die unverhältnismäßig ist. Diesen Abwägungsprozess müssen wir wahrlich machen. Unsere Bereitschaft dazu haben Sie.
({11})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Dr. Norbert Röttgen das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich ergreife nur kurz das Wort, weil ich eine Behauptung,
die Sie, Frau Kollegin, gemacht haben und die nicht der
Wahrheit entspricht, zurückweisen muss. Sie sind zwar
erst seit 1998 Mitglied des Bundestages. Das gibt Ihnen
aber nicht das Recht, falsche Behauptungen über die Gesetzgebungstätigkeit der Regierung Helmut Kohl, der
CDU/CSU- und FDP-Regierung, in den Jahren von 1994
bis 1998 aufzustellen.
Noch 1998 - das möchte ich dem Haus und Ihnen persönlich mitteilen - haben wir ein umfassendes Strafrechtsänderungsgesetz verabschiedet. Es ging um zwei
zentrale Punkte: Der eine betraf den Schutz von Behinderten vor Kriminalität, der andere die Einführung und
Erweiterung der Sicherungsverwahrung, die gerade gestern durch ein Urteil des Bundesgerichtshofes bestätigt
und bekräftigt worden ist.
Das ist der Unterschied: Wir waren, als wir noch regiert
haben, kontinuierlich aktiv. In der Opposition haben wir
gemahnt. Sie waren inaktiv. Sie, Frau Kollegin, haben die
Wahrheit verdreht; das muss klar gestellt werden.
({0})
Zur Erwiderung, Frau Kollegin Lambrecht.
({0})
Herr Röttgen, es mag zwar zutreffend sein, dass Sie in
diesem Bereich tätig gewesen sind. Aber dennoch vermisse ich, dass Sie während Ihrer Regierungszeit die Vorschläge, die Sie heute einbringen, mit eingebunden haben.
({0})
Warum haben Sie das nicht getan? Dann hätten vielleicht
manche von diesen Verbrechen verhindert werden können. Das wäre es wert gewesen. Von daher war der Handlungsbedarf umfassender. Es wäre sinnvoller gewesen,
nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Aufarbeitung der Vergangenheit gerade hat mir deutlich
gemacht, dass wir die Diskussion offensichtlich leider
nicht mit dem Ernst betreiben, den sie eigentlich verlangt.
Denn wer die Diskussion zwischen 1994 und 1998 mitbekommen hat, weiß, dass damals zwischen allen Fraktionen des Deutschen Bundestages wesentliche Gespräche stattgefunden haben und wir dort zu Lösungen
gekommen sind, die eine breite Zustimmung gefunden
haben. Ich persönlich - wir von der FDP haben damals
den Justizminister gestellt - bin heute noch froh über das,
was wir damals insbesondere zur Verbesserung des Opferschutzes getan haben. Wir haben gemeinsam wesentliche Fortschritte im Strafrecht erreicht.
({0})
Das Wort „gemeinsam“ möchte ich deswegen betonen,
weil ich denke, dass es unsere Verpflichtung bleibt, auch
jetzt ebenso zu handeln.
({1})
Das gesamte Parlament kann dann Profil erreichen, wenn
wir gemeinsam nach guten Lösungen suchen. Ich will für
die FDP signalisieren, dass wir genau dazu bereit sind.
Dass aber manches, was vielleicht im ersten Augenblick als richtiger Weg erscheinen mag, dann doch berechtigt hinterfragt werden kann, hat die heutige Debatte
gezeigt. Der Kollege Bosbach hat darauf hingewiesen,
dass wir - ich finde, das ist eine außerordentlich erfreuliche Tatsache - einen allgemeinen Rückgang der Straftaten haben. Das hat verschiedene Ursachen: Zum Teil haben die Maßnahmen, die wir gemeinsam verabschiedet
haben, gegriffen; zum Teil gibt es eine größere Ermutigung an Kinder, sich zu offenbaren. Das ist ein Aspekt,
über den wir leider viel zu wenig diskutieren: wie man die
Vorbeugung verbessern kann. Dies kann beispielsweise
dadurch geschehen, dass wir Kinder ausbilden, stärker zu
sein, sich zu offenbaren und bereits die ersten Versuche zu
melden.
({2})
Ich wollte das in diese Debatte ganz bewusst einbringen,
weil es auch Möglichkeiten außerhalb des Strafrechtes
gibt, zu einer Verbesserung des Schutzes von Kindern zu
kommen.
Der Debattenbeitrag des Kollegen Bosbach hat auch
aufgezeigt, dass wir in einem Bereich leider eine Zunahme
verzeichnen müssen, nämlich beim schweren sexuellen
Missbrauch von Kindern. Das ist bereits ein Verbrechen.
({3})
Das zeigt, dass die Tatsache der Heraufstufung zu einem
Verbrechen allein möglicherweise nicht die Konsequenzen hat, die wir uns alle davon erhoffen. Von daher bitte
ich, dieses Thema noch einmal sehr sorgfältig zu diskutieren. Ich fand es - ich selbst komme als Oberstaatsanwalt aus der strafrechtlichen Praxis - immer hilfreich, die
Strafbarkeit sehr früh einsetzen zu lassen, weiß aber, dass
viele Richter sehr zurückhaltend sein werden, Straftatbestände, die jetzt schon strafbar sind, auch in Zukunft so zu
werten, wenn ein Verbrechen vorliegt. Auch darüber werden wir sorgfältig zu diskutieren haben.
Ich möchte einen zweiten Aspekt ansprechen, der mir
ganz außerordentlich wichtig ist. Das ist die Frage des Opferschutzes. Der Opferschutz hat heute Gott sei Dank in
der Debatte eine Rolle gespielt, aber es gibt einen Bereich,
über den wir bisher nicht gesprochen haben, über den wir
aber sprechen müssen. Das sind die Konsequenzen, die
beispielsweise die Ermordung eines Mädchens - einige
Fälle sind hier angesprochen worden - für die Familie hat.
Wer einmal eine solche Familie erlebt hat, vielleicht
sogar die Nachricht über die Tötung eines Kindes überbringen musste - ich habe es einmal tun müssen -, der
weiß, welche Auswirkungen das in der Familie hat. Ich
denke, dass wir den Opferschutz, insbesondere was die
Bezahlung von psychologischer und psychiatrischer Betreuung anbelangt, verbessern müssen. Wir bringen das
als FDP in die Diskussion ein.
Wir werden konstruktiv mitarbeiten und ich hoffe, dass
wir zu einem Ergebnis kommen werden, mit dem wir
nicht nur zufrieden sind, sondern vor allen Dingen den
Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt verbessern.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über ein wirklich ernstes Thema, bei dem sich
billige Polemik und Missbrauch für parteiegoistische
Zwecke verbieten wie bei kaum einem anderen Thema.
Herr Dr. Röttgen, das sage ich in alle Richtungen; bitte
nehmen Sie das so zur Kenntnis.
Weil Sie von der Opposition in Bezug auf Bündnis 90/
Die Grünen von angeblicher Tabuisierung bei diesem
Thema gesprochen haben, bitte ich Sie jetzt, genau zuzuhören. Wir reden von ganz schrecklichen Straftaten, wir
reden von kaum vorstellbaren Gewalt- und Unterwerfungsakten gegen Kinder. Wir reden aber auch von einer
in ihrer konkreten Ausformung schier unüberschaubaren
Vielfalt von - das setze ich für das Protokoll und für Sie
ganz bewusst in Anführungszeichen - so genannten „einfachen“ Fällen des sexuellen Missbrauchs.
Für meine Fraktion ist in diesem Zusammenhang völlig klar: Der Schutz der Kinder und Jugendlichen vor
sexuellen Übergriffen - gleich welcher Art und Intensität,
egal ob von fremden Tätern oder dem sozialen Nahraum hat oberste Priorität.
({0})
Am besten beginnt man, diesen Schutz aufzubauen und
zu stärken, bevor eine mögliche Straftat vorliegt. Die
Straftaten selbst müssen effektiv und, wenn nötig und soweit möglich, präventiv bekämpft werden. Den Opfern
- es sind Kinder jeden Alters und in der großen Mehrzahl
Mädchen - wollen wir helfen. Sie sollen nach Möglichkeit nicht mehrfach Belastungen ausgesetzt werden, die
sie psychisch und seelisch nicht verkraften können.
Wir reden heute aber auch - Herr Kollege Dr. Röttgen,
ich danke Ihnen dafür, dass Sie das vor zwei Wochen bei
der Debatte über die Regierungserklärung und heute ausdrücklich erwähnt haben - von den Tätern - im Strafverfahren bis zur Rechtskraft auch von Verdächtigen und Beschuldigten -, die keine Milde, aber Gerechtigkeit und
Rechtsstaatlichkeit erfahren sollen.
({1})
Mit welcher Intention und welchem Zungenschlag präsentieren Sie aber Ihren Gesetzentwurf? Sie schreiben dort,
der Schutz der Allgemeinheit solle verbessert werden. Dieser Schutz - so der Wortlaut - „muss wieder den hohen
Rang einnehmen, der ihm gebührt.“ Herr Dr. Röttgen
schrieb in einer Presseerklärung vom 5. November, dass
seine Fraktion tätig geworden sei, damit - gestatten Sie
auch hier das Zitat - „Straftäter ... nicht länger von rotgrünen Versäumnissen profitieren können.“ Darum geht
es aber nicht. Es geht weder um abstrakte Versäumnisse
noch um rot-grüne Versäumnisse in dieser Sache. Diese
nämlich gibt es nicht, meine Damen und Herren von der
Opposition. Mit solcher Polemik machen Sie den Menschen im Lande nur Angst, schüren Stimmungen und
zeichnen ein falsches Bild von Deutschland - als ob
Deutschland ein Eldorado für Kinderschänder und triebgestörte Mörder sei!
({2})
Das ist unverantwortlich und geht an den Fakten sowie an
einer sachlichen Debatte völlig vorbei.
In der Substanz wollen Sie, meine Damen und Herren
von der Opposition, dreierlei erreichen:
Erstens. Sie wollen horchen und sammeln, sprich: noch
mehr Telefonabhörungen und noch mehr DNA-Speicherungen, und zwar ohne eine Abwägung mit Grundrechten
von Unschuldigen, mit Grundrechten von Verdächtigen
und mit Grundrechten von Verurteilten mit einem nur geringen Strafmakel. Herr Dr. Röttgen, weil Sie gesagt haben,
dass natürlich nur das gemacht werden könne, was rechtsstaatlich möglich sei, dies aber gemacht werden müsse
- von unserer Seite kam der Zwischenruf: „Wir wollen
mehr tun!“ -, entgegne ich Ihnen: Die Rechtsstaatsgrenze
ist aber zu beachten. Es gibt in der Rechtssprechung des
Bundesverfassungsgerichts ganz klare Grenzen für die
DNA-Analyse, nämlich die Erheblichkeitsschwelle. Diese
Erheblichkeitsschwelle werden wir nicht unterschreiten.
({3})
Zweitens. Sie wollen die Sicherungsverwahrung ohne
eine Ankopplung an ein richterliches Erkenntnisverfahren
und ohne eine Verklammerung mit einem strafrechtlichen
Vorwurf. Sie wollen die Sicherungsverwahrung zu einem
selbstständigen Instrument der Gefahrenabwehr machen,
was - so, wie Sie es wollen - vor den Grundrechten der
Verfassung keinen Bestand haben kann. Auch hier gilt
nämlich die rechtsstaatliche Grenze. Deshalb sagen wir:
Auch das wollen wir nicht.
({4})
Drittens. Sie wollen alle denkbaren Fälle des sexuellen
Missbrauchs erst einmal grundsätzlich als Verbrechen deklarieren. Dabei wollen Sie vergessen machen - ich bin
dankbar, dass Sie in Ihrer Kurzintervention genau das angesprochen haben -, dass die Systematik der Sexualtatbestände in vielen Reformschritten, gerade des Jahres 1998,
von Ihnen in einer grundsätzlich stimmigen, abgestuften
Systematik neu formuliert worden ist. Sie wollen das einfangen. Das ist doch ein Trick: Sie erklären grundsätzlich
alle Sexualstraftaten an Kindern zu Verbrechen und normieren in Abs. 2 die minderschweren Fälle. Das ist von
der Sache her bei unjuristischer, globaler Betrachtung das
Gleiche wie der jetzige Rechtszustand: Gemäß § 176
StGB werden die so genannten Normalfälle als Vergehen
und die besonders schweren Fälle in § 176 a StGB als Verbrechen geahndet.
({5})
Mit Ihren minder schweren Fällen erreichen Sie keine Erhöhung des Strafrahmens, sondern lediglich eine Verkehrung von Regel und Ausnahme. Aber lassen Sie uns darüber im Ausschuss im Einzelnen diskutieren.
Wir Grünen wollen jedenfalls keine Ausweitung des
Horchens und Sammelns. Wir wollen keine selbstständige
Sicherungsverwahrung. Wir wollen auch nicht alle denkbaren Fälle des sexuellen Missbrauchs zu einem Verbrechen hochstilisieren.
Mir läuft die Zeit davon, sodass ich unsere Vorschläge
nicht mehr im Einzelnen darstellen kann. Wir sind mit Ihnen einig, was die Billigung von Straftaten, die Sicherungsverwahrung nach § 106 Jugendgerichtgesetz, Formen des nichtkörperlichen Missbrauchs und das Anbieten
von Kindern im Internet angeht. Das muss geregelt werden. Da werden wir zusammenarbeiten.
Zusammenfassend sage ich Ihnen: Wir werden sehr
rasch einen Gesetzentwurf dazu vorlegen. Wir laden Sie zu
einer konstruktiven Debatte über diesen Gesetzentwurf ein.
Allerdings werden wir, verzeihen Sie, nicht Ihren Entwurf
zur Grundlage des weiteren Gesetzgebungsgangs machen.
Danke.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Jürgen Gehb von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als vorletzter Redner bin ich in der komfortablen Situation, auf
das, was ich hier gehört habe, replizieren zu können. Frau
Ministerin, ich befürchte, dass Ihr Angebot, wir könnten
uns zu vielen Punkten einigen, durch einige Wortbeiträge,
die ich zuletzt erlebt habe, zunichte gemacht worden ist.
Darauf möchte ich mich kaprizieren.
Herr Montag, Sie machen uns wie viele Ihrer Vorredner den Vorwurf des Populismus. Ein Einziger hat in dieser Sache populistisch agiert: Bundeskanzler Schröder,
als er beifallsheischend der „Bild am Sonntag“ sagte, wer
sich an kleinen Mädchen vergehe, müsse weggeschlossen
werden - „und zwar für immer“.
({0})
Ganz abgesehen davon, dass das auch in der Sache falsch
ist, kann vielleicht bei dieser Gelegenheit ein bisschen
Nachhilfe zur Unterscheidung zwischen Strafe und Maßregel der Sicherung und Besserung gegeben werden, obwohl wir das eher im Ausschuss machen sollten.
Auch derjenige, für den im Urteil die Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist, ist nicht bis in alle Ewigkeit verdammt, eingesperrt zu bleiben.
({1})
Vielmehr gibt es eine Anpassungsmöglichkeit, nämlich die
Möglichkeit, sich zu bewähren und freigelassen zu werden. Nur im umgekehrten Fall fehlt diese Anpassungsmöglichkeit: Wenn keine Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist, sich aber im Laufe des Vollzugs ergibt,
dass der Täter gefährlich ist, fehlt die Möglichkeit, ihn
weiter einzusperren. Das ist, so muss ich sagen, geradezu
auf den Kopf gestellt.
Es wundert mich, dass Juristen pausenlos das Verbot
der Doppelbestrafung in den Mund nehmen: „ne bis in
idem“. Die Unterscheidung muss Ihnen doch klar sein: Es
gibt kriminelles Unrecht, das bestraft wird, wenn jemand
tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft gehandelt
hat; daneben gibt es die Maßregel der Sicherung und Besserung, die gerade keine Strafe ist. Das ist ähnlich wie bei
Disziplinarverfahren. Als wir Soldaten waren, einer wegen Trunkenheit am Steuer verurteilt wurde und dann
noch ein Disziplinarverfahren kriegte, wurde aus der
Sicht des juristischen Laien - das waren Nichtjuristen;
manchmal habe ich den Eindruck, ich bin auch hier mit
diesen konfrontiert ({2})
gesagt: Das verstößt aber gegen das Verbot der Doppelbestrafung.
({3})
- Frau Simm, Sie kriegen gleich noch die richtige Antwort.
Frau Lambrecht, Sie wurden eben des ungenauen Umgangs mit der Wahrheit überführt, und zwar nicht zum ersten Mal.
({4})
Der Einwand, man hätte das schon in den vorangegangen
Legislaturperioden regeln können, ist geradezu abwegig.
Dann hätte man nämlich nach der ersten Legislaturperiode aufhören können, Politik zu machen.
({5})
Ein weiteres geradezu abwegig anmutendes Argument - ich nenne es, obwohl es in dieser Debatte etwas
unpassend wirkt, ein Totschlagsargument - ist: Strafverschärfungen oder Neuregelungen im Strafgesetzbuch
schrecken sowieso keinen Täter ab; niemand schaut vor
Begehung seiner Tat ins Strafgesetzbuch. Wenn man dies
konsequent zu Ende denken würde, könnte man sagen:
Man braucht gar kein Strafgesetzbuch. Dann kann man
alle Tatbestände abschaffen. So geht es aber weiß Gott
nicht.
({6})
Im Übrigen haben Sie, Frau Lambrecht, verkannt, dass
es nur deshalb zu dieser Strafverschärfung kommt, weil
man den Deliktscharakter vom Vergehen wie bei einem
Kaufhausdiebstahl zum Verbrechen hoch setzen wollte.
Dies ist der wesentliche Unterschied. Darauf beruht die
Strafverschärfung.
Frau Ministerin, wir haben uns vor 20 Jahren auf ganz
anderem Gebiet rechtsdogmatisch auseinandergesetzt.
({7})
- Ja, das habe ich euch allen voraus.
({8})
Was mich ein bisschen wundert, ist Ihre Angst, dass die
Staatsanwaltschaft - ({9})
- Doch, Herr Minister Schily, Sie waren ja nicht da. Sie
hat es wörtlich gesagt. Das können Sie nachlesen.
Frau Zypries, Sie haben gesagt: „Ich habe ein bisschen
Angst davor, dass die Staatsanwälte zurückschrecken
oder gehemmt sind, in Zukunft Anklage zu erheben, wenn
sich der Deliktscharakter vom Vergehen zum Verbrechen
erhöht.“ Woher Sie diese Erkenntnis haben, weiß ich nicht.
Ich möchte noch einmal auf die Sicherungsverwahrung zurückkommen, denn dies ist offenbar das Thema,
das hier am streitigsten ist. Wir hören pausenlos den Einwand, dies gehöre zur Gefahrenabwehr und falle deshalb
in die Kompetenz der Länder. Dazu will ich Ihnen einmal
etwas sagen: Es handelt sich hierbei in der Tat um eine
Schnittstelle zwischen repressiven Maßnahmen gegenüber Straftätern und präventiven Maßnahmen für die Zukunft. Dies ist aber typisch für das Strafrecht, insbesondere für den Strafvollzug.
Die Strafzwecklehre sagt
({10})
- ich sage es Ihnen einmal auf Lateinisch -:
Punitur quia peccatum est ne peccetur.
({11})
Das heißt, meine Damen und Herren: Es wird erstens bestraft, weil gesündigt worden ist, und zweitens, damit
nicht wieder gesündigt werden kann. Dahinter steckt einmal der Sühnecharakter, aber auch der Präventionscharakter.
Strafvollzug oder der Vollzug in der Maßregelsicherung
hat per se präventiven Charakter
({12})
und ist deshalb nicht im Rahmen der Gefahrenabwehrregelungen unter Länderhoheit zu stellen. Dies ist der eine
Gesichtspunkt.
({13})
Der nächste Gesichtspunkt: Gefahr im Sinne des polizeirechtlichen Gefahrenbegriffs hat ganz andere Kautelen
als die Gefährlichkeitsprognose eines Täters, vor dem
man die Allgemeinheit schützen möchte. Die unmittelbare Gefahr, wie sie im Polizei- und Ordnungsrecht der
Länder steht, ist nicht mit der latent tickenden Zeitbombe
des Sexualstraftäters zu vergleichen, von dem man im
Laufe des Strafvollzugs gemerkt hat, dass er nicht therapie- und sozialisierungsfähig ist. Dies ist ein ganz anderer
Ansatzpunkt.
({14})
- Frau Simm, die einzigen geistreichen Zurufe - dies
hören sonst die Zuschauer nicht -, die Sie pausenlos machen, sind: „Keine Ahnung“. Wenn Sie damit sich selbst
meinen, kann ich Ihnen allerdings nur Recht geben.
({15})
Ein dritter Punkt: Wenn es so wäre, wie Sie es gesagt haben, wäre schon seit jeher die Anordnung der Sicherungsverwahrung ein Fremdkörper in der Strafrechtsdogmatik.
({16})
- Herr Stünker, dass Sie die Sicherungsverwahrung mit
spitzen Fingern anfassen und sie am liebsten verdammen
würden, haben Sie in sämtlichen Gesprächen im Rechtsausschuss unter Beweis gestellt, das haben Sie durch mehrere Zwischenrufe am 19. Oktober letzten Jahres zum
Ausdruck gebracht, als der Kollege Geis hier davon gesprochen hat, dass wir einen Mangel an nachträglicher Sicherungsverwahrung haben. Damals haben Sie gerufen:
„Gott sei Dank!“ und „Gut so!“ - nachzulesen im Plenarprotokoll 14/196, Seite 19166.
({17})
Dazu, wie Sie sich wie eine Schnecke an diese Thematik herankriechen, jahrelang gar nichts davon wissen wollen, sich dann aber unter dem Druck der Länder oder des
Bundeskanzlers zumindest zu dieser Vorbehaltslösung
durchringen, will ich Ihnen auch etwas sagen. Zunächst
hatte ich gedacht - und das war auch der Grund, warum
die Länder so darauf angesprungen sind -: Wenn schon
keine nachträgliche isolierte Sicherungsverwahrung,
dann wenigstens die Vorbehaltslösung. Das ist nur prima
facie eine Verbesserung; bei näherem Hinsehen ist es eine
Verschlimmbesserung, und zwar aus folgendem Grunde:
In den Fällen, in denen das erkennende Gericht bisher eine
Sicherungsverwahrung mit dem Urteil ausgesprochen
hat, ist in Zukunft zu befürchten, dass mancher Richter
- das ist das, was Sie, Frau Zypries, vielleicht mit der
Ängstlichkeit gemeint haben - sagt, um sich auf der sicheren Seite zu bewegen: Ich will die Sicherungsverwahrung
nicht jetzt schon verbindlich anordnen, sondern behalte
sie mir vorsichtshalber vor; mag man dann im Strafvollzug sehen, wie es wird. - Das ist eine Schwäche Ihrer Vorbehaltslösung.
Eine zweite Schwäche ist, dass natürlich der Richter
die Anordnung von Sicherungsverwahrung gänzlich versäumen kann, aus welchen Gründen auch immer - Rechtsirrtum, Vergessen. Auch in diesen Fällen besteht eine
Lücke, die man nur durch eine isoliert anzuordnende Sicherungsverwahrung schließen kann.
Ein dritter Fall, meine Damen und Herren. Sie können
die Fälle damit ja nur pro futuro lösen, vielleicht erst am
Sankt-Nimmerleins-Tag. Was ist denn mit all den tickenden Zeitbomben, die jetzt schon einsitzen und bei denen
man genau sieht, dass man sie eigentlich nicht wieder auf
die Gesellschaft loslassen kann, bei denen man aber weiß,
dass man sie nach Verbüßung der Strafhaft herauslassen
muss? Das müssen Sie mal den Eltern der Geschädigten
und Gedemütigten erklären. Herr Bosbach hat eben eine
kleine Anzahl von Fällen aufgeführt. Ich möchte einmal
wissen, wie Sie das in der Öffentlichkeit jemandem verkaufen wollen.
({18})
Wir werden es sehen. Herr Stünker, Sie haben jetzt das
Schlusswort,
({19})
- Ich werde mich bemühen, die Contenance zu behalten.
Das ist bei Ihren Reden auch nicht immer leicht. - Ich
freue mich dennoch, dass Sie als neuer rechtspolitischer
Sprecher der SPD in Zukunft die Gelegenheit haben, im
Rechtsausschuss zu beweisen, dass auch Sie zu läutern
sind.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
({20})
Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Stünker, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Gehb, für eine
Strafrechtsprofessur hätte das eben nicht gelangt.
({0})
Ich hätte sogar Schwierigkeiten mit dem kleinen Strafrechtsschein gehabt, Herr Kollege Gehb, weil Sie ja auf
hohe Dekorationen großen Wert legen, wie Sie uns gezeigt haben.
({1})
Meine Damen und Herren, noch einmal im Blick auf
die Rede von Frau Lambrecht: Herr Kollege Röttgen, ist
es nicht ganz fair, wenn Sie der Kollegin Lambrecht hier
vorwerfen, die Unwahrheit gesagt zu haben. Wir beschäftigen uns heute innerhalb von zwei Jahren zum vierten
Mal mit Ihren Vorschlägen für Änderungen im Sexualstrafrecht.
({2})
Ihr Vorschlag enthält die Forderungen, die Sie seit 1997
stellen und die Sie 1998 in der Strafrechtsänderungsdiskussion mit Ihrem Koalitionspartner nicht durchsetzen
konnten. Das ist die Wahrheit, Herr Kollege Röttgen.
({3})
Sie haben Ihre Vorstellungen 1998 nicht ins Strafgesetzbuch hinein bekommen. Darum haben Sie es in den letzten zwei Jahren viermal versucht.
Meine Damen und Herren, in den Debatten, die wir seit
zwei Jahren führen, haben wir interfraktionell immer
darin übereingestimmt - auch die große Mehrheit der Bevölkerung stimmt mit uns darin überein, - dass die
Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung des Menschen, insbesondere bei sexuellem Missbrauch von Kindern, Jugendlichen, Schutzbefohlenen und widerstandsunfähigen Personen, zu den abscheulichsten und
verachtungswürdigsten Straftaten überhaupt gehören.
Darin sind wir uns einig. Der Staat hat daher zum Schutz
der Bevölkerung gerade in diesem Bereich der körperlichen und seelischen Selbstbestimmung der Menschen mit
Nachdruck seiner Justizgewährungspflicht zu genügen.
({4})
Das tun wir und das Strafrecht ist hierzu konsequent anzuwenden, denn das Strafrecht gibt das Instrumentarium
dafür bereits heute her.
({5})
Ich hoffe aber auch, dass wir interfraktionell in einer
weiteren Zielbestimmung ebenso übereinstimmen, nämlich darin, dass die Sexualdelikte, so ekelhaft und so
schwerwiegend sie sind und so schutzbedürftig die Opfer
sind, nicht dazu dienen dürfen, den Rechtsstaat aufzurollen, weil andere Delikte sonst zwangsläufig folgen würden.
({6})
Dieser Satz stammt nicht von mir, sondern von dem von
Ihnen benannten Sachverständigen Professor Krey aus
Trier, mit dem er in der letzten Anhörung zu diesem
Thema genau auf diese Gefahr hingewiesen hat.
Es ist gegenwärtig vor dem Hintergrund vieler spektakulärer Fälle - Herr Bosbach hat heute Morgen eine entsprechende Aufzählung vorgenommen - und der Berichterstattung in den Medien darüber leicht, im Bereich der
Sexualstraftäter vieles durchzuboxen, was man bei genauer Betrachtung unter rechtsstaatlichen Aspekten eigentlich gar nicht will. Daher ist es sehr wichtig, dass wir
sehr sachlich und ohne die Emotionen, die teilweise in die
heutige Debatte hineingekommen sind, über die hier zur Debatte stehenden Themen im Rechtsausschuss diskutieren.
({7})
Das betrifft insbesondere Ihren Vorschlag zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung, mit
dem Sie im Nachhinein den von uns im August geschaffenen § 66 a wieder in Ihrem Sinne ändern wollen. Herr
Kollege Röttgen, auch hier muss man richtig zitieren. Sie
haben vorhin sozusagen als Kronzeugen für Ihre Meinung
den Deutschen Richterbund genannt. Wenn Sie die entsprechende Pressemitteilung zu Ende gelesen hätten, dann
hätten Sie festgestellt, dass ein Oberstaatsanwalt und kein
Richter die von Ihnen zitierte Erklärung abgegeben hat.
Auch die Praktiker sind also in der Beurteilung dieser Frage
sehr gespalten. Daher gilt: Die ganze Wahrheit und nicht
die halbe Wahrheit ist wirklich die endgültige Wahrheit.
({8})
- Ich möchte damit nur sagen, dass jede Seite diese Frage
sehr unterschiedlich beurteilt. Deshalb kann man nicht eine
einzige Meinung als die richtige darstellen, Herr Kollege.
Lassen Sie mich, wenn wir über die Sicherungsverwahrung reden, kurz skizzieren, wie sich eigentlich die
gegenwärtige Rechtslage nach den vielen Änderungen,
die wir vorgenommen haben, darstellt. Nach Abs. 1 der
Vorschrift ist die Anordnung der obligatorischen Sicherungsverwahrung für den mehrfach rückfällig gewordenen Straftäter möglich. Abs. 2 regelt dann nach der Zielsetzung die fakultative Sicherungsverwahrung für den
unentdeckt gebliebenen Serientäter. Abs. 3 enthält sehr
differenzierte Regelungen für den Sexualtäter, der schon
bei einer einmaligen Vortat in Sicherungsverwahrung genommen werden kann.
Im Sommer dieses Jahres haben wir § 66 a - die vorbehaltene Sicherungsverwahrung - neu geschaffen. Danach können die Gerichte die Sicherungsverwahrung vor
der Haftentlassung anordnen, wenn im tatrichterlichen
Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten worden ist und wenn während der Haftdauer der
Hang zur Gefährlichkeit, der bis dahin noch nicht endgültig festgestellt werden konnte, zutage tritt.
Wenn Sie sich dieses Instrumentarium einmal genau
vor Augen führen, dann erkennen Sie, dass wir hier mit
fünf Alternativen ein dichtes Netz geknüpft haben, mit
dem gefährliche Straftäter, gerade Sexualstraftäter, wirklich sicher erfasst werden können. Dieses Instrumentarium muss nur konsequent von den Gerichten angewendet
werden. Das ist in der gestern ergangenen BGH-Entscheidung zu dem neuen Abs. 3 nachzulesen, in der noch
einmal sehr deutlich darauf hingewiesen worden ist. Tun
Sie nicht immer so, als ob es keine Instrumente gäbe! Die
Instrumente gibt es bereits. Man muss sie nur richtig anwenden.
({9})
Zu dieser Systematik - darüber ist heute Mittag noch
gar nicht gesprochen worden - passt überhaupt nicht mehr
Ihr Vorschlag, Sicherungsverwahrung bereits für Ersttäter
anordnen zu lassen, Herr Kollege Gehb. Das verstößt nun
wirklich gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das über Jahrzehnte in mehreren Entscheidungen immer wieder auf das dem Strafrecht innewohnende Gebot der Verhältnismäßigkeit hingewiesen hat.
Wenn Sie schon gegen Ersttäter mit der schwersten Sanktion, der Sicherungsverwahrung, vorgehen wollen, dann
kann ich Ihnen nur sagen, dass Sie damit den Ultima-Ratio-Charakter der Sicherungsverwahrung völlig verkennen und leichtfertig verfassungsrechtliche Grenzen überschreiten, Herr Kollege.
({10})
Dies gilt ebenso - damit möchte ich mich gern noch
einmal beschäftigen; Sie haben es ja auch von mir erwartet - für die von Ihnen seit 1997 ständig wiederholte Forderung - Baden-Württemberg hat damit begonnen -, die
Möglichkeit der Anordnung einer nachträglichen, also
isolierten Sicherungsverwahrung in das Gesetz aufzunehmen. Bereits in der letzten Legislaturperiode habe ich
von dieser Stelle aus mehrfach darauf hingewiesen - Sie
haben das erwähnt -, dass eine derart ausgestaltete Sicherungsverwahrung meines Erachtens und auch nach Auffassung meiner Fraktion eindeutig verfassungswidrig ist.
Wenn Sie in der Literatur der letzten Wochen und Monate zu dieser Thematik nachlesen, zum Beispiel in der
neusten Ausgabe der „JZ“ vom Oktober 2002, dann stellen Sie fest, dass in der Fachliteratur diese Auffassung
mittlerweile durchgehend bestätigt wird. In der Fachliteratur wird auch die Argumentation verwendet, die wir Ihnen hier mehrfach vorgetragen haben, nämlich dass das
von Ihnen in Aussicht genommene Verfahren der isolierten Sicherungsverwahrung die rechtsstaatlichen Garantien der Strafprozessordnung letztlich aushebelt; denn die
Anordnung der Sicherungsverwahrung - sie ist für einen
Straftäter die schwerste Strafe - bedeutet eigentlich das
Urteil „lebenslänglich“. Die lebenslange Freiheitsstrafe
wird nach 15 Jahren geprüft; bei der Sicherungsverwahrung wird zwar alle zwei Jahre geprüft, doch wer sich auskennt, der weiß, dass die Menschen dann tatsächlich 40
oder 50 oder bis zu 60 Jahre einsitzen.
({11})
Mit der von Ihnen vorgeschlagenen Regelung mit den
sehr tief greifenden Sanktionen verstoßen Sie eindeutig
gegen die Prozessgrundrechte des Rückwirkungsverbotes
und des Verbotes der Doppelbestrafung. Das können Sie
in allen einschlägigen Aufsätzen nachlesen.
Bezeichnend ist auch, welches Verfahren von Ihnen
hierfür vorgeschlagen wird, nämlich nicht ein Verfahren
mit einer öffentlichen Hauptverhandlung, sondern ein Beschlussverfahren einer Strafvollstreckungskammer. Bei
Beschwerden sind in diesem Fall sogar mehrere Oberlandesgerichte zuständig. So könnte nicht einmal der Bundesgerichtshof für eine bundesweite Vereinheitlichung
der Rechtsprechung sorgen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige Kontrollüberlegungen anstellen - Herr Gehb, es wäre schön,
wenn Sie mir zuhören würden -, um zu zeigen, ob wir mit
unserer Auffassung zur isolierten Sicherungsverwahrung
wirklich so falsch liegen. Gibt es mögliche Erweiterungen
der Anordnung für Sicherungsverwahrung? Warum sollte
man, wenn wir den Weg so gehen wollen, wie Sie ihn skizziert haben, die Sicherungsverwahrung nicht auch nach
der Entlassung aus der Strafhaft anordnen können? Denkbar wäre doch eine Vorschrift darüber, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung auch dann noch angeordnet
werden kann, wenn der Strafgefangene zwar schon entlassen ist, sich aber innerhalb der maximal fünfjährigen
Führungszeit zeigt, dass der Hang zur Gefährlichkeit weiterhin vorhanden ist. Was wäre das denn für eine Anordnung? Wäre das eine nachträgliche oder eine vorbeugende
Anordnung der Sicherungsverwahrung?
Wir können es, Herr Kollege Gehb, noch auf die Spitze
treiben und die Frage stellen, wie das mit der Sicherungsverwahrung ohne Straftat aussieht. Diese kriminalpolitische Überlegung ist im Augenblick absurd. Ich habe damit
aber Ihren Gedanken nur zu Ende gedacht; denn wenn Sie
schon Ersttäter in Sicherungsverwahrung nehmen wollen,
könnten Sie auch auf diese Idee kommen. Sie haben hier
ja eben immerhin von tickenden Zeitbomben gesprochen.
({12})
Das heißt, für gefährliche Personen, die keine Straftat begangen haben, bei denen ein Gutachter aber zu dem Ergebnis kommt, sie könnten gefährlich sein und schwere
Straftaten begehen, könnte eine Sicherungsverwahrung in
Betracht kommen. Das wäre mit Sicherheit eine vorbeugende Sicherungsverwahrung. Das ist Ihren Gedanke zu
Ende gedacht.
Wenn Sie ihn zu Ende denken, dann kommen sie zu
dem einzig richtigen Ergebnis, das mittlerweile auch in
der Literatur so vertreten wird, dass die Fälle der
nachträglichen isolierten Sicherungsverwahrung und
auch die von mir eben genannten Fälle nicht unter das
Strafrecht fallen, sondern Fälle der Gefahrenabwehr sind.
Damit fallen sie unter das Polizeirecht und damit nach
dem Zuständigkeitenkatalog des Grundgesetzes in die
Zuständigkeit der Bundesländer. Die Bundesländer müssen hier ihre Schulaufgaben machen und müssen für die
entsprechenden gesetzlichen Regelungen sorgen.
({13})
Ich kann Ihre Argumentation verstehen - ich weiß
nicht, wer das eben gesagt hat -, wir bräuchten einheitliche Regelungen auf Bundesebene. Das ist ein Gedanke,
der richtig ist und der auch gut nachvollziehbar ist.
Warum haben wir solche Regelungen bisher nicht? - Wir
haben sie bisher nicht, weil die landesrechtlichen Regelungen, die man dazu in Bayern, in Baden-Württemberg
und meines Wissens in Sachsen-Anhalt hat, verfassungsrechtlich höchst prekär sind, um das vorsichtig auszudrücken. Dort hat man nämlich eine materiell strafrechtliche Regelung getroffen, hat diese aber polizeirechtlich
verbrämt, um das deutlich zu sagen. Dieser Weg ist nicht
zulässig. Die Länder müssen sich zusammensetzen und
einen gemeinsamen Weg finden, der dem polizeilichen
Gefahrenrecht entspricht, um in Zukunft eine Regelung
für die entsprechenden Täter - es geht um die wenigen,
die wir nach der geltenden Regelung nicht erfassen können - zu treffen.
Meine Damen und Herren, in der Hoffnung, dass wir
im Rechtsausschuss über dieses wichtige Thema gemeinsam und differenziert diskutieren werden, habe ich versucht, mich heute noch einmal etwas differenzierter mit
dieser Frage zu beschäftigen.
({14})
Im Ergebnis dürfen wir der Praxis nicht Steine statt Brot
geben.
Schönen Dank.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/29 und 15/31 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Eckhardt
Barthel ({0}), Ernst Bahr ({1}), HansWerner Bertl, weiterer Abgeordneter der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Antje
Vollmer, Grietje Bettin, Katrin Dagmar GöringEckardt, Krista Sager und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den Deutschen Musikrat stärken
- Drucksache 15/48 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 15/48 an die in der Tagesordnung aufgeführ572
ten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 15/69 zu einer Streitsache vor dem
Bundesverfassungsgericht zu erweitern und jetzt gleich
als Zusatzpunkt 8 - ohne Aussprache - aufzurufen. - Ich
sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 8 auf:
Abschließende Beratung ohne Aussprache
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Rechtsausschusses ({3})
zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 3/02
- Drucksache 15/69 Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt ({4})
Der Rechtsausschuss empfiehlt, in dem verfassungs-
gerichtlichen Verfahren 2 BvE 3/02 Stellungnahmen ab-
zugeben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozess-
bevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/69? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthal-
tung der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie
Zusatzpunkt 3 auf:
5. Wahlen zu Gremien
a) Schriftführer gemäß § 3 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/50 ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen im Ausschuss nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes
({5})
- Drucksache 15/47 -
5. b) Ausschuss nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes ({6})
- Drucksachen 15/51, 15/52, 15/53, 15/54 Tagesordnungspunkt 5 a. Für die Wahl der Schriftführerinnen und Schriftführer liegt ein gemeinsamer
Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU,
des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP auf Drucksache 15/50 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag?
- Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist damit einstimmig angenommen. Ich gratuliere den gewählten Kolleginnen und Kollegen im Namen des ganzen Hauses und wünsche eine gute
Zusammenarbeit.
({7})
Zusatzpunkt 3. Mir wurde mitgeteilt, dass das Wort gewünscht wird. Zunächst hat der Kollege Kauder von der
CDU/CSU das Wort. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Fraktion beantragt, die Besetzung der 16 vom
Bundestag zu wählenden Mitglieder des Vermittlungsausschusses nach dem Ergebnis vorzunehmen, zu dem
alle bekannten mathematischen Verteilsysteme kommen. Danach sind sieben Mitglieder der SPD-Fraktion,
sieben Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion und je ein Mitglied der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der
FDP-Fraktion in den Vermittlungsausschuss zu wählen.
Dies entspricht auch dem Charakter dieses Gremiums. Der Vermittlungsausschuss unterscheidet sich
grundlegend und grundsätzlich von den regulären Ausschüssen des Deutschen Bundestages. Diese nehmen
Kontroll- und Untersuchungsaufgaben des Bundestages
wahr und bereiten die Plenarentscheidungen vor. Deshalb
ist es richtig, dass sich in diesen Ausschüssen die politischen Mehrheitsverhältnisse, die im Plenum gegeben
sind, widerspiegeln.
Der Vermittlungsausschuss dagegen ist im Grundgesetz verankert. Die Mitgliederzahl ist festgelegt und
kann nicht verändert werden. Er ist - darin unterscheidet
er sich von allen anderen Ausschüssen - ein gemeinsames
Organ von Bundestag und Bundesrat. Seine Mitglieder
sind unabhängig. Er soll verhandeln und Kompromisse
erzielen; er ist nicht in erster Linie auf Kampfentscheidungen angelegt, wie es bei anderen Ausschüssen der Fall
ist. Damit ist die Möglichkeit eines Patts bereits im System des Vermittlungsausschusses angelegt. Es geht bei
der Besetzung des Vermittlungsausschusses nicht ausschließlich darum, eine Mehrheit abzubilden. Wer so argumentiert, verkennt den besonderen Charakter des Vermittlungsausschusses.
Das Bundesverfassungsgericht hat verlangt, dass bei
der Besetzung von Ausschüssen ein nachvollziehbares
mathematisches Zählsystem angewandt wird. Die Regierungskoalition hat mit ihrer Mehrheit beschlossen, dieses
anerkannte System nicht anzuwenden, sondern sie will
die Besetzung des Vermittlungsausschusses willkürlich
festlegen.
({0})
Die Koalition hat in ihrem Antrag zur Berechnung der
Zahl der jeweils zu entsendenden Mitglieder die willkürliche Verteilung festgelegt und mit ihrer Mehrheit durchgesetzt. Nun wollen Sie diesen Verteilungsschlüssel bei
der Besetzung des Vermittlungsausschusses anwenden.
Wir halten dies für eine Verletzung der Verfassung und haben deshalb das Bundesverfassungsgericht angerufen.
({1})
Das Bundesverfassungsgericht hat noch keine Entscheidung getroffen. Trotzdem wollen Sie heute die Besetzung des Vermittlungsausschusses nach Ihren Vorstellungen durchsetzen. Wir halten dies für keinen guten
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Umgang mit dem Parlament wie auch mit dem Bundesverfassungsgericht, auf das damit erneut Druck ausgeübt
werden soll.
({2})
Auch wir wünschen, dass der Vermittlungsausschuss
rasch arbeitsfähig wird und in die Lage versetzt wird, zügig
zu arbeiten. Aber wir wollen, dass die Bundestagsbank so
besetzt wird, wie es Recht und Ordnung verlangen.
({3})
Obwohl wir davon ausgehen müssen, dass Sie dem
höchsten deutschen Gericht nicht den notwendigen Respekt entgegenbringen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht abwarten, werden wir uns nicht
verweigern. Ich möchte daher bereits jetzt im Namen meiner Fraktion erklären, dass wir uns nicht schmollend
zurückziehen werden. Vielmehr werden wir das Verfahren, wie Sie es betreiben, zwar als Affront gegenüber dem
Bundesverfassungsgericht darstellen; aber wir werden
uns an der Wahl beteiligen. Sollten Sie also bei Ihrer
Rechtsauffassung bleiben, werden wir heute unsere Mitglieder für die ersten sechs Plätze im Vermittlungsausschuss zur Abstimmung stellen. Ich bin mir jedoch sicher,
dass dieses Thema erneut im Plenum des Deutschen Bundestags diskutiert werden wird und dass wir nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts das Mitglied
für den siebten Platz im Vermittlungsausschuss und seinen Stellvertreter wählen werden können.
({4})
Herr Kollege Schmidt, bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht in
dieser Debatte darum, dass wir die Umsetzung des Beschlusses dieses Hauses vom 30. Oktober 2002 vornehmen, damit im laufenden Gesetzgebungsverfahren und
damit am Anfang der Wahlperiode eines der wichtigen
Verfassungsorgane, nämlich der Vermittlungsausschuss,
arbeitsfähig wird. Um mehr geht es nicht; aber - das
möchte ich betonen - es geht auch nicht um weniger.
Wir betreiben keine Willkür, wie Herr Pofalla meinte
gegenüber einer Zeitung mitteilen zu müssen, sondern haben eine Rechtsauffassung, die sich entgegen Ihren wiederholten Behauptungen, Herr Kauder, nicht verändert
hat.
Alle Zählverfahren sind unbestritten nur Hilfsmittel,
um die Besetzung eines Ausschusses bzw. eines Gremiums dieses Parlaments herbeizuführen. Auch das ist eine
klare Rechtsgrundlage. Ich möchte Sie nicht nur an die
Rede meines Kollegen Beck und meine Rede am 30. Oktober erinnern, sondern auch an die Tatsache, dass das in
den Verfassungsgerichtsurteilen der vergangenen Jahre
immer wieder zum Ausdruck gebracht worden ist.
Wir sind auf der sicheren Seite und entgegen dem, was
Sie meinen mitteilen zu müssen, respektieren wir das
Bundesverfassungsgericht. Was die späteren Folgen angeht, werden wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts abwarten.
Jetzt geht es darum, die Arbeitsfähigkeit des Vermittlungsausschusses herzustellen, damit wir im Dezember
die Gesetzgebungsverfahren zu all den Gesetzentwürfen,
die wir inzwischen anberaten haben, beenden können.
Das ist unser gutes Recht. Das werden wir versuchen umzusetzen.
({0})
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU zur Bestimmung des Verfahrens
für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen im
Vermittlungsausschuss auf Drucksache 15/47. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen?
- Damit ist der Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der beiden fraktionslosen Mitglieder abgelehnt.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 5 b: Wir wählen
nun die Mitglieder und deren Stellvertreter im Vermittlungsausschuss. Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP vor. Wer stimmt für den Vorschlag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 15/51? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Damit ist der Wahlvorschlag mit den
Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und
der beiden fraktionslosen Mitglieder bei Enthaltung der
CDU/CSU und der FDP angenommen.
Wir kommen nun zum Wahlvorschlag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 15/52. Es sollen heute, wie
Kollege Kauder erklärt hat, nur die Vorschläge zu den Ziffern 1 bis 6 zur Abstimmung gestellt werden. Wer stimmt
für die Wahlvorschläge der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 15/52 mit der soeben genannten Einschränkung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/52, Ziffer 1 bis 6 sind mit den Stimmen der
CDU/CSU, der FDP und der beiden fraktionslosen Mitglieder bei Enthaltung der SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen angenommen.
Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/53? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit
den Stimmen der Koalition und der beiden fraktionslosen
Mitglieder bei Enthaltung der CDU/CSU und der FDP
angenommen.
Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 15/54? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen der FDP,
der CDU/CSU und der beiden fraktionslosen Mitglieder
bei Enthaltung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Damit sind die Mitglieder und deren Stellvertreter im Vermittlungsausschuss gewählt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP
Haltung der Bundesregierung zur Situation der
öffentlichen Haushalte unter Berücksichtigung
der zu erwartenden aktuellen Steuerschätzung
und der damit möglichen Notwendigkeit eines
Haushaltssicherungsgesetzes
Wir warten mit der Eröffnung der Aussprache so lange,
bis die Kolleginnen und Kollegen, die den Saal verlassen
wollen, dies getan haben. - Ich bitte die Kolleginnen und
Kollegen, die an der Aktuellen Stunde nicht teilnehmen
wollen, den Saal zügig zu verlassen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Günter Rexrodt, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vom Umsteuern und von der finanzpolitischen Wende war die
Rede. „Weg vom Schuldenstaat der Kohl-Ära“ - „Generationengerechtigkeit“ waren die neue Devise. Was für ein
Tamtam in den letzten vier Jahren, was die Finanzpolitik
der rot-grünen Koalition angeht!
({0})
Herr Kollege Rexrodt, entschuldigen Sie bitte; ich
muss Sie für einen Augenblick unterbrechen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Privatgespräche jetzt einzustellen und dem Redner in der Aktuellen Stunde zuzuhören.
({0})
Dann kamen das Wahlkampfgetöse und das Tamtam in
diesem Zusammenhang. Schlichte Falschaussagen, wie
sich heute erwiesen hat!
