Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/14/2002

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Auf der Ehrentribüne hat der Präsident der Nationalversammlung der Republik Korea, Herr Park Kwan Yong, mit einer Abgeordnetendelegation Platz genommen. Ich darf Sie von hier aus im Namen des ganzen Hauses herzlich begrüßen. ({0}) Unsere beiden Länder verbindet die Erfahrung der Teilung von Staat und Nation. Uns Deutschen war es vergönnt, sie glücklich zu überwinden - in Ihrem Land dauert sie an. Mit umso mehr Interesse und Sympathie verfolgen und unterstützen wir Ihre Bestrebungen, die Lasten der Teilung zu lindern und die Chance zu wahren, die nationale Einheit in Frieden und Freiheit wiederzugewinnen. Ich hoffe, dass Sie diese Anteilnahme bei Ihren Gesprächen und Begegnungen hier in Berlin spüren werden. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in unserem Land. ({1}) Der Kollege Dr. Ingo Wolf hat am 8. November 2002 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolgerin hat die Abgeordnete Gisela Piltz am 11. November 2002 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße die neue Kollegin herzlich. ({2}) Nach § 5 Abs. 1 des Gesetzes vom 17. März 2000 entsendet der Deutsche Bundestag in das Kuratorium der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ seinen Präsidenten sowie je ein Mitglied des Deutschen Bundestags pro angefangene 100 Mitglieder der im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen. Die Fraktion der SPD benennt die Abgeordneten Eckardt Barthel ({3}), Monika Griefahn und Michael Roth ({4}), die Fraktion der CDU/CSU die Abgeordneten Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, Günter Nooke und Annette WidmannMauz, die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Abgeordneten Volker Beck und die Fraktion der FDP den Abgeordneten Hans-Joachim Otto ({5}). Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit werden die genannten Kolleginnen und Kollegen als Mitglieder in das Kuratorium der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ entsandt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Aktuelle Vorwürfe von Verstößen gegen das Parteiengesetz durch mögliche illegale Finanzzuflüsse bei der FDP 2 Überweisung im vereinfachten Verfahren Beratung des Antrags der Abgeordneten Eckhardt Barthel ({6}), Ernst Bahr ({7}), Hans-Werner Bertl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Antje Vollmer, Grietje Bettin, Katrin Dagmar GöringEckardt, Krista Sager und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Den Deutschen Musikrat stärken - Drucksache 15/48 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({8}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss 3 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU : Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen im Ausschuss nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes ({9}) - Drucksache 15/47 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung der Bundesregierung zur Situation der öffentlichen Haushalte unter Berücksichtigung der zu erwartenden aktuellen Steuerschätzung und der damit möglichen Notwendigkeit eines Haushaltssicherungsgesetzes 5 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Günter Baumann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Korrektur des Versorgungsänderungsgesetzes 2001 - Drucksache 15/45 Präsident Wolfgang Thierse Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({10}) Finanzausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO 6 Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Fördern und Fordern in der Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe - Drucksache 15/46 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({11}) Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss mitberatend und gemäßt § 96 GO 7 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk Niebel, Rainer Brüderle, Gudrun Kopp, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Arbeitnehmerüberlassung - Drucksache 15/55 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({12}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden. Sind Sie damit ein- verstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf: a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie- rung NATO-Gipfel am 21./22. November 2002 in Prag b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Schäuble, Christian Schmidt ({13}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Die NATO auf die neuen Gefahren ausrichten - Drucksache 15/44 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({14}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwölf Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges hat die Welt für uns ein anderes Gesicht bekommen. Wo sich früher zwei Blöcke in militärischer Konfrontation erstarrt gegenüberstanden, sehen wir uns heute mit einer wesentlich komplexeren weltpolitischen Lage konfrontiert. Auf der einen Seite können wir vor allem in Europa enorme Fortschritte bei Frieden, Stabilität und Freiheit feststellen. Auf der anderen Seite erfahren wir täglich von neuen regionalen Konflikten, sozialen Unruhen oder terroristischen Anschlägen. Spätestens die Schrecken des 11. September 2001 haben uns verdeutlicht, dass wir von diesen Bedrohungen direkt betroffen sind. Besonders der Terrorismus richtet sich direkt gegen uns alle, die wir in offenen Gesellschaften leben. Aber auch regionale Konflikte und soziale Probleme werden in einer zunehmend globalisierten Welt für uns zur immer größeren Gefahr. Unsere Landesgrenzen schützen uns vor diesen asymmetrischen Bedrohungen nur sehr unzureichend. Unser Ziel ist, dass alle Menschen in Sicherheit und Freiheit leben können. Terrorismus muss militärisch entschlossen bekämpft werden. Aber gleichzeitig dürfen wir uns nicht darauf beschränken; sonst droht ein Scheitern. Wir müssen politische und soziale Konflikte lösen, die den Nährboden für die Entstehung der Gewalt und des Terrorismus darstellen. ({0}) Krisenprävention ist genauso wichtig wie Krisenreaktion. Um dies zu erreichen, brauchen wir mehr denn je ein System globaler kooperativer Sicherheit. Nur über die Zusammenarbeit von Nationen kann dies umfassend geleistet werden. Nur in multilateralem Rahmen können wir auf allen relevanten Ebenen entschlossen gegen das Gefährdungspotenzial unserer Zeit angehen. Wir müssen weg von einer rein militärisch angelegten Reaktion auf Konflikte und hin zu einem umfassenden Sicherheitsbegriff. Europa und Amerika stehen vor einer neuen, weit über unsere Kontinente hinausreichenden und politisch entscheidenden Ordnungsaufgabe. Vor diesem Hintergrund treffen sich die 19 NATO-Mitgliedstaaten am kommenden Donnerstag in Prag. Für das transatlantische Bündnis und seine Rolle in einem System globaler kooperativer Sicherheit beginnt in der tschechischen Hauptstadt eine neue Ära. In Prag werden sich die Fähigkeiten des Bündnisses zeigen, sich an eine wandelnde Welt anzupassen. Die Allianz wird dort einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Lösung der großen europäischen Sicherheitsfragen vollziehen. Der Gipfel wird uns nochmals verdeutlichen, dass die NATO weit mehr als ein reines Verteidigungsbündnis ist. Sie ist eine über den Atlantik reichende Wertegemeinschaft, die entscheidend zur Sicherheit und Stabilität in der Welt und zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ihrer Mitglieder beiträgt. Im Mittelpunkt der Diskussionen werden drei zentrale Aufgaben stehen: Es geht um die Öffnung der NATO für neue Mitgliedstaaten, die Beziehungen der NATO zu ihren Partnern und die Anpassung der NATO an neue Herausforderungen. Alle drei Themen sind für die Zukunft der Organisation von großer Bedeutung und damit auch für die deutsche Außenpolitik entscheidend. Zum zweiten Mal nach Ende des Kalten Krieges öffnet sich die NATO für neue Mitglieder. Der Konsens der Bündnisstaaten, sieben weitere Staaten zum Beitritt in die Allianz einzuladen, wird immer wahrscheinlicher. 13 Jahre nach dem Fall der Mauer wird die NATO somit wichtige Länder in Süd- und Osteuropa sowie das Baltikum in das Bündnis integrieren. Diese anstehende Erweiterung ist sowohl für die Allianz als auch für die Beitrittskandidaten selbst ein Erfolg. Sie leistet einen Beitrag zur europäischen Stabilität, sie festigt die transatlantischen Beziehungen und sie beschleunigt notwendige Reformen in den Mitgliedstaaten. ({1}) Die nächste Erweiterungsrunde liegt auch in unserem Interesse. Daher hat der Bundestag im April dieses Jahres dieser Einladung mit überwältigender und fraktionsübergreifender Mehrheit zugestimmt. Diese Einladung erfolgt nach gründlicher Evaluierung der Bereitschaft und Fähigkeit der Kandidaten, dem Bündnis beitreten zu können. Ihr gingen Jahre intensiver Vorbereitung voraus. Deutschland hat dabei aktiv mitgearbeitet. Mit der Entsendung militärischer und ziviler Berater, mit Materialhilfe und Ausbildungsunterstützung haben wir dazu einen wichtigen und anerkannten Beitrag leisten können. Zahlreiche Experten halten viele der heutigen Beitrittsländer für besser vorbereitet als die drei Kandidaten der ersten Erweiterungsrunde 1997. Alle Aspiranten haben in den vergangenen drei Jahren Reformen durchgeführt und erhebliche Fortschritte gemacht. Ihre Anstrengungen beschränkten sich nicht nur auf Strukturreformen im militärischen Bereich. Auch die Beilegung interner und externer Konflikte, die Durchsetzung von Menschenrechten und die demokratische Kontrolle der Streitkräfte gehörten dazu. All diese Vorhaben sind noch nicht ganz abgeschlossen. Es ist klar, dass auch die Kandidaten, die in Prag eingeladen werden, diese Anstrengungen fortsetzen müssen. Die NATO ist keine statische Organisation. Alle ihre Mitgliedstaaten müssen sich fortlaufend neuen Herausforderungen anpassen. Die Beitrittsstaaten werden sich in einem Schreiben an den NATO-Generalsekretär verpflichten, ihre Anstrengungen zur Beseitigung noch vorhandener Defizite auch nach der Einladung fortzusetzen. Aber nicht alle Staaten, die Mitglied der NATO werden wollen, können in Prag eingeladen werden. Wir müssen daher mit den Ländern, die dieses Mal noch nicht dabei sind, in intensivem Kontakt bleiben. Wir werden sie in der Erklärung des Prager Gipfels ausdrücklich ermutigen, ihre Anstrengungen fortzusetzen. Die NATO muss auch in Zukunft weitere Mitglieder aufnehmen können; ihre Tür muss offen bleiben. Dies ist für die deutsche Politik von großer Bedeutung und darüber besteht auch innerhalb der Mitgliedstaaten Konsens. Die letzten zehn Jahre haben gezeigt: Die Perspektive eines NATO-Beitritts hat - dies ist eines der wichtigsten politischen Ergebnisse; das ist sehr schnell und unmittelbar schon im Beitrittsverfahren deutlich geworden - zu Konfliktabbau und Konfliktprävention beitragen können. Diese Aussicht fördert und dynamisiert den Reformkurs der Kandidaten. Sie trägt zur Stabilisierung von Ländern und Regionen bei. Eine Erweiterung der Allianz bedeutet immer auch eine Erweiterung und Festigung der transatlantischen Wertegemeinschaft. Zusammen mit der Erweiterung der Europäischen Union ist sie daher eindeutig in unserem Interesse. ({2}) Es ist offensichtlich, dass die Frage nach den Beziehungen der NATO zu ihren Partnern außerhalb des Bündnisses in direktem Zusammenhang zu ihrer Erweiterung steht. Wir müssen neben der Öffnung des Bündnisses auch die Kooperation mit den Staaten in der Nachbarschaft der NATO weiterentwickeln. Zunächst ist hierbei unsere Zusammenarbeit mit Russland zu nennen. In Prag wollen sich die Außenminister im Rahmen des NATORussland-Rats mit ihrem russischen Kollegen treffen, um die Ziele künftiger Zusammenarbeit festzulegen und das bislang Erreichte zu bewerten. Insgesamt ist die Bilanz erfreulich. Seit dem Gipfel in Rom am 28. Mai hat sich unsere Kooperation mit Russland deutlich verbessert. Vieles beurteilen die Partner mittlerweile einheitlich. Besonders bei der Bewertung der Lage auf dem Balkan herrscht zunehmend Übereinstimmung mit unseren russischen Partnern. Für gemeinsame friedenserhaltende Operationen haben wir ein realisierbares Konzept entwickelt. Diese Schritte zu einer engen Kooperation, für die wir uns immer eingesetzt haben, sind - wer die Vergangenheit kennt, weiß das - eine beachtliche Leistung beider Seiten. ({3}) Sie sollten uns auch in die Lage versetzen, über Mittel und Wege zur gemeinsamen Lösung von Sicherheitsproblemen zu reden. Unser Ziel ist dabei, zu übereinstimmenden Beurteilungen zu kommen. Beim Tschetschenien-Konflikt beispielsweise sind wir unverändert der Auffassung, dass auf der Basis territorialer Integrität, des Kampfes gegen den Terrorismus und der Wahrung der Menschenrechte nur eine politische Lösung zum Erfolg führen kann. ({4}) Die engen Beziehungen zwischen der NATO und Russland sind für Stabilität und Sicherheit im euroatlantischen Raum von großer Bedeutung. Ihre Intensivierung hat letztlich dazu geführt, dass die NATO-Erweiterung für Russland kein ernsthaftes Problem mehr darstellt. Dies war vor ein paar Jahren noch völlig anders. Meine Damen und Herren, ein weiterer wichtiger NATO-Anrainer und -Partner ist die Ukraine. Auch mit ihrem Kiewer Kollegen wollen sich die Außenminister der Mitgliedstaaten in Prag treffen, um zu diskutieren, wie die Ukraine stärker in die euroatlantischen Strukturen eingebunden werden kann. Wir wollen dabei einen Aktionsplan verabschieden, der die Ziele unserer Zusammenarbeit klar definiert. Im Mittelpunkt stehen dabei die Intensivierung des politischen Dialogs und die Unterstützung der Ukraine bei ihrer Verteidigungsreform. Dabei werden allerdings auch kritische Punkte in den Beziehungen zwischen der NATO und der Regierung in Kiew auf dem Programm stehen. Unsere Zusammenarbeit wird gegenwärtig von dem Vorwurf an Kiew überschattet, Waffen in Krisengebiete exportiert und Technologie illegal an den Irak geliefert zu haben. Wir fordern von unseren Partnern die Einhaltung des internationalen Rechts und der Beschlüsse der Vereinten Nationen ohne Wenn und Aber. Daran darf es keinen Zweifel geben. ({5}) In Prag wird auch evaluiert, wie die Beziehungen mit den anderen Partnern in Nachbarschaft zur NATO praktischer ausgestaltet werden können. In den letzten Monaten haben wir gerade mit unseren Partnerländern in Zentralasien intensiv zusammengearbeitet. Wie wichtig deren Rolle als Bindeglied in Bezug auf Asien ist, hat uns die Kooperation bei der Krisenbewältigung in Afghanistan gezeigt. Ähnliches gilt für europäische Partnerländer, mit denen wir beispielsweise im Rahmen der SFOR und der KFOR ausgezeichnet zusammenarbeiten. Schließlich wollen wir auch unseren Dialog mit den Mittelmeerländern aufwerten. In Prag sollen Vorschläge hierzu vorgelegt werden. Diesem Austausch messen wir große Bedeutung bei; denn er kann zur Verbesserung der regionalen Stabilität beitragen und gegenseitiges - ({6}) - Ich kenne das auch mit Megafon, Herr Kauder. Ich kann aber auch ohne Mikrofon oder Megafon reden. ({7}) - Das meinen Sie doch nicht im Ernst. Also, substanzreich war die Rede. Das können Sie ja wohl nicht bestreiten. ({8}) Ich lasse es mir gern gefallen, wenn Sie ein bisschen Recht haben; aber da haben Sie wirklich überhaupt nicht Recht. ({9}) - Das freut mich, dass Sie hier mit spitzen Ohren weiter lauschen wollen. ({10}) Verehrter Kollege, ich komme nun auf das Thema Mittelmeerländer zu sprechen. Das ist ein wichtiges Thema, wie mir bei meinem Besuch in Spanien gerade wieder vermittelt wurde, wo es bezogen auf EU und NATO die große Sorge gibt, dass die regionale Erweiterungsausrichtung nach Osten und Südosten wirklich zu einer Abwendung von den Mittelmeerländern führt. In der EU spielt das eine noch größere Rolle; es ist aber auch im NATO-Zusammenhang wichtig. Deswegen hören Sie gut zu! ({11}) Schließlich wollen wir, verehrter Kollege, auch unseren Dialog mit den Mittelmeerländern aufwerten. In Prag sollen Vorschläge hierzu vorgelegt werden. Diesem Austausch messen wir aus den Gründen, die ich gerade schon genannt habe, große Bedeutung bei; denn er kann zur Verbesserung der regionalen Stabilität beitragen und gegenseitiges Verständnis fördern. Allerdings ist die Bereitschaft zur Zusammenarbeit in diesem Rahmen unmittelbar von der Lage im Nahostkonflikt bestimmt. In einem dritten großen Themenfeld wollen sich die NATO-Mitglieder in Prag damit beschäftigen, dass die heutigen Herausforderungen neue Anpassungen notwendig machen. Nach dem Ende des Kalten Krieges mit Russland tritt die klassische Territorialverteidigung in den Hintergrund. Wir werden uns zunehmend fragen müssen: Wie reagieren wir in der NATO auf die neuen Bedrohungen? Wie können wir zu ihrer Bekämpfung, zu ihrer Eindämmung und zur Prävention von Krisen und Konflikten nachhaltig beitragen? Seit dem 11. September 2001, seit den brutalen Terroranschlägen in Djerba und Bali haben diese Fragen eine bedrückende Aktualität. Der Albtraum eines großen terroristischen Anschlages ist für uns alle erschreckende Wirklichkeit geworden. Diesen neuen Herausforderungen muss sich das Bündnis stellen. In Prag muss die NATO daher die notwendigen Prioritäten setzen, um in den Dimensionen eines umfassenden Sicherheitsbegriffs planen und agieren zu können. Zum einen wird es in Prag um Möglichkeiten zur Verbesserung der militärischen Fähigkeiten gehen. Neue Gefahren erfordern angemessene Reaktionen der NATOMitglieder. Auf dem Gipfel steht die Initiative des Prague Capabilities Commitment zum Beschluss an. Sie setzt klare Prioritäten auf den Ausbau der militärischen Fähigkeiten der NATO-Mitgliedstaaten, etwa die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit gegen Angriffe mit Massenvernichtungswaffen oder die Bereitstellung von sicherer moderner Führungstechnologie, von strategischem Lufttransport und von Aufklärungstechnik. In diesem Zusammenhang halten wir die amerikanische Initiative zur Schaffung einer NATO-Response-Force für einen konstruktiven Vorschlag. Dieser multinationale Ansatz kann dazu beitragen, die heutigen Sicherheitsherausforderungen zu bewältigen und gleichzeitig die integrierten NATO-Strukturen zu stärken. Daher unterstützen wir den Plan, in Prag einen Auftrag zur Ausarbeitung eines Konzeptes für diese NATO-Response-Force zu erteilen. Wir sind allerdings der Auffassung, dass dafür drei Voraussetzungen erfüllt sein müssen: Die Entscheidungen über Einsätze dieser Truppe müssen dem NATO-Rat vorbehalten bleiben; eine deutsche Beteiligung ist aufgrund der geltenden Rechtslage nur mit vorheriger Zustimmung des Bundestages möglich; ({12}) das Vorhaben - das ist ein sehr wichtiger Punkt - muss mit dem Aufbau europäischer Krisenreaktionskräfte im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vereinbar sein, Doppelungen sollten ausgeschlossen werden. ({13}) In Prag wird es aber nicht nur um militärische Fähigkeiten gehen. Wenn die Staats- und Regierungschefs die internationale Lage erörtern, wird es auch darum gehen, wie Konflikte besser eingedämmt und Krisen verhütet werden können. Eine kluge Verzahnung von Politik und Militär - das hat die Erfahrung gerade auch auf dem Balkan gezeigt - kann hier zum Erfolg führen. Der NATOEinsatz in Mazedonien hat uns bewiesen, dass der rechtzeitige, präventive Einsatz von Streitkräften in enger Abstimmung mit politischen und diplomatischen Initiativen helfen kann, Konflikte auf friedliche Art und Weise zu lösen, bevor sie gewaltsam eskalieren. ({14}) Wir messen der Weiterentwicklung solcher Strategien große Bedeutung bei. Vor allem im Rahmen eines umfassenden und effizienten Kampfes gegen den Terrorismus halten wir diese enge Verzahnung, gründend auf einem umfassenden Sicherheitsbegriff, für unerlässlich für den Erfolg. Meine Damen und Herren, mit der anstehenden Erweiterung, mit der Intensivierung des Dialogs mit unseren Partnern, mit der Anpassung unserer Mittel und Strategien an die aktuelle Lage und schließlich mit der Vertiefung multilateralen, gemeinsamen Handelns stellt die NATO ihre Dynamik, ihre Flexibilität und auch ihren umfassenden Anspruch unter Beweis, eine transatlantische Wertegemeinschaft zu bilden. Die NATO ist das wichtigste Bindeglied für die Beziehungen im nordatlantischen Raum. Sie ist Ausdruck der historischen Verbundenheit und des gemeinsamen Engagements von Europa und Amerika. Sie ist wichtiger Pfeiler in einem System globaler kooperativer Sicherheit, wie es die Welt heute mehr denn je benötigt. Die Bundesregierung wird daher die Vorhaben des Gipfels in Prag nachhaltig unterstützen und an ihrer Umsetzung engagiert arbeiten. Ich danke Ihnen. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Tonregie behauptet - ich sage das ganz vorsichtig -, dass das Mikrofon wieder geht. Lieber Kollege Schäuble, wollen Sie es probieren? Wir können nur durch Probieren herausfinden, ob diese Behauptung stimmt. ({0}) Ich erteile Ihnen also hiermit das Wort.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es hallt ein wenig nach; aber das Mikrofon scheint zu funktionieren. Die Regierungserklärung, die wir soeben vom Bundesaußenminister vorgetragen bekommen haben, hat wenig Falsches enthalten. ({0}) All dem, was Sie zum Thema Erweiterung gesagt haben, das in der Planung für Prag ursprünglich das Hauptanliegen des NATO-Gipfels gewesen ist, stimmen wir zu, auch was die Beziehungen zu Russland anbetrifft; ebenso findet das, was Sie zu Tschetschenien gesagt haben, im Grundsätzlichen unsere Zustimmung. ({1}) Unsere Zustimmung findet, Herr Bundesaußenminister, auch Ihr Satz, dass der Prager Gipfel angesichts neuer Bedrohungen für Frieden und Sicherheit die angemessenen Prioritäten setzen muss. Aber Ihre Regierungserklärung hat die angemessenen Prioritäten unter diesem Gesichtspunkt in keiner Weise gesetzt. ({2}) Die eigentliche Frage ist - deswegen wird der Prager Gipfel wirklich eine entscheidende Bedeutung für die weitere Entwicklung der atlantischen Gemeinschaft haben -, ob wir in der Lage sind, das transatlantische Verhältnis so auszubauen und weiterzuentwickeln, dass es Frieden und Sicherheit für uns alle in der Zukunft schützen kann. Gegen dieses Ziel ist in den vergangenen Monaten schwer verstoßen worden. Deswegen wird sich auf dem Prager Gipfel zeigen, ob es gelingt, die Störungen im transatlantischen Verhältnis, für die niemand mehr Verantwortung trägt als diese Bundesregierung, zu beseitigen, oder nicht. ({3}) Das Wort Irak, Herr Bundesaußenminister, ist in Ihrer Regierungserklärung nicht vorgekommen. Ich sage Ihnen voraus: Sie werden in Prag auf dem NATO-Gipfel nicht darum herumkommen, sich mit der Problematik des Irak zu beschäftigen. Deshalb hätten Sie dem Deutschen Bundestag dazu etwas sagen müssen. ({4}) Ich lese heute in einem Interview des Bundeskanzlers - darüber muss gesprochen werden -, dass er auf die Frage, ob die Deutlichkeit, mit der Ihre Position zu Irak artikuliert wurde, eine symbolische Bedeutung gewonnen habe und ob das nicht als eine Zäsur im Verhältnis zu den USA verstanden worden sei, geantwortet hat: Nein, denn das lag in der Konsequenz unserer neuen Außenpolitik. Was, bitte, ist diese neue Außenpolitik? ({5}) Ist diese neue Außenpolitik, dass wir den Menschen in Deutschland einreden, Frieden und Sicherheit wären für uns in Deutschland nicht mehr bedroht, wenn wir uns nur so verhalten, als wären wir in einer Nische und als würden die Gefahren nur irgendwo anders eintreten? Dann müssen Sie aber den Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, Hanning, stoppen, damit er nicht mehr jeden Tag neue Meldungen lanciert, dass der nächste terroristische Anschlag bei uns in Deutschland drohen kann. Es kann nur das eine oder das andere die Wahrheit sein. Ich fürchte, Herr Hanning hat mit seiner Lageanalyse Recht. Ich fürchte, dass das Tonband, das wir gerade über al-Dschasira wahrscheinlich von Bin Laden gehört haben, auch bestätigt, dass die Gefahr des internationalen Terrorismus viel größer ist, dass wir davon betroffen sind und dass wir uns nur durch eine Stärkung der NATO sowie der europäischen und der transatlantischen Zusammenarbeit dagegen schützen können. Dann darf man diese Bindungen aber nicht mit „neuer Außenpolitik“ schwächen. Das ist der falsche Weg. ({6}) Das sagen wir nicht aus Solidarität mit unseren amerikanischen Partnern, sondern aus Eigenverantwortung und Eigeninteresse im Blick auf die Zukunft unseres Landes und die Sicherheit der Menschen, die uns als Politiker insgesamt und Ihnen als Regierung in besonderer Weise anvertraut sind. Das eigentlich Problematische ist Folgendes: Aufgrund der Auflösung von staatlichen Strukturen, der vielfältigen Ursachen für Spannungen, die es in der Geschichte der Menschheit immer gegeben hat und die mit den neuen technischen Möglichkeiten noch verstärkt werden, aufgrund der Tatsache, dass Massenvernichtungswaffen immer mehr verbreitet werden, dass Trägertechnologien in der Lage sind, die Gefahren von jedem Punkt der Erde an jeden anderen Punkt zu transportieren, und dass die alten Formen von Sicherheit nicht mehr funktionieren, wird in Amerika über die Frage der nationalen Sicherheitsstrategie eine intensive Debatte geführt. Sie lassen zu, dass über diese Gefahren, die sich auch für uns aus der Kombination von internationalem Terrorismus, Massenvernichtungswaffen und Trägertechnologien ergeben, bei uns keine ernsthafte und substanzielle Debatte geführt wird. Sie müssen sich auf dem NATOGipfel in Prag mit diesen Fragen beschäftigen. Das sind die eigentlich entscheidenden Fragen für die Zukunft hinsichtlich Frieden, Freiheit und Sicherheit für die Menschen in Deutschland und in Europa. Sie haben in den letzten Monaten in einer unverantwortlichen Weise Kriegsangst und Antiamerikanismus geschürt und ausgebeutet. ({7}) - Ich habe eine Mappe von entsprechenden Zitaten vor mir liegen. Ich kann sie Ihnen vorlesen, wenn Sie sie hören wollen. Wir brauchen nicht darüber zu streiten, dass es so gewesen ist. Indem Sie so gehandelt haben - das will ich Ihnen jetzt vorhalten -, haben Sie etwas viel Schlimmeres gemacht: Sie haben nämlich verhindert - Sie leisten mit dieser Art Regierungserklärung auch einen Beitrag dazu -, dass in Deutschland ernsthaft darüber diskutiert wird, worin die Gefahren für uns liegen und was wir tun müssen, damit wir auf die bestmögliche Weise Vorsorge zur Vermeidung dieser Gefahren treffen. Das ist das eigentliche Problem. ({8}) Sie tun so, als wäre das Handeln der Verantwortlichen in den Vereinigten Staaten von Amerika, die sehr viel mehr Verantwortungsbereitschaft gezeigt und Vorsorge getroffen haben, als Sie es in den letzten Monaten getan haben und in Ihrer Regierungserklärung zum Ausdruck gebracht haben, die eigentliche Gefahr für den Frieden in der Zukunft. ({9}) - Natürlich, damit wird doch an den Antiamerikanismus appelliert. Wenn man den Artikel liest, den der frühere Staatsminister im Kanzleramt, Herr Naumann, dieser Tage in der „Zeit“ veröffentlicht hat, dann erkennt man, dass die politische Linke einen Generalangriff gegen die Grundlagen des Bündnisses zwischen Amerika und Europa führt. Das ist offenbar die neue Außenpolitik. ({10}) Sie haben nicht ein einziges Wort zu der Frage gesagt, die für eine verantwortungsvolle Sicherheitspolitik entscheidend ist: Wie können wir angesichts der Bedrohungen durch Massenvernichtungswaffen, Terrorismus und Trägertechnologien in der Zukunft Sicherheit gewährleisten? Die alte Form der Abschreckung kann dies nicht mehr leisten. In Amerika wird über die neue Sicherheitsstrategie diskutiert. Sie aber weisen das von sich, indem Sie davon sprechen, dass jemand Präventivschläge durchführen wolle. Man kann diese Gefahren aber nur vermeiden, indem man Anschläge und den Einsatz von Massenvernichtungswaffen verhindert. Mit Vergeltung, also einem Zweitschlag, schützen Sie unsere Bevölkerung nicht. Deswegen muss eine entsprechende Debatte in Prag und in Deutschland geführt werden. Dazu haben Sie kein Wort gesagt. Das ist das eigentliche Problem. ({11}) - Damit es alle hören - eigentlich darf er von der Regierungsbank keine Zurufe machen -, wiederhole ich den Zuruf des Außenministers. Er hat mich gefragt, ob ich für Präventivschläge sei. Ich frage zurück: Ist das die ganze Antwort der Bundesregierung? ({12}) Ich frage Sie: Was unternehmen Sie gegen die Bedrohung, dass biologische Kampfstoffe demnächst vielleicht eingesetzt werden? Wir haben in Deutschland beispielsweise noch nicht einmal ausreichend Impfmittel gegen Pocken. Was unternehmen Sie gegen die Gefahr, dass schmutzige Atomwaffen eingesetzt werden? Was unternehmen Sie gegen die Gefahr, dass demnächst mit neuen Raketen, die es überall gibt, von irgendeinem Ort Anschläge verübt werden? Bin Laden - ich gehe davon aus, dass er auf dem Tonband zu hören ist - hat angedroht, dass Deutschland demnächst von einem Anschlag betroffen sein könnte. Wie wollen Sie im Hinblick darauf Vorsorge treffen? Sie aber antworten auf diese Fragen nur mit dem Zuruf, ob ich für Präventivschläge bin. ({13}) Das ist zu wenig und reicht hinten und vorne nicht. ({14}) Das ist Ausdruck Ihrer Politik. Ich sage es noch einmal: Das Schüren von Antiamerikanismus hat in Wahrheit zur Folge, dass wir eine realistische Bedrohungsanalyse in Deutschland nicht vornehmen. Damit werden wir unserer Verantwortung für die Sicherheit unseres Landes nicht gerecht. Über diese Fragen muss in Prag gesprochen werden. ({15}) Sie haben kein Wort zum Thema Irak gesagt, obwohl sich in diesen Tagen erweist, dass diejenigen Recht gehabt haben, die in einer Kombination aus Druck und Handeln der Vereinten Nationen am ehesten die Chance gesehen haben, eine militärische Eskalation zu vermeiden. Deswegen muss man einen Tag, nachdem der Irak die Resolution des UN-Sicherheitsrates akzeptiert hat - wir wissen natürlich, dass Saddam Hussein in den nächsten Wochen und Monaten sein Spiel weitertreiben wird -, einmal seinen Dank sagen und Respekt dafür zeigen, dass unter amerikanischer Führung dieser große Erfolg erreicht worden ist, anstatt kein Wort dazu zu sagen. Darauf werden Sie in Prag eine Antwort geben müssen. ({16}) Ich habe öffentlich darauf hingewiesen - ich habe mich dafür eingesetzt; Sie sind ja schließlich die Regierung unseres Landes -, dass Sie mit unserem wichtigsten Verbündeten vernünftige Beziehungen haben müssen. ({17}) Nur, welche Pressearbeit machen Sie im Hinblick auf Ihre Hofschranzen! ({18}) Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Im Fernsehen war zu sehen, dass der Außenminister bei Colin Powell war. Colin Powell hat ihn mit dem seltenen amerikanischen Gruß begrüßt: „Good to see you!“ Bereits daraus ist die Meldung gemacht worden: Das war eine Liebeserklärung zwischen zwei Außenministern. ({19}) - Herr Bundesaußenminister, es wäre schön gewesen, wenn Sie uns in Ihrer Regierungserklärung, die Sie zu Beginn der heutigen Bundestagssitzung abgegeben haben, ein paar substanzielle Auskünfte gegeben hätten, anstatt hier ein so nichtssagendes und allgemeines Larifari zu verlesen, dass sogar das Mikrofon verzweifelt. ({20}) Der Verteidigungsminister war jetzt bei Herrn Rumsfeld. Es ist in Ordnung, dass die miteinander gesprochen haben. ({21}) Wenn aber der amerikanische Verteidigungsminister auf die Frage, wie die deutsch-amerikanischen Beziehungen jetzt seien, mit sarkastischem Lachen sagt: „Unpoisoned!“, dann sollten Sie daraus keine großen Erfolgsmeldungen machen, sondern begreifen, welchen Substanzverlust Sie den deutsch-amerikanischen Beziehungen, der europäischen Handlungsfähigkeit und damit den Zukunftsinteressen unseres Landes zugefügt haben. Ich sage noch einmal: Ich wünsche mir, dass es ordentliche Beziehungen gibt. Sie sind die Regierung unseres Landes. Sie sollten sich nicht lächerlich machen. Die Art, wie Sie sich jetzt in Amerika aufführen, macht Sie lächerlich. Ich möchte nicht, dass unser Land eine lächerliche Regierung hat. Sie ist schlecht genug und die Zeiten sind sehr ernst. ({22}) Sie werden auf dem Gipfel in Prag nicht darum herumkommen, auf die neuen politischen Bedrohungen Antworten zu geben. Der Verteidigungsminister hat dieser Tage in einer Fernsehsendung - das ist mir berichtet worden; ich selber habe sie nicht gesehen - gesagt, er habe es satt und er wolle jetzt keine Fragen mehr dahin gehend beantworten, was wäre, wenn. Sie haben einen ganzen Wahlkampf damit geführt, dass Sie Fragen beantwortet haben, die niemand gestellt hat. Sie haben sich dabei ziemlich lächerlich gemacht. ({23}) Es geht um die politische Unterstützung der Politik der Vereinigten Staaten und des Atlantischen Bündnisses. Dazu muss in Prag eine klare Auskunft gegeben werden. Ansonsten wird der Gipfel in Prag in Bezug auf die Entwicklung der atlantischen Gemeinschaft zwar eine Weichenstellung darstellen, aber eine zum Schlechteren. Wenn Sie jetzt die Entschließung des UNO-Sicherheitsrats begrüßen - das tun Sie ja -, dann müssen Sie folgende Frage beantworten, und zwar jetzt - das ist keine Was-wäre-wenn-Frage, aber das ist eine Frage an die Bundesregierung, die weder im Ausschuss noch im Plenum beantwortet worden ist -: Wird die Bundesregierung, die den Beschluss des Weltsicherheitsrats unterstützt, auch die ernsten Konsequenzen, die der Weltsicherheitsrat formuliert hat, unterstützen und mittragen, ja oder nein? Sie wollen Ihre eigenen Wähler täuschen; das ist der Punkt. Sie müssen diese Frage beantworten. ({24}) Dann müssen Sie in Prag noch etwas tun. Sie dürfen nicht nur sagen: Wir werden den Auftrag erteilen, eine Konzeption für die NATO-Reaction-Force zu entwickeln. Wenn - und weil - die technologische Lücke zwischen beiden Seiten des Atlantiks immer größer wird, besteht die Gefahr, dass die NATO in Zukunft nicht mehr die Schutzfunktion für uns leisten kann, wie dies bisher der Fall gewesen ist. Dabei gibt es zwei Gefahren: Erstens. Die militärischen Fähigkeiten und die technologische Entwicklung sind so unterschiedlich, dass die Zusammenarbeit immer schwerer wird. Zweitens. Das größere Problem ist - davon habe ich gesprochen -, dass wir zu keiner gemeinsamen Bedrohungsanalyse und zu keiner Klärung der politischen Grundlagen dessen, was für die zukünftige Sicherheit notwendig ist, mehr fähig sind. Wenn Sie die Lücke in den technologischen Fähigkeiten schließen wollen, dann ist die NATO-Reaction-Force ein guter Ansatz. Dann darf man aber nicht sagen: Das prüfen wir einmal und dann werden wir sehen, wie wir es mit den ESVP-Strukturen kompatibel machen können. Das bekommen Sie mit der Art, in der Sie zurzeit Ihre Sicherheitspolitik betreiben, nicht hin. Beides steht nur auf dem Papier, dann ist es natürlich auch kompatibel. Beides muss aber in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Die Helsinki-Komponente müsste schon längst umgesetzt worden sein. Demnächst führen wir die Haushaltsdebatte. Unsere wichtigsten europäischen Verbündeten erhöhen ihren ohnehin höheren Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt in den nächsten Jahren. Frankreich steigert ihn wesentlich, Großbritannien noch mehr. In Deutschland aber sinkt nach dem Stand der Planungen der Bundesregierung der Anteil des Verteidigungshaushalts am Bruttoinlandsprodukt weiter. Man wird Sie in Prag danach fragen und wenn Sie keine befriedigende Antwort geben können, schwächen Sie die NATO. Das ist der falsche Weg; denn wir brauchen die NATO, um auch in Zukunft Frieden und Sicherheit zu bewahren. Wir müssen mit unseren technologischen Fähigkeiten einsteigen. Dazu brauchen wir auch eine Bundeswehrreform. Das Entscheidende aber ist, dass wir den politischen Willen haben, die Wahrung der Sicherheit auch in Zukunft als prioritäre Aufgabe zu begreifen und die wirklichen Bedrohungen nicht zu verharmlosen oder wegzureden. Wir müssen sie ernst nehmen und ihnen ins Auge schauen, um dann auch das Menschenmögliche an Vorsorge zu treffen. Das ist die Weichenstellung, das ist der Auftrag für den NATO-Gipfel in Prag. Sie haben dazu kein Wort gesagt und das macht mich besorgt. Ich bin während Ihrer Regierungserklärung ganz unglücklich geworden. Ich habe Ihnen vor ein paar Wochen gesagt, dass wir Ihnen nicht den Weg verstellen werden, wenn Sie nach dem unverantwortlichen Wahlkampf, den Sie geführt haben, zu den Grundlinien der Außenund Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland, die wir über Jahrzehnte gemeinsam formuliert haben, zurückkehren wollen. Das können wir gar nicht und das wollen wir auch gar nicht, weil uns die Zukunft unseres Landes wichtiger ist als kleinliche parteipolitische Auseinandersetzungen. ({25}) - Wenn Sie sich so echauffieren, dann legen Sie doch einfach einmal die Zeitung weg, dann können wir uns ein bisschen auseinander setzen. Es gibt doch ein paar Mindestvoraussetzungen. ({26}) Dass Sie Zeitung lesen, ist egal, aber dann machen Sie auch keine Zwischenrufe. Lassen Sie sich doch beim Zeitunglesen nicht stören! ({27}) Ich will Ihnen sagen, was mich wirklich besorgt macht: Unser Land befindet sich in einer ungewöhnlich schwierigen Lage. Das Problem ist übrigens nicht das verantwortungslose Gerede von Bundeskanzler und führenden Mitgliedern der Bundesregierung in den letzten Monaten. ({28}) Das Problem, Herr Fraktionsvorsitzender Müntefering, ist, dass die Bundesrepublik Deutschland in Amerika und in vielen anderen Ländern der Welt als ein Absteigerland angesehen wird. Die Kombination von der wirtschaftlichen Lage und den wirtschaftlichen Perspektiven und dieser außenpolitischen Unzuverlässigkeit ist das eigentliche Problem für Deutschland. Dabei wird einem angst und bange. ({29}) Glauben Sie doch nicht, dass wir Freude daran haben, dass diese Regierung von Tag zu Tag immer mehr taumelt und nicht die geringste Idee entwickelt! ({30}) Auch wir lesen gelegentlich Zeitung, allerdings nicht dann, wenn wir Zwischenrufe im Bundestag machen. Machen Sie sich doch nicht lächerlich! ({31}) - Ich sage doch etwas zur Sache. Dieses Land braucht eine Regierung, die wirklich weiß, was sie will, und die verstanden hat, was die Stunde geschlagen hat. ({32}) - Sie haben die Wahl gewonnen, deswegen bilden Sie ja auch die Regierung. Ich möchte nur nicht, dass sich die Regierung so lächerlich macht, wie sie es in den letzten Wochen getan hat. Ich möchte, dass die Regierung endlich die eigentlichen Aufgaben in diesem Land annimmt. Deswegen sage ich: Ein noch größeres Problem als die außenpolitische Unzuverlässigkeit der Regierung ist, dass Deutschland in den Augen anderer in seinen wirtschaftlichen Fähigkeiten immer schwächer beurteilt wird. Wir werden einen hohen Preis bezahlen; das können wir jeden Tag an jedem Punkt sehen. Deswegen ist meine Bitte: Wenn Sie schon finanz-, wirtschafts- und sozialpolitisch unfähig sind, die Probleme zu lösen, dann kehren Sie doch wenigstens auf dem Prager Gipfel zu den Minimalia einer den Zukunftsinteressen unseres Landes entsprechenden Außen- und Sicherheitspolitik zurück! Die Wahlentscheidung ist getroffen. Wir akzeptieren sie: Wir sind in der Opposition, Sie sind an der Regierung. Wir möchten aber, dass Sie ein bisschen besser regieren. Eine so perspektivlose, konzeptionslose und substanzlose Politik hat dieses Land nicht verdient. ({33})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Markus Meckel, SPD-Fraktion.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schäuble, was Sie eben hier dargestellt haben, ist in meinen Augen wirklich zutiefst erschütternd, ({0}) weil Sie das transatlantische Verhältnis auf „Bild“-Zeitungs-Niveau dargestellt haben. Das ist den Fragen, vor denen wir stehen, in keiner Weise angemessen. ({1}) Ich habe den Eindruck, dass Sie nicht verkraften, dass die Bevölkerung unseres Landes gerade in außenpolitischen Fragen zu 80 Prozent hinter der Bundesregierung steht. ({2}) Sie verkennen deutlich, was die Bundesrepublik Deutschland an internationaler Verantwortung in den letzten Jahren wahrgenommen hat, zurzeit wahrnimmt und was sie demnächst in Afghanistan im Rahmen der ISAF mit der Fortsetzung von Enduring Freedom an Verantwortung übernehmen wird. 10 000 deutsche Soldaten befinden sich auf der Grundlage von UNO-Beschlüssen in verschiedenen NATO-Einsätzen. Sie nehmen diese Aufgabe, die mit großen Risiken verbunden ist, aufgrund eines Beschlusses und unter Führung dieser Bundesregierung wahr. Ich glaube, das haben Sie völlig aus dem Blick verloren. ({3}) Sie sprachen über Stimmungen im transatlantischen Verhältnis. Darüber können wir auch in der „Bild“-Zeitung lesen, das ist dieser Frage allerdings keineswegs angemessen. Hier geht es um strategische Interessen und darum, wie wir auf der Grundlage unserer gemeinsamen Werte im transatlantischen Verhältnis und im Westen gemeinsam den Schwierigkeiten der sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit gerecht werden. Es ist keine Frage: Das ist für uns alle nicht einfach. Sie haben hauptsächlich über den Irak und wenig über den NATO-Gipfel gesprochen. Gerade hier wird aber deutlich, wie wichtig die Diskussionen der vergangenen Wochen und Monate waren und gerade sie der Hintergrund der UN-Resolution sind. Die Resolution entspricht mit Sicherheit nicht der Linie von Herrn Cheney; denn er hat in seiner Rede von ganz anderen Kategorien gesprochen. Er sprach von einem Regimewechsel im Irak als Ziel und nicht von der Vernichtung von Massenvernichtungsmitteln. Dies ist aber die Bedrohung, auf die die UN-Resolution eingeht, und zwar multilateral und nicht unilateral. ({4}) Diese Diskussion hat übrigens die Reaktion der Bundesregierung hervorgebracht. Ich halte es für ausgesprochen wichtig, dass wir in der Frage der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen differenzierter miteinander reden. Es ist gar keine Frage, dass der Irak eine ganz zentrale Bedrohung darstellt, auf die der UN-Sicherheitsrat jetzt - ich denke, in angemessener und erstaunlich geschlossener Weise - reagiert hat. Wir können nur hoffen, dass dies zum Erfolg führt. Das ist aber nicht das Einzige, was mit dem internationalen Terrorismus zu verbinden ist. Natürlich haben wir alle die Schreckensvorstellung, dass Terroristen Massenvernichtungswaffen in die Hand bekommen. Im Augenblick gibt es aber kaum Belege dafür. Die Verbindung zwischen al-Qaida und dem Irak ist bisher nicht in der Weise, wie manche es glauben, nachgewiesen. Gleichzeitig aber muss man deutlich sagen, dass die Möglichkeit eines Militärschlags gegen den Irak die Gefahren des internationalen Terrorismus erhöht. ({5}) Dies birgt die Gefahr, dass die internationale Koalition gegen den Terrorismus zerbricht. Das alles müssen wir uns deutlich machen. Es gibt ein Spannungsverhältnis und keine einfache Linie, aufgrund deren man sagen kann: Führer - USA - geh voran, wir folgen dir. ({6}) Das geht nicht. Wir brauchen eine eigene Bedrohungsanalyse und diese ist die Grundlage der Position der Bundesregierung. ({7}) Dazu haben wir in den letzten Wochen durchaus eine ganze Menge sehr Klares gehört. Wenn es um Massenvernichtungswaffen geht, geht es eben nicht zuerst um einen Militärschlag, sondern um Nonproliferation, die Stärkung internationalen Rechts und Rüstungsbegrenzung. Dies sind die Instrumente, die wir stärken müssen. Wir müssen versuchen, alle Beteiligten dazu zu gewinnen, daran möglichst entschlossen und geschlossen teilzunehmen. ({8}) Natürlich stehen wir gerade angesichts der Militärstrategie der USA vor einer strategischen Diskussion im Rahmen der NATO. Es ist schon die Frage, wie wir als NATO auf diese US-Militärstrategie reagieren und ob man auf Gefahren mit präventiven Schlägen reagiert. Herr Schäuble, diese Frage ist legitim. Darüber müssen wir miteinander sprechen. Wir müssen auch darüber reden, wie dies mit dem Völkerrecht vereinbar ist. Ich sehe jedenfalls nicht, dass die NATO sich darauf einigen könnte, dieser amerikanischen Strategie einfach zu folgen. Sagen doch auch Sie das ehrlich oder sagen Sie, dass Sie das wollen! Lassen Sie uns eine ernsthafte Debatte führen, in der nicht einfach nur der Bundesregierung unverantwortliches Handeln vorgeworfen wird! Dies kann ich in keiner Weise akzeptieren, weil es der Sache nicht gerecht wird. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Meckel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schäuble?

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Meckel, könnten wir nicht einfach danach fragen, was wir tun können, um Vorkehrungen gegen die Bedrohungen durch Terrorismus, Massenvernichtungswaffen und Trägertechnologien zu treffen? Bevor wir diese Fragen beantwortet haben, sollten wir nicht danach fragen, was alles nicht geht. Ich kenne in Deutschland viele Debatten darüber, was alles nicht geht. Mir fehlen aber die Antworten, was geht. Meine Frage ist: Was kann zum Schutz gegen die neuen Gefahren getan werden? ({0})

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schäuble, dazu kann man eine ganze Menge sagen. Übrigens ist auch eine ganze Menge getan worden. Dem Terrorismus kann eben nicht nur militärisch begegnet werden. Sowohl die Europäische Union als auch die USA haben sehr viel getan: in Fragen der Geheimdienstkooperation und in Fragen der inneren Sicherheit, die von der äußeren Sicherheit nicht zu trennen ist. Gleichzeitig geht es um Proliferationsfragen. Hier aber geht es zuallererst um die Stärkung des internationalen Rechtes und hier sind viele Fragen offen. Übrigens sind auch auf internationaler Ebene manche Dialoge offen, die wir intensiv miteinander führen müssen. Das betrifft dann auch manche Großmacht. ({0}) Es muss ganz klar gefragt werden: Inwieweit stärken wir gemeinsam dieses internationale Recht? Ich bin der festen Überzeugung, dass wir gerade auch in der NATO zu einer Debatte darüber kommen müssen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Meckel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Klaeden?

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Meckel, Sie sprechen von der Stärkung des internationalen Rechts. Sind Sie auch bereit, sich an der Durchsetzung des internationalen Rechts zu beteiligen?

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Kollege, die deutschen Soldaten tun dies in wichtigen Zusammenhängen der internationalen Sicherheit ({0}) mit 10 000 Soldaten. Diese Zahl übersteigt bisherige Vorstellungen weit. Jetzt übernehmen wir gemeinsam mit den Niederländern die Führung von ISAF in Afghanistan. Dies ist wahrhaftig ein Beweis dafür, dass wir genau dazu bereit sind. ({1}) Meine Damen und Herren, ich will in der mir verbleibenden Redezeit auch noch auf Prag zu sprechen kommen. Eines ist klar: Wir werden die Debatte zu den Fragen, die wir eben angesprochen haben, in Prag beginnen müssen; sie wird dort nicht abgeschlossen werden. Es erscheint mir aber wichtig, den Rahmen der NATO zu nutzen, um diese Debatte auch im Rahmen des Rates zu führen. Hier sehe ich übrigens große Defizite. Bisher ist es so, dass die Behandlung solcher Fragen im NATO-Rat eher abgewürgt als dass wirklich debattiert wird. Ich halte es auch für wichtig, dass die europäischen Länder, die natürlich ihre eigene Tradition und ihren eigenen Zusammenhalt haben und im Rahmen der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ihre eigenen Strukturen entwickeln, versuchen, gemeinsame Positionen zu finden, und diese auch in der NATO miteinander vertreten. Dies ist bis heute leider nicht der Fall. Hier brauchen wir neue Strukturen, einen stärkeren europäischen Zusammenhalt und einen stärkeren gemeinsamen europäischen Willen, diesen Herausforderungen zu begegnen. Zu den anderen Fragen - es gibt viele Fragen, die den Terrorismus betreffen, also gar nicht zuallererst militärische Fragen sind - wird es übrigens einen europäischamerikanischen Dialog auf ganz anderen Ebenen als der NATO-Ebene geben müssen. Auf Prag zurückkommend möchte ich doch noch auf etwas hinweisen, was der Herr Bundesaußenminister bereits zu Beginn dieser Debatte gesagt hat, nämlich auf den wirklich historischen Schritt, den wir als NATO bei der Gestaltung Europas miteinander gehen. Anders als 1997 in Madrid, als es während des NATO-Gipfels viele Diskussionen über die Frage der Erweiterung gab, darüber, welche Staaten aufgenommen werden können oder nicht, gibt es jetzt schon im Vorfeld einen breiten Konsens, sodass es dazu in Prag selber wohl keine große Debatte mehr geben wird. Es geht aber um eine gewaltige Erweiterung um sieben Staaten Ost- und Mitteleuropas, die früher dem kommunistischen Block angehörten. Damit wird eine völlig neue Gestaltung Europas vollendet. Dies ist etwas, was man sich vor zwölf oder 13 Jahren kaum hätte vorstellen können. Damit vollendet sich, was 1989/90 mit der Veränderung Europas begonnen hat, nämlich die Gestaltwerdung einer europäischen Demokratie und Freiheit. Dies gilt auch für die Frage, wie wir als gemeinsames Europa künftig unser Verhältnis zu den Nachbarregionen und überhaupt in der ganzen Welt gestalten wollen. Wir haben - ich spreche hier als Ostdeutscher - schon 1989/90 diese Perspektive klar beschrieben, indem wir gesagt haben: Wir als Ostdeutsche, die mit der deutschen Vereinigung unmittelbar Mitglied von EU und NATO wurden, wollen, dass unsere östlichen und südöstlichen Nachbarn auch die Chance bekommen, Teil dieser Strukturen zu werden. Uns war klar, dass dies ein längerer Weg werden würde. In diesen Wochen werden wir auf diesem Weg auch im Rahmen der Europäischen Union weitere wesentliche Fortschritte machen, werden wir zu Entscheidungen kommen, sodass in zwei Jahren sowohl die EU als auch die NATO um weitgehend die gleichen Länder erweitert sein werden. Dies ist ein wahrhaft historischer Schritt, den es trotz aller Debatten, die wir hier sonst miteinander führen, zu würdigen gilt. Darüber hinaus müssen wir aber auch sehen, wie wir gemeinsam mit diesen Ländern dieser neuen Rolle und diesen neuen Herausforderungen begegnen. ({2}) Angesichts der neuen Herausforderungen, über die wir gesprochen haben, halte ich es für ausgesprochen wichtig, dass wir die alten und gewissermaßen traditionellen Kernfunktionen der NATO nicht aus dem Blick verlieren. Damit meine ich nicht nur die Frage der Verteidigung; dazu ist das Nötige gesagt worden. Diese bleibt natürlich eine wesentliche Grundlage. Gerade in den Umbruchzeiten 1989/90 war es wichtig, dass die neuen Demokratien Ostund Mitteleuropas nicht allein eine nationale Sicherheitspolitik betrieben haben, sondern dass sie sich in integrierte Streitkräftestrukturen und in ein europäisches gemeinsames Sicherheitsdenken hineinbegeben haben. Das internationale Krisenmanagement, das in den 90er-Jahren so ungeheuer wichtig war, um Friedensprozesse überhaupt erst in Gang zu setzen und auch heute noch zu sichern, wird eine bleibende Aufgabe der NATO sein. Wie schon vom Bundesaußenminister dargestellt, wird es in Prag ebenfalls wichtig sein, die partnerschaftlichen Beziehungen zu Russland, zur Ukraine, zum Kaukasus und dem Mittelmeerraum zu pflegen. Ich denke, dass diese Aufgaben nun unsere Aufmerksamkeit brauchen. Dann wird es auch wichtig sein, die neuen Kapazitäten - dazu werden andere Redner meiner Fraktion sprechen - so zu gestalten, dass wir unseren Beitrag dazu sowohl im Rahmen der NATO als auch im Rahmen der Europäischen Union leisten können. Dies muss kompatibel sein. Auch muss klar bleiben: Die Bundeswehr, die diese Aufgaben für uns erfüllt, ist ein Heer dieses Parlaments und dieses Parlament hat über seine Einsätze zu entscheiden. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Werner Hoyer, FDPFraktion.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Meckel, Sie haben dem Kollegen Schäuble vorgeworfen, er habe auf „Bild“-Zeitungs-Niveau argumentiert, als er vom deutschen Abstiegsplatz gesprochen hat. Ich glaube, Sie tun nicht nur ihm Unrecht, sondern sich selbst, weil ich weiß, dass Sie auch andere Gazetten dieser Welt lesen. Beim Lesen der Weltpresse werden Sie feststellen, dass die Weltöffentlichkeit fassungslos vor der Tatsache steht, dass Deutschland seine Führungsposition in der Weltwirtschaft aufgrund eigener Reformunfähigkeit aufs Spiel setzt oder bereits verspielt hat und darüber hinaus sich noch der Möglichkeit begibt, große weltpolitische Entscheidungen mit zu beeinflussen, wie wir das bei der Irak-Resolution der Vereinten Nationen gesehen haben. Bei dieser Irak-Resolution ist festzustellen, dass der Weltsicherheitsrat und die dort Tätigen ein Meisterstück diplomatischer Kunst abgeliefert haben und das Ergebnis nicht zuletzt dem beharrlichen Verhandlungsgeschick sowohl unserer amerikanischen, aber vor allen Dingen auch einiger unserer europäischen Freunde, insbesondere in Frankreich und auch in Russland, zu verdanken ist. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich von vornherein jeder Möglichkeit begeben, hierzu einen Beitrag zu leisten. Dieses hätte eine Sternstunde europäischer Diplomatie sein können; ({0}) es ist eine Sternstunde französischer Diplomatie geworden, weil Deutschland darauf verzichtet hat mitzuwirken. Der NATO-Gipfel ist sicherlich viel mehr als ein Erweiterungsgipfel. Es ist gut, dass die Entscheidungen über die weiteren Beitritte jetzt in trockene Tücher kommen. Das ist eine große Entscheidung für Europa. Ich würde, Herr Meckel, von Vollendung aber erst sprechen, wenn auch die Dimension der Europäischen Union dazukommt. Wir sollten das immer zusammen sehen und den Schlussstrich erst ziehen, wenn Kopenhagen ebenfalls unter Dach und Fach ist. Wichtig ist auch, dass die NATO Wort gehalten hat. Die Tür ist nach der ersten Erweiterungsrunde, als die ersten drei Staaten beitreten konnten, nicht zugeschlagen worden, wie es viele Partner in Europa befürchteten. Prag ist viel mehr als nur Erweiterung. Die öffentliche Diskussion in Deutschland wird natürlich von der IrakFrage geprägt. Gleichzeitig erwarten viele fasziniert, wie die Verbiegungen aussehen werden, die die Herren Schröder, Struck und Fischer auf sich nehmen, wenn sie ihre Versuche der Wiederannäherung an die Vereinigten Staaten, an unsere amerikanischen Freunde, unternehmen. Wir drohen dabei die wirkliche Substanz des NATOGipfels zu verschlafen. Die Amerikaner gehen mit klaren Vorstellungen nach Prag. Sie wollen zwölf Jahre nach Ende des Kalten Krieges eine neue NATO aus der Taufe heben, eine NATO, in der die europäischen Partner bereit sind, mehr Lasten zu tragen, vor allen Dingen aber eine NATO, in der die Europäer für ihre amerikanischen Freunde auch militärisch relevant sind. Das ist für die Amerikaner sicherlich ein wichtiger Punkt. Die Tatsache, dass die militärisch-technologische Kluft in den letzten Jahren immer breiter geworden ist, muss endlich Konsequenzen haben. Genau davon ist bei dieser Bundesregierung nichts zu spüren. ({1}) Wir Europäer sind von den neuen Sicherheitsbedrohungen - sie sind ja schon von zwei Rednern dargestellt worden - mindestens so stark betroffen wie unsere Freunde jenseits des Atlantiks, wenn nicht deutlich stärker. Wir Europäer brauchen als Antwort auf diese neuen Bedrohungen die NATO dringender als die Amerikaner; das muss uns stets bewusst sein. Umgekehrt müssen wir sehen: Wer über so viel Macht und militärische Überlegenheit verfügt wie die Amerikaner, der ist natürlich ständig versucht, dem Unilateralismus das Wort zu reden. Wir spüren das seit dem Ende des Kalten Krieges immer wieder. Dennoch haben sich die Amerikaner letztendlich doch als bereit und bemüht erwiesen, sich den neuen Bedrohungen multilateral zu stellen. Das ist ihnen auch aufgrund der innenpolitischen Debatte nicht immer leicht gefallen, aber wir sollten anerkennen, dass sie es am Ende getan haben, übrigens auch nach dem 11. September, als viele in diesem Hause der Meinung gewesen sind, die Amerikaner würden ohne Rückkoppelung blindwütig draufschlagen. Hinterher waren sie erstaunt, wie sehr sie sich rückgekoppelt haben, wie sehr sie Allianzen geschmiedet und eine weltweite Aktion ermöglicht haben. Das haben am Anfang manche hier nicht für möglich gehalten. Die Amerikaner sagen aber auch: In unserer neuen Strategie spielt die NATO eine wichtige Rolle. Die Amerikaner sind also durchaus bereit, der NATO eine Rolle zuzuweisen. Wir Europäer müssen hingegen sehr viel mehr tun, als uns eine Nische zuweisen zu lassen. Wir selber müssen die europäische Rolle in der NATO definieren und die eigene Handlungsfähigkeit im Rahmen der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik herstellen. Wir müssen uns auf der Basis eines fundierten, gewissermaßen mit konzeptioneller Klarheit und militärischer Hardware unterlegten europäischen Selbstbewusstseins der Strategiedebatte mit unseren amerikanischen Freunden stellen. Wie weit sind wir davon eigentlich entfernt? Damit sind wir nach der wachsenden militärtechnologischen bei der zweiten, möglicherweise noch gefährlicheren transatlantischen Kluft. Das sicherheitspolitische und das militärstrategische Denken in den USA hat sich in den letzten Monaten entscheidend weiterentwickelt. Die Bush-Doktrin enthält neben Bekenntnissen zur friedlichen Krisenprävention und Krisenbeilegung, zur Allianz und zum Völkerrecht das Prinzip der militärischen Präemption als eine zwingende Handlungsalternative. Amerika will sich angesichts der neuen Bedrohungen nicht mehr ausschließlich auf die Wirksamkeit militärischer Abschreckung verlassen. Es will sich dann, wenn diese zu versagen droht, militärische Präventiveinsätze vorbehalten. Verglichen damit sind wir Europäer, speziell wir Deutschen, noch in der militärstrategischen Diskussion der 50er-Jahre gebunden. Die Amerikaner dürften mit ihren Analysen so Unrecht nicht haben. Nukleare und konventionelle Abschreckung, komplizierte konsensuale Entscheidungsprozesse und eine Beschränkung auf den Wendekreis des Krebses mögen beim Umgang mit international agierenden Terroristen, mit Problemen der Proliferation von Massenvernichtungswaffen und mit Regionalkonflikten an ganz fernen Enden der Welt, die gleichwohl zu uns herüberschwappen können, nicht mehr ausreichen. Dennoch dürfen wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. ({2}) Das Beharren auf der Herrschaft des Völkerrechts, auf dem Gewaltmonopol der Vereinten Nationen, auf dem Vorrang friedlicher Konfliktlösung und Prävention ist et542 was anderes als das Verharren in schönen europäischen Illusionen. Das ist der epochale Fortschritt vor allem in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, der aus unserer Kultur und vor allen Dingen aus unseren historischen Lernprozessen gespeist wurde. Man mag dies nicht 1 : 1 auf den Rest der Welt übertragen können. Aber man darf diesen Fortschritt auch nicht leichtfertig über Bord gehen lassen. Das bedeutet auch, dass dann, wenn Präemption oder Prävention erforderlich sein sollten, die völkerrechtliche Einbindung wichtiger denn je und die Rolle der Vereinten Nationen von größerer Bedeutung als je zuvor sind. ({3}) Noch ein Wort zur NATO-Response-Force: Natürlich ist eine solche Truppe im Prinzip zu begrüßen. Aber entscheidende Fragen sind noch unbeantwortet. Es ist zum Beispiel nicht klar, welche Rolle die NATO-ResponseForce im strategischen Konzept der Vereinigten Staaten spielen soll. Die „New York Times“ schreibt von einer „Fremdenlegion des Pentagon“. Das kann es ja wohl nicht sein. Wir stellen uns darunter mehr vor. Die Frage, wie die NATO-Response-Force zu den geplanten europäischen Krisenreaktionskräften passt, ist ebenfalls unbeantwortet. Es darf ja wohl nicht sein, dass mit dem einen Projekt das andere unterlaufen wird. ({4}) Wir müssen unsere eigenen Vorstellungen klar definieren. Wir müssen deutlich machen, dass wir uns hier nicht abkoppeln lassen, und aufpassen, dass sich die amerikanische Lokomotive nicht von dem abkoppelt, was in Europa geschieht. Wenn wir aber einen Platz im Führerhäuschen der Lokomotive beanspruchen, dann müssen wir auch starke Beiträge leisten. Wenn sich die NATO - damit komme ich zum Schluss - wirklich zu einer neuen NATO entwickelt, werden viele Partner, sicherlich auch wir, an verfassungsrechtliche Grenzen stoßen. Wir werden uns bald fragen müssen, ob der NATO-Vertrag wirklich all das hergibt, was die NATO tut und tun muss. Ich kenne das Argument, dass man einen besseren NATO-Vertrag so leicht nicht bekommen werde. Auch ich sehe, dass Rot-Grün aus gutem Grunde eine Debatte über eine möglicherweise notwendige Anpassung des Grundgesetzes an die neuen Herausforderungen scheut wie der Teufel das Weihwasser; denn sonst würden alte Konflikte sehr schnell wieder aufbrechen. Aber die Rechtsgrundlagen unseres Handelns sind nicht unbegrenzt dehnbar. Denken Sie nur an die verfassungsrechtliche Rolle des Bundestages bei jedem Militäreinsatz! Sie gilt auch für eine NATO-Response-Force oder eine EU-Truppe. ({5}) Aus diesem Grund empfehle ich Ihnen sehr, sich mit dem Antrag, den die Fraktion der FDP zu der Frage der Beteiligung des Deutschen Bundestages bei Entscheidungen über Einsätze der Bundeswehr eingebracht hat, zu beschäftigen. Wir werden die Rechte des Parlaments, das für eine Parlamentsarmee verantwortlich ist, zu wahren haben, wenn die neuen Vorstellungen der NATO über ihre eigene Zukunft Wirklichkeit werden. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ludger Volmer, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Rede von Herrn Schäuble war genau eine Erkenntnis richtig, nämlich dass alles mit allem irgendwie zusammenhängt. ({0}) Das hat er bestens ausgedrückt. Aber es haperte schon an der Analyse, wie genau die Zusammenhänge aussehen. ({1}) Herr Schäuble, Sie haben richtig erkannt: Die Außenpolitik ist ein äußerst komplexes Gebiet. Sie haben aber nicht erkannt, dass man deshalb einzelne Bereiche betrachten muss. Der Bundestag hat sich eine Tagesordnung gegeben, in der einzelne Aspekte behandelt werden. Wir behandeln heute den NATO-Gipfel und nicht alle Aspekte der Sicherheitspolitik. Das haben wir am letzten Mittwoch in der Debatte um Enduring Freedom getan und werden es auch morgen tun. Ich bin mir sicher, dass der Außenminister morgen eine umfassende Grundlinie zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus vorstellen wird. Das hat er im Auswärtigen Ausschuss übrigens schon getan. Wir haben auch gestern im Ausschuss, dem Sie ja angehören, darüber diskutiert. Als Herr Hanning davor warnte, Gerüchte über eine angebliche Bedrohung in Deutschland in die Welt zu setzen, ({2}) haben Sie gefehlt. Sie tun heute genau das, wovor der Auswärtige Ausschuss gestern gewarnt hat. Deshalb fällt die Kritik, die Sie an der Bundesregierung geäußert haben, auf Sie zurück. ({3}) Jeder ist sich darüber im Klaren, dass der Kampf gegen den Terrorismus eine militärische Dimension braucht. Das sagen auch diejenigen, die in der Vergangenheit militärischen Optionen außerordentlich zurückhaltend gegenübergestanden haben. Wir wissen aber auch, dass die Hauptelemente des Kampfes gegen den Terrorismus politische sein müssen und dass sich schon bei der Fragestellung entscheidet, wie die dazugehörige Strategie aussehen wird. Auch in diesem Punkt hat es in Ihrer Rede ganz erheblich gehapert. Wenn wir - darin sind wir uns völlig einig - den internationalen Terrorismus als die Bedrohung Nummer eins ansehen und wenn wir festhalten, dass der Irak in den letzten Jahren eine massive Sicherheitsbedrohung dargestellt hat, dann müssen wir uns die Frage stellen, in welchem Zusammenhang die Bedrohung, die vom Irak ausgeht, mit dem internationalen Terrorismus steht. Gedanken hierzu haben in Ihrer Rede völlig gefehlt. Wenn man diese Frage stellt, dann ergibt sich notwendigerweise die Antwort, dass es im Moment alles andere als sinnvoll wäre, die Gefährdung, die vom Irak ausgeht, ins Zentrum der internationalen Politik zu stellen. Das war die Analyse, die die Bundesregierung - wie ich finde: völlig zu Recht - dazu gebracht hat, vor einem militärischen Angriff auf den Irak zu warnen. Wie richtig diese Politik ist, hat sich spätestens gestern herausgestellt, als der Diktator Saddam Hussein den Brief bei der UNO hinterlegt hat, in dem er zugesteht, dass die Inspekteure nun endlich ins Land kommen können. ({4}) Es waren unsere Politik, die Politik der Bundesregierung, die völlig klaren Äußerungen des Bundeskanzlers und des Außenministers, die dazu geführt haben, dass die vor einigen Monaten anschwellende Diskussion darüber, ob man nicht militärisch eingreifen sollte, um Saddam Hussein zu stürzen, nicht etwa um Inspektoren ins Land zu bringen, abgeflaut ist und dass der multilaterale Weg, vermittelt über die UNO, eingeschlagen wurde, der vorsieht, die Inspekteure ins Land zu bringen, damit die Waffenarsenale von Saddam Hussein vernichtet werden können. Das ist ein Erfolg, den auch die deutsche Politik zusammen mit den Franzosen erzielt hat, die ständig konsultiert wurden, die im Gegensatz zu uns Mitglied des Sicherheitsrates sind und deswegen an der Resolution mitarbeiten konnten. Ich meine, der Bundestag sollte der Bundesregierung für die klare Haltung zur Irakpolitik Respekt zollen. ({5}) Herr Schäuble, Sie lassen, um es wohlwollend auszudrücken, im Unklaren, ob Sie für Präventivschläge sind. Ich denke, dies impliziert, dass Sie Präventivschläge im Prinzip für möglich halten. Sie haben - genauso wie Ihr Kanzlerkandidat während des Wahlkampfs - eine NichtPosition bezogen. Herr Stoiber hat nie klar gesagt, ob er militärische Optionen gegen den Irak für nötig hält. Stattdessen hat er alles dazu gesagt: Anfangs fand er sie nötig, dann blies ihm die öffentliche Meinung ins Gesicht und er war dagegen. Dann wurde er fischig und schlängelte sich durch, indem er sagte: Eigentlich sind wir dagegen, wenn aber alle anderen dafür sind, machen wir irgendwie mit. Das war auch Ihre Position heute. ({6}) Wofür sind Sie denn nun? Sind Sie für eine militärische Option gegenüber dem Irak oder nicht? Wenn Sie dagegen sind und das aussprechen, haben Sie ein Diskussionsproblem mit unseren wichtigsten Freunden und Partnern. ({7}) Im Moment gibt es einen sehr begrenzten Disput, der das grundlegend gute Verhältnis zu den Vereinigten Staaten nicht berührt und nicht nachhaltig beeinträchtigt, wie wir bei den Besuchen des Außenministers und des Verteidigungsministers in Washington jetzt erleben konnten. ({8}) Herr Schäuble, wenn Sie Präventivschläge für möglich halten, frage ich Sie: Wo führen diese eigentlich hin? Wem wollen Sie denn präventiv begegnen? Wer sind eigentlich die Länder oder Regionen, in denen die Gefährdungen, die Sie per Präventivschlag ausschalten wollen, am stärksten sind? Führt Sie Ihre Präventivschlagoption tatsächlich gegen den Irak oder gibt es nicht ganz andere Kandidaten, die ebenfalls auf der Liste stehen müssten?

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Volmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pflüger?

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Volmer, Sie haben eben, wie wir alle, begrüßt, dass Saddam Hussein einlenkt und die Waffeninspekteure ins Land kommen lässt. Stimmen Sie zu, dass er sie weniger wegen der freundlichen Appelle der Bundesregierung, sondern eher wegen des internationalen Drucks, der mögliche Militärschläge der internationalen Staatengemeinschaft - leider unter Ausschluss der Bundesrepublik Deutschland - einschließt, ins Land kommen lässt?

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Pflüger, ich stelle vor allen Dingen fest, dass sich - vermittelt durch die UNO und nach sehr intensivem Einsatz zahlreicher Staaten, unter anderem auch der Bundesrepublik - jetzt die Linie durchsetzt, die wir im Wahlkampf als wünschenswert vertreten haben, dass nämlich UNO-Inspekteure ins Land kommen, um die biologischen und chemischen Potenziale von Saddam Hussein zu beseitigen. ({0}) Wir freuen uns, dass wir diese UNO-Resolution mit den Amerikanern und allen anderen verabschiedet haben und auf dieser Basis gemeinsam wieder handlungsfähig werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie eine Zusatzfrage des Kollegen Pflüger?

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte nicht. Im Ausschuss und kürzlich in öffentlichen Fernsehdiskussionen gab es so viele Gelegenheiten dazu. Es soll kein Dialog werden. In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass in Prag auch über die Mittelmeerdimension der NATO-Politik gesprochen wird. Dieser Aspekt wurde von einem Ihrer Redner in einer der letzten Debatten abgetan, und zwar in dem Sinne: Mittelmeer, mein Gott, welches Nebenthema. - Wir meinen, dass die Mittelmeerdimension der Sicherheitspolitik immer bedeutsamer wird. Unsere Nachbarn südlich des Mittelmeers sind nun einmal arabisch-islamische Staaten. Wir haben völlig richtig analysiert, dass das Hauptproblem, nämlich der internationale Terrorismus, aus dieser gesamten Region stammt und dort seinen Ursprung hat. Deshalb muss es in unserem unmittelbaren Interesse liegen, unsere sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit den arabisch-islamischen Staaten zu verbessern. ({0}) Wir sehen, dass sich diese Zusammenarbeit unter anderem deshalb nicht richtig entfalten kann, weil der ungelöste Nahostkonflikt noch im Raum steht. Nun frage ich Sie: Werden die Chancen, den Nahostkonflikt zu lösen, durch militärische Optionen gegenüber dem Irak verschlechtert oder verbessert? Unsere Analyse war völlig eindeutig: Die Bedingungen für eine Lösung des Nahostkonflikts würden durch einen militärischen Angriff auf den Irak verschlechtert. Der Nahostkonflikt ist nicht nur irgendein Konflikt, sondern an ihm macht sich viel Frustration in der arabisch-islamischen Welt fest. Über die Frage, ob dies zu Recht oder zu Unrecht der Fall ist, kann diskutiert werden. Wenn aber die Frustration, die mit den Nährboden für den Terrorismus bildet, abgebaut werden soll, dann muss sich die Strategie der internationalen Politik darauf richten, den Nahostkonflikt energisch anzupacken und zu lösen, statt einen weiteren in der Tat vorhandenen Konflikt über die Schwelle der militärischen Eskalation zu führen. ({1}) Deshalb waren wir dagegen, dass der Konflikt mit dem Irak militärisch eskaliert. Deshalb waren wir für die UNO-Lösung bzw. für die Entsendung von Waffeninspektoren und deshalb sind wir mit der UNO-Resolution einverstanden. Wir hoffen, dass die internationale Gemeinschaft die Kraft hat, Saddam Hussein zu nötigen, alle Bedingungen zu erfüllen, die ihm gestellt worden sind. Das wäre für die Regionalpolitik im Nahen Osten sicherlich ein Segen und würde die Rahmenbedingungen erheblich verbessern, um sowohl konstruktiv auf den Nahostkonflikt einzuwirken als auch dem internationalen Terrorismus beizukommen. ({2}) Lassen Sie mich noch einen Satz zur NATO-Erweiterung sagen. Ich erinnere mich an die Diskussion vor fünf Jahren im Plenum, als sehr viel Skepsis zum Ausdruck gebracht wurde. Ich nehme mich selbst nicht davon aus; ich gehörte damals eher zu den Kritikern, die ihre Befürchtungen vorgebracht haben. Heute kann ich feststellen, dass sich zum Glück alle Befürchtungen nicht erfüllt haben. Das hängt damit zusammen, dass die NATO-Erweiterung damals durch begleitende Strategien, wie den NATO-Russland-Pakt, den NATO-Ukraine-Pakt und die transatlantische Partnerschaft flankiert wurde. All diese Maßnahmen stehen nicht nur auf dem Papier, wie damals befürchtet wurde, sondern sie wurden mit Leben erfüllt. Wir sehen heute mit großer Genugtuung, dass diese Sicherheitspartnerschaft mit Russland bei allen Streitpunkten - Tschetschenien ist der wichtigste - gewachsen ist. Von daher beurteilen wir es nicht mehr mit Skepsis, sondern begrüßen es, dass weitere mittel- und osteuropäische Staaten in die NATO aufgenommen werden. Dabei handelt es sich um einen wichtigen Schritt, um den Transformationsstaaten Stabilität zu verschaffen und Sicherheit in den mittel- und osteuropäischen Raum zu exportieren. Wir meinen, dass eine in diesem Sinne erweiterte NATO, die eng mit der OSZE und dem Europarat zusammenarbeitet, einen wichtigen Schritt zu einem System kooperativer Sicherheit darstellt, das sich unter Anerkennung der Zuständigkeiten der UNO für die globalen Fragen um die Sicherheit im gesamten Raum zwischen Vancouver und Wladiwostok bemühen wird. Dabei handelt es sich um eine sehr positive Entwicklung. Wir ermuntern die Bundesregierung, in Prag mit demselben Selbstbewusstsein, mit dem sie in den vergangenen Monaten Außenpolitik betrieben hat, zu verhandeln. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat der Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Rede von Herrn Volmer zur NATO kann man nur verstehen, wenn man einige Jahre zurückblickt. Vor acht Jahren waren die Grünen noch für die Auflösung der NATO und einige Jahre davor wurden bei öffentlichen Gelöbnissen noch „Mörder, Mörder!“-Rufe skandiert. Das ist der Hintergrund. ({0}) Die NATO ist kein Aggressionsbündnis, Herr Volmer, sondern ein Friedensbündnis. ({1}) Ich würde sogar sagen, die NATO ist die größte Friedensund Freiheitsbewegung in Europa. In Prag findet in der Tat ein historischer Gipfel statt. Ich habe in der Vorbereitung auf diese Debatte die Protokolle der großen NATO-Debatte gelesen, die 1955 im Deutschen Bundestag stattfand. Mit Blick auf die Einheit Europas und den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur NATO - schließlich muss heute besonders den jungen Leuten das Bild der NATO nach innen und außen erklärt werden - hat Bundeskanzler Konrad Adenauer am 15. Dezember 1954 in dieser Debatte erklärt: Mit dem Abschluss der Pariser Verträge wird die Bundesrepublik eine sichere Basis gewinnen, von der sie die Politik der Wiedervereinigung mit Bedacht führen kann. ... Die Verwirklichung der Verträge gewährleistet der Bundesrepublik Wohlfahrt, Freiheit und Sicherheit. Adenauer hatte Recht und er bekam von der Geschichte Recht. ({2}) Wenn ich aus der Debatte von damals weiter zitieren würde, dann würde ersichtlich - das wissen Sie sehr wohl -, dass Sie von der SPD damals gegen den Beitritt Deutschlands zur NATO gestimmt haben. Die NATO als Verteidigungs- und Wertebündnis, die Freundschaft zu Amerika und den NATO-Partnern waren für uns in Deutschland und in Europa der Garant der Sicherheit, des Friedens, der Freiheit und der Demokratie. Zum historischen Gipfel in Prag. In der Debatte am 27. Februar 1955 hat von Brentano ausgeführt - daran wird deutlich, welche Entwicklung wir die letzten 50 Jahre genommen haben -: Immer stärker empfinden wir, dass der Zweite Weltkrieg im Jahre 1945 keinen Abschluss gefunden hat und dass die Waffenruhe, die vor nunmehr zehn Jahren eingetreten ist, nur scheinbar einen Friedenszustand geschaffen hat. ... So ist es nicht gelungen, die Länder am östlichen Rande des europäischen Kontinents zu befrieden. Sie wurden nicht befreit, sondern erobert und mit den Mitteln des Terrors und der Unterdrückung in den sowjetischen Machtbereich eingegliedert. Mit dem Gipfel von Prag ist auch für diese Länder die Spaltung Europas überwunden. Das ist die große historische Bedeutung dieses Gipfels. ({3}) Nach Polen, Ungarn und Tschechien - dafür haben Helmut Kohl und Volker Rühe die Voraussetzungen geschaffen - werden jetzt die baltischen Staaten, Slowenien, die Slowakei, Bulgarien und Rumänien dem westlichen Friedensbündnis beitreten können. Die Tür bleibt auch für eine noch engere Zusammenarbeit mit Russland offen. Für uns, die mittlere Generation - ich bin 1955 geboren -, war und ist es ein Traum: Europa in Frieden und in Freiheit. Aber leider ist dieser Traum nicht Realität geworden. Wir erleben die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus: die Anschläge vom 11. September 2001, in Bali und in Moskau. Saddam Hussein ist der gefährlichste Diktator der Welt und fordert uns heraus. Er droht mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Der Gipfel von Prag muss ein Signal der Entschlossenheit und Solidarität nach Bagdad geben. Wir in der NATO stehen an der Seite der Amerikaner bei der Durchsetzung der UN-Resolution. Es darf keinen deutschen Sonderweg geben. ({4}) Herr Bundesaußenminister, Herr Bundeskanzler, nach dem 11. September 2001 haben Sie den Amerikanern das Versprechen der „uneingeschränkten Solidarität“ gegeben. Dann war Wahlkampf und es kam die Kehrtwende: Sie stempelten Bush zum Aggressor dieser Welt. Jetzt stellt sich die Frage: Wie kommen Sie aus dieser Situation wieder heraus? Mit ein paar Fernsehbildern und kurzen Smalltalks in Washington gelingt Ihnen das nicht. Wie kommen Sie aus der Ecke der internationalen Isolation im Bündnis und in der Weltvölkergemeinschaft heraus? Herr Bundesaußenminister, Herr Bundeskanzler, der Preis dafür kann nicht der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sein. ({5}) Für dieses Kompensationsgeschäft auf dem Gipfel in Kopenhagen haben Sie kein Votum, keine Mehrheit im Volk. Dies ist im Übrigen nicht der richtige Weg. Die Türkei ist in Europa und in der NATO ein herausgehobener Partner. Ich betone das, damit es nicht zu Missverständnissen kommt. Wir wollen Sonderbeziehungen und einen ehrlichen, offenen Weg der Kooperation und Zusammenarbeit mit der Türkei. Volker Rühe hat einen Weg dazu angedacht. Es gibt weitere Möglichkeiten der Entwicklung von Sonderbeziehungen. Aber der Preis dafür, aus der internationalen Isolation herauszukommen, kann nicht die Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union sein. ({6}) Noch nie seit 1949 hat ein deutscher Bundeskanzler, innenpolitisch motiviert, außenpolitisch einen solchen Schaden angerichtet. Saddam Hussein bedroht mit einem Arsenal von biologischen und chemischen Kampfwaffen, mit Terrorkommandos und Trägerraketen, mit Milzbranderregern, Nervengas und Pockenviren auch Berlin, Düsseldorf, Frankfurt. ({7}) - Natürlich auch die Menschen in München. Herr Bundesaußenminister, es ist nicht Ihre Pflicht, auf der Regierungsbank zu gähnen, ein gelangweiltes Gesicht zu machen und dann wieder fröhlich dreinzublicken. Sie erinnern mich an den Violinisten auf der „Titanic“: La546 chen bis zum Untergang. - Sie werden dem Ernst der Lage nicht gerecht. ({8}) Es ist die Pflicht der Bundesregierung, der Öffentlichkeit die Wahrheit über den Ernst der Gefährdung mitzuteilen. Herr Bundesverteidigungsminister, Sie werden im Anschluss reden. Ich frage Sie: Warum warnen die Geheimdienste vor Anschlägen in Deutschland? Wie schützen Sie die Bevölkerung in Deutschland und in Europa? Die Kernfrage: Welchen Beitrag wird Deutschland leisten, wenn Saddam die Forderungen der UN nicht erfüllt? Sie drücken sich um die Beantwortung genau dieser Kernfrage: Welchen Beitrag ist Deutschland in der Weltvölkergemeinschaft zu leisten bereit, wenn Saddam diese Forderung der UN nicht erfüllt? Taten sind gefragt, meine sehr verehrten Damen und Herren. Es geht darum, Saddam zu entwaffnen. ({9}) Die Entwaffnung von Saddam ist nur mit unseren Partnern und nur mithilfe unserer amerikanischen Freunde möglich, nicht durch einen deutschen Sonderweg, nicht durch einen Alleingang. Wir fordern Sie, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, deshalb dazu auf: Korrigieren Sie Ihre antiamerikanischen Äußerungen und korrigieren Sie Ihre politische Fehleinschätzung! Fehler in der Wirtschafts- und Finanzpolitik sind für jeden Bürger messbar. Wir erleben es dieser Tage. Es ist eine katastrophale Bilanz: blauer Brief, 4,2 Millionen Arbeitslose usw. Es ist eine lange Reihe. Fehler in der Außenpolitik sind unermesslich und Sie haben auf diesem Gebiet unermessliche Fehler gemacht. Machen Sie auch gegenüber der deutschen Bevölkerung klar, dass Saddam der Feind ist, der unsere innere Sicherheit und unser Leben bedroht! Machen Sie deutlich, dass die Durchsetzung der UN-Resolution der Weg zu Frieden und Sicherheit ist! Wir können hierbei nicht abseits stehen. Prag muss dazu ein Signal setzen. Wir müssen dabei aktiv mitwirken. ({10}) Eine Schlussbemerkung. Herr Struck, in Prag geht es natürlich auch um die Frage der NATO-Weiterentwicklung. Wir sagen ein klares Ja zur NATO-Eingreiftruppe im Sinne von Art. 5. Natürlich sind die Fragen der europäischen Eingreiftruppe und der NATO-Response-Force offen. Beide Organisationen stehen auf dem Papier, sind Papiertiger. Wie finanzieren Sie diese Projekte? Wir brauchen Investitionen beim strategischen Transport - Transportflugzeug -, bei der Kommunikation, bei der Aufklärung usw. Herr Bundesverteidigungsminister, neue Schwerpunkte im Sicherheitsbereich bedeuten auch, dass dem im Verteidigungshaushalt Rechnung getragen werden muss. Wir brauchen eine moderne und mobile Bundeswehr. Deshalb ist Ihr Kurs, die Bundeswehr jetzt kaputtzusparen, unsere Soldaten ohne modernstes Gerät und ohne beste Ausrüstung in Auslandseinsätze zu schicken, falsch und unverantwortlich. Sie müssen zu der Frage, mit welchem Risiko deutsche Soldaten in einen Einsatz in Kabul, in Afghanistan geschickt werden, Stellung beziehen. Herr Verteidigungsminister, wo sind Ihre Vorschläge für eine gemeinsame Streitkräfteplanung in Europa und für eine Koordinierung der Verteidigungshaushalte? Wo sind die Vorschläge zur Vergemeinschaftung der Sicherheitspolitik in Europa? Das ist ein eigenes Thema. In der derzeitigen Bedrohungslage brauchen wir den Schulterschluss mit Amerika. Wir brauchen den Schulterschluss im Bündnis. Unsere Bürger erwarten in diesen Kernfragen auch den Konsens in diesem Haus. Die Union stellt sich ihrer Verantwortung. Danke schön. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Bundesminister Peter Struck das Wort.

Dr. Peter Struck (Minister:in)

Politiker ID: 11002278

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach den Beiträgen der Oppositionsredner zum Prager Gipfel fragt man sich: In welcher Welt leben Sie eigentlich? ({0}) Was glauben Sie denn, was wir in den Ausschusssitzungen über die internationale Bedrohung vorgetragen haben? Ich kann mir Ihren Beitrag, Herr Schäuble, nur dadurch erklären, dass Sie bei den Ausschusssitzungen nicht anwesend gewesen sind. ({1}) Wir informieren die Abgeordneten in den Ausschüssen über die Bedrohungslage und wir diskutieren sogar hier im Parlament darüber. Angesichts dessen lasse ich mir von Ihnen nicht den Vorwurf gefallen, wir ließen die Deutschen in Unsicherheit. Das ist ein unredlicher Vorwurf, aber bei Ihnen nicht neu. ({2}) Nun will ich etwas zu dem Prager Gipfel sagen. Erstens. Es muss völlig klar sein, dass wir in einer historischen Situation sind und dass neue Aufgaben auf uns zukommen, übrigens auch auf diejenigen Länder, die wir zu Beitrittsverhandlungen auffordern. Das ist nicht einfach. Ich habe darüber in der letzten Woche mit dem bulgarischen Präsidenten gesprochen. Was die Verbesserung ihrer militärischen Fähigkeiten und ihrer Infrastruktureinrichtungen angeht, kommt einiges auf diese Länder zu. Es wird ein langer Weg für diese Länder sein. Trotzdem sind wir froh, dass dieser Schritt gelingt. Es ist eine konsequente Fortsetzung des begonnenen Weges und ich hoffe, dass noch weitere Länder Mitglieder der NATO werden. ({3}) Auf dem Prager Gipfel geht es natürlich auch um die Verbesserung unserer militärischen Fähigkeiten. Die Bundesregierung klärt im Moment mit ihren NATO-Partnern ganz intensiv ab, an welcher Stelle die militärischen Fähigkeiten verbessert werden können. Deutschland hat in vielen Bereichen sogar die Federführung bei der Verbesserung dieser Fähigkeiten übernommen, zum Beispiel - um nur einen Fall zu nennen - bei Medical Care. Wir diskutieren zurzeit darüber, ob wir zwischenzeitlich über Interimslösungen eine Lufttransportkapazität schaffen können, bevor die A400M geliefert werden, was auch unter Federführung der Bundesregierung geschieht. Das heißt, in vielen einzelnen Panels - so werden diese Bereiche in NATO-Kreisen genannt - gibt es eine Verbesserung der militärischen Fähigkeiten. Wir müssen natürlich auch bündeln und Konzentrationen vornehmen. Ich sage Ihnen, Herr Kollege, der Sie vor mir gesprochen haben: Ich handele natürlich auch im Hinblick auf die Haushaltssituation in der Bundesrepublik Deutschland. Ich mache das, was wir dort angemeldet haben und was nachher umgesetzt wird, selbstverständlich auch von meinen finanziellen Möglichkeiten abhängig. Ich verspreche der NATO in Prag keinerlei Luftschlösser. Diese kann und will ich nicht verantworten. ({4}) Ich verstehe allerdings überhaupt nicht, wie Sie zu dem Schluss kommen, ich sorgte nicht dafür, dass unsere Soldaten ordentlich ausgestattet sind. Ich will Ihnen hier noch einmal sagen - wir werden morgen im Zusammenhang mit Enduring Freedom und vor allen Dingen im Dezember, wenn es um die Fortsetzung des ISAF-Mandats geht, darüber reden -: Unsere 9 500 Soldaten, die im Ausland, auf dem Balkan und vor allen Dingen in Afghanistan, sind, sind so ausgestattet, wie es erforderlich ist. Sie haben den Schutz, auf den sie zur Erfüllung dieses schwierigen Mandats einen Anspruch haben. Die Bundeswehr verfügt dafür über eine gute Ausstattung. Was diese Aussage angeht, machen wir keine Abstriche, Herr Kollege. Ich will gar nicht bestreiten, dass wir im Zusammenhang mit den Finanzproblemen, die sich aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung ergeben haben, natürlich auch über den Verteidigungshaushalt nachdenken. Wer wäre ich denn, wenn ich bestreiten würde, dass auch das Verteidigungsministerium einen Beitrag zum Konsolidierungskurs leisten muss. Aber tun Sie doch nicht so, als stellten wir unser Land damit schutzlos! Diesen Eindruck hat Herr Schäuble zu erwecken versucht. Das ist typisch Schäuble und das ist typisch falsch. ({5}) Ich komme auf die NATO-Response-Force zu sprechen. Die Vorschläge, die die Amerikaner zunächst in Warschau unterbreitet haben und die vor kurzem konkretisiert worden sind, begrüßen wir. Es gibt natürlich die Gefahr - das haben die Redner der Opposition und der Kollege Markus Meckel völlig zu Recht angesprochen -, dass es Kollisionen mit der EU-Truppe - wir sind dabei, sie aufzubauen - gibt. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir werden kein Konkurrenzverhältnis zulassen, das daraus erwächst, dass man dem Motto „Es gibt jetzt nur noch die NATO-Response-Force; die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik vergessen wir“ folgt. Wir setzen zusammen mit Javier Solana auf die Weiterentwicklung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. ({6}) Das ist unsere Aufgabe. Ich denke, darüber besteht zwischen der Opposition und uns Konsens. Es ist gut, dass wir diesen Konsens haben. Man muss die weiteren Entwicklungen dann im Einzelnen abklären. Es gibt Vorschläge der Amerikaner, die von einer Truppe von 21 000 Soldaten ausgehen. Wir haben in den internen Vorbesprechungen dazu erklärt, dass wir uns vorstellen können, Einheiten der Marine, der Luftwaffe und des Heeres für eine solche Truppe bereitzustellen. Aber das muss noch abgeklärt werden. Mir sind in diesem Zusammenhang zwei Dinge wichtig. Erstens. Auch wenn es zu einer NATO-ResponseForce kommt, gilt das Konsensprinzip. Das heißt nicht: Einer bestimmt und die anderen müssen mitmachen. Vielmehr müssen alle 19 NATO-Mitglieder - später werden es 26 sein - entscheiden. ({7}) Zweitens. In diesem Zusammenhang muss man die besondere verfassungsrechtliche Situation in unserem Land bedenken. Das heißt, es wird vor jedem Einsatz einer solchen NATO-Response-Force mit deutscher Beteiligung einen Bundestagsbeschluss geben müssen. Das muss man wissen. Wir lassen den Parlamentsvorbehalt nicht einfach fallen; das dürfen und wollen wir nicht. ({8}) - Darüber kann man dann reden, wenn es so weit ist. - Bei der NATO-Response-Force sind wir noch gar nicht so weit. Nehmen wir einmal an, diese würde tatsächlich in die Tat umgesetzt: Nach den bisherigen Planungen ist dann davon auszugehen, dass diese Truppe nicht vor dem Jahr 2004 bereit wäre, die entsprechenden Aufgaben zu übernehmen. Wir werden uns das alles genau und in Ruhe überlegen und darüber auch in den Ausschüssen diskutieren. Aber dass unser Verfassungsrecht gilt, daran will wohl keiner rütteln, auch Sie nicht. Lassen Sie mich noch etwas zum Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und unserem Land sagen: Sie haben hier ein Zerrbild gezeichnet. Ich kann absolut nicht bestätigen, dass alles ganz katastrophal sei. Ich habe ein angenehmes und freundliches Gespräch mit meinem Kollegen Donald Rumsfeld geführt. Ich habe allerdings den Eindruck, dass es Ihnen von der CDU lieber gewesen wäre, wenn wir uns geprügelt hätten. Diesen Gefallen wollte ich Ihnen aber nicht tun, meine Damen und Herren. ({9}) - Nein, ich hätte nicht den Kürzeren gezogen. - Wir arbeiten eng zusammen und diese enge Zusammenarbeit wird natürlich fortgesetzt werden. Rumsfeld und ich haben vereinbart, dass wir uns auch am Rande des Gipfels von Prag noch über verschiedene bilaterale Fragen unterhalten. Der Kollege Donald Rumsfeld hat gesagt - lassen Sie mich das hier auch noch darstellen -, dass er dankbar für den Beitrag ist, den Deutschland im Kampf gegen den internationalen Terrorismus leistet. Zu Recht ist er dafür dankbar. ({10}) Wir sind nach den Vereinigten Staaten von Amerika das Land, das das größte Kontingent stellt. Andere, die Sie hier lobend erwähnen, stehlen sich langsam aber sicher schon wieder durch die Hintertür heraus: So reduzieren einerseits Staaten bei ISAF in Afghanistan oder auf dem Balkan ihre Kontingente, beschwören aber andererseits in mächtigen Worten die internationale Solidarität. Wir brauchen uns nichts vorwerfen zu lassen. Es ist gut, dass die amerikanische Administration das auch im Rahmen meiner Gespräche mit Donald Rumsfeld anerkannt hat. Unsere Zusammenarbeit wird sich weiterhin gut entwickeln. ({11}) Nun haben sich gestern die Amerika-Experten, Herr Pflüger und andere, darüber aufgeregt, dass Herr Rumsfeld auf die Frage, wie er heute die Beziehungen beurteile, gesagt hat, sie seien „unpoisoned“. Ich habe ihm gesagt, er habe eine sehr gute Antwort gegeben. Das Wort von den vergifteten Beziehungen traf nämlich nicht die Realität der deutsch-amerikanischen Beziehungen und stammte nicht von Rumsfeld, sondern, wie wir wissen, anderswoher. ({12}) Wir Verteidigungsminister untereinander haben gute Arbeitsbeziehungen. Manche sagen, dass die Persönlichkeitsstrukturen von Rumsfeld und mir in etwa gleich gelagert seien und uns das helfen würde. Das gilt für die Arbeitsebene ohnehin. Es hat zwischen Deutschland und Amerika bei der Vorbereitung der „Prague Capabilities Commitment“-Gespräche nie Probleme gegeben. Das haben Sie allerdings nicht mitbekommen, weil Sie an solchen Gesprächen als Opposition nicht beteiligt sind; Sie können kritisieren, die Regierung muss arbeiten. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Karl Lamers, CDU/CSUFraktion.

Dr. Karl A. Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002716, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister Struck, wenn überhaupt jemand in diesem Haus in einer Traum- und Scheinwelt lebt, dann ist es die rot-grüne Bundesregierung und insbesondere deren Verteidigungsminister, der hier den Eindruck zu erwecken versucht, als befinde sich die Bundeswehr in einem Topzustand, als sei sie top ausgerüstet, finanziell gut ausgestattet und in der Lage, glaubwürdig ihren Beitrag in der NATO zu leisten. Das Gegenteil ist der Fall. Sie, meine Damen und Herren, tragen für diesen Zustand die Verantwortung. ({0}) Der NATO-Gipfel in Prag stellt eine historische Wegmarke dar. Wir freuen uns, dass nach der ersten Öffnung im Jahre 1999 nun weitere Länder die Chance bekommen, Mitglied der NATO zu werden. Dies stärkt die Stabilität in Europa. Aber eines muss an diesem Tag auch gesagt werden: Das Tor der Allianz muss auch in Zukunft für neue Mitglieder offen bleiben. Der Wappenspruch der NATO, „Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit“, ist unverändert gültig. Verändert aber hat sich die Welt, in der wir leben. Grundlegend verändert haben sich die Gefahren, denen wir uns heute, 53 Jahre nach Gründung der NATO, ausgesetzt sehen. Bedroht sind wir von der unheiligen Allianz des internationalen Terrorismus und von Massenvernichtungswaffen. Deshalb stellt sich für mich die zentrale Frage so: Ist die NATO heute ausgerichtet auf die neuen Gefahren? Ist sie in der Lage, unsere Bürger so zu schützen, wie sie das zu Zeiten des Kalten Krieges über viele Jahrzehnte erfolgreich getan hat? Haben wir gegenüber diesen globalen Bedrohungen eine gemeinsame Strategie im Bündnis? Und, Herr Minister Struck, haben wir wirklich die notwendigen modernen militärischen Fähigkeiten? ({1}) Was tut eigentlich diese Bundesregierung, um als zweitgrößtes NATO-Land einen wesentlichen Beitrag zur Sicherheit in Europa und in der Welt zu leisten? ({2}) Diese Bundesregierung, der Bundeskanzler, der Außenminister und weite Teile von Rot-Grün haben im Wahlkampf unserem Land und der NATO schwersten Schaden zugefügt. ({3}) In einer Art spontaner Wahlkampfeinlage mit Ihrer Totalverweigerung, die quasi in dem Spruch gipfelte: „Nur wer Schröder wählt, wählt den Frieden“, haben Sie Deutschland als Bündnispartner isoliert und so einen dramatischen Vertrauensverlust heraufbeschworen. ({4}) Das Gewicht unseres Landes als zuverlässiger Bündnispartner wurde minimalisiert. Das war Ihnen egal. Die Dr. Karl A. Lamers ({5}) Drohkulisse gegenüber dem Irak wurde durch die Haltung der deutschen Regierung geschwächt. Auch das hat Sie nicht gestört. In der deutschen Öffentlichkeit entstand gar der Eindruck, die USA seien gefährlicher als die Massenvernichtungswaffen des irakischen Diktators Saddam Hussein. Wundern Sie sich da, dass die Medien im Irak über diese unvermutete Schützenhilfe aus Deutschland jubelten? Die lange Geschichte der NATO zeigt eines deutlich: Die Stärke unseres transatlantischen Bündnisses lag und liegt in der Solidarität seiner Mitglieder, im Konsens und in der Geschlossenheit des Handelns. ({6}) Darum haben Sie sich keinen Deut geschert, ganz nach dem Motto: Lieber ohne Skrupel wieder ins Amt als seriös in die Opposition. ({7}) - Bleiben Sie ruhig und hören Sie zu, da können Sie noch etwas lernen! Ihnen ging es um Wahlkampf pur. Für die Operation „Wiederwahl“ waren Sie bereit, jeden Preis zu zahlen. Jetzt muss Schluss sein mit einem deutschen Sonderweg! ({8}) Gehen Sie heraus aus Ihrer selbst verursachten Isolierung! Beseitigen Sie durch glaubwürdiges Handeln allen Zweifel an der bündnispolitischen Verlässlichkeit Deutschlands! Um es hier einmal auf den Punkt zu bringen: Die Vereinigten Staaten von Amerika sind nicht nur unsere Verbündeten, sie sind auch unsere Freunde. ({9}) Seit Konrad Adenauer bis hin zu Helmut Kohl sind wir stets vertrauensvolle Freunde Amerikas gewesen. Das muss wieder so werden. Jeder weiß, was wir Amerika verdanken. Jeder weiß aber auch, dass dies im ureigensten deutschen Sicherheitsinteresse liegt. Allein sind wir auf verlorenem Posten. ({10}) Nur so gewinnt Deutschland Einfluss und die Chance, Politik auf internationaler Ebene wieder entscheidend mitzugestalten, zurück. Frankreich und Großbritannien haben Ihnen gezeigt, wie man es macht. Im Bundesrat hat der Bundeskanzler den netten Satz gesagt: Erst das Land, dann die Partei.- Ja, Herr Bundeskanzler, das gilt auch international: Erst das Land und das Bündnis, dann lange gar nichts und dann, wenn überhaupt, die Partei. Halten Sie sich daran im Interesse unseres Landes und des Bündnisses! ({11}) Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, Herr Minister Struck. Als Verteidigungspolitiker treiben mich unsere militärischen Fähigkeiten um. Sie übernehmen seit Jahren immer wieder neue Verpflichtungen in der NATO, in der Europäischen Union und in den Vereinten Nationen. Sie verpflichten sich, im Rahmen der Defense Capability Initiative der NATO wichtige Beiträge zu leisten. Sie geben Erklärungen ab und Ihre Pläne füllen Tausende von Seiten. Nur eines haben Sie vergessen, nämlich Ihren Erklärungen auch Taten folgen zu lassen. ({12}) Seit Jahren ist die Misere im Bereich des Verteidigungshaushaltes offensichtlich. Es gibt nicht mehr, sondern immer weniger Geld für immer mehr Aufgaben. Um schöne Worte sind Sie nie verlegen. Reales Minus heißt bei Ihnen „Verstetigung“. Aber die Bundeswehr braucht keine Lyrik, sondern sie braucht Zuwendung und mehr Geld ({13}) sowie eine bessere Ausrüstung und eine bessere Ausstattung. Nach der Wahl folgt nun die Krönung des Ganzen: nochmals eine halbe Milliarde Euro weniger für den Verteidigungshaushalt. Ich frage Rot-Grün und den Minister: Wo sind denn die Haushaltsmittel, mit denen die Bundeswehr modernisiert werden soll und Fähigkeiten wie strategische Aufklärung und Lufttransport ausgebaut und gesteigert werden sollen? Wie wollen Sie, Herr Minister Struck, sicherstellen, dass Europa technologisch nicht noch weiter von Amerika abgehängt wird? Eine dritte Anmerkung. Auf der Tagesordnung in Prag steht das Projekt einer schnellen Eingreiftruppe, NATOResponse-Force, mit der das Bündnis auf Bedrohungen durch Terrorismus und Massenvernichtungswaffen reagieren soll. Alle spüren, dass wir bedroht sind. Deswegen müssen wir etwas tun. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Wir unterstützen dieses Vorhaben; es dient unserer Sicherheit. ({14}) Aber auch hier gilt das, was ich zuvor gesagt habe: Es reicht nicht aus, dass die Bundesregierung auf Gipfelkonferenzen den „strammen Max“ spielt, aber anschließend in Deutschland den Geldhahn zudreht. So kann es in der Sicherheitspolitik nicht weitergehen. ({15}) Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit. Geschlossenheit und mehr Geld für Verteidigung ist der Preis für unsere Sicherheit. Deshalb unsere Forderung an Sie: Stellen Sie sicher, dass Deutschland tatsächlich einen substanziellen Beitrag leisten kann und achten Sie darauf, dass es zu sinnvollen Ergänzungen und nicht zu doppelten Strukturen und zu Konkurrenz zu den ebenfalls wichtigen und dringend erforderlichen europäischen Krisenreaktionskräften kommt! Unsere Sicherheit kann heute an jedem Punkt der Erde herausgefordert werden. Dieser Herausforderung muss sich die NATO als Ganzes stellen. Die NATO-Response-Force wird auch für uns Deutsche in Zukunft ein wesentlicher Garant unserer Sicherheit sein. Die Botschaft lautet: Deutschland muss wieder ein berechenbarer Partner im Bündnis werden, auf den man sich auch in Krisenzeiten verlassen kann. Dazu wollen und müssen wir alle einen glaubwürdigen Beitrag leisten, insbesondere aber die Damen und Herren der Bundesregierung und von Rot-Grün. Ich danke Ihnen. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim bevorstehenden NATO-Gipfel in Prag steht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, wie auf die neuen Herausforderungen des internationalen Terrorismus geantwortet werden soll. Darüber scheint mir aber das andere Thema, nämlich die zweite NATO-Osterweiterung, zu sehr in den Hintergrund zu treten, als sei es nur ein Routinevorgang. Das ist es aber ganz und gar nicht. Tatsächlich ist die bevorstehende Einladung an sieben Staaten in Mittelost- und Südosteuropa ein historischer Schritt mit erheblich stabilisierender Wirkung für Europa. ({0}) Das wird besonders deutlich, wenn wir uns die Situation aus der Perspektive der beteiligten Staaten ansehen. Ich nenne zunächst das Baltikum. Vor 62 Jahren wurde das Baltikum von der Sowjetmacht und vor 60 Jahren von der deutschen Wehrmacht besetzt. Ein großer Teil der baltischen Juden war zu diesem Zeitpunkt schon ermordet worden. Vor 58 Jahren wurde das Baltikum von den Nazis befreit und dann wieder der sowjetischen Herrschaft unterworfen. Man kann sich vorstellen, dass diese Vergangenheit, die darin bestand, zwischen den großen Mächten zu liegen und ihnen dadurch immer ausgeliefert zu sein, eine traumatische Erfahrung für diese Staaten, für diese Völker war. Vor diesem Hintergrund ist die Einladung zum NATOBeitritt ein wirklich historischer Schritt: heraus aus dieser prekären Zwischenlage und hinein in ein System kollektiver Sicherheit, wobei das Reißen neuer Gräben verhindert wurde. ({1}) Dieser Erweiterungsprozess ohne Brüche wurde möglich, weil die Erweiterung als ein Prozess gestaltet wurde, der aus Dialog, Kooperation, inneren Reformen und Konfliktbeilegungen bestand. Bei den Balkankrisen und -kriegen in den 90er-Jahren gehörte die NATO zunächst mit zu den vielen, die zu spät kamen. Inzwischen hat sie sich bei den von ihr geführten Einsätzen in Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Mazedonien bestens bewährt. Diese Einsätze dienen der Friedensunterstützung im Auftrag der Vereinten Nationen und im Rahmen der UN-Charta und finden in enger Kooperation mit den anderen internationalen Organisationen, mit den Vereinten Nationen, der OSZE usw., mit staatlichen und nicht staatlichen Akteuren statt. Mit dem 11. September 2001 ist der Wandel hin zu asymmetrischen Bedrohungen und Konfliktmustern offensichtlich geworden. Die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, durch privatisierte Gewalt und Regionalkonflikte sowie durch die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen steht nun im Vordergrund. Darauf muss sich die NATO selbstverständlich konzeptionell und in ihren Fähigkeiten einstellen. Im Antrag der CDU/CSU werden darauf leider sehr einfache, verkürzte und gefährliche Antworten gegeben. ({2}) - Lesen Sie sich Ihren Antrag noch einmal durch! - Sie reden in diesem Zusammenhang von der NATO als einzigem Akteur. ({3}) Sie fordern den weltweiten Einsatz gegen den Terrorismus und Massenvernichtungswaffen und schweigen dabei darüber, was in diesem Zusammenhang ein zuallererst bewährtes Mittel ist - Kollege Meckel hat zum Beispiel darauf hingewiesen -: Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung, Abrüstungszusammenarbeit, wobei wir gerade mit Russland erhebliche Erfolge erzielen. ({4}) Wenn Sie hier schweigen und nur von der militärischen Bekämpfung der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen sprechen, dann ist die eindeutige Schlussfolgerung, dass man gegen Besitzer von Massenvernichtungswaffen militärisch vorgehen will. So wie ich Sie von der CDU/CSU kenne, können Sie das nicht ernst meinen. ({5}) - Jetzt könnten auch Sie von der CDU/CSU ruhig klatschen. Die Antworten auf die neuen Herausforderungen müssen demgegenüber folgenden zentralen Anforderungen genügen: Erstens. Den hochkomplexen Bedrohungen kann erfolgreich nur multidimensional, also im Rahmen politischer Gesamtkonzepte, mit dem ganzen Spektrum verschiedenster Instrumente und Maßnahmen begegnet werden. Zweitens. Der Rahmen dabei muss selbstverständlich das Völkerrecht, die Charta der Vereinten Nationen, die Dr. Karl A. Lamers ({6}) Stärkung des Rechts sein. Willkür darf selbstverständlich nicht mit Willkür begegnet werden; denn Willkür würde - so sind die handgreiflichen Erfahrungen aus sehr vielen Jahrzehnten der Terrorismusbekämpfung - neuen Bedrohungen Aufschwung geben, anstatt sie einzudämmen. ({7}) Drittens. Jede internationale Organisation und jeder Staat - so mächtig er ist - ist mit der Bewältigung der neuen Bedrohungen hoffnungslos überfordert. Entscheidend ist das komplementäre, also sich ergänzende, Zusammenwirken im multilateralen Rahmen. Der Vorschlag einer NATO-Response-Force kann in diese Richtung wirken. Eine solche neue Fähigkeit darf aber nicht der notwendigen Stärkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zuwiderlaufen, sie gar unterlaufen. Viertens. Wir diskutieren in diesem Zusammenhang - richtigerweise - sehr viel über neue Fähigkeiten. Dabei sollten wir aber etwas anderes nicht vergessen: Die NATO erhebt den Anspruch einer Wertegemeinschaft. Das gilt nach innen und außen. Angesichts des Terrorkriegs in Tschetschenien und angesichts von Tendenzen, das internationale Gewaltmonopol unter der Überschrift „offensive Selbstverteidigung“ zu unterhöhlen, ist eine Wertediskussion in der Sicherheitspolitik und in der NATO überfällig. In diesem Sinne wünschen wir dem NATO-Gipfel einen erfolgreichen Verlauf und der Bundesregierung dabei eine sehr wirkungsvolle Rolle. Danke schön. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Heubaum, SPD-Fraktion.