Im Jahr 2002 sollte die Nettokreditaufnahme auf
21,1 Milliarden Euro und im Jahr 2003 auf 15,5 Milliarden Euro zurückgehen. Das sind Zahlen des Bundesfinanzministeriums. Die Realität, noch unter günstigen
Vorzeichen: in diesem Jahr ein Verschuldungsplus von
8 Milliarden Euro und damit eine Steigerung auf insgesamt 29 Milliarden Euro und im Jahr 2003 noch einmal
3 Milliarden Euro obendrauf.
Diese Zahlen basieren auf der Annahme eines Wirtschaftswachstums von 0,5 Prozent im Jahre 2002 und von
1,5 Prozent im Jahr 2003. Die Wirtschaftsweisen, die mit
ihrem Gutachten gestern in die Öffentlichkeit gegangen
sind, sagen aber: Wir werden im Jahr 2002 nur ein Wachstum von 0,2 Prozent und im Jahr 2003 ein Wachstum von
maximal 1 Prozent erreichen. - Das lässt Schlimmes erwarten. Das lässt eine noch höhere Verschuldung und
noch größere Finanzprobleme in unserem Land erwarten,
({0})
in einem Land, das den Stabilitätspakt in Europa durchgesetzt hat. Mit einer Defizitquote von 3,8 Prozent in diesem Jahr verfehlen wir die Kriterien von Maastricht in
exorbitantem Maße. Diese Koalition, die sich auf das
hohe Ross gesetzt hat und in diesem Hohen Haus vom Leder gezogen hat, steht vor dem Scherbenhaufen ihrer
Finanzpolitik. Sie proklamiert nun ein gesamtwirtschaftliches Ungleichgewicht. Sie tut alles, um dieses Ungleichgewicht noch zu vergrößern und das ist der eigentliche Knackpunkt an der Geschichte.
({1})
Von dem, der ein solches Waterloo in der Finanzpolitik
erlebt, sollte man doch erwarten, dass er alles tut, um
diese Fehlentwicklungen abzuwenden und zu überwinden. Aber nein, diese Regierung tut alles, um diese Entwicklung noch zu beschleunigen. Die Regierung beseitigt
nicht die Ursachen der konjunkturellen Schwäche, sondern sie verschärft diese Ursachen. Sie senkt nicht die
Steuern, um wieder mehr Steuern einnehmen zu können;
sie erhöht die Steuern, um am Ende dann noch weniger
Steuern einzunehmen.
({2})
Sie senkt nicht die Sozialabgaben, wie angekündigt, sondern sie erhöht die Sozialabgaben und damit die Lohnnebenkosten. Wer aber Lohnnebenkosten erhöht, der setzt
die Investitionsbereitschaft der Wirtschaft aufs Spiel und
betreibt eine Politik der Beschäftigungsfeindlichkeit.
({3})
Meine Damen und Herren von der rot-grünen Koalition, Sie betreiben Deflationspolitik im wahrsten Sinne
des Wortes. Heinrich Brüning lässt grüßen!
({4})
Sie sind nicht einmal in der Lage, den Fortschritt in der
wirtschaftswissenschaftlichen und wirtschaftspolitischen
Theorie der letzten 70 Jahre zur Kenntnis zu nehmen. Sie
betreiben Deflationspolitik in reinster Form.
({5})
- Herr Schmidt, ich bezweifle, dass Sie überhaupt wissen,
welche Politik Heinrich Brüning gemacht hat.
({6})
Vizepräsidentin Susanne Kastner
- Das weiß ich. Was ist daran arrogant?
({7})
Gestern waren die Sachverständigen in der Bundespressekonferenz. Sie haben Ihnen das bescheinigt. Sie haben
Ihnen zusätzlich bescheinigt - furchtbar genug -, dass wir
im nächsten Jahr im Jahresdurchschnitt 117 000 zusätzliche Arbeitslose zu erwarten haben. Das sind die Fakten.
Damit müssen Sie sich einmal auseinander setzen.
({8})
Wenn uns ein Nachtragshaushalt - Sie haben ihn immer abgelehnt - nun nicht genug ist, dann hat das einen
einfachen finanzpolitischen Grund: Wir sind überzeugt,
dass kosmetische Korrekturen - ein bisschen Anpassung
hier, ein halber Prozentpunkt mehr oder weniger dort nicht mehr reichen. Das ist wie weiße Salbe. Diese Regierung versäumt es aufgrund ihrer reformfeindlichen
Haltung, die Flexibilisierung in unserem Land herbeizuführen, die wir aufgrund der Globalisierung brauchen.
({9})
Diese Regierung versäumt es, die notwendige Vorsorge
für die demographische Katastrophe, die uns in den Jahren 2012 ff. ins Haus stehen wird, zu treffen; wir haben
keine Zeit mehr. Stattdessen versucht man, die aktuellen
Probleme dadurch zu lösen, dass man eine Umverteilung
von oben nach unten vornimmt. Das ist ein Rezept aus der
sozialistischen Mottenkiste,
({10})
ein Rezept, das noch nie funktioniert hat.
Herr Kollege Rexrodt, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
- Ich komme sofort zum Schluss, Frau Präsidentin -.
Denn diejenigen, die das Rad drehen, steigen einfach aus.
In unserem Land müssen alle am Wachstum partizipieren, wie es über Jahrzehnte der Fall war. Mit einer solchen
Finanzpolitik, mit einer solchen Wirtschaftspolitik, mit einer solchen Steuerpolitik ruinieren Sie nicht nur die Finanzen dieses Landes,
Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.
- sondern Sie setzen es auch der Gefahr aus, in den Abgrund zu stürzen. Schuld ist Ihre sozialistische Umverteilungspolitik.
({0})
Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gegenüber der Steuerschätzung von Mai haben Bund, Länder
und Gemeinden für dieses Jahr 15,4 Milliarden Euro und
für nächstes Jahr 16 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen zu erwarten.
({0})
Der Bund ist davon in einer Größenordnung von 5,7 Milliarden Euro bzw. 5,5 Milliarden Euro betroffen.
Der Grund dafür ist die schlechte konjunkturelle Entwicklung. Bis in den September hinein, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, hatten alle
Fachleute ein kräftiges Anspringen des Konjunkturmotors
für die zweite Jahreshälfte vorausgesagt. Ich habe dem
Haushaltsausschuss gestern eine Auflistung der monatlichen Prognosen der Institute übergeben. Die Prognosen
des Internationalen Währungsfonds und des Ifo-Instituts
lagen noch im August bei 0,7 Prozent. Das entspricht genau dem Wert, den wir dem Haushaltsplan zugrunde gelegt haben. Würde er Wirklichkeit, stiege das Wachstum
in den restlichen Monaten dieses Jahres sprunghaft an.
({1})
Die Entwicklung war jedoch schlechter als vorhergesehen. Unsere Projektion sieht für dieses Jahr nur noch
eine Steigerung des realen Bruttoinlandsprodukts von
0,5 Prozent und für nächstes Jahr von 1,5 Prozent vor.
Dies entspricht den konjunkturellen Prognosen der vorherrschenden Institute und im Übrigen auch der Europäischen Kommission für 2003. Der Internationale
Währungsfonds hat uns für das nächste Jahr sogar eine
Steigerung des Wirtschaftswachstums von 2 Prozent in
Aussicht gestellt.
Die Botschaft dieser Projektionen ist klar: Das Wachstum in 2003 wird in Fahrt kommen, aber leider nicht in
dem Tempo, das wir mit Blick auf die Steuereinnahmen
und den Arbeitsmarkt brauchten.
({2})
Wir müssen daher die Rahmenbedingungen für mehr Beschäftigung schnell verbessern. Wir werden die Vorschläge der Hartz-Kommission zügig umsetzen und dies
wird auch die Schwelle absenken, ab der Wachstum in
Deutschland automatisch zu mehr Beschäftigung führt.
Unsere Finanzpolitik stellt sich den Herausforderungen.
({3})
Erstens. Wir begrenzen nicht nur die Ausgaben, sondern wir führen sie in 2003 sogar zurück. Gleichzeitig
bauen wir den Umfang der Steuersubventionen ab. Dies
entspricht unserer Verantwortung für die langfristige
Tragfähigkeit der Finanzpolitik.
({4})
Zweitens. Wir lassen zugleich die automatischen Stabilisatoren teilweise wirken. Dies entspricht unserer Verantwortung für die konjunkturelle Entwicklung.
({5})
Beides zusammen ergibt einen klaren Rahmen für eine
an die Situation angepasste Finanzpolitik. Das ist kein
einfacher Weg; das bedeutet auch Einschnitte in gewohnte
Vergünstigungen. Aber es gibt dazu keine sinnvolle Alternative. Diese Zielvorstellungen setzen wir im Nachtragshaushalt für 2002 und im Haushalt 2003 um.
2002 ist ein Nachtragshaushalt geboten. Damit reagieren wir auf die konjunkturell bedingten Steuermindereinnahmen und auf die Mehrausgaben, die wir im Bereich
der Arbeitsmarktpolitik zu schultern haben. Das viel zu
geringe Wachstum im Jahre 2002 und die gestiegene und
zu hohe Arbeitslosigkeit belegen, dass das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in diesem Jahr gestört ist. Ich
teile nicht die Mehrheitsmeinung des Sachverständigenrates, dass eine gesamtwirtschaftliche Störung für das
Jahr 2002 nur dann vorliegt, wenn wesentlich größere
Verfehlungen gesamtwirtschaftlicher Ziele gegenüber
den Vorgaben von 2001 festzustellen sind.
In der aktuellen Situation ist eine einmalige Erhöhung
der Kreditaufnahme der geeignete Weg zur Überwindung
der konjunkturellen Schwächephase,
({6})
weil wir - und das ist das Entscheidende - an unserer
langfristig angelegten Wachstums- und Beschäftigungsstrategie und am Konsolidierungskurs festhalten. Die Alternative wäre, kurzfristig ganz massiv auf der Ausgabenseite zu kürzen, was die Konjunktur nur weiter schwächen
würde. Deswegen ist das keine machbare Alternative.
({7})
Die genauen Zahlen des Nachtragshaushalts werden in
der kommenden Woche von der Bundesregierung festgelegt; ebenfalls wird der Regierungsentwurf für den Haushalt 2003 beschlossen.
({8})
Insgesamt zeichnet sich gegenüber dem Entwurf vom
Sommer eine sehr begrenzte Erhöhung der Nettokreditaufnahme ab.
({9})
Dafür haben wir in den Koalitionsverhandlungen bereits
einen Rahmen vorgegeben.
Das Entscheidende ist: Trotz dieser begrenzten Erhöhung gegenüber dem Regierungsentwurf vom Sommer
wird die Neuverschuldung im nächsten Jahr die geringste
seit der Wiedervereinigung sein. Das ist ein wichtiger Wert.
({10})
Mit dem Bundeshaushalt 2003 werden wir die begonnenen Vorhaben verstetigen und neue solide finanzieren.
Das gilt insbesondere für die zukunftssichernden Ausgaben in den Bereichen Familie, Bildung, Forschung und Infrastruktur.
Auch die Haushalte der Länder sind durch die deutlich
geringeren Steuereinnahmen betroffen. Viele haben bereits mit Sparmaßnahmen, mit Haushaltssicherungskonzepten und mit Haushaltssperren gearbeitet. Aber diese
Maßnahmen haben nicht ausgereicht, den Anstieg des Defizits aufgrund der Steuerausfälle aufzufangen. Deswegen
sind weitere Konsolidierungsmaßnahmen für das Jahr
2003 - insbesondere vor dem Hintergrund unserer Verpflichtungen gegenüber dem europäischen Stabilitätspakt - erforderlich. Im Übrigen werden die steuerlichen
Maßnahmen, für die wir die Gesetzgebungsverfahren einleiten, auch zur nachhaltigen Verbesserung der Einnahmesituation von Ländern und Gemeinden beitragen.
In Deutschland wird das Staatsdefizit in diesem Jahr
deutlich über 3 Prozent steigen. Gegenwärtig berechnen
wir es auf der Basis der Steuerschätzung für den Finanzplanungsrat, der demnächst tagt, neu. Das Defizit dürfte
sich aber in der Größenordnung bewegen, die auch von
der EU-Kommission ermittelt wurde. An einer Fortsetzung der Politik der Haushaltskonsolidierung führt also
kein Weg vorbei. 2003 wird durch die Maßnahmen, für
die wir jetzt die Gesetze auf den Weg bringen, das Defizit
wieder unter 3 Prozent sinken, wenn alle staatlichen Ebenen ihren Beitrag dazu leisten.
({11})
Unser Ziel ist es, das Defizit des Gesamtstaates - Bund,
Länder, Gemeinden - im Jahre 2006 nahezu auf null zurückzuführen. Die Bundesregierung wird mit allen Beteiligten
zusammenarbeiten, um die Verpflichtungen Deutschlands
gegenüber der Europäischen Union zu erfüllen.
({12})
- Unser Beitrag dazu besteht erstens im Abbau von Steuervergünstigungen bei gleichzeitiger Absenkung der
Steuersätze in den Jahren 2004 und 2005 - an den Steuersenkungen halten wir fest -,
({13})
zweitens in der Begrenzung der Bundesausgaben und
drittens in Reformen in Bezug auf den Arbeitsmarkt und
die sozialen Sicherungssysteme.
Meine Damen und Herren, wenn uns in diesen Tagen
ein deutlicher Modernisierungsschub in Deutschland gelingt, dann haben wir die richtigen Schlussfolgerungen
aus der Steuerschätzung von gestern gezogen.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Dietrich Austermann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser
Land befindet sich in einer Finanzkrise. Aber anstatt dem
Parlament Rede und Antwort zu stehen, schickt der kneifende Finanzminister Herrn Diller her, um die Lage schönzureden.
({0})
Ich halte das für einen unglaublichen Vorgang. Das Parlament hat Anspruch darauf, dass der Bundesfinanzminister
Auskunft über die tatsächliche Situation gibt und nicht
versucht, weiterhin Dinge zu vernebeln.
Wir haben eine Situation, in der eigentlich jeder der
Überzeugung ist: Der Finanzminister hat versagt wie keiner vor ihm und keiner neben ihm, keiner der anderen
zwölf im Regierungsteam,
({1})
und er müsste, wenn er dem Land von sich aus etwas
Gutes tun wollte, sofort seinen Hut nehmen.
({2})
Da es eigentlich keines Beweises mehr bedarf, dass
das, was gestern an Zahlen und Entwicklungen offen gelegt worden ist, im Grunde genommen seit anderthalb
Jahren in der Tendenz bekannt ist,
({3})
aber mit Vorsatz vernebelt worden ist - fragen Sie Herrn
Metzger zu diesem Punkt -,
({4})
ist es meines Erachtens angezeigt, darüber nachzudenken,
ob die Regierung wegen dieses Betruges nicht eigentlich
vor einen Untersuchungsausschuss gestellt werden müsste.
So viel Betrug vor der Wahl in konkreten Dingen wie jetzt
hat es noch nicht gegeben.
({5})
Ich will etwas zu der Frage sagen, ob das nicht absehbar war. Hat nicht die EU-Kommission bereits im Januar
deutlich gemacht, dass der blaue Brief fällig ist? Und ist
der blaue Brief nicht bloß dadurch abgewendet worden, dass
man versucht hat, die Dinge schönzureden? Es war doch
für jeden klar, dass die Steuereinnahmen zurückgehen.
Der Rückgang der Steuereinnahmen hat sich nicht erst
im letzten September ergeben. Wenn Sie sich die Steuereinnahmen der letzten Monate anschauen, dann werden
Sie feststellen, dass sie im September gestiegen sind.
({6})
Allein auf der Berechnung vom September basiert ja Ihre
hoffnungsvolle Kunde, dass uns bis Ende des Jahres nur
8,5 Milliarden Euro beim Bund fehlen. Wenn Sie von der
Tendenz zu Beginn des Jahres ausgehen, ist ziemlich klar,
dass auch diese 8,5 Milliarden Euro wieder schöngeredet
sind und dass deutlich erkennbar war, in welche Richtung
die Entwicklung geht.
Nein, es stimmt keine einzige Zahl mehr, die das Finanzministerium in diesem Jahr genannt hat. Deswegen
stimmen auch die Perspektive und die Maßnahmen, die
getroffen werden, nicht.
Lassen Sie mich einmal darstellen, was zum 1. Januar
nächsten Jahres kommen soll - Sie haben ja gesagt, Sie
machten eine Regierungspolitik, die dazu beitrage, die Situation zu verbessern -: Erhöhung der Ökosteuer, Erhöhung der Tabaksteuer, Erhöhung der Körperschaftsteuer,
Neueinführung der Maut, Verschiebung der zweiten Stufe
der Steuerreform, Erhöhung der Stromsteuer, Erhöhung der
Gassteuer, Erhöhung der Mehrwertsteuer in Teilbereichen,
Abbau von so genannten Subventionen, Änderungen
bei der Eigenheimzulage, Änderungen bei der Spekulationsteuer und Erhöhung der Beiträge zur Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung.
Das alles soll der Entwicklung der Wirtschaft im
nächsten Jahr nicht schaden? Es ist doch ziemlich klar
und offenkundig, dass diese Fülle von Steuer- und Abgabenerhöhungen geeignet ist, auch noch den letzten Rest
Wachstum von 0,2 Prozent totzutreten. Sie machen die
falsche Politik in der falschen Zeit.
({7})
Ich finde, dass man sich auch deutlich darüber unterhalten muss, dass es nun endlich an der Zeit ist, mit der
Mär aufzuhören, Sie machten Konsolidierungspolitik.
Unter Konsolidierung versteht jeder kundige Thebaner
Ausgabenbegrenzung und den Versuch, die Dinge auch an
anderer Stelle in den Griff zu bekommen. Aber die Ausgaben steigen und sie werden auch im nächsten Jahr steigen, weil Sie das Problem haben, dass es Ihnen bisher
nicht gelungen ist, an dieser Stelle anzusetzen. Sie erhöhen die Einnahmen durch Steuern und Abgaben, aber
Sie senken nicht die Ausgaben.
({8})
Von Konsolidierung kann, seit Eichel im Amt ist, überhaupt keine Rede sein.
Sie können auch nicht vom Sparen reden oder davon,
dass sich die Dinge in absehbarer Zeit bessern würden.
Das Wachstum ist eingebrochen, wir haben eine Pleitewelle in Rekordhöhe, die Arbeitslosigkeit steigt, die Sozialsysteme stehen auf schwankendem Grund, das Staatsdefizit hat sich mehr als verdoppelt und das Ergebnis ist,
dass wir in diesem Jahr einen verfassungswidrigen Haushalt haben und auch im nächsten Jahr einen verfassungswidrigen Haushalt haben werden.
Reden Sie sich nicht damit heraus, dass die wirtschaftliche Entwicklung gestärkt werden müsse, es läge eine
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vor.
Dazu passt nicht, dass Sie behaupten, es gebe noch Wachstum; denn in diesem Fall kann das gesamtwirtschaftliche
Gleichgewicht nicht gestört sein. Dazu passt ebenfalls
nicht die Maßnahme, neue Kredite aufzunehmen; denn
die wesentlich erhöhte Kreditaufnahme ist nicht geeignet,
die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts
zu beseitigen. Sie soll lediglich die vorhandenen und von
Ihnen verursachten Haushaltslöcher stopfen.
Ich sage es noch einmal: Dieser Minister hat es nicht
verdient, länger im Amt zu sein. Er hat die Finanzen, den
Haushalt des Bundes, an den Abgrund geführt. Die Politik, die zurzeit gemacht wird, ist nicht geeignet, die wirtschaftliche Situation in Deutschland zu verbessern. Sie
stehen vor einem Scherbenhaufen Ihrer Politik.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Rexrodt, Sie haben hier wieder einmal gnadenlos
übertrieben.
({0})
In meiner vorherigen Rede habe ich gesagt, dass Meckern
kein Konzept ist. Aber ich muss sagen, dass gnadenlose
Übertreibungen ebenfalls kein Konzept sind, Herr Rexrodt.
({1})
Die FDP hat sich in der Finanz- und Haushaltspolitik
nicht gerade mit Ruhm bekleckert, was die 29 Jahre ihrer
Regierungsbeteiligung betrifft.
({2})
Wenn man die gegenwärtige Situation Ihrer Partei betrachtet, dann muss man sagen, dass sie das auch in der
Gegenwart nicht tut.
({3})
Herr Austermann, ich finde, wir sollten sachlich miteinander reden.
({4})
Sie sollten nicht immer behaupten, dass wir die Höhe der
Steuereinnahmen des Septembers vorher wissen konnten.
Als guter Haushaltspolitiker müssten Sie doch eigentlich
wissen, dass der September seit Jahren der Monat mit den
größten Steuereinnahmen ist. Die Prognosen, die wir im
Frühjahr bezüglich der Einnahmen im September bekommenhaben,habensichabernichterfüllt.Deshalbmüssenwir
als Konsequenz der letzten Steuerschätzung einen Nachtragshaushalt einbringen. Dass dies geschieht, liegt aber
nicht daran, dass es falsche Einschätzungen vonseiten der
Koalitionsfraktionen oder des Finanzministers gegeben hat.
({5})
Es ist unbestritten, dass die wirtschaftliche Situation
äußerst schwierig ist und dass wir konsolidieren müssen.
Wir müssen aber gleichzeitig dafür sorgen, dass in diesem
Land ausreichend investiert wird und dass wir es schaffen,
strukturelle Maßnahmen zu ergreifen, um die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest zu machen. Ich hoffe, dass
wir uns darin einig sind.
Der Unterschied zwischen CDU/CSU und FDP auf der
einen Seite und den Regierungsfraktionen auf der anderen
Seite ist jedoch der, dass die Regierungsfraktionen Vorschläge machen, wie wir aus dieser schwierigen Situation
herauskommen können.
({6})
Aber Sie mäkeln in allen Debatten, die wir in diesem Hause
zu diesem Thema führen, nur herum, ohne zu sagen, was
Sie tun wollen.
({7})
Sagen Sie doch bitte einmal, wie man es ohne eine weitere Neuverschuldung schaffen kann, die Steuern, die Sozialversicherungsbeiträge und die Staatsquote zu senken!
Sagen Sie den Menschen draußen im Land, was Ihre Forderungen für die soziale Absicherung bedeuten und welche Einbußen die Menschen hinzunehmen haben! Dazu
sind Sie zu feige.
({8})
Die Prognosen sowohl der Wirtschaftsforschungsinstitute als auch des Sachverständigenrates waren schon immer unsicher.
({9})
Das ist leider so; daran kann man nichts ändern. Wir konnten immer wieder erleben, dass Institute innerhalb weniger Tage ihre Prognosen verändert haben
({10})
und dass wir anpassen mussten. Denn die Forschungsinstitute, die Wirtschaftsinstitute, der Sachverständigenrat und
die Wirtschaftsweisen sind die Gremien, die die Grunddaten vorlegen, auf denen die Regierung ihre Perspektiven
in der Finanz- und Haushaltspolitik aufbaut. Das ging Ihnen so und das geht uns so.
Ich finde, man sollte an dieser Stelle die Kirche im
Dorf lassen. Als der Finanzminister noch Theo Waigel
hieß, hatten wir dreimal die Situation, dass die Neuverschuldung höher war als die Investitionen. Dies hatte genau die gleiche Konsequenz, vor der wir heute stehen.
({11})
Auch damals ist Gott sei Dank kein Staatsbankrott eingetreten. Das wird auch diesmal nicht der Fall sein. Denn
wir haben Vorsorge getroffen, wir werden im Hinblick auf
das Jahr 2003 konkrete Vorschläge machen und Sie darum
bitten, dem zuzustimmen.
Dazu kommt, dass etwa 55 Prozent des Defizits, über
das wir jetzt sprechen und das wir nach Brüssel melden
müssen, in der Verantwortung der Bundesländer liegen.
({12})
Ich würde bitten, dass nicht nur oppositionsseitig, also
vonseiten der CDU/CSU und der FDP, diesbezügliche
Vorschläge kommen. Es geht nämlich nicht an, dass beispielsweise der bayerische Ministerpräsident oder ein
Herr Koch sagen: „Liebe Leute, all das, was die Regierung macht, wollen wir nicht haben; wir machen das alles
besser“, ohne ehrlich zu sagen, was sie tun wollen. Auch
Herr Koch wird einen nicht verfassungskonformen Haushalt haben. Das bitte ich zu berücksichtigen. Hier müssen
alle helfen. Dazu gehören die Länder, aber auch die Opposition.
Danke schön.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Steffen Kampeter,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Kollegin Scheel hat wesentliche Teile ihrer
Rede darauf verwendet, den Eindruck zu erwecken, als
habe die rot-grüne Regierungskoalition gerade in den
letzten Minuten, Stunden oder Tagen erfahren, dass die
wirtschaftliche Lage in Deutschland schlecht und die
Steuerbasis erodierend ist, die Zukunftsperspektiven
schlimm sind und sie regelrecht überrascht worden sei.
Wer heute Morgen die „Welt“ gelesen hat, der konnte
zur Kenntnis nehmen, dass interessanterweise jemand,
der auch im Deutschen Bundestag immer offen war, nämlich Oswald Metzger, Ihr langjähriger haushalts- und finanzpolitischer Sprecher, festgestellt hat:
... die Koalitionäre
- das sind Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren hätten vor der Bundestagswahl
- so Metzger wörtlich ‚ein desaströses Finanzloch im Bundeshaushalt‘ bewusst verschwiegen.
({0})
Es sei Stillschweigen vereinbart worden, weil sonst
‚der Nimbus der Finanzpolitik dieser Koalition im
Bereich Sparen natürlich schon vor der Wahl kaputt
gewesen wäre‘.
So weit Ihr ehemaliger finanzpolitischer Sprecher. Es
gibt jetzt also auch bei den Grünen welche, die die Wahrheit sagen.
({1})
Vor diesem Hintergrund möchte ich einen anderen Experten hinzuziehen. In den letzten Tagen hat der SPDWirtschafts- und Arbeitsminister von Nordrhein-Westfalen auf die Frage, ob er nicht schon lange wisse, dass die
wirtschaftliche Lage und die Steuerlage so seien, wie sie
seien, geantwortet:
Das war für jemanden, der jeden Tag vor Ort ist und
im Land die Augen offen hält, überhaupt keine Neuigkeit. Dass beispielsweise der Möbelindustrie große
Probleme ins Haus stehen, das war vor der Wahl so
und das ist nach der Wahl so. Wir haben eine Reihe
von Handwerksbereichen, die aufgrund der schlechten Baukonjunktur in erheblichen Schwierigkeiten
sind und Arbeitsplätze abbauen. Das war vor der
Wahl so und das ist nach der Wahl so.
Auf die Frage: „Sie haben also alles gewusst?“, antwortete Schartau:
Ja, das wusste jeder, der in diesen Bereichen die Augen offen hat und sie nicht zumacht.
Das ist die Wahrheit über die großartige Lüge, die heute
Gegenstand Ihrer Redebeiträge ist.
({2})
Es bleibt Tatsache: Die Steuerausfälle, die die Steuerschätzer gestern diagnostiziert haben, sind Ausweis einer
völlig verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik. Dabei
geht es nicht nur um Haushaltslöcher. Sie stehen am Abgrund einer völlig falschen Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Wer sich heute noch einmal die Rede vornimmt, die der
Bundesfinanzminister kurz vor der Wahl am 12. September hier gehalten hat, und eine unwahre Behauptung nach
der anderen liest, der muss die Forderung des Kollegen
Austermann aufgreifen: Wer so unverschämt, so schamlos
lügt, der sollte seinen Hut nehmen. Zumindest hätte ich
heute aber erwartet, dass er nicht den Motivationskünstler
Diller vorschickt, sondern selbst zur Lage der Wirtschaft
und der Finanzen in Deutschland Stellung nimmt.
({3})
Herr Diller hat vor dem Deutschen Bundestag gesagt,
das Wachstum komme in Fahrt. Wenn es so lethargisch in
Fahrt kommt, wie der Kollege Diller bei seiner Rede in
Fahrt kam, dann werden wir sehr große Wachstumsprobleme haben.
Wir dürfen uns keine Illusionen über die Ursachen machen. Wir haben doch nicht, wie die Redner der Koalition
dauernd behaupten, ausschließlich konjunkturelle Probleme. Natürlich haben wir eine miese Konjunktur, aber
die hohe Arbeitslosigkeit und die wirtschaftliche Lage in
unserem Land haben vor allem die Ursache, dass die
strukturellen Reformen in Deutschland nicht angegangen
worden sind.
Kollegin Scheel, Sie haben gefragt, was wir dagegen
machen. Vielleicht schauen Sie einmal in Ihr Büro. Dort
liegt unser Entwurf über ein Minijobgesetz, in dem wir
wesentliche Vorschläge zur Entriegelung des Arbeitsmarktes in Deutschland machen, um zu Wirtschaftswachstum zu kommen. Das ist ein ganz zentraler Vorschlag. Es geht nämlich nicht um die Verwaltung des
Mangels, sondern um die Gestaltung zukunftsfähiger Lösungen.
Wir müssen die Sozialversicherung auf neue Füße stellen. Das, was Sie machen, ist ein Alternativprogramm, das
ausschließlich auf dem Instrument der Steuererhöhungen
beruht. Der Entwurf des Steuererhöhungsgesetzes, das
von Ihnen in der nächsten Woche vorgelegt werden soll,
beinhaltet die umfassendste Steuererhöhung - wahrscheinlich in einem Volumen von 35 Milliarden Euro -,
die in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland jemals durch ein Gesetz umgesetzt wurde.
Sie werden wesentliche Strukturfragen der deutschen
Wirtschaft streitig stellen, beispielsweise durch die von
Ihnen beabsichtigte Einführung des Ausgabenabzugsverbots bei Dividendeneinnahmen für Kapitalgesellschaften.
Das ist eine Aufforderung an die Kapitalgesellschaften,
aus dem Standort Deutschland zu flüchten. Es fördert
Attentismus und die Benachteiligung des Standorts
Deutschland. Durch diese Maßnahme werden Sie eher
weniger als mehr Steuern erhalten.
Es wäre auch fatal, wenn Sie Ihren Vorschlag umsetzten, die gewerbesteuerliche Organschaft abzuschaffen.
Nachdem Sie schon die Gewerbesteuerreform auf die
lange Bank geschoben haben, würden Sie mit dieser Maßnahme die Finanzen der Gemeinden vollends ruinieren.
Der Finanzminister hat vor wenigen Monaten in einer
Rede an der Humboldt-Universität gesagt: Wir müssen,
um Wachstum und Beschäftigung zu fördern, die Steuerund Abgabenlast senken. Meine sehr verehrten Damen
und Herren, tun Sie bitte das, was der Finanzminister noch
vor wenigen Monaten gefordert hat, anstatt die Steuerlast
in dieser unverschämten Art und Weise anzuheben.
({4})
Herr Kollege Kampeter, Ihre Redezeit ist überschritten.
Ich will abschließend auf einen Punkt hinweisen: Die
Feststellung der Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts, wie Sie es hier diagnostiziert haben, versetzt Sie nicht in die Lage, unbeschränkt zusätzliche
Schulden aufzunehmen. Das Verfassungsgericht fordert,
dass eine zusätzliche Kreditaufnahme der Sache und der
Höhe nach der Senkung der Arbeitslosigkeit dienen soll.
Herr Kollege Kampeter, Ihre Redezeit reicht für diesen
abschließenden Punkt nicht mehr.
Das, was Sie im Zusammenhang mit Ihrem Nachtragshaushalt vorschlagen, wird keinesfalls dem Ziel „mehr
Wachstum und Beschäftigung“ dienen. Es wird Deutschland schaden. Wir werden diese Schädigung unserer
Volkswirtschaft weiterhin kritisieren.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Poß, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kampeter, ich würde Ihnen empfehlen, sich noch einmal die Pressekonferenz der Sachverständigen anzuschauen. Dort hat sich Professor Siebert zu Ihrem
Minijobkonzept geäußert und es ausdrücklich abgelehnt.
So viel möchte ich zu den Ergebnissen des Sachverständigenrates und der Bewertung Ihrer Vorschläge sagen.
({0})
Wenn Sie die Chuzpe haben, über Gemeindefinanzen
zu reden, dann muss ich an etwas erinnern: In Ihrer Verantwortung wurde die Gewerbesteuer permanent ausgehöhlt; wir sind diejenigen, die das Problem zum ersten
Mal seit 30 Jahren grundsätzlich aufgreifen und im nächsten Jahr eine umfassende Gemeindefinanzreform durchsetzen werden. Das ist der Unterschied zwischen Reden
und Handeln.
({1})
Zu den Prognosen: Noch im August und September
gingen verschiedene Institute davon aus, dass es zu einer
kräftigen wirtschaftlichen Erholung im zweiten Halbjahr
kommen würde. Wenn Herr Metzger aus irgendwelchen
menschlichen Verletzungen heraus plötzlich all seine
Erkenntnisse, die er am 12. September in einer 20-minütigen Rede hier im Deutschen Bundestag noch zum Besten
gegeben hat - dabei hat er sich der Analyse von Bundesfinanzminister Eichel voll angeschlossen -,
({2})
heute vergessen hat, ist das das Problem von Herrn
Metzger und nicht das Problem dieser Koalition.
({3})
Die Einzigen, die die Wählerinnen und Wähler getäuscht haben, sind Sie von der Opposition, und zwar mit
unfinanzierbaren Vorschlägen; Stichworte: dreimal 40,
dreimal 35.
({4})
Wo leben Sie denn? Finanzpolitisch leben Sie in Wolkenkuckucksheim.
({5})
Wir haben keine unfinanzierbaren Vorschläge und Versprechungen gemacht. Herr Merz, das unterscheidet uns.
Sie schwätzen wirklich und wissen oft nicht, worüber Sie
schwätzen. Wir wissen, worüber wir reden, handeln verantwortungsbewusst und stellen uns der Situation.
({6})
Sie werden nach der Steuerschätzung nicht mehr darum
herumkommen, sich der Situation zu stellen.
({7})
Eigentlich müsste jedem in diesem Hause klar geworden sein: Die Lage der öffentlichen Haushalte ist so ernst,
({8})
dass mit rein parteitaktischen Überlegungen und mit den
Aufführungen einer Opposition, die ihre Wahlniederlage
immer noch nicht verdaut hat, endlich Schluss sein
muss.
({9})
Das ist die Realität, mit der wir es zu tun haben.
({10})
- So ist das! Das gilt auch für einige Medien, die heute
quasi mit einem schwarzen Rand aufmachen. Sie haben
die Wahl verloren, weil Sie diese Koalition ablösen wollten. Das ist Ihnen misslungen und das haben Sie nicht verschmerzt.
({11})
Weil, wie jetzt deutlich geworden ist, allen öffentlichen
Gebietskörperschaften die geplanten Einnahmen weggebrochen sind, werden beim Bund, aber auch bei den Ländern und Kommunen die Haushaltsdefizite und damit
auch das gesamtstaatliche Defizit in diesem und im kommenden Jahr größer ausfallen als bisher erwartet. Wenn
diese Entwicklung nicht schnell und aktiv gebremst wird,
und zwar mit kurzfristiger Wirkung, werden eine Reihe
von Länderhaushalten 2003 an die Grenze der Verfassungsmäßigkeit stoßen. Das ist die Lage, für die beide Gesetzgebungsorgane, Bundestag und Bundesrat, in ihrer jeweiligen Verantwortung eine Lösung finden müssen.
Die Unionsfraktion im Deutschen Bundestag würde
ihren Einfluss und ihre Bedeutung überschätzen, wenn sie
meinte, die unionsgeführten Bundesländer aus purer Parteitaktik und wohl auch aus der nachhaltigen Wut über die
verlorene Bundestagswahl, die bei ihren Reaktionen immer zu spüren ist, zu einer kompromisslosen Ablehnung
der steuerpolitischen Vorschläge der Regierungskoalition
drängen zu können. Auch die unionsgeführten Bundesländer kennen ihre eigenen Interessen sehr genau. Diese werden sie natürlich weiterverfolgen und gegen die taktischen
Spielchen von Merz, Merkel und anderen durchsetzen.
({12})
Auch Stoiber und Koch können nicht untätig bleiben. Sie
müssen dafür Sorge tragen, dass die Einnahmebasis ihrer
Länder gesichert wird und die Defizite ihrer Haushalte
nicht unbegrenzt nach oben schnellen.
Deshalb sage ich: Wir haben ein Konzept.
({13})
Unsere Vorschläge zur Verbreiterung der Steuerbemessungsgrundlage und zum Abbau von nicht mehr finanzierbaren Steuervorteilen bieten eine Verbesserung der Finanzsituation, und zwar nicht nur des Bundes, sondern
auch der Länder und Kommunen. Daher sind sie eine
ernsthafte Verhandlungsgrundlage für den Bundesrat. Arbeiten Sie - auch im Interesse der unionsgeführten Länder und Kommunen - bereits hier im Bundestag konstruktiv an unserem Politikangebot mit oder legen Sie
endlich eine konkrete und detaillierte Alternative vor! So
können Sie nicht weiterwursteln! Im Grunde wissen Sie
das auch ganz genau.
({14})
Das Wort hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele, FDPFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Der gestrige Tag war der Offenbarungseid einer gescheiterten Politik von vier Jahren
Rot-Grün:
({0})
Die Wirtschaftsweisen gehen von einem noch niedrigeren
Wirtschaftswachstum und einer steigenden Anzahl der
Arbeitslosen aus. Brüssel leitet ein Defizitverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland ein und die Steuerschätzung stellt Mindereinnahmen von über 30 Milliarden Euro für die nächsten beiden Jahre fest. - Ein
ordentlicher Kaufmann müsste bei dieser Bilanz den
Gang zum Konkursrichter antreten und den Offenbarungseid ablegen. Finanzminister Eichel hat aber nicht
einmal den Mumm, bei dieser Debatte hier im Bundestag
zu erscheinen und seine Politik zu vertreten.
({1})
Gäbe es ein Delikt „Wahlbetrug“, dann müssten Bundeskanzler Schröder und Finanzminister Eichel heute vor
ein Strafgericht treten. Was aber macht der Bundesfinanzminister? - Er sucht Sündenböcke: Die Weltwirtschaft sei
schuld, das Wachstum habe sich nicht entwickelt wie erwartet, die Zahl der Arbeitslosen sei nicht wie erwartet gesunken. Die Glaubwürdigkeit von Finanzminister Eichel
hat sich, wie die „Börsen-Zeitung“ heute schrieb, von
Triple A zum Junk Bond entwickelt. Sie ist implodiert. Es
ist überhaupt keine Glaubwürdigkeit des Finanzministers
mehr vorhanden.
({2})
Immer werden die Fehler bei anderen gesucht, statt endlich selbst die Verantwortung für eine gescheiterte Politik
zu übernehmen.
({3})
Die ganze Finanzpolitik von Minister Eichel hat nur eine
einzige Konstante: Seine Prognosen lagen immer daneben.
Durch die Regierung wird den Bürgern ein angebliches
Sparpaket vorgelegt, welches im Wesentlichen darin besteht, durch Streichen von steuerlichen Regelungen ohne
gleichzeitige Entlastung der Bürger die Steuereinnahmen
des Staates weiter zu erhöhen. Diese Bundesregierung
greift den Bürgern schamlos in die Tasche: Die Sozialversicherungsbeiträge werden erhöht, die Ökosteuern
werden erhöht, die Beitragsbemessungsgrenze wird erhöht, eine Wertzuwachssteuer wird eingeführt und steuerliche Ausnahmetatbestände werden gestrichen. Diese
Bundesregierung belastet die Wirtschaft in unverantwortlicher Weise und setzt steuerliche Regelungen außer
Kraft, die systembedingt sind und daher zu Recht seit jeher Bestandteil des Steuerrechts sind. Der Höhepunkt dieser schamlosen Politik besteht darin, dies auch noch als
Sparpaket auszugeben.
({4})
Herr Schäfers von der „FAZ“ brachte es heute auf den
Punkt:
Steuerschätzer, Sachverständige und EU-Kommission erinnern mit all ihren Zahlen letztlich an einen
einfachen Zusammenhang: Nur eine dynamische
Wirtschaft verschafft dem Staat die Einnahmen, die
er braucht, um über die Runden zu kommen. Doch
nahezu alles, was Rot-Grün tut, schadet diesem Ziel.
Wie will man mit Steuererhöhungen Wachstum erzeugen? Wie will man mit höheren Lohnnebenkosten
die Arbeitslosigkeit senken?
Wie will man mit täglich neuen Gesetzesvorhaben Bürgern und Betrieben Planungssicherheit für größere Projekte geben? Die Spitzenverbände der Wirtschaft warnen
schon, dass infolge der zusätzlichen Steuerbelastungen
35 Milliarden Euro Mehrbelastung auf die Unternehmen
zukommen. Die Lohnnebenkosten steigen dramatisch an
und liegen im nächsten Jahr trotz eingenommener 63 Milliarden Euro Ökosteuer auf dem Niveau von 1998, bei
42,2 Prozent. Und das soll eine nachhaltige Finanzpolitik
sein?
Herr Finanzminister, tun Sie endlich das, was jeder
normale Bürger tun würde, der aufgrund Ihrer falschen
Politik weniger Einnahmen hat: Sie müssen endlich bei
den Ausgaben ansetzen und sparen.
({5})
Deshalb kann ich Ihnen nur empfehlen: Halten Sie es mit
den Empfehlungen der Wirtschaftsweisen und der FDP!
Senken Sie die Steuersätze! Führen Sie Staatsaufgaben
zugunsten privater Aktivitäten zurück! Senken Sie die
Neuverschuldung! Senken Sie die Lohnnebenkosten! Befristen Sie auch das Arbeitslosengeld!
Die Staatsquote liegt bei fast 50 Prozent. Die Abgabenquote liegt bei 42 Prozent. Die Neuverschuldung des
Bundes wird sich in den vier Jahren Rot-Grün um mehr
als 100 Milliarden Euro erhöht haben. Dies ist keine Politik der Konsolidierung, dies ist eine Steuererhöhungspolitik, eine Abgabenerhöhungspolitik, eine Neuverschuldungspolitik. Diese Regierung unter Bundeskanzler
Schröder hat vor der Wahl vieles versprochen - nach der
Wahl wurde es gebrochen. Deshalb ist es gut, dass nach
der Wahl der ehemalige Abgeordnete Metzger erklärt hat,
({6})
dass das „desaströse Finanzloch im Bundesetat bewusst
verschwiegen“ worden sei, weil ansonsten „der Nimbus
der Finanzpolitik dieser Koalition im Bereich Sparen
natürlich schon vor der Wahl kaputt gewesen wäre“.
({7})
Weiter hat er erklärt:
In einem Abwägungsprozess, wollen wir weiter regieren, hat sich die SPD und die Bundesregierung
und auch der Bundesfinanzminister fürs Weiterregieren entschieden und gegen die Ehrlichkeit.
Gegen die Ehrlichkeit, meine Damen und Herren!
Herr Kollege Thiele, Ihre Redezeit ist überschritten.
Wenn Sie noch etwas Glaubwürdigkeit hätten, dann
müssten Sie die Wahrheit eingestehen, dann muss der Finanzminister von seinem Posten zurücktreten und dann
müssen Sie hier einen Haushalt mit einer Finanzplanung
vorlegen, die tatsächlich in der Lage ist, das wirtschaftliche Wachstum in Europa und vor allem in Deutschland
zu befördern, und sie nicht abwürgt.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Hermenau,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wissen
Sie, Herr Thiele, mir geht es wie Ihnen: Auch ich wünsche
mir einen ehemaligen Abgeordneten zurück, aber nicht
Herrn Metzger, sondern Herrn Lambsdorff.
({0})
Dessen Kurzintervention von vor über sechs Jahren habe
ich noch gut im Ohr. Damals meinte er, die fetten Jahre
seien vorbei, man müsse umsteuern. Dies haben Sie versäumt, als Sie noch an der Regierung waren.
({1})
Die Misere, die wir auch hier in Deutschland haben, ist
tatsächlich hausgemacht. Deren Geschichte aber ist über
30 Jahre alt. Wir haben uns diese sozialen Sicherungssysteme mit ihrer Konjunkturanfälligkeit geleistet, die
jetzt unter der schwachen Konjunktur leiden. Wer hat
denn geahnt, dass die Weltkonjunktur so stark einbrechen
würde, wie es nach den Attentaten im September letzten
Jahres geschehen ist?
({2})
- Erzählen Sie doch nichts! Das haben Sie nicht geahnt.
Das Problem ist doch, dass Deutschland in den letzten
Jahrzehnten zu behäbig geworden ist und als schwerfälliger Tanker nicht mehr in der Lage ist, diese Konjunkturanfälligkeit wirklich auszugleichen. Das ist das Kernproblem, über das wir alle reden. Theoretisch könnten wir
es auch mit Ehrlichkeit versuchen, aber dazu haben Sie in
der Aktuellen Stunde natürlich keine Lust. Dies interessiert Sie auch überhaupt nicht.
({3})
Alle, die sich gestern zur Steuerschätzung geäußert
haben, haben gesagt: Wir müssen die Reform der sozialen Sicherungssysteme angehen. Sie können schauen,
wohin Sie wollen, nach links oder nach rechts: Alle
stimmen dieser Analyse zu. Nur über das Wie wird gestritten.
Erst einmal melden sich die üblichen verdächtigen
Grabenkämpfer, und zwar Herr Rogowski für den BDI
und Herr Putzhammer für den DGB. Beide erzählen erst
einmal, was nicht geht. Dies symbolisiert genau das Problem, welches ich beschreibe. Es gibt in dieser Angelegenheit nur noch Grabenkämpfe. Es wird nicht wirklich
darüber nachgedacht, wie man diese Umstrukturierung
erreichen kann.
Jetzt kommen wir zu den Mehrheiten: Irgendjemand
hat versucht, intelligent zu sein, und den Zwischenruf gemacht, wir hätten ein Einnahmeproblem, weil Steuerausfälle aufgetreten seien. Wenn es aber ein Einnahmeproblem ist, frage ich Sie: Wie kommen Sie eigentlich im
Wahlkampf auf die Idee, von Steuersenkungen zu sprechen? Können Sie mir das einmal erklären?
({4})
Jede Oma kann sich während des Strickens zusammenpuzzeln, dass man, wenn Deutschland ein Einnahmeproblem hat, wie Sie feststellen, nicht noch die Steuern senken kann. Das wissen Sie so gut wie ich.
Wer hat denn im letzten Jahr hier gestanden und Anträge zur Erhöhung des laufenden Haushalts gestellt, weil
er meinte, wir müssten noch irgendwo etwas draufpacken? Die CDU/CSU-Fraktion kam mit einem Wust
von Haushaltserhöhungsanträgen an, die niemals finanzierbar gewesen wären.
Wie lautet denn die Bilanz der letzten drei oder vier
Jahre? - Die Neuverschuldung wurde massiv reduziert;
das wissen Sie so gut wie wir. Sie machen hier nur ein
bisschen Stimmung.
({5})
Sie haben Angst. Sie haben ein Problem: Sie haben in der
letzten Legislaturperiode und im Wahlkampf gemerkt,
dass die Menschen eigentlich ein großes Vertrauen in die
Finanzpolitik von Finanzminister Eichel und der rot-grünen Koalition haben.
({6})
Sie versuchen jetzt, dies zu erschüttern, weil auch in
schwieriger Zeit der Kurs gehalten wird.
({7})
Wir hätten es uns leicht machen können; das haben wir
aber nicht getan. Sie weiden sich mit Häme an der Situation, weil Sie froh sind, endlich die Gelegenheit zu haben,
uns anzugreifen. Die ganzen vier Jahre hat es Sie ge584
wurmt, dass wir eine bessere Finanzpolitik gemacht haben als Sie.
({8})
- Natürlich ist das der Fall. Die Zahlen sind eindeutig.
({9})
Jetzt nutzen Sie die schwierige Situation - das ist Ihre
Rolle als Opposition -, um mit Häme darüber hinwegzugehen.
({10})
- Herr Kampeter, ich kenne diese laute Stimme und dieses Gebrüll.
Der Versuch, das Vertrauen zu erschüttern, das wir erworben haben, ist jetzt, da wir uns in einer solch schwierigen Lage befinden, möglicherweise erfolgreich. Aber
auch Frankreich bekommt im nächsten Jahr einen blauen
Brief aus Brüssel.
({11})
Frankreich wird übrigens konservativ regiert, wenn ich
daran erinnern darf. Auch Frankreich hat die Konjunkturprognosen für das nächste Jahr nach unten korrigiert.
Wenn Sie sich das alles auf der Zunge zergehen lassen,
werden Sie erkennen, dass Sie sich an die eigentliche
Kerndiskussion nicht herantrauen. Sie plustern sich auf,
erzählen etwas von einem Haushaltssicherungsgesetz und
denken, damit könnten Sie die Menschen beeindrucken.
Damit ist aber gemeint, dass Sie in die sozialen Sicherungssysteme eingreifen wollen, statt sie zu reformieren.
Sie wollen einfach nur Einschneidungen vornehmen.
Diese Fraktion macht es sich besonders schwer, ihre
soziale Verantwortung wahrzunehmen, und versucht
wirklich, dies auszubalancieren. Das heißt: Wir brauchen
Zeit. Es muss eine Differenzierung vorgenommen werden. Alle großen und wichtigen Bevölkerungsgruppen
sollen berücksichtigt werden.
({12})
Der Zeitfaktor spielt eine Rolle. Wir haben mit den Reformen noch nicht begonnen. Es gibt aber eine Kommission und im nächsten Jahr wird es auch Reformen geben.
({13})
Wir müssen durchhalten. Das ist zu schaffen, auch mit
diesem Haushalt. Sie kennen die Zahlen so gut wie ich.
Also denke ich: Wir machen so weiter,
({14})
denn das ist die richtige Politik: erst konsolidieren und
dann modernisieren. Es müssen alle zusammen stehen.
({15})
Lassen Sie sich von den Vertretern der Opposition bloß
nichts erzählen. Die haben es wirklich nicht besser gemacht.
({16})
Wir kriegen das hin.
({17})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ilse Aigner,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe der Debatte aufmerksam zugehört. Es war von pastoralen Klängen bis hin zu ziemlichen Wutausbrüchen ob der Lage alles da, aber bei der
Beschreibung der heutigen Situation ist vieles verschönt,
vertuscht und vernebelt worden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, eines habe ich festgestellt: Sie verweisen noch heute - wir schreiben 2002 - auf 16 Jahre,
die schon weit zurückliegen, und verschweigen immer die
letzten vier Jahre,
({0})
in denen offensichtlich vieles falsch gemacht wurde,
({1})
denn sonst wäre die heutige Situation nicht eingetreten.
({2})
Es zieht sich auch wie ein roter Faden durch Ihre Politik,
dass immer alle anderen schuld sind - nur nicht diejenigen, die momentan an der Regierung sind. Dieses Muster
kennen wir ja schon von früher;
({3})
ich kann mich noch gut daran erinnern. Noch vor 1998
gab es einen Ministerpräsidenten; der hieß Schröder. Er
hat immer darauf verwiesen, es seien die makroökonomischen Bedingungen, die ihn so daran hinderten, ein guter
Ministerpräsident zu sein, und er werde alles ändern,
wenn er Bundeskanzler ist. Vier Jahre hatte er jetzt und alles schaut ziemlich neblig und schlecht aus. Die Konjunktur- und die Wirtschaftsprognosen gehen stark nach
unten. Ich brauche nicht alles zu wiederholen, was schon
gesagt worden ist.
Ich will Ihnen nur ein Schmankerl aus der Steuerschätzung vortragen, weil die Frau Kollegin Hermenau darauf
verwiesen hat, wir hätten ein Einnahmeproblem. Ich kann
mich noch gut an die Diskussionen zur Steuerreform 2000
erinnern, als wir gesagt haben, dass die Steuerreform strukturell falsch angelegt ist, insbesondere was die Körperschaftsteuer und die Benachteiligung der mittelständischen
Betriebe betrifft. Die Zahlen der Steuerschätzung muss man
sich auf der Zunge zergehen lassen. Wir hatten Körperschaftsteuereinnahmen von mehr als 23 Milliarden Euro.
({4})
Heute ist dieser Betrag auf 850 Millionen Euro gesunken.
({5})
Vielleicht sollte man einmal eine andere Einnahmepositionen dagegen stellen, damit die Größenordnungen klar
werden: Die Einnahmen aus der sehr wichtigen Biersteuer, die in Bayern, wo ich herkomme, sehr beliebt ist,
({6})
sind mittlerweile fast so hoch wie die Einnahmen aus der
Körperschaftsteuer, nämlich 815 Millionen Euro. Ich
könnte noch eines draufsetzen, wenn ich den Anteil des
Bundes an der Körperschaftsteuer in Höhe von 425 Millionen Euro den Einnahmen des Bundes aus der Schaumweinsteuer in Höhe von 450 Millionen Euro gegenüberstelle. Die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer liegen
heute unterhalb der Einnahmen aus der Bier- und der
Schaumweinsteuer.
Mir ist noch etwas aufgefallen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen: Sie verweisen immer darauf, Sie hätten
Ihre Planungen auf die Meinungen der Sachverständigen
gestützt. Eines aber tun Sie nie: Sie hören nicht auf das,
was die Sachverständigen in ihren Gutachten schreiben.
({7})
Ich will Ihnen einige der 20 Punkte aus dem Sachverständigengutachten der fünf Wirtschaftsweisen einfach vorlesen. Laut „SZ“ werden diese Posten mittlerweile parteipolitisch besetzt. Das kann ich nicht nachvollziehen, aber
die „SZ“ schreibt ja immer richtige Dinge.
({8})
Ich kann nicht alle Punkte vorlesen, dazu wird die Zeit
nicht reichen. Diese Sachverständigen schreiben Folgendes: Bei der derzeitigen Lage ist es wichtig, die Steuersätze weiter zu senken. - Sie tun das Gegenteil. Dann
heißt es: Die Staatsaufgaben sind zugunsten privater Aktivitäten zurückzuführen. - Sie tun auch hier das Gegenteil. Ich will nur ein Beispiel nennen: Sie strangulieren die
Zeitarbeitsfirmen und führen auf der anderen Seite mit
den PSA, den Personal-Service-Agenturen, eine staatliche Organisation ein. Damit verhindern Sie wirtschaftliches Wachstum auch auf diesem Sektor. Sie tun das genaue Gegenteil von dem, was das Gutachten empfiehlt.
({9})
Ferner steht dort: Die Verschuldung muss gesenkt werden.
- Sie erhöhen sie in diesem Jahr auf 35 Milliarden Euro.
Die Sachverständigen fordern weiter: Die Lohnnebenkosten müssen gesenkt werden. - Jetzt schaue ich in die Reihen von Bündnis 90/Die Grünen. Ihre jungen Mitglieder
haben sich ja nicht durchsetzen können. Sie haben Recht:
Es fehlt an einer Strukturreform im Rentenbereich. Für
diesen Bereich jetzt die Lohnnebenkosten anzuheben ist
mit Sicherheit falsch. Es liegt an der Struktur. Wir hatten
das Problem schon 1998 angepackt.
({10})
Von Ihnen ist es wieder zurückgenommen worden.
({11})
Weitere Punkte sind - ich kann sie nur noch vorlesen -: mehr Beschäftigung im Niedriglohnbereich durch
Reform der Sozialhilfe, mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt - Sie tun das genaue Gegenteil -, dezentrale
Lohnfindung ermöglichen, Kündigungsschutz lockern
und vieles mehr. Alle Punkte, die hier aufgeführt sind,
sind das genaue Gegenteil der Politik, die Sie in den letzten vier Jahren gemacht haben. Das Schlimme ist: Sie
werden offensichtlich in den nächsten vier Jahren Ihre Politik fortsetzen.
({12})
Sie werden den Karren noch weiter in den Dreck fahren.
Ich hoffe, wir werden das ändern können.
({13})
Das Wort hat der Kollege Ortwin Runde, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Thiele, wenn man das Wort „Glaubwürdigkeit“ zu oft in
den Mund nimmt, dann besteht natürlich die Gefahr, dass
dieser Maßstab an einen selbst angelegt wird. Wenn man
das bei Ihnen und Ihrer Partei macht, dann muss man sagen: Glaubwürdigkeit entsteht aus glaubwürdigem Handeln. Ökonomisches Handeln beginnt zu Hause.
({0})
Schauen Sie sich einmal an, wie sich das bei Ihren
Parteikassen verhält.
({1})
Ökonomisches Handeln setzt sich natürlich auch auf
der gesamtstaatlichen Ebene fort. Sie müssen sich einmal
die Höhe der Verschuldung und insbesondere die der
Schuldzinsen anschauen, die Sie uns 1998 hinterlassen
haben. Jede vierte D-Mark wurde damals für Schuldzinsen aufgewandt. Vier Jahre später ist es nur noch jede
fünfte D-Mark. Schauen Sie sich auch einmal die Höhe
der Sozialabgaben an, die Sie uns hinterlassen haben. Ihren
höchsten Stand haben die Sozialabgaben wegen der
falschen Finanzierung der deutschen Einheit 1998 erreicht.
({2})
Vorhin habe ich den großen Seher Austermann reden
gehört, den eines mit den großen Sehern der Antike verbindet: In den eigenen Reihen hat er nie Anerkennung gefunden und ihm wurde nie geglaubt. Denn wenn er vor anderthalb Jahren tatsächlich gewusst hat, wie die Situation
heute sein wird, dann verstehe ich das Wahlprogramm und
all die Wahlversprechen der CDU/CSU nicht.
({3})
Wenn er sagt, es sei ja schon zu Jahresbeginn erkennbar
gewesen, dass die Stabilitätskriterien verfehlt würden,
dann frage ich mich: Wieso hat er dann Herrn Stoiber den
Rat gegeben, den Differenzbetrag,
({4})
der zur Einhaltung der 3-Prozent-Marke fehlt, für Wahlversprechen einzusetzen? Das kann ich nicht nachvollziehen.
({5})
Auch ich habe mir über viele Jahre angesehen, wie es
sich mit den Steuerschätzungen verhält. Herr Thiele hat
völlig Recht, wenn er sagt, es gebe eine Konstante, nämlich dass die Steuerschätzungen nie gestimmt hätten. Das
gilt für die letzten anderthalb Jahrzehnte. Diese Feststellung ist völlig richtig. Man kann auch feststellen, in welche Richtung die Steuerprognosen abgewichen sind: Im
Aufschwung wurden die Steuereinnahmen unterschätzt,
während sie im Abschwung überschätzt wurden. Hier
kann man eine richtige Gesetzmäßigkeit erkennen.
Während der Amtszeit von Herrn Waigel fiel das Gesamtresultat so schlecht aus, dass es noch nachträglich berechtigt wäre, seinen Rücktritt zu fordern.
({6})
Eichel hatte mehr Glück, weil er von den Prognosen öfter
positiv als negativ überrascht wurde. Aber das hängt
schlicht und einfach mit dem Konjunkturverlauf zusammen.
Bei der Frage der Steuerlast muss man unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten eines berücksichtigen:
Die Steuerlastquote, die 2002 bei 20,77 Prozent liegt
- nach der Steuerschätzung wird sie 2003 voraussichtlich
bei 20,99 Prozent liegen -, ist die niedrigste in der deutschen Nachkriegsgeschichte.
({7})
Das ist nach den USA und Japan international die niedrigste Steuerlastquote. Das muss man feststellen, wenn
man sich die Gegebenheiten genau anschaut.
Was wir brauchen, sind verlässliche Grundlagen für die
Besteuerung.
({8})
Diesbezüglich haben wir eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet; ich nenne nur die Bekämpfung des Missbrauchs
bei der Umsatzsteuer oder die Begrenzung der Verrechnung von Verlusten mit aktuellen Gewinnen bei der Körperschaftsteuer. Nach den Aussagen von Frau Aigner bin
ich sehr gespannt, wie Sie sich verhalten werden. Ich gehe
davon aus, dass wir darin übereinstimmen, dass das Aufkommen aus der Körperschaftsteuer wieder berechenbar
gemacht werden muss und dass Sie konstruktiv daran mitwirken.
({9})
Wir haben mit dem Abbau von Steuervorteilen auch die
Stabilisierung der steuerlichen Grundlagen eingeleitet.
({10})
Die Opposition ist jetzt gefordert, zu den Vorschlägen, die
wir gemacht haben, konstruktiv Stellung zu beziehen oder
eigene konkrete Vorschläge einzubringen.
In den Ländern und Gemeinden wird man Ihre Position, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht
lange hinnehmen.
({11})
Man wird dort Ihre Position nicht verstehen; denn es geht
nicht allein um die Bundesfinanzen, sondern in gleichem
Umfang um die Finanzen der Länder und der Kommunen.
Diese Aufgabe müssen wir gemeinsam angehen und gemeinsam lösen.
({12})
Das Problem, vor dem wir stehen, ist, dass wir auf der
einen Seite bei der Festigung der Steuergrundlagen, bei
der Haushaltskonsolidierung Kurs halten müssen,
({13})
dass wir auf der anderen Seite aber nicht die weltwirtschaftlichen Gegebenheiten übersehen dürfen. Das alles
müssen wir berücksichtigen, wenn wir das Wachstum fördern wollen.
Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Hier gilt es, einen geeigneten Mix von Maßnahmen
durchzuführen. Vorschläge hierzu haben wir mit dem Entwurf des Haushaltsplans unterbreitet.
({0})
Hierüber sollten wir uns ernsthaft auseinander setzen;
denn die Situation ist in der Tat dramatisch.
Schönen Dank.
({1})
Herr Kollege Runde, ich gratuliere Ihnen im Namen aller
Kolleginnen und Kollegen zu Ihrer ersten Rede in diesem
Hohen Hause und wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Otto Bernhardt,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zurück zu den grausamen Tatsachen.
({0})
Deutschland ist Schlusslicht bei der wirtschaftlichen Entwicklung in Europa.
({1})
Das haben gestern die fünf Weisen noch einmal mit aller
Deutlichkeit festgestellt. Was wahrscheinlich genauso
schlimm ist: Gemeinsam mit Japan sind wir, so steht es
in dem Gutachten, bei der wirtschaftlichen Entwicklung
aller Industriestaaten der Welt auf den letzten Plätzen. Das
ist die aktuelle Situation.
({2})
Ich stelle fest: Früher haben Sie die Schuld für diese
Entwicklung immer bei der alten Bundesregierung gesucht - das war die berühmte Altlast -, heute hat das nur
noch Herr Runde versucht. Er ist neu in diesem Hause.
Die anderen Kollegen wissen, dass man hier mit dieser
Platte keine Chance mehr hat.
({3})
Sie regieren seit vier Jahren. Wir diskutieren jetzt über die
Ergebnisse Ihrer vierjährigen Verantwortung.
({4})
Der zweite beliebte Punkt, auf den Sie immer wieder
hinweisen - Kollege Runde und andere haben das auch
eben wieder angesprochen -, ist die Weltwirtschaft.
Natürlich hat die Weltwirtschaft Einfluss auf die Entwicklung in Deutschland; das bestreitet niemand. Aber
die entscheidende Frage ist doch: Warum werden andere
europäische Länder mit den gleichen Rahmenbedingungen deutlich besser fertig als wir?
({5})
Warum haben Italien, Frankreich und Großbritannien im
letzten Jahr ein dreimal so hohes Wirtschaftswachstum
gehabt wie wir?
({6})
Das basiert auf verlässlichen Zahlen aus dem Jahr 2001.
Warum haben Belgien, Dänemark und Großbritannien
Vollbeschäftigung? Warum hatten im letzten Jahr mehr
als die Hälfte aller EU-Länder einen ausgeglichenen
Haushalt? Die Antwort ist klar; sie steht in der „Financial
Times Deutschland“ und im Gutachten. Ich zitiere die
„Financial Times Deutschland“, die heute schreibt:
„Eichel fehlt der Blick für die gesamte Ökonomie.“
({7})
Ich könnte es abändern: Der neuen Bundesregierung fehlt
dieser Blick.
({8})
Meine Damen und Herren, auf Steuerausfälle reagiert
niemand auf der Welt so wie Sie, nämlich mit Steuererhöhungen. Kein Nationalökonom empfiehlt dieses Konzept.
Das ist genau der verkehrte Weg.
({9})
Sie sprechen hier von sozial. Dazu kann ich nur sagen:
Diese Politik ist nicht sozial, sie hat uns eine steigende Arbeitslosigkeit gebracht. Sozial ist eine Politik, durch die
die Arbeitslosigkeit abgebaut wird.
({10})
Deshalb kann der richtige Weg nur sein, dass Sie das,
was wir in unserem Regierungsprogramm geschrieben
haben, aber leider nicht verwirklichen können, umsetzen:
Sie müssen den Arbeitsmarkt liberalisieren. Sie müssen
Ausgaben streichen und dürfen keine Steuern erhöhen.
({11})
Sie stellen sich hier hin und sagen, dass die Länder
55 Prozent der Verschuldung mittragen. Das Problem ist
aber, dass die Wirtschafts- und Finanzpolitik im Wesentlichen in diesem Hause bestimmt wird. Richtig ist, dass
die CDU-regierten Länder mit der schlechten Politik der
Bundesregierung deutlich besser fertig geworden sind.
Das unterstreichen alle Zahlen.
({12})
Meine Damen und Herren von der Koalition, deshalb
kann ich abschließend nur den Rat geben: Machen Sie
eine Kehrtwendung, reagieren Sie auf Steuerausfälle richtig und reagieren Sie nicht, wie Sie es zurzeit tun, nämlich
wie ein ängstlicher Buchhalter, sondern reagieren Sie wie
ein weitsichtiger Finanzpolitiker.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Walter Schöler,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es könnte Ih588
nen so passen, die 16 Jahre Ihrer Regierung einfach in Vergessenheit zu bringen.
({0})
Das hätte Ihnen auch am 22. September gepasst. Es ist Ihnen aber nicht gelungen; das ist gut so. Das Konzept, das
Sie vorher verkündet haben, war nämlich ein reines Konzept für Schuldenmacherei in den nächsten Jahren und
nichts anderes. Dieses Konzept kannten die Bürgerinnen
und Bürger und sie haben es Ihnen nicht mehr abgenommen.
({1})
Die Grundlagen für den Riesenberg an Arbeitslosen,
der leider auch heute noch da ist, haben Sie in den 16 Jahren geschaffen.
({2})
Auch den Schuldenberg haben Sie geschaffen. Ihnen,
Herr Kollege Bernhardt, der Sie eben einen internationalen Vergleich - allerdings nicht mit den neuesten Zahlen gebracht haben, kann ich nur sagen: Die Weichenstellung,
die Sie 1990 vorgenommen haben, war falsch. Die Folgen
werden uns noch mindestens die nächsten 15 Jahre begleiten.
({3})
Wir werden diese schultern müssen. Wir müssen aber darauf hinweisen, dass wir im Vergleich zu anderen Staaten
zusätzliche Lasten zu tragen haben. Auch darüber reden
Sie heute nicht mehr.
({4})
Vor vier Jahren haben wir eine klare Kehrtwendung zu
Ihrer Politik in den 16 Jahren vollzogen und Hans Eichel
hat eine Haushaltskonsolidierung begonnen, die zu seinem Markenzeichen geworden ist. Konsolidieren und Gestalten - das ist die Leitlinie unserer Finanzpolitik. Das
galt für die letzte Legislaturperiode und das gilt genauso
für die vier Jahre, die vor uns liegen. Unser Ziel bleibt im
Übrigen unverrückbar: 2006 wollen wir einen ausgeglichenen Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung - auch
ohne einen Euro Nettokreditneuaufnahme - vorlegen.
({5})
Wir geben zu, dass es sicherlich schwieriger geworden ist,
das zu erreichen; das zeigt auch die Steuerschätzung. Wir
halten dennoch an unserem Ziel fest und wir haben mit
unserem Konsolidierungspaket sofort gegengesteuert.
Im Übrigen war es nicht möglich, schneller Konsequenzen zu ziehen, als wir es getan haben, um die Mindereinnahmen weitestgehend aufzufangen. Wir senken
die Ausgaben und haben auch Mut zu unpopulären Maßnahmen und Einschnitten. Das haben auch die Demonstration am Brandenburger Tor in den vergangenen Tagen bestätigt.
Wir verbessern auch die Einnahmeseite durch die Verbreiterung der steuerlichen Bemessungsgrundlagen und
durch den Abbau unnötiger Steuervorteile.
({6})
- Das ist im Übrigen auch ein Angebot an die Länder und
Gemeinden, deren Einnahmebasis damit verbessert werden kann, Herr Thiele.
({7})
Die unionsgeführten Bundesländer müssen sich deshalb sehr wohl überlegen, ob sie es gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern verantworten können, unser Konsolidierungskonzept aus kurzsichtigen parteitaktischen
Überlegungen abzulehnen.
Die aktuellen Steuerschätzungen liegen erheblich unter dem Ergebnis der Mai-Schätzung. Aber zur richtigen
Bewertung muss daran erinnert werden, dass der Arbeitskreis „Steuerschätzungen“ kein Gremium der Bundesregierung ist. Ihm gehören nämlich auch Vertreter der
Länderfinanzministerien - darunter auch die der unionsregierten Länder - und der Wirtschaftsforschungsinstitute
an. In diesem Arbeitskreis werden mit Sicherheit keine
Gefälligkeitsschätzungen für die Regierung produziert,
wie bei der Mai-Schätzung von manchen unterschwellig
gemutmaßt worden ist.
({8})
Der Arbeitskreis kann sicherlich für sich in Anspruch
nehmen, die Steuerschätzungen im Mai nach bestem Wissen und Gewissen vorgenommen zu haben. Seine damaligen Annahmen sind allerdings nicht eingetroffen; vielmehr hat er sich geirrt und sich nun korrigiert. Ich will
keine Vergleiche heranziehen, aber das erinnert mich an
manche Aussagen der Demoskopen vor Wahlen. Sie von
der Opposition haben deren Aussagen wochen- und monatelang sehr interessiert verfolgt und sahen sich schon
auf der Regierungsbank.
({9})
Dieselben Demoskopen haben Ihnen sicherlich nach dem
22. September erklärt, warum es anders gekommen ist.
Ich vermute, Sie haben ihnen sogar noch ein Honorar
dafür gezahlt.
({10})
Wenn die Opposition und auch Teile der Medien nun
behaupten, die rot-grüne Koalition habe die Bürgerinnen
und Bürger vor der Wahl getäuscht - Sie haben noch ganz
andere und meines Erachtens teilweise üble Formulierungen gebraucht; Sie sollten einmal Ihre eigenen Reden im
Protokoll nachlesen -, dann ist das falsch. Dabei handelt
es sich um billigen Populismus. Wir haben nie behauptet,
dass die November-Schätzung keine Mindereinnahmen
ergeben werde.
({11})
Wir haben vielmehr gesagt, dass die Schätzung abzuwarten
bleibt und dass wir unabhängig vom Ergebnis auf jeden Fall
an unserem Konsolidierungskurs festhalten werden.
({12})
Genau das machen wir mit dem Paket, das in diesen Tagen präsentiert und verabschiedet wird.
({13})
Schließlich waren es nicht wir, die vor der Wahl völlig
unfinanzierbare Versprechen gemacht haben, sondern Sie
von der Opposition haben das Blaue vom Himmel herunter versprochen. Allein die von Ihnen vorgesehenen Steuervergünstigungen hätten doch 70 bis 80 Milliarden Euro
pro Jahr mehr gekostet. Nun aber rufen Sie: „Haltet den
Dieb!“ und wollen davon ablenken, dass uns Ihre finanzpolitische Unseriosität an den Abgrund geführt hätte
Herr Kollege Schöler, denken Sie bitte an Ihre Redezeit!
- gerne, Frau Präsidentin -, an dem Sie sich heute in mehreren Reden hin und her bewegt haben. Bewegen Sie sich
weiter an diesem Abgrund und machen Sie zwischendurch
gelegentlich Urlaub! Wir werden handeln und regieren und
wir werden das mit dem Haushalt 2003 auch beweisen.
Danke schön !
({0})
Das Wort hat der Kollege Norbert Schindler,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Schöler, glauben Sie das, was Sie heute gesagt haben, eigentlich selber?
({0})
Schön, dass Herr Diller noch im Saal ist. Wird er deshalb
geschickt, weil Herr Eichel seit einigen Tagen der Lügen
und des Betrugs überführt ist?
({1})
Herr Diller, sind Sie damit beauftragt worden, mitzuteilen, dass Sie an Steuererhöhungen festhalten?
Wenn sie an das Vertrauen appelliert, muss ich die Kollegin Hermenau fragen: Was haben Sie der deutschen Bevölkerung vor der Wahl alles versprochen?
({2})
Herr Metzger hat - Herr Thiele hat zu Recht darauf hingewiesen - vorgestern in der Sendung „Frontal 21“ festgestellt:
In einem Abwägungsprozess, wollen wir weiter regieren, hat sich die SPD und die Bundesregierung
und auch der Bundesfinanzminister fürs Weiterregieren entschieden und gegen die Ehrlichkeit.
Herr Metzger hat Ihnen selbst gesagt: Sie haben Deutschlands Bevölkerung bewusst angelogen.
({3})
- Herr Poß, wenn es glatt gelogen ist, dann fordern Sie
ihn gerichtlich auf, diese Bemerkung zurückzunehmen.
Das können Sie innerhalb Ihrer Koalition klären. Bringen Sie das auf die Reihe! Es steht Aussage gegen Aussage. Wenn ich Sie wäre, würde ich mir das nicht bieten
lassen.
Auch die Kollegin Scheel ist nicht mehr da. In einer Finanzdebatte hat sie genauso wie der Finanzminister anwesend zu sein.
({4})
Das gehört zum guten Ton. Wahrscheinlich verkündet sie
gerade draußen - das macht sie öfter -: Wir brauchen doch
eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Gleiches gilt bei der
Erbschaftsteuer und der Vermögensteuer.
Vorhin wurde gesagt, es gebe keine Steuererhöhungen.
Ich bin gespannt, was Sie in Ihrem Giftschrank für
Deutschland noch alles auf Lager haben, Stichwort Ökosteuer. Sie machen Ankündigungen in der Hoffnung,
Deutschlands Wirtschaft anzukurbeln. Man glaubt Ihnen
schlicht und ergreifend nicht mehr. Haben Sie denn das
nicht begriffen? Wenn das so weitergeht, liegen Ihre Umfragewerte bald bei null.
({5})
Ich komme zur Hartz-Kommission. Wir werden noch
darüber reden, wie man versucht, damit eine positive
Stimmung zu erzielen. Folgendes Motto ist bei Ihnen anscheinend Methode geworden: links gewählt, grün ge590
lebt, schwarz gearbeitet und sich dann blau-gelb geärgert.
({6})
In dieser Verantwortungslosigkeit setzen Sie den
Standort Deutschland in Europa aufs Spiel und untergraben die Stabilität des Euro. Wir sind die führende Wirtschaftsnation in Europa. Ich erinnere an die Stabilitätskriterien, die wir damals mit Theo Waigel unter dem
Wortschwall Ihrer Ministerpräsidenten, die heute zum
Teil hier sitzen oder sitzen müssten, gefordert haben.
Diese haben wir eingehalten.
Die damalige CDU/CSU- und FDP-Regierung hat die
deutsche Einheit geschultert und gemeistert. Wir haben
sie gewollt; wir haben sie auch mit Schulden finanziert.
Auf diese Schulden bin ich stolz.
Herr Runde, Ihnen kann ich nur sagen: Gehen Sie nicht
in Hamburg in der Hafenstraße spazieren. Schauen Sie
sich die Zahlen der deutschen Entwicklung der letzten
zehn bis zwölf Jahre an.
({7})
Wir haben in den 16 Jahren unserer Regierung verantwortungsvolle Finanzpolitik gemacht. Hamburg lässt
grüßen. Warum sind Sie dann abgewählt worden? Diese
Frage müssen Sie erst einmal beantworten.
({8})
Weil ich nur fünf Minuten Redezeit habe, stelle ich abschließend fest: Sie verhalten sich wie Lemminge, die auf
den Abgrund zusteuern. Sie sind sich dessen bewusst,
aber tun es trotzdem. Anders ausgedrückt: Vor der Wahl
waren wir in Deutschland vor dem Abgrund. Heute sind
wir einen großen Schritt weiter. Deutschland kennt nun
den Unterschied zwischen Rot-Grün und einem Telefonhäuschen: Wenn man in ein Telefonhäuschen hineingeht,
muss man erst zahlen und darf dann wählen. Das haben
die Leute begriffen. Bei Ihnen wird erst gewählt und dann
abgezockt. Sie verfahren in einer Art und Weise, dass wir
weiterhin das Schlusslicht bleiben werden. Herr Staatssekretär Diller, wir sind nicht mehr Klassenletzter; wir sind
sitzen geblieben. Diese Aussage hätten Sie heute machen
sollen.
Vielen Dank.
({9})
- Wer ist denn an der Regierung? Sie oder wir? Sie fragen vier Wochen nach Regierungsantritt nach Konzepten. Ihre kennen wir. Sie bedeuten Deutschlands Untergang.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch,
fraktionslos.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für die
Zuschauerinnen und Zuschauer darf ich sagen: Ich bin
Mitglied der PDS.
Ich bin zwar noch neu im Deutschen Bundestag, aber
ich bin schon etwas verwundert, dass es der Finanzminister einen Tag nach der Steuerschätzung nicht für nötig befindet, während einer Debatte über die Haushaltssituation
eine Stunde im Deutschen Bundestag zu verbringen. Das
befremdet mich doch sehr.
Herr Eichel hat für das laufende Jahr eine Neuverschuldung des Bundes in Höhe von 35 Milliarden Euro
angekündigt. Das bedeutet: 35 Milliarden Euro Nettokreditaufnahme. Geplant war ursprünglich eine Nettokreditaufnahme des Bundes in Höhe von 21,1 Milliarden Euro.
Da haben Sie sich also locker um 13,9 Milliarden Euro
verschätzt, einfach so!
Sie erklären das Finanzloch - so haben auch die Redner der Koalitionsfraktionen argumentiert - mit dem viel
zu geringen Wachstum, mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit und damit, dass man die konjunkturelle Entwicklung so nicht habe voraussehen können. Ich denke
aber, dass man die gigantischen Haushaltslöcher nicht
ausschließlich mit der Konjunktur erklären und entschuldigen kann. Das stimmt nicht. Das ist selbst verschuldetes Elend.
Die Steuerschätzung ist ein niederschmetterndes Zeugnis für den Finanzminister - er ist nicht anwesend - und
die gesamte Bundesregierung. Sie ist ein Zeugnis für die
verfehlte Steuerpolitik der Bundesregierung in der letzten
Wahlperiode. Die großen Aktiengesellschaften wurden
von Rot-Grün massiv steuerlich entlastet und bekamen
- oh Wunder; es wurde beklagt bzw. erstaunt zur Kenntnis genommen - von den Finanzämtern sogar Geld zurück. Das hätte man vorher berechnen können!
Ihre Jahrhundertsteuerreform, meine Damen und Herren von Rot-Grün, sollte die Konjunktur ankurbeln. Doch
offensichtlich tun die großen Unternehmen nicht das, was
Sie von ihnen erwartet haben. Sie kurbeln nicht an. Sie investieren einfach nicht in neue Jobs. Die, die bisher in
neue Jobs investiert haben, die kleinen und die mittleren
Unternehmen, können weiter auf Steuererleichterungen
warten.
({0})
Um es einmal bildlich auszudrücken: Ihre Steuerreform
schlachtet die Kuh und versucht, den Bullen zu melken.
Jetzt wundern Sie sich, dass der Bulle keine Milch gibt.
({1})
Die Zeche für die verfehlte Steuerpolitik zahlen jetzt
die Länder und Kommunen, letztlich der normale Steuerzahler. Heute habe ich in der Zeitung gelesen, dass Herr
Eichel die Länder auffordert, endlich zu sparen. Angesichts der Situation finde ich das etwas daneben. Viele der
steuerlichen Veränderungen zulasten der Länder und
Kommunen wurden im Deutschen Bundestag beschlossen, ohne dass eine Kompensation vorgenommen wurde.
Die Bundesregierung kommt nicht länger umhin, eine
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts offiziell festzustellen. Nach Einschätzung des Arbeitskreises Steuerschätzung werden die Steuereinnahmen der
Gebietskörperschaften in diesem Jahr um insgesamt
15,4 Milliarden Euro geringer ausfallen, als noch im Mai
angenommen wurde. Davon entfallen 5,7 Milliarden Euro
auf den Bund. Da das Grundgesetz bestimmt, dass in
normalen Zeiten die Neuverschuldung des Bundes die
Summe der Investitionen nicht überschreiten darf, zwingt
der notwendige Nachtragshaushalt die Bundesregierung
dazu, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts festzustellen. Über das Ausmaß des geplanten
Nachtragshaushalts wissen wir noch nichts, aber schon
jetzt ist klar: Es wird die hart treffen, die schon jetzt wenig haben, und es wird die schonen, die schmerzlos auf
etwas verzichten könnten.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
Ihre Redezeit ist auch zu Ende.
Abschließend möchte ich an ein Wahlversprechen der
SPD von 1998 erinnern, nämlich an die Wiedereinführung
der Vermögensteuer. Es ist höchste Zeit, dieses Versprechen einzulösen.
Herzlichen Dank.
({0})
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Rainer Wend, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn wir uns in einer Debatte über den Verteidigungshaushalt befinden, fordert die Union zweistellige
Milliardenbeträge für eine bessere Verteidigung.
({0})
Befinden wir uns in einer Debatte über die Infrastruktur in
Deutschland, fordert die Union zweistellige Milliardenbeträge für neue Straßen in unserem Land.
({1})
Reden wir über Familienpolitik, fordert die Union zweistellige Milliardenbeträge für Familiengeld.
({2})
Befinden wir uns in einer Rentendebatte, beklagt die
Union, dass die Renten nicht noch stärker erhöht werden,
als sie schon erhöht werden. Befinden wir uns aber in einer Steuerdebatte, fordert sie auf der einen Seite Milliarden um Milliarden zusätzlicher Ausgaben,
({3})
fordert aber auf der anderen Seite, die Steuern über das hinaus, was wir schon getan haben, noch stärker zu senken.
Wie ist das miteinander in Einklang zu bringen?
Ein anderes Beispiel. Während des Wahlkampfs gab es
die schreckliche Flutkatastrophe. Die Union forderte in
der Debatte: Macht mehr Schulden, um die Folgen der
Katastrophe zu beseitigen! - Eine halbe Stunde später, vor
den Fernsehkameras, sagten dieselben Leute: Der Haushalt muss stärker konsolidiert werden; es muss stärker gespart werden.
Reden wir über Ökosteuer, sagt die Union: Die Ökosteuer bedeutet die Strangulierung der deutschen Wirtschaft. - Aber selbst hat sie die Mineralölsteuer in den
Jahren ihrer Regierungszeit um ein Vielfaches dessen erhöht, was wir mit der Ökosteuer eingeführt haben.
({4})
Diese Politik als widersprüchlich zu bezeichnen ist weiß
Gott geschmeichelt. Was Sie in der Wirtschafts- und Finanzpolitik auszeichnet, ist Konfusion. Das muss einmal
festgehalten werden.
({5})
Diese Konfusion wird nur durch das übertroffen, was
Herr Schindler eben gesagt hat.
({6})
Ich staune, dass nicht mehr es so registriert haben, wie es
bei mir angekommen ist. Herr Schindler, Sie haben gesagt: Die Politik dieser Koalition bedeutet - das haben Sie
wörtlich behauptet - „Deutschlands Untergang“.
({7})
Ich will Ihnen dazu Folgendes sagen: Wenn Sie, die Vertreter einer demokratischen Partei, die Konzepte einer
konkurrierenden demokratischen Partei hart kritisieren
und beschimpfen, dann ist das in Ordnung. Aber den Untergang Deutschlands an die Wand zu malen, das ist schäbig. Was Sie sich hier in diesem Parlament leisten, das ist
schamlos.
({8})
Dazu möchte ich noch folgende deutliche Bemerkung
machen: Als es im letzten Jahrhundert einmal, nämlich
unter den deutschen Faschisten, den Untergang Deutschlands gegeben hat, waren Sozialdemokraten dafür nicht
verantwortlich. Sozialdemokraten haben in ihrer Geschichte niemals beim Untergang Deutschlands mitgemacht.
({9})
Dieser Finanzminister muss sich heute aus Ihren Reihen einiges an Kritik anhören. In einer solchen Situation
ist es angemessen, über solche Dinge zu streiten. Aber
auch dazu muss ich Ihnen eines in aller Klarheit entgegnen: Wenn Ihr früherer Finanzminister nur halb so viel
Konsolidierungspolitik betrieben hätte wie Hans Eichel,
dann würde es uns heute um ein Vielfaches besser gehen.
({10})
In einem Punkt muss ich allerdings allen Vorrednern
von der Opposition zustimmen: Die schlechte Konjunktur
ist nur eine der Ursachen der hohen Arbeitslosigkeit.
Hinzu kommen strukturelle Probleme, die seit vielen Jahren - auch in unserer Regierungszeit - bestehen. Das muss
man so deutlich sehen. Wir nehmen mit der Steuerreform
und mit der Arbeitsmarktreform deutliche Veränderungen
vor.
Ich möchte einen weiteren Punkt erwähnen. Der Sachverständigenrat hat Recht: Wir müssen die Staatsausgaben zugunsten privater Aktivitäten stärker als bisher
zurückführen und gleichzeitig staatliche Ausgaben in
Richtung öffentlicher Investitionstätigkeit umschichten.
Die Frage ist nur - ich habe auch Sie in diesem Sinne verstanden -: Wie gelingt es uns, das in diesen schwierigen
Zeiten zu finanzieren und gleichzeitig Konsolidierungspolitik zu machen?
In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein Stichwort hinweisen, das in der bisherigen Diskussion noch
keine Rolle gespielt hat: Public Private Partnership. In der
gegenwärtigen Situation ist sie angemessen; andere Länder, Großbritannien, Holland, Portugal, Spanien, haben
sie praktiziert. Wir müssen staatliche Aufgaben einerseits
und private Aufgaben andererseits neu justieren. Wir
müssen einen neuen Weg der Kooperation finden, und
zwar nicht nur bei der Finanzierung von Projekten, sondern auch bei der anschließenden Durchführung. Ich
glaube, dass dabei viele Effizienzgewinne zu erzielen
sind.
Ich will Ihnen damit Folgendes sagen: Allein mit der
Beschreibung des Untergangs Deutschlands - ich komme
darauf zurück - und allein damit, sich hierhin zu stellen
und unsere Politik herunterzureden, ohne Alternativen
aufzuzeigen, werden Sie vier Jahre in der Opposition
nicht überstehen.
({11})
Bitte bringen Sie sich in den Wettbewerb um bessere Konzepte für unser Land ein! Damit täten Sie unserem Land
tatsächlich einen Gefallen.
({12})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform
- Drucksache 15/21 ({0})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
- Drucksache 15/71 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Schultz ({2})
Heinz Seiffert
Carl-Ludwig Thiele
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 15/72 Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Antje Hermenau
Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU und der Fraktion der FDP vor. Über den Gesetzentwurf werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben einen sehr strammen Beratungsfahrplan
({0})
in Bezug auf die Gesetze, die zum 1. Januar 2003 in Kraft
treten sollen. Ich freue mich, dass wir zumindest dieses
Gesetz zur Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform, für das heute die abschließende Lesung stattfindet, trotz dieses strammen Tempos ordentlich beraten
konnten:
({1})
So wurde eine Anhörung durchgeführt, deren Ergebnisse
auch noch Eingang in Form von Veränderungen des Gesetzestextes gefunden haben. Damit konnte bewiesen
werden, dass ein schnelles Tempo nicht grundsätzlich zu
einer schlechten Politik führen muss, sondern dass man
auch mit strammen und konzentrierten Beratungen schnell
zu Ergebnissen kommen kann.
({2})
Ich freue mich auch darüber, dass ein großer Teil der
Sachverständigen diesen Gesetzentwurf bei der Anhörung
ausdrücklich begrüßt hat. Es sind viele Gesichtspunkte
aufgenommen worden, die gerade auch von Ihnen in der
Reinhard Schultz ({3})
Vergangenheit an der ökologischen Steuerreform kritisiert wurden, nämlich angeblich mangelnde Lenkungswirkung und mangelnde Treffsicherheit im ökologischen
Bereich. Durch dieses Gesetz erhöhen wir die ökologische Treffsicherheit deutlich und sorgen dafür, dass
Schritt für Schritt auf effiziente Energietechniken, auch
im Bereich des produzierenden Gewerbes, umgestellt
wird.
Wir erhöhen nicht etwa, wie manchmal dargestellt
wird, den Steuersatz für produzierendes Gewerbe, sondern wir senken den 80-prozentigen Rabatt, den das produzierende Gewerbe gegenüber allen anderen Steuerzahlern, insbesondere gegenüber den privaten Haushalten,
hatte, nach etwa vier Jahren auf 40 Prozent ab.
({4})
Der Rabatt hatte den Sinn, die Unternehmen anzuregen,
rechtzeitig auf Energie sparende und effiziente Systeme
umzustellen. Viele Unternehmen haben die Möglichkeiten genutzt. Das sagen uns Untersuchungen des UBA und
aller wichtigen Institute, die sich damit befassen. Energiesparinvestitionen waren in den letzten drei bis vier Jahren der Renner. Insofern hat sich das Manöver politisch
insgesamt gelohnt - für die Umwelt allemal.
Jetzt ziehen wir die Schraube ein wenig weiter an, um
noch mehr Unternehmen zu bewegen, in Energiespartechnik zu investieren. Das trägt aber auch dazu bei, den
Vorwurf auszuräumen, wir würden mit der Ökosteuer im
Grunde genommen nur die Verbraucher belasten, die
Wirtschaft aber entlasten. Indem wir die Schraube bei der
produzierenden Wirtschaft etwas anziehen, stellen wir
auch etwas soziale Symmetrie und Gerechtigkeit im Bereich der Ökosteuer zwischen Verbrauchern und Wirtschaft her. Auch das wurde ausdrücklich in der Anhörung
gelobt.
Wir haben uns gerade und besonders auch mit den
energieintensiven Unternehmen befasst, die im internationalen Wettbewerb stehen, nicht ausweichen können
und sowieso schon alles tun, um Energie einzusparen. Wir
wissen auch ganz genau, dass in Unternehmen, die Energie - Strom oder andere Energien - einsetzen, um Stoffumwandlungsprozesse durchzuführen, nicht viel an Primärenergie eingespart werden kann. Deswegen haben wir
einen Spitzenausgleich geschaffen, der da, wo es möglich
ist, noch einmal anregt, über Effizienzsteigerungen bei
Neu- oder Ersatzinvestitionen nachzudenken, diese Unternehmen aber im Großen und Ganzen ähnlich wie der
heute noch geltende Spitzenausgleich schont.
Ich weise aber auch darauf hin - auch das war eine wichtige Erkenntnis der Anhörung -, dass nicht die Ökosteuer
alleine das Problem ist, sondern vielmehr die Kumulation,
die Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Überwälzungsprozessen, nämlich Ökosteuer, Kraft-WärmeKopplungsgesetz und EEG. Ein Aluminiumwerk zum
Beispiel, das 2,5 Millionen Megawattstunden Strom im
Jahr verbraucht, wird durch die Ökosteuer mit etwa
1,6 Millionen Euro, durch das KWK-Gesetz mit 0,6 Millionen Euro, durch das EEG aber mit sage und schreibe 10 Millionen Euro belastet. Eine Papierfabrik, die
125 000 Megawattstunden Strom im Jahr verbraucht,
zahlt 266 000 Euro an Ökosteuer, 31 250 Euro an KWKUmlage, aber 500 000 Euro aufgrund des EEG. Diesem
Missverhältnis müssen wir uns aufgrund der Gesamtbelastung solcher Unternehmen dringend zuwenden. Wir Sozialdemokraten werden das in der nächsten Zeit tun. Ich
hoffe, dass wir dafür auch Verbündete hier im Parlament
finden.
({5})
Bei der Anhörung ist auch darauf hingewiesen worden,
dass möglicherweise durch den CO2-Zertifikatehandel,
den die EU-Kommission anregt und wozu ein Richtlinienentwurf vorliegt, der verhandelt wird, eine zusätzliche
Belastungskulisse entsteht. Wir sagen deutlich: Die energieintensiven Unternehmen, die jetzt schon am Rande ihrer Wirtschaftlichkeit arbeiten, dürfen nicht neben dem,
was wir jetzt schon haben - Ökosteuer, KWK-Gesetz und
EEG -, durch den CO2-Zertifikatehandel gleichsam doppelt belastet werden. Dann müssen wir uns entscheiden,
welchen Weg wir letztendlich gehen: einen Weg zugunsten des Fiskus, zugunsten der Rentenversicherung oder
zugunsten eines Handels mit CO2-Zertifikaten. Diese
Frage wird sich in nächster Zeit stellen.
Wir freuen uns sehr darüber, dass wir durch die Verlängerung der Steuerfreiheit für erdgasbetriebene Kraftfahrzeuge um weitere zehn Jahre, also bis zum Jahr 2020,
eine technologische Weichenstellung vorgenommen haben. So können Industrien natürlich planen. Ich verstehe
diese Maßnahme nicht in erster Linie als eine Maßnahme,
die dazu führen soll, dass auf Dauer Erdgas getankt wird,
sondern hier geht es um eine Technologie, die als Platzhalter für mögliche andere Gase dient, die in Fahrzeugen
benutzt werden können, bis hin zu der Markteinführung
neuester Technologien auf Wasserstoffbasis.
Mit jährlich 150 Millionen Euro für die Umsetzung der
Energieeinsparverordnung im Altbaubestand werden wir
etwa 2 Milliarden Euro an Investitionen mobilisieren. Das
ist eine stolze Zahl. Gerade vor dem Hintergrund der heftigen Diskussion über das Thema Wohnungsbau und die
Frage der Reaktivierung von Innenstädten ist das eine
ökologisch und städtebaulich gezielte Maßnahme, die in
Verbindung mit Maßnahmen zur Eigentumsbildung im
Bestand viele Freunde finden wird.
({6})
Von der wirtschaftlichen Bedeutung her ist die Anhebung der Gassteuer auf 5,5 Cent pro Kilowattstunde der
dickste Brocken. Auch darüber ist in der Anhörung diskutiert worden. Dort gab es nicht nur freundlichen Beifall
der Mineralölindustrie - den konnte man erwarten -, sondern auch viele andere haben deutlich gemacht, dass sie
den dermaßen großen steuerlich initiierten Abstand zwischen leichtem Heizöl und Gas nicht mehr für vertretbar
gehalten haben. Das Abstandsgebot ist auch heute gerade
für den Wärmemarkt gegeben. Wir haben durch die Steuererhöhung nicht den Vormarsch des Gases auf dem Wärmemarkt gestoppt. Der Abstand ist nach wie vor vorhanden, aber er ist jetzt maßstabsgerecht und wir haben
gleiche Sachverhalte ähnlich besteuert. Auch das ist wich594
tig im Sinne der Steuergerechtigkeit und der Vermeidung
von zu großen politisch initiierten Wettbewerbsverzerrungen.
Ich gehe davon aus, dass die Anhebung des Satzes
nicht zu einer entsprechenden Anhebung des Erdgaspreises führen wird.
({7})
Die Gasindustrie hat selbst zum Ausdruck gebracht, dass
es zahllose Stellschrauben gibt, vom Verhältnis zum leichten Heizöl, wo sie den Abstand halten will, bis hin zur
steuerlichen Kulisse. Sie ist in der Lage, sowohl ihre Vorproduzenten als auch die Verteilerunternehmen in diese
zusätzliche Belastung einzubeziehen. Beim Verbraucher
wird nur ein kleiner Teil ankommen.
({8})
- Darauf können Sie sich wirklich verlassen; denn die
Erdgasindustrie muss mit den Preisen unter denen für
leichtes Heizöl bleiben, weil sie sonst keine Wachstumsmöglichkeiten hat. Insofern wird das ökonomische Gesetz
greifen, gerade in einem Bereich, in dem die Preise eher
gewürfelt werden, als dass sie am Markt zustande kommen. Das gilt für den noch immer nicht liberalisierten
Gasmarkt leider in besonderem Maße.
Herr Kollege Schultz, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich bin fertig. - Ich glaube, wir haben eine gute Abrundung der ökologischen Steuerreform geleistet.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Meister,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Rot-Grün - das haben wir gestern gelernt - bedeutet höhere Steuern - das diskutieren wir hier -, höhere
Schulden und höhere Arbeitslosigkeit.
({0})
Die Bilanz, die Sie hier präsentieren, ist für das Land
katastrophal. Volkswirtschaftlich gibt es - Entsprechendes wurde gestern von den Weisen vorgelegt - klare Antworten zur Überwindung dieser Situation: Begrenzung
der Steuerlast, Deregulierung der Arbeitsmärkte, Strukturreformen in den Sozialsystemen und verantwortliche
Geldpolitik.
Das, was Sie hier tun, bedeutet in all diesen Punkten
das genaue Gegenteil. Wir haben vorhin in der Aktuellen
Stunde gehört, dass Ihnen der Mut für solche Strukturreformen fehlt. Sie fordern den Mut von der Opposition ein.
Warum machen Sie sich nicht selbst auf und entwickeln
eigenen Mut?
({1})
Sie haben kein Konzept, sondern stochern blind im Nebel,
ohne geringste Koordination und Orientierung. Sie irren
orientierungslos durch das Chaos, das Sie selbst verursacht haben. Jeden Tag liest man im Ticker von neuen Plänen. Sie betreiben Flickschusterei und verunsichern die
Investoren. Deutschland wird miserabel regiert.
Herr Schultz, Sie haben vorhin die Beratung dieses Gesetzes gelobt. Als Neuling, der zum ersten Mal an einer
solchen Beratung des Finanzausschusses teilgenommen
hat, muss ich feststellen, dass es nur eine Änderung im
Verlauf der Beratung gab, und die stand schon vor der Anhörung fest. Die Anhörung hat also überhaupt keine
Änderung erbracht. Die Sachverständigen, die Sie einladen, werden nicht ernst genommen. Die Beratungsunterlagen im federführenden Ausschuss tröpfeln sozusagen
während der Sitzung langsam ein. Es gibt also keine Möglichkeit, sie sich vorher anzusehen. Damit degradieren Sie
das Parlament während der gesamten Beratungsphase zur
Staffage. Das ist kein ordentlicher Umgang mit dem Parlament und den Menschen in diesem Land.