Monika Heubaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002674, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der NATO ist es in den letzten Jahren gelungen, in geradezu beispielhafter Weise militärische und zivile Instrumente mit dem gemeinsamen Ziel der langfristigen Friedenssicherung und Krisenprävention zu vereinen. Entgegen einer landläufigen Meinung ist die NATO keineswegs ein reines Verteidigungsbündnis. Der Nordatlantikvertrag vom 4. April 1949 bekennt sich zu den Grundsätzen der Satzung der Vereinten Nationen. Die Vertragspartner setzen sich für die Grundsätze der Demokratie, für die Freiheit der Person und die Herrschaft des Rechts ein. Sie wollen zu friedlichen, freundschaftlichen internationalen Beziehungen beitragen und sind bestrebt, Gegensätze in ihrer Wirtschaftspolitik zu beseitigen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu fördern. Die NATO hat sich über die Kernaufgabe der kollektiven Verteidigung hinaus der internationalen Konflikt- und Krisenprävention und -bewältigung zugewandt. Das sind starke zivile Dimensionen. ({0}) Seit 1949 haben sich die Weltsicherheitslage und die nationalen Gesellschaften erheblich verändert. Das wird insbesondere am NATO-Beitritt von Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik im Jahre 1999 deutlich. Daran wird doch erkennbar: Aus früherer Konfrontation ist Kooperation geworden. Das gemeinsame Eintreten für eine demokratische Werteordnung der NATO-Mitgliedstaaten ist in den letzten Jahren beeindruckend unter Beweis gestellt worden. Durch das Engagement der NATO im Rahmen der internationalen Gemeinschaft konnte der politische Prozess der inneren Versöhnung und der Normalisierung der Lebensbedingungen vor allem auf dem Balkan weiter vorangebracht werden. Die Intervention der NATO verhinderte beispielsweise in Mazedonien einen Bürgerkrieg und ermöglichte dort im September dieses Jahres demokratische Wahlen. Vor einigen Tagen wurde im Kosovo auf kommunaler Ebene gewählt. In den neuen Gemeindegremien werden bedeutend mehr Frauen vertreten sein, sie stellen nunmehr immerhin 28 Prozent aller Ratsmitglieder. Diese neue Sitzverteilung stellt eine deutliche Veränderung und einen erheblichen Zuwachs im Vergleich zu den 8 Prozent bei früheren Wahlen dar. Der Aufbau solcher demokratischer Strukturen wird auch durch den Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten ermöglicht. Ihnen gebührt an dieser Stelle für ihre Leistungen Dank und Anerkennung. ({1}) Aufgrund der Krisenabwendung und der Entschärfung von Konflikten im Voraus durch den Einsatz der NATO konnten in der Vergangenheit Zivilgesellschaften aufgebaut werden, in denen die Rechtsstaatlichkeit, die Wahrung der Menschenrechte, die wirtschaftliche Stabilität und die Aussöhnung der Bevölkerungsgruppen gedeihen. Die NATO steht mittlerweile für Krisenmanagement bei präventiven Friedenseinsätzen. Eine der Hauptaufgaben der NATO ist dabei, Verlässlichkeit und Vertrauen zu vermitteln. Diese Politik führt zu langfristigen sicherheitspolitischen Auswirkungen. Nur dort, wo Vertrauen und Sicherheit herrschen, kann Rechtsstaatlichkeit gedeihen, können wirtschaftliche Beziehungen zu Wohlstand und Fortentwicklung führen und Stabilität gesichert werden. ({2}) So heißt es im strategischen Konzept des Nordatlantikpaktes, dass Sicherheit und Stabilität sowohl politische, wirtschaftliche, soziale und umweltpolitische Elemente als auch die unverzichtbare Verteidigungsdimension einschließen. Die Erhaltung der natürlichen knapper werdenden Ressourcen, beispielweise von Trinkwasser und fossilen Energieträgern - auch das ist mit elementarer Sicherheitspolitik verbunden -, zählt zu den gemeinsamen globalen Zielen. Eine solche friedliche Entwicklung ist auch im deutschen Interesse. Dabei können wir nicht außer Acht lassen, dass es aufgrund der immer schwieriger werdenden Weltlage erforderlich ist, noch bessere Fähigkeiten zur Abwehr neuer Bedrohungen zu entwickeln. Die Aufnahme weiterer Mitgliedstaaten in die NATO wird ein großer Gewinn an Sicherheit und Stabilität für Europa sein. ({3}) Eine abgestimmte Aufgabenverteilung und die Zusammenarbeit der NATO mit der sich ständig vergrößernden Europäischen Union werden die zukünftigen europäischen Sicherheitsstrukturen maßgeblich prägen. So müssen zum Beispiel der euro-atlantische Raum gestärkt, Krisen bewältigt und verhütet und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen unterbunden werden. Europa und die NATO haben dazu mehrere Instrumente geschaffen, zum Beispiel die EU-NATO-Arbeitsgruppen zur Entwicklung formaler Beziehungen zwischen beiden Organisationen oder den neu geschaffenen NATO-Russland-Rat. Die NATO hat dabei die sich aus dem Ende des Kalten Krieges ergebende Chance zur Verbesserung der Normalisierung der Beziehungen zu Russland genutzt. Zu den im NATO-Russland-Dialog vereinbarten Themen gehören unter anderem die Sicherheit im euro-atlantischen Raum, gemeinsame friedenserhaltende Operationen, nukleare Sicherheit, Transparenz und Vertrauensbildung. Die Öffentlichkeitsarbeit der NATO konnte seit dem Frühjahr 2001 durch die Einrichtung eines NATO-Informationsbüros in Moskau verbessert werden. Man kann also mit Recht sagen, dass durch diesen Dialog zwischen der NATO und Russland aus ehemaligen Gegnern Partner geworden sind. Aber auch die Funktion der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der außer den 19 NATO-Mitgliedstaaten weitere 17 assoziierte Parlamente - zu ihnen zählen auch die nun an der NATO-Erweiterung teilnehmenden Staaten - angehören, darf nicht unterschätzt werden. Diese Institution hat sich im Laufe der Jahre zu einem euro-atlantischen Parlament entwickelt. Das Gremium sieht seine Hauptaufgabe darin, die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in allen verteidigungs- und sicherheitspolitischen Fragen zu fördern, die Vorstellungen der Atlantischen Allianz bei der Formulierung nationaler Politiken einzubringen, zur Entwicklung einer atlantischen Solidarität in den Ländern der Allianz beizutragen und als Bindeglied zwischen den nationalen Parlamenten und der NATO zu dienen. Durch ihre verabschiedeten Empfehlungen und Entschließungen geben die Parlamentarier neue Impulse, unter anderem für die Arbeit des Nordatlantikrats. Der Beitritt der neuen Mitgliedstaaten, die die hierfür festgelegten Kriterien erfüllen müssen - sie bekommen die Mitgliedschaft ja nicht geschenkt - und Reformen durchführen müssen - sie mussten es und sie müssen es weiterhin tun, um noch bestehende Defizite zu beseitigen -, wird ein großer Gewinn an Sicherheit und Stabilität für Europa sein. Dadurch wird eine demokratische Einheit in Europa von der Ostsee bis zum Balkan geschaffen. Deutschland hat die Vorbereitung der Aspirantenstaaten auf eine Mitgliedschaft aktiv unterstützt und wird diese Unterstützung auch weiterhin geben. Die Bedeutung der NATO als Fundament einer europäischen Friedensordnung und als Grundlage für die Sicherheit Deutschlands bleibt dabei selbstverständlich bestehen. Die sich abzeichnenden Beitritte sind ein Erfolg für beide Seiten: für die Beitrittsländer, aber auch für die NATO. Die Unterzeichnung der Beitrittsprotokolle ist für den März kommenden Jahres vorgesehen; die Ratifizierungsprozesse sollen im Mai 2004 beendet sein. Wir haben uns stets für einen zügigen Beitrittsprozess ausgesprochen und werden zu dieser Entwicklung unseren Beitrag leisten. Für uns steht aber auch fest: Die Politik der offenen Tür muss auch nach Prag fortgesetzt werden. ({4}) In diesem Sinne wünscht die SPD-Bundestagsfraktion dem NATO-Gipfel in Prag viel Erfolg. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS im Bundestag lehnt den von Ihnen vorgelegten Antrag ab. Wir teilen aber auch nicht die Intention, die Bundesaußenminister Fischer zum bevorstehenden NATOGipfel hier vorgetragen hat. Grundsätzlich widersprechen wir dem Begehren der Opposition zur Rechten. Der Antrag von CDU/CSU zielt unverhohlen auf eine weitere Militarisierung der Außenpolitik, auf eine drastische Aufrüstung und auf eine bedingungslose Solidarität gegenüber der USA-Politik. Einem solchen Irrsinn unterliegt die PDS nicht. ({0}) 1989/90 fand eine 40 Jahre währende Blockkonfrontation ihr Ende. Politische Instrumente aus jener Zeit, die auf eine friedliche Konfliktbewältigung zielten, wurden seitdem klein gehalten, zum Beispiel die OSZE. Militärische Instrumente, die auf ein Diktat der Stärke setzen, wurden ausgebaut, damit auch die NATO. Das illustriert die Grundrichtung. Wir finden diese Grundrichtung falsch. Unübersehbar ist auch, dass die UNO immer mehr in den Schatten der NATO gerät und dass die Weltorganisation von den USA ein ums andere Mal vorgeführt wird. ({1}) Das ist der Rahmen, aus dem sich unsere begründete Skepsis gegenüber dem NATO-Gipfel speist. Hinzu kommt die Militärdoktrin der USA. Sie kündigen Abrüstungs- und Kontrollverträge. Sie reklamieren für sich das Recht auf Präventivkriege und drohen gar mit atomaren Erstschlägen. Eine solche Politik ist weltuntauglich. Sie passt nicht ins 21. Jahrhundert. Sie wird auch nicht mit dem Verweis auf terroristische Bedrohungen besser. Deshalb, Kollege Schäuble, hörte ich heute mit Schrecken, dass Sie namens der CDU/CSU-Fraktion sagten: „Mit ... einem Zweitschlag schützen Sie unsere Bevölkerung nicht.“ Das ist nichts anderes als die unsägliche Parole: „Angriff ist die beste Verteidigung.“ Erhellender konnte Herr Schäuble heute den Schafspelz nicht ablegen. ({2}) Folglich steht die rot-grüne Bundesregierung vor der Frage, ob sie als NATO-Mitglied sich dieser Doktrin anschließt, also unterordnet, oder ob die Bundesrepublik gemeinsam mit anderen eine selbstbewusste Politik verfolgt, die mehr denn je auf zivile, demokratische und humane Lösungen setzt. ({3}) Auf dem Prager Gipfel wird es um die zweite Runde der NATO-Erweiterung gehen. Es geht um die Beziehungen der NATO zu Russland und zur Ukraine und es geht um die Modernisierung der NATO. So jedenfalls beschreibt es die veröffentlichte Tagesordnung. Was darüber hinaus verhandelt wird, entzieht sich wie stets der allgemeinen Beobachtung und Bewertung. Ich verweise auf diesen Aspekt, weil wir demnächst - schon heute Abend - über ein Entsendegesetz befinden. Es soll unter anderem klären, wann und durch wen deutsche Soldaten in Marsch gesetzt werden dürfen - nicht zur Übung in der Lüneburger Heide, sondern in militärische Auseinandersetzungen weltweit. Auf dem NATO-Gipfel wird ebenso wie in der EU über schnelle Eingreiftruppen beraten. Ich will jetzt nicht fragen, in welchem Verhältnis beide stehen sollen. Ich möchte aber das Interesse der Öffentlichkeit auf das kleine Wörtchen „schnell“ richten, denn dahinter verbirgt sich nicht nur die Frage nach militärischen Gefahren, sondern auch die Frage: Wer entscheidet über solche Militäreinsätze? Noch liegt das Votum beim Bundestag, der eine Zweidrittelmehrheit benötigt. Ihrer Rede, Herr Bundesaußenminister Fischer, und auch Ihrer Rede, Herr Struck, habe ich entnommen, dass dies so bleiben soll. Es gibt aber auch andere unübersehbare Bestrebungen: Das Parlament soll beispielsweise durch den heute vorliegenden FDP-Antrag zum Entsendegesetz entmündigt werden. ({4}) Auch dies ist ein Weg, den die PDS nicht mitgehen wird. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/44 an den in der Tagesordnung aufgeführ- ten Ausschuss sowie an den Verteidigungsausschuss, den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Günter Baumann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/ CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung vor Sexualverbrechen und anderen schweren Straftaten - Drucksache 15/29 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Günter Baumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Sozialtherapeutische Maßnahmen für Sexualstraftäter auf den Prüfstand stellen - Drucksache 15/31 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und soziale Sicherung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebe ich dem Kollegen Wolfgang Bosbach von der CDU/CSUFraktion das Wort.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Juni 1996: Die erst 13-jährige Ulrike Everts verschwindet nach einem Ausflug mit ihrer Ponykutsche spurlos. Später wird ihre Leiche in der Nähe von Oldenburg gefunden. September 1996: Die siebenjährige Natalie Astner wird von einem 29-jährigen Mann entführt, sexuell missbraucht und getötet. Der Täter war wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs verurteilt, aber vorzeitig auf Bewährung freigekommen. Januar 1997: Die zehnjährige Kim Kerkow wird missbraucht und ermordet. Die Polizei ermittelt einen Täter, der bereits viele Jahre zuvor schon einmal ein junges Mädchen vergewaltigt hatte. März 1998: Die elfjährige Christina Nytsch kommt von einem Ausflug nicht mehr nach Hause. Sie wird nach fünf Tagen aufgefunden, ebenfalls missbraucht und ermordet. Bei der Suche nach dem Mörder werden von etwa 18 000 Männern aus der Heimat des Opfers Speichelproben für die Erstellung eines genetischen Fingerabdrucks genommen. Darunter war auch eine Probe des Täters, der später die Ermordung der Ulrike Everts aus dem Jahre 1996 gesteht. September 2002: Ein vielfach wegen Vergewaltigung Vorbestrafter vergewaltigt die 16-jährige Jennifer aus Neumünster und bringt sie anschließend um. Der Täter war erst im Juni nach Vollverbüßung einer einschlägigen Vorstrafe aus der Haft entlassen worden. Dies sind nur wenige Beispiele aus einer ganzen Reihe von fürchterlichen Verbrechen, die nicht nur für die hilflosen und gequälten Kinder, sondern auch über jede betroffene Familie, über deren Angehörige und Freunde unendliches Leid gebracht haben. Jedes einzelne Verbrechen hat zu Recht große öffentliche Aufmerksamkeit erfahren und die gesamte Bevölkerung erschüttert. Es ist die wichtigste Aufgabe, es ist unsere Pflicht, die Pflicht des Staates, die Bürger so gut wie möglich vor Verbrechen und Kriminalität in all ihren Erscheinungsformen zu schützen. ({0}) Diesen staatlichen Schutz benötigen insbesondere die Schwächsten in unserer Gesellschaft, unsere Kinder. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen CDU und CSU die Bevölkerung wirksamer vor Verbrechen, insbesondere vor Sexualstraftätern, schützen. Natürlich wissen wir - das wissen wir alle -, dass das Strafrecht und das Strafprozessrecht immer nur fragmentarisch wirken können. Einen vollständigen Schutz vor Kriminalität können weder die Gerichte noch die Polizei noch der Gesetzgeber versprechen oder gar garantieren, jedenfalls nicht in einem freiheitlichen Rechtsstaat. Aber gerade weil das leider so ist, ist es nicht nur unser Recht, sondern unsere Pflicht, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um die Bevölkerung vor Kriminalität zu schützen. Was mit rechtsstaatlichen Mitteln getan werden kann, muss auch mit rechtsstaatlichen Mitteln getan werden und ist daher politisch geboten. ({1}) Es kann doch keinen ernsthaften Zweifel daran geben, dass unser geltendes Recht eine ganze Reihe von Schutzlücken enthält. Die Schutzlücken wollen wir schließen, und zwar eher heute als morgen. „Wegschließen für immer“, hat der Bundeskanzler als Konsequenz für Sexualstraftäter gefordert. Dabei ging es ihm im Gegensatz zur Union nicht um die Sache, ({2}) sondern ihm ging es um die Wirkung. Ihm ging es ausschließlich um den Applaus der Öffentlichkeit. ({3}) Wäre es ihm um die Sache gegangen, hätte er uns in unserem Anliegen unterstützt. Dann hätte die Bundesregierung in der vergangenen Wahlperiode nicht unsere Initiative für einen besseren Schutz der Bevölkerung verhindert. ({4}) Kriminalität kann man nicht mit Sprüchen, sondern nur mit entschlossenen Taten bekämpfen. Als ich vor 14 Tagen von dieser Stelle aus darauf hingewiesen habe, dass und warum dringender Handlungsbedarf besteht, hat die Kollegin Griefahn von der SPD dazwischen gerufen: Wieso? Die Zahlen gehen doch zurück! Die geistige Haltung, die hinter diesem Zwischenruf steht, ist unerträglich und ich fürchte, dass sie leider für viele nicht untypisch ist. ({5}) Im vergangenen Jahr wurden 15 117 Fälle des sexuellen Missbrauchs nur von Kindern registriert. ({6}) Es ist zu befürchten, dass wir gerade im Bereich dieser Delikte eine sehr hohe Dunkelziffer haben. ({7}) Das ist der politische Unterschied zwischen uns. Sie sagen bei 15 117 Fällen: Es sind 464 Fälle weniger als im vergangenen Jahr, es besteht kein Handlungsbedarf. Wir sagen: 15 117 Fälle sind 15 117 Fälle zu viel und deswegen müssen wir etwas tun. ({8}) - Sie, Herr Stünker, regen sich schon auf, wenn man Ihnen nur den Zwischenruf Ihrer eigenen Kollegin vorhält, die bei ihrer Bemerkung nämlich unterschlagen hat, dass gerade die Zahl der Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern im vergangenen Jahr erheblich gestiegen ist. ({9}) Deswegen ist es höchste Zeit zum Handeln. Wir wollen, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern im Strafgesetzbuch als genau das bezeichnet wird, was er tatsächlich ist, nämlich als Verbrechen und nicht nur als Vergehen. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Bosbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) Durch diese Heraufstufung der Tat zu einem Verbrechen würde endlich auch die Verabredung zum sexuellen Missbrauch eines Kindes unter Strafe gestellt. Wir wollen die Überwachung der Telekommunikation bei allen Formen des Kindesmissbrauchs und auch bei der Herstellung und Verbreitung von Kinderpornographie ermöglichen. Gerade die Zahl der Fälle von Besitz und Verbreitung der Kinderpornographie ist im letzten Jahr dramatisch gestiegen. Ein Auszug aus der polizeilichen Kriminalstatistik der Bundesrepublik Deutschland verzeichnet bei Besitz und Beschaffung von Kinderpornographie einen Anstieg um 72 Prozent und bei der Verbreitung von Kinderpornographie einen Anstieg von 60,8 Prozent in einem Jahr. Wenn Sie, Herr Ströbele, sagen, im Grunde müssten wir nichts ändern, dann ist das genau der Grund, warum ich von Ihnen weder eine Zwischenfrage noch einen Zwischenruf akzeptieren kann. Die Verharmlosung soll hier im Parlament nicht fortgesetzt werden. ({1}) Wir wollen die Möglichkeit der DNA-Analyse konsequent nutzen. Warum tun wir uns so schwer beim genetischen Fingerabdruck? ({2}) Es ist ernsthaft behauptet worden - der Kollege ist nicht mehr Mitglied des Deutschen Bundestages -, mit dem genetischen Fingerabdruck könne man die Erbinformationen des Täters oder des Tatverdächtigen offen legen. Das ist doch verrückt. Wir können mit dem genetischen Fingerabdruck nur feststellen: Stammt die Spur vom Täter oder vom Tatverdächtigen, ja oder nein? Mehr nicht. Es ist nichts anderes als ein Fingerabdruck. Bis jetzt kann der genetische Fingerabdruck nur bei einer Anlasstat von erheblicher Bedeutung genommen werden. Diese Beschränkung ist zu eng. Wir wollen, dass der genetische Fingerabdruck bei jeder Straftat mit einem sexuellen Bezug genommen werden kann, also beispielsweise - um hier Klartext zu reden - auch von Spannern und Exhibitionisten. Mein Mitleid hält sich hier stark in Grenzen. ({3}) Schließlich sind 75 Prozent aller Vergewaltiger vorbestraft. 25 Prozent aller Vergewaltiger haben ihre kriminelle Karriere als Spanner oder Exhibitionisten begonnen. Deswegen sagen wir auch an dieser Stelle: Wehret den Anfängen! Wir wollen bundesweit und einheitlich die nachträgliche Sicherungsverwahrung einführen. Es gibt Fälle, in denen das Gericht bei der Aburteilung des Täters fälschlicherweise davon ausgegangen ist, dass er nach Verbüßung seiner Haft ein straffreies Leben führen wird. Dann hat sich aber erst während der Haftzeit herausgestellt, dass der Täter nicht therapierbar und nicht resozialisierbar ist und dass es in hohem Maße wahrscheinlich ist, dass er nach der Haftentlassung weiterhin schwere und schwerste Straftaten begehen wird. Wenn die Lage so ist, dann darf der Täter nicht in die Freiheit entlassen werden. Dann muss der Schutz der Bevölkerung Vorrang vor dem Freiheitsinteresse des Täters haben. ({4}) Andere Vorgehensweisen wären im wahrsten Sinne des Wortes lebensgefährliche Experimente auf Kosten der Bevölkerung. Sollte die Bundesregierung, wie von Ihnen, Frau Zypries, signalisiert worden ist, auf die Vorschläge der Union tatsächlich eingehen, dann würden wir das begrüßen. Besser spät als nie! Aber Sie sollten bei Ihren Bemühungen, sich in unsere Richtung zu bewegen, nicht auf halbem Weg stehen bleiben; denn wenn Sie eine Schutzlücke nur halb schließen, dann haben Sie die Schutzlücke überhaupt nicht geschlossen. Deswegen bitte ich Sie herzlich: Setzen Sie sich insbesondere in den eigenen Reihen durch; denn entscheidend ist nicht das, was Sie sagen, sondern das, was Sie tun. Nicht an ihren Sprüchen, sondern an ihren Taten sollt ihr sie erkennen! ({5}) Heute vor einer Woche haben die Richter, die Polizisten und die Bediensteten im Strafvollzug übereinstimmend erklärt, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung dringend notwendig sei. Wenn Sie schon nicht auf uns hören wollen, dann hören Sie wenigstens auf die Praktiker, die tagtäglich mit solchen Schwerverbrechern zu tun haben. ({6}) Denken Sie bei Ihrer Entscheidungsfindung nicht nur an die Koalition, sondern vor allen Dingen auch an die Opfer. Danke für das Zuhören. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich erteile jetzt das Wort der Bundesministerin Brigitte Zypries.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bosbach, Sie haben ja Recht, wenn Sie sagen, wir sollten alles tun, was rechtsstaatlich möglich und rechtspolitisch notwendig ist. Dafür haben Sie den Beifall von der rechten Seite dieses Hauses zu Recht bekommen. Aber wenn wir beginnen wollen, ernsthaft darüber zu diskutieren, was zu tun ist, dann bedeutet das auch, dass wir redlich sein müssen. Zur Redlichkeit gehört, dass man zwischen den gesetzlichen Strafandrohungen und dem unterscheidet, was im Vollzug geschieht. ({0}) Fast alle Fälle, die Sie zu Beginn Ihrer Rede populistisch aufgelistet haben, waren ja nicht so gelagert, dass das Maß der Strafandrohung nicht ausreichend gewesen wäre. Das sind doch alles Fälle, in denen es im Vollzug gehapert hat, ({1}) in denen die Täter vorzeitig freigelassen wurden oder sich zum Beispiel selbst befreit haben. Das müssen wir sauber auseinander halten. Sie haben dankenswerterweise anerkannt - auch ich möchte das betonen -, dass uns an einer sachlichen Debatte über das zur Diskussion stehende Thema liegt. Das ist in der Tat so; denn dieses Thema ist keines, das sich für kleinliches politisches Gezänk eignet. Wir müssen hier sachlich sein, weil wir sonst nicht weiterkommen. ({2}) Zur Sachlichkeit gehört aber auch, dass Sie anerkennen müssen, dass die jetzige Koalition in der vergangenen Legislaturperiode den Schutz gerade vor gefährlichen Sexualstraftätern ganz erheblich verbessert hat ({3}) - das müssen Sie schon anerkennen - und dass die Bundesländer, egal ob sie von der SPD oder der Union regiert werden, in den letzten Jahren im Bereich des Strafvollzugs und des Maßregelvollzugs deutliche Verbesserungen erzielt haben. Auf diesem Weg müssen wir sie unterstützen. Darauf zielt ja auch Ihr weiter gehender Antrag, den Sie gestellt haben. ({4}) Damit wir uns nicht falsch verstehen: Auch wir sind der Auffassung, dass jedes Opfer einer Gewalttat ein Opfer zu viel ist. Deswegen dürfen wir hier keine halben Sachen machen. ({5}) Wir dürfen - das will ich an dieser Stelle betonen - dabei allerdings nicht nur den strafrechtlichen Rahmen sehen, sondern es geht auch darum, die Länder mit ins Boot zu bekommen. Wir haben in der kriminologischen Forschung und in der forensischen Psychiatrie erhebliche Fortschritte zu verzeichnen. Wir verfügen heute über bessere Prognosemethoden, über bessere Behandlungsmethoden und über eine bessere Aus- und Fortbildung der forensisch-psychiatrischen Gutachter. Auf diesem Weg müssen wir weitergehen und die Länder dabei unterstützen, dass sie das, was in ihrer Verantwortung liegt, auch tun. ({6}) Ich komme nun auf einzelne Punkte zu sprechen, auf die ich schon in meiner Rede bei der Aussprache zur Regierungserklärung des Kanzlers eingegangen bin. Bei der Neugestaltung von Strafvorschriften, namentlich beim sexuellen Missbrauch von Kindern, stimmen wir mit Ihnen insoweit überein, als die Verwerflichkeit dieser Taten durch das Strafmaß zum Ausdruck gebracht werden muss. Man muss aber trotzdem zu einer notwendigen Abstufung nach der Schwere der Tat kommen, da sich das sonst im Vollzug als kontraproduktiv erweisen könnte, weil sich keiner mehr traut, diese Taten anzuklagen, weil es sich immer gleich um schwere Verbrechen handelt. Ich bitte Sie ganz herzlich: Lassen Sie uns im Verlauf der Ausschussberatungen gemeinsam darüber reden, wie wir das sinnvoll regeln. Die Strafandrohung alleine bringt es eben nicht. ({7}) Daneben müssen wir auch prüfen, ob § 140 StGB, also die Belohnung und die Billigung von Straftaten, um den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern erweitert werden muss. Ich bin der Auffassung, dass ein neuer Tatbestand, nach dem sich strafbar macht, wer auf ein Kind einwirkt, um es zu sexuellen Handlungen zu bringen, präventiv wirken wird. ({8}) Ich möchte einen Bereich aufgreifen, der in Ihrem Gesetzentwurf nicht zufriedenstellend beachtet wird. Wir müssen adäquat auf die neuen Möglichkeiten des Internet reagieren. ({9}) Es gibt dort andere Formen, wie man Straftaten begehen kann. Darauf müssen wir eingehen. ({10}) - Das mag für Sie vielleicht ein Randthema sein; für uns ist es keines. Schließlich halte ich es auch für notwendig, die Strafvorschriften gegen Verbreitung und Besitz kinderpornographischer Schriften zu verschärfen. In einem Punkt - Herr Bosbach, Sie haben das eben angesprochen - gibt es zwischen uns allerdings keine Gemeinsamkeit: in der Frage der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Eine isoliert angeordnete Sicherungsverwahrung ist aus unserer Sicht Gefahrenabwehr und damit reine Ländersache. ({11}) Wir haben in der letzten Legislaturperiode dazu Vorschläge vorgelegt und haben den Richtern die Möglichkeit gegeben, einen Vorbehalt auszusprechen. Das heißt, alle betreffenden Urteile seit dem letzten Jahr sind abgedeckt, es gibt also kein Regelungsdefizit mehr. ({12}) Ihr Vorstoß bezüglich der nachträglichen Sicherungsverwahrung ist erstaunlich. Gerade die unionsregierten Länder folgen doch unserer Rechtsauffassung und haben entsprechende Landesgesetze verabschiedet. ({13}) Die ersten Gerichtsentscheidungen zeigen zwar, dass in dem Bereich in den Ländern noch nachgebessert werden muss. Ich denke aber, auch das werden wir schaffen. Ihr Vorschlag würde darüber hinaus neben den Ersttätern auch die Mehrfachtäter umfassen und damit echte Verwerfungen zur eigentlichen Anordnung der Sicherungsverwahrung zur Folge haben. Das müssten Sie einmal überprüfen. All diese Punkte erwähne ich nur am Rande; denn ich möchte viel lieber die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellen und Sie auffordern, da, wo wir uns einig sind, gemeinsam zu überlegen, wie wir die Situation verbessern können. ({14}) Dabei sollten wir den Blick auch auf die Felder richten, die für den Schutz der Bevölkerung entscheidend sind und wozu das Strafrecht, wie wir meinen, einen wichtigen Beitrag leisten kann. Deswegen halten wir es für richtig, auch die Sicherungsverwahrung für Heranwachsende vorzusehen. Es geht darum, dass die Heranwachsenden, die nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden, in die Sicherungsverwahrung überführt werden können. Um es klar zu sagen: Es sind nur ganz wenige Fälle. Es gibt aber besonders gefährliche frühkriminelle Hangtäter, bei denen die Prognose bereits gestellt werden kann. Für diese ganz wenigen Fälle sollten wir so etwas vorsehen. Meine Damen und Herren, im Rahmen meiner Antrittsrede habe ich schon darauf hingewiesen, dass wir mit dem gesamten Arsenal der strafprozessualen Möglichkeiten gegen die Verbreitung der Kinderpornographie vorgehen müssen, wobei ich aber nicht glaube, dass jetzt ein Galopprennen zur Änderung des § 100 a StPO beginnen muss. Wir haben bereits in der letzten Legislaturperiode entscheidende Veränderungen durchgeführt. Seither gibt es die Möglichkeit, zur Aufklärung des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern, des Missbrauchs mit Todesfolge und vor allen Dingen - das ist ein wichtiger Aspekt für mich - der gewerbs- oder bandenmäßigen Verbreitung der Kinderpornographie die Telekommunikationsüberwachung einzusetzen. ({15}) Für meine Begriffe ist dieses Instrumentarium insbesondere für diese Bereiche besonders gut geeignet. ({16}) Ehe man eine Erweiterung ins Auge fasst, muss man bedenken, welche Fälle man damit einschließt. Bei den Abhörmaßnahmen muss man immer auch in Rechnung stellen, dass man eine erhebliche Anzahl von Unschuldigen und nicht Betroffenen einbezieht. Deshalb muss man ganz besonders prüfen, ob das im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu realisieren ist. Ich glaube, wir gingen über das Ziel hinaus, wenn wir generell sagen würden, dass bei sämtlichen Formen des sexuellen Missbrauchs - auch wenn bei Einzeltätern nur ein Verdacht besteht - eine entsprechende Überwachung zugelassen werden muss. Ich denke, eine verantwortliche Kriminalpolitik zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Ermittlungsbehörden nur die Instrumente an die Hand gibt, die nötig sind. Wie Sie aus der Rechtsprechung wissen, ist gerade in diesen Fällen ausgesprochen streng zu überprüfen, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wurde. Deshalb haben wir schon in der vergangenen Legislaturperiode beim Max-Planck-Institut eine Untersuchung in Auftrag gegeben. Wir wollen feststellen, wie das tatsächlich wirkt und was dabei herauskommt. Wenn dieser Bericht des MaxPlanck-Instituts vorliegt, werde ich ihn gerne gemeinsam mit Ihnen erörtern. Wir werden dann gemeinsam überlegen, welche Schlussfolgerungen wir daraus zu ziehen haben. ({17}) - Herr van Essen, ich kann Ihnen nur sagen, dass wir ihn schon mehrfach beim Max-Planck-Institut angemahnt haben. Ich teile Ihre Auffassung, dass es ein wenig zu lange dauert. Wissenschaftler kann man aber nur beschränkt drängen. ({18}) Meine Damen und Herren von der Union, die Vorschläge, die Sie zur DNA-Analyse machen, entsprechen weitgehend einem Vorschlag, der im letzten Jahr im Bundesrat eingebracht worden und dort stecken geblieben ist. Wir müssen darüber nachdenken, ob nur Straftaten mit erheblicher Bedeutung Anlasstaten für die DNA-Analyse sein sollen oder ob wir die Schwelle absenken wollen. Es gibt Untersuchungen über die Rückfallquote exhibitionistischer Straftäter, die besagen, dass etwa 1 bis 2 Prozent dieser Straftäter später wegen eines sexuellen Gewaltdeliktes erneut verurteilt werden. Genau hier würde ich ansetzen. Diese Straftäter müssen verhaftet und vor Gericht gestellt werden. Deshalb bin ich dafür, die Möglichkeiten zur Durchführung der DNA-Analyse auszuweiten. Das kann aber nur im Einzelfall geschehen. Wenn der Richter die Prognose stellt, dass mit einer Schuld des Betroffenen zu rechnen ist, ordnet er sie an. Herr Bosbach, ich danke Ihnen, dass Sie in Ihrem Redebeitrag darauf hingewiesen haben, dass Sie das inzwischen wie wir sehen. Auch Sie halten es für besser, die Formulierung „sexueller Bezug“ anstatt „sexueller Hintergrund“ zu wählen. Damit sind Sie ein wenig konkreter geworden. Es ist sehr gut, dass wir uns insoweit einig sind. Zum Abschluss möchte ich noch einige Worte zur Evaluation sozialtherapeutischer Maßnahmen sagen. Es gibt einen Antrag von Ihnen. In diesem unterstreichen Sie völlig zu Recht die Notwendigkeit einer Begleitforschung, was die sozialtherapeutische Behandlung von Sexualstraftätern angeht. Auch ich bin der Auffassung, dass wir diese durchführen müssen. Ich will mit den Länderkollegen gerne darüber reden. Die Länder müssen diese Aufgabe übernehmen, da sie in ihrem Verantwortungsbereich liegt; dort gehört sie hin. Sie sind dafür verantwortlich. Die kriminologische Zentralstelle liefert Daten dazu. Das Justizministerium wird die kriminologische Zentralstelle selbstverständlich darum bitten, diesen Themenbereich weiter zu verfolgen und die Daten auch weiterhin zu liefern, damit wir auf der Basis vernünftiger, empirisch erhobener Daten überlegen können, was zu tun und zu ändern ist. Wie Sie sehen, bin ich der Meinung, dass wir bei der Beratung dieser Gesetzentwürfe in den Ausschüssen zu überzeugenden gemeinsamen Ergebnissen kommen werden. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk von der FDP-Fraktion.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In meinem Wahlkreis beginnt in zwei Wochen der Strafprozess gegen einen Mann, der nach Verbüßung einer erstmaligen Freiheitsstrafe wegen verschiedener Sexualdelikte aus der Haft entlassen wurde, obwohl Grund zu der Annahme bestand, dass eine Sicherungsverwahrung dieses Mannes angezeigt gewesen wäre. Innerhalb weniger Wochen nach seiner Haftentlassung hat er mehrere Frauen äußerst brutal vergewaltigt. In Baden-Württemberg herrschte vor gut einem Jahr Angst und Schrecken, bis dieser Mann festgenommen werden konnte. Die Bevölkerung bringt selbstverständlich kein Verständnis dafür auf, dass in einem solchen Fall seitens des Staates nicht präventiv gehandelt wurde und dass dieser Mann nicht in Sicherungsverwahrung kam. ({0}) Die vorliegende Gesetzinitiative wurde in der vergangenen Legislaturperiode bereits beraten und abgelehnt. Seit August dieses Jahres ist das Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung in Kraft, sodass nur noch ein sehr kleiner Kreis möglicher Straftäter von der vorliegenden Gesetzesinitiative erfasst wird. Warum dies nun doch möglich sein soll, muss in den Ausschussberatungen genau geklärt werden. Schließlich ist es aus rechtsstaatlichen Gründen problematisch, ohne vorherigen richterlichen Vorbehalt mit der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung einen Straftäter ein zweites Mal zu bestrafen, zumal die Sicherungsverwahrung auf eine lebenslange Inhaftierung hinauslaufen kann. Hierbei sind auch die Erfahrungen mit der entsprechenden Ländergesetzgebung in Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen-Anhalt zu prüfen, wo nach meiner Kenntnis die Anwendung von Gesetzen über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Straftäter bisher keine wesentliche Bedeutung erlangt hat. ({1}) Rechtsstaatliche Grundsätze wie das Verbot der Doppelbestrafung und das Rückwirkungsverbot dürfen nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. ({2}) Hinzu kommt, dass die Gesetzgebungskompetenz im Strafrecht beim Bund liegt. Der zweite Schwerpunkt des vorliegenden Gesetzentwurfs betrifft die Strafverschärfung für sexuellen Missbrauch von Kindern von sechs Monaten Mindestfreiheitsstrafe auf ein Jahr. Damit werden diese Delikte vom Vergehen zum Verbrechen heraufgestuft. Es steht außer Frage, dass alle Missbrauchshandlungen an Kindern ein Verbrechen an deren Seele darstellen. ({3}) Durch die Strafverschärfung nach Ihren Vorstellungen würde zwar die Bevölkerung, aber sicherlich nicht die Vielzahl betroffener Kinder geschützt. Der Gesetzentwurf lässt die Belange der Opfer nach meinem Dafürhalten sogar außer Acht. Die Straftaten des sexuellen Missbrauchs sind in den allermeisten Fällen Beziehungstaten und eben nicht solche Taten wie Sie, Herr Kollege Bosbach, sie anfangs aufgeführt haben. In den 15 117 Fällen, von denen Sie gesprochen haben, stammen die allermeisten Täter aus dem sozialen Umfeld des Kindes; die Fälle sind insofern nicht mit dem zu vergleichen, was Sie sehr prägnant geschildert haben und was sicherlich grauenhafte Folgen für die Kinder hat. ({4}) Die Opfer sind oft nur dann zur Aussage und zur Mitarbeit bei der Vielzahl von Missbrauchsfällen, die zur Anzeige kommen, bereit, wenn sie davon ausgehen, dass der Täter, der oft ein naher Verwandter oder ihnen sonst nahe stehender Mensch ist, nicht zu hart bestraft wird. ({5}) Kinder haben eher ein Interesse daran, die für sie oft über lange Zeiträume andauernde und gerade auch seelisch sehr belastende Situation zu beenden, als dass sie eine Bestrafung der Täter wünschen. ({6}) Ich spreche ausdrücklich aus der Sicht der Kinder. Diesen Konflikt des Opfers kann eine Strafverschärfung nicht lösen. Vielmehr werden leichtere Formen des Kindesmissbrauchs weniger ernst genommen werden und auch für den Täter unbedeutender, da er sich dann, wie es die Gesetzesvorlage ausführt, auf einen minder schweren Fall berufen kann. Der Täter fühlt sich in der Auffassung, es sei ja nicht so schlimm gewesen, eher noch bestätigt. Ein Schritt in die richtige Richtung ist die Schaffung eines spezifischen Tatbestandes gegen das Anbieten von Kindern für sexuellen Missbrauch. Hiermit werden die Möglichkeiten, die die Datennetze bieten, endlich strafrechtlich berücksichtigt werden. Ich denke, dieser Mangel bedarf dringend der Aufhebung. Es ist höchste Zeit, dass hier etwas geschieht. Da halte ich den Gesetzentwurf für sehr richtig. Über die Möglichkeiten der DNA-Analyse ist in den Ausschüssen nochmals zu beraten. Insbesondere Belange des Datenschutzes müssen gewahrt bleiben. Inwieweit der Ausbau sozialtherapeutischer Einrichtungen und die Erhöhung der Anzahl entsprechender Haftplätze eine Optimierung der Behandlungsmaßnahmen von Straftätern nach sich ziehen, sollte nicht zuletzt auch in Anbetracht der Kosten überprüft werden. Ich warne davor, den angestrebten Schutz der Bevölkerung vor Sexualstraftaten durch Strafverschärfungen so zu polarisieren, dass im Ergebnis eine Bagatellisierung der Vielzahl durchschnittlicher Missbrauchsstraftaten eintritt. ({7}) Damit wäre den Opfern nicht geholfen. Es entspräche sicherlich auch nicht dem Sinn und Zweck der Gesetzesvorlage. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Laurischk, ich beglückwünsche Sie zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard ScheweGerigk von Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im letzten Jahr sind vier Kinder einem der schlimmsten Verbrechen zum Opfer gefallen, das wir uns vorstellen können. Sie wurden sexuell missbraucht und getötet. Auch für die Angehörigen ist es kein Trost, wenn wir feststellen, dass die Zahl dieser furchtbaren Delikte abnimmt. Vor zehn Jahren waren es sieben Kinder, vor 20 Jahren noch 13 Kinder. Wir müssen alles dafür tun, um solche Straftaten möglichst zu verhindern. Zu Recht fragt sich die Gesellschaft nach jedem dieser schrecklichen Fälle: Tun wir wirklich alles zum Schutz der Kinder? In diesem Kontext steht auch der heutige Gesetzentwurf der CDU/CSU. Ich nehme Ihnen ab, verehrte Kolleginnen und Kollegen, dass Sie es gut meinen, aber gut gemeint ist nicht immer gut. Die Mittel, die Sie vorschlagen, sind ungeeignet. Sie missbrauchen die Ängste der Bevölkerung nach solchen Sexualverbrechen, um populistische Maßnahmen vorzuschlagen. ({0}) Sie suggerieren, mit einer Erhöhung des Strafmaßes könne der Schutz der Opfer vor Sexualstraftaten verbessert werden. Das ist nicht nur undifferenziert, sondern auch kontraproduktiv. ({1}) Neben dieser grausamsten Form sexualisierter Gewalt gibt es eine hohe Zahl an sexuellen Übergriffen. Herr Bosbach hat es gerade gesagt: Jedes Jahr werden circa 15 000 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern angezeigt. Drei Viertel der Opfer sind Mädchen, ein Viertel der Opfer Jungen. Hinzu kommen jährlich ungefähr 7 000 Vergewaltigungen. Dabei kommen die Täter meistens aus dem Familien- oder Bekanntenkreis der Opfer. Sexualisierte Gewalt ist Mord an der Seele der Kinder; das wissen alle, die sich mit den Opfern beschäftigen. Wenn fremde Menschen diese Verbrechen begehen, ist die Traumatisierung der Kinder schon schwer genug zu verarbeiten. Wenn aber der Täter zum vertrauten, familiären oder sozialen Umfeld gehört, ist die Tat schier unerträglich. Ich nenne in diesem Zusammenhang auch die vielen bekannt gewordenen Missbrauchsfälle von Priestern. Die Anzahl der registrierten Fälle von sexuellem Missbrauch hat in den letzten Jahrzehnten insgesamt abgenommen. Wir wissen aber auch, dass die weit überwiegende Zahl der Fälle nach wie vor nicht zur Anzeige gebracht wird. Hier hilft Prävention durch Information. Die größere öffentliche Sensibilisierung für das Thema hat zu einer gestiegenen Anzeigebereitschaft seit Beginn der 90er-Jahre geführt. Hier müssen wir auch weiter ansetzen; denn die Strafanzeige ist nun einmal die Grundlage, um Täter strafrechtlich verfolgen und auch verurteilen zu können. Herr Bosbach, Ihre Vorschläge gehen da einfach an der Praxis vorbei. Wenn eine Erhöhung der Mindeststrafe die Opfer tatsächlich schützen würde, dann hätten Sie uns an Ihrer Seite. Sie tut es aber nicht. ({2}) Ich habe mir zur Vorbereitung dieser Debatte die Rechtsprechungspraxis der letzten Jahre angeschaut. Die Vergleichszahlen von 1984, 1993 und 1998 belegen: Im Fall von sexuellem Kindesmissbrauch sind insgesamt ein Anstieg der Zahl der verhängten Freiheitsstrafen und eine höhere Ausschöpfung des Strafmaßes zu verzeichnen. Aber worauf es hier besonders ankommt, ist: Die Anzahl derjenigen, die zu mindestens einem Jahr verurteilt wurden, hat ebenso zugenommen wie die Zahl der zu einer mehr als fünfjährigen Haftstrafe Verurteilten. Das können Sie in dem ersten periodischen Sicherheitsbericht von BMI und BMJ aus dem Jahr 2001 nachlesen. Bereits heute ist jeder Fall von sexuellem Missbrauch, der die Gefahr einer erheblichen Schädigung der seelischen Entwicklung mit sich bringt, mit einer Mindest560 strafe von einem Jahr belegt. Also das, was Sie wollen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, gibt es schon. Ihr Vorschlag, den Opferschutz durch eine Erhöhung des Strafrahmens für „einfachen“ sexuellen Missbrauch zu verbessern, zielt in die falsche Richtung. Wollen Sie wirklich, dass die einvernehmliche sexuelle Handlung zwischen einer 13-Jährigen und einem 14-Jährigen zu einer Jugendstrafe führt? Und eine andere Folge ist absehbar: Eine Heraufstufung des Strafmaßes hätte voraussichtlich vor allem für die Opfer negative Folgen; die Kollegin von der FDP hat es gerade ausgeführt. Es käme immer zu einer Hauptverhandlung mit den entsprechenden schädlichen Auswirkungen für die Kinder. Auch in den leichtesten Fällen wäre eine Verfahrenseinstellung gegen Auflagen nicht möglich. Gerade unter dem Aspekt des Opferschutzes ist dies nur als kontraproduktiv zu bezeichnen, wie es auch der Anwaltverein in seiner Pressemitteilung formuliert hat. Mit der von Ihnen vorgeschlagenen nachträglichen Sicherungsverwahrung und der DNA-Analyse wird sich gleich mein Kollege Montag intensiv auseinander setzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der vergangenen Legislaturperiode deutliche Verbesserungen zum Schutz der Opfer erreicht. Ich nenne nur das Gewaltschutzgesetz, die Heraufsetzung des Beginns der Verjährungsfrist für Schmerzensgeldansprüche wegen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung auf das 21. Lebensjahr, die Telefonüberwachung bei schwerem sexuellen Missbrauch und Kinderpornographie. Das sind nur einige Punkte. Wir werden uns weiterhin sowohl für den verbesserten Opferschutz als auch für die sozialtherapeutische Behandlung der Täter einsetzen. Sich für das Recht von Mädchen und Jungen auf seelische und körperliche Unversehrtheit einzusetzen, das muss unser aller Anliegen sein. Mit dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf ist das nicht möglich. Lassen Sie uns aber in den Beratungen noch einmal schauen, ob es Dinge gibt, die wir gemeinsam auf den Weg bringen können, um diesem Ziel nahe zu kommen. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Röttgen von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf die Meinungsverschiedenheiten in diesem wichtigen Bereich zu sprechen komme, möchte ich mit einer positiven Feststellung beginnen. Die Debatte hat sich gegenüber der Debatte, die wir noch vor zwei Wochen geführt haben und die wir in der vergangenen Legislaturperiode über vier Jahre geführt haben, verändert. Wir als CDU/CSU-Fraktion haben immer den Handlungsbedarf auf dem Gebiet des Schutzes von Kindern vor sexueller Gewalt betont und gefordert, dass der Gesetzgeber tätig wird. Sie haben sich dem über Jahre verweigert. ({0}) Heute anerkennt auch die Bundesjustizministerin, dass Handlungsbedarf besteht, und zwar - wie sie selbst sagt inhaltlich weitgehend in Übereinstimmung mit den Vorschlägen der CDU/CSU-Fraktion. Das begrüßen wir. Unsere Vorschläge werden nicht dadurch falsch, dass nunmehr auch die Justizministerin, die der SPD angehört, sie für richtig hält. Wir bedauern allerdings - das muss auch ausgesprochen werden -, dass der Erkenntnisprozess Jahre gedauert hat. Wenn Sie heute Handlungsbedarf konzedieren - die Koalition ist ja die gleiche geblieben, wenn auch nicht die Person der Bundesjustizministerin -, dann heißt das: Über Jahre bestanden, nunmehr anerkannt auch durch die Bundesjustizministerin, Lücken im Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt. Das ist der traurige Befund, der mit dem Fortschritt in Ihrer Erkenntnis einhergeht. ({1}) Frau Bundesjustizministerin, es muss uns auch erlaubt sein, dahin gehend Skepsis zu äußern, ob sich Ihre Ankündigungen am Ende im Gesetzblatt wiederfinden. Für diese Skepsis haben wir mehrere Gründe. Die Grünen haben sowohl in der Debatte heute als auch in Presseerklärungen versucht, das Thema, das wir hier beraten, zu tabuisieren. Ihre Strategie bestand immer darin, zu sagen: Wer über dieses Thema spricht, der polemisiert, emotionalisiert und macht kleinkarierte Parteipolitik. Sie haben versucht, die wichtigen Themen Opferschutz und Kriminalitätspolitik zu tabuisieren. ({2}) Ich wundere mich nur, dass Sie sich angesichts Ihres Vorwurfs der Polemik und der Emotionalisierung nicht über den Bundeskanzler beschweren. Darum müssen Sie sich den Vorwurf des mangelnden politischen Mutes und der Scheinheiligkeit gefallen lassen. ({3}) Der Oberpolemiker in dieser Frage ist der deutsche Bundeskanzler. Dazu hätte ich von Ihnen gerne einmal ein Wort gehört. Sie brauchen eine Mehrheit. Wir stehen in dieser Angelegenheit zur sachlichen Kooperation - wie stets - zur Verfügung. Frau Schewe-Gerigk hat mit ihrer Kritik eben Herrn Bosbach angesprochen. Gemeint waren natürlich Sie, Frau Bundesjustizministerin. Frau Schewe-Gerigk hat sich gegen Ihre Vorschläge, die Sie etwa in der „Süddeutschen Zeitung“ gemacht haben, ausdrücklich und frontal gewendet. Sie sind doch dafür, Kindesmissbrauch zum Verbrechen heraufzustufen. Die Grünen haben dies gerade explizit abgelehnt. Sie haben in der Koalition keine Einigkeit. Ihre Ankündigungen müssen Sie erst noch realisieren. ({4}) Wenn Sie es ernst meinen, dann haben Sie eine gute Gelegenheit, dies zu demonstrieren; schließlich sagen Sie: 80 Prozent des Gesetzentwurfs der Union sind in Ordnung. Wir schlagen Ihnen vor, auf der Grundlage unseres Gesetzentwurfs zu verhandeln. ({5}) Der Mehrheit fällt kein Zacken aus der Krone, wenn sie sagt: 80 Prozent dieses Gesetzentwurfs sind gut; im Hinblick auf die restlichen 20 Prozent stellen wir Änderungsanträge. Lassen Sie uns auf der Grundlage unseres Entwurfs verhandeln! Auf diese Weise werden Sie den größten Teil Ihrer Vorstellungen durchsetzen können. Bevor ich zu den Einzelheiten komme und bevor wir uns in dem damit verbundenen Dschungel vielleicht verirren, liegt mir daran, zu betonen, wie der Maßstab aussieht. Der stellvertretende Vorsitzende unserer Fraktion hat ihn bereits beschrieben. Da er entscheidend ist, möchte ich es wiederholen. Was ist der Maßstab des politisch Gebotenen, des politisch Notwendigen in dieser Frage? Das Notwendige und Gebotene ist nicht weniger als das rechtsstaatlich Mögliche. Alles, was rechtsstaatlich möglich ist, ist das politisch Gebotene. Das ist der Maßstab. Wir erbitten auch von Ihnen eine Erklärung dazu, ob Sie diesen Maßstab akzeptieren oder ob Sie unter dieser Messlatte bleiben wollen, ob Sie also weniger zum Schutz von Opfern tun wollen als das, was rechtsstaatlich möglich ist. ({6}) Ich glaube, dass Sie die Konstellation nicht wirklich begriffen haben. Sie leben in der Vorstellung, dass es darum geht, den Staat, der in die Freiheit des einzelnen Straftäters regulierend eingreifen will, abzuwehren. Wir müssen das Freiheitsrecht des Straftäters - auch der Straftäter ist nicht rechtlos - gegen den Schutzanspruch des potenziellen Opfers abwägen. ({7}) Dass es um diese Abwägung geht, verstehen Sie nicht. Ich habe, ganz offen gesagt, den Eindruck, dass Sie, Herr Ströbele, und auch Sie, Frau Schewe-Gerigk, noch im ideologischen Gefängnis der 70er-Jahre hausen. Befreien Sie sich von Ihren alten ideologischen Kämpfen! ({8}) Ich möchte auf die entscheidende Meinungsverschiedenheit, die zwischen uns besteht, zu sprechen kommen. Dabei geht es um die Fragen: Wie geht der Staat mit gefährlichen Straftätern um? Was tut der Staat zum Schutz der Bevölkerung vor Straftätern, von denen der Staat selbst aufgrund der Ergebnisse von Gutachtern glaubt, dass sie so gefährlich sind, dass sie, wenn sie entlassen werden, mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut ein schweres Verbrechen begehen? Welche Schlussfolgerung zieht der Staat daraus? ({9}) Die Koalition sagt: Wir können nichts tun. Ich sage Ihnen: Sie, die Vertreter der Koalition, wollen in dieser Frage nichts tun. ({10}) Das geschieht nicht aus Bösartigkeit, sondern weil Sie in dieser Frage nicht einigungsfähig und darum politisch nicht handlungsfähig sind. ({11}) Das ist der entscheidende Punkt. Ihre verfassungsrechtliche Argumentation ist das Alibi für Ihre politische Handlungsunfähigkeit. Das ist die Wahrheit. Sie können politisch nicht handeln. Ich möchte diese Debatte auch nutzen, um mich mit Ihren Argumenten auseinander zu setzen. Wir hatten uns ja vorgenommen, eine argumentative Auseinandersetzung zu führen. ({12}) - Ja, ich gehe auf Ihre Argumente ein. Sie werden sehen, Herr Stünker, wie Sie nach jedem Argument, mit dem ich mich auseinander setze, ein Stück tiefer im eiskalten Wasser stehen. ({13}) Erstes Argument: Von Ihrer Seite wird immer wieder gesagt, bei der Sicherungsverwahrung handele es sich um eine Form der Doppelbestrafung. Dieses Argument ist falsch. Es handelt sich hierbei um eine Maßregel mit dem Ziel der Besserung und Sicherung, der Resozialisierung wie der Prävention. Andernfalls müssten Sie alle Maßregeln der Besserung und Sicherung, die im Strafgesetzbuch stehen, streichen. Das Argument kann nur ausschließlich gelten: entweder immer oder nie. Sie können nicht auf der einen Seite, wie gerade geschehen, eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung beschließen, aber zu jeder anderen Form sagen, dabei handele es sich um eine Form von Doppelbestrafung. Ihre Argumentation ist in diesem Punkt also widersprüchlich. Schieben Sie das Argument beiseite; es ist nicht zu halten. Ihr entscheidendes Argument lautet: Die Kompetenz für entsprechende Gesetze liege bei den Ländern und nicht beim Bund; man könne darum nichts machen. Auch dieses Argument ist aus mehreren Gründen falsch und nicht tragfähig. Ich will das nun ausführen: Jede Reaktion des Staates auf eine Straftat - das ist unstrittig - fällt unter die Kategorie Strafrecht, nicht Polizeirecht, und damit in die Bundeskompetenz. Wir sind der Auffassung, dass die Sicherungsverwahrung eine Reaktion auf die Straftat eines Straftäters darstellt, ({14}) der seine Gefährlichkeit schon unter Beweis gestellt hat. Darum kommt hier das Strafrecht zur Anwendung. Die gesetzlichen Maßnahmen von CDU- bzw. CSU-geführten Ländern, auf die Sie hingewiesen haben - Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt -, sind reine Notstandsmaßnahmen, weil der Bund sich weigert, hier aktiv zu werden. Das ist doch die Wahrheit. ({15}) Ihr Verweis auf das Landesrecht führt zu absurden Ergebnissen: So sind die Kinder von Herrn Montag und des Kollegen Götzer, die in Bayern leben, besser geschützt als meine Kinder, die in Nordrhein-Westfalen leben. Das kann doch nicht sein. Wir brauchen eine bundeseinheitliche Regelung. ({16}) - In Nordrhein-Westfalen macht man aber nichts, meine Damen und Herren. ({17}) Es ist doch den Bürgern nicht verständlich zu machen, dass ein gefährlicher Straftäter in Bayern in Sicherungsverwahrung genommen werden kann, wenn er aber nach Niedersachsen verlegt wird - Haftverlegungen kommen ja immer wieder vor -, auf freien Fuß gesetzt wird. Meine Damen und Herren, in einer Frage, in der es für den Straftäter um Freiheit oder Haft geht, in einer Frage, in der es für Opfer um Leben und Tod geht, präsentieren Sie auf höchster staatlicher Ebene absurdes Theater. Sie stellen auf reine Zufälligkeiten ab. ({18}) Die Auffassung, die Sie vertreten, ist auch darum unhaltbar, weil sie das Vertrauen in die praktische Vernunft des Staates infrage stellt. Die Leute fragen: Was ist das eigentlich für ein Staat, der den Schutz von Opfern vor Mord und schweren Verbrechen von Zufälligkeiten abhängig macht? ({19}) Ich will auch ein rein verfassungsrechtliches Argument nennen. Wir bewegen uns hier im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung. Da es die vorbehaltene Sicherungsverwahrung schon gibt, hat der Bund - das ist verfassungsrechtlich zwingend - hier von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht; das heißt, in diesem Bereich ist für die Gesetzgebung der Länder überhaupt kein Raum mehr. ({20}) - Es fällt nicht unter das Polizeirecht. Das Polizeirecht hat den Pferdefuß, dass es gerade nicht an die Straftat anknüpfen kann, weil das Strafrecht in Bundeskompetenz fällt. ({21}) - Wir wollen keine reine Gefahrenabwehr, wir wollen nicht irgendwelche Leute, sondern einen Straftäter in Sicherungsverwahrung nehmen, der gezeigt hat, dass er gefährlich ist. Darum ist hier eine bundesgesetzliche Regelung nötig. ({22}) Ein weiteres Argument, an dem Ihre Scheinheiligkeit deutlich wird: Sie fordern die Bundesländer auf, hier tätig zu werden. Die CDU-geführten Länder sind hier zum Teil tätig geworden. Die Wahrheit ist doch: Rot-Grün wird auf Länderebene genauso wenig tätig wie auf Bundesebene. Sie machen doch nichts. ({23}) Ich habe gerade mit einem Kollegen gesprochen, der im niedersächsischen Landtag war. Dort hat die CDU-Fraktion vorgeschlagen, eine landesgesetzliche Regelung zur Sicherungsverwahrung einzuführen; Rot-Grün lehnte dieses Instrument aber ab. Rot-Grün hat weder auf Bundesnoch auf Landesebene die politische Kraft dazu. Wenn Sie uns schon nicht glauben - das ist mein letztes Argument dazu -, dann glauben Sie doch wenigstens den Praktikern. Heute hat sich erfreulicherweise der stellvertretende Vorsitzende des Richterbundes, ein praktizierender Richter, zu Wort gemeldet. Er fordert als Repräsentant der Richter in Deutschland den Deutschen Bundestag auf, die Möglichkeit nachträglicher Sicherungsverwahrung vorzusehen. Er sagt, wir bräuchten dieses Instrument und der Bund sei derjenige, der in der Verantwortung stehe, dafür zu sorgen. Hören Sie auf die Praktiker, die diese Vorschläge machen! ({24}) Ich komme kurz noch zu unseren anderen Vorschlägen, zu denen Sie weitgehend Zustimmung signalisiert haben. Wie gesagt: Bewegen Sie sich auf der Grundlage unseres Entwurfes, dann sind Sie in sicheren Gefilden. Wir haben vorgeschlagen, den Kindesmissbrauch vom Vergehen zum Verbrechen aufzuwerten. Die Grünen widersprechen und sagen, es sei ihr Vorschlag, sie hätten ihn gemacht. Wir sehen natürlich einen minderschweren Fall vor. Sie sollten unseren Gesetzentwurf erst studieren, bevor Sie ihn kritisieren. ({25}) Selbstverständlich muss es auch dafür eine flexible Regelung geben. Frau Kollegin von der FDP, Sie haben gleichzeitig vor Verschärfung und vor Verharmlosung gewarnt. Sie müssen sich, wie ich finde, erstens entscheiden, in welche Richtung Sie kritisieren. Zweitens kann Ihr Argument, dass es sich um Beziehungstaten handele, nicht dazu führen, dass der Staat den staatlichen Strafanspruch zurücknimmt. ({26}) Denn gerade in diesem Bereich müssen wir der Neigung, zu sagen: „Reden wir nicht darüber, es ist unangenehm, es war auch nicht so schlimm“, die zu einem großen Dunkelfeld führt, entgegenwirken. Damit übt das Strafrecht eine Signalfunktion aus. Die Regelung muss praktisch handhabbar sein, das ist unser Vorschlag auch. Wir sagen: Kindesmissbrauch ist kein Kavaliersdelikt, sondern eines der schwersten Verbrechen, die unsere Rechtsordnung kennt. Darum reagieren wir mit dem schärfsten Instrumentarium, das wir zur Verfügung haben. ({27}) Wir sind übrigens der Auffassung, dass zwar durch das Strafrecht die Signalfunktion des Staates deutlich werden muss, aber dass Strafen nicht alles ist. Darum habe ich mich gefreut, dass Sie auch auf den Teil unseres Antrages eingegangen sind, in dem wir eine Länder übergreifende, wissenschaftliche Begleitforschung sozialtherapeutischer Maßnahmen vorschlagen. Wir sind der Auffassung - ich betone es noch einmal -, dass es auch die Verantwortung gegenüber dem Verbrecher gibt, ihn in die Gesellschaft zurückzuholen, ihn zu therapieren. Dann erwarte ich allerdings von denjenigen, die dies im Bundestag fordern, dort, wo sie in den Ländern Verantwortung tragen, etwa in meinem Bundesland Nordrhein-Westfalen - ich weiß nicht, wie es in anderen rot-grün-regierten Ländern aussieht -, Therapieplätze zur Verfügung zu stellen. Therapie kostet Geld. Therapie als Lippenbekenntnis ist zu wenig. Wir haben als Union ein umfassendes Angebot unterbreitet, und zwar - das möchte ich abschließend sagen - aus zwei Gründen: erstens weil es um die große Verantwortung geht, die wir als Gesetzgeber gegenüber den Opfern und den Angehörigen von Opfern haben, zum Beispiel gegenüber den Eltern von Kindern, die Opfer geworden und vielleicht umgebracht worden sind. Zweitens geht es - das reicht über die einzelnen Schicksale hinaus - nach unserer festen Überzeugung auch darum, die Akzeptanz der Rechtsordnung sicherzustellen. Weil es immer wieder zu spektakulärem Aufsehen in der Öffentlichkeit kommt, fragen die Menschen: Welches Zutrauen können wir eigentlich in den Staat haben, der immer bedauert und redet, aber am Ende nicht handelt? Handeln wir, meine Damen und Herren, es ist höchste Zeit dazu. Wir haben Vorschläge gemacht. Schließen Sie sich ihnen an. Der Staat wird an Vertrauen und Akzeptanz dadurch zurückgewinnen. Herzlichen Dank. ({28})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Lambrecht von der SPD-Fraktion.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Union wärmt ihre Vorhaben aus den letzten vier Jahren wieder auf. Herr Bosbach und Herr Röttgen, Sie werden sich von dieser Seite schon den Vorwurf des Populismus gefallen lassen müssen. ({0}) - Lassen Sie mich über Sie reden! Das finde ich momentan viel spannender. Ich habe bewusst noch einmal nachgelesen: Von 1994 bis 1998 gehörten Sie beide schon dem Deutschen Bundestag an. Angesichts der Tatsache, dass Sie heute davon reden, dass der Staat handeln muss und dass dringender Handlungsbedarf besteht, frage ich mich - ich weiß, dass Sie nicht gerne daran erinnert werden -, warum Sie in den letzten vier Jahren Ihrer Regierungsverantwortung nicht schon längst gehandelt haben. Sie hätten vieles von dem, was Sie heute vorschlagen, schon umsetzen können. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Lambrecht, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Röttgen?