({2})
Der Bundeskanzler hat am 26. Juli gesagt:
Steuererhöhungen sind in der jetzigen konjunkturellen Situation ökonomisch unsinnig und deshalb ziehen wir sie nicht in Betracht.
Wie hat dies unser früherer Kollege Metzger am Dienstagabend kommentiert?
Im Wahlkampf sagt die Politik nicht die Wahrheit,
- damit hat er vermutlich den Bundeskanzler gemeint weil ansonsten der Nimbus der Finanzpolitik dieser
Koalition im Bereich Sparen natürlich schon vor der
Wahl kaputt gewesen wäre.
So der ehemalige haushaltspolitische Sprecher der Grünen im Originalton. Man fragt sich natürlich, wie es um
die Ehrlichkeit von Bündnis 90/Die Grünen bestellt ist.
Machen Sie endlich Schluss mit dieser unehrlichen Politik in Deutschland und sagen Sie den Menschen endlich
die Wahrheit, und zwar im Vorhinein und nicht erst dann,
wenn die Folgen zu ertragen sind!
({3})
Nach der Wahl erleben wir eine Orgie von massiven
Steuererhöhungen. Es geht nicht nur um die Erhöhung
der Ökosteuer, die wir hier diskutieren, sondern es geht
auch um Ihr Steuervergünstigungsabbaugesetz, mit dem
Sie weitere Steuererhöhungen planen. Das ist schlecht für
das Wachstum, für die Dynamik und für die Flexibilität.
Mit diesem Gesetz gehen Sie in eine vollkommen falsche
Richtung.
Reinhard Schultz ({4})
Sie müssen dafür sorgen, dass es mehr Wachstum gibt.
1 Prozent mehr Wachstum würde über 8 Milliarden Euro
mehr Einnahmen für die Haushalte bringen. Das wäre der
Weg, wie wir unsere Haushalte sanieren können. Das geht
aber nicht durch ständige Steuererhöhungen und durch
das Abwürgen von Wachstum.
({5})
Schauen wir uns das Ökosteuergesetz einmal im Einzelnen an. Herr Kollege Schultz, ich habe das Gefühl, Sie
haben an einer ganz anderen Anhörung teilgenommen als
ich.
({6})
Die sechste Stufe der Ökosteuer wurde dort von den Experten als konjunkturpolitisch verfehlt bezeichnet. Es
wurde darauf hingewiesen, dass sie wettbewerbspolitisch
bedenklich ist. Sie ist wie die freiwilligen Klimavereinbarungen EU-rechtlich nicht verzahnt, weil sie nicht mit
der künftigen Energiepolitik der EU und auch nicht mit
dem Zertifikatehandel verbunden ist. Zu all diesen Punkten ist Ihnen gesagt worden, dass Sie sich auf dem
falschen Weg befinden. Die sechste Stufe der Ökosteuerreform ist arbeitsmarktpolitisch kontraproduktiv und auch
umweltpolitisch verfehlt. Auch das haben die Experten
festgestellt.
Jetzt sprechen Sie, Herr Kollege Schultz, davon, das
Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz, das Erneuerbare-Energien-Gesetz und die Ökosteuer würden in ihrer Gesamtwirkung einen negativen Effekt entwickeln. Da frage ich
mich: Wer hat die Ökosteuer, das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz und das Erneuerbare-Energien-Gesetz auf
den Weg gebracht?
({7})
Waren Sie es oder waren wir es?
({8})
Sie haben die Verantwortung für den negativen Effekt,
den Sie beschreiben.
({9})
In der Anhörung ist deutlich geworden, dass die Ökosteuer in ihrer jetzigen Form keine Lenkungssteuer im
Sinne der Ökologie, sondern, so wurde gesagt, eine Steuer
allein zum Abkassieren ist.
({10})
Durch die sechste Stufe der Ökosteuerreform werden
1,4 Milliarden Euro zusätzlich abkassiert zulasten von
Verbrauchern, die ihren Konsum noch weiter einschränken müssen, als es ohnehin schon der Fall ist, und zulasten von Unternehmen, die weniger Investitionen tätigen,
als dies gegenwärtig der Fall ist.
Mit voller Wucht wird die Bevölkerung in den neuen
Bundesländern getroffen. Die Menschen dort werden eine
über 50 Prozent höhere Erdgassteuer zahlen müssen.
Nach der Flutwelle im August hat man sie ermuntert, sie
mögen doch ihre Heizungen in den zerstörten Wohnungen
bitte auf Erdgas umstellen, weil dies klimapolitisch vernünftig sei. Aber drei Monate später schlagen Sie bei diesen Menschen, die Sie noch vor wenigen Wochen ermuntert haben, in die Erdgastechnologie zu gehen, mit der
Erdgassteuer zu. Die Menschen haben jetzt das Gefühl,
dass sie sich falsch entschieden haben.
({11})
Ich freue mich, dass Herr Bundesminister Trittin zu
diesem Thema sprechen wird. Er hat vor wenigen Tagen,
am 29. Oktober, sehr zutreffend festgestellt:
Die einseitige Erhöhung der Erdgassteuer, insbesondere im Verhältnis zum Steuersatz des leichten Heizöls, widerspricht der ökologischen Vernunft.
Herr Schultz, das ist das, was zum Thema „Erhöhung der
Erdgassteuer“ zu sagen ist: Sie widerspricht der ökologischen Vernunft.
({12})
Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen: Die beim
Heizen benutzte Kohle bleibt steuerfrei. Was hat das mit
ökologischer Vernunft zu tun? Sie bekommen momentan
attestiert, dass das Klimaschutzziel verfehlt wird. Die Absenkung der CO2-Emissionen um 25 Prozent bis zum
Jahre 2005 erreichen Sie nie. Und Sie sprechen davon,
dass Sie etwas für die Ökologie tun!
Meine Damen und Herren, die ermäßigten Ökosteuersätze auf den Verbrauch von Strom, Heizöl und Erdgas für
das produzierende Gewerbe, die Landwirtschaft und die
Forstwirtschaft steigen um 200 Prozent. Die Industrie
wird dabei an keiner anderen Stelle entlastet. In der Anhörung hat die chemische Industrie darauf hingewiesen,
dass sie mit zwei Drittel ihrer Produktion im internationalen Wettbewerb steht und es keine Möglichkeit gibt,
höheren Produktionskosten in irgendeiner Form auszuweichen; es sei denn, man würde die Produktion verlagern
oder verringern oder ganz einstellen. Aber die Chance,
höheren Produktionskosten in Deutschland auszuweichen, gibt es nicht.
Sie argumentieren, Sie täten etwas für die Gesundung
der Sozialsysteme. Schauen Sie sich bitte schön einmal
an, was bei den Rentenbeiträgen tatsächlich geschieht!
Sie werden sie am 1. Januar 2003 auf 19,5 Prozent erhöhen.
({13})
Sie haben jetzt im Rahmen der fünften Ökosteuerstufe,
die ab 1. Januar 2003 gilt, und der sechsten, über die wir
heute abstimmen, pro Jahr ein Gesamtaufkommen von
20 Milliarden Euro. Das macht, in Beitragssatzpunkten
umgerechnet, noch einmal 2,3 Prozent. Das heißt, Sie sind
dann in Bezug auf die Sozialsysteme bei einer Belastung
von 21,8 Prozent. Sie aber sagen den Menschen, Sie hätten eine Entlastung herbeigeführt. Das ist keine Entlastung und auch keine Lösung, sondern eine Täuschung und
Ablenkung vom eigentlichen Problem. Wir brauchen innerhalb der Sozialversicherungssysteme eine Reform und
kein Abkassieren bei der Ökosteuer sowie keine Umfinanzierung an dieser Stelle.
({14})
Die 65 Milliarden Euro, die Sie den Menschen bis jetzt
im Zusammenhang mit der Ökosteuer aus der Tasche gezogen haben, sind eine massive Belastung und ein Teil der
Ursache dafür, warum Sie gestern eine dreifache Ohrfeige
bekommen haben. Sie hatten Gelegenheit gehabt, darüber
zu schlafen. Noch haben Sie Zeit umzukehren. Ziehen Sie
diesen Gesetzentwurf zurück und tun Sie etwas für die
Menschen in Deutschland, indem Sie diesen Gesetzentwurf nicht in Kraft setzen!
Schönen Dank.
({15})
Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist immer schlecht, wenn Finanzpolitiker meinen, sich zu ökologischen Fragen äußern zu müssen. Denn wenn Sie, Herr
Meister, an den Debatten der Umweltpolitiker teilgenommen hätten, hätten Sie wissen können, dass heute niemand
mehr ernsthaft daran zweifelt, dass die ökologische Steuerreform eine Wirkung hatte.
({0})
Sie hatte nämlich die Wirkung, dass nunmehr im dritten
Jahr die verkehrsbedingten Emissionen erstmalig weniger
werden und der Anstieg der Treibhausgasemissionen der
privaten Haushalte, die, solange Sie die Verantwortung
hatten, ungehindert mehr wurden, erstmalig rückgängig
gemacht worden ist, sodass wir heute deutlich unter dem
Niveau von 1990 liegen.
({1})
Vor einigen Wochen haben wir hier eine Debatte über
die Frage geführt: Was ist eigentlich die Ursache für die
Überschwemmungen und die Hochwasserkatastrophe?
Da gab es den Konsens, dass es einen Zusammenhang mit
der globalen Erwärmung und einen Zusammenhang zwischen der globalen Erwärmung und dem Handeln der
Menschen gibt. Es wurde gesagt, es sei notwendig, dies zu
begrenzen, und dabei sollten gerade steuerliche Anreize
eine Rolle spielen. Auf den Vorhalt von uns, Sie seien gegen die Ökosteuer, die Frau Merkel selber mitentwickelt
hat, haben Sie gesagt, Sie seien nicht gegen die Ökosteuer,
sondern gegen diese Ökosteuer.
({2})
Nun schauen wir uns einmal an, was Sie an dieser Ökosteuer kritisiert haben. Sie haben kritisiert, das produzierende Gewerbe als eine Einheit, die zu viel emittiere,
werde zu stark ausgenommen. Sie haben heute einen Gesetzentwurf vorliegen, der diese Begünstigung, die Subventionierung des produzierenden Gewerbes, gemäß Ihrer Kritik im Rahmen der Debatte über das Hochwasser
zurückführt, und zwar um 400 Millionen Euro. Was tun
Sie? Sie sagen in dem Moment, in dem man Ihrer Kritik
Rechnung trägt: So war das nicht gemeint, das ist aber
eine bösartige Steuererhöhung; wir haben es mit der sechsten Stufe der Ökosteuer zu tun.
({3})
Sie haben ausgeführt, dass Sie für eine ökologische
Steuerreform sind, sie solle nur richtig sein. Sie haben kritisiert, die Ökosteuer orientiere sich nicht am Schadstoffgehalt. Was machen wir? Wir passen die Besteuerung von
Erdgas und Heizöl an, sodass wir Erdgas heute zur Hälfte
nach dem CO2-Ausstoß und zur Hälfte nach dem Energiegehalt bewerten. Wieder tragen wir Ihrer Kritik Rechnung und entwickeln die Ökosteuer weiter. Was macht die
Opposition? Sie ist schon wieder dagegen, sie ist um des
Prinzips willen dagegen.
({4})
Ich könnte das weiter fortführen.
Am schönsten ist es, dass Sie kritisiert haben, wir würden das Aufkommen nicht für ökologische Zwecke verwenden. Das stimmte schon damals nicht, weil wir es im
Marktanreizprogramm und mittels Steuerermäßigungen
für den öffentlichen Verkehr und für effiziente Kraftwerke
eingesetzt haben. Jetzt setzen wir es verstärkt für ein Gebäudesanierungsprogramm ein und nutzen einen Teil des
Aufkommens dafür, die unökologischste Form des Heizens, nämlich mit Nachtspeicheröfen, endlich aus dem
Verkehr zu ziehen.
Wir haben all das gemacht und dabei die konstruktive
Kritik der Opposition gern aufgegriffen. Eigentlich müssten wir heute einen breiten Konsens darüber haben, dass
diese Regierung auf Ihre Einwände, lieber Herr Paziorek,
eingegangen ist, stattdessen schickten Sie Herrn Meister
vor,
({5})
der aber auf jeden Fall dagegen sein musste.
Wenn man reformiert und Subventionen abbaut, erfährt man gesellschaftlichen Gegenwind. Das erlebt diese
Koalition gerade. Das ist so, da muss man ein Stück weit
durch. Ich habe mir gerade die Ergebnisse einer Umfrage
angesehen.
({6})
Die Frage lautete: Glauben Sie eigentlich, dass die Konzepte der Opposition an dieser Stelle besser sind? Dazu
gibt es eine ganz interessante Zahl: Selbst 47 Prozent der
Unionsanhänger glauben nicht, dass die Konzepte, die Sie
als Alternative anzubieten haben, besser sind als das, was
viele Bürger momentan kritisieren.
Ich kann Ihnen dazu einen Rat geben - das will ich als
erprobter Oppositionspolitiker gerne tun; wir machen
gern Politikberatung für die Opposition -:
({7})
Auch in der Opposition, meine Damen und Herren von
Union und FDP, ist das Motto: „Was schert mich mein Geschwätz von gestern“, kein Erfolgsrezept; das sollten Sie
sich merken.
Wir haben hier einen ordentlichen Gesetzentwurf vorgelegt und ich weiß genau: Eigentlich möchte der Herr
Paziorek am liebsten zustimmen.
({8})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege CarlLudwig Thiele für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem Gesetz zur Fortführung einer ökologischen Steuerreform soll einzig und
allein unter dem Deckmantel der Ökologie beim Bürger
schamlos abkassiert werden, um öffentliche Haushalte zu
füllen. Das ist die ganz simple Logik, die dahinter steht.
({0})
Dieses Gesetz ist Teil einer gigantischen Mehrbelastung
mit Steuern und Sozialabgaben durch die Regierung
Schröder-Schröpf. Die FDP lehnt diesen Gesetzentwurf
ab; denn die Ökosteuer hat keine doppelte Dividende, sie
ist eine doppelte Legende.
Der erste Grundfehler - das haben wir immer kritisiert,
Herr Trittin - ist die steuerliche Belastung von Energie im
nationalen Alleingang. Umwelt macht nun einmal nicht
an den Grenzen Halt und im Wettbewerb um Arbeitsplätze
konkurrieren wir mit anderen Ländern. Die steuerliche
Belastung im nationalen Alleingang schränkt die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands für die Waren des produzierenden Gewerbes international erheblich ein.
Der zweite Grundfehler, den es von Anfang an gab, besteht darin, dass der notwendige Strukturreformbedarf bei
der Rentenversicherung durch die Ökosteuer verschleiert worden ist. Es ist ein Fehler gewesen, zu glauben, dass
mit Mehreinnahmen durch die Besteuerung von Umwelt
die Rentenversicherungsbeiträge im Verhältnis eins zu
eins gesenkt werden könnten, wie dies in der Koalitionsvereinbarung 1998 festgehalten worden ist.
({1})
Es wurde erklärt, dass die Lohnnebenkosten aufgrund der
Ökosteuer zum Ende der letzten Periode auf unter 40 Prozent sinken würden. Das war die Maßgabe, mit der Sie in
die Ökosteuer gestartet sind. Im nächsten Jahr steigen die
Lohnnebenkosten trotz der fünften Stufe der Ökosteuer
und der sechsten Stufe mit der Fortführung dieses Gesetzes. Die Ökosteuereinnahmen steigen auf insgesamt
63 Milliarden Euro. Die Lohnnebenkosten steigen um
0,9 Prozent auf 42,2 Prozent. Das sind gerade einmal
0,1 Prozent weniger, als Rot-Grün 1998 von der von ihr
so sehr gescholtenen früheren Koalition übernommen
hat.
Durch die Ökosteuer und die Rücknahme der Rentenstrukturreform der alten Koalition hat Rot-Grün vier Jahre
Zeit verloren, um die absehbare demographische Entwicklung durch Strukturreformen der Rentenversicherung zu ändern. Deshalb hilft auch der Zwergenaufstand,
den die Grünen hier gerade veranstaltet haben, überhaupt
nicht.
({2})
Die Grünen waren es doch, die den Reformbedarf der
Rentenversicherung in den letzten vier Jahren mit der
Ökosteuer verschleiert haben.
({3})
Der dritte Grundfehler besteht darin, dass sich eine
ökologische Lenkungswirkung bisher nicht feststellen
lässt. Dieses Gesetz dient einzig und allein dem Abkassieren. Anders lässt es sich doch nicht erklären, warum die
Bürger aus ökologischen Gründen zunächst zum Heizen
mit Gas aufgefordert werden, und dann, kaum dass sie
ihren Gasanschluss gelegt oder die Heizungsanlage modernisiert haben, zusätzlich zur Kasse gebeten werden. Es
ist für keinen vernünftigen Menschen nachvollziehbar,
dass das Verbrennen von Gas durch dieses Gesetz drastisch verteuert wird und das Verbrennen von Kohle zu
Heizzwecken nach wie vor überhaupt nicht besteuert
wird. Wo ist denn da die Ökologie? Das ist weder öko
noch logisch! Das ist unsystematisch! Dass die Grünen
hier als Hauptverfechter der deutschen Steinkohle auftreten, ist bezeichnend.
({4})
Der vierte Grundfehler besteht darin, dass die Staatsquote nach Auffassung der FDP zu hoch ist. Ein Ansteigen der Staatsquote auf der Ausgabenseite kann nicht
durch Erhöhung der Steuern und Sozialabgaben kompensiert werden; vielmehr müssen die staatlichen Aufgaben
und Ausgaben zurückgeführt werden. Der Glaube von
Rot-Grün an eine doppelte Dividende durch die Ökosteuer, nämlich einer ökologischen Wirkung auf der einen
Seite und einer Senkung der Sozialversicherungsbeiträge
auf der anderen Seite, ist gescheitert. Insofern gibt es keine
doppelte Dividende, sondern eine doppelte Legende.
Zudem haben die Beratungen im Finanzausschuss - es
wäre auch für Umweltpolitiker manchmal ganz interessant gewesen, den Beratungen zu folgen - gezeigt, dass
dieses Gesetz einer Überprüfung in der Wirklichkeit nicht
standhält. Das Finanzministerium hat in den Beratungen
einräumen müssen, dass die Erstattungsbeträge für Betriebe des produzierenden Gewerbes steigen, wenn,
wie es im nächsten Jahr der Fall ist, die Rentenversicherungsbeiträge steigen. Das würde zu dem absurden Ergebnis führen, dass die Betriebe des produzierenden Gewerbes bei steigenden Rentenversicherungsbeiträgen eine
höhere Erstattung erhalten würden. Wenn der Rentenversicherungsbeitrag deutlich über 20,3 Prozent steigen
würde, wie das nach diesem Gesetz vorgesehen ist, würden die Betriebe mehr Erstattung der Ökosteuer erhalten,
als sie nach diesem Gesetz überhaupt bezahlen müssten.
Dazu sage ich: Total öko! Total logisch! Total grün! Das
zeigt, wie widersinnig die angebliche Logik der gesamten
ökologischen Steuerreform ist.
Zusammenfassend bleibt aus Sicht der FDP festzustellen, dass bei den Verbrauchern massiv abkassiert wird und
gerade energieintensive Branchen, wie die Aluminium-,
die Buntmetall- und die Stahlindustrie, aber auch die
Landwirtschaft, steuerlich drastisch belastet werden. Der
Grundfehler besteht darin, dass unter dem Deckmantel
und unter dem Vorwand der Ökologie schamlos abkassiert
wird. Diesem Weg wird die FDP nicht folgen.
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Müller für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da beißt
die Maus keinen Faden ab: Die Ökosteuer ist eine Frage,
bei der sich zeigt, ob man fähig ist, Zukunftsverantwortung zu übernehmen oder nicht.
({0})
Sie können noch so viel darum herumreden: Das ist die
entscheidende Frage, bei der sich zeigt, ob Sie fähig sind,
aus Erkenntnissen zu lernen, oder ob Sie nur reagieren,
wenn die Katastrophe da ist. Genau das ist der Punkt.
({1})
Ich weiß wirklich nicht, was ich bei Ihnen mehr bewundern soll: die Schlichtheit der Argumentation oder das
Kurzzeitgedächtnis - beides ist erschreckend.
({2})
Ende August gab es von allen Parteien Aussagen in der Öffentlichkeit, wie sehr sie die ökologische Modernisierung nach vorne stellen wollen. Das ist drei Monate her
und Sie haben schon wieder alles vergessen. Das darf doch
nicht wahr sein, meine Damen und Herren! Politik heißt
Übernahme von Verantwortung, heißt Zukunftsvorsorge.
Sie sagen heute das eine und am nächsten Tag das Gegenteil. Das geht nicht, das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({3})
Das Hochwasser im August war keine singuläre Erscheinung. Sie wissen das, Herr Paziorek. Wir haben nach
den Untersuchungen beispielsweise der Klima-EnqueteKommission heute 5 Prozent mehr Wasserdampf in der
Atmosphäre. 5 Prozent mehr Wasserdampf in der Atmosphäre heißt: Die Wasserkreisläufe verändern sich. Wenn
man diese Erkenntnis hat, dann kann man doch nicht so
tun, als ob wir alle so wie bisher weitermachen könnten;
dann müssen wir doch Strukturänderungen einleiten.
Herr Meister, ich kann es wirklich nicht verstehen: Sie
sagen auf der einen Seite, die Regierung habe keinen Mut,
notwendige Strukturveränderungen durchzuführen, kritisieren aber gleichzeitig die Ökosteuer. Merken Sie nicht,
wie widersprüchlich Sie da argumentieren?
({4})
Entweder haben wir eine Marktwirtschaft, in der Preisimpulse einen zentralen Stellenwert haben - dann ist es
richtig, die Preisimpulse zu verändern -, oder wir haben
sie nicht. Sie können aber nicht auf der einen Seite sagen,
Sie seien für die Ökologie, und auf der anderen Seite jede
Strukturveränderung ablehnen. Das passt nicht zusammen. Politik muss sich entscheiden. Auch Sie müssen sich
entscheiden. Es geht nicht, dass Sie sich, wenn die öffentliche Debatte geführt wird, sozusagen so verhalten wie
Mercedes beim Elchtest der A-Klasse. Sie sind im Sommer mit Ihrer Art von Politik dramatisch durchgefallen;
sie hat sich nämlich als nicht praxistauglich erwiesen.
({5})
Ähnlich ist es bei der FDP. Eine Zeitung hat geschrieben: „Die FDP ist zur Empathie nicht fähig.“ Das heißt,
die FDP besitzt nicht die Fähigkeit, an das Gemeinwohl
zu denken. Mit dieser Analyse hat die Zeitung aus meiner
Sicht völlig Recht. Sie schreibt weiter: Der zentrale Punkt
der FDP sei die Unterordnung ihrer Argumentation unter
die Stimmungstauglichkeit.
({6})
Politik kann aber nicht auf Stimmungstauglichkeit ausgelegt sein. Politik muss die Übernahme von Verantwortung
sein. Da ist selbst Herr Rexrodt schon sehr viel weiter gewesen.
({7})
Er hat in einem Papier von 1996 beispielsweise geschrieben, dass es sehr wohl sehr sinnvoll sei, einen nationalen
Alleingang bei der Ökosteuer zu machen, um Impulse
auszulösen, damit andere mitgehen. Da war er einmal sehr
viel weiter.
({8})
- Das hat er zur Ökosteuer gesagt.
({9})
Ich will Ihnen übrigens einmal sagen: Sie kennen noch
nicht einmal die Zahlen. Ich weiß gar nicht, wie Sie auf
63 Milliarden Euro kommen. Dieses Jahr nehmen wir
durch die Ökosteuer 14 Milliarden Euro ein.
({10})
Wenn ich alle bisherigen Einnahmen zusammenrechne,
komme ich auf 40 Milliarden Euro. Ich habe den Eindruck, dass Sie schon beim Zusammenzählen Schwierigkeiten haben. Wie wollen Sie da den Gesamtzusammenhang richtig bewerten?
({11})
Michael Müller ({12})
So einfach, wie Sie es sich machen, geht das jedenfalls
nicht.
Die ökologische Steuerreform ist sicherlich ein
schwieriger Weg. Sie ist sicherlich ein Weg, der von vielen Leuten viel verlangt und auch riskant ist. Wir sagen
aber auch: Wenn wir nicht anfangen, die ökologische Modernisierung mit Preissignalen durchzuführen, dann ist
das Risiko künftig sehr viel größer.
({13})
Wir müssen uns heute entscheiden. Der Punkt in der
Politik, bei dem sich beweist, ob sie etwas kann, liegt
darin, in einer Situation, in der das Bisherige nicht mehr
ausreicht, um Probleme zu lösen, aber das Neue noch
nicht völlig implementiert ist, einen Weg zu finden, der
den Umbau dennoch möglich macht. Die ökologische
Steuerreform ist nicht der einzige Weg.
({14})
Ich glaube, wir sind uns einig, dass sie nur eines der möglichen Instrumente ist. Es ist aber richtig, dass die ökologische Steuerreform ein notwendiges und auf jeden Fall
unverzichtbares Element einer ökologischen Modernisierung ist. Das ist in der Tat der Praxistest, bei dem sich
zeigt, ob man es ernst meint mit der Bewahrung der
Schöpfung oder nicht. Genau das, meine Damen und Herren, tun wir, während Sie wegtauchen.
({15})
- Natürlich ist es so. Die hehren Worte, die bei Ihnen im
Parteiprogramm stehen, sind schön und gut, aber die Entscheidung fällt hier im Bundestag.
Schauen wir uns das Modell von Herrn Rexrodt aus
dem Jahre 1995 an. Schauen wir uns das Modell an, das
Herr Repnik im Rahmen des „Konzept 2000“ entwickelt
hat. Fast alle Modelle sind identisch mit dem, was gemacht wurde.
({16})
Wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie zugeben, dass unser
Konzept unter den gegebenen Bedingungen - offene
Märkte und europäische Restriktionen - sinnvoll und realisierbar ist.
({17})
- Natürlich, Herr Thiele, kann man eine Primärenergiesteuer erheben. Dann möchte ich aber nicht erleben, wie
beispielsweise die FDP aufschreit, dass aufgrund der offenen Märkte unterschiedliche Bedingungen für die Konkurrenz der Unternehmen entstehen. Sie müssen hier ehrlich argumentieren. Wir leben in einer konkreten Welt und
nicht in einer abstrakten Modellrechnung. Das ist doch
der Punkt.
({18})
- Entschuldigen Sie bitte. Haben Sie nicht mitbekommen, wie sehr der Anteil der Kohle an den Heizmitteln zurückgegangen ist? Er wird auch weiter zurückgehen.
({19})
Das ist ein richtiger Weg und genau diesen gehen wir.
Ich sage Ihnen noch einmal: Wir können den Primärenergieansatz unter offenen Grenzen nicht realisieren.
Wir hätten dies gerne gemacht, aber dies hätte in der Tat
zu massiven Verschiebungen in den Konkurrenzbedingungen geführt, hätte für viele die Konkurrenzsituation
dramatisch verschlechtert. Insofern plädiere ich dafür,
dass wir unsere Politik an den realen Bedingungen, unter
denen wir leben, orientieren und nicht parteitaktisch
Scheindebatten führen,
({20})
was vielleicht etwas für die Stimmung, aber nicht für eine
rationale Auseinandersetzung bringt.
({21})
Wir bleiben dabei: Die ökologische Modernisierung ist
ein wesentlicher Ansatz, um die volkswirtschaftlich rentablen Effizienzpotenziale zu mobilisieren. Dies ist auch
unter dem Arbeitsmarktgesichtspunkt ganz entscheidend.
Es geht darum, Produktivität auf eine Art und Weise zu sichern, die nicht immer nur durch die Übernahme von Arbeit durch Technik gekennzeichnet ist. Der Weg in höhere
Energie- und Ressourcenproduktivität ist der Weg einer modernen Volkswirtschaft. Diesen Weg gehen wir
weiter.
Wir sind übrigens gar nicht so allein, wie Sie immer
tun. Viele Länder machen das und ich halte das auch für
richtig. Wir sagen allerdings auch - das ist notwendig -:
Dieser Weg muss noch mehr europäisch abgestimmt und
koordiniert werden. Darum bemühen wir uns.
({22})
- Natürlich bemühen wir uns darum. Aber in Europa wird
sich nichts bewegen, wenn sich nicht einzelne starke
Volkswirtschaften bewegen. Das ist der entscheidende
Punkt.
({23})
Sie glauben, der Schutz der Umwelt fällt vom Himmel,
aber er fällt nicht vom Himmel. Er ist eine Frage der Politik. Wir sind bereit, hier politische Verantwortung zu
übernehmen. In diesem Punkt ist die Alternative ganz
klar: Sie befinden sich noch in der Nurankündigungsphase und wollen Ihre Ankündigungen dann, wenn es
ernst wird, überhaupt nicht mehr wahrhaben. Wir aber
machen es.
Wir wissen: Das ist ein schwieriger Weg, er ist nicht
einfach durchzuhalten. Wir wissen aber auch, dass wir
dann, wenn wir es nicht tun würden, in den nächsten Jah600
ren viel größere Probleme hätten und dies wollen wir
nicht.
({24})
Dies ist verantwortliche Zukunftsvorsorge. Deshalb gehen wir diesen Weg.
({25})
Nun hat der Kollege Dr. Paziorek, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, was
Rot-Grün hier vorlegt, ist keine ökologische Weiterentwicklung, sondern eine umweltpolitische Bankrotterklärung. Sie benutzen die Umweltpolitik nur, um von Ihrer
gescheiterten Fiskalpolitik abzulenken.
({0})
Sie haben leider die Umweltpolitik zu einem bloßen
Instrument der Finanzpolitik degradiert. Eine umweltpolitische Sinnhaftigkeit ist bei Ihrem Vorgehen nicht zu
erkennen, und zwar aus folgenden Gründen:
Erstens. Die ökologische Lenkungswirkung dieser
Ökosteuer ist nicht nur zweifelhaft, sie ist bis jetzt noch
gar nicht nachgewiesen.
({1})
Herr Minister Trittin, Sie argumentieren - vorhin, aber
auch sonst immer - mit dem tatsächlich vorhandenen
Rückgang des Kraftstoffeinsatzes im Automobilbereich. Es gibt aber noch keine Untersuchung, die darlegt, ob dieser Rückgang im Wesentlichen durch die Ölpreisverteuerungen oder durch andere Maßnahmen wie
zum Beispiel die bessere Antriebstechnik bewirkt worden ist.
({2})
Man muss dazu sagen: Diese technologische Entwicklung im Automobilbereich ist nicht erst 1999 eingetreten.
Diese hat schon Anfang der 90er-Jahre begonnen. Wie
können Sie diese Verbesserung in der Antriebstechnik mit
Ihrer Ökosteuer begründen?
({3})
Aber auch bei der viel zitierten Anhörung am Dienstag
sind weitere Fragen offen geblieben, zum Beispiel zum
Stromverbrauch. Das RWI hat bei der Anhörung am
Dienstag dargelegt, dass in Deutschland der spezifische
Stromverbrauch deutlich zurückgegangen ist, obwohl
durch die Liberalisierung die Strompreise zurückgeführt
worden sind. Es gibt nämlich in der deutschen Industrie
schon seit Jahren Umstellungsverfahren in beträchtlichem
Umfang,
({4})
die langfristig spezifische Einsparungen in einer Größenordnung von bis zu 35 Prozent gegenüber 1990 bringen
werden. Dies ist also noch mehr als das, was die Selbstverpflichtung der deutschen Wirtschaft beinhaltet. Interessant ist: In der vorliegenden schriftlichen Stellungnahme des RWI für die Anhörung am Dienstag wurde
nachgewiesen, dass dies nichts mit einem Preisimpuls
über die Ökosteuer zu tun hat, sondern dass der Stromkostenblock ein entscheidender Wettbewerbsfaktor ist, der
trotz der Preisrückgänge seinen Beitrag zur weiteren Kostenreduzierung in der deutschen Wirtschaft leisten muss.
Die Frage ist doch nur: Warum belohnen Sie diese Aktivitäten nicht? Warum bestrafen Sie diese Aktivitäten? So
wie Sie heute hier argumentieren und wie auch Sie, Herr
Minister, heute hier argumentiert haben, senden Sie doch
eine für die Umweltpolitik fatale Botschaft aus. Diese
Botschaft lautet: Sie können noch so viel in der Umweltpolitik, bei der Reduzierung des Energieeinsatzes oder bei
der Reduzierung des CO2-Ausstoßes erreichen, wir werden immer auf die Idee kommen, Sie zu Sündenböcken zu
degradieren, und weiter an der Steuerschraube drehen. Sie
können machen, was Sie wollen, wir werden Sie immer
wieder finanziell bestrafen. - Ich sage Ihnen ganz deutlich: Dafür wollen wir die Umweltpolitik in Deutschland
nicht benutzen, meine Damen und Herren.
({5})
Wir müssen weiter berücksichtigen: Der verminderte
Heizölverbrauch steht in einem größeren Zusammenhang, nämlich mit den milden Wintern in den letzten Jahren und weniger mit der vermeintlichen Segnung durch die
Ökosteuer. Wichtig ist, dass der Verbrauch von Benzin
zum Beispiel deshalb zurückgegangen ist, weil sich viele
Autofahrer heute durch den Tanktourismus einen Preisvorteil holen.
({6})
Die vorliegenden Zahlen sind in der Tat bedauerlich. Sie
haben noch gar nicht realisiert, dass man heute mit einem
LKW von Warschau bis nach Paris durchfahren kann,
ohne in Deutschland zu tanken.
({7})
Dadurch wird der CO2-Ausstoß nicht reduziert, aber wir
stellen fest: In Deutschland wird nicht mehr bei der
Durchreise getankt. Dadurch dass diese LKWs nicht mehr
in Deutschland betankt werden, sinkt in der Statistik für
unser Land automatisch der Benzin- und Dieselverbrauch.
Weshalb lachen Sie darüber?
({8})
Wir stellen fest: Sie haben gerade einen Mechanismus
bewirkt, der letztlich umweltpolitisch nicht sinnvoll ist,
Michael Müller ({9})
sondern nur Vermeidungsstrategien im falschen Sinne
eröffnet. Das ist äußerst bedenklich.
({10})
Sie betonen immer die Erfolge. Ich würde von Ergebnissen und nicht von Erfolgen beim Klimaschutz sprechen, denn dann müssten wir viel weiter sein. Die Ergebnisse beim Klimaschutz, die Sie in einem Atemzug mit
der Ökosteuer nennen, haben - das muss man klar und
deutlich sagen - nichts mit einer etwaigen Lenkungswirkung dieser Ökosteuer zu tun. Es ist ganz wichtig, das
herauszustellen. Die umweltpolitischen Erfolge dieser
Steuer, die Sie immer unterstreichen, können Sie bis zum
heutigen Tage wissenschaftlich tatsächlich gar nicht belegen. Das ist die wichtige Botschaft, die heute von dieser
Debatte ausgehen muss.
({11})
Wenn Sie den Mut hätten, etwas umweltpolitisch wirklich
Sinnvolles zu tun, würden zum Beispiel die Beträge zur
Verbesserung im Gebäudebereich - Sie haben gar keine
Beträge genannt, Herr Minister Trittin, Sie haben gerade
gesagt: wir wollen ein Sanierungsprogramm auflegen -,
bedeutend höher sein als die von Ihnen tatsächlich veranschlagten 150 Millionen Euro. Über 1 Milliarde Euro aus
der Ökosteuer wollen Sie jetzt in den Haushalt stecken.
Warum stecken Sie denn nur 150 Millionen Euro in die
Sanierung des Gebäudebestandes,
({12})
wo wir doch wissen, dass 25 bis 30 Prozent des CO2-Ausstoßes in Deutschland tatsächlich durch die Gebäudeerwärmung erfolgen? Warum stecken Sie dann nicht 50 Prozent, also über 500 Millionen Euro, in diesen
umweltpolitisch wichtigen Bereich? Weil Sie es gar nicht
wollen.
({13})
Das Umweltpolitische ist doch nur vorgeschoben. Sie
brauchen diese Einnahmen tatsächlich, um Ihre Haushaltslöcher zu sanieren. Das ist der umweltpolitische Vorwurf, den man Ihnen machen kann.
({14})
Zweitens. Eine Ökosteuer kann nur dann zur Lösung
der Umweltprobleme beitragen, wenn sie einerseits Verbrauchern und Unternehmen ökonomische Anreize für
eine nachhaltige Konsum- und Produktionsweise gibt und
andererseits verbleibende Einnahmen der Umweltpolitik
zur Verfügung stellt. Bei der Anreizwirkung versagt Ihre
Konstruktion der Ökosteuer. Man muss klar und deutlich
als Ergebnis hier festhalten: Die privaten Haushalte sind
bei der gegenwärtig vorgesehenen Regelung, die Sie auf
den Tisch legen, die Nettozahler der Reform. Sie haben
keine Möglichkeiten, sich zu entlasten. Das hängt damit
zusammen, dass Sie die Erdgassteuer drastisch erhöhen,
aber letztlich auch damit, dass Sie umweltpolitisch richtiges Verhalten gar nicht belohnen wollen. Das ist ja gar
nicht Ihr Interesse. Sie wollen ja mehr Geld einnehmen
und können deshalb gar nicht auf Anreize setzen. Sie können nicht auf Belohnung setzen, sondern Sie müssen eine
Steuer so konzipieren, dass auch diejenigen, die sich umweltpolitisch richtig verhalten, letztlich doch zur Finanzierung Ihrer Steuer beitragen. Das ist umweltpolitisch
äußerst bedenklich.
({15})
Drittens. Eine der ökologischen Hauptschwächen der
Ökosteuer ist, dass sie nicht gezielt am Schadstoffgehalt
der einzelnen Energieträger ansetzt, sondern Energie unspezifisch, rein willkürlich besteuert.
({16})
Der Energiegehalt von Erdgas wird nach Ihrem Gesetzentwurf stärker belastet als der von leichtem Heizöl. Beim
Kohlenstoffgehalt - dieser ist sehr wichtig für eine Politik zur Reduzierung der CO2-Emissionen - ist die Belastung von Erdgas nahezu zweimal so hoch. Wie wollen Sie
das klimapolitisch begründen? Ich sage Ihnen ganz deutlich: Sie können das klimapolitisch gar nicht begründen,
weil die Zahlen offenkundig sind. Damit steht fest: Die
Ökosteuer ist auch ein Schlag gegen die bisherigen gemeinsam formulierten Grundsätze der Klimaschutzpolitik. Deshalb ist auch der jetzt vorliegende Gesetzentwurf
abzulehnen.
({17})
Viertens. Die von Ihnen konzipierte ökologische Steuerreform hat keine überzeugende Verknüpfung - Herr
Schultz, hier muss ich Ihnen eindeutig widersprechen mit den übrigen einschlägigen umweltpolitischen Instrumenten wie der Selbstverpflichtung der deutschen Wirtschaft, dem Emissionshandel, der eingeführt werden soll,
und dem weiteren ordnungsrechtlichen Instrumentarium.
Es gibt in Deutschland zum Beispiel das ordnungsrechtliche Instrumentarium der Kleinfeuerungsanlagenverordnung. Diese bewirkt, dass zum 1. Januar 2003 Umstellungen bei Heizungsanlagen vorgenommen werden müssen.
Ich frage Sie: Warum setzen Sie hier noch eine Ökosteuer
drauf, wenn Sie das schon vorher ordnungsrechtlich geregelt haben? An diesem Beispiel wird doch deutlich, dass
Sie nur abkassieren wollen und dass Sie in Wirklichkeit
keine Änderung des Verhaltens der Menschen bewirken
wollen.
Deshalb sage ich: Ihre ökologische Steuerreform steht
in keinem Zusammenhang mit den übrigen Instrumenten
der Umweltpolitik. Sie verspielen mit der weiteren Erhöhung der so genannten Ökosteuer die Glaubwürdigkeit
der ökologischen Steuerreform. Deshalb wäre es aus unserer Sicht wichtig und ehrlich, wenn Sie das Kind beim
Namen nennen würden. Nennen Sie die Ökosteuer Rentensicherungssteuer oder Haushaltskonsolidierungssteuer,
aber nicht Ökosteuer!
({18})
Auch wir wollen eine Ökosteuer.
({19})
Sie muss aber andere Bestandteile beinhalten. Für die
Ökosteuer in der jetzigen Form gibt es keine ökologische
Begründung. Deshalb werden wir den vorliegenden Gesetzentwurf aus Umweltgründen ablehnen.
({20})
Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege
Dr. Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, dient dem Abbau
umweltschädlicher Subventionen, der Verbesserung der
Lenkungswirkung der ökologischen Steuerreform und der
Förderung ökologischer Investitionen.
({0})
Erstens: der Subventionsabbau. Wir erhöhen - das ist
schon gesagt worden - den Regelsteuersatz für das produzierende Gewerbe von 20 auf 60 Prozent. Wir führen
beim Spitzensteuersatz einen Ausgleichsmechanismus
ein, der auch energieintensiven Unternehmen Anreize
zum sparsamen Umgang mit Energie gibt. Summa summarum bauen wir durch diese Maßnahme Subventionen
in Höhe von 400 Millionen Euro ab. Gerade die Liberalen, die sich so gerne als Kämpfer gegen Subventionen
darstellen, sind in dieser Frage vollkommen unglaubwürdig.
({1})
Die Europäische Union hat immer darauf hingewiesen,
dass Subventionen zeitlich befristet und degressiv gestaltet sein müssen. Das setzen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf um. Insofern ist er ein ganz klarer Beitrag
zum Subventionsabbau.
({2})
Zweitens: die Lenkungswirkung. Der Minister hat bereits darauf hingewiesen, dass seit drei Jahren die CO2Emissionen im Bereich des Verkehrs und der privaten
Haushalte kontinuierlich zurückgehen. Beim Verkehr sind
es etwa 2 bis 3 Prozent jährlich. Das ist ein klarer Trendbruch. Das ist im Wesentlichen auf die Preisanreize zurückzuführen.
({3})
Das, was uns die Wissenschaft mitteilt, ist keineswegs abstrakt. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
stellt fest, dass durch die ökologische Steuerreform die
CO2-Emissionen um 20 Millionen bis 25 Millionen Tonnen zurückgehen. All das sind Beiträge zur Erhöhung der
Lenkungswirkung der Ökosteuer.
Dazu trägt in besonderem Maße auch der Abbau der
Sonderregelung für Nachtspeicherheizungen bei. Ich habe schon das letzte Mal gesagt: Mit Strom zu heizen ist so,
als ob man Butter mit der Motorsäge durchschneiden
würde. Das ist einfach unvernünftig. Dem muss ein Ende
gemacht werden. Es ist außerdem wichtig, dass wir mit
der Begünstigung von Erdgas bis zum Jahr 2020 Anreize
schaffen - das gilt vor allen Dingen für die Busflotten,
aber auch für die PKWs -, einen relativ schadstoffarmen
Brennstoff im Verkehrsbereich zum Einsatz zu bringen.
Das ist übrigens auch eine Einstiegstechnik für biogene
Treibstoffe, also für Treibstoffe aus nachwachsenden
Rohstoffen. - Wenn ich das alles zusammenfasse, dann
stelle ich fest: Die ökologische Lenkungswirkung wird
durch diese Schritte deutlich erhöht.
({4})
Ich komme kurz auf die Kohle zu sprechen, um eine
Mär auszuräumen. Ich stehe wirklich nicht in dem Ruf,
ein großer Freund der Kohle zu sein. Aber lassen Sie es
bitte sein, zu behaupten, die Kohle würde von der ökologischen Steuerreform nicht berührt. Das ist Unfug. Die
Braun- und Steinkohle wird fast komplett zur Stromerzeugung eingesetzt und so fast voll und ganz von der
Stromsteuer erfasst. Es gibt hier keine Privilegierung.
Bitte unterlassen Sie diese Lüge.
({5})
Mein letzter Punkt. Ich möchte kurz die Zahlen für die
zusätzlichen Investitionen im ökologischen Bereich nennen - Herr Kollege Paziorek, passen Sie einmal auf - : Das
Programm zur Förderung der Altbausanierung umfasst
bis jetzt 200 Millionen Euro. Aus den Einnahmen der
Ökosteuer nehmen wir hierfür 150 Millionen Euro pro
Jahr heraus. Das macht zusammen 350 Millionen Euro
pro anno. Sie haben zu Ihrer Zeit - das habe ich in den
Haushaltszahlen nachgesehen - 20 Millionen Euro ausgegeben. Wir wenden also das 17,5fache von dem auf,
was Sie veranschlagt hatten. Wenn man das Ergebnis etwas aufrundet, könnte man sagen, dass das unser Projekt 18 ist, mit dem Unterschied, dass unser Projekt gelingen wird; Ihres ist ja gescheitert.
({6})
Herr Kollege Loske, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Kollege Dr. Loske, ich habe folgende Frage: Stimmen Sie mit dem Ergebnis der wissenschaftlich und statistisch abgesicherten CO2-Statistik des Statistischen Bundesamtes, die am 5. November dieses Jahres vorgestellt
wurde, überein, wonach die CO2-Emissionen in Deutschland von 1990 bis 2000 rückläufig waren, seit 2001 aber
wieder ansteigen? Wie erklären Sie das angesichts der angeblich ökologischen Lenkungswirkung dieser Steuer?
({0})
Es gibt in den verschiedenen Sektoren unterschiedliche
Entwicklungen. Ich habe gerade vom Bereich der privaten Haushalte und vom Bereich des Verkehrs gesprochen.
Im Verkehrsbereich ist es so, dass der Rückgang in den
Jahren 2000 und 2001 - die Prognosen des Mineralölwirtschaftsverbandes gehen auch für 2002 davon aus - bei
2 bis 3 Prozent pro anno gelegen hat. Bei den privaten
Haushalten bestehen ähnliche Größenordnungen. Im Bereich der Industrie hat es beim CO2-Ausstoß, nachdem er
zwischen 1990 und 1993 durch die Entwicklung in den
neuen Bundesländern dramatisch gesunken ist, einen
leichten Anstieg gegeben. Das hat mit der Inbetriebnahme
eines großen Kohlekraftwerks in den neuen Bundesländern zu tun. Insofern stimmt das, was Sie sagen.
Mein abschließendes Argument gilt der Verwendung
der Mittel aus der Ökosteuer - meine Redezeit geht leider schon dem Ende zu -. Auch hier erzählen Sie Märchen. Durch die Ökosteuer fließen im nächsten Jahr
18,4 Milliarden Euro in den Bundeshaushalt. Davon werden knapp 17 Milliarden Euro für die Rente verwendet;
das sind über 90 Prozent. Das heißt, diese ökologische
Steuerreform ist im Wesentlichen aufkommensneutral.
({0})
230 Millionen Euro fließen in das Marktanreizprogramm
für erneuerbare Energien, 150 Millionen Euro in die Altbausanierung. Nur die verbleibenden 7 Prozent werden
für die Haushaltskonsolidierung verwendet. Das ist - das
gebe ich zu - ein kurzfristiges Abweichen vom Pfad der
Tugend der Aufkommensneutralität. Dorthin wollen wir
wieder zurück.
({1})
Das ist bestensfalls ein Sonderopfer. Aber 93 Prozent gehen in die Rentenversicherung und in die Ökologie. Das
ist gut so.
Danke schön.
({2})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans Michelbach,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wirtschaft und Verbraucher kapitulieren vor dem rotgrünen Steuerdruck in Deutschland: immer mehr Steuern,
immer mehr Abgaben, immer mehr Staat. Der rot-grüne
Erhöhungskurs stürzt unser Land in eine gefährliche Depression.
({0})
Außer im rot-grün regierten Deutschland findet man in
Europa keine Regierung, die der eigenen Wirtschaft so
viel Schaden zufügt. Obwohl sich Deutschland in einer
konjunkturell schwierigen Phase befindet, soll die Wirtschaft bis 2006 mit weiteren 35 Milliarden Euro an Steuern belastet werden. Hinzu kommen 36 Milliarden Euro
durch die Erhöhung von Abgaben.
Kein Wunder, dass wir aufgrund der hohen Belastung
mit Steuern und Abgaben einen ungeheuerlichen Wachstumseinbruch erleben. Kein Wunder, dass wir derzeit
eine Beschleunigung der Insolvenzwelle und eine Erhöhung der Zahl der Betriebsschließungen sowie der Betriebsverlagerungen ins Ausland erleben. Kein Wunder,
dass häufig die Geschäftstätigkeit in Staaten mit besseren
steuerlichen Rahmenbedingungen verlegt wird. Kein
Wunder, dass ein weiterer Arbeitsplatzabbau mit horrenden Folgen für die Sozialsysteme stattfindet. Herr Minister Trittin, das ist die einzige Wirkung Ihrer Ökosteuer.
Nachhaltig ist bei Ihnen nur die laufende Erhöhung der
Steuern.
Unser Konzept lautet dagegen: mehr Eigenverantwortung, mehr Leistung, mehr Wachstum und mehr Entbürokratisierung. Ihre rot-grüne Steuerpolitik hat die Grenzen
der Zumutbarkeit, der Belastbarkeit und vor allem der
ökonomischen Vernunft weit überschritten.
({1})
Trotzdem wird heute eine Fortsetzung der ökologischen Steuerreform mit neuen Belastungen für Wirtschaft
und Bürger beschlossen. Das rot-grüne Abkassiermodell
läuft geradezu auf vollen Touren. Der Herr Bundesfinanzminister zieht es vor, nicht selbst in die Debatte einzusteigen; er überlässt es den Ökofantasten und den Ökoideologen.
({2})
Wir haben ein Problem mit den Finanzen und der Verschuldung in diesem Land. Dazu müsste er etwas sagen.
({3})
Es wird zu Steuererhöhungen kommen: für Erdgas und
Flüssiggas um 58 Prozent und für schweres Heizöl um
40 Prozent. Energieintensive Unternehmen und die Landund Forstwirtschaft werden 200 Prozent mehr Steuern zahlen. In nächster Zeit sollen die Mindeststeuer, die Wertzuwachssteuer, die Firmenwagensteuer, die Organschaftsteuer, die Werbeartikelsteuer, die Warenvorratsteuer, die
Gewerbesteuerrevitalisierung, die Erbschaftsteuerverschärfung, die Vermögensteuerwiedereinführung und die Mehrwertsteuererhöhung hinzukommen. Das ist der Weg in den
totalen rot-grünen Steuerstaat.
({4})
Das ist nichts anderes als eine rot-grüne Steuerorgie.
Die Leute haben diese Erhöhungen der Steuern und Abgaben satt und die Firmen können es sich nicht mehr leis604
ten. Meine Damen und Herren, Deutschland kann sich
Rot-Grün nicht mehr leisten.
({5})
Das alles ist dazu angetan, unser Land endgültig in die
Staatswirtschaft zu führen. Zur Vernebelung nennt sich
das bei Rot-Grün dann Steuervergünstigungsabbaugesetz
oder, wie Sie es nennen, ökologische Steuerreform. Mit
diesen Bezeichnungen betreiben Sie nichts anderes als einen Etikettenschwindel, um Steuererhöhungen zu verschleiern. In wenigen Wochen steigt die Ökosteuer um
eine weitere Stufe, obwohl, so die Hiobsbotschaft, damit
das Wachstum vernichtet und die Arbeitslosenzahl erhöht
wird; außerdem werden die Steuereinnahmen einbrechen.
Hinzu kommt das Defizitverfahren durch die Europäische
Union. Die Ökospezialisten und Ökoideologen von RotGrün bleiben beratungsrestistent. Es wird nur noch Flickschusterei betrieben, und zwar nach dem Motto: Augen zu
und durch!
Diese Bundesregierung hat bisher vor allem Schaden
angerichtet und die Menschen sowie unsere Wirtschaft
verunsichert; das ist die Situation. Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, nehmen Sie endlich zur Kenntnis:
Unsere Volkswirtschaft steckt in einer schweren Krise.
({6})
Ihr Versagen in der Wirtschafts-, Steuer- und Arbeitsmarktpolitik ist die Ursache für dieses Debakel.
({7})
Dass die Bundesregierung in dieser Situation zu weiteren Steuer- und Abgabenerhöhungen greift, zeigt das Ausmaß der Unfähigkeit zur ökonomischen Vernunft. Es gibt
in Deutschland einen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit.
Ich sage Ihnen, was die Ökosteuer für die Betriebe letzten Endes bedeutet: Die Ökosteuer ist für sie kostensteigernd und wettbewerbsschädigend. Für Verbraucher und
Mieter ist sie preissteigernd und unsozial. Sie hat schon
jetzt zu unsozialen Preissteigerungen insbesondere für
den kleinen Mann und die Menschen im ländlichen Raum
geführt.
Auf der Abgabenseite hat sie nichts bewirkt! Sie haben
eine Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge zu verantworten. Deshalb ist Ihr Traum von der These, dass Sie
die Energie verteuern, um den Faktor Arbeit verbilligen
zu können, letzten Endes wie eine Seifenblase zerplatzt.
({8})
Ich möchte Ihnen noch einmal in Erinnerung rufen, zu
welchen Preissteigerungen das führt: Ein Vierpersonenhaushalt zahlt im Jahr schon jetzt 479 Euro Ökosteuer.
({9})
Ein mittelständischer Industriebetrieb muss im Jahr 2003
durchschnittlich 100 000 Euro Ökosteuer zahlen. Das sind
70 000 Euro mehr als im Vorjahr. Gleichzeitig steigen die
Sozialversicherungskosten um 120 000 Euro. Das kann
doch nur zu weiteren Investitionsverweigerungen und Arbeitsplatzverlusten führen; das ist Fakt. Sie belasten die
Wirtschaft. Sie testen die deutsche Wirtschaft auf ihre Belastungsfähigkeit und wundern sich dann, dass es in diesem Land immer mehr Arbeitslose gibt.
({10})
Rot-Grün hat unser Land zum Sanierungsfall gemacht.
Dabei haben Sie sich einer Beitrags-, Schulden- und Steuerlüge bedient. Wir müssen deutlich sehen, dass diese Politik nicht länger fortgesetzt werden kann.
Es ist ein Skandal, dass der Bundesfinanzminister nicht
den Mut hat, diese Steuererhöhung persönlich zu vertreten. Wahrscheinlich hat er sich in seinen Steuer- und
Schuldenstaat zurückgezogen.
({11})
Im Arbeiter- und Bauernstaat hat man die Öffentlichkeit
letzten Endes auch gescheut.
({12})
Er hätte die Steuererhöhung hier vertreten müssen, meine
Damen und Herren. Er würgt die Binnennachfrage ab,
wodurch er unserem Land einen Bärendienst erweist. Er
sollte zurücktreten und den Weg für einen finanzpolitischen Neuanfang frei machen. Das wäre richtig, damit es
in Deutschland wieder aufwärts geht.
({13})
Ich erteile der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS. Der Saal füllt
sich deshalb, weil eine namentliche Abstimmung bevorsteht und es jedem ans Geld geht, der nicht daran teilnimmt.
Meine Damen und Herren, die Fortschreibung der ökologischen Steuerreform hat fast nichts mit Ökologie, aber
viel mit Steuererhöhungen zu tun. Bisher hat die Bundesregierung mit den Einnahmen der Ökosteuer die Rentenlöcher gestopft. Jetzt, nach der Erhöhung der Rentenbeiträge von 19,1 auf 19,5 Prozent, gehen sogar die
Autoren des Gesetzes davon aus, dass im Jahr 2003 die
Einnahmen aus der Ökosteuer zur Sanierung der Haushaltslöcher genutzt werden. Sie ist also eine simple Mehrwertsteuererhöhung.
Die Bundesregierung hatte bisher immer auf die entlastende Wirkung der Ökosteuer auf die Lohnnebenkosten
verwiesen. Immerhin konnte man mit den Steuereinnahmen die Rentenbeiträge eine gewisse Zeit stabil halten.
Jetzt will man die Steuer nur noch nutzen, um den Bundeshaushalt zu sanieren.
Aber lassen Sie uns die Einnahmeseite etwas näher anschauen, meine Damen und Herren. Von den geplanten
circa 2 Milliarden Euro Mehreinnahmen pro Jahr sollen
nur 400 Millionen - also ein Fünftel - auf das produzierende Gewerbe entfallen. Vier Fünftel bleiben bei den privaten Haushalten und man kann ziemlich sicher sein, dass
das produzierende Gewerbe dieses eine Fünftel über die
Preise beim Verbraucher abladen wird. Die Steuer bleibt
demzufolge eine Steuer für den zunehmend umweltbewussten Bürger und nicht für die wirklich unökologischen
Stromfresser im produzierenden Gewerbe.
Sehr geehrte Abgeordnete aus den neuen Bundesländern, sehr geehrter Herr Stolpe, diese Ökosteuernovelle
geht besonders stark zulasten ostdeutscher Haushalte.
Ich habe das gestern im Haushaltsausschuss thematisiert,
aber ich habe von der Regierungsseite keine befriedigende Auskunft bekommen. Man schaue nicht auf regionale Aspekte, wurde mir mitgeteilt. Bekanntlich hat aber
der Bundeskanzler massiv dagegen interveniert, leichtes
Heizöl zu verteuern. Dabei dürfte er die Landtagswahlen
in Hessen und Niedersachsen im Blick gehabt haben.
Denn in Westdeutschland sind nach wie vor Ölheizungen
weit verbreitet. In den neuen Ländern dagegen wurden
seit der Wende Braunkohleöfen überwiegend durch Gaskessel und nicht durch Ölheizungen ersetzt.
Gleiches gilt für Neubauten. In den 90er-Jahren wurde
auch durch die Gesetzgebung des Bundestages eindeutig
auf einfache Gasheizungen gesetzt. 70 Prozent der ostdeutschen Wohnungen und Einfamilienhäuser werden
mittlerweile mit Gas beheizt. Bei ihnen schlägt die Verteuerung von Erd- bzw. Flüssiggas voll durch.
Da die Anlagen relativ neu und die Brennstoffkosten
für Vermieter nur Durchlaufposten zu den Mietern sind,
geht von dieser Novelle aber auch kein Impuls zu einer
Umstellung auf umweltfreundlichere dezentrale Anlagen aus. Was bleibt, ist die Abzocke der Wohnungsnutzer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus der Sicht der
PDS kann ich aus den genannten Gründen dieser Gesetzesnovelle nicht zustimmen und werde sie ablehnen.
Vielen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Hempelmann für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir stehen am Ende einer ausgesprochen aufschlussreichen Debatte. Die Opposition
hat deutlich gemacht, dass sie grundsätzlich gegen eine
ökologische Steuerreform ist,
({0})
egal wie sie diese Haltung zu verbrämen versucht hat. Sie
hat Ankündigungen über die 90er-Jahre hinaus und auch
in diesem Wahlkampf gemacht, die anders lauten. Insbesondere ihr Spitzenkandidat hat diesen Wackelkurs
vorgeführt. Aber heute ist deutlich geworden: Alles wird
einem billigen Parteienkalkül untergeordnet.
Frederic Vester aus dem „Club of Rome“ hat richtig gesagt:
Die Kampagne gegen die Ökosteuer, an deren Spitze
sich Ministerpräsident Edmund Stoiber ... gesetzt
hat, zeigt überdeutlich, worum es ihm geht: Nicht um
die notwendigen Weichenstellungen, die uns und den
kommenden Generationen eine lebenswerte Umwelt
garantieren, es geht ihm nur darum, aus der Situation
parteipolitisches Kapital zu schlagen.
Das trifft auf Sie insgesamt zu.
({1})
In dieser Woche fand eine ebenso aufschlussreiche Anhörung zum Thema ökologische Steuerreform statt.
({2})
Wenn man Ihnen heute zugehört hat, dann gewinnt man
den Eindruck, es habe nur Kritik gehagelt. Dem war bei
weitem nicht so. Das wissen Sie. Sie haben hier sehr einseitig zitiert.
({3})
Richtig ist: Es gab in der Tat ein breites Meinungsspektrum. Das ist bei einem solchen Thema normal; denn
es gibt bei diesem Thema in unserer Gesellschaft ein genauso breites Spektrum an Interessen. Deutlich ist aber
auch geworden: Es gibt gerade auch bei den wissenschaftlichen Instituten sowohl zur ökologischen Steuerreform, wie sie seit Jahren gilt, als auch zu der Gesetzesänderung, wie wir sie jetzt vorgelegt haben, Zustimmung.
({4})
Es ist ausdrücklich konzediert worden, dass es in den
letzten Jahren nicht durch die von Ihnen genannten
Gründe, Herr Paziorek, sondern durch diese ökologische
Steuerreform Lenkungswirkungen gegeben hat.
({5})
Es gab in großem Umfang eine Senkung der CO2-Belastung.
({6})
Im Bereich der Mobilität wurde der Schritt zu kleineren
Autos vollzogen. Dies zeigte sich auch in der Forschung
mit dem Einliterauto. Erstmals gab es - sogar zwei Jahre
hintereinander - in unserem Land einen niedrigeren Gesamtkraftstoffverbrauch, und zwar nicht aus den Gründen, die Sie angeführt haben,
({7})
sondern aufgrund der ökologischen Steuerreform. In dieser Anhörung ist deutlich geworden: Wir brauchen weitere Signale, um den Energieverbrauch zu senken. Deswegen ist es begrüßt worden, dass wir diesen weiteren
Schritt gegangen sind.
({8})
Ein weiterer Punkt ist in dieser Anhörung angesprochen worden. Es ist Ihnen von Instituten vorgehalten worden, dass Sie jetzt nicht Beifall zu Forderungen klatschen
sollten, die Sie jahrelang selber gestellt haben und die nun
erfüllt werden. Sie haben immer den Abbau von Steuervergünstigungen gefordert. Jetzt gehen wir diesen
Schritt. Die Institute - ich gebe zu, es waren nicht alle,
aber es waren eine ganze Reihe ({9})
haben diesen Weg ausdrücklich begrüßt. Wir streichen
Vergünstigungen beim Gas. Wir tun das bewusst, weil die
bisherigen Preisvorteile beim Gas eben nicht an den Kunden weitergegeben worden sind. Deswegen ist dieser Weg
richtig. Er wird sich für den Endkunden als nicht schädlich erweisen.
Wir streichen Vergünstigungen bei Nachtspeicheröfen.
Es ist deutlich, dass wir Strom in einem Bereich eingesetzt
haben, für den er viel zu edel war. Deswegen ist es richtig, dass wir bei den Nachtspeicheröfen Zug um Zug und
Jahr für Jahr degressiv vorgehen und diese Bevorzugung
zurückschneiden. In Kombination mit unserem Förderprogramm gibt das den Menschen die Gelegenheit, umzurüsten.
Was haben wir noch getan? Wir haben 150 Millionen
Euro zur Gebäudesanierung in die Hand genommen. Das
haben Sie in Ihrer Zeit nie geschafft.
({10})
Sie fordern heute von uns ein Mehrfaches, aber Sie haben
in Ihrer Zeit nur einen Bruchteil davon, ein Achtzehntel,
eingesetzt.
Wir geben der besonders energieintensiven Wirtschaft
einen Spitzenausgleich, der dafür sorgt, dass sie weiterhin
wettbewerbsfähig tätig sein kann. Das Gleiche tun wir für
den Unterglasgartenbau. Das ist Politik mit Augenmaß.
Das ist eben das Gegenteil von ideologischer Politik, die
Sie uns immer unterstellen.
Professor Jarass hat es auf den Punkt gebracht: Das Gesamtpaket erfüllt systematisch die auch von den deutschen Unternehmensverbänden erhobene Forderung nach
Abbau von Subventionen und Steuervergünstigungen.
Durch die vorgeschlagenen Maßnahmen des hier zu
diskutierenden Ökosteuerpakets wird mehr als 1 Milliarde Euro an Steuervergünstigungen und Subventionen
abgebaut. Das und nicht das, was Sie den Menschen vorzumachen versuchen, ist die Realität.
({11})
Damit ist Energiepolitik für diese Legislaturperiode
natürlich bei weitem nicht zu Ende. Wir haben in der letzten Legislaturperiode eine ganze Reihe von sinnvollen
Maßnahmen auf den Weg gebracht, neben der Ökosteuer
auch die KWK und das EEG. In dieser Legislaturperiode
wird uns das Thema Emissionshandel beschäftigen.
Wichtig wird sein, diese Instrumente, die novelliert werden müssen, fein aufeinander abzustimmen. Das ist eine
Aufgabe, an der Sie teilnehmen sollten, auch im Interesse
der deutschen Wirtschaft und im Interesse derjenigen, die
Kunden im Energiebereich sind. Verweigern Sie sich
nicht, nehmen Sie an dieser Arbeit teil
({12})
und jonglieren Sie nicht so mit Zahlen, wie Sie das heute
getan haben!
Herr Paziorek, ich weiß, dass Sie bei Schalke tätig sind.
({13})
Ich bilde einmal ein Beispiel: Sie verhandeln mit einem
Spieler und bieten ihm ein Drittel mehr. Der Spieler will
aber ein Viertel mehr. Was geben Sie ihm dann? So wie Sie
heute argumentiert haben, sagen Sie, ein Viertel ist zu viel.
({14})
Bleiben wir auf dem Teppich! Sehen Sie ein, dass wir einen guten Weg gegangen sind! In Abwandlung eines Zitats
von George Bernard Shaw sage ich Ihnen: Wer es kann, der
soll regieren, wer es nicht kann, soll opponieren. So wie es
aussieht, werden Sie noch sehr lange opponieren.
Vielen Dank.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf
zur Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform auf
Drucksache 15/21. Der Finanzausschuss empfiehlt auf
Drucksache 15/71, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Hierfür ist namentliche Abstimmung verlangt worden. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das scheint nicht der Fall
zu sein. Ich schließe die Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer für den Entschließungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/87 stimmt,
den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Wer
möchte sich der Stimme enthalten? - Der Entschließungsantrag ist mit der Mehrheit der Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 15/86? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit der gleichen
Mehrheit wie zuvor abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Peter
Götz, Dr. Michael Meister, Friedrich Merz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuordnung der
Gemeindefinanzen ({0})
- Drucksache 15/30 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erstem erteile ich dem
Kollegen Peter Götz für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Rot-Grün hat uns innerhalb von wenigen Jahren systematisch in die schlimmste Finanzkrise seit Bestehen der
Bundesrepublik Deutschland geführt.
({0})
Herr Kollege Götz, einen Augenblick bitte. Ich wäre
dankbar, wenn die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Debatte nicht mehr teilnehmen können oder wollen,
den Saal verließen, damit diejenigen, die sich an der Debatte beteiligen wollen, ihr auch wirklich konzentriert folgen können.
Bitte schön, Herr Götz.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Die Menschen wurden
vor der Wahl bewusst getäuscht und belogen. Nach und
nach kommt das ganze Desaster auf den Tisch. Die
schriftliche Bestätigung haben Sie gestern von den Steuerschätzern, den Wirtschaftsweisen und der Brüsseler
Kommission in einer nicht mehr zu überbietenden Deutlichkeit bekommen. „Staatsfinanzen - Am Abgrund“
titelte heute das „Handelsblatt“. Gestern wurden aufgrund
der aktuellen Steuerschätzung dramatische Einnahmeeinbrüche für Bund, Länder und Gemeinden angekündigt eine fürchterliche Katastrophe für den Bundeskanzler und
seinen Finanzminister, aber auch, was noch schlimmer ist,
für unser Land.
Die größten Verlierer sind wieder einmal die Kommunen. Sie verlieren endgültig ihre politische Handlungsfähigkeit. Immer neue Einbußen bei den Einnahmen und
Zuweisung von zusätzlichen Aufgaben durch rot-grüne
Bundesgesetze führen unsere Städte und Gemeinden systematisch an den Rand des finanziellen Ruins. Nach der
gestern veröffentlichten Steuerschätzung büßen die Städte
und Gemeinden in diesem Jahr mehr ein als Bund und
Länder zusammen. Von den 5,9 Milliarden Mindereinnahmen bei Bund, Länder und Gemeinden entfallen allein
auf die Gemeinden 4,1 Milliarden. Dieses Missverhältnis
ist eindeutig ein Skandal. Der Finanzminister aber stellt
sich hin und erklärt: Alle anderen sind schuld, nur nicht
diese Bundesregierung.
({0})
Vor zwei Jahren haben Sie den Kommunen im Rahmen
der Anhebung der Gewerbesteuerumlage viele Milliarden weggenommen. Der Finanzminister nennt so etwas
Sparen. In Wahrheit findet eine plumpe Verschiebung innerhalb des bundesstaatliches Finanzsystems statt. Die
Gründe, die Sie dafür angegeben haben, haben sich als
falsch erwiesen. Es ist unanständig, wenn Sie diese Erhöhung nicht rückgängig machen; denn nicht einen Ihrer
Rechtfertigungsgründe können Sie aufrechterhalten.
({1})
Ihre Versuche, ständig Verschiebebahnhöfe zulasten
kommunaler Haushalte zu betreiben, sind ausgereizt. Bei
den Kommunen ist nichts mehr zu holen. Sie können
keine neuen Aufgaben mehr finanzieren; schon die bestehenden Aufgaben können sie kaum noch wahrnehmen.
Sie haben vier Jahre lang Städte und Gemeinden wie eine
Zitrone ausgepresst.
({2})
- Ich nenne Ihnen gerne einige Beispiele: von der Grundsicherung der Rente über die Mitfinanzierung des Kindergeldes oder die wegen Ihrer schlechten Arbeitsmarktpolitik zunehmende Zahl von Sozialhilfeempfängern bis
hin zu Integrationskosten für in Deutschland lebende Ausländer. Es handelt sich hierbei um ein Ausgabevolumen in
der Größenordnung eines zweistelligen Milliardenbetrags, das Sie den Kommunen in den letzten vier Jahren
nach und nach aufs Auge gedrückt haben.
({3})
1 Ergebnis Seite 612 C
Auf der Einnahmenseite verhalten Sie sich genauso
kommunalfeindlich: Durch die Versteigerung der UMTSLizenzen hat der Finanzminister für den Bund 50 Milliarden Euro kassiert.
({4})
Kommunikationsunternehmen schreiben nun auf Jahre
hinaus große Verluste und zahlen keine Steuern mehr Telekom lässt grüßen: Sie brauchen nur die Pressekonferenz der Telekom, die im Moment parallel stattfindet, zu
verfolgen. Den Kommunen entgehen dabei mehr als
7 Milliarden Euro.
Es geht munter weiter zulasten der untersten Ebene unseres Staates: Nach der neuen Koalitionsvereinbarung
sollen die Gemeinden für 20 Prozent aller Kinder bis zum
Alter von drei Jahren eine Tagesbetreuung vorhalten.
Der Bundeskanzler verkündet die Wohltat und lobt sich
selbst für einen Bundeszuschuss von 1,5 Milliarden Euro.
In Wirklichkeit liegen die Kosten in einer Größenordnung
von mindestens 2,5 Milliarden Euro. Eine satte Milliarde
bleibt bei den Städten und Gemeinden hängen, mit zunehmender Tendenz.
({5})
4 Milliarden Euro für Ganztagsschulen sind die nächste Wohltat des Kanzlers. Pro Schule macht dies
20 000 Euro. Das reicht kaum, um Geschirr zu kaufen, geschweige denn für Investitionen oder gar zur Finanzierung
der Personalkosten; wieder sollen die Kommunen zahlen.
Herr Kollege Götz, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Tauss?
Gern.
Lieber Herr Kollege Götz, würden Sie mir zubilligen,
dass es einen kleinen Unterschied ausmacht, ob der Bund
ein Gesetz macht, ohne einen Pfennig dazuzugeben, wie
es seinerzeit der Fall war, als Sie das Kindergartengesetz
verabschiedet haben, oder ob - wie wir es jetzt machen den Ländern und den Kommunen für die Ganztagsbetreuung entsprechende Mittel von rund 1,5 Milliarden Euro
pro Jahr zur Verfügung gestellt werden? Wenn Sie über
Belastungen reden, sollten Sie der Fairness halber versuchen, Ihre damalige Verhaltensweise mit dem, was diese
Regierung tut, in Einklang zu bringen.
({0})
Erstens haben Sie dem Gesetz seinerzeit zugestimmt.
Ob Sie da schon im Bundestag waren, weiß ich nicht.
({0})
Zweitens haben die Länder bei der Übertragung des
Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz von der damaligen Bundesregierung die dazugehörigen Mittel bekommen.
({1})
Nur - das billige ich Ihnen zu - sind sie an vielen klebrigen Fingern der Länderfinanzminister hängen geblieben
und nicht durchgereicht worden.
({2})
Warum sage ich das? Es muss wieder der Grundsatz
gelten: Wer bestellt, der bezahlt. Wir brauchen das Konnexitätsprinzip, damit die Dinge wieder auf die Beine
gestellt werden.
({3})
Ökosteuererhöhung und Erdgassteuer - darüber wurde
gerade debattiert - führen zu einer drastischen Erhöhung
der Energiepreise für die Menschen und die Unternehmen, aber auch für Städte und Gemeinden, die viele öffentliche Einrichtungen aus ökologischen Gründen auf
Erdgas umgestellt haben. Dafür werden sie jetzt bestraft.
Ich sage ganz deutlich und unmissverständlich: Die Gemeinden können keine weiteren Belastungen übernehmen, wenn sie ihre Aufgaben erfüllen sollen. Das scheint
noch nicht ganz bis zu Ihnen durchgedrungen zu sein. Reden Sie einmal vor Ort in Ihren Wahlkreisen mit den Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern! Oder gehen Sie denen inzwischen aus dem Weg?
({4})
Nach einer Berechnung des Deutschen Städtetages aus
diesem Monat wird das Haushaltsdefizit der deutschen
Kommunen in diesem Jahr bei 8 Milliarden Euro liegen.
Dies ist mehr als doppelt so viel wie im vergangenen Jahr.
Im Jahr 1998 - am Ende einer CDU/CSU-geführten Regierung - hatten die Kommunen einen positiven Gesamtsaldo von über 2 Milliarden Euro. Damals gab es noch
eine kommunalfreundliche Politik in diesem Haus.
({5})
Wie sieht es heute, nach vier Jahren Rot-Grün, aus?
Täglich stehen neue Katastrophenmeldungen aus den
Städten und Gemeinden in den Zeitungen. Immer mehr
Kommunen gehen Pleite. SPD-Bürgermeister beklagen
öffentlich die falsche Politik von Rot-Grün. Der Oberbürgermeister aus des Bundeskanzlers Heimatstadt
Hannover warnt vor dem Ende der kommunalen Selbstverwaltung und fordert - wie noch diese Woche auf dem
CDU-Bundesparteitag in Hannover - deren Stärkung ein.
Der Mann hat Recht. Nur wäre es besser, wenn er dies
auch seinen Genossen im Bundeskanzleramt deutlich sagen würde; denn dort wäre es angebrachter.
({6})
Sein roter Kämmerer sekundiert und sagt: „So habe ich
mir sozialdemokratische Steuerpolitik nicht vorgestellt.“ Peter Götz
Ich könnte, wenn Sie das hören möchten, die Kommentare von SPD-Kommunalpolitikern noch eine Weile fortsetzen. Sogar Schröders heimlicher niedersächsischer
Kronprinz, Sigmar Gabriel, stimmt ein: „Die Leute vor
Ort merken doch langsam, dass da etwas im System nicht
stimmt.“
Die Menschen in Deutschland merken es auf schmerzliche Weise. Die Kommunalpolitiker müssen sich vor Ort
mit der Schließung von Schwimmbädern, Freizeit- und
Sporteinrichtungen auseinander setzen. Schulen sind in
einem unwürdigen Zustand. Straßen und Brücken werden
nur noch notdürftig geflickt, wenn nicht gar gesperrt.
Theater, Bibliotheken, Parks und Grünanlagen - überall
ist die Lage furchtbar. Inzwischen finanzieren viele Kommunen ihre Ausgaben für Sozialhilfe und Gehälter nur
noch auf Pump. Das widerspricht dem kommunalen
Haushaltsrecht. Über kurz oder lang brauchen wir in
Deutschland keine Bürgermeister mehr, sondern nur noch
Staatskommissare, die den kommunalen Mangel verwalten. Das kann doch nicht unser Ziel sein.
({7})
Das hat überhaupt nichts mehr mit kommunaler Selbstverwaltung zu tun.
Was sind die Folgen? In den letzten Jahren sind die
kommunalen Investitionen ständig überproportional gesunken. Das ist eine Katastrophe für die Zukunft unseres
Landes: für das Handwerk, für den Mittelstand und für
den Arbeitsmarkt. Die Gemeinden schieben einen riesigen Investitionsstau vor sich her. Nach dem Deutschen
Institut für Urbanistik müssen sie in den nächsten zehn
Jahren 686 Milliarden Euro investieren, um den Standort
Deutschland im internationalen Vergleich konkurrenzfähig zu halten.
Ohne funktionierende kommunale Selbstverwaltung
bekommen wir einen anderen Staat: zentralistischer, bürokratischer, schwerfälliger und für die Menschen fremder.
CDU und CSU wollen keinen Zentralismus. Wir wollen
starke Städte und Gemeinden in unserem Land.
({8})
Manchmal hat man den Eindruck, alte sozialistische
Zentralstaatsinstinkte kommen wieder zum Vorschein.
({9})
Der Aufbruch zur viel gepriesenen neuen Mitte ist von Ihnen schon lange zu den Akten gelegt worden. Die alte
Linke dominiert das politische Geschehen.
({10})
Die kommunale Selbstverwaltung wird durch Ihre Politik
systematisch ausgehöhlt. Wenn Ihnen das Freude bereitet,
ist es umso schlimmer. Wir fordern eine Umkehr dieser
falschen Politik.
Eine Chance haben Sie. Eine Chance, zu einer kommunalfreundlichen Politik zurückzukehren, ist die sofortige Rücknahme der Erhöhung der Gewerbesteuerumlage,
die Sie beschlossen haben. Lassen Sie den Gemeinden ihr
Geld und nehmen Sie es ihnen nicht ständig weg! Für die
Kommunen würde dieser Schritt zu einer schnellen und
spürbaren Entlastung führen: im nächsten Jahr 2,3 Milliarden Euro und im Jahr 2004 2,6 Milliarden Euro. Umgekehrt
gilt: Wenn dieses Geld nicht fließen wird, fehlen diese Beträge in den kommunalen Kassen.
Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! Wir wollen
auch in Zukunft lebenswerte Städte und Gemeinden, die
in der Lage sind, ihre Aufgaben für die Bürgerinnen und
Bürger zu erfüllen. Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen.
Herzlichen Dank.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Horst Schild für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Verehrter Herr Kollege Götz, ich kann mich noch gut an die Diskussion erinnern, die wir im Januar zum gleichen Thema
hier führten. Seinerzeit waren wir aber nicht die sozialistischen Umverteiler, sondern der Knecht des Großkapitals,
({0})
weil wir den Großkonzernen die Steuergeschenke nur so
hinten reingeschoben haben. - Die Zeiten wandeln sich,
die Argumente auch.
Herr Kollege Götz, wir wissen alle, dass die Kommunen spürbare Rückgänge bei den Gewerbesteuereinnahmen zu verkraften haben und dass sie Hilfe brauchen. Sie
haben eben sehr beredt die Not der Gemeinden in diesem
Lande geschildert.
({1})
Aber - damit komme ich zu Ihrem Antrag - was fällt
Ihnen in dieser Situation ein? Nichts anderes als die Absenkung der Gewerbesteuerumlage!
({2})
Sie haben den Antrag, den der Freistaat Bayern und andere Bundesländer in den Bundesrat eingebracht haben,
wörtlich übernommen.
({3})
Viel Geistesschmalz ist da offensichtlich nicht hineingeflossen.
({4})
Die Unionsfraktion verfährt hier offensichtlich wieder
nach dem Motto „Alle Jahre wieder“ und möchte die
Löcher der Kommunen mit neuen Löchern bei Bund und
Ländern stopfen. Was Sie hier beredt beklagen, gilt ja für
alle staatlichen Ebenen. Ihr Vorschlag, die Gewerbesteuerumlage auf den Stand vor der Steuerreform abzusenken, führt nur zu neuen Löchern bei Bund und Ländern. Das kann nicht die Lösung sein. Das wiederholte
Einbringen solcher Gesetzentwürfe bringt uns nicht weiter.
Es sei Ihnen vergönnt, dass Sie sich des Sachverstandes des Landes Bayern bedienen. Ich hoffe, dass sich die
Parlamentarier der Unionsfraktion zukünftig nicht zum
bloßen Anhängsel der Bayerischen Staatsregierung machen. Wir haben in den letzten Tagen mehrere Beispiele
dafür bekommen, dass sie uns fast wortwörtlich - bisweilen mit Modifikationen bei den finanziellen Auswirkungen - das hereinreichen, was die Bayerische Staatsregierung formuliert hat.
({5})
Ich möchte einmal am Rande erwähnen, dass im letzten Jahr der Antrag der SPD-Fraktion im Bayerischen
Landtag auf Absenkung der Gewerbesteuerumlage im
Land Bayern keine Mehrheit fand.
({6})
Ein bisschen mehr Glaubwürdigkeit und ein bisschen
mehr Substanz wären vielleicht hier und da geboten.
Wieso haben die unionsgeführten Länder nicht bereits
ihren Beitrag geleistet - die kommunalen Spitzenverbände haben sie dazu aufgefordert - und den Umlageanteil zumindest für ihr jeweiliges Bundesland gesenkt,
um damit zu einer Stabilisierung der Kommunen in den
jeweiligen Bundesländern beizutragen? Die Wahrheit ist
doch: Die Kommunen können froh sein, dass die Steuervorschläge der Union bislang nie Wirklichkeit geworden
sind.
({7})
Die Union ist kein verlässlicher Partner der Kommunen.
Die Forderung nach Senkung der Umlage der Gewerbesteuer ist ein politischer Schnellschuss. Sie ist auch sachlich nicht gerechtfertigt. Es ist nun einmal so, dass unsere
Maßnahmen zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage
im Zuge der Steuerreform auch Mehreinnahmen im Rahmen der Gewerbesteuer nach sich ziehen. Das setzt natürlich voraus, dass die Konjunktur besser wird. Aber dies
trägt zur Stabilisierung bei.
Die Gewerbesteuerrückgänge im letzten und auch in
diesem Jahr sind - das haben Sie hier entgegen besserer
Einsicht immer wieder betont; so unterstelle ich einmal nicht auf unsere Steuerreform zurückzuführen. Darauf
haben die kommunalen Spitzenverbände immer wieder
hingewiesen.
({8})
Die Steuervorschläge der Union in der Vergangenheit
- ich weiß nicht, inwieweit Sie sich davon verabschiedet
haben -, die eine Absenkung der Gewerbesteuermesszahlen vorsahen, hätten die Gewerbesteuer noch weiter
nach unten gedrückt.
({9})
Die Gewerbesteuerumlage ist nicht der Grund für die
aktuelle Entwicklung. Die wahren Ursachen liegen in der
schwachen Konjunktur, in der schlechten Gewinnlage
der Unternehmen
({10})
und in den weit reichenden Gestaltungs- und Umstrukturierungsmöglichkeiten der Unternehmen. Es sind eben
nicht die strukturellen Defizite der Gewerbesteuer, die zu
dieser Entwicklung geführt haben.
Das sagt auch die amtierende Städtetagspräsidentin,
Frau Roth, und verweist ausdrücklich auf die Aushöhlung
der Gewerbesteuer lange vor Antritt der jetzigen Bundesregierung. Wir müssen die Strukturprobleme der Gewerbesteuer angehen. Wir müssen eine stabile Basis für die
Kommunalfinanzen schaffen. Das ist eine Lösung für die
Kommunen.
({11})
Ich sehe nicht, welchen Beitrag die Union dazu leistet,
außer ständig, litaneienhaft die gleichen Gesetzentwürfe
einzubringen. Was ist Ihr Konzept? Mit der Senkung der
Gewerbesteuerumlage reißen Sie nur neue Löcher in die
Haushalte von Bund und Ländern.
Wir haben bereits strukturelle Sofortmaßnahmen eingeleitet.
({12})
Wir haben im Unternehmensteuerfortentwicklungsgesetz vom Dezember letzten Jahres die ersten Verbesserungen für die Gewerbesteuerbasis der Kommunen
vorgenommen. Ohne diese Maßnahmen wären die Gewerbesteuereinnahmen der Kommunen schon in diesem
Jahr noch deutlicher gesunken. Das ist doch unstrittig.
Diese Sofortmaßnahmen haben wir gegen Ihren Widerstand durchgesetzt, während Sie weitere Steuersenkungen gefordert haben. Das hat die heutigen Debatten wie
ein roter Faden durchzogen: Zwischen dem, was Sie hier
fordern, und dem realen Handeln gibt es keinen Zusammenhang.
Weitere Verbesserungen haben wir im Koalitionsvertrag beschlossen. Wir werden sie im Bundestag verabschieden. Wir haben die Anliegen der kommunalen
Spitzenverbände aufgegriffen. Ein Beispiel ist die Abschaffung der gewerbesteuerlichen Organschaft. Hier
können die unionsregierten Länder zeigen, ob sie im Interesse der Kommunen handeln oder ob sie eine Blockadepolitik betreiben wollen.
({13})
Um im Übrigen noch einmal auf die Präsidentin des Deutschen Städtetages zurückzukommen: Frau Roth hat im
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 578;
davon
ja: 303
nein: 275
Ja
SPD
Dr. Lale Akgün
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr ({14})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({15})
Klaus Barthel ({16})
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({17})
Kurt Bodewig
Gerd Friedrich Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({18})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({19})
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Wilhelm Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Martin Dörmann
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Marga Elser
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({20})
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Angelika Graf ({21})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Karl Hermann Haack
({22})
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({23})
Anke Hartnagel
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Walter Hoffmann
({24})
Iris Hoffmann ({25})
Frank Hofmann ({26})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Klaus Werner Jonas
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Heinz Köhler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christian Lange ({27})
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({28})
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Tobias Marhold
Lothar Mark
Caren Marks
Christoph Matschie
Hilde Mattheis
Ulrike Mehl
Petra-Evelyne Merkel
Angelika Mertens
Ursula Mogg
Michael Müller ({29})
Christian Müller ({30})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Volker Neumann ({31})
Dietmar Nietan
Dr. Erika Ober
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Karin Rehbock-Zureich
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Reinhold Robbe
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({32})
Michael Roth ({33})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
({34})
Thomas Sauer
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({35})
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Otto Schily
Horst Schmidbauer
({36})
Ulla Schmidt ({37})
Silvia Schmidt ({38})
Dagmar Schmidt ({39})
Wilhelm Schmidt ({40})
Heinz Schmitt ({41})
Interesse der Städte und Gemeinden unsere Vorschläge
ausdrücklich begrüßt.
Meine Damen und Herren, wir wollen die gewerbesteuerliche Organschaft abschaffen. Ich bin gespannt, wie
sich die Union im Bundestag und im Bundesrat dazu verhält. Wir werden es abwarten. Ich hoffe bei den zukünftigen Beratungen auch im Interesse der Kommunen in
diesem Lande auf eine konstruktive Zusammenarbeit und
nicht nur auf die ständige Wiederholung abgegriffener
Gesetzentwürfe.
Ich danke Ihnen.
({42})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bevor ich
dem nächsten Redner das Wort gebe, darf ich Ihnen das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen zur Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform bekannt geben. Abgegebene Stimmen 577. Mit Ja
haben gestimmt 303,
({0})
mit Nein haben gestimmt 274, Enthaltungen gab es
keine.
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Carsten Schneider
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Wilfried Schreck
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Gisela Schröter
Brigitte Schulte ({1})
({2})
Swen Schulz ({3})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Rita Streb-Hesse
Joachim Stünker
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Hans-Jürgen Uhl
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Ute Vogt ({4})
Dr. Marlies Volkmer
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Reinhard Weis ({5})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({6})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Jürgen Wieczorek ({7})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Brigitte Wimmer ({8})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff
({9})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Manfred Helmut Zöllmer
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({10})
Volker Beck ({11})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Jutta Dümpe-Krüger
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({12})
Katrin Dagmar GöringEckardt
Anja Hajduk
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Ulrike Höfken
Thilo Hoppe
Michaele Hustedt
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({13})
Anna Lührmann
Kerstin Müller ({14})
Christa Nickels
Friedrich Ostendorff
Simone Probst
Claudia Roth ({15})
Krista Sager
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({16})
Werner Schulz ({17})
Petra Selg
Ursula Sowa
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Hans-Christian Ströbele
Marianne Tritz
Hubert Ulrich
Dr. Antje Vogel-Sperl
Dr. Ludger Volmer
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({18})
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Altmaier
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({19})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({20})
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Helge Braun
Paul Breuer
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Verena Butalikakis
Hartmut Büttner
({21})
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({22})
Peter H. Carstensen
({23})
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Albert Deß
Alexander Dobrindt
Vera Dominke
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({24})
Dirk Fischer ({25})
Axel E. Fischer
({26})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({27})
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Norbert Geis
Roland Gewalt
Eberhard Gienger
Georg Girisch
Michael Glos
Ralf Göbel
Tanja Gönner
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Kurt-Dieter Grill
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Siegfried Helias
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Irmgard Karwatzki
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder
({28})
Gerlinde Kaupa
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Rudolf Kraus
Michael Kretschmer
Günther Krichbaum
Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn ({29})
Barbara Lanzinger
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Walter Link ({30})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({31})
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Dorothee Mantel
Erwin Marschewski
({32})
Stephan Mayer ({33})
Cornelia Mayer
({34})
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
Dr. Martin Mayer
({35})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({36})
Doris Meyer ({37})
Maria Michalk
Klaus Minkel
Marlene Mortler
Hildegard Müller
Stefan Müller ({38})
Bernward Müller ({39})
Bernd Neumann ({40})
Günter Nooke
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Melanie Oßwald
Eduard Oswald
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Christa Reichard ({41})
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Hannelore Roedel
Franz Romer
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Albert Rupprecht ({42})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({43})
Andreas Scheuer
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({44})
Andreas Schmidt ({45})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Horst Seehofer
Kurt Segner
Matthias Sehling
Marion Seib
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von
Stetten
Gero, Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({46})
Michael Stübgen
Michaela Tadjadod
Antje Tillmann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Angelika Volquartz
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Peter Weiß ({47})
Gerald Weiß ({48})
Ingo Wellenreuther
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({49})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Daniel Bahr ({50})
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich ({51})
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther ({52})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Christoph Hartmann
({53})
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Markus Löning
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({54})
Eberhard Otto ({55})
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Günter Rexrodt
Marita Sehn
Dr. Rainer Stinner
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
fraktionslos
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Daub, Helga Rossmanith, Kurt J.
FDP CDU/CSU
Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
({56})
Nun setzen wir die Debatte fort. Als nächstem Redner
erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Pinkwart, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Standort Deutschland leidet Not unter der
Last rot-grüner Reformverweigerung und mit ihm leiden
die Städte und Gemeinden und die in ihnen lebenden
Bürger.
({0})
Der beispiellose Absturz der kommunalen Steuereinnahmen infolge staatlicher Lastenverschiebungen und
erheblich gestiegener Sozialausgaben engt den finanziellen Handlungsspielraum der gemeindlichen Ebene in dramatischer Weise ein.
({1})
Der starke Verfall der kommunalen Investitionen verstärkt die wirtschaftliche Talfahrt und verschärft die Probleme am Arbeitsmarkt.
Der Sachverständigenrat legt in seinem Herbstgutachten mit der Wachstumsprognose für 2003 von nur 1 Prozent den Finger in die Wunde: Unser Land befindet sich
nicht in einer Konjunktur-, sondern in einer tief greifenden Strukturkrise.
({2})
Eines der maßgeblichen Strukturprobleme liegt in
den Fehlentwicklungen bei der Aufgaben- und Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden begründet. Unser erster Bundespräsident, Theodor Heuss,
hat es einmal auf die griffige Formel gebracht:
Das Wichtigste im Staat sind die Gemeinden, und das
Wichtigste in der Gemeinde sind die Bürger.
Rot-Grün hat sich von diesem demokratischen Grundsatz,
den Staat von unten nach oben aufzubauen, durch noch
mehr staatliche Regulierung und einseitige Aufgabenund Lastenverteilung zulasten von Gemeinden und Bürgern weit entfernt.
({3})
Bürgern und Gemeinden werden immer neue Fesseln
angelegt und finanzielle Lasten aufgebürdet. Die Defizite
in den kommunalen Verwaltungshaushalten haben - das
hat ein Vorredner deutlich gemacht - zwischenzeitlich
Rekordhöhen erreicht. Nach den aktuellen Steuerschätzungen vom November sehen sich die Gemeinden mit
weiteren Einnahmeausfällen gegenüber dem Ergebnis der
Maischätzung konfrontiert: in Höhe von 2,4 Milliarden
Euro für dieses Jahr und von 2,9 Milliarden Euro für das
kommende Jahr.
Kommunale Selbstverwaltung bedeutet Freiraum und
Verantwortung für Entscheidungen vor Ort, und zwar sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite.
Deshalb muss eine Gemeindefinanzreform, die ihren Namen wirklich verdient, die kommunale Autonomie insgesamt stärken.
({4})
Hierzu brauchen wir eine Gemeindefinanzreform, die
das gesamte kommunale Steuersystem auf eine tragfähige
Grundlage stellt und dem Prinzip der Finanzierung der eigenen Aufgaben durch ein eigenes effektives Heberecht
wieder Geltung verschafft.
({5})
Ziel muss dabei eine weit gehende Vereinfachung des
Steuerrechts für Bürger und Unternehmen sein. Wir sprechen uns daher für den Wegfall der konjunkturanfälligen
Gewerbesteuer und ihren Ersatz durch ein eigenes Heberecht der Kommunen an der Einkommen- und Körperschaftsteuer bei gleichzeitiger Senkung der Steuertarifsätze
sowie eine sachgerechte Beteiligung der Kommunen an
der Umsatzsteuer aus.
({6})
Eine Revitalisierung der viel zu komplizierten und darüber hinaus international wettbewerbsverzerrenden Gewerbesteuer durch Senkung der Freibeträge, eine Verbreiterung
der Bemessungsgrundlage und die Ausweitung des Kreises
der Steuerpflichtigen lehnen wir ganz entschieden ab.
({7})
Ich möchte Ihnen die Frage, die im Finanzausschuss bisher nicht beantwortet wurde, zurufen: Wie wollen Sie,
wenn Sie schon über eine Revitalisierung nachdenken,
Ihre so genannte Ich-AG steuerlich gestalten, sodass sie
trotz der Bürokratielast noch irgendeinen Menschen in
diesem Lande interessiert?
({8})
Die zweite Säule der Gemeindefinanzreform bildet die
konsequente Überprüfung der Aufgaben und Ausgaben. Nur wenn sichergestellt ist, dass den Kommunen die
durch Übertragung von Ausgaben und Ausführung von
Leistungsgesetzen entstehenden finanziellen Mehrbelastungen ausgeglichen werden, kommen wir im Ergebnis
zur dringend gebotenen Selbstbeschränkung der Politik
auf allen Ebenen, zur systematischen Aufgabenkritik und
zur weiterhin notwendigen Effizienzsteigerung. Hierzu
gehört auch eine kritische Überprüfung von Normen und
Standards. Kostenintensive, aber für die Aufgabenerfüllung nicht notwendige Standards müssen von den Kommunen endlich flexibler gehandhabt werden können.
({9})
Die Kommunen stecken gegenwärtig in einer tief greifenden Finanzkrise. Noch bevor eine umfassende Finanzreform wirkt, ist eine Stabilisierung der kommunalen
Finanzen dringend geboten. Angesichts der hohen Steuerausfälle erweist sich die von Ihnen durchgeführte Anhebung der Gewerbesteuerumlage zulasten der Gemeinden
als völlig unangemessen und muss zurückgenommen
werden.
Die vorliegende Gesetzesinitiative der Unionsfraktion - Herr Kollege Schild, ich habe hier gelernt, dass sie
eigentlich gar nicht aus der Feder der CDU/CSU stammt,
sondern offensichtlich von der SPD-Landtagsfraktion in
Bayern abgeschrieben worden ist - halten wir jedenfalls
für eine sehr gelungene Vorlage in diese Richtung und
werden sie im Rahmen der Ausschussberatungen positiv
begleiten.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({10})
Herr Kollege Pinkwart, dies war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des ganzen Hauses herzlich.
({0})
Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin
Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es ist natürlich völlig richtig, dass die Gewerbesteuereinnahmen im letzten Jahr, aber auch in diesem Jahr massiv
zurückgegangen sind. In den Städten sind die Rückgänge
im Durchschnitt noch höher als in den einzelnen Kommunen in ländlichen Regionen. Dies ist eingetreten, weil
sich die Konjunktur in Deutschland negativ verändert hat.
({0})
Im Vorfeld, in den Jahren 1999 und 2000, hatten wir noch
sehr gute Gewerbesteuereinnahmen.
({1})
Deshalb hat man in dieser Zeit weder vonseiten der Gemeindetage noch vonseiten der Städte- oder Landkreistage Klagen gehört. Die kommunalen Spitzenverbände
sind erst auf uns zugekommen und haben gesagt: „Tut etwas für uns!“, als die Einnahmen zurückgegangen sind.
Das ist in Ordnung und wir setzen uns damit auseinander.
Ich möchte Sie nur bitten - das gilt sowohl für den Kollegen Götz von der CDU als auch für den Kollegen
Pinkwart von der FDP -, hier nicht so zu tun, als habe die
Steuergesetzgebung der Regierung, als habe zum Beispiel
die Unternehmensteuerreform etwas mit den Einbrüchen
bei den Kommunen zu tun.