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Röttgen hatte schon 15 Minuten Zeit, uns mit seinen Vorschlägen, die seine Fraktion damals nicht umgesetzt hat, zu beglücken. ({0}) - Ich habe jetzt das Wort, Herr Röttgen. ({1}) Auch mir als Mutter eines zweijährigen Sohnes hat sich bei der sehr drastischen Darstellung der grauenhaften Verbrechen, die Herr Bosbach gegeben hat, im wahrsten Sinne des Wortes der Magen umgedreht. Das geht wahrscheinlich allen so, die von solchen Verbrechen hören. Gerade weil ich mich persönlich betroffen fühle, möchte ich allen Eltern in die Augen schauen können, wenn ich ihnen sage: Ja, wir haben in der Politik alles getan, was wir tun können. - Die Frau Ministerin hat es vorhin schon betont: Die Verantwortung liegt nicht nur bei der Politik, sondern auch bei Richtern und Therapeuten. Mein Anliegen ist, dafür zu sorgen, dass wir mit Recht sagen können: Ja, wir haben alles getan, um die Menschen vor Sexualstraftaten zu schützen, um Sexualstraftaten zu verhindern und um die Täter zu überführen. Jetzt stellt sich die Frage, was wir in den letzten vier Jahren getan haben. Wir haben die dauerhafte Unterbringung der Täter zum Schutz der Allgemeinheit durchgesetzt. Wir haben die Telefonüberwachung bei Kinderpornographie verschärft und die Therapiemöglichkeiten für Täter verbessert. Ohne deren Zustimmung ist mittlerweile eine Verlegung in eine Anstalt möglich, in der sozialtherapeutische Maßnahmen durchgeführt werden. Ich sage im Namen der SPD-Fraktion: Wir müssen alles tun, damit die Opfer besser geschützt werden. Aber das muss innerhalb der rechtsstaatlichen Grenzen geschehen. ({2}) Deshalb verschließen wir uns sinnvollen Vorschlägen nicht. Aber lassen Sie mich einmal beleuchten, welche Vorschläge von Ihnen kommen. Es wurde wieder die Strafverschärfung angesprochen. Jeder, der mit der Praxis zu tun hat, weiß, dass in den seltensten Fällen - ich würde sagen, dass die Zahl gegen null geht - der Straftäter, insbesondere der Sexualstraftäter, einen Blick in das StGB wagt, bevor er sich zu einer Straftat entschließt. ({3}) Deswegen kann man nicht von der Strafverschärfung als einer Wunderwaffe leben. ({4}) - Herr Götzer, dieser Zuruf ist Ihrer nicht würdig. Darüber hinaus haben Sie, Herr Röttgen, davon gesprochen, dass eine Unterbringung nicht möglich sei, weil die Länder keine entsprechenden Möglichkeiten haben. Natürlich sind die Länder dazu in der Lage. Nach dem Polizeirecht können sie immer dann eine Unterbringung anordnen, wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung besteht. Es ist die Aufgabe der Länder, zu handeln. ({5}) Lassen Sie mich auf die Ausweitung der DNA-Analyse eingehen. Ihr Vorschlag scheint mir aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten sehr fragwürdig. Wie ist denn die derzeitige Gesetzeslage? Wir haben die Situation, dass die Untersuchung und auch die Speicherung genetischen Spurenmaterials nach der Strafprozessordnung im laufenden Ermittlungsverfahren immer möglich ist, wenn dadurch für das Verfahren wichtige Tatsachen festgestellt werden können. Auch für zukünftige Strafverfahren können die gewonnenen Spuren gespeichert werden. Dies ist allerdings nur dann möglich, wenn der Betroffene einer Straftat von erheblicher Bedeutung verdächtigt wird und solche Straftaten auch in Zukunft von ihm zu erwarten sind. Das heißt, die gefährlichen Sexualstraftäter werden von dieser Gesetzeslage vollständig erfasst. Sie möchten nun diese Voraussetzungen ändern und dafür sorgen, dass jede Straftat - so der ursprüngliche Entwurf - mit „sexuellem Hintergrund“ zur Speicherung zugelassen werden soll. Sie wollen damit auch die Exhibitionisten erfassen. ({6}) Dieses Anliegen mag noch berechtigt sein; da widerspreche ich Ihnen nicht. Aber man muss sich schon fragen, ob man die Richtigen erfasst. Sie argumentieren, dass Exhibitionisten später gefährliche Sexualstraftäter werden können. Das mag im Einzelfall möglich sein. Die Studie hat aber ergeben, dass lediglich 1 bis 2 Prozent der Exhibitionisten später Gewaltdelikte verüben. ({7}) Man muss sich deshalb aufgrund rechtsstaatlicher Gesichtspunkte überlegen, ob man das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung einschränkt. Darüber müssen wir diskutieren; das ist ein Abwägungsprozess. Denn die Speicherung des genetischen Materials stellt schon einen erheblichen Eingriff in dieses Grundrecht dar. ({8}) In Ihrem ursprünglichen Entwurf wurde das alles ziemlich aufgeweicht. Sie hätten nämlich nicht nur den Exhibitionisten, sondern auch den Täter erfasst, der die Straftat einer sexuellen Beleidigung begeht, typischerweise - so möchte ich sagen - den Grapscher. Ich weiß nicht, ob Sie die wirklich erfassen wollten. Ich treibe es jetzt einmal auf die Spitze: Mit Ihrer ursprünglichen Definition hätten Sie all diejenigen erfasst, die ohne Führerschein oder betrunken zu einer Prostituierten fahren und damit schon im Vorfeld eine Straftat begangen hätten. Es kann doch nicht wahr sein, dass das Ihr Ansinnen gewesen ist. ({9}) - Sie sollten Ihre Entwürfe genau lesen und verstehen. Dann sehen Sie, wie absurd die sind. ({10}) - Das ist der sexuelle Hintergrund. Wenn Sie dies nicht verstehen, dann kann ich Ihnen nur raten: Gehen Sie in Ihrer Fraktion noch einmal in Klausur! Aber man muss Ihnen zugute halten: Sie haben dazugelernt. Aus diesem „sexuellen Hintergrund“ ist mittlerweile „sexueller Bezug“ geworden. Von daher sehe ich, dass Sie auf einem guten Wege sind. Vielleicht schaffen wir es, nach etwas sachlicheren Beratungen im Rechtsausschuss dahin zu kommen, wohin wir alle wollen: einen besseren Schutz der Opfer zu ermöglichen. Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt auf die einzelnen Vorschläge nicht eingehen. Ich denke, es ist sinnvoller, darüber im Rechtsausschuss mit der gebotenen Sachlichkeit und ohne das Magengrimmen, das man in diesem Zusammenhang als Mutter bzw. als derjenige hat, der Verantwortung für Kinder trägt, zu sprechen. Ich warne davor, dass der Rechtsstaat in einer Form eingeschränkt wird, die unverhältnismäßig ist. Diesen Abwägungsprozess müssen wir wahrlich machen. Unsere Bereitschaft dazu haben Sie. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Norbert Röttgen das Wort.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich ergreife nur kurz das Wort, weil ich eine Behauptung, die Sie, Frau Kollegin, gemacht haben und die nicht der Wahrheit entspricht, zurückweisen muss. Sie sind zwar erst seit 1998 Mitglied des Bundestages. Das gibt Ihnen aber nicht das Recht, falsche Behauptungen über die Gesetzgebungstätigkeit der Regierung Helmut Kohl, der CDU/CSU- und FDP-Regierung, in den Jahren von 1994 bis 1998 aufzustellen. Noch 1998 - das möchte ich dem Haus und Ihnen persönlich mitteilen - haben wir ein umfassendes Strafrechtsänderungsgesetz verabschiedet. Es ging um zwei zentrale Punkte: Der eine betraf den Schutz von Behinderten vor Kriminalität, der andere die Einführung und Erweiterung der Sicherungsverwahrung, die gerade gestern durch ein Urteil des Bundesgerichtshofes bestätigt und bekräftigt worden ist. Das ist der Unterschied: Wir waren, als wir noch regiert haben, kontinuierlich aktiv. In der Opposition haben wir gemahnt. Sie waren inaktiv. Sie, Frau Kollegin, haben die Wahrheit verdreht; das muss klar gestellt werden. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zur Erwiderung, Frau Kollegin Lambrecht. ({0})

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Röttgen, es mag zwar zutreffend sein, dass Sie in diesem Bereich tätig gewesen sind. Aber dennoch vermisse ich, dass Sie während Ihrer Regierungszeit die Vorschläge, die Sie heute einbringen, mit eingebunden haben. ({0}) Warum haben Sie das nicht getan? Dann hätten vielleicht manche von diesen Verbrechen verhindert werden können. Das wäre es wert gewesen. Von daher war der Handlungsbedarf umfassender. Es wäre sinnvoller gewesen, nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der FDP-Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aufarbeitung der Vergangenheit gerade hat mir deutlich gemacht, dass wir die Diskussion offensichtlich leider nicht mit dem Ernst betreiben, den sie eigentlich verlangt. Denn wer die Diskussion zwischen 1994 und 1998 mitbekommen hat, weiß, dass damals zwischen allen Fraktionen des Deutschen Bundestages wesentliche Gespräche stattgefunden haben und wir dort zu Lösungen gekommen sind, die eine breite Zustimmung gefunden haben. Ich persönlich - wir von der FDP haben damals den Justizminister gestellt - bin heute noch froh über das, was wir damals insbesondere zur Verbesserung des Opferschutzes getan haben. Wir haben gemeinsam wesentliche Fortschritte im Strafrecht erreicht. ({0}) Das Wort „gemeinsam“ möchte ich deswegen betonen, weil ich denke, dass es unsere Verpflichtung bleibt, auch jetzt ebenso zu handeln. ({1}) Das gesamte Parlament kann dann Profil erreichen, wenn wir gemeinsam nach guten Lösungen suchen. Ich will für die FDP signalisieren, dass wir genau dazu bereit sind. Dass aber manches, was vielleicht im ersten Augenblick als richtiger Weg erscheinen mag, dann doch berechtigt hinterfragt werden kann, hat die heutige Debatte gezeigt. Der Kollege Bosbach hat darauf hingewiesen, dass wir - ich finde, das ist eine außerordentlich erfreuliche Tatsache - einen allgemeinen Rückgang der Straftaten haben. Das hat verschiedene Ursachen: Zum Teil haben die Maßnahmen, die wir gemeinsam verabschiedet haben, gegriffen; zum Teil gibt es eine größere Ermutigung an Kinder, sich zu offenbaren. Das ist ein Aspekt, über den wir leider viel zu wenig diskutieren: wie man die Vorbeugung verbessern kann. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass wir Kinder ausbilden, stärker zu sein, sich zu offenbaren und bereits die ersten Versuche zu melden. ({2}) Ich wollte das in diese Debatte ganz bewusst einbringen, weil es auch Möglichkeiten außerhalb des Strafrechtes gibt, zu einer Verbesserung des Schutzes von Kindern zu kommen. Der Debattenbeitrag des Kollegen Bosbach hat auch aufgezeigt, dass wir in einem Bereich leider eine Zunahme verzeichnen müssen, nämlich beim schweren sexuellen Missbrauch von Kindern. Das ist bereits ein Verbrechen. ({3}) Das zeigt, dass die Tatsache der Heraufstufung zu einem Verbrechen allein möglicherweise nicht die Konsequenzen hat, die wir uns alle davon erhoffen. Von daher bitte ich, dieses Thema noch einmal sehr sorgfältig zu diskutieren. Ich fand es - ich selbst komme als Oberstaatsanwalt aus der strafrechtlichen Praxis - immer hilfreich, die Strafbarkeit sehr früh einsetzen zu lassen, weiß aber, dass viele Richter sehr zurückhaltend sein werden, Straftatbestände, die jetzt schon strafbar sind, auch in Zukunft so zu werten, wenn ein Verbrechen vorliegt. Auch darüber werden wir sorgfältig zu diskutieren haben. Ich möchte einen zweiten Aspekt ansprechen, der mir ganz außerordentlich wichtig ist. Das ist die Frage des Opferschutzes. Der Opferschutz hat heute Gott sei Dank in der Debatte eine Rolle gespielt, aber es gibt einen Bereich, über den wir bisher nicht gesprochen haben, über den wir aber sprechen müssen. Das sind die Konsequenzen, die beispielsweise die Ermordung eines Mädchens - einige Fälle sind hier angesprochen worden - für die Familie hat. Wer einmal eine solche Familie erlebt hat, vielleicht sogar die Nachricht über die Tötung eines Kindes überbringen musste - ich habe es einmal tun müssen -, der weiß, welche Auswirkungen das in der Familie hat. Ich denke, dass wir den Opferschutz, insbesondere was die Bezahlung von psychologischer und psychiatrischer Betreuung anbelangt, verbessern müssen. Wir bringen das als FDP in die Diskussion ein. Wir werden konstruktiv mitarbeiten und ich hoffe, dass wir zu einem Ergebnis kommen werden, mit dem wir nicht nur zufrieden sind, sondern vor allen Dingen den Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt verbessern. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über ein wirklich ernstes Thema, bei dem sich billige Polemik und Missbrauch für parteiegoistische Zwecke verbieten wie bei kaum einem anderen Thema. Herr Dr. Röttgen, das sage ich in alle Richtungen; bitte nehmen Sie das so zur Kenntnis. Weil Sie von der Opposition in Bezug auf Bündnis 90/ Die Grünen von angeblicher Tabuisierung bei diesem Thema gesprochen haben, bitte ich Sie jetzt, genau zuzuhören. Wir reden von ganz schrecklichen Straftaten, wir reden von kaum vorstellbaren Gewalt- und Unterwerfungsakten gegen Kinder. Wir reden aber auch von einer in ihrer konkreten Ausformung schier unüberschaubaren Vielfalt von - das setze ich für das Protokoll und für Sie ganz bewusst in Anführungszeichen - so genannten „einfachen“ Fällen des sexuellen Missbrauchs. Für meine Fraktion ist in diesem Zusammenhang völlig klar: Der Schutz der Kinder und Jugendlichen vor sexuellen Übergriffen - gleich welcher Art und Intensität, egal ob von fremden Tätern oder dem sozialen Nahraum hat oberste Priorität. ({0}) Am besten beginnt man, diesen Schutz aufzubauen und zu stärken, bevor eine mögliche Straftat vorliegt. Die Straftaten selbst müssen effektiv und, wenn nötig und soweit möglich, präventiv bekämpft werden. Den Opfern - es sind Kinder jeden Alters und in der großen Mehrzahl Mädchen - wollen wir helfen. Sie sollen nach Möglichkeit nicht mehrfach Belastungen ausgesetzt werden, die sie psychisch und seelisch nicht verkraften können. Wir reden heute aber auch - Herr Kollege Dr. Röttgen, ich danke Ihnen dafür, dass Sie das vor zwei Wochen bei der Debatte über die Regierungserklärung und heute ausdrücklich erwähnt haben - von den Tätern - im Strafverfahren bis zur Rechtskraft auch von Verdächtigen und Beschuldigten -, die keine Milde, aber Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit erfahren sollen. ({1}) Mit welcher Intention und welchem Zungenschlag präsentieren Sie aber Ihren Gesetzentwurf? Sie schreiben dort, der Schutz der Allgemeinheit solle verbessert werden. Dieser Schutz - so der Wortlaut - „muss wieder den hohen Rang einnehmen, der ihm gebührt.“ Herr Dr. Röttgen schrieb in einer Presseerklärung vom 5. November, dass seine Fraktion tätig geworden sei, damit - gestatten Sie auch hier das Zitat - „Straftäter ... nicht länger von rotgrünen Versäumnissen profitieren können.“ Darum geht es aber nicht. Es geht weder um abstrakte Versäumnisse noch um rot-grüne Versäumnisse in dieser Sache. Diese nämlich gibt es nicht, meine Damen und Herren von der Opposition. Mit solcher Polemik machen Sie den Menschen im Lande nur Angst, schüren Stimmungen und zeichnen ein falsches Bild von Deutschland - als ob Deutschland ein Eldorado für Kinderschänder und triebgestörte Mörder sei! ({2}) Das ist unverantwortlich und geht an den Fakten sowie an einer sachlichen Debatte völlig vorbei. In der Substanz wollen Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, dreierlei erreichen: Erstens. Sie wollen horchen und sammeln, sprich: noch mehr Telefonabhörungen und noch mehr DNA-Speicherungen, und zwar ohne eine Abwägung mit Grundrechten von Unschuldigen, mit Grundrechten von Verdächtigen und mit Grundrechten von Verurteilten mit einem nur geringen Strafmakel. Herr Dr. Röttgen, weil Sie gesagt haben, dass natürlich nur das gemacht werden könne, was rechtsstaatlich möglich sei, dies aber gemacht werden müsse - von unserer Seite kam der Zwischenruf: „Wir wollen mehr tun!“ -, entgegne ich Ihnen: Die Rechtsstaatsgrenze ist aber zu beachten. Es gibt in der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts ganz klare Grenzen für die DNA-Analyse, nämlich die Erheblichkeitsschwelle. Diese Erheblichkeitsschwelle werden wir nicht unterschreiten. ({3}) Zweitens. Sie wollen die Sicherungsverwahrung ohne eine Ankopplung an ein richterliches Erkenntnisverfahren und ohne eine Verklammerung mit einem strafrechtlichen Vorwurf. Sie wollen die Sicherungsverwahrung zu einem selbstständigen Instrument der Gefahrenabwehr machen, was - so, wie Sie es wollen - vor den Grundrechten der Verfassung keinen Bestand haben kann. Auch hier gilt nämlich die rechtsstaatliche Grenze. Deshalb sagen wir: Auch das wollen wir nicht. ({4}) Drittens. Sie wollen alle denkbaren Fälle des sexuellen Missbrauchs erst einmal grundsätzlich als Verbrechen deklarieren. Dabei wollen Sie vergessen machen - ich bin dankbar, dass Sie in Ihrer Kurzintervention genau das angesprochen haben -, dass die Systematik der Sexualtatbestände in vielen Reformschritten, gerade des Jahres 1998, von Ihnen in einer grundsätzlich stimmigen, abgestuften Systematik neu formuliert worden ist. Sie wollen das einfangen. Das ist doch ein Trick: Sie erklären grundsätzlich alle Sexualstraftaten an Kindern zu Verbrechen und normieren in Abs. 2 die minderschweren Fälle. Das ist von der Sache her bei unjuristischer, globaler Betrachtung das Gleiche wie der jetzige Rechtszustand: Gemäß § 176 StGB werden die so genannten Normalfälle als Vergehen und die besonders schweren Fälle in § 176 a StGB als Verbrechen geahndet. ({5}) Mit Ihren minder schweren Fällen erreichen Sie keine Erhöhung des Strafrahmens, sondern lediglich eine Verkehrung von Regel und Ausnahme. Aber lassen Sie uns darüber im Ausschuss im Einzelnen diskutieren. Wir Grünen wollen jedenfalls keine Ausweitung des Horchens und Sammelns. Wir wollen keine selbstständige Sicherungsverwahrung. Wir wollen auch nicht alle denkbaren Fälle des sexuellen Missbrauchs zu einem Verbrechen hochstilisieren. Mir läuft die Zeit davon, sodass ich unsere Vorschläge nicht mehr im Einzelnen darstellen kann. Wir sind mit Ihnen einig, was die Billigung von Straftaten, die Sicherungsverwahrung nach § 106 Jugendgerichtgesetz, Formen des nichtkörperlichen Missbrauchs und das Anbieten von Kindern im Internet angeht. Das muss geregelt werden. Da werden wir zusammenarbeiten. Zusammenfassend sage ich Ihnen: Wir werden sehr rasch einen Gesetzentwurf dazu vorlegen. Wir laden Sie zu einer konstruktiven Debatte über diesen Gesetzentwurf ein. Allerdings werden wir, verzeihen Sie, nicht Ihren Entwurf zur Grundlage des weiteren Gesetzgebungsgangs machen. Danke. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Jürgen Gehb von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als vorletzter Redner bin ich in der komfortablen Situation, auf das, was ich hier gehört habe, replizieren zu können. Frau Ministerin, ich befürchte, dass Ihr Angebot, wir könnten uns zu vielen Punkten einigen, durch einige Wortbeiträge, die ich zuletzt erlebt habe, zunichte gemacht worden ist. Darauf möchte ich mich kaprizieren. Herr Montag, Sie machen uns wie viele Ihrer Vorredner den Vorwurf des Populismus. Ein Einziger hat in dieser Sache populistisch agiert: Bundeskanzler Schröder, als er beifallsheischend der „Bild am Sonntag“ sagte, wer sich an kleinen Mädchen vergehe, müsse weggeschlossen werden - „und zwar für immer“. ({0}) Ganz abgesehen davon, dass das auch in der Sache falsch ist, kann vielleicht bei dieser Gelegenheit ein bisschen Nachhilfe zur Unterscheidung zwischen Strafe und Maßregel der Sicherung und Besserung gegeben werden, obwohl wir das eher im Ausschuss machen sollten. Auch derjenige, für den im Urteil die Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist, ist nicht bis in alle Ewigkeit verdammt, eingesperrt zu bleiben. ({1}) Vielmehr gibt es eine Anpassungsmöglichkeit, nämlich die Möglichkeit, sich zu bewähren und freigelassen zu werden. Nur im umgekehrten Fall fehlt diese Anpassungsmöglichkeit: Wenn keine Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist, sich aber im Laufe des Vollzugs ergibt, dass der Täter gefährlich ist, fehlt die Möglichkeit, ihn weiter einzusperren. Das ist, so muss ich sagen, geradezu auf den Kopf gestellt. Es wundert mich, dass Juristen pausenlos das Verbot der Doppelbestrafung in den Mund nehmen: „ne bis in idem“. Die Unterscheidung muss Ihnen doch klar sein: Es gibt kriminelles Unrecht, das bestraft wird, wenn jemand tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft gehandelt hat; daneben gibt es die Maßregel der Sicherung und Besserung, die gerade keine Strafe ist. Das ist ähnlich wie bei Disziplinarverfahren. Als wir Soldaten waren, einer wegen Trunkenheit am Steuer verurteilt wurde und dann noch ein Disziplinarverfahren kriegte, wurde aus der Sicht des juristischen Laien - das waren Nichtjuristen; manchmal habe ich den Eindruck, ich bin auch hier mit diesen konfrontiert ({2}) gesagt: Das verstößt aber gegen das Verbot der Doppelbestrafung. ({3}) - Frau Simm, Sie kriegen gleich noch die richtige Antwort. Frau Lambrecht, Sie wurden eben des ungenauen Umgangs mit der Wahrheit überführt, und zwar nicht zum ersten Mal. ({4}) Der Einwand, man hätte das schon in den vorangegangen Legislaturperioden regeln können, ist geradezu abwegig. Dann hätte man nämlich nach der ersten Legislaturperiode aufhören können, Politik zu machen. ({5}) Ein weiteres geradezu abwegig anmutendes Argument - ich nenne es, obwohl es in dieser Debatte etwas unpassend wirkt, ein Totschlagsargument - ist: Strafverschärfungen oder Neuregelungen im Strafgesetzbuch schrecken sowieso keinen Täter ab; niemand schaut vor Begehung seiner Tat ins Strafgesetzbuch. Wenn man dies konsequent zu Ende denken würde, könnte man sagen: Man braucht gar kein Strafgesetzbuch. Dann kann man alle Tatbestände abschaffen. So geht es aber weiß Gott nicht. ({6}) Im Übrigen haben Sie, Frau Lambrecht, verkannt, dass es nur deshalb zu dieser Strafverschärfung kommt, weil man den Deliktscharakter vom Vergehen wie bei einem Kaufhausdiebstahl zum Verbrechen hoch setzen wollte. Dies ist der wesentliche Unterschied. Darauf beruht die Strafverschärfung. Frau Ministerin, wir haben uns vor 20 Jahren auf ganz anderem Gebiet rechtsdogmatisch auseinandergesetzt. ({7}) - Ja, das habe ich euch allen voraus. ({8}) Was mich ein bisschen wundert, ist Ihre Angst, dass die Staatsanwaltschaft - ({9}) - Doch, Herr Minister Schily, Sie waren ja nicht da. Sie hat es wörtlich gesagt. Das können Sie nachlesen. Frau Zypries, Sie haben gesagt: „Ich habe ein bisschen Angst davor, dass die Staatsanwälte zurückschrecken oder gehemmt sind, in Zukunft Anklage zu erheben, wenn sich der Deliktscharakter vom Vergehen zum Verbrechen erhöht.“ Woher Sie diese Erkenntnis haben, weiß ich nicht. Ich möchte noch einmal auf die Sicherungsverwahrung zurückkommen, denn dies ist offenbar das Thema, das hier am streitigsten ist. Wir hören pausenlos den Einwand, dies gehöre zur Gefahrenabwehr und falle deshalb in die Kompetenz der Länder. Dazu will ich Ihnen einmal etwas sagen: Es handelt sich hierbei in der Tat um eine Schnittstelle zwischen repressiven Maßnahmen gegenüber Straftätern und präventiven Maßnahmen für die Zukunft. Dies ist aber typisch für das Strafrecht, insbesondere für den Strafvollzug. Die Strafzwecklehre sagt ({10}) - ich sage es Ihnen einmal auf Lateinisch -: Punitur quia peccatum est ne peccetur. ({11}) Das heißt, meine Damen und Herren: Es wird erstens bestraft, weil gesündigt worden ist, und zweitens, damit nicht wieder gesündigt werden kann. Dahinter steckt einmal der Sühnecharakter, aber auch der Präventionscharakter. Strafvollzug oder der Vollzug in der Maßregelsicherung hat per se präventiven Charakter ({12}) und ist deshalb nicht im Rahmen der Gefahrenabwehrregelungen unter Länderhoheit zu stellen. Dies ist der eine Gesichtspunkt. ({13}) Der nächste Gesichtspunkt: Gefahr im Sinne des polizeirechtlichen Gefahrenbegriffs hat ganz andere Kautelen als die Gefährlichkeitsprognose eines Täters, vor dem man die Allgemeinheit schützen möchte. Die unmittelbare Gefahr, wie sie im Polizei- und Ordnungsrecht der Länder steht, ist nicht mit der latent tickenden Zeitbombe des Sexualstraftäters zu vergleichen, von dem man im Laufe des Strafvollzugs gemerkt hat, dass er nicht therapie- und sozialisierungsfähig ist. Dies ist ein ganz anderer Ansatzpunkt. ({14}) - Frau Simm, die einzigen geistreichen Zurufe - dies hören sonst die Zuschauer nicht -, die Sie pausenlos machen, sind: „Keine Ahnung“. Wenn Sie damit sich selbst meinen, kann ich Ihnen allerdings nur Recht geben. ({15}) Ein dritter Punkt: Wenn es so wäre, wie Sie es gesagt haben, wäre schon seit jeher die Anordnung der Sicherungsverwahrung ein Fremdkörper in der Strafrechtsdogmatik. ({16}) - Herr Stünker, dass Sie die Sicherungsverwahrung mit spitzen Fingern anfassen und sie am liebsten verdammen würden, haben Sie in sämtlichen Gesprächen im Rechtsausschuss unter Beweis gestellt, das haben Sie durch mehrere Zwischenrufe am 19. Oktober letzten Jahres zum Ausdruck gebracht, als der Kollege Geis hier davon gesprochen hat, dass wir einen Mangel an nachträglicher Sicherungsverwahrung haben. Damals haben Sie gerufen: „Gott sei Dank!“ und „Gut so!“ - nachzulesen im Plenarprotokoll 14/196, Seite 19166. ({17}) Dazu, wie Sie sich wie eine Schnecke an diese Thematik herankriechen, jahrelang gar nichts davon wissen wollen, sich dann aber unter dem Druck der Länder oder des Bundeskanzlers zumindest zu dieser Vorbehaltslösung durchringen, will ich Ihnen auch etwas sagen. Zunächst hatte ich gedacht - und das war auch der Grund, warum die Länder so darauf angesprungen sind -: Wenn schon keine nachträgliche isolierte Sicherungsverwahrung, dann wenigstens die Vorbehaltslösung. Das ist nur prima facie eine Verbesserung; bei näherem Hinsehen ist es eine Verschlimmbesserung, und zwar aus folgendem Grunde: In den Fällen, in denen das erkennende Gericht bisher eine Sicherungsverwahrung mit dem Urteil ausgesprochen hat, ist in Zukunft zu befürchten, dass mancher Richter - das ist das, was Sie, Frau Zypries, vielleicht mit der Ängstlichkeit gemeint haben - sagt, um sich auf der sicheren Seite zu bewegen: Ich will die Sicherungsverwahrung nicht jetzt schon verbindlich anordnen, sondern behalte sie mir vorsichtshalber vor; mag man dann im Strafvollzug sehen, wie es wird. - Das ist eine Schwäche Ihrer Vorbehaltslösung. Eine zweite Schwäche ist, dass natürlich der Richter die Anordnung von Sicherungsverwahrung gänzlich versäumen kann, aus welchen Gründen auch immer - Rechtsirrtum, Vergessen. Auch in diesen Fällen besteht eine Lücke, die man nur durch eine isoliert anzuordnende Sicherungsverwahrung schließen kann. Ein dritter Fall, meine Damen und Herren. Sie können die Fälle damit ja nur pro futuro lösen, vielleicht erst am Sankt-Nimmerleins-Tag. Was ist denn mit all den tickenden Zeitbomben, die jetzt schon einsitzen und bei denen man genau sieht, dass man sie eigentlich nicht wieder auf die Gesellschaft loslassen kann, bei denen man aber weiß, dass man sie nach Verbüßung der Strafhaft herauslassen muss? Das müssen Sie mal den Eltern der Geschädigten und Gedemütigten erklären. Herr Bosbach hat eben eine kleine Anzahl von Fällen aufgeführt. Ich möchte einmal wissen, wie Sie das in der Öffentlichkeit jemandem verkaufen wollen. ({18}) Wir werden es sehen. Herr Stünker, Sie haben jetzt das Schlusswort, ({19}) - Ich werde mich bemühen, die Contenance zu behalten. Das ist bei Ihren Reden auch nicht immer leicht. - Ich freue mich dennoch, dass Sie als neuer rechtspolitischer Sprecher der SPD in Zukunft die Gelegenheit haben, im Rechtsausschuss zu beweisen, dass auch Sie zu läutern sind. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. ({20})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Stünker, SPDFraktion.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Gehb, für eine Strafrechtsprofessur hätte das eben nicht gelangt. ({0}) Ich hätte sogar Schwierigkeiten mit dem kleinen Strafrechtsschein gehabt, Herr Kollege Gehb, weil Sie ja auf hohe Dekorationen großen Wert legen, wie Sie uns gezeigt haben. ({1}) Meine Damen und Herren, noch einmal im Blick auf die Rede von Frau Lambrecht: Herr Kollege Röttgen, ist es nicht ganz fair, wenn Sie der Kollegin Lambrecht hier vorwerfen, die Unwahrheit gesagt zu haben. Wir beschäftigen uns heute innerhalb von zwei Jahren zum vierten Mal mit Ihren Vorschlägen für Änderungen im Sexualstrafrecht. ({2}) Ihr Vorschlag enthält die Forderungen, die Sie seit 1997 stellen und die Sie 1998 in der Strafrechtsänderungsdiskussion mit Ihrem Koalitionspartner nicht durchsetzen konnten. Das ist die Wahrheit, Herr Kollege Röttgen. ({3}) Sie haben Ihre Vorstellungen 1998 nicht ins Strafgesetzbuch hinein bekommen. Darum haben Sie es in den letzten zwei Jahren viermal versucht. Meine Damen und Herren, in den Debatten, die wir seit zwei Jahren führen, haben wir interfraktionell immer darin übereingestimmt - auch die große Mehrheit der Bevölkerung stimmt mit uns darin überein, - dass die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung des Menschen, insbesondere bei sexuellem Missbrauch von Kindern, Jugendlichen, Schutzbefohlenen und widerstandsunfähigen Personen, zu den abscheulichsten und verachtungswürdigsten Straftaten überhaupt gehören. Darin sind wir uns einig. Der Staat hat daher zum Schutz der Bevölkerung gerade in diesem Bereich der körperlichen und seelischen Selbstbestimmung der Menschen mit Nachdruck seiner Justizgewährungspflicht zu genügen. ({4}) Das tun wir und das Strafrecht ist hierzu konsequent anzuwenden, denn das Strafrecht gibt das Instrumentarium dafür bereits heute her. ({5}) Ich hoffe aber auch, dass wir interfraktionell in einer weiteren Zielbestimmung ebenso übereinstimmen, nämlich darin, dass die Sexualdelikte, so ekelhaft und so schwerwiegend sie sind und so schutzbedürftig die Opfer sind, nicht dazu dienen dürfen, den Rechtsstaat aufzurollen, weil andere Delikte sonst zwangsläufig folgen würden. ({6}) Dieser Satz stammt nicht von mir, sondern von dem von Ihnen benannten Sachverständigen Professor Krey aus Trier, mit dem er in der letzten Anhörung zu diesem Thema genau auf diese Gefahr hingewiesen hat. Es ist gegenwärtig vor dem Hintergrund vieler spektakulärer Fälle - Herr Bosbach hat heute Morgen eine entsprechende Aufzählung vorgenommen - und der Berichterstattung in den Medien darüber leicht, im Bereich der Sexualstraftäter vieles durchzuboxen, was man bei genauer Betrachtung unter rechtsstaatlichen Aspekten eigentlich gar nicht will. Daher ist es sehr wichtig, dass wir sehr sachlich und ohne die Emotionen, die teilweise in die heutige Debatte hineingekommen sind, über die hier zur Debatte stehenden Themen im Rechtsausschuss diskutieren. ({7}) Das betrifft insbesondere Ihren Vorschlag zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung, mit dem Sie im Nachhinein den von uns im August geschaffenen § 66 a wieder in Ihrem Sinne ändern wollen. Herr Kollege Röttgen, auch hier muss man richtig zitieren. Sie haben vorhin sozusagen als Kronzeugen für Ihre Meinung den Deutschen Richterbund genannt. Wenn Sie die entsprechende Pressemitteilung zu Ende gelesen hätten, dann hätten Sie festgestellt, dass ein Oberstaatsanwalt und kein Richter die von Ihnen zitierte Erklärung abgegeben hat. Auch die Praktiker sind also in der Beurteilung dieser Frage sehr gespalten. Daher gilt: Die ganze Wahrheit und nicht die halbe Wahrheit ist wirklich die endgültige Wahrheit. ({8}) - Ich möchte damit nur sagen, dass jede Seite diese Frage sehr unterschiedlich beurteilt. Deshalb kann man nicht eine einzige Meinung als die richtige darstellen, Herr Kollege. Lassen Sie mich, wenn wir über die Sicherungsverwahrung reden, kurz skizzieren, wie sich eigentlich die gegenwärtige Rechtslage nach den vielen Änderungen, die wir vorgenommen haben, darstellt. Nach Abs. 1 der Vorschrift ist die Anordnung der obligatorischen Sicherungsverwahrung für den mehrfach rückfällig gewordenen Straftäter möglich. Abs. 2 regelt dann nach der Zielsetzung die fakultative Sicherungsverwahrung für den unentdeckt gebliebenen Serientäter. Abs. 3 enthält sehr differenzierte Regelungen für den Sexualtäter, der schon bei einer einmaligen Vortat in Sicherungsverwahrung genommen werden kann. Im Sommer dieses Jahres haben wir § 66 a - die vorbehaltene Sicherungsverwahrung - neu geschaffen. Danach können die Gerichte die Sicherungsverwahrung vor der Haftentlassung anordnen, wenn im tatrichterlichen Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten worden ist und wenn während der Haftdauer der Hang zur Gefährlichkeit, der bis dahin noch nicht endgültig festgestellt werden konnte, zutage tritt. Wenn Sie sich dieses Instrumentarium einmal genau vor Augen führen, dann erkennen Sie, dass wir hier mit fünf Alternativen ein dichtes Netz geknüpft haben, mit dem gefährliche Straftäter, gerade Sexualstraftäter, wirklich sicher erfasst werden können. Dieses Instrumentarium muss nur konsequent von den Gerichten angewendet werden. Das ist in der gestern ergangenen BGH-Entscheidung zu dem neuen Abs. 3 nachzulesen, in der noch einmal sehr deutlich darauf hingewiesen worden ist. Tun Sie nicht immer so, als ob es keine Instrumente gäbe! Die Instrumente gibt es bereits. Man muss sie nur richtig anwenden. ({9}) Zu dieser Systematik - darüber ist heute Mittag noch gar nicht gesprochen worden - passt überhaupt nicht mehr Ihr Vorschlag, Sicherungsverwahrung bereits für Ersttäter anordnen zu lassen, Herr Kollege Gehb. Das verstößt nun wirklich gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das über Jahrzehnte in mehreren Entscheidungen immer wieder auf das dem Strafrecht innewohnende Gebot der Verhältnismäßigkeit hingewiesen hat. Wenn Sie schon gegen Ersttäter mit der schwersten Sanktion, der Sicherungsverwahrung, vorgehen wollen, dann kann ich Ihnen nur sagen, dass Sie damit den Ultima-Ratio-Charakter der Sicherungsverwahrung völlig verkennen und leichtfertig verfassungsrechtliche Grenzen überschreiten, Herr Kollege. ({10}) Dies gilt ebenso - damit möchte ich mich gern noch einmal beschäftigen; Sie haben es ja auch von mir erwartet - für die von Ihnen seit 1997 ständig wiederholte Forderung - Baden-Württemberg hat damit begonnen -, die Möglichkeit der Anordnung einer nachträglichen, also isolierten Sicherungsverwahrung in das Gesetz aufzunehmen. Bereits in der letzten Legislaturperiode habe ich von dieser Stelle aus mehrfach darauf hingewiesen - Sie haben das erwähnt -, dass eine derart ausgestaltete Sicherungsverwahrung meines Erachtens und auch nach Auffassung meiner Fraktion eindeutig verfassungswidrig ist. Wenn Sie in der Literatur der letzten Wochen und Monate zu dieser Thematik nachlesen, zum Beispiel in der neusten Ausgabe der „JZ“ vom Oktober 2002, dann stellen Sie fest, dass in der Fachliteratur diese Auffassung mittlerweile durchgehend bestätigt wird. In der Fachliteratur wird auch die Argumentation verwendet, die wir Ihnen hier mehrfach vorgetragen haben, nämlich dass das von Ihnen in Aussicht genommene Verfahren der isolierten Sicherungsverwahrung die rechtsstaatlichen Garantien der Strafprozessordnung letztlich aushebelt; denn die Anordnung der Sicherungsverwahrung - sie ist für einen Straftäter die schwerste Strafe - bedeutet eigentlich das Urteil „lebenslänglich“. Die lebenslange Freiheitsstrafe wird nach 15 Jahren geprüft; bei der Sicherungsverwahrung wird zwar alle zwei Jahre geprüft, doch wer sich auskennt, der weiß, dass die Menschen dann tatsächlich 40 oder 50 oder bis zu 60 Jahre einsitzen. ({11}) Mit der von Ihnen vorgeschlagenen Regelung mit den sehr tief greifenden Sanktionen verstoßen Sie eindeutig gegen die Prozessgrundrechte des Rückwirkungsverbotes und des Verbotes der Doppelbestrafung. Das können Sie in allen einschlägigen Aufsätzen nachlesen. Bezeichnend ist auch, welches Verfahren von Ihnen hierfür vorgeschlagen wird, nämlich nicht ein Verfahren mit einer öffentlichen Hauptverhandlung, sondern ein Beschlussverfahren einer Strafvollstreckungskammer. Bei Beschwerden sind in diesem Fall sogar mehrere Oberlandesgerichte zuständig. So könnte nicht einmal der Bundesgerichtshof für eine bundesweite Vereinheitlichung der Rechtsprechung sorgen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige Kontrollüberlegungen anstellen - Herr Gehb, es wäre schön, wenn Sie mir zuhören würden -, um zu zeigen, ob wir mit unserer Auffassung zur isolierten Sicherungsverwahrung wirklich so falsch liegen. Gibt es mögliche Erweiterungen der Anordnung für Sicherungsverwahrung? Warum sollte man, wenn wir den Weg so gehen wollen, wie Sie ihn skizziert haben, die Sicherungsverwahrung nicht auch nach der Entlassung aus der Strafhaft anordnen können? Denkbar wäre doch eine Vorschrift darüber, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung auch dann noch angeordnet werden kann, wenn der Strafgefangene zwar schon entlassen ist, sich aber innerhalb der maximal fünfjährigen Führungszeit zeigt, dass der Hang zur Gefährlichkeit weiterhin vorhanden ist. Was wäre das denn für eine Anordnung? Wäre das eine nachträgliche oder eine vorbeugende Anordnung der Sicherungsverwahrung? Wir können es, Herr Kollege Gehb, noch auf die Spitze treiben und die Frage stellen, wie das mit der Sicherungsverwahrung ohne Straftat aussieht. Diese kriminalpolitische Überlegung ist im Augenblick absurd. Ich habe damit aber Ihren Gedanken nur zu Ende gedacht; denn wenn Sie schon Ersttäter in Sicherungsverwahrung nehmen wollen, könnten Sie auch auf diese Idee kommen. Sie haben hier ja eben immerhin von tickenden Zeitbomben gesprochen. ({12}) Das heißt, für gefährliche Personen, die keine Straftat begangen haben, bei denen ein Gutachter aber zu dem Ergebnis kommt, sie könnten gefährlich sein und schwere Straftaten begehen, könnte eine Sicherungsverwahrung in Betracht kommen. Das wäre mit Sicherheit eine vorbeugende Sicherungsverwahrung. Das ist Ihren Gedanke zu Ende gedacht. Wenn Sie ihn zu Ende denken, dann kommen sie zu dem einzig richtigen Ergebnis, das mittlerweile auch in der Literatur so vertreten wird, dass die Fälle der nachträglichen isolierten Sicherungsverwahrung und auch die von mir eben genannten Fälle nicht unter das Strafrecht fallen, sondern Fälle der Gefahrenabwehr sind. Damit fallen sie unter das Polizeirecht und damit nach dem Zuständigkeitenkatalog des Grundgesetzes in die Zuständigkeit der Bundesländer. Die Bundesländer müssen hier ihre Schulaufgaben machen und müssen für die entsprechenden gesetzlichen Regelungen sorgen. ({13}) Ich kann Ihre Argumentation verstehen - ich weiß nicht, wer das eben gesagt hat -, wir bräuchten einheitliche Regelungen auf Bundesebene. Das ist ein Gedanke, der richtig ist und der auch gut nachvollziehbar ist. Warum haben wir solche Regelungen bisher nicht? - Wir haben sie bisher nicht, weil die landesrechtlichen Regelungen, die man dazu in Bayern, in Baden-Württemberg und meines Wissens in Sachsen-Anhalt hat, verfassungsrechtlich höchst prekär sind, um das vorsichtig auszudrücken. Dort hat man nämlich eine materiell strafrechtliche Regelung getroffen, hat diese aber polizeirechtlich verbrämt, um das deutlich zu sagen. Dieser Weg ist nicht zulässig. Die Länder müssen sich zusammensetzen und einen gemeinsamen Weg finden, der dem polizeilichen Gefahrenrecht entspricht, um in Zukunft eine Regelung für die entsprechenden Täter - es geht um die wenigen, die wir nach der geltenden Regelung nicht erfassen können - zu treffen. Meine Damen und Herren, in der Hoffnung, dass wir im Rechtsausschuss über dieses wichtige Thema gemeinsam und differenziert diskutieren werden, habe ich versucht, mich heute noch einmal etwas differenzierter mit dieser Frage zu beschäftigen. ({14}) Im Ergebnis dürfen wir der Praxis nicht Steine statt Brot geben. Schönen Dank. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/29 und 15/31 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Überweisung im vereinfachten Verfahren Beratung des Antrags der Abgeordneten Eckhardt Barthel ({0}), Ernst Bahr ({1}), HansWerner Bertl, weiterer Abgeordneter der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Antje Vollmer, Grietje Bettin, Katrin Dagmar GöringEckardt, Krista Sager und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Den Deutschen Musikrat stärken - Drucksache 15/48 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({2}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 15/48 an die in der Tagesordnung aufgeführ572 ten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 15/69 zu einer Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht zu erweitern und jetzt gleich als Zusatzpunkt 8 - ohne Aussprache - aufzurufen. - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 8 auf: Abschließende Beratung ohne Aussprache Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({3}) zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 3/02 - Drucksache 15/69 Berichterstattung: Abgeordneter Andreas Schmidt ({4}) Der Rechtsausschuss empfiehlt, in dem verfassungs- gerichtlichen Verfahren 2 BvE 3/02 Stellungnahmen ab- zugeben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozess- bevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/69? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthal- tung der Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie Zusatzpunkt 3 auf: 5. Wahlen zu Gremien a) Schriftführer gemäß § 3 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/50 ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen im Ausschuss nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes ({5}) - Drucksache 15/47 - 5. b) Ausschuss nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes ({6}) - Drucksachen 15/51, 15/52, 15/53, 15/54 Tagesordnungspunkt 5 a. Für die Wahl der Schriftführerinnen und Schriftführer liegt ein gemeinsamer Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP auf Drucksache 15/50 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist damit einstimmig angenommen. Ich gratuliere den gewählten Kolleginnen und Kollegen im Namen des ganzen Hauses und wünsche eine gute Zusammenarbeit. ({7}) Zusatzpunkt 3. Mir wurde mitgeteilt, dass das Wort gewünscht wird. Zunächst hat der Kollege Kauder von der CDU/CSU das Wort. Bitte schön.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Fraktion beantragt, die Besetzung der 16 vom Bundestag zu wählenden Mitglieder des Vermittlungsausschusses nach dem Ergebnis vorzunehmen, zu dem alle bekannten mathematischen Verteilsysteme kommen. Danach sind sieben Mitglieder der SPD-Fraktion, sieben Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion und je ein Mitglied der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion in den Vermittlungsausschuss zu wählen. Dies entspricht auch dem Charakter dieses Gremiums. Der Vermittlungsausschuss unterscheidet sich grundlegend und grundsätzlich von den regulären Ausschüssen des Deutschen Bundestages. Diese nehmen Kontroll- und Untersuchungsaufgaben des Bundestages wahr und bereiten die Plenarentscheidungen vor. Deshalb ist es richtig, dass sich in diesen Ausschüssen die politischen Mehrheitsverhältnisse, die im Plenum gegeben sind, widerspiegeln. Der Vermittlungsausschuss dagegen ist im Grundgesetz verankert. Die Mitgliederzahl ist festgelegt und kann nicht verändert werden. Er ist - darin unterscheidet er sich von allen anderen Ausschüssen - ein gemeinsames Organ von Bundestag und Bundesrat. Seine Mitglieder sind unabhängig. Er soll verhandeln und Kompromisse erzielen; er ist nicht in erster Linie auf Kampfentscheidungen angelegt, wie es bei anderen Ausschüssen der Fall ist. Damit ist die Möglichkeit eines Patts bereits im System des Vermittlungsausschusses angelegt. Es geht bei der Besetzung des Vermittlungsausschusses nicht ausschließlich darum, eine Mehrheit abzubilden. Wer so argumentiert, verkennt den besonderen Charakter des Vermittlungsausschusses. Das Bundesverfassungsgericht hat verlangt, dass bei der Besetzung von Ausschüssen ein nachvollziehbares mathematisches Zählsystem angewandt wird. Die Regierungskoalition hat mit ihrer Mehrheit beschlossen, dieses anerkannte System nicht anzuwenden, sondern sie will die Besetzung des Vermittlungsausschusses willkürlich festlegen. ({0}) Die Koalition hat in ihrem Antrag zur Berechnung der Zahl der jeweils zu entsendenden Mitglieder die willkürliche Verteilung festgelegt und mit ihrer Mehrheit durchgesetzt. Nun wollen Sie diesen Verteilungsschlüssel bei der Besetzung des Vermittlungsausschusses anwenden. Wir halten dies für eine Verletzung der Verfassung und haben deshalb das Bundesverfassungsgericht angerufen. ({1}) Das Bundesverfassungsgericht hat noch keine Entscheidung getroffen. Trotzdem wollen Sie heute die Besetzung des Vermittlungsausschusses nach Ihren Vorstellungen durchsetzen. Wir halten dies für keinen guten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Umgang mit dem Parlament wie auch mit dem Bundesverfassungsgericht, auf das damit erneut Druck ausgeübt werden soll. ({2}) Auch wir wünschen, dass der Vermittlungsausschuss rasch arbeitsfähig wird und in die Lage versetzt wird, zügig zu arbeiten. Aber wir wollen, dass die Bundestagsbank so besetzt wird, wie es Recht und Ordnung verlangen. ({3}) Obwohl wir davon ausgehen müssen, dass Sie dem höchsten deutschen Gericht nicht den notwendigen Respekt entgegenbringen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht abwarten, werden wir uns nicht verweigern. Ich möchte daher bereits jetzt im Namen meiner Fraktion erklären, dass wir uns nicht schmollend zurückziehen werden. Vielmehr werden wir das Verfahren, wie Sie es betreiben, zwar als Affront gegenüber dem Bundesverfassungsgericht darstellen; aber wir werden uns an der Wahl beteiligen. Sollten Sie also bei Ihrer Rechtsauffassung bleiben, werden wir heute unsere Mitglieder für die ersten sechs Plätze im Vermittlungsausschuss zur Abstimmung stellen. Ich bin mir jedoch sicher, dass dieses Thema erneut im Plenum des Deutschen Bundestags diskutiert werden wird und dass wir nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts das Mitglied für den siebten Platz im Vermittlungsausschuss und seinen Stellvertreter wählen werden können. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Schmidt, bitte.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht in dieser Debatte darum, dass wir die Umsetzung des Beschlusses dieses Hauses vom 30. Oktober 2002 vornehmen, damit im laufenden Gesetzgebungsverfahren und damit am Anfang der Wahlperiode eines der wichtigen Verfassungsorgane, nämlich der Vermittlungsausschuss, arbeitsfähig wird. Um mehr geht es nicht; aber - das möchte ich betonen - es geht auch nicht um weniger. Wir betreiben keine Willkür, wie Herr Pofalla meinte gegenüber einer Zeitung mitteilen zu müssen, sondern haben eine Rechtsauffassung, die sich entgegen Ihren wiederholten Behauptungen, Herr Kauder, nicht verändert hat. Alle Zählverfahren sind unbestritten nur Hilfsmittel, um die Besetzung eines Ausschusses bzw. eines Gremiums dieses Parlaments herbeizuführen. Auch das ist eine klare Rechtsgrundlage. Ich möchte Sie nicht nur an die Rede meines Kollegen Beck und meine Rede am 30. Oktober erinnern, sondern auch an die Tatsache, dass das in den Verfassungsgerichtsurteilen der vergangenen Jahre immer wieder zum Ausdruck gebracht worden ist. Wir sind auf der sicheren Seite und entgegen dem, was Sie meinen mitteilen zu müssen, respektieren wir das Bundesverfassungsgericht. Was die späteren Folgen angeht, werden wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts abwarten. Jetzt geht es darum, die Arbeitsfähigkeit des Vermittlungsausschusses herzustellen, damit wir im Dezember die Gesetzgebungsverfahren zu all den Gesetzentwürfen, die wir inzwischen anberaten haben, beenden können. Das ist unser gutes Recht. Das werden wir versuchen umzusetzen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen im Vermittlungsausschuss auf Drucksache 15/47. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der beiden fraktionslosen Mitglieder abgelehnt. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 5 b: Wir wählen nun die Mitglieder und deren Stellvertreter im Vermittlungsausschuss. Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP vor. Wer stimmt für den Vorschlag der Fraktion der SPD auf Drucksache 15/51? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Damit ist der Wahlvorschlag mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der beiden fraktionslosen Mitglieder bei Enthaltung der CDU/CSU und der FDP angenommen. Wir kommen nun zum Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/52. Es sollen heute, wie Kollege Kauder erklärt hat, nur die Vorschläge zu den Ziffern 1 bis 6 zur Abstimmung gestellt werden. Wer stimmt für die Wahlvorschläge der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/52 mit der soeben genannten Einschränkung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Wahlvorschläge der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/52, Ziffer 1 bis 6 sind mit den Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der beiden fraktionslosen Mitglieder bei Enthaltung der SPD und des Bündnisses 90/ Die Grünen angenommen. Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/53? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen der Koalition und der beiden fraktionslosen Mitglieder bei Enthaltung der CDU/CSU und der FDP angenommen. Wer stimmt für den Wahlvorschlag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/54? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit den Stimmen der FDP, der CDU/CSU und der beiden fraktionslosen Mitglieder bei Enthaltung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Damit sind die Mitglieder und deren Stellvertreter im Vermittlungsausschuss gewählt. Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP Haltung der Bundesregierung zur Situation der öffentlichen Haushalte unter Berücksichtigung der zu erwartenden aktuellen Steuerschätzung und der damit möglichen Notwendigkeit eines Haushaltssicherungsgesetzes Wir warten mit der Eröffnung der Aussprache so lange, bis die Kolleginnen und Kollegen, die den Saal verlassen wollen, dies getan haben. - Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an der Aktuellen Stunde nicht teilnehmen wollen, den Saal zügig zu verlassen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Günter Rexrodt, FDP-Fraktion.

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vom Umsteuern und von der finanzpolitischen Wende war die Rede. „Weg vom Schuldenstaat der Kohl-Ära“ - „Generationengerechtigkeit“ waren die neue Devise. Was für ein Tamtam in den letzten vier Jahren, was die Finanzpolitik der rot-grünen Koalition angeht! ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Rexrodt, entschuldigen Sie bitte; ich muss Sie für einen Augenblick unterbrechen. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Privatgespräche jetzt einzustellen und dem Redner in der Aktuellen Stunde zuzuhören. ({0})

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dann kamen das Wahlkampfgetöse und das Tamtam in diesem Zusammenhang. Schlichte Falschaussagen, wie sich heute erwiesen hat! Im Jahr 2002 sollte die Nettokreditaufnahme auf 21,1 Milliarden Euro und im Jahr 2003 auf 15,5 Milliarden Euro zurückgehen. Das sind Zahlen des Bundesfinanzministeriums. Die Realität, noch unter günstigen Vorzeichen: in diesem Jahr ein Verschuldungsplus von 8 Milliarden Euro und damit eine Steigerung auf insgesamt 29 Milliarden Euro und im Jahr 2003 noch einmal 3 Milliarden Euro obendrauf. Diese Zahlen basieren auf der Annahme eines Wirtschaftswachstums von 0,5 Prozent im Jahre 2002 und von 1,5 Prozent im Jahr 2003. Die Wirtschaftsweisen, die mit ihrem Gutachten gestern in die Öffentlichkeit gegangen sind, sagen aber: Wir werden im Jahr 2002 nur ein Wachstum von 0,2 Prozent und im Jahr 2003 ein Wachstum von maximal 1 Prozent erreichen. - Das lässt Schlimmes erwarten. Das lässt eine noch höhere Verschuldung und noch größere Finanzprobleme in unserem Land erwarten, ({0}) in einem Land, das den Stabilitätspakt in Europa durchgesetzt hat. Mit einer Defizitquote von 3,8 Prozent in diesem Jahr verfehlen wir die Kriterien von Maastricht in exorbitantem Maße. Diese Koalition, die sich auf das hohe Ross gesetzt hat und in diesem Hohen Haus vom Leder gezogen hat, steht vor dem Scherbenhaufen ihrer Finanzpolitik. Sie proklamiert nun ein gesamtwirtschaftliches Ungleichgewicht. Sie tut alles, um dieses Ungleichgewicht noch zu vergrößern und das ist der eigentliche Knackpunkt an der Geschichte. ({1}) Von dem, der ein solches Waterloo in der Finanzpolitik erlebt, sollte man doch erwarten, dass er alles tut, um diese Fehlentwicklungen abzuwenden und zu überwinden. Aber nein, diese Regierung tut alles, um diese Entwicklung noch zu beschleunigen. Die Regierung beseitigt nicht die Ursachen der konjunkturellen Schwäche, sondern sie verschärft diese Ursachen. Sie senkt nicht die Steuern, um wieder mehr Steuern einnehmen zu können; sie erhöht die Steuern, um am Ende dann noch weniger Steuern einzunehmen. ({2}) Sie senkt nicht die Sozialabgaben, wie angekündigt, sondern sie erhöht die Sozialabgaben und damit die Lohnnebenkosten. Wer aber Lohnnebenkosten erhöht, der setzt die Investitionsbereitschaft der Wirtschaft aufs Spiel und betreibt eine Politik der Beschäftigungsfeindlichkeit. ({3}) Meine Damen und Herren von der rot-grünen Koalition, Sie betreiben Deflationspolitik im wahrsten Sinne des Wortes. Heinrich Brüning lässt grüßen! ({4}) Sie sind nicht einmal in der Lage, den Fortschritt in der wirtschaftswissenschaftlichen und wirtschaftspolitischen Theorie der letzten 70 Jahre zur Kenntnis zu nehmen. Sie betreiben Deflationspolitik in reinster Form. ({5}) - Herr Schmidt, ich bezweifle, dass Sie überhaupt wissen, welche Politik Heinrich Brüning gemacht hat. ({6}) Vizepräsidentin Susanne Kastner - Das weiß ich. Was ist daran arrogant? ({7}) Gestern waren die Sachverständigen in der Bundespressekonferenz. Sie haben Ihnen das bescheinigt. Sie haben Ihnen zusätzlich bescheinigt - furchtbar genug -, dass wir im nächsten Jahr im Jahresdurchschnitt 117 000 zusätzliche Arbeitslose zu erwarten haben. Das sind die Fakten. Damit müssen Sie sich einmal auseinander setzen. ({8}) Wenn uns ein Nachtragshaushalt - Sie haben ihn immer abgelehnt - nun nicht genug ist, dann hat das einen einfachen finanzpolitischen Grund: Wir sind überzeugt, dass kosmetische Korrekturen - ein bisschen Anpassung hier, ein halber Prozentpunkt mehr oder weniger dort nicht mehr reichen. Das ist wie weiße Salbe. Diese Regierung versäumt es aufgrund ihrer reformfeindlichen Haltung, die Flexibilisierung in unserem Land herbeizuführen, die wir aufgrund der Globalisierung brauchen. ({9}) Diese Regierung versäumt es, die notwendige Vorsorge für die demographische Katastrophe, die uns in den Jahren 2012 ff. ins Haus stehen wird, zu treffen; wir haben keine Zeit mehr. Stattdessen versucht man, die aktuellen Probleme dadurch zu lösen, dass man eine Umverteilung von oben nach unten vornimmt. Das ist ein Rezept aus der sozialistischen Mottenkiste, ({10}) ein Rezept, das noch nie funktioniert hat.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Rexrodt, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- Ich komme sofort zum Schluss, Frau Präsidentin -. Denn diejenigen, die das Rad drehen, steigen einfach aus. In unserem Land müssen alle am Wachstum partizipieren, wie es über Jahrzehnte der Fall war. Mit einer solchen Finanzpolitik, mit einer solchen Wirtschaftspolitik, mit einer solchen Steuerpolitik ruinieren Sie nicht nur die Finanzen dieses Landes,

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- sondern Sie setzen es auch der Gefahr aus, in den Abgrund zu stürzen. Schuld ist Ihre sozialistische Umverteilungspolitik. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller.

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gegenüber der Steuerschätzung von Mai haben Bund, Länder und Gemeinden für dieses Jahr 15,4 Milliarden Euro und für nächstes Jahr 16 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen zu erwarten. ({0}) Der Bund ist davon in einer Größenordnung von 5,7 Milliarden Euro bzw. 5,5 Milliarden Euro betroffen. Der Grund dafür ist die schlechte konjunkturelle Entwicklung. Bis in den September hinein, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, hatten alle Fachleute ein kräftiges Anspringen des Konjunkturmotors für die zweite Jahreshälfte vorausgesagt. Ich habe dem Haushaltsausschuss gestern eine Auflistung der monatlichen Prognosen der Institute übergeben. Die Prognosen des Internationalen Währungsfonds und des Ifo-Instituts lagen noch im August bei 0,7 Prozent. Das entspricht genau dem Wert, den wir dem Haushaltsplan zugrunde gelegt haben. Würde er Wirklichkeit, stiege das Wachstum in den restlichen Monaten dieses Jahres sprunghaft an. ({1}) Die Entwicklung war jedoch schlechter als vorhergesehen. Unsere Projektion sieht für dieses Jahr nur noch eine Steigerung des realen Bruttoinlandsprodukts von 0,5 Prozent und für nächstes Jahr von 1,5 Prozent vor. Dies entspricht den konjunkturellen Prognosen der vorherrschenden Institute und im Übrigen auch der Europäischen Kommission für 2003. Der Internationale Währungsfonds hat uns für das nächste Jahr sogar eine Steigerung des Wirtschaftswachstums von 2 Prozent in Aussicht gestellt. Die Botschaft dieser Projektionen ist klar: Das Wachstum in 2003 wird in Fahrt kommen, aber leider nicht in dem Tempo, das wir mit Blick auf die Steuereinnahmen und den Arbeitsmarkt brauchten. ({2}) Wir müssen daher die Rahmenbedingungen für mehr Beschäftigung schnell verbessern. Wir werden die Vorschläge der Hartz-Kommission zügig umsetzen und dies wird auch die Schwelle absenken, ab der Wachstum in Deutschland automatisch zu mehr Beschäftigung führt. Unsere Finanzpolitik stellt sich den Herausforderungen. ({3}) Erstens. Wir begrenzen nicht nur die Ausgaben, sondern wir führen sie in 2003 sogar zurück. Gleichzeitig bauen wir den Umfang der Steuersubventionen ab. Dies entspricht unserer Verantwortung für die langfristige Tragfähigkeit der Finanzpolitik. ({4}) Zweitens. Wir lassen zugleich die automatischen Stabilisatoren teilweise wirken. Dies entspricht unserer Verantwortung für die konjunkturelle Entwicklung. ({5}) Beides zusammen ergibt einen klaren Rahmen für eine an die Situation angepasste Finanzpolitik. Das ist kein einfacher Weg; das bedeutet auch Einschnitte in gewohnte Vergünstigungen. Aber es gibt dazu keine sinnvolle Alternative. Diese Zielvorstellungen setzen wir im Nachtragshaushalt für 2002 und im Haushalt 2003 um. 2002 ist ein Nachtragshaushalt geboten. Damit reagieren wir auf die konjunkturell bedingten Steuermindereinnahmen und auf die Mehrausgaben, die wir im Bereich der Arbeitsmarktpolitik zu schultern haben. Das viel zu geringe Wachstum im Jahre 2002 und die gestiegene und zu hohe Arbeitslosigkeit belegen, dass das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in diesem Jahr gestört ist. Ich teile nicht die Mehrheitsmeinung des Sachverständigenrates, dass eine gesamtwirtschaftliche Störung für das Jahr 2002 nur dann vorliegt, wenn wesentlich größere Verfehlungen gesamtwirtschaftlicher Ziele gegenüber den Vorgaben von 2001 festzustellen sind. In der aktuellen Situation ist eine einmalige Erhöhung der Kreditaufnahme der geeignete Weg zur Überwindung der konjunkturellen Schwächephase, ({6}) weil wir - und das ist das Entscheidende - an unserer langfristig angelegten Wachstums- und Beschäftigungsstrategie und am Konsolidierungskurs festhalten. Die Alternative wäre, kurzfristig ganz massiv auf der Ausgabenseite zu kürzen, was die Konjunktur nur weiter schwächen würde. Deswegen ist das keine machbare Alternative. ({7}) Die genauen Zahlen des Nachtragshaushalts werden in der kommenden Woche von der Bundesregierung festgelegt; ebenfalls wird der Regierungsentwurf für den Haushalt 2003 beschlossen. ({8}) Insgesamt zeichnet sich gegenüber dem Entwurf vom Sommer eine sehr begrenzte Erhöhung der Nettokreditaufnahme ab. ({9}) Dafür haben wir in den Koalitionsverhandlungen bereits einen Rahmen vorgegeben. Das Entscheidende ist: Trotz dieser begrenzten Erhöhung gegenüber dem Regierungsentwurf vom Sommer wird die Neuverschuldung im nächsten Jahr die geringste seit der Wiedervereinigung sein. Das ist ein wichtiger Wert. ({10}) Mit dem Bundeshaushalt 2003 werden wir die begonnenen Vorhaben verstetigen und neue solide finanzieren. Das gilt insbesondere für die zukunftssichernden Ausgaben in den Bereichen Familie, Bildung, Forschung und Infrastruktur. Auch die Haushalte der Länder sind durch die deutlich geringeren Steuereinnahmen betroffen. Viele haben bereits mit Sparmaßnahmen, mit Haushaltssicherungskonzepten und mit Haushaltssperren gearbeitet. Aber diese Maßnahmen haben nicht ausgereicht, den Anstieg des Defizits aufgrund der Steuerausfälle aufzufangen. Deswegen sind weitere Konsolidierungsmaßnahmen für das Jahr 2003 - insbesondere vor dem Hintergrund unserer Verpflichtungen gegenüber dem europäischen Stabilitätspakt - erforderlich. Im Übrigen werden die steuerlichen Maßnahmen, für die wir die Gesetzgebungsverfahren einleiten, auch zur nachhaltigen Verbesserung der Einnahmesituation von Ländern und Gemeinden beitragen. In Deutschland wird das Staatsdefizit in diesem Jahr deutlich über 3 Prozent steigen. Gegenwärtig berechnen wir es auf der Basis der Steuerschätzung für den Finanzplanungsrat, der demnächst tagt, neu. Das Defizit dürfte sich aber in der Größenordnung bewegen, die auch von der EU-Kommission ermittelt wurde. An einer Fortsetzung der Politik der Haushaltskonsolidierung führt also kein Weg vorbei. 2003 wird durch die Maßnahmen, für die wir jetzt die Gesetze auf den Weg bringen, das Defizit wieder unter 3 Prozent sinken, wenn alle staatlichen Ebenen ihren Beitrag dazu leisten. ({11}) Unser Ziel ist es, das Defizit des Gesamtstaates - Bund, Länder, Gemeinden - im Jahre 2006 nahezu auf null zurückzuführen. Die Bundesregierung wird mit allen Beteiligten zusammenarbeiten, um die Verpflichtungen Deutschlands gegenüber der Europäischen Union zu erfüllen. ({12}) - Unser Beitrag dazu besteht erstens im Abbau von Steuervergünstigungen bei gleichzeitiger Absenkung der Steuersätze in den Jahren 2004 und 2005 - an den Steuersenkungen halten wir fest -, ({13}) zweitens in der Begrenzung der Bundesausgaben und drittens in Reformen in Bezug auf den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme. Meine Damen und Herren, wenn uns in diesen Tagen ein deutlicher Modernisierungsschub in Deutschland gelingt, dann haben wir die richtigen Schlussfolgerungen aus der Steuerschätzung von gestern gezogen. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dietrich Austermann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser Land befindet sich in einer Finanzkrise. Aber anstatt dem Parlament Rede und Antwort zu stehen, schickt der kneifende Finanzminister Herrn Diller her, um die Lage schönzureden. ({0}) Ich halte das für einen unglaublichen Vorgang. Das Parlament hat Anspruch darauf, dass der Bundesfinanzminister Auskunft über die tatsächliche Situation gibt und nicht versucht, weiterhin Dinge zu vernebeln. Wir haben eine Situation, in der eigentlich jeder der Überzeugung ist: Der Finanzminister hat versagt wie keiner vor ihm und keiner neben ihm, keiner der anderen zwölf im Regierungsteam, ({1}) und er müsste, wenn er dem Land von sich aus etwas Gutes tun wollte, sofort seinen Hut nehmen. ({2}) Da es eigentlich keines Beweises mehr bedarf, dass das, was gestern an Zahlen und Entwicklungen offen gelegt worden ist, im Grunde genommen seit anderthalb Jahren in der Tendenz bekannt ist, ({3}) aber mit Vorsatz vernebelt worden ist - fragen Sie Herrn Metzger zu diesem Punkt -, ({4}) ist es meines Erachtens angezeigt, darüber nachzudenken, ob die Regierung wegen dieses Betruges nicht eigentlich vor einen Untersuchungsausschuss gestellt werden müsste. So viel Betrug vor der Wahl in konkreten Dingen wie jetzt hat es noch nicht gegeben. ({5}) Ich will etwas zu der Frage sagen, ob das nicht absehbar war. Hat nicht die EU-Kommission bereits im Januar deutlich gemacht, dass der blaue Brief fällig ist? Und ist der blaue Brief nicht bloß dadurch abgewendet worden, dass man versucht hat, die Dinge schönzureden? Es war doch für jeden klar, dass die Steuereinnahmen zurückgehen. Der Rückgang der Steuereinnahmen hat sich nicht erst im letzten September ergeben. Wenn Sie sich die Steuereinnahmen der letzten Monate anschauen, dann werden Sie feststellen, dass sie im September gestiegen sind. ({6}) Allein auf der Berechnung vom September basiert ja Ihre hoffnungsvolle Kunde, dass uns bis Ende des Jahres nur 8,5 Milliarden Euro beim Bund fehlen. Wenn Sie von der Tendenz zu Beginn des Jahres ausgehen, ist ziemlich klar, dass auch diese 8,5 Milliarden Euro wieder schöngeredet sind und dass deutlich erkennbar war, in welche Richtung die Entwicklung geht. Nein, es stimmt keine einzige Zahl mehr, die das Finanzministerium in diesem Jahr genannt hat. Deswegen stimmen auch die Perspektive und die Maßnahmen, die getroffen werden, nicht. Lassen Sie mich einmal darstellen, was zum 1. Januar nächsten Jahres kommen soll - Sie haben ja gesagt, Sie machten eine Regierungspolitik, die dazu beitrage, die Situation zu verbessern -: Erhöhung der Ökosteuer, Erhöhung der Tabaksteuer, Erhöhung der Körperschaftsteuer, Neueinführung der Maut, Verschiebung der zweiten Stufe der Steuerreform, Erhöhung der Stromsteuer, Erhöhung der Gassteuer, Erhöhung der Mehrwertsteuer in Teilbereichen, Abbau von so genannten Subventionen, Änderungen bei der Eigenheimzulage, Änderungen bei der Spekulationsteuer und Erhöhung der Beiträge zur Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Das alles soll der Entwicklung der Wirtschaft im nächsten Jahr nicht schaden? Es ist doch ziemlich klar und offenkundig, dass diese Fülle von Steuer- und Abgabenerhöhungen geeignet ist, auch noch den letzten Rest Wachstum von 0,2 Prozent totzutreten. Sie machen die falsche Politik in der falschen Zeit. ({7}) Ich finde, dass man sich auch deutlich darüber unterhalten muss, dass es nun endlich an der Zeit ist, mit der Mär aufzuhören, Sie machten Konsolidierungspolitik. Unter Konsolidierung versteht jeder kundige Thebaner Ausgabenbegrenzung und den Versuch, die Dinge auch an anderer Stelle in den Griff zu bekommen. Aber die Ausgaben steigen und sie werden auch im nächsten Jahr steigen, weil Sie das Problem haben, dass es Ihnen bisher nicht gelungen ist, an dieser Stelle anzusetzen. Sie erhöhen die Einnahmen durch Steuern und Abgaben, aber Sie senken nicht die Ausgaben. ({8}) Von Konsolidierung kann, seit Eichel im Amt ist, überhaupt keine Rede sein. Sie können auch nicht vom Sparen reden oder davon, dass sich die Dinge in absehbarer Zeit bessern würden. Das Wachstum ist eingebrochen, wir haben eine Pleitewelle in Rekordhöhe, die Arbeitslosigkeit steigt, die Sozialsysteme stehen auf schwankendem Grund, das Staatsdefizit hat sich mehr als verdoppelt und das Ergebnis ist, dass wir in diesem Jahr einen verfassungswidrigen Haushalt haben und auch im nächsten Jahr einen verfassungswidrigen Haushalt haben werden. Reden Sie sich nicht damit heraus, dass die wirtschaftliche Entwicklung gestärkt werden müsse, es läge eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vor. Dazu passt nicht, dass Sie behaupten, es gebe noch Wachstum; denn in diesem Fall kann das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht nicht gestört sein. Dazu passt ebenfalls nicht die Maßnahme, neue Kredite aufzunehmen; denn die wesentlich erhöhte Kreditaufnahme ist nicht geeignet, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beseitigen. Sie soll lediglich die vorhandenen und von Ihnen verursachten Haushaltslöcher stopfen. Ich sage es noch einmal: Dieser Minister hat es nicht verdient, länger im Amt zu sein. Er hat die Finanzen, den Haushalt des Bundes, an den Abgrund geführt. Die Politik, die zurzeit gemacht wird, ist nicht geeignet, die wirtschaftliche Situation in Deutschland zu verbessern. Sie stehen vor einem Scherbenhaufen Ihrer Politik. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Rexrodt, Sie haben hier wieder einmal gnadenlos übertrieben. ({0}) In meiner vorherigen Rede habe ich gesagt, dass Meckern kein Konzept ist. Aber ich muss sagen, dass gnadenlose Übertreibungen ebenfalls kein Konzept sind, Herr Rexrodt. ({1}) Die FDP hat sich in der Finanz- und Haushaltspolitik nicht gerade mit Ruhm bekleckert, was die 29 Jahre ihrer Regierungsbeteiligung betrifft. ({2}) Wenn man die gegenwärtige Situation Ihrer Partei betrachtet, dann muss man sagen, dass sie das auch in der Gegenwart nicht tut. ({3}) Herr Austermann, ich finde, wir sollten sachlich miteinander reden. ({4}) Sie sollten nicht immer behaupten, dass wir die Höhe der Steuereinnahmen des Septembers vorher wissen konnten. Als guter Haushaltspolitiker müssten Sie doch eigentlich wissen, dass der September seit Jahren der Monat mit den größten Steuereinnahmen ist. Die Prognosen, die wir im Frühjahr bezüglich der Einnahmen im September bekommenhaben,habensichabernichterfüllt.Deshalbmüssenwir als Konsequenz der letzten Steuerschätzung einen Nachtragshaushalt einbringen. Dass dies geschieht, liegt aber nicht daran, dass es falsche Einschätzungen vonseiten der Koalitionsfraktionen oder des Finanzministers gegeben hat. ({5}) Es ist unbestritten, dass die wirtschaftliche Situation äußerst schwierig ist und dass wir konsolidieren müssen. Wir müssen aber gleichzeitig dafür sorgen, dass in diesem Land ausreichend investiert wird und dass wir es schaffen, strukturelle Maßnahmen zu ergreifen, um die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest zu machen. Ich hoffe, dass wir uns darin einig sind. Der Unterschied zwischen CDU/CSU und FDP auf der einen Seite und den Regierungsfraktionen auf der anderen Seite ist jedoch der, dass die Regierungsfraktionen Vorschläge machen, wie wir aus dieser schwierigen Situation herauskommen können. ({6}) Aber Sie mäkeln in allen Debatten, die wir in diesem Hause zu diesem Thema führen, nur herum, ohne zu sagen, was Sie tun wollen. ({7}) Sagen Sie doch bitte einmal, wie man es ohne eine weitere Neuverschuldung schaffen kann, die Steuern, die Sozialversicherungsbeiträge und die Staatsquote zu senken! Sagen Sie den Menschen draußen im Land, was Ihre Forderungen für die soziale Absicherung bedeuten und welche Einbußen die Menschen hinzunehmen haben! Dazu sind Sie zu feige. ({8}) Die Prognosen sowohl der Wirtschaftsforschungsinstitute als auch des Sachverständigenrates waren schon immer unsicher. ({9}) Das ist leider so; daran kann man nichts ändern. Wir konnten immer wieder erleben, dass Institute innerhalb weniger Tage ihre Prognosen verändert haben ({10}) und dass wir anpassen mussten. Denn die Forschungsinstitute, die Wirtschaftsinstitute, der Sachverständigenrat und die Wirtschaftsweisen sind die Gremien, die die Grunddaten vorlegen, auf denen die Regierung ihre Perspektiven in der Finanz- und Haushaltspolitik aufbaut. Das ging Ihnen so und das geht uns so. Ich finde, man sollte an dieser Stelle die Kirche im Dorf lassen. Als der Finanzminister noch Theo Waigel hieß, hatten wir dreimal die Situation, dass die Neuverschuldung höher war als die Investitionen. Dies hatte genau die gleiche Konsequenz, vor der wir heute stehen. ({11}) Auch damals ist Gott sei Dank kein Staatsbankrott eingetreten. Das wird auch diesmal nicht der Fall sein. Denn wir haben Vorsorge getroffen, wir werden im Hinblick auf das Jahr 2003 konkrete Vorschläge machen und Sie darum bitten, dem zuzustimmen. Dazu kommt, dass etwa 55 Prozent des Defizits, über das wir jetzt sprechen und das wir nach Brüssel melden müssen, in der Verantwortung der Bundesländer liegen. ({12}) Ich würde bitten, dass nicht nur oppositionsseitig, also vonseiten der CDU/CSU und der FDP, diesbezügliche Vorschläge kommen. Es geht nämlich nicht an, dass beispielsweise der bayerische Ministerpräsident oder ein Herr Koch sagen: „Liebe Leute, all das, was die Regierung macht, wollen wir nicht haben; wir machen das alles besser“, ohne ehrlich zu sagen, was sie tun wollen. Auch Herr Koch wird einen nicht verfassungskonformen Haushalt haben. Das bitte ich zu berücksichtigen. Hier müssen alle helfen. Dazu gehören die Länder, aber auch die Opposition. Danke schön. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Steffen Kampeter, CDU/CSU-Fraktion.

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kollegin Scheel hat wesentliche Teile ihrer Rede darauf verwendet, den Eindruck zu erwecken, als habe die rot-grüne Regierungskoalition gerade in den letzten Minuten, Stunden oder Tagen erfahren, dass die wirtschaftliche Lage in Deutschland schlecht und die Steuerbasis erodierend ist, die Zukunftsperspektiven schlimm sind und sie regelrecht überrascht worden sei. Wer heute Morgen die „Welt“ gelesen hat, der konnte zur Kenntnis nehmen, dass interessanterweise jemand, der auch im Deutschen Bundestag immer offen war, nämlich Oswald Metzger, Ihr langjähriger haushalts- und finanzpolitischer Sprecher, festgestellt hat: ... die Koalitionäre - das sind Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren hätten vor der Bundestagswahl - so Metzger wörtlich ‚ein desaströses Finanzloch im Bundeshaushalt‘ bewusst verschwiegen. ({0}) Es sei Stillschweigen vereinbart worden, weil sonst ‚der Nimbus der Finanzpolitik dieser Koalition im Bereich Sparen natürlich schon vor der Wahl kaputt gewesen wäre‘. So weit Ihr ehemaliger finanzpolitischer Sprecher. Es gibt jetzt also auch bei den Grünen welche, die die Wahrheit sagen. ({1}) Vor diesem Hintergrund möchte ich einen anderen Experten hinzuziehen. In den letzten Tagen hat der SPDWirtschafts- und Arbeitsminister von Nordrhein-Westfalen auf die Frage, ob er nicht schon lange wisse, dass die wirtschaftliche Lage und die Steuerlage so seien, wie sie seien, geantwortet: Das war für jemanden, der jeden Tag vor Ort ist und im Land die Augen offen hält, überhaupt keine Neuigkeit. Dass beispielsweise der Möbelindustrie große Probleme ins Haus stehen, das war vor der Wahl so und das ist nach der Wahl so. Wir haben eine Reihe von Handwerksbereichen, die aufgrund der schlechten Baukonjunktur in erheblichen Schwierigkeiten sind und Arbeitsplätze abbauen. Das war vor der Wahl so und das ist nach der Wahl so. Auf die Frage: „Sie haben also alles gewusst?“, antwortete Schartau: Ja, das wusste jeder, der in diesen Bereichen die Augen offen hat und sie nicht zumacht. Das ist die Wahrheit über die großartige Lüge, die heute Gegenstand Ihrer Redebeiträge ist. ({2}) Es bleibt Tatsache: Die Steuerausfälle, die die Steuerschätzer gestern diagnostiziert haben, sind Ausweis einer völlig verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik. Dabei geht es nicht nur um Haushaltslöcher. Sie stehen am Abgrund einer völlig falschen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wer sich heute noch einmal die Rede vornimmt, die der Bundesfinanzminister kurz vor der Wahl am 12. September hier gehalten hat, und eine unwahre Behauptung nach der anderen liest, der muss die Forderung des Kollegen Austermann aufgreifen: Wer so unverschämt, so schamlos lügt, der sollte seinen Hut nehmen. Zumindest hätte ich heute aber erwartet, dass er nicht den Motivationskünstler Diller vorschickt, sondern selbst zur Lage der Wirtschaft und der Finanzen in Deutschland Stellung nimmt. ({3}) Herr Diller hat vor dem Deutschen Bundestag gesagt, das Wachstum komme in Fahrt. Wenn es so lethargisch in Fahrt kommt, wie der Kollege Diller bei seiner Rede in Fahrt kam, dann werden wir sehr große Wachstumsprobleme haben. Wir dürfen uns keine Illusionen über die Ursachen machen. Wir haben doch nicht, wie die Redner der Koalition dauernd behaupten, ausschließlich konjunkturelle Probleme. Natürlich haben wir eine miese Konjunktur, aber die hohe Arbeitslosigkeit und die wirtschaftliche Lage in unserem Land haben vor allem die Ursache, dass die strukturellen Reformen in Deutschland nicht angegangen worden sind. Kollegin Scheel, Sie haben gefragt, was wir dagegen machen. Vielleicht schauen Sie einmal in Ihr Büro. Dort liegt unser Entwurf über ein Minijobgesetz, in dem wir wesentliche Vorschläge zur Entriegelung des Arbeitsmarktes in Deutschland machen, um zu Wirtschaftswachstum zu kommen. Das ist ein ganz zentraler Vorschlag. Es geht nämlich nicht um die Verwaltung des Mangels, sondern um die Gestaltung zukunftsfähiger Lösungen. Wir müssen die Sozialversicherung auf neue Füße stellen. Das, was Sie machen, ist ein Alternativprogramm, das ausschließlich auf dem Instrument der Steuererhöhungen beruht. Der Entwurf des Steuererhöhungsgesetzes, das von Ihnen in der nächsten Woche vorgelegt werden soll, beinhaltet die umfassendste Steuererhöhung - wahrscheinlich in einem Volumen von 35 Milliarden Euro -, die in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland jemals durch ein Gesetz umgesetzt wurde. Sie werden wesentliche Strukturfragen der deutschen Wirtschaft streitig stellen, beispielsweise durch die von Ihnen beabsichtigte Einführung des Ausgabenabzugsverbots bei Dividendeneinnahmen für Kapitalgesellschaften. Das ist eine Aufforderung an die Kapitalgesellschaften, aus dem Standort Deutschland zu flüchten. Es fördert Attentismus und die Benachteiligung des Standorts Deutschland. Durch diese Maßnahme werden Sie eher weniger als mehr Steuern erhalten. Es wäre auch fatal, wenn Sie Ihren Vorschlag umsetzten, die gewerbesteuerliche Organschaft abzuschaffen. Nachdem Sie schon die Gewerbesteuerreform auf die lange Bank geschoben haben, würden Sie mit dieser Maßnahme die Finanzen der Gemeinden vollends ruinieren. Der Finanzminister hat vor wenigen Monaten in einer Rede an der Humboldt-Universität gesagt: Wir müssen, um Wachstum und Beschäftigung zu fördern, die Steuerund Abgabenlast senken. Meine sehr verehrten Damen und Herren, tun Sie bitte das, was der Finanzminister noch vor wenigen Monaten gefordert hat, anstatt die Steuerlast in dieser unverschämten Art und Weise anzuheben. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Kampeter, Ihre Redezeit ist überschritten.

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will abschließend auf einen Punkt hinweisen: Die Feststellung der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, wie Sie es hier diagnostiziert haben, versetzt Sie nicht in die Lage, unbeschränkt zusätzliche Schulden aufzunehmen. Das Verfassungsgericht fordert, dass eine zusätzliche Kreditaufnahme der Sache und der Höhe nach der Senkung der Arbeitslosigkeit dienen soll.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Kampeter, Ihre Redezeit reicht für diesen abschließenden Punkt nicht mehr.

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das, was Sie im Zusammenhang mit Ihrem Nachtragshaushalt vorschlagen, wird keinesfalls dem Ziel „mehr Wachstum und Beschäftigung“ dienen. Es wird Deutschland schaden. Wir werden diese Schädigung unserer Volkswirtschaft weiterhin kritisieren. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Joachim Poß, SPDFraktion. ({0})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kampeter, ich würde Ihnen empfehlen, sich noch einmal die Pressekonferenz der Sachverständigen anzuschauen. Dort hat sich Professor Siebert zu Ihrem Minijobkonzept geäußert und es ausdrücklich abgelehnt. So viel möchte ich zu den Ergebnissen des Sachverständigenrates und der Bewertung Ihrer Vorschläge sagen. ({0}) Wenn Sie die Chuzpe haben, über Gemeindefinanzen zu reden, dann muss ich an etwas erinnern: In Ihrer Verantwortung wurde die Gewerbesteuer permanent ausgehöhlt; wir sind diejenigen, die das Problem zum ersten Mal seit 30 Jahren grundsätzlich aufgreifen und im nächsten Jahr eine umfassende Gemeindefinanzreform durchsetzen werden. Das ist der Unterschied zwischen Reden und Handeln. ({1}) Zu den Prognosen: Noch im August und September gingen verschiedene Institute davon aus, dass es zu einer kräftigen wirtschaftlichen Erholung im zweiten Halbjahr kommen würde. Wenn Herr Metzger aus irgendwelchen menschlichen Verletzungen heraus plötzlich all seine Erkenntnisse, die er am 12. September in einer 20-minütigen Rede hier im Deutschen Bundestag noch zum Besten gegeben hat - dabei hat er sich der Analyse von Bundesfinanzminister Eichel voll angeschlossen -, ({2}) heute vergessen hat, ist das das Problem von Herrn Metzger und nicht das Problem dieser Koalition. ({3}) Die Einzigen, die die Wählerinnen und Wähler getäuscht haben, sind Sie von der Opposition, und zwar mit unfinanzierbaren Vorschlägen; Stichworte: dreimal 40, dreimal 35. ({4}) Wo leben Sie denn? Finanzpolitisch leben Sie in Wolkenkuckucksheim. ({5}) Wir haben keine unfinanzierbaren Vorschläge und Versprechungen gemacht. Herr Merz, das unterscheidet uns. Sie schwätzen wirklich und wissen oft nicht, worüber Sie schwätzen. Wir wissen, worüber wir reden, handeln verantwortungsbewusst und stellen uns der Situation. ({6}) Sie werden nach der Steuerschätzung nicht mehr darum herumkommen, sich der Situation zu stellen. ({7}) Eigentlich müsste jedem in diesem Hause klar geworden sein: Die Lage der öffentlichen Haushalte ist so ernst, ({8}) dass mit rein parteitaktischen Überlegungen und mit den Aufführungen einer Opposition, die ihre Wahlniederlage immer noch nicht verdaut hat, endlich Schluss sein muss. ({9}) Das ist die Realität, mit der wir es zu tun haben. ({10}) - So ist das! Das gilt auch für einige Medien, die heute quasi mit einem schwarzen Rand aufmachen. Sie haben die Wahl verloren, weil Sie diese Koalition ablösen wollten. Das ist Ihnen misslungen und das haben Sie nicht verschmerzt. ({11}) Weil, wie jetzt deutlich geworden ist, allen öffentlichen Gebietskörperschaften die geplanten Einnahmen weggebrochen sind, werden beim Bund, aber auch bei den Ländern und Kommunen die Haushaltsdefizite und damit auch das gesamtstaatliche Defizit in diesem und im kommenden Jahr größer ausfallen als bisher erwartet. Wenn diese Entwicklung nicht schnell und aktiv gebremst wird, und zwar mit kurzfristiger Wirkung, werden eine Reihe von Länderhaushalten 2003 an die Grenze der Verfassungsmäßigkeit stoßen. Das ist die Lage, für die beide Gesetzgebungsorgane, Bundestag und Bundesrat, in ihrer jeweiligen Verantwortung eine Lösung finden müssen. Die Unionsfraktion im Deutschen Bundestag würde ihren Einfluss und ihre Bedeutung überschätzen, wenn sie meinte, die unionsgeführten Bundesländer aus purer Parteitaktik und wohl auch aus der nachhaltigen Wut über die verlorene Bundestagswahl, die bei ihren Reaktionen immer zu spüren ist, zu einer kompromisslosen Ablehnung der steuerpolitischen Vorschläge der Regierungskoalition drängen zu können. Auch die unionsgeführten Bundesländer kennen ihre eigenen Interessen sehr genau. Diese werden sie natürlich weiterverfolgen und gegen die taktischen Spielchen von Merz, Merkel und anderen durchsetzen. ({12}) Auch Stoiber und Koch können nicht untätig bleiben. Sie müssen dafür Sorge tragen, dass die Einnahmebasis ihrer Länder gesichert wird und die Defizite ihrer Haushalte nicht unbegrenzt nach oben schnellen. Deshalb sage ich: Wir haben ein Konzept. ({13}) Unsere Vorschläge zur Verbreiterung der Steuerbemessungsgrundlage und zum Abbau von nicht mehr finanzierbaren Steuervorteilen bieten eine Verbesserung der Finanzsituation, und zwar nicht nur des Bundes, sondern auch der Länder und Kommunen. Daher sind sie eine ernsthafte Verhandlungsgrundlage für den Bundesrat. Arbeiten Sie - auch im Interesse der unionsgeführten Länder und Kommunen - bereits hier im Bundestag konstruktiv an unserem Politikangebot mit oder legen Sie endlich eine konkrete und detaillierte Alternative vor! So können Sie nicht weiterwursteln! Im Grunde wissen Sie das auch ganz genau. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele, FDPFraktion.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Der gestrige Tag war der Offenbarungseid einer gescheiterten Politik von vier Jahren Rot-Grün: ({0}) Die Wirtschaftsweisen gehen von einem noch niedrigeren Wirtschaftswachstum und einer steigenden Anzahl der Arbeitslosen aus. Brüssel leitet ein Defizitverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland ein und die Steuerschätzung stellt Mindereinnahmen von über 30 Milliarden Euro für die nächsten beiden Jahre fest. - Ein ordentlicher Kaufmann müsste bei dieser Bilanz den Gang zum Konkursrichter antreten und den Offenbarungseid ablegen. Finanzminister Eichel hat aber nicht einmal den Mumm, bei dieser Debatte hier im Bundestag zu erscheinen und seine Politik zu vertreten. ({1}) Gäbe es ein Delikt „Wahlbetrug“, dann müssten Bundeskanzler Schröder und Finanzminister Eichel heute vor ein Strafgericht treten. Was aber macht der Bundesfinanzminister? - Er sucht Sündenböcke: Die Weltwirtschaft sei schuld, das Wachstum habe sich nicht entwickelt wie erwartet, die Zahl der Arbeitslosen sei nicht wie erwartet gesunken. Die Glaubwürdigkeit von Finanzminister Eichel hat sich, wie die „Börsen-Zeitung“ heute schrieb, von Triple A zum Junk Bond entwickelt. Sie ist implodiert. Es ist überhaupt keine Glaubwürdigkeit des Finanzministers mehr vorhanden. ({2}) Immer werden die Fehler bei anderen gesucht, statt endlich selbst die Verantwortung für eine gescheiterte Politik zu übernehmen. ({3}) Die ganze Finanzpolitik von Minister Eichel hat nur eine einzige Konstante: Seine Prognosen lagen immer daneben. Durch die Regierung wird den Bürgern ein angebliches Sparpaket vorgelegt, welches im Wesentlichen darin besteht, durch Streichen von steuerlichen Regelungen ohne gleichzeitige Entlastung der Bürger die Steuereinnahmen des Staates weiter zu erhöhen. Diese Bundesregierung greift den Bürgern schamlos in die Tasche: Die Sozialversicherungsbeiträge werden erhöht, die Ökosteuern werden erhöht, die Beitragsbemessungsgrenze wird erhöht, eine Wertzuwachssteuer wird eingeführt und steuerliche Ausnahmetatbestände werden gestrichen. Diese Bundesregierung belastet die Wirtschaft in unverantwortlicher Weise und setzt steuerliche Regelungen außer Kraft, die systembedingt sind und daher zu Recht seit jeher Bestandteil des Steuerrechts sind. Der Höhepunkt dieser schamlosen Politik besteht darin, dies auch noch als Sparpaket auszugeben. ({4}) Herr Schäfers von der „FAZ“ brachte es heute auf den Punkt: Steuerschätzer, Sachverständige und EU-Kommission erinnern mit all ihren Zahlen letztlich an einen einfachen Zusammenhang: Nur eine dynamische Wirtschaft verschafft dem Staat die Einnahmen, die er braucht, um über die Runden zu kommen. Doch nahezu alles, was Rot-Grün tut, schadet diesem Ziel. Wie will man mit Steuererhöhungen Wachstum erzeugen? Wie will man mit höheren Lohnnebenkosten die Arbeitslosigkeit senken? Wie will man mit täglich neuen Gesetzesvorhaben Bürgern und Betrieben Planungssicherheit für größere Projekte geben? Die Spitzenverbände der Wirtschaft warnen schon, dass infolge der zusätzlichen Steuerbelastungen 35 Milliarden Euro Mehrbelastung auf die Unternehmen zukommen. Die Lohnnebenkosten steigen dramatisch an und liegen im nächsten Jahr trotz eingenommener 63 Milliarden Euro Ökosteuer auf dem Niveau von 1998, bei 42,2 Prozent. Und das soll eine nachhaltige Finanzpolitik sein? Herr Finanzminister, tun Sie endlich das, was jeder normale Bürger tun würde, der aufgrund Ihrer falschen Politik weniger Einnahmen hat: Sie müssen endlich bei den Ausgaben ansetzen und sparen. ({5}) Deshalb kann ich Ihnen nur empfehlen: Halten Sie es mit den Empfehlungen der Wirtschaftsweisen und der FDP! Senken Sie die Steuersätze! Führen Sie Staatsaufgaben zugunsten privater Aktivitäten zurück! Senken Sie die Neuverschuldung! Senken Sie die Lohnnebenkosten! Befristen Sie auch das Arbeitslosengeld! Die Staatsquote liegt bei fast 50 Prozent. Die Abgabenquote liegt bei 42 Prozent. Die Neuverschuldung des Bundes wird sich in den vier Jahren Rot-Grün um mehr als 100 Milliarden Euro erhöht haben. Dies ist keine Politik der Konsolidierung, dies ist eine Steuererhöhungspolitik, eine Abgabenerhöhungspolitik, eine Neuverschuldungspolitik. Diese Regierung unter Bundeskanzler Schröder hat vor der Wahl vieles versprochen - nach der Wahl wurde es gebrochen. Deshalb ist es gut, dass nach der Wahl der ehemalige Abgeordnete Metzger erklärt hat, ({6}) dass das „desaströse Finanzloch im Bundesetat bewusst verschwiegen“ worden sei, weil ansonsten „der Nimbus der Finanzpolitik dieser Koalition im Bereich Sparen natürlich schon vor der Wahl kaputt gewesen wäre“. ({7}) Weiter hat er erklärt: In einem Abwägungsprozess, wollen wir weiter regieren, hat sich die SPD und die Bundesregierung und auch der Bundesfinanzminister fürs Weiterregieren entschieden und gegen die Ehrlichkeit. Gegen die Ehrlichkeit, meine Damen und Herren!

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Thiele, Ihre Redezeit ist überschritten.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn Sie noch etwas Glaubwürdigkeit hätten, dann müssten Sie die Wahrheit eingestehen, dann muss der Finanzminister von seinem Posten zurücktreten und dann müssen Sie hier einen Haushalt mit einer Finanzplanung vorlegen, die tatsächlich in der Lage ist, das wirtschaftliche Wachstum in Europa und vor allem in Deutschland zu befördern, und sie nicht abwürgt. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Hermenau, Bündnis 90/Die Grünen.