({2})
Das ist völlig falsch. Herr Braun vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag hat das eindeutig bestätigt.
Auch die Führungen der kommunalen Spitzenverbände
und des Deutschen Städtetages haben konstatiert, dass
nicht die Steuergesetzgebung die Ursache für diese Einbrüche ist, sondern dies eindeutig Folge der zurückgegangenen Gewinne der Unternehmen, der Bereinigungen
und der Wertaufholungen, die vorgenommen wurden, ist.
Wer sich ein bisschen mit dem Aufstellen von Bilanzen
auskennt, wer weiß, dass Vorauszahlungen von Unternehmen rückerstattet werden, wenn sich die Gewinnspanne
verschlechtert hat, muss doch zugeben, dass in Wirklichkeit hier die Ursache für die Einbrüche liegt. Angesichts
dessen kann man sich doch nicht so blöd - entschuldigen
Sie den Ausdruck, das meine ich nicht persönlich - geben
und so tun, als gäbe es eine ganz andere Ursache.
({3})
Ich bitte einfach darum, hier einmal korrekt zu argumentieren und gemeinsam daran zu arbeiten, die Probleme,
die wir haben - und zwar in allen Bereichen und auf den
verschiedenen Ebenen, was die Steuereinnahmen anbelangt -, zu lösen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Götz?
Gerne, Herr Götz.
Bitte sehr.
Frau Kollegin, wenn Ihre Argumentation stimmt,
warum haben Sie dann vor zwei Jahren die Gewerbesteuerumlage erhöht und damit den Gemeinden das weniger verbleibende Geld auch noch weggenommen?
({0})
Klatschen Sie nur. Ich kann Ihnen genau sagen,
({0})
warum die Gewerbesteuerumlage damals verändert worden ist.
({1})
Wir haben damals beschlossen, die Einkommensteuerreform mit Steuersenkungen in drei Stufen bis zum
Jahr 2005 durchzuführen. Wir haben beschlossen, die
Körperschaftsteuer für die Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland so zu gestalten,
({2})
dass die Steuersätze international im Wettbewerb Bestand haben. Diese beiden Maßnahmen wurden im Bundesrat auch von Ländern, in denen Ihre Partei regiert,
also auch von CDU-regierten Ländern, so verabschiedet.
Man hat im Bundesrat auch verabschiedet, dass die Gewerbesteuerumlage verändert wird, weil selbstverständlich über Steuersatzsenkungen weniger Geld in die einzelnen Ebenen - Bund, Länder und Kommunen hineinfließt.
Sie wissen, dass die Einkommensteuer zu 42,5 Prozent
beim Bund, zu 42,5 Prozent bei den Ländern und zu
15 Prozent auf der kommunalen Ebene veranschlagt wird.
Bei der Körperschaftsteuer ist es halbe-halbe.
({3})
Es ist doch völlig klar, Herr Götz - wenn ich das abschließend dazu sagen darf -: In dem Moment, wo ich weniger Steuereinnahmen habe, weil ich aus wirtschaftlichen Gründen und auch, um die Haushalte von Klein- und
Mittelverdienern zu entlasten, die Steuern in diesem Land
senken will, fließt auch weniger Geld. Das heißt, ich muss
die Verhältnismäßigkeit in der Steuerverteilung zwischen
allen Steuerarten und zwischen den einzelnen Ebenen
über die Gewerbesteuerumlage ausgleichen.
({4})
Das war der Hintergrund. Das ist damals auch, wie gesagt,
durch den Bundesrat und durch das Vermittlungsverfahren gelaufen und wurde auch mit Ihrer Zustimmung damals so verabschiedet.
({5})
- Lesen Sie die Protokolle nach. Ich weiß es noch sehr gut,
weil ich das Vermittlungsverfahren damals selbst mitgemacht habe.
({6})
Frau Kollegin, wären Sie geneigt, eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Fromme zuzulassen?
({0})
Ich weiß ja nicht - Herr Fromme? Ja, er ist nett.
({0})
Das ist kein Kriterium nach den Bestimmungen unserer Geschäftsordnung.
({0})
Es liegt aber im Belieben des Redners, solche Zwischenfragen zuzulassen.
({1})
Herr Präsident, da gebe ich Ihnen völlig Recht. Es wäre
ein bisschen eigenartig, wenn das das einzige Kriterium
wäre. Es gibt allerdings Leute, deren Zwischenfragen ich
einfach nicht brauche. Bei Ihnen, Herr Fromme, ist das
aber in Ordnung.
Danke schön, Frau Kollegin Scheel.
Müssen Sie mir nicht bestätigen, dass die Hauptbegründung für die Anhebung der Gewerbesteuerumlage
die Veränderung der AfA-Tabellen war
({0})
und dass Sie diese Veränderung der AfA-Tabellen zwar
für den Mittelstand gemacht haben, für die Branchentabellen aber nicht?
({1})
Herr Fromme, vielen Dank für die Frage. Bei den
AfA-Tabellen gibt es eine Haupttabelle und Branchentabellen. Wir haben damals in der Grundtabelle die Abschreibungsfristen zuungunsten der Wirtschaft, aber zugunsten
der Steuereinnahmen verändert. Bei den Branchentabellen
war es so, dass die Opposition - die CDU/CSU-Fraktion
und auch die FDP-Fraktion - mit einem Riesentumult im
Lande gesagt hat: Verändert nicht die Branchentabellen, das
ruiniert die kleinen und mittelständischen Unternehmen und
die Transportwirtschaft in unserem Lande.
({0})
- Es ging dabei um die Abschreibungsmöglichkeiten bei
den Branchentabellen. - Die konjunkturelle Situation war
schwierig; in bestimmten Bereichen - Maschinenbau und
anderen - hatten wir konjunkturelle Dellen. In diesem
Kontext haben wir gesehen, dass es aus wirtschaftspolitischen Gründen richtig ist, zu sagen: In diesem Bereich
nehmen wir keine Veränderung zuungunsten unserer kleinen und mittelständischen Wirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland vor. Damit sind Steuerausfälle in einer
Größenordnung von rund 200 Millionen Euro verbunden.
Das ist aber nicht das Geld, das heute den Kommunen
fehlt. Wir haben damals wirtschaftspolitisch völlig richtig
gehandelt.
Herr Fromme, Sie müssen sich langsam entscheiden:
Wollen Sie dauernd Steuern senken und damit auch die
Einnahmen bei den Kommunen reduzieren - dies ist
nämlich die Konsequenz -, wollen Sie alle möglichen
Abschreibungsmöglichkeiten für die Unternehmen beibehalten, dies aber zuungunsten der Gewerbesteuereinnahmen,
({1})
oder wollen Sie eine vernünftige Steuerbasis? Beides zusammen geht nicht. Man muss sich entscheiden. Man
kann nicht immer nur Entlastungen versprechen, ohne
gleichzeitig zu sagen, woher die Einnahmen kommen.
({2})
Man muss auch an einer anderen Stelle in dieser Debatte ganz ehrlich sein:
({3})
Die Gewerbesteuerumlage ist eine Umlage, die zu gut einem Drittel dem Bund und zu etwa zwei Dritteln den Ländern zugute kommt. Dies gilt entsprechend bei einer Erhöhung. Nun werden Anträge gestellt und Vorschläge
gemacht, die Gewerbesteuerumlage wieder auf das alte
Niveau zu setzen. Diese Vorschläge kommen vorwiegend
aus dem CSU-regierten Bayern, von Herrn Stoiber, oder
auch von Herrn Koch oder anderen CDU-Ministerpräsidenten.
Ich stelle fest, dass der Länderanteil an der Gewerbesteuerumlage und deren Erhöhung in Höhe von zwei Dritteln durchaus in Eigenverantwortung von den Ländern an
ihre Kommunen weitergegeben werden kann. Warum
macht Bayern dies nicht? Warum macht Hessen dies
nicht? Warum soll nur der Bund hier tätig werden?
({4})
An einem weiteren Punkt wird deutlich, wie unlauter
Sie, die Union, Politik betreiben: Bayern hat - ich weiß dies
noch sehr gut, denn es ist noch gar nicht so lange her im Bundesrat einen Antrag gestellt, dass die Umlage wieder auf das alte Niveau gesenkt werden sollte. Diese Vorlage ist im Finanzausschuss des Bundesrates mit der
Mehrheit der CDU-regierten Länder abgelehnt worden.
Dies ist die Wahrheit.
({5})
Stellen Sie sich doch nicht immer hier hin und tun Sie
nicht so, als ob wir diejenigen wären, die irgendwelche
Entscheidungen zum Schaden der Kommunen treffen.
({6})
Wir haben eine Kommission eingesetzt, in der auch die
kommunalen Spitzenverbände vertreten sind. Diese Kommission wird hoffentlich bis zum Frühjahr oder Frühsommer nächsten Jahres Vorschläge
({7})
für eine finanziell solide ausgestaltete Kommunalpolitik
erarbeiten. Wir werden diese Vorschläge selbstverständlich gesetzgeberisch umsetzen. Dies ist gar keine Frage.
Es sind bestimmte Vorgaben gemacht worden: Planbarkeit, das Band zwischen Kommunen und Betrieben
stärken, eigene Hebesatzrechte und vieles mehr. Herr
Pinkwart, auch Sie haben dies angesprochen. Ich gebe Ihnen hier auch völlig Recht. Über die Bedingungen sind
wir uns einig, das ist überhaupt keine Frage. Wir müssen
die Vorschläge nur umsetzen.
Ich möchte nun mit einer Mär aufräumen. CDU/
CSU-Bürgermeister und -Landräte ziehen durch die Gegend und sagen: Durch die Entscheidungen des Bundes
werden die Haushalte der Kommunen belastet.
({8})
Alle Maßnahmen, die aktuell durchgeführt werden, ob
diese die Grundsicherung im Alter betreffen oder ob dies
beispielsweise Maßnahmen im Rahmen des Einwanderungsgesetzes wie die Integration von ausländischen Kindern sind, werden in einem Fall nur vom Bund und in dem
anderen Fall vom Bund und den Ländern finanziert.
Es ist nicht Aufgabe des Bundes, dafür zu sorgen, dass
das Geld, das wir in diesem Zusammenhang an die Länder geben - wir dürfen es aus verfassungsrechtlichen
Gründen gar nicht an die Kommunen durchreichen -,
auch zu den Kommunen gelangt, also von den Ländern
den eigenen Kommunen zur Verfügung gestellt wird.
({9})
Dieses Geld wird von den Ländern in ihre eigenen Haushalte einverleibt, aber nicht an die Kommunen weitergegeben.
({10})
- Das ist das Thema „klebrige Finger“. Völlig richtig!
Wenn wir - ich sage das hier ganz deutlich - neue Aufgaben vom Bund auf die Kommunen übertragen, geben
wir ihnen auch die notwendigen Mittel an die Hand.
({11})
Sollten sich die Schätzungen als zu niedrig erweisen - oder
als zu hoch, das kann ja auch einmal sein -, werden wir das
zu korrigieren haben. Das ist doch überhaupt keine Frage.
({12})
Dann werden eben die Ausgaben vorgelegt und der Bund
wird es entsprechend korrigieren. Das ist eine vernünftige
Politik.
Wir haben das Konnexitätsprinzip in unserem Koalitionsvertrag festgeschrieben. Ich bin gespannt darauf, wie
sich beispielsweise der Freistaat Bayern in diesen Tagen
gegenüber seinen Kommunen zur Frage des Konnexitätsprinzips äußern wird. Wenn man ehrlich ist, müsste man
das Prinzip auch auf der Länderebene anwenden und nicht
immer nur mit dem Finger auf die Bundesregierung zeigen und sich selbst aus der Verantwortung stehlen.
Danke schön.
({13})
Für die Bundesregierung erteile ich nun der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Dr. Hendricks das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Den Antrag, den die CDU/CSU heute hier vorlegt,
kann man wirklich als einen typischen Schaufensterantrag bezeichnen.
({0})
Ich will die Geschichte dieses Antrages kurz erläutern.
Die Daten sind jetzt gar nicht mehr so relevant. Der erste
Aufschlag war: Der Freistaat Bayern stellte ebendiesen
Antrag im Bundesrat und unterlag damit. Er bekam also
keine Mehrheit. Der zweite Aufschlag - und damit kommen wir zu dem, was Sie, Herr Kollege Pinkwart, eben
gesagt haben -: Die bayerischen Sozialdemokraten machten sich das im Landtag zu Bayern zu Eigen und beantragten ebendieses bei der Bayerischen Staatsregierung
für die bayerischen Kommunen, denn, wie ja gerade die
Kollegin Scheel zu Recht gesagt hat, die Gewerbesteuerumlage geht zu zwei Dritteln zugunsten der Länder und nur zu einem Drittel zugunsten des Bundes. Der
Freistaat Bayern, der gerade im Bundesrat unterlegen war,
war also nicht in der Lage, zugunsten seiner Kommunen
auf diese zwei Drittel zu verzichten. Das hat er bis heute
nicht getan. Das war der zweite Schritt des Schaufensterantrages.
Jetzt kommt der dritte Schritt, noch einmal im Bundesrat. Dieses Mal gab es eine Mehrheit für die Überweisung des Antrages in die Ausschüsse und da schmort er
zurzeit. Der vierte Schritt: Die Union macht das hier.
Es ist also ein Antrag ohne Substanz,
({1})
der den Kommunen in keiner Weise nützt
({2})
und der in diesen vier Schritten schon die beiden Kammern auf der Bundesebene und den Landtag von Bayern
beschäftigt hat, ohne dass irgendetwas zugunsten der
Kommunen dabei herausgekommen wäre oder auch nur
herauskommen könnte. Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kommunen, denen es am allerschlechtesten
geht, die gar keine Gewerbesteuer mehr einnehmen, profitieren natürlich auch nicht von einer Absenkung der Gewerbesteuerumlage,
({3})
weil sie die ja auch nicht abführen müssen.
({4})
Würden Sie sich mit Ihrem Antrag durchsetzen, dann
würde innerhalb der kommunalen Familie denjenigen, denen es verhältnismäßig gut geht, darüber hinaus geholfen
werden und denjenigen, denen es ganz schlecht geht,
würde gar nicht geholfen werden, sodass sich der relative
Abstand zwischen denen, denen es einigermaßen gut
geht, und denen, denen es ganz schlecht geht, noch erhöhen würde. Das wäre Folge dieses Antrags - und dass
Bund und Länder auf Einnahmen verzichten müssten,
wovon zwei Drittel zulasten der Länder gingen.
Dasselbe ist natürlich auch aus Ihrem Vortrag zu entnehmen, Herr Kollege Pinkwart. Sie haben ja für die Zukunft der Gewerbesteuer das Modell vorgeschlagen, das
auch vom Bundesverband der Deutschen Industrie und
vom Verband der Chemischen Industrie vorgeschlagen
wird.
({5})
Natürlich kann man sagen, das sei ein Vereinfachungspunkt. Natürlich kann man sagen, dann gebe es keine
Gewerbesteuer mehr und jede Steuer weniger sei besser.
Selbstverständlich stimmt das rein unter diesem Gesichtspunkt. Wenn man eine Steuer überhaupt nicht
mehr verwalten muss, ist das natürlich eine Erleichterung. Das ist nicht zu bestreiten. Aber die Verwirklichung dieses Vorschlags, den Sie sich gerade zu Eigen
gemacht haben,
({6})
selbstverständlich bei gleichzeitiger Absenkung der Einkommen- und Körperschaftsteuer, wäre gar nicht möglich. Hintergrund dieses Vorschlags ist Folgendes: Die bis
jetzt gewerbesteuerpflichtige Wirtschaft, namentlich die
größeren Unternehmen, würden sich zulasten aller Einkommensteuerzahler, also auch aller Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, aller Freiberufler, aller Selbstständigen und natürlich auch zulasten des Mittelstandes, eben
nur zulasten derjenigen, die bisher nicht gewerbesteuerpflichtig sind, entlasten. Sie sagen, das solle durch eine
Senkung von Körperschaftsteuer und Einkommensteuer
aufgefangen werden, damit die Menschen nicht überbelastet sind. Ein löblicher Ansatz! Nur, wer um Himmels willen soll denn bei dieser riesigen Umverteilung - die Belastung liegt ja momentan bei der Großindustrie; dann
würde sie bei den Arbeitnehmern liegen - auf seine Anteile an den Einnahmen aus der Körperschaftsteuer und
der Einkommensteuer verzichten? Sagen Sie mir bitte,
wer das sein soll! Das können nach Lage der Dinge wieder nur die Länder und der Bund sein. Damit wäre auf
Dauer die Belastung von einer Gruppe auf eine völlig andere gewechselt. Das sollte man wissen, bevor man solche Vorschläge vorträgt. Natürlich sind die Interessen des
BDI und des VCI legitim. Aber man muss zumindest in
der Lage sein, deren Interessen aufzudecken. Das habe ich
hiermit getan. Das wird sicherlich in Zukunft noch häufiger notwendig sein.
({7})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Pinkwart?
Ja.
Frau Staatssekretärin, ich möchte Sie fragen, ob man
das rein fiskalisch betrachten muss oder ob man das nicht
auch wirtschaftspolitisch betrachten darf. Steuersenkungen zugunsten der Wirtschaft - diese schieben Sie ja hinaus - könnten ja die Konjunktur beleben und damit mehr
Beschäftigung schaffen, was wiederum weniger Ausgaben für die staatlichen Sicherungssysteme, höhere Steuereinnahmen und mehr Sozialbeiträge bedeutet. Kann dadurch unter dem Strich nicht mehr bewirkt werden als
durch das von Ihnen vorgeschlagene Modell?
({0})
Unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten ist das,
rein theoretisch betrachtet, nicht von der Hand zu weisen.
Aber noch vor wenigen Monaten, also bis zum Ende des
Wahlkampfes, wurde uns zum Beispiel vom Kandidaten
Stoiber ja vorgehalten, wir beteiligten die deutsche
Großindustrie überhaupt nicht mehr am Steuerzahlen.
Was hat denn die deutsche Großindustrie in der Zwischenzeit getan? Hat sie jetzt Arbeitsplätze geschaffen
und mehr investiert oder hat sie keine Steuern gezahlt
und trotzdem keine Arbeitsplätze geschaffen und keine
Investitionen getätigt? Dieses Beispiel, das nur wenige
Monate alt ist, müsste uns zu denken geben.
({0})
Was kann man also zugunsten der Kommunen wirklich
tun? Selbstverständlich kommt es darauf an, die kommunalen Finanzen auf sichere Füße zu stellen. Ich darf daran
erinnern, dass die letzte Gemeindefinanzreform in unserem Land noch in der alten Bundesrepublik Deutschland
- unser Land hat sich ja Gott sei Dank verändert - im
Jahre 1970 durchgeführt wurde. Man merke sich dieses
Datum! Zwischen damals und heute lagen die 80er- und
die 90er-Jahre mit der Wiedervereinigung, in denen nichts
geschah. Die jetzige Bundesregierung hat im März dieses
Jahres - zugegeben, später als gewollt; das lag daran, weil
uns die Bayerische Staatsregierung und die Regierungen
der übrigen Südländer mit einer Klage gegen den bundesstaatlichen Finanzausgleich vor dem Bundesverfassungsgericht rein zeitlich dazwischengekommen sind - die Vorarbeiten für eine Gemeindefinanzreform begonnen. Die
Gemeindefinanzreformkommission tagt. Sie ist breit
angelegt. Ihr gehören nicht nur Vertreter des Bundes, sondern in Absprache mit den Ländern auch Landesminister,
also Landesfinanzminister, Landeswirtschaftsminister,
Landesarbeitsminister, Landesinnenminister, und selbstverständlich auch Vertreter der Wirtschaft und der kommunalen Spitzenverbände an.
Diese Kommission wird spätestens am Ende des ersten
Halbjahres des nächsten Jahres, also gegen Ende Juni 2003,
Vorschläge vorlegen. Ich bin zuversichtlich, dass diese
Kommission einvernehmliche Vorschläge vorlegen wird.
Wenn dies nicht geschehen sollte, sind wir natürlich nicht
reformfähig. Wenn wir eine vernünftige Gemeindefinanzreform tatsächlich auf den Weg bringen wollen, werden
wir sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat verfassungsändernde Mehrheiten brauchen. Wir werden also
darauf angewiesen sein, dass die verantwortlichen Politiker in Bund und Ländern an diesem Projekt gemeinsam
arbeiten. Deshalb haben wir von Anfang an diese Kommission - das sieht man auch an ihrer Zusammensetzung auf Konsens angelegt. Jeder kann sich zwar wünschen,
was er will. Aber wir werden verfassungsändernde Mehrheiten in beiden Häusern brauchen. Deswegen müssen
wir uns im Laufe des nächsten halben Jahres annähern.
Übrigens, auf der Fachebene ist das kein Problem. Ich
leite in dieser Kommission die Arbeitsgruppe zu den kommunalen Steuern. Hier gibt es bisher keine großen Probleme etwa zwischen den A-Ländern und den B-Ländern,
wie man sie von der Bundesebene her kennt. Ich glaube,
wir können es schaffen, den benötigten Konsens zu erzielen. Wir werden den Kommunen zu Beginn des Jahres
2004 eine verlässlichere Besteuerungsgrundlage anbieten
können, wenn wir es gemeinsam anpacken. In den 80erund 90er-Jahren sind in dieser Hinsicht Versäumnisse entstanden, die wir nur gemeinsam aufholen können. Ich
hoffe, dass auch Sie uns die Hand dazu reichen werden.
Herzlichen Dank.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Georg Fahrenschon,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrte Frau Staatssekretärin! Ich hätte
nicht gedacht, dass wir heute über Verfahrensspielereien
diskutieren - das ist mein Eindruck -, sondern hätte eigentlich erwartet, dass Sie am Tag nach der Übergabe der
Steuerschätzung diesen Antrag mit einem großen Strauß
von Argumenten fachlich und sachlich entkräften.
({0})
Dazu haben Sie aber nichts gesagt. Sie haben zur Frage
der aktuellen finanziellen Lage der Kommunen kein einziges Wort verloren, sondern sind nur auf Verfahrensspielereien eingegangen. Diese interessieren uns heute nicht.
({1})
Es geht heute um einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion,
der sich mit der aktuellen Notlage der Kommunen in
Deutschland beschäftigt und nicht damit, wer wann wo
welchen Antrag gestellt hat. Es ist richtig, heute über ihn
zu sprechen; denn die Lage der Kommunen war noch nie
so dramatisch. Das haben wir gestern schriftlich bekommen.
({2})
Mich wundert, angesichts der anfänglich guten Zusammenarbeit im Finanzausschuss, die ich als Neuling
konstatieren darf, dass die Vorsitzende des Finanzausschusses nach ihrem Beitrag den Saal schon wieder verlassen hat. Sie zeigt damit, dass sie sich der Diskussion
nicht wirklich stellt.
({3})
Ich komme auf einen wesentlichen Punkt in unserem
Antrag zu sprechen. Die Aussage, die Spitzenverbände
hätten die damalige Steueränderung uneingeschränkt unterstützt, ist falsch. Die deutschen Spitzenverbände haben
gerade die Gewerbesteuerumlageerhöhung ganz explizit abgelehnt. Deshalb darf man hier nicht den Eindruck
erwecken, sie wären mit fliegenden Fahnen für diese Gesetzesänderung gewesen, sondern an dem Punkt, um den
es im Antrag der CDU/CSU geht, haben sie Ihre Politik
mit deutlichen Worten abgelehnt.
({4})
- Dann lesen Sie die Unterlagen des Deutschen Städtetages.
({5})
Da finden Sie es in der Dokumentation zu der Änderung
im Jahr 2000 schon im Vorwort. Darüber hinaus können
Sie auch in den Protokollen des Finanzausschusses nachlesen; denn der Finanzausschuss hat eine Überprüfung
protokollarisch festgehalten. Das Problem der Kompensation, die in dieser Gewerbesteuerumlageerhöhung steckt,
wurde also schon im Finanzausschuss der 14. Wahlperiode
diskutiert. Man hat damals gesagt - Sie nicken -, man
müsse sich erst die Zahlen anschauen, um über eine Kompensation nachzudenken.
({6})
Man muss sich mit dieser Frage also sehr wohl beschäftigen. Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion ist der Auftakt
für diese Auseinandersetzung.
({7})
Meine Damen und Herren, in der Vorbereitung auf
diese Rede habe ich mich in der kommunalen Landschaft
umgeschaut und bin auf Harald Schröder gestoßen. Keine
Angst, es handelt sich nicht um einen verschollenen Bruder oder einen neuen Cousin des Bundeskanzlers, nein,
Harald Schröder teilt mit dem Bundeskanzler nur seinen
Familiennamen und trägt dasselbe Parteibuch. Er ist Bürgermeister der Gemeinde Elsdorf im Erftkreis, einer Gemeinde mit 21 500 Einwohnern und einem Gewerbesteueraufkommen von rund 7 Millionen Euro im Jahr
2000. Dank der Politik seines Parteifreundes teilt Herr
Schröder jetzt nicht nur den Nachnamen mit dem Kanzler, sondern auch die Sorgen; denn das Aufkommen aus
der Gewerbesteuer ist von 7 Millionen Euro im Jahr 2000
auf nur noch 600 000 Euro zusammengeschmolzen. Das
Problem muss man vor Augen haben, wenn man sich den
Antrag der CDU/CSU-Fraktion anschaut.
({8})
Der jährliche Ausfall bei dieser Gemeinde mit 21 500 Einwohnern schlägt also mit 6,4 Millionen Euro zu Buche.
Es erschrecken aber nicht nur die nackten Zahlen, sondern auch die konkreten Beispiele. Die Gemeinde Elsdorf
hat vor wenigen Monaten, finanziert aus Spenden der Bürgerschaft, eine neue Jugendeinrichtung eingeweiht. Allerdings können die jungen Männer und Frauen diese Jugendeinrichtung in den Wintermonaten höchstwahrscheinlich
nicht nutzen, da der Zuschuss der Gemeinde zu den Heizkosten dieser Jugendeinrichtung gestrichen wurde, weil
kein Geld mehr da ist. Sie muss zumachen; ab November
ist sie geschlossen. Die Jugendeinrichtung - das tolle Projekt - in der Gemeinde Elsdorf ist aufgrund Ihrer verfehlten Finanzpolitik in den Wintermonaten geschlossen.
({9})
Wenn Ihnen das Beispiel nicht genügt, nenne ich Ihnen
ein weiteres: Der Finanzdezernent der Stadt Saarbrücken
- Sie dürften die politischen Verhältnisse in der saarländischen Landeshauptstadt besser kennen als ich -, Frank
Oran, hat seine Einbringungsrede zum Haushalt 2002 unter das Motto „Appell an die Vernunft“ gestellt. Im Zentrum seines Appells steht zur Überraschung des Betrachters aber nicht der Stadtrat von Saarbrücken, sondern die
Bundesregierung.
({10})
Unter der Überschrift „Appell an die Vernunft“
schreibt er der Bundesregierung ins Stammbuch:
Der Einbruch bei der Gewerbesteuer wird uns laut unserer aktuellen Finanzplanung bis 2004 rund 107 Millionen Euro kosten. Das ist ein Betrag, den wir nicht
alleine durch Sparen an Papier oder Telefonkosten
wieder reinholen können.
Herr Oran fährt fort:
Ich frage mich, ob die Damen und Herren, die am
Steuersenkungsgesetz gearbeitet haben, sich dieser
Konsequenz bewusst waren.
Das ist die einzig richtige Frage, die ein Finanzdezernent
heutzutage stellen kann.
Um diesen Punkt geht es in der Debatte heute Abend.
Erstens geht es darum, welcher Fehler der Regierung im
Jahr 2000 beim Steuersenkungsgesetz unterlaufen ist, und
zweitens, was zu tun ist, um diesen Fehler schnellstmöglich zu beheben. Geschäftsgrundlage der Beteiligung der
Städte und Gemeinden an der Finanzierung der rot-grünen
Steuerreform vom 23. Oktober 2000 war, dass sich die
Finanzpositionen der Gemeinden im Vergleich zu denen
des Bundes und der Länder nicht verschlechtern sollten.
Das war das erklärte Ziel dieser Reform.
({11})
Vor diesem Hintergrund schrieb Rot-Grün eine stufenweise Erhöhung der Gewerbesteuer fest. Die Gegenfinanzierung wurde mit blumigen Prognosen schöngerechnet. Ich nenne nur ein Beispiel: Die Prognose einer
jährlichen gesamtwirtschaftlichen Investitionszuwachsrate von 5 Prozent war zentraler Punkt der Gegenfinanzierung. Diese gesamtwirtschaftliche Investitionszuwachsrate von 5 Prozent wurde in keinem einzigen Jahr
erreicht. Die gesamte Gegenfinanzierung ist Lug und
Trug. Deshalb haben die Kommunen jetzt das Problem
mit ihren Haushaltszahlen.
({12})
Meine Damen und Herren, es überrascht uns nicht. Den
Kommunen geht es wie vielen Bürgerinnen und Bürgern.
Mit den Versprechen, die Rot-Grün damals verkündet hat,
geht es ihnen so wie mit den Versprechen von Gerhard
Schröder im Bundestag: Heute versprochen und schon
morgen gebrochen.
({13})
An dieser Stelle will ich nicht vertiefen, dass es auch
sachliche, fachliche und grundsätzliche Fehler bei der
Gegenfinanzierung gibt. Ich nenne ein Beispiel: Bei der
Gegenfinanzierung gibt es eine vollkommen überproportionale Belastung der Kommunen. Im Gegensatz zum
Steueraufkommen der Städte und Gemeinden, das im
Jahr 2001 um circa 5,5 Prozent gesunken ist, haben sich
die Einnahmen des Bundes um lediglich 2,5 Prozent reduziert. Das ist eine klare Schieflage zulasten der Kommunen.
Wenn Sie sich die Struktur, die Sie gewählt haben, anschauen, erkennen Sie, dass die Ursache auf der Hand
liegt: Rot-Grün ist es im damaligen Verfahren gelungen,
die Entlastungen der Steuerpflichtigen vornehmlich auf
dem Rücken der Gemeinschaftssteuern zu gewähren.
Gleichzeitig wurden die reinen Bundessteuern - namentlich die Mineralölsteuer und die so genannte Ökosteuer erhöht. Deshalb ist es kein Wunder, dass die Ausfälle zulasten der Kommunen und nicht zulasten des Bundes gehen. Er hat seine Bundessteuern nämlich im Trockenen.
Sie haben einen zweiten wesentlichen Fehler gemacht;
denn Sie haben in der Systematik etwas geändert. Sie haben den Interessenzusammenhang zwischen der Wirtschaft und der Standortgemeinde entscheidend geschwächt. Wenn Sie diesen Weg weitergehen, laufen Sie
Gefahr, dass die örtliche Wirtschaft von der Lokal- und
Kommunalpolitik nicht mehr gebraucht wird, weil diese
nichts mehr davon hat, dass sich erfolgreiche Unternehmen in einem Gewerbe- und Industriegebiet neu ansiedeln.
({14})
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich mit diesen
Strukturdefiziten auseinander setzen, werden Sie erkennen: Wer ein Interesse an einer gesunden Mischung von
Wohnen und Arbeiten am Platz hat, wer ein Interesse an
kurzen Wegen zwischen den Wohnstätten und dem Arbeitsplatz hat und wer ein Interesse an flexiblen Konzeptionen - gemeinsam mit den örtlichen Betrieben - zur Betreuung von Kindern hat, muss dieses Gesetz wieder
ändern. Durch dieses Gesetz geht die Schere nämlich ganz
eindeutig auseinander, sodass die Kommune kein Interesse mehr daran hat, Wirtschaftsunternehmen vor Ort anzusiedeln. Sie kann nicht mehr davon profitieren und wird
sich für eine Villengegend bzw. eine ruhige Gegend entschließen; denn Standorte für neue Betriebe werden nicht
mehr belohnt.
({15})
Angesichts der aktuellen Haushaltslage klingt es auch
zynisch, wenn das Bundesfinanzministerium in seinem
Monatsbericht von Mai 2002 wie folgt auf die Handhabung von Kassen- und Kassenverstärkungskrediten
hinweist:
Bei zahlreichen Kommunen scheinen sich die Kassenkredite aber mehr und mehr zu einem dauerhaften
Finanzierungsinstrument der laufenden Ausgaben im
Verwaltungshaushalt zu entwickeln. Hierin dürfte
sich auch die prekäre finanzielle Situation zahlreicher Städte und Gemeinden widerspiegeln.
Es ist in hohem Maße zynisch, wenn das Finanzministerium den Kommunen vorwirft, sie spielten mit Kassenund Kassenverstärkungskrediten. Sie sind nämlich gar
nicht mehr in der Lage, anders zu reagieren. Ich kann mit
meinem Heimatlandkreis München, der der an Umlagekraft stärkste Landkreis in Bayern ist, ein Beispiel nennen, das die gesamte Dramatik darstellt: Der Landkreis
München musste am Montag einen Nachtragshaushalt beschließen, um die Kassenkredite um 20 Millionen Euro zu
erhöhen, und zwar allein deswegen, damit der Landkreis
das Weihnachtsgeld auszahlen kann. Die Gründe dafür
sind Nachforderungen gegenüber Sozialleistungsträgern
aufgrund von Budgetvereinbarungen im Jahr 2002 und
verzögerte Auszahlungen von Fördermitteln des Bundes
und des Landes.
Wenn Sie uns schon nicht glauben dürfen oder wollen,
dann darf ich noch einen Kronzeugen anführen. Am 15. Oktober, also vor knapp einem Monat, trafen sich erstmals in
der Geschichte Münchens alle Arbeiter und Angestellten
der Stadt. 15 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter trafen
sich unter dem Motto „München ist pleite“.
({16})
Ich darf den Oberbürgermeister, Christian Ude, der
schließlich das Aushängeschild der bayerischen SPD ist,
zitieren:
({17})
Bei der Gewerbesteuer haben wir dramatische Einbrüche zu verzeichnen. Wir müssen sogar Rückzahlungen in bisher unvorstellbarem Ausmaß leisten.
Jetzt kommt es:
Das hat mit Fehlern der Steuergesetzgebung in Berlin
zu tun.
Wo der Mann Recht hat, hat er Recht!
({18})
Deshalb will ich Ihnen zum Schluss meines Beitrags die
Resolution der 15 000 Beschäftigten der Stadt München
nicht vorenthalten.
({19})
Der erste von insgesamt vier Punkten, die sich an die Bundesregierung richten, lautet:
Die ab 1. Januar 2001 von 20 auf 30 Prozent erhöhte
Abschöpfung der Gewerbesteuereinnahmen ist sofort zurückzunehmen.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
({20})
Herr Kollege, ich gratuliere Ihnen im Namen des
ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Plenum des Bundestags.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernd Scheelen,
SPD.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Fahrenschon, wir sind uns sicherlich darin
einig, dass die Lage in vielen Kommunen durchaus ernst ist.
Aber Ihr Antrag hilft den Kommunen in keiner Weise,
({0})
schon gar nicht dem von Ihnen hier zitierten Bürgermeister von Elsdorf, Harald Schröder. Denn wenn Sie vortragen, dass die Gewerbesteuereinnahmen in Elsdorf von
7 Millionen Euro auf 600 000 Euro abgestürzt sind, dann
können Sie sich nach Ihrer Systematik leicht ausrechnen,
dass die Gemeinde fast nichts zurückbekäme, wenn Ihr
Antrag beschlossen würde. Das würde ihr nicht helfen.
Das Einzige, was ihr wirklich hilft, ist eine grundlegende
Gemeindefinanzreform, und die führen wir durch.
({1})
Lassen Sie mich etwas zu dem Verhalten der kommunalen Spitzenverbände im Zusammenhang mit der Beratung der Unternehmensteuerreform anmerken. Sie haben behauptet, die Spitzenverbände hätten der Erhöhung
der Gewerbesteuerumlage nicht zugestimmt. Das ist so
nicht richtig. Ich war an den Gesprächen beteiligt. Die
kommunalen Spitzenverbände haben akzeptiert, dass die
Gewerbesteuerumlage ein Ausgleichsmechanismus ist,
um zwischen verschiedenen Steuerarten und den verschiedenen staatlichen Ebenen einen Ausgleich herzustellen. Sie haben sich dafür eingesetzt, dass die vorgesehene
Erhöhung bis zum Jahr 2004 befristet wird. Unter dieser
Voraussetzung waren sie einverstanden.
Deswegen haben wir in den Gesetzestext hineingeschrieben, im Jahr 2004 eine Revision vorzunehmen, um
im Lichte dessen, was die Unternehmensteuerreform bewirkt hat, zu sehen, ob die Prognose richtig war oder ob
man steuernd eingreifen muss. Aber jetzt haben wir erst
das Jahr 2002, nicht 2004. Erst im Jahr 2004 werden wir
in diesem Bereich aktiv werden.
Zum Kollegen Pinkwart. Sie plädieren für die Abschaffung der Gewerbesteuer. Deswegen ist die FDP möglicherweise von vielen Kommunalpolitikern nicht gewählt
worden. Diese wissen genau, wen sie wählen müssen. Sie
erkennen nämlich, dass SPD und Grüne für sie etwas tun,
nicht andere.
({2})
Sie verkaufen das unter dem Stichwort Vereinfachung, die
Sie für Bürger und Unternehmen fordern. Es ist eine tolle
Vereinfachung, die Unternehmen keine Steuern mehr bezahlen zu lassen und die Belastungen auf die Bürger zu
verlagern. Das ist sehr einfach, aber diese Politik machen
wir nicht mit.
Bei der Ich-AG liegen die Freibeträge oberhalb dessen, was als Einkommen vorgesehen ist. Deswegen gibt
es im Zusammenhang mit der Ich-AG keine Probleme mit
der Gewerbesteuer.
({3})
Der Kollege Götz hat hier sehr starke Worte gebraucht.
Unter anderem hat er uns vorgeworfen, wir würden immer
neue Aufgaben auf die Kommunen verlagern, aber kein
Geld bereitstellen. Das, Herr Kollege Götz, haben Sie jahrelang, sogar jahrzehntelang gemacht. Ich weiß gar nicht,
mit welcher moralischen Berechtigung Sie solche Vorwürfe erheben. Sie haben während der 16 Jahre von
Helmut Kohl einiges mitzuverantworten.
Wir zum Beispiel haben bei den Themen Grundsicherung, Ganztagsbetreuung und Krippe das Geld gegen
Ihren erbitterten Widerstand gleich mitgeliefert. Wir haben uns in der letzten Legislaturperiode über die Grundsicherung unterhalten und sie beschlossen. Sie wissen,
dass der Bund den Kommunen über die Länder dafür pro
Jahr 409 Millionen Euro zur Verfügung stellt. Nach zwei
Jahren werden wir überprüfen, ob das Geld reicht. Wenn
es nicht reicht, wird der Bund seinen Verpflichtungen
nachkommen und entsprechend mehr zahlen. Wenn es
aber zu viel ist, wird sich der Bund vorbehalten, demnächst weniger zu zahlen. Das ist gelebte Konnexität. Das
ist die Politik dieser Regierung.
({4})
Dasselbe gilt für den zweiten Punkt, die Ganztagsbetreuung. Wir sehen für die kommende Legislaturperiode
vor, den Ländern jedes Jahr 1 Milliarde Euro zur Verfügung
zu stellen, um 10 000 neue Plätze in Ganztagsschulen bereitzustellen.
Der dritte Punkt: Wir stellen 1,5 Milliarden Euro für
die Krippenbetreuung bereit. Das steht in unserer Koalitionsvereinbarung. Wir wollen die Ersparnisse von
mindestens 1,5 Milliarden Euro, die die Hartz-Pläne bei
den Kommunen bewirken, den Gemeinden zur Verfügung
stellen, damit sie eine Betreuung für Kinder unter drei Jahren organisieren können.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen
Götz?
Bitte, Herr Kollege.
Können Sie mir sagen, warum die Landräte gegen das
Grundsicherungsgesetz, das Sie gerade so sehr loben, klagen?
Das ist relativ einfach. Wenn Sie sich einmal die Parteibücher dieser Landräte anschauen, dann stellen Sie
fest, dass sie alle bei Ihnen organisiert sind. Ich kenne sie.
Das war Bestandteil des Bundestagswahlkampfes und
eine sehr billige Masche. Ich würde diesen Landräten und
auch den Bürgermeistern empfehlen, sich mit dem Gesetz
auseinander zu setzen; dann wüssten sie, dass auf sie
keine Kosten zukommen.
({0})
Es gibt Anträge, die einfach nicht totzukriegen sind. Ihrer gehört dazu. Wir haben in diesem Jahr, wie ich glaube,
zum dritten Mal die Gelegenheit, uns mit der Frage der
Gewerbesteuerumlage auseinander zu setzen. Das erste
Mal war am 25. Januar dieses Jahres, als die CDU/CSU
die Debatte beantragt hatte. Das zweite Mal war am
21. März, als die PDS das Thema aufgewärmt hat. Jetzt
kommt die CDU/CSU wieder damit an.
Das Thema wird immer wieder dann auf die Tagesordnung gesetzt, wenn irgendwo Wahlen bevorstehen. Ich
glaube, Ihr Antrag hängt in diesem Fall mit den Landtagswahlen zusammen, die in Hessen und in Niedersachsen vor
der Tür stehen. Aus diesem Grunde wurde der Ladenhüter
Gewerbesteuerumlage aus der Tasche geholt. Die Zielrichtung, die Sie damit verfolgen, ist klar. Sie wollen den Bürgern in den betroffenen Ländern weismachen: Wenn ein
Schwimmbad geschlossen wird, dann ist das nicht unsere
Schuld. Daran ist die Bundesregierung in Berlin schuld.
Diese Strategie wird Ihnen nicht gelingen; denn der
Rückgang der Gewerbesteuereinnahmen - so dramatisch
er in der einen oder anderen Gemeinde auch ist - hat mit
der Steuerreform dieser Bundesregierung nichts, aber
auch rein gar nichts zu tun.
({1})
Wenn Sie dafür noch Bestätigungen brauchen: Sie können sich das jeden Tag von den kommunalen Spitzenverbänden bestätigen lassen. Die Spitzenverbände wissen,
dass das mit der Steuerreform nichts zu tun hat. Sie wissen, dass die Rückgänge bei der Gewerbesteuer konjunkturbedingt sind. Sie wissen auch, dass das mit den
Folgen Ihrer Steuerpolitik zusammenhängt. Denn Sie,
meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, haben damals noch beschlossen, die konjunkturunabhängigen Bestandteile der Gewerbesteuer abzuschaffen.
({2})
Diese Teile sind weg. Was jetzt übrig ist, ist sozusagen
eine reine Gewinnsteuer. Wenn die Konjunktur nicht gut
läuft, wenn die Unternehmen keine Gewinne machen,
dann zahlen sie überhaupt keine Gewerbesteuer mehr.
Wenn sie geringe Gewinne machen, dann zahlen sie eben
nur wenig Gewerbesteuer.
({3})
Erst jetzt wird also deutlich, wie konjunkturreagibel das
ist, was Sie uns hinterlassen haben.
({4})
Wir werden das korrigieren; denn Kämmerer brauchen
mehr Verlässlichkeit. Sie brauchen Stetigkeit in den Haushalten. Sie brauchen Planbarkeit für ihre Haushalte. Das
werden wir gewährleisten.
Der Deutsche Städtetag hat uns außergewöhnlich gelobt; das ist noch gar nicht so lange her.
({5})
Der Deutsche Städtetag sagt in der Überschrift einer Presseerklärung: „Städte sehen bei der Koalition gute Absichten zur Bekämpfung der kommunalen Finanzkrise“.
({6})
Sie ist von Hauptgeschäftsführer Dr. Stephan Articus und
es geht um die Beurteilung der Koalitionsvereinbarung.
Ausdrücklich hat er vier Punkte hervorgehoben. Er hat
gesagt, es sei sehr zu begrüßen, dass die Koalition die Finanzkraft der Gemeinden stärken wolle; besonders zu begrüßen sei, dass von einer Gewerbesteuerreform gesprochen werde. Es geht also nicht um die Abschaffung
der Gewerbesteuer, sondern um eine Reform der Gewerbesteuer. Damit beschäftigt sich die schon angesprochene
Kommission. Das wird bis Ende nächsten Jahres zu einem
guten Ergebnis geführt.
Sehr positiv nennt er dann die Zusammenführung von
Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe. Das ist etwas, was im
Hartz-Konzept angedacht ist, aber eben auch in der Gemeindefinanzreformkommission bearbeitet wird. Das
wird zum 1. Januar 2004 seine volle Wirkung entfalten
und entsprechende Einsparungen in den kommunalen
Haushalten zur Folge haben, die dann in Investitionen
umgesetzt werden können.
Er begrüßt des Weiteren, dass das Konnexitätsprinzip
in der Koalitionsvereinbarung einen hohen Stellenwert
hat, nämlich Konnexität im Rahmen des bundesstaatlichen Finanzausgleichs.
Schließlich begrüßt der Städtetag ausdrücklich unser
Vorhaben, die gewerbesteuerliche Organschaft abzuschaffen. Das ist ein Punkt, über den wir schon lange diskutiert haben und der auch in den kommunalen Spitzenverbänden lange diskutiert wurde. Es macht gerade aus
heutiger Sicht Sinn, die Gewerbesteuer tatsächlich da anfallen zu lassen, wo Betriebe sind und wo Gewinne gemacht werden. Das ist für die Kommunen eine wichtige
Entscheidung. Die Kommunen brauchen auch einen Anreiz - das ist vorhin schon einmal angesprochen worden -,
sich weiterhin um die Ansiedlung von Gewerbebetrieben
zu bemühen.
({7})
Besser ist eine Koalitionsvereinbarung von einem
kommunalem Spitzenverband noch niemals beurteilt
worden.
Wir werden das, was wir vor der Wahl gesagt haben,
nach der Wahl auch tun. Wir werden die Finanzkraft von
Städten und Gemeinden stärken und auf eine breite und
solide Basis stellen.
Leider ist meine Redezeit schon zu Ende. Ich hätte Ihnen gern noch etwas über Hessen erzählt und über die Art
und Weise, in der in Hessen, ähnlich wie in Bayern, die
Kommunen ausgeplündert werden.
({8})
Als Letztes Folgendes: Sofern diese Debatte auf Phoenix übertragen wird, sitzen sicherlich alle CDU-Minister624
präsidenten mit hängender Zunge vor dem Apparat und
hoffen, dass Ihr Gesetzentwurf keine Mehrheit bekommt;
({9})
denn sie wissen, dass ihre Haushalte dann noch verfassungswidriger werden, als sie es zurzeit schon sind.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 15/30 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft
- Drucksache 15/38 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den
WIPO-Verträgen vom 20. Dezember 1996 über
Urheberrecht sowie über Darbietungen und
Tonträger
- Drucksache 15/15 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Frau Bundesministerin der Justiz Brigitte Zypries.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das Urheberrecht im digitalen Zeitalter mit seinen vielen neuen Medien braucht zeitgemäße Regeln.
Dazu gehören der Rechtsschutz für Urheber sowie die
Förderung der Kultur und Medienwirtschaft und ihrer
Entwicklung. Die Bundesregierung legt Ihnen heute den
Entwurf eines neuen Urheberrechts in der Informationsgesellschaft vor, der genau diese Ziele verfolgt.
Wir setzen damit die EU-Richtlinie „Urheberrecht in
der Informationsgesellschaft“ um. Sie legt das Fundament
für die Gestaltung des europäischen Urheberrechts im
Internetzeitalter. Zugleich konkretisiert sie die zentralen
Bestimmungen der Verträge der Weltorganisation für
geistiges Eigentum über das Urheberrecht und über Darbietungen und Tonträger.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist aber
noch nichts Originelles, was Sie hier vortragen!
Diese Verträge wollen wir zusammen mit den anderen
Mitgliedstaaten der Europäischen Union möglichst schnell
ratifizieren; deshalb haben wir Ihnen auch den Entwurf eines Gesetzes vorgelegt, mit dem die Zustimmung zu diesen Verträgen geregelt wird.
Bekanntlich muss diese Richtlinie bis zum Ende des
Jahres umgesetzt werden; uns bleibt also nicht mehr viel
Zeit. Mit diesem Umsetzungsgesetz wollen wir deshalb
in einem ersten Schritt nur all das regeln, was uns die
Richtlinie und die WIPO-Verträge zwingend vorschreiben.
({0})
In einem zweiten Schritt wollen wir mit einem weiteren
Gesetz die Fragen regeln, die wir jetzt offen lassen, weil
wir sie mit den Beteiligten ohne Zeitdruck ausführlich
erörtern wollen.
({1})
Jeder Schritt erfordert eine sorgsame Abwägung der Interessen aller Beteiligten. Dass diese Interessen sehr divergent sind, muss ich Ihnen hier nicht sagen.
Unser Entwurf eines neuen Urheberrechts in der Informationsgesellschaft berücksichtigt alle Seiten: sowohl die
berechtigten Interessen der Urheber und der ausübenden
Künstler als auch die der Kunden, der Industrie und des
Handels, aber auch die von Wissenschaft und Unterricht.