Antje Hermenau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002673, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wissen Sie, Herr Thiele, mir geht es wie Ihnen: Auch ich wünsche mir einen ehemaligen Abgeordneten zurück, aber nicht Herrn Metzger, sondern Herrn Lambsdorff. ({0}) Dessen Kurzintervention von vor über sechs Jahren habe ich noch gut im Ohr. Damals meinte er, die fetten Jahre seien vorbei, man müsse umsteuern. Dies haben Sie versäumt, als Sie noch an der Regierung waren. ({1}) Die Misere, die wir auch hier in Deutschland haben, ist tatsächlich hausgemacht. Deren Geschichte aber ist über 30 Jahre alt. Wir haben uns diese sozialen Sicherungssysteme mit ihrer Konjunkturanfälligkeit geleistet, die jetzt unter der schwachen Konjunktur leiden. Wer hat denn geahnt, dass die Weltkonjunktur so stark einbrechen würde, wie es nach den Attentaten im September letzten Jahres geschehen ist? ({2}) - Erzählen Sie doch nichts! Das haben Sie nicht geahnt. Das Problem ist doch, dass Deutschland in den letzten Jahrzehnten zu behäbig geworden ist und als schwerfälliger Tanker nicht mehr in der Lage ist, diese Konjunkturanfälligkeit wirklich auszugleichen. Das ist das Kernproblem, über das wir alle reden. Theoretisch könnten wir es auch mit Ehrlichkeit versuchen, aber dazu haben Sie in der Aktuellen Stunde natürlich keine Lust. Dies interessiert Sie auch überhaupt nicht. ({3}) Alle, die sich gestern zur Steuerschätzung geäußert haben, haben gesagt: Wir müssen die Reform der sozialen Sicherungssysteme angehen. Sie können schauen, wohin Sie wollen, nach links oder nach rechts: Alle stimmen dieser Analyse zu. Nur über das Wie wird gestritten. Erst einmal melden sich die üblichen verdächtigen Grabenkämpfer, und zwar Herr Rogowski für den BDI und Herr Putzhammer für den DGB. Beide erzählen erst einmal, was nicht geht. Dies symbolisiert genau das Problem, welches ich beschreibe. Es gibt in dieser Angelegenheit nur noch Grabenkämpfe. Es wird nicht wirklich darüber nachgedacht, wie man diese Umstrukturierung erreichen kann. Jetzt kommen wir zu den Mehrheiten: Irgendjemand hat versucht, intelligent zu sein, und den Zwischenruf gemacht, wir hätten ein Einnahmeproblem, weil Steuerausfälle aufgetreten seien. Wenn es aber ein Einnahmeproblem ist, frage ich Sie: Wie kommen Sie eigentlich im Wahlkampf auf die Idee, von Steuersenkungen zu sprechen? Können Sie mir das einmal erklären? ({4}) Jede Oma kann sich während des Strickens zusammenpuzzeln, dass man, wenn Deutschland ein Einnahmeproblem hat, wie Sie feststellen, nicht noch die Steuern senken kann. Das wissen Sie so gut wie ich. Wer hat denn im letzten Jahr hier gestanden und Anträge zur Erhöhung des laufenden Haushalts gestellt, weil er meinte, wir müssten noch irgendwo etwas draufpacken? Die CDU/CSU-Fraktion kam mit einem Wust von Haushaltserhöhungsanträgen an, die niemals finanzierbar gewesen wären. Wie lautet denn die Bilanz der letzten drei oder vier Jahre? - Die Neuverschuldung wurde massiv reduziert; das wissen Sie so gut wie wir. Sie machen hier nur ein bisschen Stimmung. ({5}) Sie haben Angst. Sie haben ein Problem: Sie haben in der letzten Legislaturperiode und im Wahlkampf gemerkt, dass die Menschen eigentlich ein großes Vertrauen in die Finanzpolitik von Finanzminister Eichel und der rot-grünen Koalition haben. ({6}) Sie versuchen jetzt, dies zu erschüttern, weil auch in schwieriger Zeit der Kurs gehalten wird. ({7}) Wir hätten es uns leicht machen können; das haben wir aber nicht getan. Sie weiden sich mit Häme an der Situation, weil Sie froh sind, endlich die Gelegenheit zu haben, uns anzugreifen. Die ganzen vier Jahre hat es Sie ge584 wurmt, dass wir eine bessere Finanzpolitik gemacht haben als Sie. ({8}) - Natürlich ist das der Fall. Die Zahlen sind eindeutig. ({9}) Jetzt nutzen Sie die schwierige Situation - das ist Ihre Rolle als Opposition -, um mit Häme darüber hinwegzugehen. ({10}) - Herr Kampeter, ich kenne diese laute Stimme und dieses Gebrüll. Der Versuch, das Vertrauen zu erschüttern, das wir erworben haben, ist jetzt, da wir uns in einer solch schwierigen Lage befinden, möglicherweise erfolgreich. Aber auch Frankreich bekommt im nächsten Jahr einen blauen Brief aus Brüssel. ({11}) Frankreich wird übrigens konservativ regiert, wenn ich daran erinnern darf. Auch Frankreich hat die Konjunkturprognosen für das nächste Jahr nach unten korrigiert. Wenn Sie sich das alles auf der Zunge zergehen lassen, werden Sie erkennen, dass Sie sich an die eigentliche Kerndiskussion nicht herantrauen. Sie plustern sich auf, erzählen etwas von einem Haushaltssicherungsgesetz und denken, damit könnten Sie die Menschen beeindrucken. Damit ist aber gemeint, dass Sie in die sozialen Sicherungssysteme eingreifen wollen, statt sie zu reformieren. Sie wollen einfach nur Einschneidungen vornehmen. Diese Fraktion macht es sich besonders schwer, ihre soziale Verantwortung wahrzunehmen, und versucht wirklich, dies auszubalancieren. Das heißt: Wir brauchen Zeit. Es muss eine Differenzierung vorgenommen werden. Alle großen und wichtigen Bevölkerungsgruppen sollen berücksichtigt werden. ({12}) Der Zeitfaktor spielt eine Rolle. Wir haben mit den Reformen noch nicht begonnen. Es gibt aber eine Kommission und im nächsten Jahr wird es auch Reformen geben. ({13}) Wir müssen durchhalten. Das ist zu schaffen, auch mit diesem Haushalt. Sie kennen die Zahlen so gut wie ich. Also denke ich: Wir machen so weiter, ({14}) denn das ist die richtige Politik: erst konsolidieren und dann modernisieren. Es müssen alle zusammen stehen. ({15}) Lassen Sie sich von den Vertretern der Opposition bloß nichts erzählen. Die haben es wirklich nicht besser gemacht. ({16}) Wir kriegen das hin. ({17})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ilse Aigner, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ilse Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe der Debatte aufmerksam zugehört. Es war von pastoralen Klängen bis hin zu ziemlichen Wutausbrüchen ob der Lage alles da, aber bei der Beschreibung der heutigen Situation ist vieles verschönt, vertuscht und vernebelt worden. Meine sehr geehrten Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, eines habe ich festgestellt: Sie verweisen noch heute - wir schreiben 2002 - auf 16 Jahre, die schon weit zurückliegen, und verschweigen immer die letzten vier Jahre, ({0}) in denen offensichtlich vieles falsch gemacht wurde, ({1}) denn sonst wäre die heutige Situation nicht eingetreten. ({2}) Es zieht sich auch wie ein roter Faden durch Ihre Politik, dass immer alle anderen schuld sind - nur nicht diejenigen, die momentan an der Regierung sind. Dieses Muster kennen wir ja schon von früher; ({3}) ich kann mich noch gut daran erinnern. Noch vor 1998 gab es einen Ministerpräsidenten; der hieß Schröder. Er hat immer darauf verwiesen, es seien die makroökonomischen Bedingungen, die ihn so daran hinderten, ein guter Ministerpräsident zu sein, und er werde alles ändern, wenn er Bundeskanzler ist. Vier Jahre hatte er jetzt und alles schaut ziemlich neblig und schlecht aus. Die Konjunktur- und die Wirtschaftsprognosen gehen stark nach unten. Ich brauche nicht alles zu wiederholen, was schon gesagt worden ist. Ich will Ihnen nur ein Schmankerl aus der Steuerschätzung vortragen, weil die Frau Kollegin Hermenau darauf verwiesen hat, wir hätten ein Einnahmeproblem. Ich kann mich noch gut an die Diskussionen zur Steuerreform 2000 erinnern, als wir gesagt haben, dass die Steuerreform strukturell falsch angelegt ist, insbesondere was die Körperschaftsteuer und die Benachteiligung der mittelständischen Betriebe betrifft. Die Zahlen der Steuerschätzung muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Wir hatten Körperschaftsteuereinnahmen von mehr als 23 Milliarden Euro. ({4}) Heute ist dieser Betrag auf 850 Millionen Euro gesunken. ({5}) Vielleicht sollte man einmal eine andere Einnahmepositionen dagegen stellen, damit die Größenordnungen klar werden: Die Einnahmen aus der sehr wichtigen Biersteuer, die in Bayern, wo ich herkomme, sehr beliebt ist, ({6}) sind mittlerweile fast so hoch wie die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer, nämlich 815 Millionen Euro. Ich könnte noch eines draufsetzen, wenn ich den Anteil des Bundes an der Körperschaftsteuer in Höhe von 425 Millionen Euro den Einnahmen des Bundes aus der Schaumweinsteuer in Höhe von 450 Millionen Euro gegenüberstelle. Die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer liegen heute unterhalb der Einnahmen aus der Bier- und der Schaumweinsteuer. Mir ist noch etwas aufgefallen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen: Sie verweisen immer darauf, Sie hätten Ihre Planungen auf die Meinungen der Sachverständigen gestützt. Eines aber tun Sie nie: Sie hören nicht auf das, was die Sachverständigen in ihren Gutachten schreiben. ({7}) Ich will Ihnen einige der 20 Punkte aus dem Sachverständigengutachten der fünf Wirtschaftsweisen einfach vorlesen. Laut „SZ“ werden diese Posten mittlerweile parteipolitisch besetzt. Das kann ich nicht nachvollziehen, aber die „SZ“ schreibt ja immer richtige Dinge. ({8}) Ich kann nicht alle Punkte vorlesen, dazu wird die Zeit nicht reichen. Diese Sachverständigen schreiben Folgendes: Bei der derzeitigen Lage ist es wichtig, die Steuersätze weiter zu senken. - Sie tun das Gegenteil. Dann heißt es: Die Staatsaufgaben sind zugunsten privater Aktivitäten zurückzuführen. - Sie tun auch hier das Gegenteil. Ich will nur ein Beispiel nennen: Sie strangulieren die Zeitarbeitsfirmen und führen auf der anderen Seite mit den PSA, den Personal-Service-Agenturen, eine staatliche Organisation ein. Damit verhindern Sie wirtschaftliches Wachstum auch auf diesem Sektor. Sie tun das genaue Gegenteil von dem, was das Gutachten empfiehlt. ({9}) Ferner steht dort: Die Verschuldung muss gesenkt werden. - Sie erhöhen sie in diesem Jahr auf 35 Milliarden Euro. Die Sachverständigen fordern weiter: Die Lohnnebenkosten müssen gesenkt werden. - Jetzt schaue ich in die Reihen von Bündnis 90/Die Grünen. Ihre jungen Mitglieder haben sich ja nicht durchsetzen können. Sie haben Recht: Es fehlt an einer Strukturreform im Rentenbereich. Für diesen Bereich jetzt die Lohnnebenkosten anzuheben ist mit Sicherheit falsch. Es liegt an der Struktur. Wir hatten das Problem schon 1998 angepackt. ({10}) Von Ihnen ist es wieder zurückgenommen worden. ({11}) Weitere Punkte sind - ich kann sie nur noch vorlesen -: mehr Beschäftigung im Niedriglohnbereich durch Reform der Sozialhilfe, mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt - Sie tun das genaue Gegenteil -, dezentrale Lohnfindung ermöglichen, Kündigungsschutz lockern und vieles mehr. Alle Punkte, die hier aufgeführt sind, sind das genaue Gegenteil der Politik, die Sie in den letzten vier Jahren gemacht haben. Das Schlimme ist: Sie werden offensichtlich in den nächsten vier Jahren Ihre Politik fortsetzen. ({12}) Sie werden den Karren noch weiter in den Dreck fahren. Ich hoffe, wir werden das ändern können. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Ortwin Runde, SPD-Fraktion. ({0})

Ortwin Runde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Thiele, wenn man das Wort „Glaubwürdigkeit“ zu oft in den Mund nimmt, dann besteht natürlich die Gefahr, dass dieser Maßstab an einen selbst angelegt wird. Wenn man das bei Ihnen und Ihrer Partei macht, dann muss man sagen: Glaubwürdigkeit entsteht aus glaubwürdigem Handeln. Ökonomisches Handeln beginnt zu Hause. ({0}) Schauen Sie sich einmal an, wie sich das bei Ihren Parteikassen verhält. ({1}) Ökonomisches Handeln setzt sich natürlich auch auf der gesamtstaatlichen Ebene fort. Sie müssen sich einmal die Höhe der Verschuldung und insbesondere die der Schuldzinsen anschauen, die Sie uns 1998 hinterlassen haben. Jede vierte D-Mark wurde damals für Schuldzinsen aufgewandt. Vier Jahre später ist es nur noch jede fünfte D-Mark. Schauen Sie sich auch einmal die Höhe der Sozialabgaben an, die Sie uns hinterlassen haben. Ihren höchsten Stand haben die Sozialabgaben wegen der falschen Finanzierung der deutschen Einheit 1998 erreicht. ({2}) Vorhin habe ich den großen Seher Austermann reden gehört, den eines mit den großen Sehern der Antike verbindet: In den eigenen Reihen hat er nie Anerkennung gefunden und ihm wurde nie geglaubt. Denn wenn er vor anderthalb Jahren tatsächlich gewusst hat, wie die Situation heute sein wird, dann verstehe ich das Wahlprogramm und all die Wahlversprechen der CDU/CSU nicht. ({3}) Wenn er sagt, es sei ja schon zu Jahresbeginn erkennbar gewesen, dass die Stabilitätskriterien verfehlt würden, dann frage ich mich: Wieso hat er dann Herrn Stoiber den Rat gegeben, den Differenzbetrag, ({4}) der zur Einhaltung der 3-Prozent-Marke fehlt, für Wahlversprechen einzusetzen? Das kann ich nicht nachvollziehen. ({5}) Auch ich habe mir über viele Jahre angesehen, wie es sich mit den Steuerschätzungen verhält. Herr Thiele hat völlig Recht, wenn er sagt, es gebe eine Konstante, nämlich dass die Steuerschätzungen nie gestimmt hätten. Das gilt für die letzten anderthalb Jahrzehnte. Diese Feststellung ist völlig richtig. Man kann auch feststellen, in welche Richtung die Steuerprognosen abgewichen sind: Im Aufschwung wurden die Steuereinnahmen unterschätzt, während sie im Abschwung überschätzt wurden. Hier kann man eine richtige Gesetzmäßigkeit erkennen. Während der Amtszeit von Herrn Waigel fiel das Gesamtresultat so schlecht aus, dass es noch nachträglich berechtigt wäre, seinen Rücktritt zu fordern. ({6}) Eichel hatte mehr Glück, weil er von den Prognosen öfter positiv als negativ überrascht wurde. Aber das hängt schlicht und einfach mit dem Konjunkturverlauf zusammen. Bei der Frage der Steuerlast muss man unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten eines berücksichtigen: Die Steuerlastquote, die 2002 bei 20,77 Prozent liegt - nach der Steuerschätzung wird sie 2003 voraussichtlich bei 20,99 Prozent liegen -, ist die niedrigste in der deutschen Nachkriegsgeschichte. ({7}) Das ist nach den USA und Japan international die niedrigste Steuerlastquote. Das muss man feststellen, wenn man sich die Gegebenheiten genau anschaut. Was wir brauchen, sind verlässliche Grundlagen für die Besteuerung. ({8}) Diesbezüglich haben wir eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet; ich nenne nur die Bekämpfung des Missbrauchs bei der Umsatzsteuer oder die Begrenzung der Verrechnung von Verlusten mit aktuellen Gewinnen bei der Körperschaftsteuer. Nach den Aussagen von Frau Aigner bin ich sehr gespannt, wie Sie sich verhalten werden. Ich gehe davon aus, dass wir darin übereinstimmen, dass das Aufkommen aus der Körperschaftsteuer wieder berechenbar gemacht werden muss und dass Sie konstruktiv daran mitwirken. ({9}) Wir haben mit dem Abbau von Steuervorteilen auch die Stabilisierung der steuerlichen Grundlagen eingeleitet. ({10}) Die Opposition ist jetzt gefordert, zu den Vorschlägen, die wir gemacht haben, konstruktiv Stellung zu beziehen oder eigene konkrete Vorschläge einzubringen. In den Ländern und Gemeinden wird man Ihre Position, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht lange hinnehmen. ({11}) Man wird dort Ihre Position nicht verstehen; denn es geht nicht allein um die Bundesfinanzen, sondern in gleichem Umfang um die Finanzen der Länder und der Kommunen. Diese Aufgabe müssen wir gemeinsam angehen und gemeinsam lösen. ({12}) Das Problem, vor dem wir stehen, ist, dass wir auf der einen Seite bei der Festigung der Steuergrundlagen, bei der Haushaltskonsolidierung Kurs halten müssen, ({13}) dass wir auf der anderen Seite aber nicht die weltwirtschaftlichen Gegebenheiten übersehen dürfen. Das alles müssen wir berücksichtigen, wenn wir das Wachstum fördern wollen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Ortwin Runde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hier gilt es, einen geeigneten Mix von Maßnahmen durchzuführen. Vorschläge hierzu haben wir mit dem Entwurf des Haushaltsplans unterbreitet. ({0}) Hierüber sollten wir uns ernsthaft auseinander setzen; denn die Situation ist in der Tat dramatisch. Schönen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Runde, ich gratuliere Ihnen im Namen aller Kolleginnen und Kollegen zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause und wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Otto Bernhardt, CDU/CSU-Fraktion.

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zurück zu den grausamen Tatsachen. ({0}) Deutschland ist Schlusslicht bei der wirtschaftlichen Entwicklung in Europa. ({1}) Das haben gestern die fünf Weisen noch einmal mit aller Deutlichkeit festgestellt. Was wahrscheinlich genauso schlimm ist: Gemeinsam mit Japan sind wir, so steht es in dem Gutachten, bei der wirtschaftlichen Entwicklung aller Industriestaaten der Welt auf den letzten Plätzen. Das ist die aktuelle Situation. ({2}) Ich stelle fest: Früher haben Sie die Schuld für diese Entwicklung immer bei der alten Bundesregierung gesucht - das war die berühmte Altlast -, heute hat das nur noch Herr Runde versucht. Er ist neu in diesem Hause. Die anderen Kollegen wissen, dass man hier mit dieser Platte keine Chance mehr hat. ({3}) Sie regieren seit vier Jahren. Wir diskutieren jetzt über die Ergebnisse Ihrer vierjährigen Verantwortung. ({4}) Der zweite beliebte Punkt, auf den Sie immer wieder hinweisen - Kollege Runde und andere haben das auch eben wieder angesprochen -, ist die Weltwirtschaft. Natürlich hat die Weltwirtschaft Einfluss auf die Entwicklung in Deutschland; das bestreitet niemand. Aber die entscheidende Frage ist doch: Warum werden andere europäische Länder mit den gleichen Rahmenbedingungen deutlich besser fertig als wir? ({5}) Warum haben Italien, Frankreich und Großbritannien im letzten Jahr ein dreimal so hohes Wirtschaftswachstum gehabt wie wir? ({6}) Das basiert auf verlässlichen Zahlen aus dem Jahr 2001. Warum haben Belgien, Dänemark und Großbritannien Vollbeschäftigung? Warum hatten im letzten Jahr mehr als die Hälfte aller EU-Länder einen ausgeglichenen Haushalt? Die Antwort ist klar; sie steht in der „Financial Times Deutschland“ und im Gutachten. Ich zitiere die „Financial Times Deutschland“, die heute schreibt: „Eichel fehlt der Blick für die gesamte Ökonomie.“ ({7}) Ich könnte es abändern: Der neuen Bundesregierung fehlt dieser Blick. ({8}) Meine Damen und Herren, auf Steuerausfälle reagiert niemand auf der Welt so wie Sie, nämlich mit Steuererhöhungen. Kein Nationalökonom empfiehlt dieses Konzept. Das ist genau der verkehrte Weg. ({9}) Sie sprechen hier von sozial. Dazu kann ich nur sagen: Diese Politik ist nicht sozial, sie hat uns eine steigende Arbeitslosigkeit gebracht. Sozial ist eine Politik, durch die die Arbeitslosigkeit abgebaut wird. ({10}) Deshalb kann der richtige Weg nur sein, dass Sie das, was wir in unserem Regierungsprogramm geschrieben haben, aber leider nicht verwirklichen können, umsetzen: Sie müssen den Arbeitsmarkt liberalisieren. Sie müssen Ausgaben streichen und dürfen keine Steuern erhöhen. ({11}) Sie stellen sich hier hin und sagen, dass die Länder 55 Prozent der Verschuldung mittragen. Das Problem ist aber, dass die Wirtschafts- und Finanzpolitik im Wesentlichen in diesem Hause bestimmt wird. Richtig ist, dass die CDU-regierten Länder mit der schlechten Politik der Bundesregierung deutlich besser fertig geworden sind. Das unterstreichen alle Zahlen. ({12}) Meine Damen und Herren von der Koalition, deshalb kann ich abschließend nur den Rat geben: Machen Sie eine Kehrtwendung, reagieren Sie auf Steuerausfälle richtig und reagieren Sie nicht, wie Sie es zurzeit tun, nämlich wie ein ängstlicher Buchhalter, sondern reagieren Sie wie ein weitsichtiger Finanzpolitiker. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Walter Schöler, SPD-Fraktion.

Walter Schöler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002056, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es könnte Ih588 nen so passen, die 16 Jahre Ihrer Regierung einfach in Vergessenheit zu bringen. ({0}) Das hätte Ihnen auch am 22. September gepasst. Es ist Ihnen aber nicht gelungen; das ist gut so. Das Konzept, das Sie vorher verkündet haben, war nämlich ein reines Konzept für Schuldenmacherei in den nächsten Jahren und nichts anderes. Dieses Konzept kannten die Bürgerinnen und Bürger und sie haben es Ihnen nicht mehr abgenommen. ({1}) Die Grundlagen für den Riesenberg an Arbeitslosen, der leider auch heute noch da ist, haben Sie in den 16 Jahren geschaffen. ({2}) Auch den Schuldenberg haben Sie geschaffen. Ihnen, Herr Kollege Bernhardt, der Sie eben einen internationalen Vergleich - allerdings nicht mit den neuesten Zahlen gebracht haben, kann ich nur sagen: Die Weichenstellung, die Sie 1990 vorgenommen haben, war falsch. Die Folgen werden uns noch mindestens die nächsten 15 Jahre begleiten. ({3}) Wir werden diese schultern müssen. Wir müssen aber darauf hinweisen, dass wir im Vergleich zu anderen Staaten zusätzliche Lasten zu tragen haben. Auch darüber reden Sie heute nicht mehr. ({4}) Vor vier Jahren haben wir eine klare Kehrtwendung zu Ihrer Politik in den 16 Jahren vollzogen und Hans Eichel hat eine Haushaltskonsolidierung begonnen, die zu seinem Markenzeichen geworden ist. Konsolidieren und Gestalten - das ist die Leitlinie unserer Finanzpolitik. Das galt für die letzte Legislaturperiode und das gilt genauso für die vier Jahre, die vor uns liegen. Unser Ziel bleibt im Übrigen unverrückbar: 2006 wollen wir einen ausgeglichenen Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung - auch ohne einen Euro Nettokreditneuaufnahme - vorlegen. ({5}) Wir geben zu, dass es sicherlich schwieriger geworden ist, das zu erreichen; das zeigt auch die Steuerschätzung. Wir halten dennoch an unserem Ziel fest und wir haben mit unserem Konsolidierungspaket sofort gegengesteuert. Im Übrigen war es nicht möglich, schneller Konsequenzen zu ziehen, als wir es getan haben, um die Mindereinnahmen weitestgehend aufzufangen. Wir senken die Ausgaben und haben auch Mut zu unpopulären Maßnahmen und Einschnitten. Das haben auch die Demonstration am Brandenburger Tor in den vergangenen Tagen bestätigt. Wir verbessern auch die Einnahmeseite durch die Verbreiterung der steuerlichen Bemessungsgrundlagen und durch den Abbau unnötiger Steuervorteile. ({6}) - Das ist im Übrigen auch ein Angebot an die Länder und Gemeinden, deren Einnahmebasis damit verbessert werden kann, Herr Thiele. ({7}) Die unionsgeführten Bundesländer müssen sich deshalb sehr wohl überlegen, ob sie es gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern verantworten können, unser Konsolidierungskonzept aus kurzsichtigen parteitaktischen Überlegungen abzulehnen. Die aktuellen Steuerschätzungen liegen erheblich unter dem Ergebnis der Mai-Schätzung. Aber zur richtigen Bewertung muss daran erinnert werden, dass der Arbeitskreis „Steuerschätzungen“ kein Gremium der Bundesregierung ist. Ihm gehören nämlich auch Vertreter der Länderfinanzministerien - darunter auch die der unionsregierten Länder - und der Wirtschaftsforschungsinstitute an. In diesem Arbeitskreis werden mit Sicherheit keine Gefälligkeitsschätzungen für die Regierung produziert, wie bei der Mai-Schätzung von manchen unterschwellig gemutmaßt worden ist. ({8}) Der Arbeitskreis kann sicherlich für sich in Anspruch nehmen, die Steuerschätzungen im Mai nach bestem Wissen und Gewissen vorgenommen zu haben. Seine damaligen Annahmen sind allerdings nicht eingetroffen; vielmehr hat er sich geirrt und sich nun korrigiert. Ich will keine Vergleiche heranziehen, aber das erinnert mich an manche Aussagen der Demoskopen vor Wahlen. Sie von der Opposition haben deren Aussagen wochen- und monatelang sehr interessiert verfolgt und sahen sich schon auf der Regierungsbank. ({9}) Dieselben Demoskopen haben Ihnen sicherlich nach dem 22. September erklärt, warum es anders gekommen ist. Ich vermute, Sie haben ihnen sogar noch ein Honorar dafür gezahlt. ({10}) Wenn die Opposition und auch Teile der Medien nun behaupten, die rot-grüne Koalition habe die Bürgerinnen und Bürger vor der Wahl getäuscht - Sie haben noch ganz andere und meines Erachtens teilweise üble Formulierungen gebraucht; Sie sollten einmal Ihre eigenen Reden im Protokoll nachlesen -, dann ist das falsch. Dabei handelt es sich um billigen Populismus. Wir haben nie behauptet, dass die November-Schätzung keine Mindereinnahmen ergeben werde. ({11}) Wir haben vielmehr gesagt, dass die Schätzung abzuwarten bleibt und dass wir unabhängig vom Ergebnis auf jeden Fall an unserem Konsolidierungskurs festhalten werden. ({12}) Genau das machen wir mit dem Paket, das in diesen Tagen präsentiert und verabschiedet wird. ({13}) Schließlich waren es nicht wir, die vor der Wahl völlig unfinanzierbare Versprechen gemacht haben, sondern Sie von der Opposition haben das Blaue vom Himmel herunter versprochen. Allein die von Ihnen vorgesehenen Steuervergünstigungen hätten doch 70 bis 80 Milliarden Euro pro Jahr mehr gekostet. Nun aber rufen Sie: „Haltet den Dieb!“ und wollen davon ablenken, dass uns Ihre finanzpolitische Unseriosität an den Abgrund geführt hätte

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Schöler, denken Sie bitte an Ihre Redezeit!

Walter Schöler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002056, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- gerne, Frau Präsidentin -, an dem Sie sich heute in mehreren Reden hin und her bewegt haben. Bewegen Sie sich weiter an diesem Abgrund und machen Sie zwischendurch gelegentlich Urlaub! Wir werden handeln und regieren und wir werden das mit dem Haushalt 2003 auch beweisen. Danke schön ! ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Norbert Schindler, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Schindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Schöler, glauben Sie das, was Sie heute gesagt haben, eigentlich selber? ({0}) Schön, dass Herr Diller noch im Saal ist. Wird er deshalb geschickt, weil Herr Eichel seit einigen Tagen der Lügen und des Betrugs überführt ist? ({1}) Herr Diller, sind Sie damit beauftragt worden, mitzuteilen, dass Sie an Steuererhöhungen festhalten? Wenn sie an das Vertrauen appelliert, muss ich die Kollegin Hermenau fragen: Was haben Sie der deutschen Bevölkerung vor der Wahl alles versprochen? ({2}) Herr Metzger hat - Herr Thiele hat zu Recht darauf hingewiesen - vorgestern in der Sendung „Frontal 21“ festgestellt: In einem Abwägungsprozess, wollen wir weiter regieren, hat sich die SPD und die Bundesregierung und auch der Bundesfinanzminister fürs Weiterregieren entschieden und gegen die Ehrlichkeit. Herr Metzger hat Ihnen selbst gesagt: Sie haben Deutschlands Bevölkerung bewusst angelogen. ({3}) - Herr Poß, wenn es glatt gelogen ist, dann fordern Sie ihn gerichtlich auf, diese Bemerkung zurückzunehmen. Das können Sie innerhalb Ihrer Koalition klären. Bringen Sie das auf die Reihe! Es steht Aussage gegen Aussage. Wenn ich Sie wäre, würde ich mir das nicht bieten lassen. Auch die Kollegin Scheel ist nicht mehr da. In einer Finanzdebatte hat sie genauso wie der Finanzminister anwesend zu sein. ({4}) Das gehört zum guten Ton. Wahrscheinlich verkündet sie gerade draußen - das macht sie öfter -: Wir brauchen doch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Gleiches gilt bei der Erbschaftsteuer und der Vermögensteuer. Vorhin wurde gesagt, es gebe keine Steuererhöhungen. Ich bin gespannt, was Sie in Ihrem Giftschrank für Deutschland noch alles auf Lager haben, Stichwort Ökosteuer. Sie machen Ankündigungen in der Hoffnung, Deutschlands Wirtschaft anzukurbeln. Man glaubt Ihnen schlicht und ergreifend nicht mehr. Haben Sie denn das nicht begriffen? Wenn das so weitergeht, liegen Ihre Umfragewerte bald bei null. ({5}) Ich komme zur Hartz-Kommission. Wir werden noch darüber reden, wie man versucht, damit eine positive Stimmung zu erzielen. Folgendes Motto ist bei Ihnen anscheinend Methode geworden: links gewählt, grün ge590 lebt, schwarz gearbeitet und sich dann blau-gelb geärgert. ({6}) In dieser Verantwortungslosigkeit setzen Sie den Standort Deutschland in Europa aufs Spiel und untergraben die Stabilität des Euro. Wir sind die führende Wirtschaftsnation in Europa. Ich erinnere an die Stabilitätskriterien, die wir damals mit Theo Waigel unter dem Wortschwall Ihrer Ministerpräsidenten, die heute zum Teil hier sitzen oder sitzen müssten, gefordert haben. Diese haben wir eingehalten. Die damalige CDU/CSU- und FDP-Regierung hat die deutsche Einheit geschultert und gemeistert. Wir haben sie gewollt; wir haben sie auch mit Schulden finanziert. Auf diese Schulden bin ich stolz. Herr Runde, Ihnen kann ich nur sagen: Gehen Sie nicht in Hamburg in der Hafenstraße spazieren. Schauen Sie sich die Zahlen der deutschen Entwicklung der letzten zehn bis zwölf Jahre an. ({7}) Wir haben in den 16 Jahren unserer Regierung verantwortungsvolle Finanzpolitik gemacht. Hamburg lässt grüßen. Warum sind Sie dann abgewählt worden? Diese Frage müssen Sie erst einmal beantworten. ({8}) Weil ich nur fünf Minuten Redezeit habe, stelle ich abschließend fest: Sie verhalten sich wie Lemminge, die auf den Abgrund zusteuern. Sie sind sich dessen bewusst, aber tun es trotzdem. Anders ausgedrückt: Vor der Wahl waren wir in Deutschland vor dem Abgrund. Heute sind wir einen großen Schritt weiter. Deutschland kennt nun den Unterschied zwischen Rot-Grün und einem Telefonhäuschen: Wenn man in ein Telefonhäuschen hineingeht, muss man erst zahlen und darf dann wählen. Das haben die Leute begriffen. Bei Ihnen wird erst gewählt und dann abgezockt. Sie verfahren in einer Art und Weise, dass wir weiterhin das Schlusslicht bleiben werden. Herr Staatssekretär Diller, wir sind nicht mehr Klassenletzter; wir sind sitzen geblieben. Diese Aussage hätten Sie heute machen sollen. Vielen Dank. ({9}) - Wer ist denn an der Regierung? Sie oder wir? Sie fragen vier Wochen nach Regierungsantritt nach Konzepten. Ihre kennen wir. Sie bedeuten Deutschlands Untergang. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, fraktionslos.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für die Zuschauerinnen und Zuschauer darf ich sagen: Ich bin Mitglied der PDS. Ich bin zwar noch neu im Deutschen Bundestag, aber ich bin schon etwas verwundert, dass es der Finanzminister einen Tag nach der Steuerschätzung nicht für nötig befindet, während einer Debatte über die Haushaltssituation eine Stunde im Deutschen Bundestag zu verbringen. Das befremdet mich doch sehr. Herr Eichel hat für das laufende Jahr eine Neuverschuldung des Bundes in Höhe von 35 Milliarden Euro angekündigt. Das bedeutet: 35 Milliarden Euro Nettokreditaufnahme. Geplant war ursprünglich eine Nettokreditaufnahme des Bundes in Höhe von 21,1 Milliarden Euro. Da haben Sie sich also locker um 13,9 Milliarden Euro verschätzt, einfach so! Sie erklären das Finanzloch - so haben auch die Redner der Koalitionsfraktionen argumentiert - mit dem viel zu geringen Wachstum, mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit und damit, dass man die konjunkturelle Entwicklung so nicht habe voraussehen können. Ich denke aber, dass man die gigantischen Haushaltslöcher nicht ausschließlich mit der Konjunktur erklären und entschuldigen kann. Das stimmt nicht. Das ist selbst verschuldetes Elend. Die Steuerschätzung ist ein niederschmetterndes Zeugnis für den Finanzminister - er ist nicht anwesend - und die gesamte Bundesregierung. Sie ist ein Zeugnis für die verfehlte Steuerpolitik der Bundesregierung in der letzten Wahlperiode. Die großen Aktiengesellschaften wurden von Rot-Grün massiv steuerlich entlastet und bekamen - oh Wunder; es wurde beklagt bzw. erstaunt zur Kenntnis genommen - von den Finanzämtern sogar Geld zurück. Das hätte man vorher berechnen können! Ihre Jahrhundertsteuerreform, meine Damen und Herren von Rot-Grün, sollte die Konjunktur ankurbeln. Doch offensichtlich tun die großen Unternehmen nicht das, was Sie von ihnen erwartet haben. Sie kurbeln nicht an. Sie investieren einfach nicht in neue Jobs. Die, die bisher in neue Jobs investiert haben, die kleinen und die mittleren Unternehmen, können weiter auf Steuererleichterungen warten. ({0}) Um es einmal bildlich auszudrücken: Ihre Steuerreform schlachtet die Kuh und versucht, den Bullen zu melken. Jetzt wundern Sie sich, dass der Bulle keine Milch gibt. ({1}) Die Zeche für die verfehlte Steuerpolitik zahlen jetzt die Länder und Kommunen, letztlich der normale Steuerzahler. Heute habe ich in der Zeitung gelesen, dass Herr Eichel die Länder auffordert, endlich zu sparen. Angesichts der Situation finde ich das etwas daneben. Viele der steuerlichen Veränderungen zulasten der Länder und Kommunen wurden im Deutschen Bundestag beschlossen, ohne dass eine Kompensation vorgenommen wurde. Die Bundesregierung kommt nicht länger umhin, eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts offiziell festzustellen. Nach Einschätzung des Arbeitskreises Steuerschätzung werden die Steuereinnahmen der Gebietskörperschaften in diesem Jahr um insgesamt 15,4 Milliarden Euro geringer ausfallen, als noch im Mai angenommen wurde. Davon entfallen 5,7 Milliarden Euro auf den Bund. Da das Grundgesetz bestimmt, dass in normalen Zeiten die Neuverschuldung des Bundes die Summe der Investitionen nicht überschreiten darf, zwingt der notwendige Nachtragshaushalt die Bundesregierung dazu, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts festzustellen. Über das Ausmaß des geplanten Nachtragshaushalts wissen wir noch nichts, aber schon jetzt ist klar: Es wird die hart treffen, die schon jetzt wenig haben, und es wird die schonen, die schmerzlos auf etwas verzichten könnten. Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre Redezeit ist auch zu Ende.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Abschließend möchte ich an ein Wahlversprechen der SPD von 1998 erinnern, nämlich an die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Es ist höchste Zeit, dieses Versprechen einzulösen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Rainer Wend, SPD-Fraktion.