({2})
- Ich werde jetzt gleich konkreter.
Wir führen mit diesem Gesetz ein neues „Recht der öffentlichen Zugänglichmachung“ zugunsten der Urheber
ein.
({3})
- Danke schön. - Damit stellen wir klar, dass zunächst
einmal allein der Urheber bestimmt, ob und wie sein
Werk, zum Beispiel im Internet, öffentlich gemacht wird.
Das gleiche Recht bekommen natürlich auch die ausübenden Künstler für ihre Darbietungen.
Der Entwurf erlaubt deshalb - quasi im Umkehrschluss - Urhebern oder den von ihnen beauftragten Verwertern, die Werke mit technischen Vorrichtungen zum
Schutz vor Kopien zu versehen. Selbstverständlich dürfen
Musikunternehmen kopiergeschützte CDs verkaufen. Allerdings müssen die CDs, die kopiergeschützt sind, entsprechend gekennzeichnet sein; denn wir müssen auch die
Verbraucher schützen, die wissen wollen, was in der
Packung ist.
({4})
Niemand soll die Katze im Sack kaufen müssen und dann
erst zu Hause merken, dass er eine CD nicht kopieren
kann.
({5})
Das neue Gesetz verbietet es, den Kopierschutz zu
knacken, und bezieht auch die Herstellung und die Verbreitung der so genannten Hackersoftware in das Verbot
ein. Wer gegen diese Verbote gewerblich verstößt, der
muss mit Geldstrafen oder sogar mit Gefängnis rechnen.
Allerdings betonen wir ausdrücklich den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit.
({6})
Das heißt in der konkreten Abwägung: Wenn sich zum
Beispiel ein Schüler aus dem Internet Software herunterlädt, um einem Klassenkameraden ein Musikstück zu kopieren, dann bleibt dieser straffrei. Wir wollen nämlich
nicht den Schulhof kriminalisieren, sondern wir zielen auf
die gewerblichen Rechtsverletzer.
({7})
Im Einklang mit der Richtlinie und den Erfordernissen
des digitalen Zeitalters bestimmen unsere Schrankenregelungen, in welchen Fällen Urheber es hinnehmen müssen,
dass ihre Werke ohne ihre Zustimmung genutzt werden.
So haben wir eine Regelung vorgesehen, wonach in den
neuen Medien veröffentlichte Werke für den Unterricht an
Schulen und Hochschulen sowie für die Forschung genutzt werden können. Damit entsprechen wir, so meinen
wir wenigstens, den Bedürfnissen der Wissensgesellschaft und stärken die Wettbewerbsfähigkeit deutscher
Schulen und Hochschulen im internationalen Vergleich.
({8})
Zugleich stellen wir klar, dass auch die digitale Privatkopie zulässig ist. Es darf sich also jeder von seiner Lieblings-CD eine Kopie für seinen MP-3-Player im Auto
brennen.
({9})
- Ja, natürlich. - Selbstverständlich bleibt es dabei, dass
den Urhebern ein Ausgleich dafür zusteht, dass ihre
Werke ohne ihre Einwilligung genutzt werden dürfen.
Noch ist die Zeit nicht reif, unser System der pauschalen Vergütung, das durch die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs erhalten bleibt, durch ein System der Einzelabrechnung, der individuellen Lizenzierung, im digitalen Bereich abzulösen. Die Entwicklung technischer
Schutzmechanismen ist weder abgeschlossen noch ausgereift. Unser Entwurf fördert aber die Entwicklung von
einsatzfähigen Systemen der sicheren individuellen Abrechnung. Ich weiß natürlich, dass es einen großen Interessenverband gibt, der sehr großen Wert darauf legt, dass
diese individuelle Abrechnung dann auch Bestandteil des
nächsten Korbes wird. Wir werden das zu verhandeln haben und werden auch sehen müssen, wie weit die technische Entwicklung bis dahin gekommen ist.
({10})
Ich glaube, wir haben mit dieser Gesetzesinitiative einen ersten großen Schritt für ein faires Urheberrecht vorgelegt. Den weiteren Schritt im Laufe des nächsten Jahres
wollen wir gemeinsam gehen.
({11})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günter Krings.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Wenn wir uns heute eine halbe Stunde
über Fragen des Urheberrechts unterhalten dürfen und wir
diese Debatte von Tagesordnungspunkten zur Steuer- und
Finanzpolitik sowie zu künftigen Auslandseinsätzen der
Bundeswehr eingerahmt finden, könnte der Eindruck entstehen, dieses Hohe Haus halte eine Weile inne, um sich
anschließend wieder den wirklichen Zukunftsthemen der
deutschen Politik zuzuwenden.
({0})
Eine solche Einschätzung teile ich ausdrücklich nicht. Sie
ginge auch an der wahren Bedeutung des Urheberrechts
für unsere moderne Informationsgesellschaft und unsere
Wirtschaft vorbei.
({1})
Fast 600 000 Menschen arbeiten in Deutschland in
Kulturberufen. Zusammen erwirtschaften sie mehr als
8 Prozent unseres Bruttosozialproduktes; jeder zwölfte
Euro wird in der deutschen Wirtschaft mit Produkten verdient, die unmittelbar auf den Schutz des Urheberrechts
angewiesen sind. Dieser wichtige Zweig unserer Volkswirtschaft erwartet endlich klare rechtliche Regelungen
zur digitalen Verbreitung von urheberrechtlich geschützten Werken.
({2})
Die neuen elektronischen Medien eröffnen eine Fülle
neuer Verbreitungsmöglichkeiten, sie schaffen damit aber
zugleich eine ebenso große Vielzahl an Gefahren des
Missbrauchs und der Werkpiraterie. Dem gilt es Einhalt zu
gebieten, denn Urheberschutz ist Eigentumsschutz und
die Verletzung von Urheberrechten ist nichts anderes als
Diebstahl geistigen Eigentums.
({3})
Vor wenigen Jahrhunderten glaubte man noch, diesen
Fällen geistigen Diebstahls mit Verfluchungen beikommen zu können; so wünschte mancher Autor in seinem
Vorwort denjenigen „Aussatz und Hölle“, die sein Werk
unberechtigt kopierten.
({4})
Ich denke, inzwischen ist auch bei der amtierenden Bundesregierung die Erkenntnis gereift, dass vom modernen
Rechtsstaat auf diesem Gebiet schon etwas mehr an
Schutz und Rechtssicherheit erwartet werden kann.
({5})
Umso unverständlicher ist es für unsere Fraktion daher,
dass es insgesamt sechs Jahre gebraucht hat, um einen Regierungsentwurf zur Regelung des Urheberrechts in der
Informationsgesellschaft in den Bundestag einzubringen.
({6})
Nach der Unterzeichnung der internationalen Verträge im
Rahmen der Weltorganisation für geistiges Eigentum
Ende 1996 - die Ministerin wies darauf hin - ließ man
sich zunächst einmal vier Jahre auf europäischer Ebene
Zeit, um auf dieser Basis eine Richtlinie der Europäischen
Union zu erarbeiten. Anschließend ging dann ein weiteres
Jahr ins Land, ehe man sich jetzt offenbar etwas verwundert die Augen reibt und feststellt, dass die Frist zur Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht am 22. Dezember dieses Jahres ausläuft. Erst unter dem Eindruck der
drohenden Sanktionen aufgrund der Verletzung des EGVertrages wurde das Gesetzgebungsverfahren nunmehr
auf den Weg gebracht.
Angesichts dieses Schneckentempos dürfen wir uns
nicht wundern,
({7})
dass uns in der Kultur- und Medienwirtschaft andere
Länder nicht nur längst überholt haben, sondern uns sogar
meilenweit voraus sind.
({8})
Diese Verzögerung ist aber zugleich auch die Folge
falscher Prioritätensetzung auf dem Gebiet der Rechtspolitik. In der Zeit, in der sich die ausgeschiedene Justizministerin im vergangenen Jahr dringend um einen wirksamen Schutz urheberrechtlicher Werke vor Raubkopien
hätte kümmern müssen, bastelte sie lieber an dem rechtlichen Monstrum einer angemessenen Vergütung für Urheber, das erst in letzter Minute entschärft werden konnte.
So ist es offenbar bei dieser Bundesregierung: Die ideologischen Lieblingsthemen werden vorangetrieben,
während die für den Kultur- und Wirtschaftsstandort
Deutschland vordringlichen Aufgaben liegen bleiben.
({9})
Ich gestatte mir allerdings die Hoffnung, dass dies unter
der neuen Ressortchefin im Justizministerium anders wird.
({10})
Nach so langer Zeit hätten wir und vor allem die Autoren, Künstler und Verleger erwarten können, dass uns ein
umfassender und ausgewogener Gesetzentwurf vorgelegt
wird.
({11})
Wer diese Erwartung hatte, sieht sich in vielen Punkten
leider herb enttäuscht. Der Gesetzentwurf ist an vielen
Stellen offensichtlich mit der berühmten rot-grünen
heißen Nadel genäht. Einige Punkte fehlen und andere
Teile sind wirklich noch sehr verbesserungsbedürftig.
({12})
Der Entwurf ist von schwer überbietbarer Naivität,
etwa wenn man sich in § 53 der Neufassung damit begnügt, die altbekannten Regeln für die analoge Vervielfältigung, also zum Beispiel für die private Kopie eines
Buches, eins zu eins auf die digitale Vervielfältigung zu
übertragen. Wer schon einmal selbst eine Stunde an einem
Kopierer zugebracht hat, um - im Rahmen des Erlaubten,
versteht sich - ein Buch zu kopieren,
({13})
muss wissen, dass das mit einem etwas größeren Aufwand
verbunden ist als das rasche Kopieren einer Datei auf einem Computer. Wenn das digitale Kopieren so viel leichter und schneller von der Hand geht, ist es nur logisch,
dass man dann besondere Schutzvorkehrungen gegen solche Kopierarten vorsehen muss.
({14})
Private Raubkopien sorgen dafür, dass die Medienbranche Jahr für Jahr erhebliche Umsatzeinbußen zu verzeichnen hat. Die Film- und Kinowirtschaft klagt inzwischen gar darüber, dass Blockbuster-Filme bereits Monate
vor ihrem Kinostart in Deutschland als Raubkopie im Internet die Runde machen. Die im Gesetzentwurf vorgeschlagene pauschale Gleichbehandlung von elektronischen und herkömmlich analogen Vervielfältigungen
öffnet dem Missbrauch Tür und Tor.
Bleibt die Bundesregierung hier bei ihrer Position,
dann verfehlt sie im Übrigen auch einen ganz wesentlichen Zweck dieses Gesetzgebungsprojekts, nämlich die
Umsetzung der gerade genannten EU-Richtlinie 2001/29.
Hier heißt es im 38. Erwägungsgrund, dass „den Unterschieden zwischen digitaler und analoger privater Vervielfältigung gebührend Rechnung“ zu tragen ist.
({15})
Es lohnt sich, auch einmal das Kleingedruckte einer europäischen Richtlinie zu lesen.
({16})
Wir als Unionsfraktion verstehen jedenfalls die Fachverbände, die sich dagegen wehren, dass ein Rechtsregime, das dem Zeitalter des Papierkopierers entstammt,
nun ohne weiteres auf den CD-Brenner übertragen werden soll. Hier muss dringend nachgebessert werden.
({17})
Zustimmung verdient der Gesetzentwurf, soweit er den
besonderen Gefahren der Werkpiraterie im digitalen Bereich das strafbewehrte Verbot der Umgehung von
Schutztechnologien gegenüberstellt.
({18})
Der massenhafte Diebstahl von geistigem Eigentum wird
heute durch die flächendeckende Verbreitung von Umgehungstechnologien erleichtert, die dem Verbraucher
Werkzeuge an die Hand geben, um kopiergeschützte
Werke zu knacken. Diese Instrumente finden sich inzwischen auf den Seiten bekannter Internetprovider ebenso
wie in den Regalen großer Supermarktketten. Das Unrechtsbewusstsein tendiert hier offenbar gegen null.
({19})
Geistiges Eigentum hat Anspruch auf den gleichen
Schutz wie Sacheigentum. Es macht eben keinen Unterschied, ob Werkzeugsätze zum Aufbrechen von Wohnungs- oder Autotüren angeboten werden oder solche
zum Aufbrechen eines digitalen Kopierschutzes.
({20})
Das europäische Recht lässt dem deutschen Gesetzgeber ausreichend Raum, um effektive Mechanismen zum
Schutz des geistigen Eigentums einzuführen. Es steht in
unserer Verantwortung, diesen zu nutzen. Es reicht nicht
aus, nur Verbots- und Straftatbestände ins Gesetz zu
schreiben;
({21})
denn wir können und wollen nun einmal nicht hinter jedem Computerarbeitsplatz einen Staatsanwalt postieren.
({22})
Die Zukunft des Urheberschutzes gehört daher dem digitalen Rechtemanagement als einer neuen, intelligenten
Schutzstrategie. Frau Ministerin, Sie haben sich verbal
dazu bekannt. Allerdings trifft der Gesetzentwurf zu diesem modernen Schutzkonzept keine konkreten Regelungen. Im Gegenteil: Durch den Anspruch auf Aufhebung
von Schutzmechanismen, unter anderem für private Kopierzwecke, erwächst in § 95 b - es lohnt sich, auch diesen einmal zu lesen - der Eindruck, dass der Rechteinhaber für den Einsatz von Schutzmechanismen nachgerade
bestraft werden soll. Kommt er diesem Aufhebungsanspruch nämlich nicht nach, muss er, der doch nur sein Urheberrecht, also sein Eigentum schützen will, mit einem
saftigen Bußgeld rechnen, dessen Obergrenze pikanterweise doppelt so hoch liegt wie die Buße, die demjenigen
droht, der einen solchen Schutzmechanismus knackt, dem
Cracker oder Hacker also.
({23})
Der Schutzgedanke des Urheberrechts wird hier auf den
Kopf gestellt.
({24})
An anderer Stelle werden Regelungen in den Gesetzentwurf hineingemogelt - in ihm soll doch eigentlich nur
Drängendes geregelt werden -, die nun wirklich nichts
mit der Umsetzung der EU-Richtlinie zu tun haben. Das
gilt etwa für den neu eingefügten § 5 Abs. 3, der immerhin mit einer gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, inzwischen vom Bundesverfassungsgericht
bestätigt, bricht.
Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt, dass die Gesetzgebungsmaschinerie in Sachen eines verbesserten Urheberrechtsschutzes in der modernen Informationsgesellschaft nun endlich in Schwung gekommen ist.
({25})
Ideen und menschliches Wissen sind die wichtigsten
Rohstoffe des 21. Jahrhunderts. Das Urheberrechtsgesetz
wird daher zu dem zentralen Marktordnungsrecht des
digitalen Zeitalters.
({26})
Genau deshalb werden wir es nicht zulassen, dass dieses
wichtige Gesetz jetzt im Schweinsgalopp durch das parlamentarische Beratungsverfahren getrieben wird. Die
CDU/CSU-Fraktion will die Anhörung von Sachverständigen im Gesetzgebungsverfahren, damit am Ende ein
Gesetz steht, das den berechtigten Anliegen von Urhebern
und der Medienwirtschaft auf der einen Seite und den
Werknutzern auf der anderen Seite Rechnung trägt und sie
zu einem gerechten Ausgleich bringt.
({27})
Immerhin geht es auch um die Sicherung von Tausenden
von Arbeitsplätzen in Deutschland.
Auf dem Weg zu diesem Ziel gibt es noch einiges zu
tun. Die CDU/CSU-Fraktion bietet ihre Mithilfe an, um
aus diesem spät und hastig zusammengezimmerten Entwurf ein gutes Gesetz zu machen.
({28})
Vielen Dank.
({29})
Herr Kollege, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen im Namen des Hauses dazu.
({0})
Es ist vorbildlich, dass Sie Ihre Redezeit nicht überschritten haben.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Grietje Bettin.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir alle, jedenfalls die, die die neuen Medien nutzen,
merken es in unserer tagtäglichen Arbeit: Das Medium Internet bietet uns eine riesige globale Wissensdatenbank, die
weltweit ihresgleichen sucht. Zwar sind wir aufgrund infrastruktureller und politischer Probleme noch meilenweit
von einer vernetzten Weltgesellschaft entfernt. Doch die
Grundlagen, die noch der konkreten Ausgestaltung bedürfen - damit beschäftigen wir uns heute -, sind jetzt gelegt.
Ein konkretes Beispiel für diese Ausgestaltung ist das
Urheberrecht im Zeitalter der digitalen Vervielfältigungsmöglichkeiten, das wir heute diskutieren. Wem gehört das
Wissen? Dies ist eine zentrale Frage des 21. Jahrhunderts.
Dabei ist es aus unserer Sicht ganz besonders wichtig,
dass wir die digitale Spaltung überwinden und unser
Wissen auch in ärmere und strukturschwache Regionen
übertragen. Andernfalls bleibt dieses Wissen im Besitz
der Nationen, die sich moderne Netze und Computer leisten können.
({0})
Neben der Notwendigkeit des freien Zugangs zum
Wissen steht genauso unmissverständlich fest: Urheberinnen und Urheber, Künstlerinnen und Künstler sowie Autorinnen und Autoren müssen im digitalen Zeitalter für
ihre Arbeit entsprechend entlohnt werden.
({1})
Der heute zu debattierende Gesetzentwurf weist auf jeden
Fall in die richtige Richtung. Er stellt einen Interessenausgleich zwischen allen vom Urheberrecht betroffenen
Gruppen dar.
Darüber hinaus müssen wir aber vonseiten der Politik
auch dafür sorgen, dass das Wissen, das beispielsweise
mit öffentlichen Mitteln generiert wird, auch der Öffentlichkeit breit zugänglich gemacht wird. Um nur ein kleines Beispiel zu nennen: Die Bibliotheken sind oftmals gezwungen, das mit öffentlichen Geldern produzierte
Wissen mit Steuergeldern sozusagen zurückzukaufen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich wollen wir
das Internet auch für neue Geschäftsmodelle nutzen.
Doch das im Zusammenhang mit dem Urheberrecht viel
diskutierte Digital Rights Management stellt aus Sicht
der Grünen kein Allheilmittel dar. Wer sich heute ein
Buch ausleiht oder ein paar Stellen daraus kopiert, muss
dafür nicht erst den Urheber oder den Verlag um Erlaubnis bitten. Genauso wenig dürfen die Userinnen und User
bestraft werden, wenn sie sich Texte oder Audiofiles auf
den Rechner laden, ohne zu wissen, dass es sich dabei um
geschütztes Material handelt.
({3})
Selbstverständlich ist uns klar, dass der individuelle
kostenpflichtige Bezug von digitalen Gütern sicherlich
ein Baustein zukünftiger Vergütungsregelungen sein
wird. Aber die digitale Vielfalt, die wir alle anstreben, erfordert keine Patent- oder Pauschallösungen, geschweige
denn blindes Vertrauen in zurzeit noch unsichere technische Lösungen.
Im Übrigen können Gesetzgeber in die technischen
Entwicklungen in diesem Bereich insgesamt nur begleitend oder moderierend eingreifen
({4})
und dort Vorschriften machen, wo urheberrechtlich geschütztes Material illegalerweise vertrieben wird. Doch
gehört das Recht zum privaten Vervielfältigen natürlich
grundsätzlich nur in begrenztem Umfang zu einem grundlegenden Verbraucherrecht, das per Urteil vom Bundesverfassungsgericht so festgeschrieben wurde.
Aus unserer Sicht muss dies natürlich genauso wie für
die analoge Welt auch für die digitale Welt gelten.
({5})
Denn die digitale Welt besteht ebenso wie die analoge aus
vielen Akteuren - ich habe sie bereits erwähnt -: aus den
Nutzerinnen und Nutzern, den Verwertern, den Urhebern
und der Industrie. Sie alle haben sehr legitime Interessen.
Diese müssen in der Informationsgesellschaft gewahrt
bleiben. Dazu wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf unseren Beitrag leisten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Krings, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede
und heiße Sie im kleinen Kreis der Parlamentarier, die
sich mit dem Urheberrecht beschäftigen, herzlich willkommen.
Frau Ministerin, wir haben Ihre Rede sehr wohlwollend entgegengenommen.
({0})
Sie haben immerhin erklärt, dass Sie den schlechten Gesetzentwurf, den Sie hier vorlegen, nachbessern wollen.
({1})
Diesen schlechten Gesetzentwurf haben nicht Sie zu verantworten. Er ist in der letzten Legislaturperiode von Ihrer
Vorgängerin in den Bundesrat eingebracht worden. Der
Bundesrat hat dazu ausführlich Stellung genommen - im
Übrigen auch SPD-Länder -, indem gesagt wurde, dass in
dieser Urheberrechtsnovelle keine klare Linie erkennbar ist.
Lassen Sie uns in den nächsten Wochen und Monaten
diesen Gesetzentwurf gründlich überarbeiten, damit die
Bedürfnisse aller Beteiligten tatsächlich berücksichtigt
werden, und kein Flickwerk machen! Wir sind dazu
- auch in ausführlichen Berichterstattergesprächen - bereit. Darüber haben wir uns schon verständigt. Ich glaube,
wir kommen da zu einem guten Ergebnis. Die Umsetzungsfristen im Hinblick auf die entsprechende Richtlinie
sind sowieso schon abgelaufen. Jetzt kommt es auf die
eine oder andere Woche nicht mehr an.
Was die WIPO-Verträge angeht, muss ich Ihnen sagen:
Wir sind ohnehin das letzte Land unter den Vertragsstaaten, die diese ratifizieren.
({2})
Das ist eine Schande; aber es ist nun einmal passiert. Jetzt
können wir in Ruhe darüber beraten.
Es geht um zukunftsweisende Regeln. Diese wollen
wir im Interesse unserer Industrie umsetzen.
({3})
- Ich komme gleich dazu, Herr Tauss. - Es geht hier nicht
um Peanuts, wie man heute sagen würde, sondern um Milliardenbeträge.
({4})
„Kleine Novelle zum Urheberrecht“ klingt ja recht hübsch.
Aber tatsächlich geht es um starke wirtschaftliche Interessen, um Milliardenbeträge.
Dazu muss ich sagen, dass Sie bislang im Rahmen der Urheberrechtsnovelle das Recht der Nutzer auf Privatkopien
und den elektronischen Pressespiegel nicht hinreichend
berücksichtigt haben. Wir müssen uns vor Augen führen
- das hat der Kollege Krings schon zu Recht gesagt -,
({5})
dass Urheberrechte auch Eigentumsrechte sind. Nicht der
Gesetzgeber sollte über diese Eigentumsrechte verfügen,
sondern es muss ein gerechter Interessenausgleich vorgenommen werden.
({6})
Im analogen Bereich, Frau Kollegin, konnten wir Privatkopien natürlich zulassen, weil es die Geräteabgabe
gegeben hat. Insoweit war ein gewisser Erlös für die Urheber vorhanden. Im digitalen Bereich sind die Verhältnisse anders, deswegen müssen wir auch andere gesetzliche Regelungen finden.
({7})
Lassen Sie uns also gemeinsam an diesem Gesetz arbeiten!
Frau Ministerin, ich teile nicht ganz Ihre Auffassung
bezüglich der Individuallizenz. In einem Punkt allerdings
sollten wir uns einig sein: Die Zukunft gehört der Individuallizenz und daran sollten wir arbeiten.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Manzewski.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf wird das Ziel verfolgt,
das deutsche Urheberrecht der Entwicklung im Bereich
der Informations- und Kommunikationstechnologie anzupassen. Dies ist insbesondere deshalb notwendig geworden, weil es - das ist schon angesprochen worden mittlerweile aufgrund der digitalen Technologie völlig
unproblematisch geworden ist, urheberrechtlich geschützte Inhalte über ein weltumfassendes Netz binnen
kürzester Zeit zu übermitteln und zu verbreiten.
Als Grundlage für den Gesetzentwurf diente die bereits
angesprochene EU-Richtlinie, die bestimmte Aspekte
des Urheberrechts sowie der verwandten Schutzrechte in
der Informationsgesellschaft unter den Mitgliedstaaten
harmonisieren will und die wir in deutsches Recht umzusetzen haben.
({0})
Dabei geht es zum einen darum, den Schutz der Rechtsinhaber zu gewährleisten, und zum anderen darum, den
Verwertern und Nutzern einen angemessenen Rechtsrahmen vorzugeben, der den Einsatz der neuen Technologien
zulässt und die Entwicklungen in der Informationsgesellschaft fördert.
Meiner Auffassung nach - sie unterscheidet sich von
der der Kollegen Funke und Krings - wird der Regierungsentwurf dem gerecht.
({1})
So enthält er klare Regelungen für die Verwertung von geschützten Leistungen im digitalen Umfeld. Zugunsten der
Urheber und Leistungsberechtigten wird das so genannte
Recht der öffentlichen Zugänglichmachung eingeführt. Damit werden wir verdeutlichen, dass Werke in den
elektronischen Medien wie dem Internet nur mit Zustimmung der Urheber verwertet werden dürfen.
({2})
Andererseits werden die so genannten Schrankenregelungen den Erfordernissen des digitalen Zeitalters
angepasst und wird genau bestimmt, in welchen Fällen es
Urheber hinnehmen müssen, dass ihre Werke auch ohne
ihre Zustimmung genutzt werden können. Dies soll insbesondere da erfolgen, wo die Bundesregierung ohnehin
einen Schwerpunkt ihrer Politik legt, nämlich in den Bereichen Unterricht und Forschung.
({3})
Hier können urheberrechtlich geschützte Werke künftig
ohne Zustimmung der Urheber einem bestimmten, abgegrenzten Bereich von Personen, etwa zur Veranschaulichung im Unterricht oder zur eigenen wissenschaftlichen Forschung, zugänglich gemacht werden, wenn
- insoweit teile ich die Kritik - dieses am Ende auch etwas enger
({4})
als noch im Gesetzentwurf vorgesehen umgesetzt werden sollte. Darüber werden wir sicherlich noch reden
müssen.
Klargestellt wird zudem - das ist sehr wichtig -, dass
auch digitale Privatkopien zulässig sein sollen. Ich halte
das für vernünftig, weil dies der Systematik der Vergangenheit entspricht. Wer also - die Ministerin hat das Beispiel angesprochen - von seiner Lieblings-CD eine Kopie
für den CD-Player im Auto brennen möchte, wird dies
auch in Zukunft tun dürfen. Ich weise jedoch darauf hin,
dass auch ich hier noch ein wenig Diskussionsbedarf
habe.
({5})
Es stellt sich nämlich die Frage, inwieweit in diesem Zusammenhang eine Regelung sinnvoll wäre, die solche Privatkopien aus legalen Quellen, also vom eigenen Original, zulässt. Die Bundesregierung weist zwar zu Recht
darauf hin, dass dies schwer zu kontrollieren wäre, aber
ich meine, dass wir darüber noch einmal reden müssen.
({6})
Meine Damen und Herren, die grundsätzliche Zulässigkeit von Privatkopien einerseits darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass den Rechtsinhabern andererseits ebenso zugestanden werden muss - wenn sie dies
eben nicht wollen -, sich davor durch technische Maßnahmen zu schützen. Der Gesetzentwurf ist nicht zuletzt
deshalb notwendig geworden, weil es immer häufiger zu
einer Verletzung der Urheberrechte gekommen ist, und
zwar mit zum Teil erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen für die Betroffenen. Um dies zu verhindern, sind von
den Rechtsinhabern in der Vergangenheit immer wieder
neue technische Schutzmaßnahmen getroffen worden.
Leider haben diese nicht vor illegaler Umgehung schützen können.
({7})
Die Umgehung der zulässigen und wirksamen technischen Schutzmaßnahmen soll daher verboten werden.
Verstöße hiergegen werden mit einem Bußgeld oder,
wenn dies gewerblich erfolgt, sogar mit einer Geld- oder
Freiheitsstrafe geahndet werden können.
Ich halte es allerdings für richtig - insoweit teile ich die
Auffassung der Ministerin -, den Rechtsinhabern aufzugeben, dies auf den Produkten deutlich zu kennzeichnen.
Der Verbraucher muss wissen, ob er sich von einer gekauften CD eine Privatkopie ziehen darf oder nicht, mit
all den wirtschaftlichen Konsequenzen, die das für beide
Beteiligten bedeuten kann.
({8})
Dass durch den Gesetzentwurf ausübende Künstler wie
Musiker oder Schauspieler hinsichtlich ihrer Rechtsstellung endlich den Urhebern angenähert werden, wird von
mir ebenfalls begrüßt.
Lieber Herr Kollege Krings, die Bundesregierung hat
die in diesem Zusammenhang betroffenen Kreise schon
frühzeitig in das Gesetzgebungsverfahren eingebunden.
Sie wissen das, wenn Sie die letzte Legislaturperiode verfolgt haben.
({9})
Herr Kollege Funke wird, auch wenn er in anderen Bereichen anderer Meinung ist, bestätigen, dass das Urheberrecht der Ministerin sehr wichtig war.
({10})
Der Gesetzentwurf hat deshalb auch Empfehlungen einer
bereits in der vorletzten Legislaturperiode vom Bundestag zu diesem Themenbereich eingesetzten EnqueteKommission sowie ein vom Max-Planck-Institut eingeholtes Gutachten aufgegriffen. Dies gilt ebenso - das
halte ich für wichtig - für die Empfehlungen, die in zwei
Sachverständigenanhörungen zum Referentenentwurf,
im Herbst 2001 und im Frühjahr dieses Jahres, gemacht
wurden.
Ich beurteile auch die Situation ein wenig anders als
Sie: Ich meine, dass von den Verbänden und Institutionen
im Großen und Ganzen Zustimmung zu dem Gesetzentwurf signalisiert wird.
({11})
Ähnliches gilt für die Stellungnahme des Bundesrates. Zu
Detailfragen habe ich selten eine so politische Stellungnahme gelesen, die im Grunde genommen wenig von dem
aufgreift, was man sachlich und fachlich zu dem Gesetzentwurf sagen könnte.
({12})
Ich gehe mit Ihnen insoweit konform, dass wir über
Detailfragen sicherlich noch zu diskutieren haben. Ich
halte es aber für richtig, dass die Bundesregierung nicht
allen Empfehlungen folgt und keine weit über die EURichtlinie hinausgehende Veränderung des Urheberrechts
vornehmen will. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen
sind einige der gemachten Vorschläge, zum Beispiel zur
Behandlung von Archivbeständen, auf EU-Ebene noch
nicht abschließend diskutiert worden; dem sollte meiner
Ansicht nach nicht vorgegriffen werden. Zum anderen
wäre es unter Berücksichtigung der vorgesehenen Umsetzungsfrist unsinnig - selbst wenn wir es nicht bis zum Jahresende schaffen sollten -, bei insoweit noch bestehenden
Kontroversen im Detail möglicherweise fehlerhafte Entscheidungen zu treffen.
Nach meiner Auffassung kann die Diskussion über
diese noch strittigen und nicht umsetzungsbedürftigen
Punkte auch noch im nächsten Jahr, also nach dem Gesetzgebungsverfahren, erfolgen.
({13})
- Das ist immer Ihr großes Problem: Manchmal sind wir
- gerade in der Rechtspolitik - zu schnell, manchmal sind
wir zu langsam. Je nachdem, wie es Ihnen gerade passt,
Herr Kollege.
({14})
In der Rechtspolitik habe ich in den letzten vier Jahren die
Erfahrung gemacht, dass wir Sie mit schnellen und durchdachten Gesetzgebungsverfahren in der Regel überfordert
haben. Da muss man wohl durch.
({15})
- Lieber Kollege Funke, der Untergang des Abendlandes,
den Sie in so vielen Bereichen beschworen haben - ich
denke beispielsweise an die Schuldrechtsreform und die
Zivilrechtsreform -, ist nicht eingetreten.
({16})
Man darf nicht zu viel Wert auf das legen, was Sie da so
sagen.
Soweit der Bundesrat in seiner Stellungnahme noch
einmal für den Vorrang von Individualabrechnungen
plädiert, bleibt mir nur, wie die Ministerin es getan hat,
darauf hinzuweisen, dass die Technologien hierfür noch
nicht ausgereift sind. Kollege Funke, ich folge Ihnen in
der Tendenz; wir müssen uns auch darüber im Klaren sein,
dass das Pauschalvergütungssystem zumindest nicht völlig abgeschafft werden kann.
({17})
Ich komme zum Schluss. Meine Fraktion wird sich an
den anstehenden Beratungen konstruktiv beteiligen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ich
hoffe, dass Sie es genauso machen werden.
Ich danke Ihnen.
({18})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe
auf den Drucksachen 15/38 und 15/15 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Werner Hoyer, Jörg van Essen, Günther
Friedrich Nolting, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Rechtssicherheit für die bewaffneten Einsätze
deutscher Streitkräfte schaffen - ein Gesetz zur
Mitwirkung des Deutschen Bundestages bei
Auslandseinsätzen der Bundeswehr einbringen
- Drucksache 15/36 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete van Essen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Den Entwurf, den wir heute debattieren, haben wir bereits
zum Schluss der vergangenen Legislaturperiode in den
Deutschen Bundestag eingebracht. Wir sind damals nicht
zum Ende der Beratungen gekommen. Man kann es auch
deutlicher sagen: Wir konnten erst gar nicht so richtig damit anfangen. Trotzdem ist es sehr wichtig, dass wir die
Fragen, die wir aufgeworfen haben, debattieren und dass
wir zu einer Lösung kommen. Ich glaube, dass die Debatte
insbesondere zeigen wird, dass wir noch eine Menge offene Fragen haben, auf die wir Antworten geben müssen.
Ich will eine Position klar und deutlich an den Beginn
stellen, weil ich mich über eine Bemerkung einer fraktionslosen Abgeordneten heute Morgen ganz außerordentlich geärgert habe. Diese Abgeordnete hat gesagt, wir
wollten die Beteiligung des Deutschen Bundestages an
der Zustimmung zu den Auslandseinsätzen abschaffen.
Das Gegenteil ist der Fall.
({0})
Wir wollen, dass es bei der konstitutiven Zustimmung des
Deutschen Bundestages zu den Auslandseinsätzen bleibt.
Das hat uns das Bundesverfassungsgericht übrigens aus
guten Gründen aufgegeben,
({1})
und zwar deshalb, weil die Bundeswehr ganz bewusst als
Parlamentsarmee gestaltet ist und es für die Soldaten
ganz außerordentlich wichtig ist, dass sie ihre zum Teil
sehr schwierigen Aufträge jeweils vor dem Hintergrund
der Zustimmung des Parlaments - einer großen Mehrheit
des Parlaments - durchführen. Ich will es noch einmal
ausdrücklich betonen: Wir wollen daran nichts ändern.
Trotzdem gehört zur Bestandsaufnahme, die wir jetzt,
nach einiger Zeit der Notwendigkeit der Zustimmung zu
Auslandseinsätzen durchführen können und müssen, dass
wir feststellen, dass es Bereiche gibt, für die wir keine
wirklichen Antworten haben. Ich will nur ein Beispiel anführen: Das Bundesverfassungsgericht hat bestimmte
Dinge vorgegeben für Einsätze, die ohne Verzug erfolgen
müssen. Wir haben einen solchen Einsatz einmal gehabt,
als Geiseln in Tirana befreit werden mussten. Da kann es
nicht sein, dass der Deutsche Bundestag zusammenkommen muss. Da muss es die Möglichkeit einer schnellen
Entscheidung und der nachträglichen Zustimmung des
Deutschen Bundestages geben.
Ich will aber in diesem Zusammenhang nicht verschweigen, dass wir bislang keine Klarheit haben - auch
nicht in der Geschäftsordnung der Bundesregierung -,
wer eigentlich die Anordnung trifft: das Kabinett als
Ganzes, der Verteidigungsminister, der Bundeskanzler?
Ich fände hier Klarheit gut, weil das auch die Verantwortung deutlich macht. Das ist ein Bereich, über den wir uns
sicherlich unterhalten sollten; denn ich glaube, dass das
ein sehr wichtiger Punkt ist.
Das genannte Beispiel ausgenommen, haben wir solche Einsätze bisher noch nicht gehabt; sie können aber auf
uns zukommen. Die Geiselbefreiung in Tirana war ein geheimer Einsatz und war sofort und auf der Stelle notwendig. Es wird aber irgendwann auch Einsätze geben,
die geheim zu halten sind und die lange vorbereitet werden - eine Woche, 14 Tage -, sodass dann grundsätzlich
eine Beteiligung des Deutschen Bundestages möglich
wäre. Es kann aber nicht sein, dass wir hier im Deutschen
Bundestag beispielsweise die Größe des Kontingents der
Bundeswehr in aller Breite diskutieren, dass wir uns darüber auseinander setzen, dass die Bundesregierung dies
alles in eine Vorlage schreibt und dass der, der möglicherweise durch eine geheime Operation überrascht werden
soll, das alles vorher nachlesen kann. Deshalb müssen wir
uns Gedanken darüber machen, wie wir das regeln können.
Wir als FDP machen einen Vorschlag und sagen: Wir
haben ja einen Bereich, in dem es eine ähnliche Problematik gibt, nämlich den der Nachrichtendienste, der Geheimdienste. Wir schlagen Ihnen deshalb vor, ein ähnliches parlamentarisches Gremium einzurichten, das, zu
Beginn einer Legislaturperiode gewählt, unter Leitung
des Bundestagspräsidenten den Bundestag bei der notwendigen Zustimmung ersetzt.
Dieses geheime Gremium hat im Übrigen noch einen
weiteren Vorteil: Dadurch könnte sichergestellt werden,
dass das Parlament über fortlaufende geheime Einsätze
unterrichtet werden kann. Ich nenne Ihnen nur ein Beispiel: Wir haben aus der Zeitung erfahren, dass es einen
neuen Auftrag für das Kommando Spezialkräfte gegeben
hat. Das kann natürlich nicht in der Öffentlichkeit angesprochen werden. Dieses Gremium wäre, wie ich finde,
genau die richtige parlamentarische Grundlage für die
Unterrichtung des Deutschen Bundestages.
Wir haben auch keine Klarheit bezüglich der Frage
- auch das möchte ich hier ansprechen -: Was ist eigentlich ein bewaffneter Einsatz? Da gibt es durchaus unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Nach einem Erdbeben in Afghanistan
erfolgte der Einsatz von Sanitätskräften. Angesichts der
Situation in Afghanistan konnten wir die Sanitätskräfte
nicht ohne Bewaffnung - die so genannte Selbstschutzkomponente - in diesen Auftrag schicken. Ist eine solche
humanitäre Hilfeleistung mit Selbstschutzkomponente
schon ein bewaffneter Einsatz? - Dies hätte zur Konsequenz, dass alle Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
erfüllt sein müssen. - Oder fallen solche Einsätze in den
Bereich unterhalb dieser Schwelle? Wir möchten, dass
klar geregelt wird, wann ein bewaffneter Einsatz beginnt.
Dies dient der Sicherheit der Bundesregierung, der Sicherheit des Parlaments, aber vor allem der Sicherheit unserer Soldaten.
({2})
Bei der Planung und Vorbereitung eines bewaffneten
Einsatzes können wir meiner Meinung nach etwas flexibler sein, als wir dies in der Vergangenheit waren. Wir
erleben immer wieder, dass die Bundesregierung erst
dann Transportraum anmietet, dass sie erst dann bestimmte Lokalitäten für die Bundeswehr oder Frachtraum
anmietet, wenn die konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages im jeweiligen Fall erteilt ist. Ich finde,
wir sollten dabei ein bisschen großzügiger sein und dem
Bundesverteidigungsminister die Möglichkeit geben, bestimmte Planungsschritte vorwegzunehmen, die sich
zunächst noch nicht auswirken. Diese wirken sich erst
dann aus, wenn die Zustimmung des Deutschen Bundestages tatsächlich erfolgt ist und damit Soldaten in den Einsatz gehen.
Gegenwärtig erleben wir es oft, dass beispielsweise
Flugzeuge schon weg sind - diese gibt es nur begrenzt auf
dem Weltmarkt - oder bestimmte Plätze wie etwa unzerstörte Gebäude, in denen unsere Soldaten untergebracht
werden könnten, bereits von unseren Alliierten für ihre
Zwecke in Anspruch genommen worden sind, sodass unsere Soldaten in ein Feldlager müssen - und dies in einer
schwierigen Umgebung. Es ist notwendig, darüber zu
sprechen.
Meine letzte Bemerkung betrifft die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Das gegenwärtige Verfahren orientiert sich an einer parlamentarischen Übung,
die dem Gesetzgebungsverfahren nachgebildet worden
ist. Wir tun so, als ob es sich um so etwas wie eine erste
Lesung handeln würde. Dies ist es aber nicht. Deshalb
möchten wir, dass wir speziell für die Zustimmung zu
Auslandseinsätzen der Bundeswehr einen Abschnitt in die
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages aufnehmen. In diesem könnten auch die Unterrichtungspflichten
der Bundesregierung gegenüber dem Parlament näher
dargelegt werden.
Wir laden Sie ein, über unseren Vorschlag zu sprechen.
Ich weiß, dass das eine oder andere durchaus unterschiedlich gesehen werden kann. Meine Bitte aber ist,
dass wir schnell zu einer Lösung kommen. Mich freut,
dass uns der Bundesverteidigungsminister wegen unserer
Ansätze gelobt hat. Daher glaube ich, dass es eine Gesprächsbasis quer durch dieses Parlament gibt.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Lambrecht.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr van
Essen, ich kann Ihnen unsere Gesprächsbereitschaft
schon vorab zusagen. Sie können sich auf uns verlassen.
Wir werden im Geschäftsordnungsausschuss als wahrscheinlich federführendem Ausschuss den einen oder anderen Punkt sicherlich näher beleuchten.
Seit dem Fall der Mauer gab es Schritt für Schritt auch
außerhalb der Grenzen Deutschlands Einsätze der Bundeswehr, so den Einsatz von Sanitätern in Kambodscha,
um UNO-Soldaten zu betreuen. Dazu gehört auch der
Einsatz von 1992 bis 1996 in der Adria, um das Waffenembargo durchzusetzen und zu überwachen. Von 1993 bis
1995 beteiligten sich Bundeswehrsoldaten an der NATOAktion zur Überwachung des Flugverbots über Bosnien.
Deutsche Soldaten waren im humanitären Einsatz in Somalia. 4 000 Soldaten beteiligten sich am IFOR-Einsatz in
Bosnien zur Sicherung des Dayton-Abkommens. Wieder
Jahre später nahmen deutsche Tornadokampfflugzeuge an
einem begrenzten Luftkrieg der NATO gegen Jugoslawien
teil. Bundeswehrsoldaten sind zur Unterstützung einer
Friedenstruppe im Kosovo und in Mazedonien. Schließlich
beteiligen sich bewaffnete deutsche Streitkräfte auch am
Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan. Morgen
werden wir hier im Deutschen Bundestag namentlich über
die Fortsetzung dieses Einsatzes in Afghanistan abstimmen.
Natürlich beruhte die Entsendung all dieser deutschen
Kontingente stets auf Beschlüssen des Bundestages. Dies
muss man ganz deutlich sagen. Der Parlamentsvorbehalt für den militärischen Einsatz von Streitkräften entspricht seit 1918 Verfassungstradition. So sollte es - da
kann ich Ihnen nur zustimmen - auch in Zukunft bleiben.
({0})
Auch wenn vielen von uns die Entscheidung über den
Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland sehr schwer
fällt, möchte ich gerade dafür plädieren, dass diese tief
greifenden Entscheidungen auch in Zukunft dem Bundestag vorbehalten bleiben. Diesen Parlamentsvorbehalt hat das Bundesverfassungsgericht in dem viel zitierten Urteil aus dem Jahr 1994 ausdrücklich bekräftigt und
wir wollen nicht davon abrücken.
Jetzt stellt sich die Frage: Wie ist momentan die verfassungsrechtliche Ausgangslage? Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil aus dem Jahr 1994 entschieden,
dass für den Fall eines Einsatzes bewaffneter Streitkräfte
im Einklang mit der deutschen Verfassungstradition seit
1918 grundsätzlich im Voraus die Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen ist. Das ist der konstitutive
Gesetzesvorbehalt. Das Zustimmungserfordernis gilt nach
Ansicht des Gerichts jeweils für den konkreten Bündnisfall, unabhängig von der Zustimmung des Parlaments zur
abstrakt-generellen Beistandsverpflichtung. Ich führe es
etwas ausführlicher aus, denn wenn wir darüber reden,
müssen wir wissen, welche Lage wir vorfinden und was
wir regeln wollen.
Das Handeln der Bundesregierung auf dem Gebiet der
auswärtigen Verteidigung muss durchgehend und zu
Recht von einer parlamentarischen Kontrolle begleitet
werden. Einzig bei Gefahr im Verzug ist die Bundesregierung berechtigt, den Einsatz von Streitkräften vorläufig zu beschließen und an entsprechenden Beschlüssen
in den Bündnissen und in internationalen Organisationen
ohne vorherige Einzelermächtigung durch das Parlament
mitzuwirken und diese vorläufig zu vollziehen. Die Bundesregierung muss jedoch auch in diesen Fällen das Parlament umgehend mit dem so beschlossenen Einsatz
befassen. Bei dieser besonderen Fallgestaltung wären die
Streitkräfte zurückzurufen, wenn der Bundestag es verlangt. Im Übrigen hat der Bundestag über die Einsätze
bewaffneter Streitkräfte nach Maßgabe des Art. 42 Abs. 2
Grundgesetz, also mit Mehrheit, zu entscheiden.
Dieser Zustimmungsvorbehalt verleiht dem Bundestag
allerdings keine Initiativbefugnis. Auch darüber sind wir
uns einig. Das heißt, der Bundestag kann lediglich einem
von der Bundesregierung beabsichtigten Einsatz seine
Zustimmung versagen oder ihn, wenn er ausnahmsweise
ohne seine Zustimmung schon begonnen hat, also bei Gefahr im Verzug, unterbinden. Er kann aber nicht die Regierung zu solch einem Einsatz der Streitkräfte verpflichten. Auch darüber müssten wir sprechen.
Die Frage des Rückholrechts während eines laufenden
und vom Bundestag bereits gebilligten Streitkräfteeinsatzes ist, das muss ich zugeben, nicht abschließend geklärt.
Auch darüber sollten wir uns Gedanken machen.
({1})
- Es kommt darauf an, wen Sie als herrschend ansehen.
Der verfassungsrechtlich geforderte Parlamentsvorbehalt gilt also ungeachtet näherer gesetzlicher Ausgestaltung unmittelbar kraft Verfassung. Bundesregierung und
Bundestag haben natürlich die Möglichkeit, ein Gesetz zu
erlassen, das eine förmliche parlamentarische Beteiligung
an der Entscheidung über militärische Einsätze näher ausgestalten kann. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wenn wir schon unsere Rechte und Pflichten näher defi634
niert wissen wollen, dann sollten wir dieses Anliegen gerade nicht an die Bundesregierung delegieren, sondern es
selbst übernehmen, falls möglich, mit einem interfraktionellen Antrag.
({2})
Damit hätten wir natürlich auch eine Grundlage, auf der wir
alle stehen könnten, und es wäre ein noch besseres
Signal der Rechtssicherheit an die Soldatinnen und Soldaten. Über den Regelungsbedarf wäre dann im federführenden Ausschuss, vermutlich also im Geschäftsordnungsausschuss, zu beraten und zu beschließen, woran wir uns gern
konstruktiv beteiligen. Das habe ich Ihnen schon zugesagt.
Inhaltlich habe ich bei einigen Punkten Ihres Antrags
allerdings Bedenken.
({3})
Er erscheint mir nicht ganz ausgereift. So bedarf meiner
Meinung nach die Frage, ob die Delegation parlamentarischer Befugnisse auf andere Gremien möglich und sinnvoll ist, einer gründlichen verfassungsrechtlichen Prüfung.
Die in Ihrem Antrag verlangte Kanzlermehrheit würde
eine Verfassungsänderung voraussetzen, denn nach dem
so genannten Adria-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hat der Bundestag über Einsätze nach Art. 42
Abs. 2 Grundgesetz zu entscheiden, das heißt mit der
Mehrheit der abgegebenen Stimmen, soweit dieses
Grundgesetz nichts anderes bestimmt. So ist es derzeit.
Wollten wir also die Kanzlermehrheit, müssten wir die
Verfassung ändern. Dann muss man sich fragen: Wollen
wir das wirklich? Müssen wir das wirklich? Oder verfolgt
man nicht vielleicht sogar den Zweck, Rot-Grün das eine
oder andere Mal vermeintlich vorführen zu können, wenn
wir diese Kanzlermehrheit nicht zustande bringen? Ich
kann Ihnen aber versichern: Wir von Rot-Grün stehen hinter unserer rot-grünen Regierung und werden die Kanzlermehrheit auch morgen früh wieder zustande bringen.
Zum Schluss möchte ich sagen: Wir stehen nicht nur
hinter unserer rot-grünen Bundesregierung, sondern vor
allem auch hinter unseren Soldatinnen und Soldaten im
Ausland,
({4})
die auch ohne ein solches Gesetz derzeit keine Rechtsunsicherheit befürchten müssen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Kossendey.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zuerst herzlichen Dank, Frau Kollegin Lambrecht, dass
Sie Gesprächsbereitschaft signalisiert haben. Ich glaube,
das ist eine ganz wichtige Sache, die wir in den letzten
Jahren bei vielen Fragen nicht immer erlebt haben.
({0})
Für uns ist wichtig, dass das, was der Kollege van
Essen eingangs seiner Rede gesagt hat, auch in Zukunft
Bestand hat: Die Bundeswehr ist seit ihrem Bestehen eine
Parlamentsarmee, das heißt, dass jeder von uns Verantwortung für den Einsatz der Soldatinnen und Soldaten
trägt, egal ob er gerade in der Opposition ist oder vielleicht morgen in der Regierung sein wird. Das war in der
Vergangenheit so und das soll auch in Zukunft so bleiben.
Die Frage ist nur, wie und auf welche Weise wir diese Verantwortung wahrnehmen. Das Spektrum der Wahrnehmung der Verantwortung ist ja ziemlich groß: Die einen
im Parlament fühlen sich als Ersatzfeldherr, während die
anderen ungefragt ihre Verantwortung bei der Regierung
abgeben möchten. Ich glaube, dass es unsere Aufgabe ist,
zwischen diesen beiden Positionen einen vernünftigen
Weg zu finden.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns dazu einiges
aufgetragen. Ich möchte das für diejenigen Kolleginnen
und Kollegen, die die einschlägigen Bundesverfassungsgerichtsurteile nicht ständig im Kopf haben, noch einmal
deutlich machen. Das Bundesverfassungsgericht hat in
seiner Entscheidung von 1994 festgestellt:
Es ist Sache des Gesetzgebers, die Form und das
Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung näher
auszugestalten. Je nach dem Anlass und den Rahmenbedingungen des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte sind unterschiedliche Formen der Mitwirkung
- des Parlaments denkbar. Insbesondere im Hinblick auf unterschiedliche Arten der Einsätze, vor allem bei solchen, die
keinen Aufschub dulden oder erkennbar von geringer
Bedeutung sind, empfiehlt es sich, den Zeitpunkt und
die Intensität der Kontrolle des Parlaments näher zu
umgrenzen.
Ich glaube, man wird im Großen und Ganzen sagen können, dass sich das, was wir in der Vergangenheit praktiziert haben, bewährt hat. Wir schicken seit zehn Jahren
- davon vier Jahre unter Rot-Grün - Soldatinnen und Soldaten in internationale Einsätze. Man kann sagen, dass die
Regelungen, die wir im Parlament aufgrund des Bundesverfassungsgerichtsurteils vereinbart haben, uns selten gehindert haben, Soldaten in Einsätze zu schicken.
Man muss allerdings auch feststellen, dass es Schwachstellen gibt. Kollege van Essen hat einige aufgezeigt. Ich
möchte das gerne ergänzen, damit wir Stoff für die Gespräche haben, die Frau Lambrecht angekündigt hat. Der
Beirat für innere Führung hat gerade im letzten Jahr ein
Gutachten herausgegeben - es ist dem Verteidigungsausschuss zur Verfügung gestellt worden -, in dem er sehr
deutlich festgestellt hat, dass eines der Hauptprobleme
darin besteht, die Soldaten möglichst früh und genau über
Art, Zeitraum und Auftrag ihres Einsatzes zu informieren.
Genau das ist eines der wichtigen Probleme, die wir Parlamentarier haben: Die Vorgesetzten der Soldaten, der
Minister, die Hardthöhe, können erst dann präzise informieren, wenn das Parlament einen entsprechenden Beschluss gefasst hat; denn vorher sind ihnen ja die Hände
gebunden. Wir selbst sind also die Hauptursache für dieses Dilemma; denn ohne dass wir über einen Auslandseinsatz endgültig entschieden haben, können in der
Truppe weder vorbereitende Aktivitäten entfaltet werden
noch Informationen mitgeteilt werden.
Wir haben uns allerdings in den letzten Jahren zunehmend daran gewöhnt, dass dieser zeitliche Ablauf, den das
Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, durch die
Praxis der Regierung und des Parlamentes zugunsten einer effektiven Einsatzmöglichkeit unserer Soldaten stillschweigend unterlaufen wird. Es gibt aber auch gegenteilige Beispiele. Ich erinnere an den Einsatz unserer
Soldaten in Mazedonien. Damals haben wir im Parlament
- ich formuliere das vorsichtig - so lange diskutiert bzw.
hatte sich der Entscheidungsgang zwischen Exekutive
und Regierung bzw. Parlament so verlangsamt, dass unsere Soldaten, als sie in Mazedonien eintrafen, feststellen
mussten, dass ein Großteil der Waffen, die sie eigentlich
einsammeln sollten, schon von den NATO-Partnern eingesammelt worden waren. Das kann eigentlich nicht im
Interesse der Bündnisfähigkeit unseres Landes sein.
Lassen Sie mich noch das Beispiel ergänzen, das der
Kollege van Essen genannt hat. Als unsere Luftlandebrigade 31 in Kabul tätig war, gab es just zu dieser Zeit
ein dramatisches Erdbeben in Afghanistan. Unsere Soldaten sind dann, ohne auf ihr Mandat zu achten, weit nach
Afghanistan hineingefahren, um den dort lebenden Menschen zu helfen. Das haben wir alle begrüßt. Aber wir haben auch stillschweigend hingenommen, dass das jenseits
der Grenzen des Mandates war. Was wäre wohl passiert,
wenn ein Wagen auf dem Weg dorthin auf eine Mine gefahren wäre? Was wäre wohl passiert, wenn ein Wagen
das Zielobjekt von Taliban geworden wäre? Das hat General von Butler auf seine eigene Kappe genommen. Ich
weiß nicht, ob wir alle bereit gewesen wären, diesen
außermandatsmäßigen Einsatz hier zu billigen.
Ich will nun einen weiteren Punkt nennen, einen Punkt,
der meiner Meinung nach zu wenig beachtet worden ist.
Die Bundeswehr wird, wie das in der Vergangenheit der
Fall war, ihre internationalen Einsätze auch in Zukunft
nur im Rahmen der Vereinten Nationen, der OSZE, der
NATO oder künftig auch der EU oder von anderen Koalitionen durchführen. Das heißt, wir werden mit unseren
Soldaten in internationale Verflechtungen eingebunden
werden, aus denen wir uns nur sehr schwer herauslösen
können, wenn wir im Bundestag eine andere Entscheidung treffen sollten. Diese internationale Verflechtung
unserer Soldaten muss bei den Entscheidungsverfahren
vielmehr berücksichtigt werden. Gerade jetzt bei der zur
Diskussion stehenden NATO-Response-Force wird das
wichtig sein. Minister Fischer hat heute Morgen zwar gesagt, dass erst der NATO-Rat und darauf folgend das Parlament beschließen müssen und dass erst dann unsere Soldaten in den Einsatz gehen könnten. Ich glaube, er irrt
hier; der reale Ablauf dieser Dinge sieht anders aus. Ein
solcher Fall wird wesentlich schneller und intensiver auf
uns zukommen, als wir ihn im Augenblick mit unseren
schwerfälligen Verfahren bewältigen könnten.
Wir werden schnell in ein Dilemma geraten. Sollte
nämlich eines Tages der NATO-Rat oder ein Gremium der
EU beschließen, ein Verband der EU oder der NATO
werde in einem bestimmten Gebiet eingesetzt, und unser
Vertreter in diesem Gremium hat zugestimmt, dann stehen
wir vor einer Situation, die wir alle uns nicht wünschen:
Entweder wir lassen den Vertreter mit seinem Ja im Regen stehen oder wir müssen einen Entschluss fassen, den
wir vielleicht nicht fassen wollen. Solch eine Entscheidung kann sich kein Abgeordneter wünschen, in eine Situation gebracht zu werden, in der er nur mit Nein stimmen kann und damit einen außenpolitisch großen
Schaden für unser Land hinnehmen muss.
Noch schwieriger wird die Lage, wenn unsere Soldaten in internationalen Verbänden bestimmte Aufgaben
wahrnehmen, die von anderen nicht wahrgenommen werden können. Dann kann am Veto des Bundestages unter
Umständen ein internationaler Einsatz scheitern. Ich
glaube nicht, dass das die Bündnisfähigkeit und die Koalitionsfähigkeit unseres Landes stärken würde.
Es gibt also viele gute Gründe, den Antrag der Freien Demokraten in den zuständigen Ausschüssen ausführlich und
ernsthaft zu beraten. Wir sollten das ohne parteipolitische
Schranken tun. Ich bin dankbar dafür, dass sich sowohl der
Verteidigungsminister vor einiger Zeit sehr positiv zu diesem Antrag geäußert hat als auch in der Vergangenheit mancher sozialdemokratische Abgeordnete. Kollege Zumkley
zum Beispiel hat darüber im letzten Jahr intensive Überlegungen angestellt. Frau Lambrecht, herzlichen Dank dafür,
dass Sie das so ausführlich dargestellt haben.
Für unsere Soldaten im Einsatz wäre es sehr schwer
verständlich, wenn vernünftige Regelungen dieser Einsätze, die wir zu breiten Teilen in diesem Parlament wünschen, nur deswegen nicht zustande kämen, weil die Grünen in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt haben,
dass dieses Thema nicht auf die Tagesordnung kommt. Ich
glaube, das darf nicht sein. Deswegen möchte ich abschließend feststellen: Keinem Parlamentarier würde
durch eine Änderung der Verfahren irgendein Recht genommen werden. Es müssen aber Möglichkeiten gefunden werden, unter Beachtung der Grenzen des Urteils des
Bundesverfassungsgerichts von 1994 sowohl den außenpolitischen Interessen unseres Landes als auch den ganz
konkreten Sicherheitsinteressen unserer Soldatinnen und
Soldaten gerecht zu werden. Wenn dies das Ergebnis dieses Gespräches sein sollte, dann, glaube ich, können unsere Soldaten auf dieses Parlament stolz sein. Das wäre
ein gutes Ziel.
Schönen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried Nachtwei.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auslandseinsätze der Bundeswehr sind kein Mittel der
Politik wie viele andere, sie sind in der Regel besonders
teuer, sie sind riskant und deshalb auch besonders begründungsbedürftig. Auch wenn es für uns immer um
multilaterale Einsätze geht, so ist zugleich klar, dass die
Entscheidung über eine deutsche Beteiligung an multilateralen Maßnahmen zur Krisenbewältigung nicht in
New York, nicht in Washington und nicht in Brüssel fällt.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom
12. Juli 1994 klargestellt, dass diese Verantwortung nicht
allein der Bundesregierung überlassen werden darf. Es
ist vielmehr der Deutsche Bundestag, der konstitutiv
über den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zu
entscheiden hat.
({0})
Die parlamentarische Entscheidungshoheit über den
Einsatz der Streitkräfte ist eine fundamentale demokratische Errungenschaft. Der konstitutive Parlamentsvorbehalt ist nicht nur verfassungsrechtlich vorgeschrieben,
sondern auch politisch überaus sinnvoll.
({1})
Er gewährleistete bisher eine besonders intensive parlamentarische Beratung und trug, so meine ich, immer zu
einer verantwortlichen Entscheidungsfindung und breiten
Konsensbildung im Parlament und in der Gesellschaft bei.
({2})
Der Parlamentsvorbehalt ist zugleich Eckstein der militärpolitischen Zurückhaltung der Bundesrepublik, der
sich, so glaube ich, weiterhin alle Fraktionen verpflichtet
fühlen.
Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von
1994 haben wir umfassende Erfahrungen mit den verschiedensten Arten von Auslandseinsätzen der Bundeswehr gemacht. Man kann wirklich sagen: Keiner war dem
anderen gleich. Dabei ergaben sich zugleich bestimmte
Anforderungen. Die wichtigste Anforderung an die Rechtmäßigkeit von Auslandseinsätzen ist selbstverständlich
ihre völkerrechtliche Legalität. Diese war bei der Beteiligung der Bundesrepublik an den NATO-Luftangriffen
auf die Bundesrepublik Jugoslawien strittig. Es bestand
und besteht in diesem Haus aber auch ein breiter Konsens
darüber, dass das Übel der Nichtmandatierung durch den
VN-Sicherheitsrat nicht als Präzedenzfall, sondern als
Ausnahme in einem Wertekonflikt und bei Bestehen einer
völkerrechtlichen Regelungslücke verstanden werden
muss.
({3})
Die Bundesregierung hat bewiesen, dass sie eine eindeutige völkerrechtliche Legitimation seitdem immer zur
Voraussetzung für Auslandseinsätze macht. Deshalb hat
sie auch immer eine Mandatierung durch den VN-Sicherheitsrat angestrebt.
Neue Fragen ergeben sich allerdings bei der militärischen Bekämpfung des Terrorismus. Mit den einschlägigen Resolutionen, mit denen er das naturgegebene
Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung bekräftigte, gab der UN-Sicherheitsrat eine Art
Einstiegslegitimation. Immer deutlicher stellt sich aber
die Frage nach den Grenzen dieses Selbstverteidigungsrechts. Wenn zum Beispiel das Recht beansprucht wird,
zu jeder Zeit und an jedem Ort gegebenenfalls mit
Präemptionsangriffen gegen die terroristische Bedrohung
vorzugehen, wird das völkerrechtliche Gewaltverbot der
UN-Charta unterhöhlt und seine Beachtung de facto in
das Belieben der Stärksten gestellt.
Laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts liegt ein
Einsatz bewaffneter Streitkräfte dann vor, wenn Bundeswehrsoldaten in - Zitat - „bewaffnete Auseinandersetzungen einbezogen werden können“. Beobachtermissionen, wie zum Beispiel in Georgien, oder unbewaffnete
Hilfseinsätze, wie vor einiger Zeit bei der Flutkatastrophe
in Mosambik, fallen eindeutig nicht darunter.
Abgrenzungsprobleme gibt es aber in der Tat bei
Hilfseinsätzen mit Selbstschutzkomponente - Herr van
Essen hat den Fall Afghanistan angesprochen - sowie bei
bewaffneten Erkundungs- und Vorauskommandos.
({4})
In dem Bereich der vorbereitenden Maßnahmen und vor
allem dann, wenn bewaffnete Streitkräfte sehr schnell entsandt werden sollen, gibt es sicherlich Klärungsbedarf.
Das wird zurzeit vor allem im Kontext des US-Vorschlags
einer NATO-Response-Force diskutiert. Bei der Klärung
dieser Fragen ist allerdings zweierlei zu berücksichtigen:
Erstens darf der konstitutiven Befassung des Bundestages nicht vorgegriffen werden; sie darf nicht präjudiziert
werden.
Zweitens sind die Erfahrungen mit VN-Friedensmissionen zu bedenken, wonach eine zügige Einsatzbereitschaft der nationalen Kontingente und dabei - das sage
ich ausdrücklich und ich betone es - der militärischen, polizeilichen und zivilen Komponenten entscheidend für
ihre Wirksamkeit ist.
Die aktuelle Diskussion um die Schnellst-Einsatzbereitschaft einer NATO-Response-Force und die Anführung angeblicher Probleme, die sich aufgrund der bisherigen Parlamentsbeteiligung ergeben hätten, scheinen
mir allerdings weitgehend an der Sache vorbeizugehen. In
Not- und Rettungseinsätzen ist in der Tat eine Entsendung
in kürzester Zeit notwendig. Wenn es auch keine ganz
klare Regelung gibt, so gibt es doch zumindest eine gewisse abgesicherte Praxis. Bei allen anderen umfassenden
Kriseneinsätzen sind das Vorliegen einer politischen Konzeption, die Abstimmung unter Partnern und die Flankierung durch nicht militärische Fähigkeiten unverzichtbar.
Das braucht selbstverständlich eine gewisse Zeit. Ich
meine, diese Zeit reicht allemal auch für eine fundierte
Beteiligung des Bundestags.
Die Streitkräfte und das Regierungshandeln in militärischen Fragen unterliegen immer einer besonderen
parlamentarischen Kontrolle durch den Verteidigungsausschuss, den Wehrbeauftragten und aufgrund des Budgetrechts des Parlaments. Der Einsatz von Spezialkräften
erfordert eine besondere Geheimhaltung. Spezialsoldaten
agieren praktisch immer verdeckt und auch in so genannten unkonventionellen Einsätzen, bei denen sich die Frage
stellen kann, wie dabei die Regeln des Kriegsvölkerrechts
eingehalten werden können.
In der vorigen Legislaturperiode war meiner Erfahrung
nach eine parlamentarische Kontrolle von Spezialeinsätzen de facto nicht gewährleistet.
({5})
In der Koalitionsvereinbarung ist deshalb ausdrücklich
festgehalten worden, dass die parlamentarische Kontrolle
von Spezialeinsätzen gewährleistet werden muss. Nach
meiner bisherigen Erfahrung in dieser Legislaturperiode
erfolgt die Unterrichtung des Parlaments über die Obleute
ordnungsgemäß. Nichtsdestoweniger meine ich, dass wir
weiter darüber diskutieren sollten, ob in diesem Zusammenhang nicht doch eine der Geheimdienstkontrolle vergleichbare Einrichtung des Parlaments angebracht wäre.
Zur politischen Kontrolle der Auslandseinsätze gehört
auch ihre regelmäßige politische Bewertung. Hierzu
wurden vor allem im Rahmen von Enduring Freedom erhebliche Fortschritte gemacht. Durch Vorlage eines zweiten bilanzierenden Gesamtberichts der Bundesregierung
zur deutschen Beteiligung an Enduring Freedom ist das
Parlament nun in ganz anderer Weise in der Lage, zu beurteilen, wie wirksam dieser Einsatz tatsächlich war.
Angesichts dieser Debatte meine ich, dass wir mit der
Klärung der heute angesprochenen und zum Teil noch offenen Fragen gut vorankommen können.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Schockenhoff.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sind uns offensichtlich über alle Fraktionen des Hauses hinweg darüber einig, dass in bestimmten Fragen Regelungsbedarf besteht. Ich gehe davon aus, dass wir diese
Fragen auch ziemlich ähnlich bewerten. Deswegen begrüße ich die Initiative der FDP-Fraktion und bin nach
dem bisherigen Verlauf der Debatte der Überzeugung,
dass wir zu einvernehmlichen Regelungen kommen werden.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts legt eindeutig fest, wer konstitutiv über Einsätze zu entscheiden hat,
wer das Initiativrecht hat und wer die Umstände der
Einsätze bestimmt. In dem Antrag wird zu Recht darauf
verwiesen, dass im Urteil des Bundesverfassungsgerichts
und seiner Begründung die Frage offen bleibt, was unter
dem Einsatz bewaffneter Streitkräfte zu verstehen ist.
Ich meine aber, dass das Bundesverfassungsgericht die
genaue Definition oder Kategorisierung von Einsätzen
nicht aus Nachlässigkeit unterlassen hat, Herr van Essen,
sondern dass es aus gutem Grund so gehandelt hat, weil
sich nämlich alle Einsätze voneinander unterscheiden.
Der Kollege Kossendey hat darauf hingewiesen, dass
wir seit mehr als zehn Jahren Erfahrungen mit der parlamentarischen Befassung mit diesem Thema gesammelt
haben. Aber bisher unterschied sich jeder einzelne Einsatz
in seinem Charakter, seinen Risiken und auch hinsichtlich
der jeweiligen Umstände von den anderen Einsätzen.
Deswegen stehe ich der in dem Antrag enthaltenen Forderung, in einem Gesetzentwurf zu definieren, was unter
dem Begriff „Einsatz bewaffneter Streitkräfte“ zu verstehen ist, skeptisch gegenüber.
Sie haben eine Unterscheidung zwischen zwölf Sonderfällen einschließlich des Einsatzes regulärer Streitkräfte vorgeschlagen, die noch erweitert werden kann.
Aber gerade das von Ihnen, Herr van Essen, genannte Beispiel der Bundeswehr-Mission in Afghanistan, die plötzlich zur Erdbebenhilfe herangezogen wurde, zeigt, dass
diese Einsätze im Zweifelsfall in keine bestimmte Kategorie hineinpassen. Dies kann auch dann eintreten, wenn
wir einen relativ langen Katalog von bestimmten standardisierten Einsatzmöglichkeiten vorsehen. Wenn die Einsatzmöglichkeiten zu genau definiert sind und der Fall
eintritt, dass sich der Charakter oder die Umstände des
Mandats oder die Situation, in der dieser Einsatz stattfindet, verändern: Muss sich dann der Bundestag damit erneut befassen? Kommen wir dann nicht eher in Schwierigkeiten?
Völlig zu Recht heißt es in dem Antrag, dass wir vor allem bei der Planung und Vorbereitung auch den zeitlichen
Ablauf der Beratungen optimieren müssen. Das ist sicherlich richtig. Dies gilt auch für Erkundungsmissionen.
Wir werden morgen über die Verlängerung von Enduring
Freedom diskutieren und abstimmen. Herr Nachtwei, Sie
haben völlig Recht: Dazu gehört auch eine politische Bewertung, die wir für jedes Mandat und auch für eine Mandatsverlängerung öffentlich und damit im Plenum vornehmen müssen.
Als wir vor einem Jahr Enduring Freedom beraten und
beschlossen haben, waren zur selben Zeit Soldaten schon
in Kuwait, um sich vor Ort sachkundig zu machen. Aber
sie waren dort nicht in Uniform, sondern in Zivil. Sie haben deshalb zu manchen Informationen und zu manchen
Stellen in Kuwait überhaupt keinen Zugang gehabt. Das
war ineffektiv und im Grunde genommen für die Soldaten
unwürdig. Deshalb spricht vieles dafür, der Bundesregierung für eine Erkundungsmission zur Vorbereitung und
Planung eines Einsatzes mehr Spielraum zu lassen oder
sie nach Vorliegen eines Kabinettsbeschlusses schon vor
der Befassung der Gremien oder des gesamten Parlamentes handlungsfähiger zu machen.
({0})
- Gerade deswegen, Herr van Essen, glaube ich nicht,
dass wir einen Einsatz genau definieren und in bestimmte
Schubladen einsortieren können, weil im Zweifelsfall
keine Schublade passt.
Auf jeden Fall muss eine Wehrpflichtarmee immer eine
Parlamentsarmee bleiben. Aus diese Grunde ist schon zu
Recht gesagt worden, dass die Information und die Beschlussfassung des Bundestages nur dann in einem Geheimgremium stattfinden sollten, wenn dies aus Sicher638
heitsgründen unabdingbar ist. Dies darf aber nicht die Regel werden.
({1})
Wir dürfen jedenfalls nicht sagen: Eine Behandlung
in einem Gremium ist manchmal weniger mühsam und
von der Geschäftsordnung einfacher zu handhaben. Dies
gilt ebenso für Zeiten, in denen es mit der parlamentarischen Planung nur schwer in Einklang zu bringen ist,
oder auch dann, wenn wir uns an Feiertagen zu Hause
aufhalten und nicht im Plenum sind. - Zu diesen Argumenten sage ich: Jeder Einsatz ist gefährlich und setzt
die Soldaten Risiken aus. Deswegen muss jeder Einsatz
- ich komme noch einmal auf Sie zurück, Herr Nachtwei -,
wenn er nicht unabdingbar in einem Geheimgremium
beraten werden muss, öffentlich bewertet und begründet
werden. Daher muss die Behandlung im Plenum die Regel bleiben. Wir müssen die Verbesserungen, die der
Regierung mehr Handlungsspielraum geben, und auch
solche, die uns in die Lage versetzen, dies in der Geschäftsordnung leichter handhabbar zu machen, miteinander verbinden.
Dazu ist die Initiative geeignet. Dafür finden wir über
die Fraktionen hinweg bestimmt gute Regeln.
Danke.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Merten.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege van Essen, es ist ganz unzweifelhaft, dass
unsere Soldaten bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr einen Anspruch auf Rechtssicherheit haben. Aber es
ist auch unzweifelhaft, dass diesem Anspruch bereits
jetzt, wie ich finde, gründlich Rechnung getragen wird.
({0})
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
12. Juli 1994 ist klar, dass die Bundesregierung vor einer
deutschen Beteiligung an einem bewaffneten Einsatz die
Zustimmung des Deutschen Bundestags einholen muss.
Das ist auch die Praxis, die wir nun schon viele Jahre
üben.
Entscheidend dabei ist, dass sich durch die Notwendigkeit der konstitutiven Zustimmung die Regierung und
das gesamte Parlament gleichermaßen für die Bundeswehr verantwortlich fühlen. Die Bundeswehr - das betone
ich - darf niemals zum Werkzeug einer Regierungsmehrheit, gleich welcher Couleur, werden.
({1})
Heute unterstützen deutsche Soldaten eine Friedenstruppe im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina. Im
Mazedonien-Einsatz hat sich die Bundeswehr hohe Anerkennung im In- und Ausland erworben. Im Rahmen der
UN-Friedensmission haben sich unsere Streitkräfte als
wesentliche Stütze der Strategie von Stabilisierung und
Friedenssicherung in Afghanistan erwiesen. Ohne diese
engagierte Arbeit wäre der Friedensprozess so nicht möglich gewesen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich auf
Folgendes hinweisen: Der Deutsche Bundestag hat in
der 14. Wahlperiode 17-mal über Auslandseinsätze abgestimmt. Bis zum Jahresende wird sich das Parlament in
dieser neuen Legislaturperiode viermal mit Auslandseinsätzen befasst haben. Schon morgen früh stimmen wir
namentlich über die Fortsetzung unserer Beteiligung an
Enduring Freedom ab. Über die zeitliche Nähe der Einbringung Ihres Antrags und der Mandatsverlängerung bin
ich - das sage ich ganz deutlich - ein bisschen unglücklich. Wir sollten jeden Eindruck vermeiden, dass es einen
unmittelbaren Zusammenhang gibt und das Parlament in
seinen Rechten beschnitten werden soll.
Gleichwohl sollten wir Gelegenheit nehmen, uns auch
die Zeit nehmen, über die Empfehlung aus dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts nachzudenken. Ich brauche
das jetzt nicht noch einmal zu zitieren; Sie haben das
schon an verschiedenen Stellen getan. Ich will aber noch
einmal hervorheben, dass das Verfassungsgericht uns die
Gestaltung überlassen hat. Es hat dafür weder ein zwingendes Gebot aufgestellt noch eine Frist gesetzt. Insofern
gibt es keinen unmittelbaren Entscheidungsdruck.
Heute, nach mehr als zehn Jahren Einsatzerfahrung
und auch vor dem Hintergrund der sehr praktischen Erfahrungen, die unsere Soldaten in der Vorbereitung von
Mandaten machen, ist es meines Erachtens angezeigt, darüber nachzudenken - das ist auch schon an vielen Stellen
gesagt worden -, welche tatsächlichen Probleme sich zwischen Bundestag und Bundesregierung bei konkreten
Einsätzen bewaffneter Streitkräfte ergeben haben. Zu
welchem Schluss wir auch immer kommen: Grundlage
bleibt unsere Verfassung. Daran hätte sich auch ein Parlamentsbeteiligungsgesetz unter allen Umständen zu orientieren. Das ist wichtig zu wissen, auch für diejenigen,
die erst jetzt in die Debatte einsteigen und die glauben,
hiermit solle das Parlament möglicherweise wichtiger
Rechte enthoben werden.
({3})
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die bisher
allenfalls kurz angedachten, keineswegs aber ausführlich
diskutierten Fragen von großer Komplexität sind. Sie bedürfen meines Erachtens zunächst einer intensiven juristischen und politischen Analyse. Dabei ist umfassend zu
untersuchen, welche offenen Fragen tatsächlich bestehen,
ob zwingend etwas neu geregelt werden muss und wie
dies sachgerecht geschehen könnte. Wenn wir zu einer
Änderung kommen, dann sollte es unser gemeinsames
Ziel sein, die Rechtslage so zu gestalten, dass sie auch
über einen längeren Zeitraum Bestand hat.
({4})
Dies kann meiner Ansicht nach nur gelingen, wenn wir
uns über die offenen Fragen und über einen Lösungsweg
verständigen können. Dafür brauchen wir einen breiten
Konsens über die Fraktionsgrenzen hinweg. Der Antrag
der FDP kann als ein Beitrag zu der Debatte verstanden
werden, an deren Anfang wir erst stehen. Ich habe den
Eindruck, dass wir auf einem guten Wege sind.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Bei so viel Konsens neigt man fast dazu,
diesen Antrag noch heute Abend verabschieden zu wollen.
({0})
- Kollege van Essen, diese Reaktion wollte ich einfach
nur hören, damit Sie nicht auf die Idee kommen - Sie würden es nicht tun -, sich jetzt schon fälschlicherweise in
dem Gefühl einer sicheren Mehrheit zu wiegen. Wir haben festgestellt, dass dieser Punkt im Koalitionsvertrag,
den wir alle aufmerksam gelesen und archiviert haben,
nicht enthalten ist, obwohl wir das eigentlich erwartet haben. Da der Koalitionsvertrag in so vielen Punkten zwischenzeitlich schon überholt ist, ergibt sich hier vielleicht
die Möglichkeit, eine positive Entwicklung anzustoßen.
Vorneweg möchte ich Folgendes sagen: Ich bin schon
sehr dankbar dafür - das möchte ich unterstreichen -, dass
wir tatsächlich einen Konsens haben. Der Deutsche Bundestag hat im Vergleich zu den anderen Parlamenten
Europas, vielleicht sogar der Welt - ich sage das, obwohl
ich diesbezüglich keinen vollkommenen Überblick habe die stärkste Stellung, was die Zulassung der Beteiligung
der Streitkräfte des eigenen Landes an militärischen angeht. Die Tweede Kamer in den Niederlanden hat ein gewisses Entscheidungsrecht. Wir kennen aus den USA den
so genannten War Powers Act. Er ist im Wesentlichen ein
Rückholrecht bzw. Befristungsrecht. Er ist nicht gleichzusetzen mit dem Gebot der Zustimmung der Konstitutive, das unser Bundesverfassungsgericht in einer - sehr
lobenswerten - Entscheidung formuliert hat. Wenn man
ganz ehrlich ist, dann muss man einräumen: Das Verfassungsgericht hat dabei im Wege der Rechtsschöpfung gearbeitet.
Frau Kollegin, Sie haben auf das Zitat aus dem Jahre
1918 hingewiesen. Das, was da gesagt worden ist, ist
natürlich auch ein Teil der Rechtfertigung des Verfassungsgerichts gewesen, als es darum ging, eine in sich
schlüssige, kluge Entscheidung zu treffen. Mit dieser Entscheidung ist es dem Bundesverfassungsgericht gelungen, einen offensichtlichen Streit, den wir nun einmal hatten und der eigentlich nicht zielführend war, vernünftig zu
beenden. Sedes materiae ist nicht Art. 87 a des Grundgesetzes. Die Problematik des Einsatzes deutscher Streitkräfte im Ausland bleibt bestehen. Sedes materiae ist aber
auch nicht Art. 24 des Grundgesetzes. Die Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts ist aus der Verfassung heraus entwickelt worden. Sie knüpft an einer Rechtsvorstellung an, die ein starkes Parlament vorsieht. Das ist gut
und das ist richtig. Ich entsinne mich an die sehr kontroversen Debatten in der 12. Legislaturperiode vor der
AWACS-Entscheidung. Gemessen daran war diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ein wirklich
verfahrensbefriedendes Urteil, was wir bis heute merken.
Allerdings stellt sich doch die Frage, ob gerade in solchen dynamischen Prozessen, wie es Einsätze ihrer Natur
nach nun einmal sind, ein relativ statisches Verfahren wie
ein Zustimmungsverfahren - der Antrag räumt uns, den
Abgeordneten des Bundestages, nicht die Möglichkeit ein
zu gestalten; vielmehr können wir nur Ja oder Nein sagen;
wir können allenfalls über politischen Druck oder über
Protokollnotizen die eine oder andere Ergänzung erreichen - der Lösung der Probleme, denen wir gegenüberstehen, vollkommen gerecht wird.
Formal ist die Beteiligung gesichert. Diese Sicherheit
ist - das ist von den Kollegen mehrfach dargelegt worden - holprig. Das ist einer der Gründe, wieso wir sie in
der Tat „einschleifen“ müssen. Es ist zu klären, ob die
Bundeswehr an Vorauskontingenten oder an Vorgängen
teilnimmt, die in einem gewissen Rahmen stattfinden, der
nach dem Prinzip „minima non curat curia“ ablaufen. Es
muss nicht unbedingt sein, dass ein Parlament mit 603 Abgeordneten in einer Sondersitzung darüber bestimmt, dass
fünf oder sechs Soldaten der Bundeswehr in eine Position
gebracht werden, ob das ein Einsatz ist oder nicht. Ich
möchte mit dieser Bemerkung nur auf die Dimension
verweisen. Wir können und sollten in der Tat Verfahren
finden, die uns in solchen Fällen - in der vergangenen Legislaturperiode waren es 17; in dieser Legislaturperiode
werden es möglicherweise nicht weniger sein - zu einer
gewissen Flexibilität verhelfen. Das heißt nicht, dass wir
etwas von unseren Rechten abgeben.
Wir dürfen die Augen nicht davor verschließen, dass
die Rechtspraxis wieder an einem gewissen Punkt angelangt ist, der es nötig macht, für eine verfahrensmäßige
Regelung zu sorgen.
Die damalige Bundesregierung tendierte zu Beginn ihrer Regierungszeit klugerweise dazu, sehr detaillierte
Anträge zu stellen. Das hat uns dazu verführt, in den Ausschüssen nahezu militärstrategische Erwägungen zu diskutieren.
({1})
Kollege Karl Lamers hat damals - wir saßen einmal einen
Tag vor Weihnachten zusammen - im Auswärtigen Ausschuss davon gesprochen, dass es doch eigentlich unnötig
sei, wirklich jeden Feldspaten aufzuführen. Das ist nicht
der Weg, den wir gehen können. Wir sind nicht der Ersatzgeneralstab, sondern der Aufsichtsrat bezüglich Entsendungen der Bundesregierung. Deshalb sollte meiner
Meinung nach diese Form von Kontrolle auch eine gewisse Selbstbeschränkung beinhalten. Faktisch ist die
Selbstbeschränkung eigentlich über die gelobten Prinzipien hinaus im letzten Jahr durchgehalten worden. Morgen verfahren wir auch wieder so.
Wir hatten uns nicht nur darauf verständigt, sondern
auch das Urteil so interpretiert, dass ein Vorratsbeschluss
nicht möglich ist. Ich würde gern einmal eine Diskussion
darüber führen - das können wir bei diesem Thema im
Plenum nicht leisten, aber schon im Rahmen der Gesetzesberatungen -, ob nicht der Enduring-Freedom-Beschluss
eigentlich ein Vorratsbeschluss ist: über die halbe Welt
gültig, größtmöglicher Freiraum bei der Benennung von
Stärken und eine völlig im Allgemeinen gelassene Zielsetzung der Aktion. Angesichts dieser Charakterisierung
sind wir eigentlich bei einer Form von Vorratsbeschluss
angelangt. Ich sage ganz offen, dass so etwas natürlich
auch nicht befriedigt, denn das ruft nach dauerhafter Kontrolle. Da entsteht in der Tat das Bedürfnis nach ständiger
Information und der Möglichkeit ständiger Einflussnahme.
Diese ist aber nur über das Setzen von Fristen und immer
wieder erneuter Positionierung in der Frage möglich.
In der Praxis sind die Beschlüsse inzwischen mit einer
Jahresfrist versehen. Müssen wir aber nicht darüber
nachdenken, ob wir bei einem solchen Gesetz über das
reine Ja oder Nein hinaus nicht auch in grundsätzlichen
Fragen ein Gestaltungsrecht verlangen sollten, zwar nicht
in Details oder der Frage des Auftrags, aber schon in der
Frage der Befristung? Wir haben gehört, dass die Mandate
ursprünglich für sechs Monate galten, dann für ein Jahr
und dann wieder für sechs Monate. Das Parlament sollte
doch einmal von sich aus über die Frage des Rückholrechtes diskutieren.
Auf ein Problem, von dem ich hoffe, dass es Ihnen,
Herr Verteidigungsminister, und uns nie ins Haus steht,
möchte ich noch zu sprechen kommen, nämlich dass wir
Aufträge erteilen, aber das Budget für die Erfüllung dieser Aufträge nicht mehr ausreicht. Natürlich müssen der
Haushaltsausschuss und das Parlament zustimmen. Aber
wir müssen doch über die Frage diskutieren, ob nicht das
Budgetrecht - vom Kollegen Nachtwei zu Recht als Königsrecht des Parlaments bezeichnet - hier einen stärkeren Einfluss haben könnte oder sollte. Das ist nicht abschließend gemeint; vielmehr werden wir intensiv über
den Antrag der FDP diskutieren, der sehr lobenswert ist.
Dies möchte ich aber zu bedenken geben.
Ein letzter Gedanke: Die NATO-Response-Force, deren Gründung in Prag beschlossen werden soll und die ich
für sehr wichtig halte - wir haben an anderer Stelle darüber diskutiert -, wird ebenso wie eine ESVP-Truppe mit
konkretem Auftrag eine andere Qualität in das Thema
bringen, weil hier Einsatzstrukturen multilateral ausgelegt und noch weniger Einflussnahmen nationaler Parlamente möglich sein werden. Ich weiß nicht, wie der gegenwärtige Stand der Behandlung dieses Themas im
Europäischen Konvent ist. Ich hatte aber bei Gelegenheit
schon einmal die Kollegen, die uns da vertreten, darauf
hingewiesen, dass wir auch über diese Frage reden müssen. Im Entwurf eines europäischen Verfassungsvertrages
müssen - vielleicht unter Einschränkung gewisser Rechte
des Deutschen Bundestages - andere legislative Organe
mit einer Kontrollfunktion hinsichtlich der ESVP bedacht
werden.
({2})
Es gibt sehr viel zu tun. Ich habe nur einige wenige
Punkte genannt, über die wir reden sollten. Gott sei Dank
sind wir schon über Zustände früherer Zeiten hinaus: Ich
erinnere mich, wie ein Bundeskanzler vor einem Einsatz
- ich weiß nicht mehr, um welchen es ging - versuchte,
den damaligen Oppositionsführer Engholm in Afrika oder
Australien aufzuspüren, um seine Zustimmung einzuholen, was damals nicht gelungen ist. Die jetzige Opposition
ist immer hier in Berlin erreichbar. Wenn sie formal eingebunden wird, ist sie auch sehr gerne bereit, sachbezogen im Sinne unseres Landes und unserer Soldaten möglichst in Form von geregelten Verfahren diese Dinge im
Konsens zu beschließen.
({3})
Als letztem Redner in der Debatte erteile ich nun dem
Abgeordneten Christoph Zöpel das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einer ganz allgemeinen Einsicht beginnen. Zu dem, was mich an Hinweisen während
meiner jetzt langen administrativen wie parlamentarischen Tätigkeit besonders beeindruckt hat, gehörte der
Hinweis eines nordrhein-westfälischen Beamten kurz vor
seiner Pensionierung. Er war liberal-konservativ eingestellt und stark von Willi Weyer geprägt. Er hat mir einmal, als wir über ein Gesetz sprachen, gesagt: Herr Minister, wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen,
dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.
({0})
Diesen ersten Gedanken würde ich über diese Diskussion
stellen. Ist es notwendig, ein Gesetz zu machen?
({1})
Ich bin mir nicht sicher. Herr Kollege, ich bin bereit, mit
Ihnen darüber nachzudenken, aber ich bin noch nicht
überzeugt.
Der konstitutive Beschluss des Bundestages zu Einsätzen deutscher Soldaten im Ausland hat sich bewährt. Es
ist vielleicht das Schönste in dieser Debatte, dass die Redner aller Fraktionen dies gesagt haben. Er hat sich weit darüber hinaus insofern bewährt, als er im Verfahren des
Bundestages funktional ist. Er hat sich als ein Beitrag zur
Stabilisierung von Demokratie in Deutschland und zur
demokratischen Integration bewährt.
Der schwierige Prozess öffentlich wirksamer Debatten
hier im Hause darüber, was deutsche Soldaten - vor allem
Christian Schmidt ({2})
nach 1989, als wir wieder eine andere Handlungsfähigkeit
im globalen und internationalen Zusammenhang bekommen haben - im Ausland dürfen oder nicht, war wichtig
und unverzichtbar. So berechtigt es sein mag, sich heute
vorzuhalten, was der eine vor einigen Jahren gesagt oder
nicht gesagt hat, es gäbe ohne diesen intensiven Diskussionsprozess, der nur in Verbindung mit diesem konstitutiven Recht möglich war, heute nicht diese kritische und
erforderlichenfalls auch zustimmende Haltung der großen
Mehrheit der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland bei schwierigen Weltlagen.
({3})
Dass diese in Westdeutschland zurzeit etwas stärker ist als
in Ostdeutschland, ist völlig begreifbar. An solchen Stellen wird historisches Schicksal offenkundig, nämlich dass
der, der sich erst später in diesen demokratischen Diskurs
einschalten konnte, mehr Zeit braucht, um aufzuholen.
Der erwähnte Prozess war und bleibt notwendig als ein
Beitrag Deutschlands zur Diskussion innerhalb von und
zwischen Demokratien über die Funktion von Militäreinsätzen. Dass Deutschland besonders kritisch damit umgeht, bleibt historisch notwendig. Es gibt gar keinen Grund, nicht Stolz darauf zu sein, dass wir Deutschen
die Lehre aus den verbrecherischen Möglichkeiten, Soldaten in andere Länder zu schicken, gezogen haben und
jetzt auf der internationalen Bühne besonders kritisch damit umgehen. Insoweit ist es kein Zufall, sondern ein
Grund, berechtigt und dennoch wieder nachdenklich hinsichtlich der eigenen Geschichte den deutschen Parlamentsvorbehalt betreffend Soldateneinsätze international
zu verteidigen und auch zu erklären.
({4})
Wenn Deutschland hinsichtlich Krieg das nachdenklichste Land unter den Demokratien ist, dann ist das notwendig und gut. Für den Alltag finde ich es schön, wenn
der deutsche Vertreter im NATO-Rat bei den ersten Überlegungen über die NATO-Response-Force darauf hinweist, es gebe in Deutschland den Parlamentsvorbehalt
und an dem solle festgehalten werden. Ich halte das für einen Beitrag zur demokratischen Kultur innerhalb der internationalen Gemeinschaft.
({5})
Verschiedene Hinweise sind gegeben worden, worüber
im Einzelnen nachgedacht werden kann. Ich komme noch
darauf zurück.
An einer Stelle möchte ich Ihnen zwar nicht direkt widersprechen, Herr Kollege Kossendey, aber ich muss sagen, dass ich da nachdenklich geworden bin. Es geht um
Ihren Hinweis, die Art der internationalen Zusammenarbeit
in Fragen der Sicherheitspolitik müsse uns dazu veranlassen, zu überprüfen, wie ein solcher Parlamentsvorbehalt
zur Geltung gebracht werden kann. Die Frage ist berechtigt.
Ich will dazu sehr offen sagen: Die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik, in der Umweltpolitik, in der Wirtschaftspolitik und in
vielen anderen Bereichen ist unumstritten. Diese Zusammenarbeit ist notwendigerweise zunächst einmal eine Zusammenarbeit der Regierungen. Diese internationale
Zusammenarbeit beschränkt sich aber nicht auf die Zusammenarbeit von Regierungen, sondern sie wird in vielen Bereichen - das ist besonders kritisch im Bereich der
Sicherheitspolitik zu sehen - zunehmend zu einer Aufgabe sich verselbstständigender internationaler Bürokratien.
Ich will nicht von vornherein etwas gegen diejenigen
Institutionen sagen, die sich um die Sicherheit kümmern.
Aber wenn es richtig ist, dass die Frage von Krieg und
Frieden eine Schicksalsfrage ist, dann muss man sich fragen, ob hinsichtlich der Sicherheit der öffentliche Diskurs
und die parlamentarische Kontrolle reichen.
Solange wir in Europa - natürlich auch weltweit - noch
nicht darüber nachgedacht haben, wie eine parlamentarische Begleitung der von internationalen Institutionen verantworteten Politik möglich ist, sollten wir besonders an
unserem konstitutiven Recht festhalten und es geradezu
als Vehikel benutzen, zunächst in Europa und dann weltweit darüber zu diskutieren, wie mehr parlamentarische
Kontrolle gegenüber sich sonst verselbstständigenden internationalen Bürokratien organisiert werden kann. Diese
Frage stellt sich mir im Zusammenhang mit dem Punkt,
den Sie angesprochen haben.
({6})
Deswegen bin ich an dieser Stelle ganz besonders vorsichtig.
Die NATO-Response-Force ist aufgrund des Parlamentsvorbehalts ein Problem. In diesem Punkt gab es eine
gute Analyse und es wurden die richtigen Fragen gestellt.
Meine Antwort lautet: Gerade bei der NATO-ResponseForce sollten wir an dem Parlamentsvorbehalt festhalten
und mit allen Alliierten darüber sprechen, wie er auch woanders eingeführt werden kann.
Eine weitere Bemerkung. Der Umgang mit diesem
Recht des Parlaments ist nicht immer einfach. Das mag
von Regierung zu Regierung unterschiedlich sein, abhängig davon, von welchen Parteien sie gestützt werden. Ich
glaube aber, dass alle Regierungen große Mühe aufwenden mussten, entsprechende Beschlüsse zu erreichen. Ich
nehme da keine Regierung aus.
({7})
- Wenn man lange in diesem Bereich tätig ist, weiß man,
dass handwerkliche Fehler nie auszuschließen sind.
({8})
Wenn man zu viele handwerkliche Fehler macht, kann
man daran scheitern. Man kann aber auch scheitern, wenn
man sich nicht um eine ausreichende demokratische Legitimation bemüht.
({9})
Lassen Sie mich deshalb mehr an die Adresse meiner
Partei und an die des Koalitionspartners sagen: Es war
anstrengend in der letzten Legislaturperiode, für bestimmte Bundeswehreinsätze eine Zustimmung zu bekommen. Ich denke, Bundeskanzler Gerhard Schröder und
die Parlamentarischen Geschäftsführer waren manchmal
nachdenklich. Aber mein Eindruck ist: Diese Debatten haben sich gelohnt, weil sie die Demokratie stabilisiert haben
({10})
und die Legitimation außerhalb des Parlaments eingeholt
haben. Auf diese Leistung, die auch in Zukunft notwendig
ist, möchte ich nicht verzichten. Auch diesen Punkt sollte
man sehen.
Die Vorredner meiner Fraktion haben die Gesprächsbereitschaft signalisiert. Ich schließe mich dem an. Lassen
Sie mich deshalb aus meiner Sicht nur noch die Richtung
nennen. Ich bin der festen Überzeugung, dass man über
die Geschäftsordnung reden sollte: Wie kann man die
Rechte des Parlaments respektieren, ohne die Abläufe zu
verzögern? Es entspricht nämlich nicht der Lebenswirklichkeit, davon auszugehen, dass ein Parlament an 365 Tagen jeweils 24 Stunden zur Verfügung stehen kann. Auch
das sollte man berücksichtigen.
Ich als Nichtjurist bin sehr skeptisch, ob ein kasuistisches Gesetz, das regelt, was in welchem Fall eines internationalen Vorfalls passieren sollte, überhaupt möglich
ist. Stellen wir uns einmal vor, wir hätten dieses Gesetz
vor fünf Jahren verabschiedet. Ich vermute; ein Großteil
der dann vorgenommenen Legaldefinitionen würde der
Situation nach dem 11. September nicht entsprochen haben. Dann hätten wir jetzt eine neue Debatte. Reichen unsere Definitionen? Das ist meine Hauptskepsis.
Deshalb neige ich dazu, primär die Geschäftsordnung
heranzuziehen und sich dann doch eines zu sagen: Wir
sind auf der Grundlage unseres Grundgesetzes, interpretiert durch das Bundesverfassungsgericht, ganz ordentlich
mit diesen Einsätzen umgegangen, mit vielen positiven
Wirkungen: Alle Einsätze, die wir für nötig hielten, haben
stattgefunden. Den Soldaten ist dabei meines Erachtens
im Ergebnis nichts geschehen, was sie in Unsicherheit gebracht hätte. Die Legitimation in der Bevölkerung, die
dadurch erzielt wurde, war erheblich.
In der derzeitigen Lage haben wir den Eindruck, die Sicherheitssituation könnte in zwölf Monaten wieder völlig
anders sein als heute. Wer kann das so genau voraussagen? Die Abgrenzung zwischen dem Militär und der internationalen Polizei mag Gegenstand eines neuen völkerrechtlichen und dann auch in den einzelnen Staaten zu
beachtenden Gesetzesvorhabens sein. Lassen Sie uns vor
diesem Hintergrund diese Angelegenheit eher in Ruhe betrachten, als vorschnell etwas zu tun. Dennoch, Herr Kollege van Essen, Ihre Anregung ist richtig.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/36 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit offensichtlich einverstanden. Dann verfahren wir auch so. Die
Überweisung ist beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. November
2002, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.