Dr. Rainer Wend (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn wir uns in einer Debatte über den Verteidigungshaushalt befinden, fordert die Union zweistellige Milliardenbeträge für eine bessere Verteidigung. ({0}) Befinden wir uns in einer Debatte über die Infrastruktur in Deutschland, fordert die Union zweistellige Milliardenbeträge für neue Straßen in unserem Land. ({1}) Reden wir über Familienpolitik, fordert die Union zweistellige Milliardenbeträge für Familiengeld. ({2}) Befinden wir uns in einer Rentendebatte, beklagt die Union, dass die Renten nicht noch stärker erhöht werden, als sie schon erhöht werden. Befinden wir uns aber in einer Steuerdebatte, fordert sie auf der einen Seite Milliarden um Milliarden zusätzlicher Ausgaben, ({3}) fordert aber auf der anderen Seite, die Steuern über das hinaus, was wir schon getan haben, noch stärker zu senken. Wie ist das miteinander in Einklang zu bringen? Ein anderes Beispiel. Während des Wahlkampfs gab es die schreckliche Flutkatastrophe. Die Union forderte in der Debatte: Macht mehr Schulden, um die Folgen der Katastrophe zu beseitigen! - Eine halbe Stunde später, vor den Fernsehkameras, sagten dieselben Leute: Der Haushalt muss stärker konsolidiert werden; es muss stärker gespart werden. Reden wir über Ökosteuer, sagt die Union: Die Ökosteuer bedeutet die Strangulierung der deutschen Wirtschaft. - Aber selbst hat sie die Mineralölsteuer in den Jahren ihrer Regierungszeit um ein Vielfaches dessen erhöht, was wir mit der Ökosteuer eingeführt haben. ({4}) Diese Politik als widersprüchlich zu bezeichnen ist weiß Gott geschmeichelt. Was Sie in der Wirtschafts- und Finanzpolitik auszeichnet, ist Konfusion. Das muss einmal festgehalten werden. ({5}) Diese Konfusion wird nur durch das übertroffen, was Herr Schindler eben gesagt hat. ({6}) Ich staune, dass nicht mehr es so registriert haben, wie es bei mir angekommen ist. Herr Schindler, Sie haben gesagt: Die Politik dieser Koalition bedeutet - das haben Sie wörtlich behauptet - „Deutschlands Untergang“. ({7}) Ich will Ihnen dazu Folgendes sagen: Wenn Sie, die Vertreter einer demokratischen Partei, die Konzepte einer konkurrierenden demokratischen Partei hart kritisieren und beschimpfen, dann ist das in Ordnung. Aber den Untergang Deutschlands an die Wand zu malen, das ist schäbig. Was Sie sich hier in diesem Parlament leisten, das ist schamlos. ({8}) Dazu möchte ich noch folgende deutliche Bemerkung machen: Als es im letzten Jahrhundert einmal, nämlich unter den deutschen Faschisten, den Untergang Deutschlands gegeben hat, waren Sozialdemokraten dafür nicht verantwortlich. Sozialdemokraten haben in ihrer Geschichte niemals beim Untergang Deutschlands mitgemacht. ({9}) Dieser Finanzminister muss sich heute aus Ihren Reihen einiges an Kritik anhören. In einer solchen Situation ist es angemessen, über solche Dinge zu streiten. Aber auch dazu muss ich Ihnen eines in aller Klarheit entgegnen: Wenn Ihr früherer Finanzminister nur halb so viel Konsolidierungspolitik betrieben hätte wie Hans Eichel, dann würde es uns heute um ein Vielfaches besser gehen. ({10}) In einem Punkt muss ich allerdings allen Vorrednern von der Opposition zustimmen: Die schlechte Konjunktur ist nur eine der Ursachen der hohen Arbeitslosigkeit. Hinzu kommen strukturelle Probleme, die seit vielen Jahren - auch in unserer Regierungszeit - bestehen. Das muss man so deutlich sehen. Wir nehmen mit der Steuerreform und mit der Arbeitsmarktreform deutliche Veränderungen vor. Ich möchte einen weiteren Punkt erwähnen. Der Sachverständigenrat hat Recht: Wir müssen die Staatsausgaben zugunsten privater Aktivitäten stärker als bisher zurückführen und gleichzeitig staatliche Ausgaben in Richtung öffentlicher Investitionstätigkeit umschichten. Die Frage ist nur - ich habe auch Sie in diesem Sinne verstanden -: Wie gelingt es uns, das in diesen schwierigen Zeiten zu finanzieren und gleichzeitig Konsolidierungspolitik zu machen? In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein Stichwort hinweisen, das in der bisherigen Diskussion noch keine Rolle gespielt hat: Public Private Partnership. In der gegenwärtigen Situation ist sie angemessen; andere Länder, Großbritannien, Holland, Portugal, Spanien, haben sie praktiziert. Wir müssen staatliche Aufgaben einerseits und private Aufgaben andererseits neu justieren. Wir müssen einen neuen Weg der Kooperation finden, und zwar nicht nur bei der Finanzierung von Projekten, sondern auch bei der anschließenden Durchführung. Ich glaube, dass dabei viele Effizienzgewinne zu erzielen sind. Ich will Ihnen damit Folgendes sagen: Allein mit der Beschreibung des Untergangs Deutschlands - ich komme darauf zurück - und allein damit, sich hierhin zu stellen und unsere Politik herunterzureden, ohne Alternativen aufzuzeigen, werden Sie vier Jahre in der Opposition nicht überstehen. ({11}) Bitte bringen Sie sich in den Wettbewerb um bessere Konzepte für unser Land ein! Damit täten Sie unserem Land tatsächlich einen Gefallen. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform - Drucksache 15/21 ({0}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1}) - Drucksache 15/71 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Schultz ({2}) Heinz Seiffert Carl-Ludwig Thiele b) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/72 Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Antje Hermenau Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der FDP vor. Über den Gesetzentwurf werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben einen sehr strammen Beratungsfahrplan ({0}) in Bezug auf die Gesetze, die zum 1. Januar 2003 in Kraft treten sollen. Ich freue mich, dass wir zumindest dieses Gesetz zur Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform, für das heute die abschließende Lesung stattfindet, trotz dieses strammen Tempos ordentlich beraten konnten: ({1}) So wurde eine Anhörung durchgeführt, deren Ergebnisse auch noch Eingang in Form von Veränderungen des Gesetzestextes gefunden haben. Damit konnte bewiesen werden, dass ein schnelles Tempo nicht grundsätzlich zu einer schlechten Politik führen muss, sondern dass man auch mit strammen und konzentrierten Beratungen schnell zu Ergebnissen kommen kann. ({2}) Ich freue mich auch darüber, dass ein großer Teil der Sachverständigen diesen Gesetzentwurf bei der Anhörung ausdrücklich begrüßt hat. Es sind viele Gesichtspunkte aufgenommen worden, die gerade auch von Ihnen in der Reinhard Schultz ({3}) Vergangenheit an der ökologischen Steuerreform kritisiert wurden, nämlich angeblich mangelnde Lenkungswirkung und mangelnde Treffsicherheit im ökologischen Bereich. Durch dieses Gesetz erhöhen wir die ökologische Treffsicherheit deutlich und sorgen dafür, dass Schritt für Schritt auf effiziente Energietechniken, auch im Bereich des produzierenden Gewerbes, umgestellt wird. Wir erhöhen nicht etwa, wie manchmal dargestellt wird, den Steuersatz für produzierendes Gewerbe, sondern wir senken den 80-prozentigen Rabatt, den das produzierende Gewerbe gegenüber allen anderen Steuerzahlern, insbesondere gegenüber den privaten Haushalten, hatte, nach etwa vier Jahren auf 40 Prozent ab. ({4}) Der Rabatt hatte den Sinn, die Unternehmen anzuregen, rechtzeitig auf Energie sparende und effiziente Systeme umzustellen. Viele Unternehmen haben die Möglichkeiten genutzt. Das sagen uns Untersuchungen des UBA und aller wichtigen Institute, die sich damit befassen. Energiesparinvestitionen waren in den letzten drei bis vier Jahren der Renner. Insofern hat sich das Manöver politisch insgesamt gelohnt - für die Umwelt allemal. Jetzt ziehen wir die Schraube ein wenig weiter an, um noch mehr Unternehmen zu bewegen, in Energiespartechnik zu investieren. Das trägt aber auch dazu bei, den Vorwurf auszuräumen, wir würden mit der Ökosteuer im Grunde genommen nur die Verbraucher belasten, die Wirtschaft aber entlasten. Indem wir die Schraube bei der produzierenden Wirtschaft etwas anziehen, stellen wir auch etwas soziale Symmetrie und Gerechtigkeit im Bereich der Ökosteuer zwischen Verbrauchern und Wirtschaft her. Auch das wurde ausdrücklich in der Anhörung gelobt. Wir haben uns gerade und besonders auch mit den energieintensiven Unternehmen befasst, die im internationalen Wettbewerb stehen, nicht ausweichen können und sowieso schon alles tun, um Energie einzusparen. Wir wissen auch ganz genau, dass in Unternehmen, die Energie - Strom oder andere Energien - einsetzen, um Stoffumwandlungsprozesse durchzuführen, nicht viel an Primärenergie eingespart werden kann. Deswegen haben wir einen Spitzenausgleich geschaffen, der da, wo es möglich ist, noch einmal anregt, über Effizienzsteigerungen bei Neu- oder Ersatzinvestitionen nachzudenken, diese Unternehmen aber im Großen und Ganzen ähnlich wie der heute noch geltende Spitzenausgleich schont. Ich weise aber auch darauf hin - auch das war eine wichtige Erkenntnis der Anhörung -, dass nicht die Ökosteuer alleine das Problem ist, sondern vielmehr die Kumulation, die Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Überwälzungsprozessen, nämlich Ökosteuer, Kraft-WärmeKopplungsgesetz und EEG. Ein Aluminiumwerk zum Beispiel, das 2,5 Millionen Megawattstunden Strom im Jahr verbraucht, wird durch die Ökosteuer mit etwa 1,6 Millionen Euro, durch das KWK-Gesetz mit 0,6 Millionen Euro, durch das EEG aber mit sage und schreibe 10 Millionen Euro belastet. Eine Papierfabrik, die 125 000 Megawattstunden Strom im Jahr verbraucht, zahlt 266 000 Euro an Ökosteuer, 31 250 Euro an KWKUmlage, aber 500 000 Euro aufgrund des EEG. Diesem Missverhältnis müssen wir uns aufgrund der Gesamtbelastung solcher Unternehmen dringend zuwenden. Wir Sozialdemokraten werden das in der nächsten Zeit tun. Ich hoffe, dass wir dafür auch Verbündete hier im Parlament finden. ({5}) Bei der Anhörung ist auch darauf hingewiesen worden, dass möglicherweise durch den CO2-Zertifikatehandel, den die EU-Kommission anregt und wozu ein Richtlinienentwurf vorliegt, der verhandelt wird, eine zusätzliche Belastungskulisse entsteht. Wir sagen deutlich: Die energieintensiven Unternehmen, die jetzt schon am Rande ihrer Wirtschaftlichkeit arbeiten, dürfen nicht neben dem, was wir jetzt schon haben - Ökosteuer, KWK-Gesetz und EEG -, durch den CO2-Zertifikatehandel gleichsam doppelt belastet werden. Dann müssen wir uns entscheiden, welchen Weg wir letztendlich gehen: einen Weg zugunsten des Fiskus, zugunsten der Rentenversicherung oder zugunsten eines Handels mit CO2-Zertifikaten. Diese Frage wird sich in nächster Zeit stellen. Wir freuen uns sehr darüber, dass wir durch die Verlängerung der Steuerfreiheit für erdgasbetriebene Kraftfahrzeuge um weitere zehn Jahre, also bis zum Jahr 2020, eine technologische Weichenstellung vorgenommen haben. So können Industrien natürlich planen. Ich verstehe diese Maßnahme nicht in erster Linie als eine Maßnahme, die dazu führen soll, dass auf Dauer Erdgas getankt wird, sondern hier geht es um eine Technologie, die als Platzhalter für mögliche andere Gase dient, die in Fahrzeugen benutzt werden können, bis hin zu der Markteinführung neuester Technologien auf Wasserstoffbasis. Mit jährlich 150 Millionen Euro für die Umsetzung der Energieeinsparverordnung im Altbaubestand werden wir etwa 2 Milliarden Euro an Investitionen mobilisieren. Das ist eine stolze Zahl. Gerade vor dem Hintergrund der heftigen Diskussion über das Thema Wohnungsbau und die Frage der Reaktivierung von Innenstädten ist das eine ökologisch und städtebaulich gezielte Maßnahme, die in Verbindung mit Maßnahmen zur Eigentumsbildung im Bestand viele Freunde finden wird. ({6}) Von der wirtschaftlichen Bedeutung her ist die Anhebung der Gassteuer auf 5,5 Cent pro Kilowattstunde der dickste Brocken. Auch darüber ist in der Anhörung diskutiert worden. Dort gab es nicht nur freundlichen Beifall der Mineralölindustrie - den konnte man erwarten -, sondern auch viele andere haben deutlich gemacht, dass sie den dermaßen großen steuerlich initiierten Abstand zwischen leichtem Heizöl und Gas nicht mehr für vertretbar gehalten haben. Das Abstandsgebot ist auch heute gerade für den Wärmemarkt gegeben. Wir haben durch die Steuererhöhung nicht den Vormarsch des Gases auf dem Wärmemarkt gestoppt. Der Abstand ist nach wie vor vorhanden, aber er ist jetzt maßstabsgerecht und wir haben gleiche Sachverhalte ähnlich besteuert. Auch das ist wich594 tig im Sinne der Steuergerechtigkeit und der Vermeidung von zu großen politisch initiierten Wettbewerbsverzerrungen. Ich gehe davon aus, dass die Anhebung des Satzes nicht zu einer entsprechenden Anhebung des Erdgaspreises führen wird. ({7}) Die Gasindustrie hat selbst zum Ausdruck gebracht, dass es zahllose Stellschrauben gibt, vom Verhältnis zum leichten Heizöl, wo sie den Abstand halten will, bis hin zur steuerlichen Kulisse. Sie ist in der Lage, sowohl ihre Vorproduzenten als auch die Verteilerunternehmen in diese zusätzliche Belastung einzubeziehen. Beim Verbraucher wird nur ein kleiner Teil ankommen. ({8}) - Darauf können Sie sich wirklich verlassen; denn die Erdgasindustrie muss mit den Preisen unter denen für leichtes Heizöl bleiben, weil sie sonst keine Wachstumsmöglichkeiten hat. Insofern wird das ökonomische Gesetz greifen, gerade in einem Bereich, in dem die Preise eher gewürfelt werden, als dass sie am Markt zustande kommen. Das gilt für den noch immer nicht liberalisierten Gasmarkt leider in besonderem Maße.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Schultz, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin fertig. - Ich glaube, wir haben eine gute Abrundung der ökologischen Steuerreform geleistet. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Meister, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Rot-Grün - das haben wir gestern gelernt - bedeutet höhere Steuern - das diskutieren wir hier -, höhere Schulden und höhere Arbeitslosigkeit. ({0}) Die Bilanz, die Sie hier präsentieren, ist für das Land katastrophal. Volkswirtschaftlich gibt es - Entsprechendes wurde gestern von den Weisen vorgelegt - klare Antworten zur Überwindung dieser Situation: Begrenzung der Steuerlast, Deregulierung der Arbeitsmärkte, Strukturreformen in den Sozialsystemen und verantwortliche Geldpolitik. Das, was Sie hier tun, bedeutet in all diesen Punkten das genaue Gegenteil. Wir haben vorhin in der Aktuellen Stunde gehört, dass Ihnen der Mut für solche Strukturreformen fehlt. Sie fordern den Mut von der Opposition ein. Warum machen Sie sich nicht selbst auf und entwickeln eigenen Mut? ({1}) Sie haben kein Konzept, sondern stochern blind im Nebel, ohne geringste Koordination und Orientierung. Sie irren orientierungslos durch das Chaos, das Sie selbst verursacht haben. Jeden Tag liest man im Ticker von neuen Plänen. Sie betreiben Flickschusterei und verunsichern die Investoren. Deutschland wird miserabel regiert. Herr Schultz, Sie haben vorhin die Beratung dieses Gesetzes gelobt. Als Neuling, der zum ersten Mal an einer solchen Beratung des Finanzausschusses teilgenommen hat, muss ich feststellen, dass es nur eine Änderung im Verlauf der Beratung gab, und die stand schon vor der Anhörung fest. Die Anhörung hat also überhaupt keine Änderung erbracht. Die Sachverständigen, die Sie einladen, werden nicht ernst genommen. Die Beratungsunterlagen im federführenden Ausschuss tröpfeln sozusagen während der Sitzung langsam ein. Es gibt also keine Möglichkeit, sie sich vorher anzusehen. Damit degradieren Sie das Parlament während der gesamten Beratungsphase zur Staffage. Das ist kein ordentlicher Umgang mit dem Parlament und den Menschen in diesem Land. ({2}) Der Bundeskanzler hat am 26. Juli gesagt: Steuererhöhungen sind in der jetzigen konjunkturellen Situation ökonomisch unsinnig und deshalb ziehen wir sie nicht in Betracht. Wie hat dies unser früherer Kollege Metzger am Dienstagabend kommentiert? Im Wahlkampf sagt die Politik nicht die Wahrheit, - damit hat er vermutlich den Bundeskanzler gemeint weil ansonsten der Nimbus der Finanzpolitik dieser Koalition im Bereich Sparen natürlich schon vor der Wahl kaputt gewesen wäre. So der ehemalige haushaltspolitische Sprecher der Grünen im Originalton. Man fragt sich natürlich, wie es um die Ehrlichkeit von Bündnis 90/Die Grünen bestellt ist. Machen Sie endlich Schluss mit dieser unehrlichen Politik in Deutschland und sagen Sie den Menschen endlich die Wahrheit, und zwar im Vorhinein und nicht erst dann, wenn die Folgen zu ertragen sind! ({3}) Nach der Wahl erleben wir eine Orgie von massiven Steuererhöhungen. Es geht nicht nur um die Erhöhung der Ökosteuer, die wir hier diskutieren, sondern es geht auch um Ihr Steuervergünstigungsabbaugesetz, mit dem Sie weitere Steuererhöhungen planen. Das ist schlecht für das Wachstum, für die Dynamik und für die Flexibilität. Mit diesem Gesetz gehen Sie in eine vollkommen falsche Richtung. Reinhard Schultz ({4}) Sie müssen dafür sorgen, dass es mehr Wachstum gibt. 1 Prozent mehr Wachstum würde über 8 Milliarden Euro mehr Einnahmen für die Haushalte bringen. Das wäre der Weg, wie wir unsere Haushalte sanieren können. Das geht aber nicht durch ständige Steuererhöhungen und durch das Abwürgen von Wachstum. ({5}) Schauen wir uns das Ökosteuergesetz einmal im Einzelnen an. Herr Kollege Schultz, ich habe das Gefühl, Sie haben an einer ganz anderen Anhörung teilgenommen als ich. ({6}) Die sechste Stufe der Ökosteuer wurde dort von den Experten als konjunkturpolitisch verfehlt bezeichnet. Es wurde darauf hingewiesen, dass sie wettbewerbspolitisch bedenklich ist. Sie ist wie die freiwilligen Klimavereinbarungen EU-rechtlich nicht verzahnt, weil sie nicht mit der künftigen Energiepolitik der EU und auch nicht mit dem Zertifikatehandel verbunden ist. Zu all diesen Punkten ist Ihnen gesagt worden, dass Sie sich auf dem falschen Weg befinden. Die sechste Stufe der Ökosteuerreform ist arbeitsmarktpolitisch kontraproduktiv und auch umweltpolitisch verfehlt. Auch das haben die Experten festgestellt. Jetzt sprechen Sie, Herr Kollege Schultz, davon, das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz, das Erneuerbare-Energien-Gesetz und die Ökosteuer würden in ihrer Gesamtwirkung einen negativen Effekt entwickeln. Da frage ich mich: Wer hat die Ökosteuer, das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz und das Erneuerbare-Energien-Gesetz auf den Weg gebracht? ({7}) Waren Sie es oder waren wir es? ({8}) Sie haben die Verantwortung für den negativen Effekt, den Sie beschreiben. ({9}) In der Anhörung ist deutlich geworden, dass die Ökosteuer in ihrer jetzigen Form keine Lenkungssteuer im Sinne der Ökologie, sondern, so wurde gesagt, eine Steuer allein zum Abkassieren ist. ({10}) Durch die sechste Stufe der Ökosteuerreform werden 1,4 Milliarden Euro zusätzlich abkassiert zulasten von Verbrauchern, die ihren Konsum noch weiter einschränken müssen, als es ohnehin schon der Fall ist, und zulasten von Unternehmen, die weniger Investitionen tätigen, als dies gegenwärtig der Fall ist. Mit voller Wucht wird die Bevölkerung in den neuen Bundesländern getroffen. Die Menschen dort werden eine über 50 Prozent höhere Erdgassteuer zahlen müssen. Nach der Flutwelle im August hat man sie ermuntert, sie mögen doch ihre Heizungen in den zerstörten Wohnungen bitte auf Erdgas umstellen, weil dies klimapolitisch vernünftig sei. Aber drei Monate später schlagen Sie bei diesen Menschen, die Sie noch vor wenigen Wochen ermuntert haben, in die Erdgastechnologie zu gehen, mit der Erdgassteuer zu. Die Menschen haben jetzt das Gefühl, dass sie sich falsch entschieden haben. ({11}) Ich freue mich, dass Herr Bundesminister Trittin zu diesem Thema sprechen wird. Er hat vor wenigen Tagen, am 29. Oktober, sehr zutreffend festgestellt: Die einseitige Erhöhung der Erdgassteuer, insbesondere im Verhältnis zum Steuersatz des leichten Heizöls, widerspricht der ökologischen Vernunft. Herr Schultz, das ist das, was zum Thema „Erhöhung der Erdgassteuer“ zu sagen ist: Sie widerspricht der ökologischen Vernunft. ({12}) Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen: Die beim Heizen benutzte Kohle bleibt steuerfrei. Was hat das mit ökologischer Vernunft zu tun? Sie bekommen momentan attestiert, dass das Klimaschutzziel verfehlt wird. Die Absenkung der CO2-Emissionen um 25 Prozent bis zum Jahre 2005 erreichen Sie nie. Und Sie sprechen davon, dass Sie etwas für die Ökologie tun! Meine Damen und Herren, die ermäßigten Ökosteuersätze auf den Verbrauch von Strom, Heizöl und Erdgas für das produzierende Gewerbe, die Landwirtschaft und die Forstwirtschaft steigen um 200 Prozent. Die Industrie wird dabei an keiner anderen Stelle entlastet. In der Anhörung hat die chemische Industrie darauf hingewiesen, dass sie mit zwei Drittel ihrer Produktion im internationalen Wettbewerb steht und es keine Möglichkeit gibt, höheren Produktionskosten in irgendeiner Form auszuweichen; es sei denn, man würde die Produktion verlagern oder verringern oder ganz einstellen. Aber die Chance, höheren Produktionskosten in Deutschland auszuweichen, gibt es nicht. Sie argumentieren, Sie täten etwas für die Gesundung der Sozialsysteme. Schauen Sie sich bitte schön einmal an, was bei den Rentenbeiträgen tatsächlich geschieht! Sie werden sie am 1. Januar 2003 auf 19,5 Prozent erhöhen. ({13}) Sie haben jetzt im Rahmen der fünften Ökosteuerstufe, die ab 1. Januar 2003 gilt, und der sechsten, über die wir heute abstimmen, pro Jahr ein Gesamtaufkommen von 20 Milliarden Euro. Das macht, in Beitragssatzpunkten umgerechnet, noch einmal 2,3 Prozent. Das heißt, Sie sind dann in Bezug auf die Sozialsysteme bei einer Belastung von 21,8 Prozent. Sie aber sagen den Menschen, Sie hätten eine Entlastung herbeigeführt. Das ist keine Entlastung und auch keine Lösung, sondern eine Täuschung und Ablenkung vom eigentlichen Problem. Wir brauchen innerhalb der Sozialversicherungssysteme eine Reform und kein Abkassieren bei der Ökosteuer sowie keine Umfinanzierung an dieser Stelle. ({14}) Die 65 Milliarden Euro, die Sie den Menschen bis jetzt im Zusammenhang mit der Ökosteuer aus der Tasche gezogen haben, sind eine massive Belastung und ein Teil der Ursache dafür, warum Sie gestern eine dreifache Ohrfeige bekommen haben. Sie hatten Gelegenheit gehabt, darüber zu schlafen. Noch haben Sie Zeit umzukehren. Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf zurück und tun Sie etwas für die Menschen in Deutschland, indem Sie diesen Gesetzentwurf nicht in Kraft setzen! Schönen Dank. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist immer schlecht, wenn Finanzpolitiker meinen, sich zu ökologischen Fragen äußern zu müssen. Denn wenn Sie, Herr Meister, an den Debatten der Umweltpolitiker teilgenommen hätten, hätten Sie wissen können, dass heute niemand mehr ernsthaft daran zweifelt, dass die ökologische Steuerreform eine Wirkung hatte. ({0}) Sie hatte nämlich die Wirkung, dass nunmehr im dritten Jahr die verkehrsbedingten Emissionen erstmalig weniger werden und der Anstieg der Treibhausgasemissionen der privaten Haushalte, die, solange Sie die Verantwortung hatten, ungehindert mehr wurden, erstmalig rückgängig gemacht worden ist, sodass wir heute deutlich unter dem Niveau von 1990 liegen. ({1}) Vor einigen Wochen haben wir hier eine Debatte über die Frage geführt: Was ist eigentlich die Ursache für die Überschwemmungen und die Hochwasserkatastrophe? Da gab es den Konsens, dass es einen Zusammenhang mit der globalen Erwärmung und einen Zusammenhang zwischen der globalen Erwärmung und dem Handeln der Menschen gibt. Es wurde gesagt, es sei notwendig, dies zu begrenzen, und dabei sollten gerade steuerliche Anreize eine Rolle spielen. Auf den Vorhalt von uns, Sie seien gegen die Ökosteuer, die Frau Merkel selber mitentwickelt hat, haben Sie gesagt, Sie seien nicht gegen die Ökosteuer, sondern gegen diese Ökosteuer. ({2}) Nun schauen wir uns einmal an, was Sie an dieser Ökosteuer kritisiert haben. Sie haben kritisiert, das produzierende Gewerbe als eine Einheit, die zu viel emittiere, werde zu stark ausgenommen. Sie haben heute einen Gesetzentwurf vorliegen, der diese Begünstigung, die Subventionierung des produzierenden Gewerbes, gemäß Ihrer Kritik im Rahmen der Debatte über das Hochwasser zurückführt, und zwar um 400 Millionen Euro. Was tun Sie? Sie sagen in dem Moment, in dem man Ihrer Kritik Rechnung trägt: So war das nicht gemeint, das ist aber eine bösartige Steuererhöhung; wir haben es mit der sechsten Stufe der Ökosteuer zu tun. ({3}) Sie haben ausgeführt, dass Sie für eine ökologische Steuerreform sind, sie solle nur richtig sein. Sie haben kritisiert, die Ökosteuer orientiere sich nicht am Schadstoffgehalt. Was machen wir? Wir passen die Besteuerung von Erdgas und Heizöl an, sodass wir Erdgas heute zur Hälfte nach dem CO2-Ausstoß und zur Hälfte nach dem Energiegehalt bewerten. Wieder tragen wir Ihrer Kritik Rechnung und entwickeln die Ökosteuer weiter. Was macht die Opposition? Sie ist schon wieder dagegen, sie ist um des Prinzips willen dagegen. ({4}) Ich könnte das weiter fortführen. Am schönsten ist es, dass Sie kritisiert haben, wir würden das Aufkommen nicht für ökologische Zwecke verwenden. Das stimmte schon damals nicht, weil wir es im Marktanreizprogramm und mittels Steuerermäßigungen für den öffentlichen Verkehr und für effiziente Kraftwerke eingesetzt haben. Jetzt setzen wir es verstärkt für ein Gebäudesanierungsprogramm ein und nutzen einen Teil des Aufkommens dafür, die unökologischste Form des Heizens, nämlich mit Nachtspeicheröfen, endlich aus dem Verkehr zu ziehen. Wir haben all das gemacht und dabei die konstruktive Kritik der Opposition gern aufgegriffen. Eigentlich müssten wir heute einen breiten Konsens darüber haben, dass diese Regierung auf Ihre Einwände, lieber Herr Paziorek, eingegangen ist, stattdessen schickten Sie Herrn Meister vor, ({5}) der aber auf jeden Fall dagegen sein musste. Wenn man reformiert und Subventionen abbaut, erfährt man gesellschaftlichen Gegenwind. Das erlebt diese Koalition gerade. Das ist so, da muss man ein Stück weit durch. Ich habe mir gerade die Ergebnisse einer Umfrage angesehen. ({6}) Die Frage lautete: Glauben Sie eigentlich, dass die Konzepte der Opposition an dieser Stelle besser sind? Dazu gibt es eine ganz interessante Zahl: Selbst 47 Prozent der Unionsanhänger glauben nicht, dass die Konzepte, die Sie als Alternative anzubieten haben, besser sind als das, was viele Bürger momentan kritisieren. Ich kann Ihnen dazu einen Rat geben - das will ich als erprobter Oppositionspolitiker gerne tun; wir machen gern Politikberatung für die Opposition -: ({7}) Auch in der Opposition, meine Damen und Herren von Union und FDP, ist das Motto: „Was schert mich mein Geschwätz von gestern“, kein Erfolgsrezept; das sollten Sie sich merken. Wir haben hier einen ordentlichen Gesetzentwurf vorgelegt und ich weiß genau: Eigentlich möchte der Herr Paziorek am liebsten zustimmen. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege CarlLudwig Thiele für die FDP-Fraktion.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem Gesetz zur Fortführung einer ökologischen Steuerreform soll einzig und allein unter dem Deckmantel der Ökologie beim Bürger schamlos abkassiert werden, um öffentliche Haushalte zu füllen. Das ist die ganz simple Logik, die dahinter steht. ({0}) Dieses Gesetz ist Teil einer gigantischen Mehrbelastung mit Steuern und Sozialabgaben durch die Regierung Schröder-Schröpf. Die FDP lehnt diesen Gesetzentwurf ab; denn die Ökosteuer hat keine doppelte Dividende, sie ist eine doppelte Legende. Der erste Grundfehler - das haben wir immer kritisiert, Herr Trittin - ist die steuerliche Belastung von Energie im nationalen Alleingang. Umwelt macht nun einmal nicht an den Grenzen Halt und im Wettbewerb um Arbeitsplätze konkurrieren wir mit anderen Ländern. Die steuerliche Belastung im nationalen Alleingang schränkt die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands für die Waren des produzierenden Gewerbes international erheblich ein. Der zweite Grundfehler, den es von Anfang an gab, besteht darin, dass der notwendige Strukturreformbedarf bei der Rentenversicherung durch die Ökosteuer verschleiert worden ist. Es ist ein Fehler gewesen, zu glauben, dass mit Mehreinnahmen durch die Besteuerung von Umwelt die Rentenversicherungsbeiträge im Verhältnis eins zu eins gesenkt werden könnten, wie dies in der Koalitionsvereinbarung 1998 festgehalten worden ist. ({1}) Es wurde erklärt, dass die Lohnnebenkosten aufgrund der Ökosteuer zum Ende der letzten Periode auf unter 40 Prozent sinken würden. Das war die Maßgabe, mit der Sie in die Ökosteuer gestartet sind. Im nächsten Jahr steigen die Lohnnebenkosten trotz der fünften Stufe der Ökosteuer und der sechsten Stufe mit der Fortführung dieses Gesetzes. Die Ökosteuereinnahmen steigen auf insgesamt 63 Milliarden Euro. Die Lohnnebenkosten steigen um 0,9 Prozent auf 42,2 Prozent. Das sind gerade einmal 0,1 Prozent weniger, als Rot-Grün 1998 von der von ihr so sehr gescholtenen früheren Koalition übernommen hat. Durch die Ökosteuer und die Rücknahme der Rentenstrukturreform der alten Koalition hat Rot-Grün vier Jahre Zeit verloren, um die absehbare demographische Entwicklung durch Strukturreformen der Rentenversicherung zu ändern. Deshalb hilft auch der Zwergenaufstand, den die Grünen hier gerade veranstaltet haben, überhaupt nicht. ({2}) Die Grünen waren es doch, die den Reformbedarf der Rentenversicherung in den letzten vier Jahren mit der Ökosteuer verschleiert haben. ({3}) Der dritte Grundfehler besteht darin, dass sich eine ökologische Lenkungswirkung bisher nicht feststellen lässt. Dieses Gesetz dient einzig und allein dem Abkassieren. Anders lässt es sich doch nicht erklären, warum die Bürger aus ökologischen Gründen zunächst zum Heizen mit Gas aufgefordert werden, und dann, kaum dass sie ihren Gasanschluss gelegt oder die Heizungsanlage modernisiert haben, zusätzlich zur Kasse gebeten werden. Es ist für keinen vernünftigen Menschen nachvollziehbar, dass das Verbrennen von Gas durch dieses Gesetz drastisch verteuert wird und das Verbrennen von Kohle zu Heizzwecken nach wie vor überhaupt nicht besteuert wird. Wo ist denn da die Ökologie? Das ist weder öko noch logisch! Das ist unsystematisch! Dass die Grünen hier als Hauptverfechter der deutschen Steinkohle auftreten, ist bezeichnend. ({4}) Der vierte Grundfehler besteht darin, dass die Staatsquote nach Auffassung der FDP zu hoch ist. Ein Ansteigen der Staatsquote auf der Ausgabenseite kann nicht durch Erhöhung der Steuern und Sozialabgaben kompensiert werden; vielmehr müssen die staatlichen Aufgaben und Ausgaben zurückgeführt werden. Der Glaube von Rot-Grün an eine doppelte Dividende durch die Ökosteuer, nämlich einer ökologischen Wirkung auf der einen Seite und einer Senkung der Sozialversicherungsbeiträge auf der anderen Seite, ist gescheitert. Insofern gibt es keine doppelte Dividende, sondern eine doppelte Legende. Zudem haben die Beratungen im Finanzausschuss - es wäre auch für Umweltpolitiker manchmal ganz interessant gewesen, den Beratungen zu folgen - gezeigt, dass dieses Gesetz einer Überprüfung in der Wirklichkeit nicht standhält. Das Finanzministerium hat in den Beratungen einräumen müssen, dass die Erstattungsbeträge für Betriebe des produzierenden Gewerbes steigen, wenn, wie es im nächsten Jahr der Fall ist, die Rentenversicherungsbeiträge steigen. Das würde zu dem absurden Ergebnis führen, dass die Betriebe des produzierenden Gewerbes bei steigenden Rentenversicherungsbeiträgen eine höhere Erstattung erhalten würden. Wenn der Rentenversicherungsbeitrag deutlich über 20,3 Prozent steigen würde, wie das nach diesem Gesetz vorgesehen ist, würden die Betriebe mehr Erstattung der Ökosteuer erhalten, als sie nach diesem Gesetz überhaupt bezahlen müssten. Dazu sage ich: Total öko! Total logisch! Total grün! Das zeigt, wie widersinnig die angebliche Logik der gesamten ökologischen Steuerreform ist. Zusammenfassend bleibt aus Sicht der FDP festzustellen, dass bei den Verbrauchern massiv abkassiert wird und gerade energieintensive Branchen, wie die Aluminium-, die Buntmetall- und die Stahlindustrie, aber auch die Landwirtschaft, steuerlich drastisch belastet werden. Der Grundfehler besteht darin, dass unter dem Deckmantel und unter dem Vorwand der Ökologie schamlos abkassiert wird. Diesem Weg wird die FDP nicht folgen. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Müller für die SPD-Fraktion.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da beißt die Maus keinen Faden ab: Die Ökosteuer ist eine Frage, bei der sich zeigt, ob man fähig ist, Zukunftsverantwortung zu übernehmen oder nicht. ({0}) Sie können noch so viel darum herumreden: Das ist die entscheidende Frage, bei der sich zeigt, ob Sie fähig sind, aus Erkenntnissen zu lernen, oder ob Sie nur reagieren, wenn die Katastrophe da ist. Genau das ist der Punkt. ({1}) Ich weiß wirklich nicht, was ich bei Ihnen mehr bewundern soll: die Schlichtheit der Argumentation oder das Kurzzeitgedächtnis - beides ist erschreckend. ({2}) Ende August gab es von allen Parteien Aussagen in der Öffentlichkeit, wie sehr sie die ökologische Modernisierung nach vorne stellen wollen. Das ist drei Monate her und Sie haben schon wieder alles vergessen. Das darf doch nicht wahr sein, meine Damen und Herren! Politik heißt Übernahme von Verantwortung, heißt Zukunftsvorsorge. Sie sagen heute das eine und am nächsten Tag das Gegenteil. Das geht nicht, das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({3}) Das Hochwasser im August war keine singuläre Erscheinung. Sie wissen das, Herr Paziorek. Wir haben nach den Untersuchungen beispielsweise der Klima-EnqueteKommission heute 5 Prozent mehr Wasserdampf in der Atmosphäre. 5 Prozent mehr Wasserdampf in der Atmosphäre heißt: Die Wasserkreisläufe verändern sich. Wenn man diese Erkenntnis hat, dann kann man doch nicht so tun, als ob wir alle so wie bisher weitermachen könnten; dann müssen wir doch Strukturänderungen einleiten. Herr Meister, ich kann es wirklich nicht verstehen: Sie sagen auf der einen Seite, die Regierung habe keinen Mut, notwendige Strukturveränderungen durchzuführen, kritisieren aber gleichzeitig die Ökosteuer. Merken Sie nicht, wie widersprüchlich Sie da argumentieren? ({4}) Entweder haben wir eine Marktwirtschaft, in der Preisimpulse einen zentralen Stellenwert haben - dann ist es richtig, die Preisimpulse zu verändern -, oder wir haben sie nicht. Sie können aber nicht auf der einen Seite sagen, Sie seien für die Ökologie, und auf der anderen Seite jede Strukturveränderung ablehnen. Das passt nicht zusammen. Politik muss sich entscheiden. Auch Sie müssen sich entscheiden. Es geht nicht, dass Sie sich, wenn die öffentliche Debatte geführt wird, sozusagen so verhalten wie Mercedes beim Elchtest der A-Klasse. Sie sind im Sommer mit Ihrer Art von Politik dramatisch durchgefallen; sie hat sich nämlich als nicht praxistauglich erwiesen. ({5}) Ähnlich ist es bei der FDP. Eine Zeitung hat geschrieben: „Die FDP ist zur Empathie nicht fähig.“ Das heißt, die FDP besitzt nicht die Fähigkeit, an das Gemeinwohl zu denken. Mit dieser Analyse hat die Zeitung aus meiner Sicht völlig Recht. Sie schreibt weiter: Der zentrale Punkt der FDP sei die Unterordnung ihrer Argumentation unter die Stimmungstauglichkeit. ({6}) Politik kann aber nicht auf Stimmungstauglichkeit ausgelegt sein. Politik muss die Übernahme von Verantwortung sein. Da ist selbst Herr Rexrodt schon sehr viel weiter gewesen. ({7}) Er hat in einem Papier von 1996 beispielsweise geschrieben, dass es sehr wohl sehr sinnvoll sei, einen nationalen Alleingang bei der Ökosteuer zu machen, um Impulse auszulösen, damit andere mitgehen. Da war er einmal sehr viel weiter. ({8}) - Das hat er zur Ökosteuer gesagt. ({9}) Ich will Ihnen übrigens einmal sagen: Sie kennen noch nicht einmal die Zahlen. Ich weiß gar nicht, wie Sie auf 63 Milliarden Euro kommen. Dieses Jahr nehmen wir durch die Ökosteuer 14 Milliarden Euro ein. ({10}) Wenn ich alle bisherigen Einnahmen zusammenrechne, komme ich auf 40 Milliarden Euro. Ich habe den Eindruck, dass Sie schon beim Zusammenzählen Schwierigkeiten haben. Wie wollen Sie da den Gesamtzusammenhang richtig bewerten? ({11}) Michael Müller ({12}) So einfach, wie Sie es sich machen, geht das jedenfalls nicht. Die ökologische Steuerreform ist sicherlich ein schwieriger Weg. Sie ist sicherlich ein Weg, der von vielen Leuten viel verlangt und auch riskant ist. Wir sagen aber auch: Wenn wir nicht anfangen, die ökologische Modernisierung mit Preissignalen durchzuführen, dann ist das Risiko künftig sehr viel größer. ({13}) Wir müssen uns heute entscheiden. Der Punkt in der Politik, bei dem sich beweist, ob sie etwas kann, liegt darin, in einer Situation, in der das Bisherige nicht mehr ausreicht, um Probleme zu lösen, aber das Neue noch nicht völlig implementiert ist, einen Weg zu finden, der den Umbau dennoch möglich macht. Die ökologische Steuerreform ist nicht der einzige Weg. ({14}) Ich glaube, wir sind uns einig, dass sie nur eines der möglichen Instrumente ist. Es ist aber richtig, dass die ökologische Steuerreform ein notwendiges und auf jeden Fall unverzichtbares Element einer ökologischen Modernisierung ist. Das ist in der Tat der Praxistest, bei dem sich zeigt, ob man es ernst meint mit der Bewahrung der Schöpfung oder nicht. Genau das, meine Damen und Herren, tun wir, während Sie wegtauchen. ({15}) - Natürlich ist es so. Die hehren Worte, die bei Ihnen im Parteiprogramm stehen, sind schön und gut, aber die Entscheidung fällt hier im Bundestag. Schauen wir uns das Modell von Herrn Rexrodt aus dem Jahre 1995 an. Schauen wir uns das Modell an, das Herr Repnik im Rahmen des „Konzept 2000“ entwickelt hat. Fast alle Modelle sind identisch mit dem, was gemacht wurde. ({16}) Wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie zugeben, dass unser Konzept unter den gegebenen Bedingungen - offene Märkte und europäische Restriktionen - sinnvoll und realisierbar ist. ({17}) - Natürlich, Herr Thiele, kann man eine Primärenergiesteuer erheben. Dann möchte ich aber nicht erleben, wie beispielsweise die FDP aufschreit, dass aufgrund der offenen Märkte unterschiedliche Bedingungen für die Konkurrenz der Unternehmen entstehen. Sie müssen hier ehrlich argumentieren. Wir leben in einer konkreten Welt und nicht in einer abstrakten Modellrechnung. Das ist doch der Punkt. ({18}) - Entschuldigen Sie bitte. Haben Sie nicht mitbekommen, wie sehr der Anteil der Kohle an den Heizmitteln zurückgegangen ist? Er wird auch weiter zurückgehen. ({19}) Das ist ein richtiger Weg und genau diesen gehen wir. Ich sage Ihnen noch einmal: Wir können den Primärenergieansatz unter offenen Grenzen nicht realisieren. Wir hätten dies gerne gemacht, aber dies hätte in der Tat zu massiven Verschiebungen in den Konkurrenzbedingungen geführt, hätte für viele die Konkurrenzsituation dramatisch verschlechtert. Insofern plädiere ich dafür, dass wir unsere Politik an den realen Bedingungen, unter denen wir leben, orientieren und nicht parteitaktisch Scheindebatten führen, ({20}) was vielleicht etwas für die Stimmung, aber nicht für eine rationale Auseinandersetzung bringt. ({21}) Wir bleiben dabei: Die ökologische Modernisierung ist ein wesentlicher Ansatz, um die volkswirtschaftlich rentablen Effizienzpotenziale zu mobilisieren. Dies ist auch unter dem Arbeitsmarktgesichtspunkt ganz entscheidend. Es geht darum, Produktivität auf eine Art und Weise zu sichern, die nicht immer nur durch die Übernahme von Arbeit durch Technik gekennzeichnet ist. Der Weg in höhere Energie- und Ressourcenproduktivität ist der Weg einer modernen Volkswirtschaft. Diesen Weg gehen wir weiter. Wir sind übrigens gar nicht so allein, wie Sie immer tun. Viele Länder machen das und ich halte das auch für richtig. Wir sagen allerdings auch - das ist notwendig -: Dieser Weg muss noch mehr europäisch abgestimmt und koordiniert werden. Darum bemühen wir uns. ({22}) - Natürlich bemühen wir uns darum. Aber in Europa wird sich nichts bewegen, wenn sich nicht einzelne starke Volkswirtschaften bewegen. Das ist der entscheidende Punkt. ({23}) Sie glauben, der Schutz der Umwelt fällt vom Himmel, aber er fällt nicht vom Himmel. Er ist eine Frage der Politik. Wir sind bereit, hier politische Verantwortung zu übernehmen. In diesem Punkt ist die Alternative ganz klar: Sie befinden sich noch in der Nurankündigungsphase und wollen Ihre Ankündigungen dann, wenn es ernst wird, überhaupt nicht mehr wahrhaben. Wir aber machen es. Wir wissen: Das ist ein schwieriger Weg, er ist nicht einfach durchzuhalten. Wir wissen aber auch, dass wir dann, wenn wir es nicht tun würden, in den nächsten Jah600 ren viel größere Probleme hätten und dies wollen wir nicht. ({24}) Dies ist verantwortliche Zukunftsvorsorge. Deshalb gehen wir diesen Weg. ({25})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat der Kollege Dr. Paziorek, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das, was Rot-Grün hier vorlegt, ist keine ökologische Weiterentwicklung, sondern eine umweltpolitische Bankrotterklärung. Sie benutzen die Umweltpolitik nur, um von Ihrer gescheiterten Fiskalpolitik abzulenken. ({0}) Sie haben leider die Umweltpolitik zu einem bloßen Instrument der Finanzpolitik degradiert. Eine umweltpolitische Sinnhaftigkeit ist bei Ihrem Vorgehen nicht zu erkennen, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens. Die ökologische Lenkungswirkung dieser Ökosteuer ist nicht nur zweifelhaft, sie ist bis jetzt noch gar nicht nachgewiesen. ({1}) Herr Minister Trittin, Sie argumentieren - vorhin, aber auch sonst immer - mit dem tatsächlich vorhandenen Rückgang des Kraftstoffeinsatzes im Automobilbereich. Es gibt aber noch keine Untersuchung, die darlegt, ob dieser Rückgang im Wesentlichen durch die Ölpreisverteuerungen oder durch andere Maßnahmen wie zum Beispiel die bessere Antriebstechnik bewirkt worden ist. ({2}) Man muss dazu sagen: Diese technologische Entwicklung im Automobilbereich ist nicht erst 1999 eingetreten. Diese hat schon Anfang der 90er-Jahre begonnen. Wie können Sie diese Verbesserung in der Antriebstechnik mit Ihrer Ökosteuer begründen? ({3}) Aber auch bei der viel zitierten Anhörung am Dienstag sind weitere Fragen offen geblieben, zum Beispiel zum Stromverbrauch. Das RWI hat bei der Anhörung am Dienstag dargelegt, dass in Deutschland der spezifische Stromverbrauch deutlich zurückgegangen ist, obwohl durch die Liberalisierung die Strompreise zurückgeführt worden sind. Es gibt nämlich in der deutschen Industrie schon seit Jahren Umstellungsverfahren in beträchtlichem Umfang, ({4}) die langfristig spezifische Einsparungen in einer Größenordnung von bis zu 35 Prozent gegenüber 1990 bringen werden. Dies ist also noch mehr als das, was die Selbstverpflichtung der deutschen Wirtschaft beinhaltet. Interessant ist: In der vorliegenden schriftlichen Stellungnahme des RWI für die Anhörung am Dienstag wurde nachgewiesen, dass dies nichts mit einem Preisimpuls über die Ökosteuer zu tun hat, sondern dass der Stromkostenblock ein entscheidender Wettbewerbsfaktor ist, der trotz der Preisrückgänge seinen Beitrag zur weiteren Kostenreduzierung in der deutschen Wirtschaft leisten muss. Die Frage ist doch nur: Warum belohnen Sie diese Aktivitäten nicht? Warum bestrafen Sie diese Aktivitäten? So wie Sie heute hier argumentieren und wie auch Sie, Herr Minister, heute hier argumentiert haben, senden Sie doch eine für die Umweltpolitik fatale Botschaft aus. Diese Botschaft lautet: Sie können noch so viel in der Umweltpolitik, bei der Reduzierung des Energieeinsatzes oder bei der Reduzierung des CO2-Ausstoßes erreichen, wir werden immer auf die Idee kommen, Sie zu Sündenböcken zu degradieren, und weiter an der Steuerschraube drehen. Sie können machen, was Sie wollen, wir werden Sie immer wieder finanziell bestrafen. - Ich sage Ihnen ganz deutlich: Dafür wollen wir die Umweltpolitik in Deutschland nicht benutzen, meine Damen und Herren. ({5}) Wir müssen weiter berücksichtigen: Der verminderte Heizölverbrauch steht in einem größeren Zusammenhang, nämlich mit den milden Wintern in den letzten Jahren und weniger mit der vermeintlichen Segnung durch die Ökosteuer. Wichtig ist, dass der Verbrauch von Benzin zum Beispiel deshalb zurückgegangen ist, weil sich viele Autofahrer heute durch den Tanktourismus einen Preisvorteil holen. ({6}) Die vorliegenden Zahlen sind in der Tat bedauerlich. Sie haben noch gar nicht realisiert, dass man heute mit einem LKW von Warschau bis nach Paris durchfahren kann, ohne in Deutschland zu tanken. ({7}) Dadurch wird der CO2-Ausstoß nicht reduziert, aber wir stellen fest: In Deutschland wird nicht mehr bei der Durchreise getankt. Dadurch dass diese LKWs nicht mehr in Deutschland betankt werden, sinkt in der Statistik für unser Land automatisch der Benzin- und Dieselverbrauch. Weshalb lachen Sie darüber? ({8}) Wir stellen fest: Sie haben gerade einen Mechanismus bewirkt, der letztlich umweltpolitisch nicht sinnvoll ist, Michael Müller ({9}) sondern nur Vermeidungsstrategien im falschen Sinne eröffnet. Das ist äußerst bedenklich. ({10}) Sie betonen immer die Erfolge. Ich würde von Ergebnissen und nicht von Erfolgen beim Klimaschutz sprechen, denn dann müssten wir viel weiter sein. Die Ergebnisse beim Klimaschutz, die Sie in einem Atemzug mit der Ökosteuer nennen, haben - das muss man klar und deutlich sagen - nichts mit einer etwaigen Lenkungswirkung dieser Ökosteuer zu tun. Es ist ganz wichtig, das herauszustellen. Die umweltpolitischen Erfolge dieser Steuer, die Sie immer unterstreichen, können Sie bis zum heutigen Tage wissenschaftlich tatsächlich gar nicht belegen. Das ist die wichtige Botschaft, die heute von dieser Debatte ausgehen muss. ({11}) Wenn Sie den Mut hätten, etwas umweltpolitisch wirklich Sinnvolles zu tun, würden zum Beispiel die Beträge zur Verbesserung im Gebäudebereich - Sie haben gar keine Beträge genannt, Herr Minister Trittin, Sie haben gerade gesagt: wir wollen ein Sanierungsprogramm auflegen -, bedeutend höher sein als die von Ihnen tatsächlich veranschlagten 150 Millionen Euro. Über 1 Milliarde Euro aus der Ökosteuer wollen Sie jetzt in den Haushalt stecken. Warum stecken Sie denn nur 150 Millionen Euro in die Sanierung des Gebäudebestandes, ({12}) wo wir doch wissen, dass 25 bis 30 Prozent des CO2-Ausstoßes in Deutschland tatsächlich durch die Gebäudeerwärmung erfolgen? Warum stecken Sie dann nicht 50 Prozent, also über 500 Millionen Euro, in diesen umweltpolitisch wichtigen Bereich? Weil Sie es gar nicht wollen. ({13}) Das Umweltpolitische ist doch nur vorgeschoben. Sie brauchen diese Einnahmen tatsächlich, um Ihre Haushaltslöcher zu sanieren. Das ist der umweltpolitische Vorwurf, den man Ihnen machen kann. ({14}) Zweitens. Eine Ökosteuer kann nur dann zur Lösung der Umweltprobleme beitragen, wenn sie einerseits Verbrauchern und Unternehmen ökonomische Anreize für eine nachhaltige Konsum- und Produktionsweise gibt und andererseits verbleibende Einnahmen der Umweltpolitik zur Verfügung stellt. Bei der Anreizwirkung versagt Ihre Konstruktion der Ökosteuer. Man muss klar und deutlich als Ergebnis hier festhalten: Die privaten Haushalte sind bei der gegenwärtig vorgesehenen Regelung, die Sie auf den Tisch legen, die Nettozahler der Reform. Sie haben keine Möglichkeiten, sich zu entlasten. Das hängt damit zusammen, dass Sie die Erdgassteuer drastisch erhöhen, aber letztlich auch damit, dass Sie umweltpolitisch richtiges Verhalten gar nicht belohnen wollen. Das ist ja gar nicht Ihr Interesse. Sie wollen ja mehr Geld einnehmen und können deshalb gar nicht auf Anreize setzen. Sie können nicht auf Belohnung setzen, sondern Sie müssen eine Steuer so konzipieren, dass auch diejenigen, die sich umweltpolitisch richtig verhalten, letztlich doch zur Finanzierung Ihrer Steuer beitragen. Das ist umweltpolitisch äußerst bedenklich. ({15}) Drittens. Eine der ökologischen Hauptschwächen der Ökosteuer ist, dass sie nicht gezielt am Schadstoffgehalt der einzelnen Energieträger ansetzt, sondern Energie unspezifisch, rein willkürlich besteuert. ({16}) Der Energiegehalt von Erdgas wird nach Ihrem Gesetzentwurf stärker belastet als der von leichtem Heizöl. Beim Kohlenstoffgehalt - dieser ist sehr wichtig für eine Politik zur Reduzierung der CO2-Emissionen - ist die Belastung von Erdgas nahezu zweimal so hoch. Wie wollen Sie das klimapolitisch begründen? Ich sage Ihnen ganz deutlich: Sie können das klimapolitisch gar nicht begründen, weil die Zahlen offenkundig sind. Damit steht fest: Die Ökosteuer ist auch ein Schlag gegen die bisherigen gemeinsam formulierten Grundsätze der Klimaschutzpolitik. Deshalb ist auch der jetzt vorliegende Gesetzentwurf abzulehnen. ({17}) Viertens. Die von Ihnen konzipierte ökologische Steuerreform hat keine überzeugende Verknüpfung - Herr Schultz, hier muss ich Ihnen eindeutig widersprechen mit den übrigen einschlägigen umweltpolitischen Instrumenten wie der Selbstverpflichtung der deutschen Wirtschaft, dem Emissionshandel, der eingeführt werden soll, und dem weiteren ordnungsrechtlichen Instrumentarium. Es gibt in Deutschland zum Beispiel das ordnungsrechtliche Instrumentarium der Kleinfeuerungsanlagenverordnung. Diese bewirkt, dass zum 1. Januar 2003 Umstellungen bei Heizungsanlagen vorgenommen werden müssen. Ich frage Sie: Warum setzen Sie hier noch eine Ökosteuer drauf, wenn Sie das schon vorher ordnungsrechtlich geregelt haben? An diesem Beispiel wird doch deutlich, dass Sie nur abkassieren wollen und dass Sie in Wirklichkeit keine Änderung des Verhaltens der Menschen bewirken wollen. Deshalb sage ich: Ihre ökologische Steuerreform steht in keinem Zusammenhang mit den übrigen Instrumenten der Umweltpolitik. Sie verspielen mit der weiteren Erhöhung der so genannten Ökosteuer die Glaubwürdigkeit der ökologischen Steuerreform. Deshalb wäre es aus unserer Sicht wichtig und ehrlich, wenn Sie das Kind beim Namen nennen würden. Nennen Sie die Ökosteuer Rentensicherungssteuer oder Haushaltskonsolidierungssteuer, aber nicht Ökosteuer! ({18}) Auch wir wollen eine Ökosteuer. ({19}) Sie muss aber andere Bestandteile beinhalten. Für die Ökosteuer in der jetzigen Form gibt es keine ökologische Begründung. Deshalb werden wir den vorliegenden Gesetzentwurf aus Umweltgründen ablehnen. ({20})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Loske, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, dient dem Abbau umweltschädlicher Subventionen, der Verbesserung der Lenkungswirkung der ökologischen Steuerreform und der Förderung ökologischer Investitionen. ({0}) Erstens: der Subventionsabbau. Wir erhöhen - das ist schon gesagt worden - den Regelsteuersatz für das produzierende Gewerbe von 20 auf 60 Prozent. Wir führen beim Spitzensteuersatz einen Ausgleichsmechanismus ein, der auch energieintensiven Unternehmen Anreize zum sparsamen Umgang mit Energie gibt. Summa summarum bauen wir durch diese Maßnahme Subventionen in Höhe von 400 Millionen Euro ab. Gerade die Liberalen, die sich so gerne als Kämpfer gegen Subventionen darstellen, sind in dieser Frage vollkommen unglaubwürdig. ({1}) Die Europäische Union hat immer darauf hingewiesen, dass Subventionen zeitlich befristet und degressiv gestaltet sein müssen. Das setzen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf um. Insofern ist er ein ganz klarer Beitrag zum Subventionsabbau. ({2}) Zweitens: die Lenkungswirkung. Der Minister hat bereits darauf hingewiesen, dass seit drei Jahren die CO2Emissionen im Bereich des Verkehrs und der privaten Haushalte kontinuierlich zurückgehen. Beim Verkehr sind es etwa 2 bis 3 Prozent jährlich. Das ist ein klarer Trendbruch. Das ist im Wesentlichen auf die Preisanreize zurückzuführen. ({3}) Das, was uns die Wissenschaft mitteilt, ist keineswegs abstrakt. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung stellt fest, dass durch die ökologische Steuerreform die CO2-Emissionen um 20 Millionen bis 25 Millionen Tonnen zurückgehen. All das sind Beiträge zur Erhöhung der Lenkungswirkung der Ökosteuer. Dazu trägt in besonderem Maße auch der Abbau der Sonderregelung für Nachtspeicherheizungen bei. Ich habe schon das letzte Mal gesagt: Mit Strom zu heizen ist so, als ob man Butter mit der Motorsäge durchschneiden würde. Das ist einfach unvernünftig. Dem muss ein Ende gemacht werden. Es ist außerdem wichtig, dass wir mit der Begünstigung von Erdgas bis zum Jahr 2020 Anreize schaffen - das gilt vor allen Dingen für die Busflotten, aber auch für die PKWs -, einen relativ schadstoffarmen Brennstoff im Verkehrsbereich zum Einsatz zu bringen. Das ist übrigens auch eine Einstiegstechnik für biogene Treibstoffe, also für Treibstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen. - Wenn ich das alles zusammenfasse, dann stelle ich fest: Die ökologische Lenkungswirkung wird durch diese Schritte deutlich erhöht. ({4}) Ich komme kurz auf die Kohle zu sprechen, um eine Mär auszuräumen. Ich stehe wirklich nicht in dem Ruf, ein großer Freund der Kohle zu sein. Aber lassen Sie es bitte sein, zu behaupten, die Kohle würde von der ökologischen Steuerreform nicht berührt. Das ist Unfug. Die Braun- und Steinkohle wird fast komplett zur Stromerzeugung eingesetzt und so fast voll und ganz von der Stromsteuer erfasst. Es gibt hier keine Privilegierung. Bitte unterlassen Sie diese Lüge. ({5}) Mein letzter Punkt. Ich möchte kurz die Zahlen für die zusätzlichen Investitionen im ökologischen Bereich nennen - Herr Kollege Paziorek, passen Sie einmal auf - : Das Programm zur Förderung der Altbausanierung umfasst bis jetzt 200 Millionen Euro. Aus den Einnahmen der Ökosteuer nehmen wir hierfür 150 Millionen Euro pro Jahr heraus. Das macht zusammen 350 Millionen Euro pro anno. Sie haben zu Ihrer Zeit - das habe ich in den Haushaltszahlen nachgesehen - 20 Millionen Euro ausgegeben. Wir wenden also das 17,5fache von dem auf, was Sie veranschlagt hatten. Wenn man das Ergebnis etwas aufrundet, könnte man sagen, dass das unser Projekt 18 ist, mit dem Unterschied, dass unser Projekt gelingen wird; Ihres ist ja gescheitert. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Loske, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte.

Dr. Christian Eberl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Dr. Loske, ich habe folgende Frage: Stimmen Sie mit dem Ergebnis der wissenschaftlich und statistisch abgesicherten CO2-Statistik des Statistischen Bundesamtes, die am 5. November dieses Jahres vorgestellt wurde, überein, wonach die CO2-Emissionen in Deutschland von 1990 bis 2000 rückläufig waren, seit 2001 aber wieder ansteigen? Wie erklären Sie das angesichts der angeblich ökologischen Lenkungswirkung dieser Steuer? ({0})

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es gibt in den verschiedenen Sektoren unterschiedliche Entwicklungen. Ich habe gerade vom Bereich der privaten Haushalte und vom Bereich des Verkehrs gesprochen. Im Verkehrsbereich ist es so, dass der Rückgang in den Jahren 2000 und 2001 - die Prognosen des Mineralölwirtschaftsverbandes gehen auch für 2002 davon aus - bei 2 bis 3 Prozent pro anno gelegen hat. Bei den privaten Haushalten bestehen ähnliche Größenordnungen. Im Bereich der Industrie hat es beim CO2-Ausstoß, nachdem er zwischen 1990 und 1993 durch die Entwicklung in den neuen Bundesländern dramatisch gesunken ist, einen leichten Anstieg gegeben. Das hat mit der Inbetriebnahme eines großen Kohlekraftwerks in den neuen Bundesländern zu tun. Insofern stimmt das, was Sie sagen. Mein abschließendes Argument gilt der Verwendung der Mittel aus der Ökosteuer - meine Redezeit geht leider schon dem Ende zu -. Auch hier erzählen Sie Märchen. Durch die Ökosteuer fließen im nächsten Jahr 18,4 Milliarden Euro in den Bundeshaushalt. Davon werden knapp 17 Milliarden Euro für die Rente verwendet; das sind über 90 Prozent. Das heißt, diese ökologische Steuerreform ist im Wesentlichen aufkommensneutral. ({0}) 230 Millionen Euro fließen in das Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien, 150 Millionen Euro in die Altbausanierung. Nur die verbleibenden 7 Prozent werden für die Haushaltskonsolidierung verwendet. Das ist - das gebe ich zu - ein kurzfristiges Abweichen vom Pfad der Tugend der Aufkommensneutralität. Dorthin wollen wir wieder zurück. ({1}) Das ist bestensfalls ein Sonderopfer. Aber 93 Prozent gehen in die Rentenversicherung und in die Ökologie. Das ist gut so. Danke schön. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wirtschaft und Verbraucher kapitulieren vor dem rotgrünen Steuerdruck in Deutschland: immer mehr Steuern, immer mehr Abgaben, immer mehr Staat. Der rot-grüne Erhöhungskurs stürzt unser Land in eine gefährliche Depression. ({0}) Außer im rot-grün regierten Deutschland findet man in Europa keine Regierung, die der eigenen Wirtschaft so viel Schaden zufügt. Obwohl sich Deutschland in einer konjunkturell schwierigen Phase befindet, soll die Wirtschaft bis 2006 mit weiteren 35 Milliarden Euro an Steuern belastet werden. Hinzu kommen 36 Milliarden Euro durch die Erhöhung von Abgaben. Kein Wunder, dass wir aufgrund der hohen Belastung mit Steuern und Abgaben einen ungeheuerlichen Wachstumseinbruch erleben. Kein Wunder, dass wir derzeit eine Beschleunigung der Insolvenzwelle und eine Erhöhung der Zahl der Betriebsschließungen sowie der Betriebsverlagerungen ins Ausland erleben. Kein Wunder, dass häufig die Geschäftstätigkeit in Staaten mit besseren steuerlichen Rahmenbedingungen verlegt wird. Kein Wunder, dass ein weiterer Arbeitsplatzabbau mit horrenden Folgen für die Sozialsysteme stattfindet. Herr Minister Trittin, das ist die einzige Wirkung Ihrer Ökosteuer. Nachhaltig ist bei Ihnen nur die laufende Erhöhung der Steuern. Unser Konzept lautet dagegen: mehr Eigenverantwortung, mehr Leistung, mehr Wachstum und mehr Entbürokratisierung. Ihre rot-grüne Steuerpolitik hat die Grenzen der Zumutbarkeit, der Belastbarkeit und vor allem der ökonomischen Vernunft weit überschritten. ({1}) Trotzdem wird heute eine Fortsetzung der ökologischen Steuerreform mit neuen Belastungen für Wirtschaft und Bürger beschlossen. Das rot-grüne Abkassiermodell läuft geradezu auf vollen Touren. Der Herr Bundesfinanzminister zieht es vor, nicht selbst in die Debatte einzusteigen; er überlässt es den Ökofantasten und den Ökoideologen. ({2}) Wir haben ein Problem mit den Finanzen und der Verschuldung in diesem Land. Dazu müsste er etwas sagen. ({3}) Es wird zu Steuererhöhungen kommen: für Erdgas und Flüssiggas um 58 Prozent und für schweres Heizöl um 40 Prozent. Energieintensive Unternehmen und die Landund Forstwirtschaft werden 200 Prozent mehr Steuern zahlen. In nächster Zeit sollen die Mindeststeuer, die Wertzuwachssteuer, die Firmenwagensteuer, die Organschaftsteuer, die Werbeartikelsteuer, die Warenvorratsteuer, die Gewerbesteuerrevitalisierung, die Erbschaftsteuerverschärfung, die Vermögensteuerwiedereinführung und die Mehrwertsteuererhöhung hinzukommen. Das ist der Weg in den totalen rot-grünen Steuerstaat. ({4}) Das ist nichts anderes als eine rot-grüne Steuerorgie. Die Leute haben diese Erhöhungen der Steuern und Abgaben satt und die Firmen können es sich nicht mehr leis604 ten. Meine Damen und Herren, Deutschland kann sich Rot-Grün nicht mehr leisten. ({5}) Das alles ist dazu angetan, unser Land endgültig in die Staatswirtschaft zu führen. Zur Vernebelung nennt sich das bei Rot-Grün dann Steuervergünstigungsabbaugesetz oder, wie Sie es nennen, ökologische Steuerreform. Mit diesen Bezeichnungen betreiben Sie nichts anderes als einen Etikettenschwindel, um Steuererhöhungen zu verschleiern. In wenigen Wochen steigt die Ökosteuer um eine weitere Stufe, obwohl, so die Hiobsbotschaft, damit das Wachstum vernichtet und die Arbeitslosenzahl erhöht wird; außerdem werden die Steuereinnahmen einbrechen. Hinzu kommt das Defizitverfahren durch die Europäische Union. Die Ökospezialisten und Ökoideologen von RotGrün bleiben beratungsrestistent. Es wird nur noch Flickschusterei betrieben, und zwar nach dem Motto: Augen zu und durch! Diese Bundesregierung hat bisher vor allem Schaden angerichtet und die Menschen sowie unsere Wirtschaft verunsichert; das ist die Situation. Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, nehmen Sie endlich zur Kenntnis: Unsere Volkswirtschaft steckt in einer schweren Krise. ({6}) Ihr Versagen in der Wirtschafts-, Steuer- und Arbeitsmarktpolitik ist die Ursache für dieses Debakel. ({7}) Dass die Bundesregierung in dieser Situation zu weiteren Steuer- und Abgabenerhöhungen greift, zeigt das Ausmaß der Unfähigkeit zur ökonomischen Vernunft. Es gibt in Deutschland einen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit. Ich sage Ihnen, was die Ökosteuer für die Betriebe letzten Endes bedeutet: Die Ökosteuer ist für sie kostensteigernd und wettbewerbsschädigend. Für Verbraucher und Mieter ist sie preissteigernd und unsozial. Sie hat schon jetzt zu unsozialen Preissteigerungen insbesondere für den kleinen Mann und die Menschen im ländlichen Raum geführt. Auf der Abgabenseite hat sie nichts bewirkt! Sie haben eine Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge zu verantworten. Deshalb ist Ihr Traum von der These, dass Sie die Energie verteuern, um den Faktor Arbeit verbilligen zu können, letzten Endes wie eine Seifenblase zerplatzt. ({8}) Ich möchte Ihnen noch einmal in Erinnerung rufen, zu welchen Preissteigerungen das führt: Ein Vierpersonenhaushalt zahlt im Jahr schon jetzt 479 Euro Ökosteuer. ({9}) Ein mittelständischer Industriebetrieb muss im Jahr 2003 durchschnittlich 100 000 Euro Ökosteuer zahlen. Das sind 70 000 Euro mehr als im Vorjahr. Gleichzeitig steigen die Sozialversicherungskosten um 120 000 Euro. Das kann doch nur zu weiteren Investitionsverweigerungen und Arbeitsplatzverlusten führen; das ist Fakt. Sie belasten die Wirtschaft. Sie testen die deutsche Wirtschaft auf ihre Belastungsfähigkeit und wundern sich dann, dass es in diesem Land immer mehr Arbeitslose gibt. ({10}) Rot-Grün hat unser Land zum Sanierungsfall gemacht. Dabei haben Sie sich einer Beitrags-, Schulden- und Steuerlüge bedient. Wir müssen deutlich sehen, dass diese Politik nicht länger fortgesetzt werden kann. Es ist ein Skandal, dass der Bundesfinanzminister nicht den Mut hat, diese Steuererhöhung persönlich zu vertreten. Wahrscheinlich hat er sich in seinen Steuer- und Schuldenstaat zurückgezogen. ({11}) Im Arbeiter- und Bauernstaat hat man die Öffentlichkeit letzten Endes auch gescheut. ({12}) Er hätte die Steuererhöhung hier vertreten müssen, meine Damen und Herren. Er würgt die Binnennachfrage ab, wodurch er unserem Land einen Bärendienst erweist. Er sollte zurücktreten und den Weg für einen finanzpolitischen Neuanfang frei machen. Das wäre richtig, damit es in Deutschland wieder aufwärts geht. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch das Wort.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS. Der Saal füllt sich deshalb, weil eine namentliche Abstimmung bevorsteht und es jedem ans Geld geht, der nicht daran teilnimmt. Meine Damen und Herren, die Fortschreibung der ökologischen Steuerreform hat fast nichts mit Ökologie, aber viel mit Steuererhöhungen zu tun. Bisher hat die Bundesregierung mit den Einnahmen der Ökosteuer die Rentenlöcher gestopft. Jetzt, nach der Erhöhung der Rentenbeiträge von 19,1 auf 19,5 Prozent, gehen sogar die Autoren des Gesetzes davon aus, dass im Jahr 2003 die Einnahmen aus der Ökosteuer zur Sanierung der Haushaltslöcher genutzt werden. Sie ist also eine simple Mehrwertsteuererhöhung. Die Bundesregierung hatte bisher immer auf die entlastende Wirkung der Ökosteuer auf die Lohnnebenkosten verwiesen. Immerhin konnte man mit den Steuereinnahmen die Rentenbeiträge eine gewisse Zeit stabil halten. Jetzt will man die Steuer nur noch nutzen, um den Bundeshaushalt zu sanieren. Aber lassen Sie uns die Einnahmeseite etwas näher anschauen, meine Damen und Herren. Von den geplanten circa 2 Milliarden Euro Mehreinnahmen pro Jahr sollen nur 400 Millionen - also ein Fünftel - auf das produzierende Gewerbe entfallen. Vier Fünftel bleiben bei den privaten Haushalten und man kann ziemlich sicher sein, dass das produzierende Gewerbe dieses eine Fünftel über die Preise beim Verbraucher abladen wird. Die Steuer bleibt demzufolge eine Steuer für den zunehmend umweltbewussten Bürger und nicht für die wirklich unökologischen Stromfresser im produzierenden Gewerbe. Sehr geehrte Abgeordnete aus den neuen Bundesländern, sehr geehrter Herr Stolpe, diese Ökosteuernovelle geht besonders stark zulasten ostdeutscher Haushalte. Ich habe das gestern im Haushaltsausschuss thematisiert, aber ich habe von der Regierungsseite keine befriedigende Auskunft bekommen. Man schaue nicht auf regionale Aspekte, wurde mir mitgeteilt. Bekanntlich hat aber der Bundeskanzler massiv dagegen interveniert, leichtes Heizöl zu verteuern. Dabei dürfte er die Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen im Blick gehabt haben. Denn in Westdeutschland sind nach wie vor Ölheizungen weit verbreitet. In den neuen Ländern dagegen wurden seit der Wende Braunkohleöfen überwiegend durch Gaskessel und nicht durch Ölheizungen ersetzt. Gleiches gilt für Neubauten. In den 90er-Jahren wurde auch durch die Gesetzgebung des Bundestages eindeutig auf einfache Gasheizungen gesetzt. 70 Prozent der ostdeutschen Wohnungen und Einfamilienhäuser werden mittlerweile mit Gas beheizt. Bei ihnen schlägt die Verteuerung von Erd- bzw. Flüssiggas voll durch. Da die Anlagen relativ neu und die Brennstoffkosten für Vermieter nur Durchlaufposten zu den Mietern sind, geht von dieser Novelle aber auch kein Impuls zu einer Umstellung auf umweltfreundlichere dezentrale Anlagen aus. Was bleibt, ist die Abzocke der Wohnungsnutzer. Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus der Sicht der PDS kann ich aus den genannten Gründen dieser Gesetzesnovelle nicht zustimmen und werde sie ablehnen. Vielen Dank.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Hempelmann für die SPD-Fraktion.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir stehen am Ende einer ausgesprochen aufschlussreichen Debatte. Die Opposition hat deutlich gemacht, dass sie grundsätzlich gegen eine ökologische Steuerreform ist, ({0}) egal wie sie diese Haltung zu verbrämen versucht hat. Sie hat Ankündigungen über die 90er-Jahre hinaus und auch in diesem Wahlkampf gemacht, die anders lauten. Insbesondere ihr Spitzenkandidat hat diesen Wackelkurs vorgeführt. Aber heute ist deutlich geworden: Alles wird einem billigen Parteienkalkül untergeordnet. Frederic Vester aus dem „Club of Rome“ hat richtig gesagt: Die Kampagne gegen die Ökosteuer, an deren Spitze sich Ministerpräsident Edmund Stoiber ... gesetzt hat, zeigt überdeutlich, worum es ihm geht: Nicht um die notwendigen Weichenstellungen, die uns und den kommenden Generationen eine lebenswerte Umwelt garantieren, es geht ihm nur darum, aus der Situation parteipolitisches Kapital zu schlagen. Das trifft auf Sie insgesamt zu. ({1}) In dieser Woche fand eine ebenso aufschlussreiche Anhörung zum Thema ökologische Steuerreform statt. ({2}) Wenn man Ihnen heute zugehört hat, dann gewinnt man den Eindruck, es habe nur Kritik gehagelt. Dem war bei weitem nicht so. Das wissen Sie. Sie haben hier sehr einseitig zitiert. ({3}) Richtig ist: Es gab in der Tat ein breites Meinungsspektrum. Das ist bei einem solchen Thema normal; denn es gibt bei diesem Thema in unserer Gesellschaft ein genauso breites Spektrum an Interessen. Deutlich ist aber auch geworden: Es gibt gerade auch bei den wissenschaftlichen Instituten sowohl zur ökologischen Steuerreform, wie sie seit Jahren gilt, als auch zu der Gesetzesänderung, wie wir sie jetzt vorgelegt haben, Zustimmung. ({4}) Es ist ausdrücklich konzediert worden, dass es in den letzten Jahren nicht durch die von Ihnen genannten Gründe, Herr Paziorek, sondern durch diese ökologische Steuerreform Lenkungswirkungen gegeben hat. ({5}) Es gab in großem Umfang eine Senkung der CO2-Belastung. ({6}) Im Bereich der Mobilität wurde der Schritt zu kleineren Autos vollzogen. Dies zeigte sich auch in der Forschung mit dem Einliterauto. Erstmals gab es - sogar zwei Jahre hintereinander - in unserem Land einen niedrigeren Gesamtkraftstoffverbrauch, und zwar nicht aus den Gründen, die Sie angeführt haben, ({7}) sondern aufgrund der ökologischen Steuerreform. In dieser Anhörung ist deutlich geworden: Wir brauchen weitere Signale, um den Energieverbrauch zu senken. Deswegen ist es begrüßt worden, dass wir diesen weiteren Schritt gegangen sind. ({8}) Ein weiterer Punkt ist in dieser Anhörung angesprochen worden. Es ist Ihnen von Instituten vorgehalten worden, dass Sie jetzt nicht Beifall zu Forderungen klatschen sollten, die Sie jahrelang selber gestellt haben und die nun erfüllt werden. Sie haben immer den Abbau von Steuervergünstigungen gefordert. Jetzt gehen wir diesen Schritt. Die Institute - ich gebe zu, es waren nicht alle, aber es waren eine ganze Reihe ({9}) haben diesen Weg ausdrücklich begrüßt. Wir streichen Vergünstigungen beim Gas. Wir tun das bewusst, weil die bisherigen Preisvorteile beim Gas eben nicht an den Kunden weitergegeben worden sind. Deswegen ist dieser Weg richtig. Er wird sich für den Endkunden als nicht schädlich erweisen. Wir streichen Vergünstigungen bei Nachtspeicheröfen. Es ist deutlich, dass wir Strom in einem Bereich eingesetzt haben, für den er viel zu edel war. Deswegen ist es richtig, dass wir bei den Nachtspeicheröfen Zug um Zug und Jahr für Jahr degressiv vorgehen und diese Bevorzugung zurückschneiden. In Kombination mit unserem Förderprogramm gibt das den Menschen die Gelegenheit, umzurüsten. Was haben wir noch getan? Wir haben 150 Millionen Euro zur Gebäudesanierung in die Hand genommen. Das haben Sie in Ihrer Zeit nie geschafft. ({10}) Sie fordern heute von uns ein Mehrfaches, aber Sie haben in Ihrer Zeit nur einen Bruchteil davon, ein Achtzehntel, eingesetzt. Wir geben der besonders energieintensiven Wirtschaft einen Spitzenausgleich, der dafür sorgt, dass sie weiterhin wettbewerbsfähig tätig sein kann. Das Gleiche tun wir für den Unterglasgartenbau. Das ist Politik mit Augenmaß. Das ist eben das Gegenteil von ideologischer Politik, die Sie uns immer unterstellen. Professor Jarass hat es auf den Punkt gebracht: Das Gesamtpaket erfüllt systematisch die auch von den deutschen Unternehmensverbänden erhobene Forderung nach Abbau von Subventionen und Steuervergünstigungen. Durch die vorgeschlagenen Maßnahmen des hier zu diskutierenden Ökosteuerpakets wird mehr als 1 Milliarde Euro an Steuervergünstigungen und Subventionen abgebaut. Das und nicht das, was Sie den Menschen vorzumachen versuchen, ist die Realität. ({11}) Damit ist Energiepolitik für diese Legislaturperiode natürlich bei weitem nicht zu Ende. Wir haben in der letzten Legislaturperiode eine ganze Reihe von sinnvollen Maßnahmen auf den Weg gebracht, neben der Ökosteuer auch die KWK und das EEG. In dieser Legislaturperiode wird uns das Thema Emissionshandel beschäftigen. Wichtig wird sein, diese Instrumente, die novelliert werden müssen, fein aufeinander abzustimmen. Das ist eine Aufgabe, an der Sie teilnehmen sollten, auch im Interesse der deutschen Wirtschaft und im Interesse derjenigen, die Kunden im Energiebereich sind. Verweigern Sie sich nicht, nehmen Sie an dieser Arbeit teil ({12}) und jonglieren Sie nicht so mit Zahlen, wie Sie das heute getan haben! Herr Paziorek, ich weiß, dass Sie bei Schalke tätig sind. ({13}) Ich bilde einmal ein Beispiel: Sie verhandeln mit einem Spieler und bieten ihm ein Drittel mehr. Der Spieler will aber ein Viertel mehr. Was geben Sie ihm dann? So wie Sie heute argumentiert haben, sagen Sie, ein Viertel ist zu viel. ({14}) Bleiben wir auf dem Teppich! Sehen Sie ein, dass wir einen guten Weg gegangen sind! In Abwandlung eines Zitats von George Bernard Shaw sage ich Ihnen: Wer es kann, der soll regieren, wer es nicht kann, soll opponieren. So wie es aussieht, werden Sie noch sehr lange opponieren. Vielen Dank. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform auf Drucksache 15/21. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/71, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Hierfür ist namentliche Abstimmung verlangt worden. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Ich eröffne die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1 Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer für den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/87 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Wer möchte sich der Stimme enthalten? - Der Entschließungsantrag ist mit der Mehrheit der Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/86? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit der gleichen Mehrheit wie zuvor abgelehnt. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Peter Götz, Dr. Michael Meister, Friedrich Merz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuordnung der Gemeindefinanzen ({0}) - Drucksache 15/30 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann haben wir das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als Erstem erteile ich dem Kollegen Peter Götz für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Rot-Grün hat uns innerhalb von wenigen Jahren systematisch in die schlimmste Finanzkrise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland geführt. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Götz, einen Augenblick bitte. Ich wäre dankbar, wenn die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Debatte nicht mehr teilnehmen können oder wollen, den Saal verließen, damit diejenigen, die sich an der Debatte beteiligen wollen, ihr auch wirklich konzentriert folgen können. Bitte schön, Herr Götz.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Die Menschen wurden vor der Wahl bewusst getäuscht und belogen. Nach und nach kommt das ganze Desaster auf den Tisch. Die schriftliche Bestätigung haben Sie gestern von den Steuerschätzern, den Wirtschaftsweisen und der Brüsseler Kommission in einer nicht mehr zu überbietenden Deutlichkeit bekommen. „Staatsfinanzen - Am Abgrund“ titelte heute das „Handelsblatt“. Gestern wurden aufgrund der aktuellen Steuerschätzung dramatische Einnahmeeinbrüche für Bund, Länder und Gemeinden angekündigt eine fürchterliche Katastrophe für den Bundeskanzler und seinen Finanzminister, aber auch, was noch schlimmer ist, für unser Land. Die größten Verlierer sind wieder einmal die Kommunen. Sie verlieren endgültig ihre politische Handlungsfähigkeit. Immer neue Einbußen bei den Einnahmen und Zuweisung von zusätzlichen Aufgaben durch rot-grüne Bundesgesetze führen unsere Städte und Gemeinden systematisch an den Rand des finanziellen Ruins. Nach der gestern veröffentlichten Steuerschätzung büßen die Städte und Gemeinden in diesem Jahr mehr ein als Bund und Länder zusammen. Von den 5,9 Milliarden Mindereinnahmen bei Bund, Länder und Gemeinden entfallen allein auf die Gemeinden 4,1 Milliarden. Dieses Missverhältnis ist eindeutig ein Skandal. Der Finanzminister aber stellt sich hin und erklärt: Alle anderen sind schuld, nur nicht diese Bundesregierung. ({0}) Vor zwei Jahren haben Sie den Kommunen im Rahmen der Anhebung der Gewerbesteuerumlage viele Milliarden weggenommen. Der Finanzminister nennt so etwas Sparen. In Wahrheit findet eine plumpe Verschiebung innerhalb des bundesstaatliches Finanzsystems statt. Die Gründe, die Sie dafür angegeben haben, haben sich als falsch erwiesen. Es ist unanständig, wenn Sie diese Erhöhung nicht rückgängig machen; denn nicht einen Ihrer Rechtfertigungsgründe können Sie aufrechterhalten. ({1}) Ihre Versuche, ständig Verschiebebahnhöfe zulasten kommunaler Haushalte zu betreiben, sind ausgereizt. Bei den Kommunen ist nichts mehr zu holen. Sie können keine neuen Aufgaben mehr finanzieren; schon die bestehenden Aufgaben können sie kaum noch wahrnehmen. Sie haben vier Jahre lang Städte und Gemeinden wie eine Zitrone ausgepresst. ({2}) - Ich nenne Ihnen gerne einige Beispiele: von der Grundsicherung der Rente über die Mitfinanzierung des Kindergeldes oder die wegen Ihrer schlechten Arbeitsmarktpolitik zunehmende Zahl von Sozialhilfeempfängern bis hin zu Integrationskosten für in Deutschland lebende Ausländer. Es handelt sich hierbei um ein Ausgabevolumen in der Größenordnung eines zweistelligen Milliardenbetrags, das Sie den Kommunen in den letzten vier Jahren nach und nach aufs Auge gedrückt haben. ({3}) 1 Ergebnis Seite 612 C Auf der Einnahmenseite verhalten Sie sich genauso kommunalfeindlich: Durch die Versteigerung der UMTSLizenzen hat der Finanzminister für den Bund 50 Milliarden Euro kassiert. ({4}) Kommunikationsunternehmen schreiben nun auf Jahre hinaus große Verluste und zahlen keine Steuern mehr Telekom lässt grüßen: Sie brauchen nur die Pressekonferenz der Telekom, die im Moment parallel stattfindet, zu verfolgen. Den Kommunen entgehen dabei mehr als 7 Milliarden Euro. Es geht munter weiter zulasten der untersten Ebene unseres Staates: Nach der neuen Koalitionsvereinbarung sollen die Gemeinden für 20 Prozent aller Kinder bis zum Alter von drei Jahren eine Tagesbetreuung vorhalten. Der Bundeskanzler verkündet die Wohltat und lobt sich selbst für einen Bundeszuschuss von 1,5 Milliarden Euro. In Wirklichkeit liegen die Kosten in einer Größenordnung von mindestens 2,5 Milliarden Euro. Eine satte Milliarde bleibt bei den Städten und Gemeinden hängen, mit zunehmender Tendenz. ({5}) 4 Milliarden Euro für Ganztagsschulen sind die nächste Wohltat des Kanzlers. Pro Schule macht dies 20 000 Euro. Das reicht kaum, um Geschirr zu kaufen, geschweige denn für Investitionen oder gar zur Finanzierung der Personalkosten; wieder sollen die Kommunen zahlen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Götz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Götz, würden Sie mir zubilligen, dass es einen kleinen Unterschied ausmacht, ob der Bund ein Gesetz macht, ohne einen Pfennig dazuzugeben, wie es seinerzeit der Fall war, als Sie das Kindergartengesetz verabschiedet haben, oder ob - wie wir es jetzt machen den Ländern und den Kommunen für die Ganztagsbetreuung entsprechende Mittel von rund 1,5 Milliarden Euro pro Jahr zur Verfügung gestellt werden? Wenn Sie über Belastungen reden, sollten Sie der Fairness halber versuchen, Ihre damalige Verhaltensweise mit dem, was diese Regierung tut, in Einklang zu bringen. ({0})

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erstens haben Sie dem Gesetz seinerzeit zugestimmt. Ob Sie da schon im Bundestag waren, weiß ich nicht. ({0}) Zweitens haben die Länder bei der Übertragung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz von der damaligen Bundesregierung die dazugehörigen Mittel bekommen. ({1}) Nur - das billige ich Ihnen zu - sind sie an vielen klebrigen Fingern der Länderfinanzminister hängen geblieben und nicht durchgereicht worden. ({2}) Warum sage ich das? Es muss wieder der Grundsatz gelten: Wer bestellt, der bezahlt. Wir brauchen das Konnexitätsprinzip, damit die Dinge wieder auf die Beine gestellt werden. ({3}) Ökosteuererhöhung und Erdgassteuer - darüber wurde gerade debattiert - führen zu einer drastischen Erhöhung der Energiepreise für die Menschen und die Unternehmen, aber auch für Städte und Gemeinden, die viele öffentliche Einrichtungen aus ökologischen Gründen auf Erdgas umgestellt haben. Dafür werden sie jetzt bestraft. Ich sage ganz deutlich und unmissverständlich: Die Gemeinden können keine weiteren Belastungen übernehmen, wenn sie ihre Aufgaben erfüllen sollen. Das scheint noch nicht ganz bis zu Ihnen durchgedrungen zu sein. Reden Sie einmal vor Ort in Ihren Wahlkreisen mit den Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern! Oder gehen Sie denen inzwischen aus dem Weg? ({4}) Nach einer Berechnung des Deutschen Städtetages aus diesem Monat wird das Haushaltsdefizit der deutschen Kommunen in diesem Jahr bei 8 Milliarden Euro liegen. Dies ist mehr als doppelt so viel wie im vergangenen Jahr. Im Jahr 1998 - am Ende einer CDU/CSU-geführten Regierung - hatten die Kommunen einen positiven Gesamtsaldo von über 2 Milliarden Euro. Damals gab es noch eine kommunalfreundliche Politik in diesem Haus. ({5}) Wie sieht es heute, nach vier Jahren Rot-Grün, aus? Täglich stehen neue Katastrophenmeldungen aus den Städten und Gemeinden in den Zeitungen. Immer mehr Kommunen gehen Pleite. SPD-Bürgermeister beklagen öffentlich die falsche Politik von Rot-Grün. Der Oberbürgermeister aus des Bundeskanzlers Heimatstadt Hannover warnt vor dem Ende der kommunalen Selbstverwaltung und fordert - wie noch diese Woche auf dem CDU-Bundesparteitag in Hannover - deren Stärkung ein. Der Mann hat Recht. Nur wäre es besser, wenn er dies auch seinen Genossen im Bundeskanzleramt deutlich sagen würde; denn dort wäre es angebrachter. ({6}) Sein roter Kämmerer sekundiert und sagt: „So habe ich mir sozialdemokratische Steuerpolitik nicht vorgestellt.“ Peter Götz Ich könnte, wenn Sie das hören möchten, die Kommentare von SPD-Kommunalpolitikern noch eine Weile fortsetzen. Sogar Schröders heimlicher niedersächsischer Kronprinz, Sigmar Gabriel, stimmt ein: „Die Leute vor Ort merken doch langsam, dass da etwas im System nicht stimmt.“ Die Menschen in Deutschland merken es auf schmerzliche Weise. Die Kommunalpolitiker müssen sich vor Ort mit der Schließung von Schwimmbädern, Freizeit- und Sporteinrichtungen auseinander setzen. Schulen sind in einem unwürdigen Zustand. Straßen und Brücken werden nur noch notdürftig geflickt, wenn nicht gar gesperrt. Theater, Bibliotheken, Parks und Grünanlagen - überall ist die Lage furchtbar. Inzwischen finanzieren viele Kommunen ihre Ausgaben für Sozialhilfe und Gehälter nur noch auf Pump. Das widerspricht dem kommunalen Haushaltsrecht. Über kurz oder lang brauchen wir in Deutschland keine Bürgermeister mehr, sondern nur noch Staatskommissare, die den kommunalen Mangel verwalten. Das kann doch nicht unser Ziel sein. ({7}) Das hat überhaupt nichts mehr mit kommunaler Selbstverwaltung zu tun. Was sind die Folgen? In den letzten Jahren sind die kommunalen Investitionen ständig überproportional gesunken. Das ist eine Katastrophe für die Zukunft unseres Landes: für das Handwerk, für den Mittelstand und für den Arbeitsmarkt. Die Gemeinden schieben einen riesigen Investitionsstau vor sich her. Nach dem Deutschen Institut für Urbanistik müssen sie in den nächsten zehn Jahren 686 Milliarden Euro investieren, um den Standort Deutschland im internationalen Vergleich konkurrenzfähig zu halten. Ohne funktionierende kommunale Selbstverwaltung bekommen wir einen anderen Staat: zentralistischer, bürokratischer, schwerfälliger und für die Menschen fremder. CDU und CSU wollen keinen Zentralismus. Wir wollen starke Städte und Gemeinden in unserem Land. ({8}) Manchmal hat man den Eindruck, alte sozialistische Zentralstaatsinstinkte kommen wieder zum Vorschein. ({9}) Der Aufbruch zur viel gepriesenen neuen Mitte ist von Ihnen schon lange zu den Akten gelegt worden. Die alte Linke dominiert das politische Geschehen. ({10}) Die kommunale Selbstverwaltung wird durch Ihre Politik systematisch ausgehöhlt. Wenn Ihnen das Freude bereitet, ist es umso schlimmer. Wir fordern eine Umkehr dieser falschen Politik. Eine Chance haben Sie. Eine Chance, zu einer kommunalfreundlichen Politik zurückzukehren, ist die sofortige Rücknahme der Erhöhung der Gewerbesteuerumlage, die Sie beschlossen haben. Lassen Sie den Gemeinden ihr Geld und nehmen Sie es ihnen nicht ständig weg! Für die Kommunen würde dieser Schritt zu einer schnellen und spürbaren Entlastung führen: im nächsten Jahr 2,3 Milliarden Euro und im Jahr 2004 2,6 Milliarden Euro. Umgekehrt gilt: Wenn dieses Geld nicht fließen wird, fehlen diese Beträge in den kommunalen Kassen. Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! Wir wollen auch in Zukunft lebenswerte Städte und Gemeinden, die in der Lage sind, ihre Aufgaben für die Bürgerinnen und Bürger zu erfüllen. Es ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen. Herzlichen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Horst Schild für die SPD-Fraktion.

Horst Schild (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002775, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Verehrter Herr Kollege Götz, ich kann mich noch gut an die Diskussion erinnern, die wir im Januar zum gleichen Thema hier führten. Seinerzeit waren wir aber nicht die sozialistischen Umverteiler, sondern der Knecht des Großkapitals, ({0}) weil wir den Großkonzernen die Steuergeschenke nur so hinten reingeschoben haben. - Die Zeiten wandeln sich, die Argumente auch. Herr Kollege Götz, wir wissen alle, dass die Kommunen spürbare Rückgänge bei den Gewerbesteuereinnahmen zu verkraften haben und dass sie Hilfe brauchen. Sie haben eben sehr beredt die Not der Gemeinden in diesem Lande geschildert. ({1}) Aber - damit komme ich zu Ihrem Antrag - was fällt Ihnen in dieser Situation ein? Nichts anderes als die Absenkung der Gewerbesteuerumlage! ({2}) Sie haben den Antrag, den der Freistaat Bayern und andere Bundesländer in den Bundesrat eingebracht haben, wörtlich übernommen. ({3}) Viel Geistesschmalz ist da offensichtlich nicht hineingeflossen. ({4}) Die Unionsfraktion verfährt hier offensichtlich wieder nach dem Motto „Alle Jahre wieder“ und möchte die Löcher der Kommunen mit neuen Löchern bei Bund und Ländern stopfen. Was Sie hier beredt beklagen, gilt ja für alle staatlichen Ebenen. Ihr Vorschlag, die Gewerbesteuerumlage auf den Stand vor der Steuerreform abzusenken, führt nur zu neuen Löchern bei Bund und Ländern. Das kann nicht die Lösung sein. Das wiederholte Einbringen solcher Gesetzentwürfe bringt uns nicht weiter. Es sei Ihnen vergönnt, dass Sie sich des Sachverstandes des Landes Bayern bedienen. Ich hoffe, dass sich die Parlamentarier der Unionsfraktion zukünftig nicht zum bloßen Anhängsel der Bayerischen Staatsregierung machen. Wir haben in den letzten Tagen mehrere Beispiele dafür bekommen, dass sie uns fast wortwörtlich - bisweilen mit Modifikationen bei den finanziellen Auswirkungen - das hereinreichen, was die Bayerische Staatsregierung formuliert hat. ({5}) Ich möchte einmal am Rande erwähnen, dass im letzten Jahr der Antrag der SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag auf Absenkung der Gewerbesteuerumlage im Land Bayern keine Mehrheit fand. ({6}) Ein bisschen mehr Glaubwürdigkeit und ein bisschen mehr Substanz wären vielleicht hier und da geboten. Wieso haben die unionsgeführten Länder nicht bereits ihren Beitrag geleistet - die kommunalen Spitzenverbände haben sie dazu aufgefordert - und den Umlageanteil zumindest für ihr jeweiliges Bundesland gesenkt, um damit zu einer Stabilisierung der Kommunen in den jeweiligen Bundesländern beizutragen? Die Wahrheit ist doch: Die Kommunen können froh sein, dass die Steuervorschläge der Union bislang nie Wirklichkeit geworden sind. ({7}) Die Union ist kein verlässlicher Partner der Kommunen. Die Forderung nach Senkung der Umlage der Gewerbesteuer ist ein politischer Schnellschuss. Sie ist auch sachlich nicht gerechtfertigt. Es ist nun einmal so, dass unsere Maßnahmen zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage im Zuge der Steuerreform auch Mehreinnahmen im Rahmen der Gewerbesteuer nach sich ziehen. Das setzt natürlich voraus, dass die Konjunktur besser wird. Aber dies trägt zur Stabilisierung bei. Die Gewerbesteuerrückgänge im letzten und auch in diesem Jahr sind - das haben Sie hier entgegen besserer Einsicht immer wieder betont; so unterstelle ich einmal nicht auf unsere Steuerreform zurückzuführen. Darauf haben die kommunalen Spitzenverbände immer wieder hingewiesen. ({8}) Die Steuervorschläge der Union in der Vergangenheit - ich weiß nicht, inwieweit Sie sich davon verabschiedet haben -, die eine Absenkung der Gewerbesteuermesszahlen vorsahen, hätten die Gewerbesteuer noch weiter nach unten gedrückt. ({9}) Die Gewerbesteuerumlage ist nicht der Grund für die aktuelle Entwicklung. Die wahren Ursachen liegen in der schwachen Konjunktur, in der schlechten Gewinnlage der Unternehmen ({10}) und in den weit reichenden Gestaltungs- und Umstrukturierungsmöglichkeiten der Unternehmen. Es sind eben nicht die strukturellen Defizite der Gewerbesteuer, die zu dieser Entwicklung geführt haben. Das sagt auch die amtierende Städtetagspräsidentin, Frau Roth, und verweist ausdrücklich auf die Aushöhlung der Gewerbesteuer lange vor Antritt der jetzigen Bundesregierung. Wir müssen die Strukturprobleme der Gewerbesteuer angehen. Wir müssen eine stabile Basis für die Kommunalfinanzen schaffen. Das ist eine Lösung für die Kommunen. ({11}) Ich sehe nicht, welchen Beitrag die Union dazu leistet, außer ständig, litaneienhaft die gleichen Gesetzentwürfe einzubringen. Was ist Ihr Konzept? Mit der Senkung der Gewerbesteuerumlage reißen Sie nur neue Löcher in die Haushalte von Bund und Ländern. Wir haben bereits strukturelle Sofortmaßnahmen eingeleitet. ({12}) Wir haben im Unternehmensteuerfortentwicklungsgesetz vom Dezember letzten Jahres die ersten Verbesserungen für die Gewerbesteuerbasis der Kommunen vorgenommen. Ohne diese Maßnahmen wären die Gewerbesteuereinnahmen der Kommunen schon in diesem Jahr noch deutlicher gesunken. Das ist doch unstrittig. Diese Sofortmaßnahmen haben wir gegen Ihren Widerstand durchgesetzt, während Sie weitere Steuersenkungen gefordert haben. Das hat die heutigen Debatten wie ein roter Faden durchzogen: Zwischen dem, was Sie hier fordern, und dem realen Handeln gibt es keinen Zusammenhang. Weitere Verbesserungen haben wir im Koalitionsvertrag beschlossen. Wir werden sie im Bundestag verabschieden. Wir haben die Anliegen der kommunalen Spitzenverbände aufgegriffen. Ein Beispiel ist die Abschaffung der gewerbesteuerlichen Organschaft. Hier können die unionsregierten Länder zeigen, ob sie im Interesse der Kommunen handeln oder ob sie eine Blockadepolitik betreiben wollen. ({13}) Um im Übrigen noch einmal auf die Präsidentin des Deutschen Städtetages zurückzukommen: Frau Roth hat im Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 578; davon ja: 303 nein: 275 Ja SPD Dr. Lale Akgün Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr ({14}) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Eckhardt Barthel ({15}) Klaus Barthel ({16}) Sören Bartol Sabine Bätzing Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Ute Berg Hans-Werner Bertl Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({17}) Kurt Bodewig Gerd Friedrich Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({18}) Hans-Günter Bruckmann Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Martin Bury Hans Büttner ({19}) Marion Caspers-Merk Dr. Peter Wilhelm Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Martin Dörmann Peter Dreßen Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Hans Eichel Marga Elser Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({20}) Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Angelika Graf ({21}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Karl Hermann Haack ({22}) Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Alfred Hartenbach Michael Hartmann ({23}) Anke Hartnagel Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Heß Gabriele Hiller-Ohm Stephan Hilsberg Gerd Höfer Walter Hoffmann ({24}) Iris Hoffmann ({25}) Frank Hofmann ({26}) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Renate Jäger Jann-Peter Janssen Klaus Werner Jonas Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Ulrich Kelber Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Heinz Köhler Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Anette Kramme Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Dr. Hans-Ulrich Krüger Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christian Lange ({27}) Christine Lehder Waltraud Lehn Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann ({28}) Gabriele Lösekrug-Möller Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Tobias Marhold Lothar Mark Caren Marks Christoph Matschie Hilde Mattheis Ulrike Mehl Petra-Evelyne Merkel Angelika Mertens Ursula Mogg Michael Müller ({29}) Christian Müller ({30}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Volker Neumann ({31}) Dietmar Nietan Dr. Erika Ober Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Karin Rehbock-Zureich Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Walter Riester Reinhold Robbe René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({32}) Michael Roth ({33}) Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht ({34}) Thomas Sauer Anton Schaaf Axel Schäfer ({35}) Gudrun Schaich-Walch Rudolf Scharping Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Otto Schily Horst Schmidbauer ({36}) Ulla Schmidt ({37}) Silvia Schmidt ({38}) Dagmar Schmidt ({39}) Wilhelm Schmidt ({40}) Heinz Schmitt ({41}) Interesse der Städte und Gemeinden unsere Vorschläge ausdrücklich begrüßt. Meine Damen und Herren, wir wollen die gewerbesteuerliche Organschaft abschaffen. Ich bin gespannt, wie sich die Union im Bundestag und im Bundesrat dazu verhält. Wir werden es abwarten. Ich hoffe bei den zukünftigen Beratungen auch im Interesse der Kommunen in diesem Lande auf eine konstruktive Zusammenarbeit und nicht nur auf die ständige Wiederholung abgegriffener Gesetzentwürfe. Ich danke Ihnen. ({42})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, darf ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen zur Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform bekannt geben. Abgegebene Stimmen 577. Mit Ja haben gestimmt 303, ({0}) mit Nein haben gestimmt 274, Enthaltungen gab es keine. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Carsten Schneider Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Wilfried Schreck Ottmar Schreiner Gerhard Schröder Gisela Schröter Brigitte Schulte ({1}) ({2}) Swen Schulz ({3}) Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Erika Simm Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie SonntagWolgast Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Christoph Strässer Rita Streb-Hesse Joachim Stünker Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Hans-Jürgen Uhl Rüdiger Veit Simone Violka Jörg Vogelsänger Ute Vogt ({4}) Dr. Marlies Volkmer Hans Georg Wagner Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Reinhard Weis ({5}) Matthias Weisheit Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen ({6}) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Jochen Welt Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Jürgen Wieczorek ({7}) Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Brigitte Wimmer ({8}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Waltraud Wolff ({9}) Heidemarie Wright Uta Zapf Manfred Helmut Zöllmer BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({10}) Volker Beck ({11}) Cornelia Behm Birgitt Bender Matthias Berninger Alexander Bonde Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Jutta Dümpe-Krüger Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Joseph Fischer ({12}) Katrin Dagmar GöringEckardt Anja Hajduk Winfried Hermann Peter Hettlich Ulrike Höfken Thilo Hoppe Michaele Hustedt Fritz Kuhn Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth ({13}) Anna Lührmann Kerstin Müller ({14}) Christa Nickels Friedrich Ostendorff Simone Probst Claudia Roth ({15}) Krista Sager Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({16}) Werner Schulz ({17}) Petra Selg Ursula Sowa Rainder Steenblock Silke Stokar von Neuforn Hans-Christian Ströbele Marianne Tritz Hubert Ulrich Dr. Antje Vogel-Sperl Dr. Ludger Volmer Josef Philip Winkler Margareta Wolf ({18}) Nein CDU/CSU Ulrich Adam Peter Altmaier Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({19}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Clemens Binninger Renate Blank Peter Bleser Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({20}) Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Helge Braun Paul Breuer Monika Brüning Georg Brunnhuber Verena Butalikakis Hartmut Büttner ({21}) Cajus Caesar Manfred Carstens ({22}) Peter H. Carstensen ({23}) Gitta Connemann Leo Dautzenberg Hubert Deittert Albert Deß Alexander Dobrindt Vera Dominke Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Rainer Eppelmann Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Albrecht Feibel Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({24}) Dirk Fischer ({25}) Axel E. Fischer ({26}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({27}) Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Dr. Peter Gauweiler Norbert Geis Roland Gewalt Eberhard Gienger Georg Girisch Michael Glos Ralf Göbel Tanja Gönner Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Kurt-Dieter Grill Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Olav Gutting Holger Haibach Gerda Hasselfeldt Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Ursula Heinen Siegfried Helias Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Martin Hohmann Joachim Hörster Hubert Hüppe Susanne Jaffke Dr. Peter Jahr Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Irmgard Karwatzki Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({28}) Gerlinde Kaupa Jürgen Klimke Julia Klöckner Kristina Köhler Manfred Kolbe Norbert Königshofen Hartmut Koschyk Rudolf Kraus Michael Kretschmer Günther Krichbaum Günter Krings Dr. Martina Krogmann Dr. Hermann Kues Werner Kuhn ({29}) Barbara Lanzinger Karl-Josef Laumann Vera Lengsfeld Werner Lensing Peter Letzgus Walter Link ({30}) Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold ({31}) Patricia Lips Dr. Michael Luther Dorothee Mantel Erwin Marschewski ({32}) Stephan Mayer ({33}) Cornelia Mayer ({34}) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Dr. Martin Mayer ({35}) Wolfgang Meckelburg Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Laurenz Meyer ({36}) Doris Meyer ({37}) Maria Michalk Klaus Minkel Marlene Mortler Hildegard Müller Stefan Müller ({38}) Bernward Müller ({39}) Bernd Neumann ({40}) Günter Nooke Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Melanie Oßwald Eduard Oswald Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Daniela Raab Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Christa Reichard ({41}) Hans-Peter Repnik Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Hannelore Roedel Franz Romer Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose Dr. Christian Ruck Volker Rühe Albert Rupprecht ({42}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({43}) Andreas Scheuer Georg Schirmbeck Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({44}) Andreas Schmidt ({45}) Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer Kurt Segner Matthias Sehling Marion Seib Heinz Seiffert Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Gero, Storjohann Andreas Storm Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({46}) Michael Stübgen Michaela Tadjadod Antje Tillmann Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Angelika Volquartz Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marco Wanderwitz Peter Weiß ({47}) Gerald Weiß ({48}) Ingo Wellenreuther Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({49}) Matthias Wissmann Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Elke Wülfing Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Daniel Bahr ({50}) Rainer Brüderle Ernst Burgbacher Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Horst Friedrich ({51}) Hans-Michael Goldmann Joachim Günther ({52}) Dr. Karlheinz Guttmacher Christoph Hartmann ({53}) Klaus Haupt Ulrich Heinrich Birgit Homburger Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Jürgen Koppelin Harald Leibrecht Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Markus Löning Dirk Niebel Günther Friedrich Nolting Hans-Joachim Otto ({54}) Eberhard Otto ({55}) Detlef Parr Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Günter Rexrodt Marita Sehn Dr. Rainer Stinner Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein fraktionslos Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU Daub, Helga Rossmanith, Kurt J. FDP CDU/CSU Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. ({56}) Nun setzen wir die Debatte fort. Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Pinkwart, FDPFraktion.

Andreas Pinkwart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Standort Deutschland leidet Not unter der Last rot-grüner Reformverweigerung und mit ihm leiden die Städte und Gemeinden und die in ihnen lebenden Bürger. ({0}) Der beispiellose Absturz der kommunalen Steuereinnahmen infolge staatlicher Lastenverschiebungen und erheblich gestiegener Sozialausgaben engt den finanziellen Handlungsspielraum der gemeindlichen Ebene in dramatischer Weise ein. ({1}) Der starke Verfall der kommunalen Investitionen verstärkt die wirtschaftliche Talfahrt und verschärft die Probleme am Arbeitsmarkt. Der Sachverständigenrat legt in seinem Herbstgutachten mit der Wachstumsprognose für 2003 von nur 1 Prozent den Finger in die Wunde: Unser Land befindet sich nicht in einer Konjunktur-, sondern in einer tief greifenden Strukturkrise. ({2}) Eines der maßgeblichen Strukturprobleme liegt in den Fehlentwicklungen bei der Aufgaben- und Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden begründet. Unser erster Bundespräsident, Theodor Heuss, hat es einmal auf die griffige Formel gebracht: Das Wichtigste im Staat sind die Gemeinden, und das Wichtigste in der Gemeinde sind die Bürger. Rot-Grün hat sich von diesem demokratischen Grundsatz, den Staat von unten nach oben aufzubauen, durch noch mehr staatliche Regulierung und einseitige Aufgabenund Lastenverteilung zulasten von Gemeinden und Bürgern weit entfernt. ({3}) Bürgern und Gemeinden werden immer neue Fesseln angelegt und finanzielle Lasten aufgebürdet. Die Defizite in den kommunalen Verwaltungshaushalten haben - das hat ein Vorredner deutlich gemacht - zwischenzeitlich Rekordhöhen erreicht. Nach den aktuellen Steuerschätzungen vom November sehen sich die Gemeinden mit weiteren Einnahmeausfällen gegenüber dem Ergebnis der Maischätzung konfrontiert: in Höhe von 2,4 Milliarden Euro für dieses Jahr und von 2,9 Milliarden Euro für das kommende Jahr. Kommunale Selbstverwaltung bedeutet Freiraum und Verantwortung für Entscheidungen vor Ort, und zwar sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite. Deshalb muss eine Gemeindefinanzreform, die ihren Namen wirklich verdient, die kommunale Autonomie insgesamt stärken. ({4}) Hierzu brauchen wir eine Gemeindefinanzreform, die das gesamte kommunale Steuersystem auf eine tragfähige Grundlage stellt und dem Prinzip der Finanzierung der eigenen Aufgaben durch ein eigenes effektives Heberecht wieder Geltung verschafft. ({5}) Ziel muss dabei eine weit gehende Vereinfachung des Steuerrechts für Bürger und Unternehmen sein. Wir sprechen uns daher für den Wegfall der konjunkturanfälligen Gewerbesteuer und ihren Ersatz durch ein eigenes Heberecht der Kommunen an der Einkommen- und Körperschaftsteuer bei gleichzeitiger Senkung der Steuertarifsätze sowie eine sachgerechte Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer aus. ({6}) Eine Revitalisierung der viel zu komplizierten und darüber hinaus international wettbewerbsverzerrenden Gewerbesteuer durch Senkung der Freibeträge, eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und die Ausweitung des Kreises der Steuerpflichtigen lehnen wir ganz entschieden ab. ({7}) Ich möchte Ihnen die Frage, die im Finanzausschuss bisher nicht beantwortet wurde, zurufen: Wie wollen Sie, wenn Sie schon über eine Revitalisierung nachdenken, Ihre so genannte Ich-AG steuerlich gestalten, sodass sie trotz der Bürokratielast noch irgendeinen Menschen in diesem Lande interessiert? ({8}) Die zweite Säule der Gemeindefinanzreform bildet die konsequente Überprüfung der Aufgaben und Ausgaben. Nur wenn sichergestellt ist, dass den Kommunen die durch Übertragung von Ausgaben und Ausführung von Leistungsgesetzen entstehenden finanziellen Mehrbelastungen ausgeglichen werden, kommen wir im Ergebnis zur dringend gebotenen Selbstbeschränkung der Politik auf allen Ebenen, zur systematischen Aufgabenkritik und zur weiterhin notwendigen Effizienzsteigerung. Hierzu gehört auch eine kritische Überprüfung von Normen und Standards. Kostenintensive, aber für die Aufgabenerfüllung nicht notwendige Standards müssen von den Kommunen endlich flexibler gehandhabt werden können. ({9}) Die Kommunen stecken gegenwärtig in einer tief greifenden Finanzkrise. Noch bevor eine umfassende Finanzreform wirkt, ist eine Stabilisierung der kommunalen Finanzen dringend geboten. Angesichts der hohen Steuerausfälle erweist sich die von Ihnen durchgeführte Anhebung der Gewerbesteuerumlage zulasten der Gemeinden als völlig unangemessen und muss zurückgenommen werden. Die vorliegende Gesetzesinitiative der Unionsfraktion - Herr Kollege Schild, ich habe hier gelernt, dass sie eigentlich gar nicht aus der Feder der CDU/CSU stammt, sondern offensichtlich von der SPD-Landtagsfraktion in Bayern abgeschrieben worden ist - halten wir jedenfalls für eine sehr gelungene Vorlage in diese Richtung und werden sie im Rahmen der Ausschussberatungen positiv begleiten. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Pinkwart, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Dazu gratuliere ich Ihnen im Namen des ganzen Hauses herzlich. ({0}) Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist natürlich völlig richtig, dass die Gewerbesteuereinnahmen im letzten Jahr, aber auch in diesem Jahr massiv zurückgegangen sind. In den Städten sind die Rückgänge im Durchschnitt noch höher als in den einzelnen Kommunen in ländlichen Regionen. Dies ist eingetreten, weil sich die Konjunktur in Deutschland negativ verändert hat. ({0}) Im Vorfeld, in den Jahren 1999 und 2000, hatten wir noch sehr gute Gewerbesteuereinnahmen. ({1}) Deshalb hat man in dieser Zeit weder vonseiten der Gemeindetage noch vonseiten der Städte- oder Landkreistage Klagen gehört. Die kommunalen Spitzenverbände sind erst auf uns zugekommen und haben gesagt: „Tut etwas für uns!“, als die Einnahmen zurückgegangen sind. Das ist in Ordnung und wir setzen uns damit auseinander. Ich möchte Sie nur bitten - das gilt sowohl für den Kollegen Götz von der CDU als auch für den Kollegen Pinkwart von der FDP -, hier nicht so zu tun, als habe die Steuergesetzgebung der Regierung, als habe zum Beispiel die Unternehmensteuerreform etwas mit den Einbrüchen bei den Kommunen zu tun. ({2}) Das ist völlig falsch. Herr Braun vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag hat das eindeutig bestätigt. Auch die Führungen der kommunalen Spitzenverbände und des Deutschen Städtetages haben konstatiert, dass nicht die Steuergesetzgebung die Ursache für diese Einbrüche ist, sondern dies eindeutig Folge der zurückgegangenen Gewinne der Unternehmen, der Bereinigungen und der Wertaufholungen, die vorgenommen wurden, ist. Wer sich ein bisschen mit dem Aufstellen von Bilanzen auskennt, wer weiß, dass Vorauszahlungen von Unternehmen rückerstattet werden, wenn sich die Gewinnspanne verschlechtert hat, muss doch zugeben, dass in Wirklichkeit hier die Ursache für die Einbrüche liegt. Angesichts dessen kann man sich doch nicht so blöd - entschuldigen Sie den Ausdruck, das meine ich nicht persönlich - geben und so tun, als gäbe es eine ganz andere Ursache. ({3}) Ich bitte einfach darum, hier einmal korrekt zu argumentieren und gemeinsam daran zu arbeiten, die Probleme, die wir haben - und zwar in allen Bereichen und auf den verschiedenen Ebenen, was die Steuereinnahmen anbelangt -, zu lösen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Götz?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne, Herr Götz.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte sehr.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, wenn Ihre Argumentation stimmt, warum haben Sie dann vor zwei Jahren die Gewerbesteuerumlage erhöht und damit den Gemeinden das weniger verbleibende Geld auch noch weggenommen? ({0})

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Klatschen Sie nur. Ich kann Ihnen genau sagen, ({0}) warum die Gewerbesteuerumlage damals verändert worden ist. ({1}) Wir haben damals beschlossen, die Einkommensteuerreform mit Steuersenkungen in drei Stufen bis zum Jahr 2005 durchzuführen. Wir haben beschlossen, die Körperschaftsteuer für die Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland so zu gestalten, ({2}) dass die Steuersätze international im Wettbewerb Bestand haben. Diese beiden Maßnahmen wurden im Bundesrat auch von Ländern, in denen Ihre Partei regiert, also auch von CDU-regierten Ländern, so verabschiedet. Man hat im Bundesrat auch verabschiedet, dass die Gewerbesteuerumlage verändert wird, weil selbstverständlich über Steuersatzsenkungen weniger Geld in die einzelnen Ebenen - Bund, Länder und Kommunen hineinfließt. Sie wissen, dass die Einkommensteuer zu 42,5 Prozent beim Bund, zu 42,5 Prozent bei den Ländern und zu 15 Prozent auf der kommunalen Ebene veranschlagt wird. Bei der Körperschaftsteuer ist es halbe-halbe. ({3}) Es ist doch völlig klar, Herr Götz - wenn ich das abschließend dazu sagen darf -: In dem Moment, wo ich weniger Steuereinnahmen habe, weil ich aus wirtschaftlichen Gründen und auch, um die Haushalte von Klein- und Mittelverdienern zu entlasten, die Steuern in diesem Land senken will, fließt auch weniger Geld. Das heißt, ich muss die Verhältnismäßigkeit in der Steuerverteilung zwischen allen Steuerarten und zwischen den einzelnen Ebenen über die Gewerbesteuerumlage ausgleichen. ({4}) Das war der Hintergrund. Das ist damals auch, wie gesagt, durch den Bundesrat und durch das Vermittlungsverfahren gelaufen und wurde auch mit Ihrer Zustimmung damals so verabschiedet. ({5}) - Lesen Sie die Protokolle nach. Ich weiß es noch sehr gut, weil ich das Vermittlungsverfahren damals selbst mitgemacht habe. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, wären Sie geneigt, eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Fromme zuzulassen? ({0})

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich weiß ja nicht - Herr Fromme? Ja, er ist nett. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das ist kein Kriterium nach den Bestimmungen unserer Geschäftsordnung. ({0}) Es liegt aber im Belieben des Redners, solche Zwischenfragen zuzulassen. ({1})

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, da gebe ich Ihnen völlig Recht. Es wäre ein bisschen eigenartig, wenn das das einzige Kriterium wäre. Es gibt allerdings Leute, deren Zwischenfragen ich einfach nicht brauche. Bei Ihnen, Herr Fromme, ist das aber in Ordnung.

Jochen Konrad Fromme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön, Frau Kollegin Scheel. Müssen Sie mir nicht bestätigen, dass die Hauptbegründung für die Anhebung der Gewerbesteuerumlage die Veränderung der AfA-Tabellen war ({0}) und dass Sie diese Veränderung der AfA-Tabellen zwar für den Mittelstand gemacht haben, für die Branchentabellen aber nicht? ({1})

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Fromme, vielen Dank für die Frage. Bei den AfA-Tabellen gibt es eine Haupttabelle und Branchentabellen. Wir haben damals in der Grundtabelle die Abschreibungsfristen zuungunsten der Wirtschaft, aber zugunsten der Steuereinnahmen verändert. Bei den Branchentabellen war es so, dass die Opposition - die CDU/CSU-Fraktion und auch die FDP-Fraktion - mit einem Riesentumult im Lande gesagt hat: Verändert nicht die Branchentabellen, das ruiniert die kleinen und mittelständischen Unternehmen und die Transportwirtschaft in unserem Lande. ({0}) - Es ging dabei um die Abschreibungsmöglichkeiten bei den Branchentabellen. - Die konjunkturelle Situation war schwierig; in bestimmten Bereichen - Maschinenbau und anderen - hatten wir konjunkturelle Dellen. In diesem Kontext haben wir gesehen, dass es aus wirtschaftspolitischen Gründen richtig ist, zu sagen: In diesem Bereich nehmen wir keine Veränderung zuungunsten unserer kleinen und mittelständischen Wirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland vor. Damit sind Steuerausfälle in einer Größenordnung von rund 200 Millionen Euro verbunden. Das ist aber nicht das Geld, das heute den Kommunen fehlt. Wir haben damals wirtschaftspolitisch völlig richtig gehandelt. Herr Fromme, Sie müssen sich langsam entscheiden: Wollen Sie dauernd Steuern senken und damit auch die Einnahmen bei den Kommunen reduzieren - dies ist nämlich die Konsequenz -, wollen Sie alle möglichen Abschreibungsmöglichkeiten für die Unternehmen beibehalten, dies aber zuungunsten der Gewerbesteuereinnahmen, ({1}) oder wollen Sie eine vernünftige Steuerbasis? Beides zusammen geht nicht. Man muss sich entscheiden. Man kann nicht immer nur Entlastungen versprechen, ohne gleichzeitig zu sagen, woher die Einnahmen kommen. ({2}) Man muss auch an einer anderen Stelle in dieser Debatte ganz ehrlich sein: ({3}) Die Gewerbesteuerumlage ist eine Umlage, die zu gut einem Drittel dem Bund und zu etwa zwei Dritteln den Ländern zugute kommt. Dies gilt entsprechend bei einer Erhöhung. Nun werden Anträge gestellt und Vorschläge gemacht, die Gewerbesteuerumlage wieder auf das alte Niveau zu setzen. Diese Vorschläge kommen vorwiegend aus dem CSU-regierten Bayern, von Herrn Stoiber, oder auch von Herrn Koch oder anderen CDU-Ministerpräsidenten. Ich stelle fest, dass der Länderanteil an der Gewerbesteuerumlage und deren Erhöhung in Höhe von zwei Dritteln durchaus in Eigenverantwortung von den Ländern an ihre Kommunen weitergegeben werden kann. Warum macht Bayern dies nicht? Warum macht Hessen dies nicht? Warum soll nur der Bund hier tätig werden? ({4}) An einem weiteren Punkt wird deutlich, wie unlauter Sie, die Union, Politik betreiben: Bayern hat - ich weiß dies noch sehr gut, denn es ist noch gar nicht so lange her im Bundesrat einen Antrag gestellt, dass die Umlage wieder auf das alte Niveau gesenkt werden sollte. Diese Vorlage ist im Finanzausschuss des Bundesrates mit der Mehrheit der CDU-regierten Länder abgelehnt worden. Dies ist die Wahrheit. ({5}) Stellen Sie sich doch nicht immer hier hin und tun Sie nicht so, als ob wir diejenigen wären, die irgendwelche Entscheidungen zum Schaden der Kommunen treffen. ({6}) Wir haben eine Kommission eingesetzt, in der auch die kommunalen Spitzenverbände vertreten sind. Diese Kommission wird hoffentlich bis zum Frühjahr oder Frühsommer nächsten Jahres Vorschläge ({7}) für eine finanziell solide ausgestaltete Kommunalpolitik erarbeiten. Wir werden diese Vorschläge selbstverständlich gesetzgeberisch umsetzen. Dies ist gar keine Frage. Es sind bestimmte Vorgaben gemacht worden: Planbarkeit, das Band zwischen Kommunen und Betrieben stärken, eigene Hebesatzrechte und vieles mehr. Herr Pinkwart, auch Sie haben dies angesprochen. Ich gebe Ihnen hier auch völlig Recht. Über die Bedingungen sind wir uns einig, das ist überhaupt keine Frage. Wir müssen die Vorschläge nur umsetzen. Ich möchte nun mit einer Mär aufräumen. CDU/ CSU-Bürgermeister und -Landräte ziehen durch die Gegend und sagen: Durch die Entscheidungen des Bundes werden die Haushalte der Kommunen belastet. ({8}) Alle Maßnahmen, die aktuell durchgeführt werden, ob diese die Grundsicherung im Alter betreffen oder ob dies beispielsweise Maßnahmen im Rahmen des Einwanderungsgesetzes wie die Integration von ausländischen Kindern sind, werden in einem Fall nur vom Bund und in dem anderen Fall vom Bund und den Ländern finanziert. Es ist nicht Aufgabe des Bundes, dafür zu sorgen, dass das Geld, das wir in diesem Zusammenhang an die Länder geben - wir dürfen es aus verfassungsrechtlichen Gründen gar nicht an die Kommunen durchreichen -, auch zu den Kommunen gelangt, also von den Ländern den eigenen Kommunen zur Verfügung gestellt wird. ({9}) Dieses Geld wird von den Ländern in ihre eigenen Haushalte einverleibt, aber nicht an die Kommunen weitergegeben. ({10}) - Das ist das Thema „klebrige Finger“. Völlig richtig! Wenn wir - ich sage das hier ganz deutlich - neue Aufgaben vom Bund auf die Kommunen übertragen, geben wir ihnen auch die notwendigen Mittel an die Hand. ({11}) Sollten sich die Schätzungen als zu niedrig erweisen - oder als zu hoch, das kann ja auch einmal sein -, werden wir das zu korrigieren haben. Das ist doch überhaupt keine Frage. ({12}) Dann werden eben die Ausgaben vorgelegt und der Bund wird es entsprechend korrigieren. Das ist eine vernünftige Politik. Wir haben das Konnexitätsprinzip in unserem Koalitionsvertrag festgeschrieben. Ich bin gespannt darauf, wie sich beispielsweise der Freistaat Bayern in diesen Tagen gegenüber seinen Kommunen zur Frage des Konnexitätsprinzips äußern wird. Wenn man ehrlich ist, müsste man das Prinzip auch auf der Länderebene anwenden und nicht immer nur mit dem Finger auf die Bundesregierung zeigen und sich selbst aus der Verantwortung stehlen. Danke schön. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Bundesregierung erteile ich nun der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Dr. Hendricks das Wort.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Den Antrag, den die CDU/CSU heute hier vorlegt, kann man wirklich als einen typischen Schaufensterantrag bezeichnen. ({0}) Ich will die Geschichte dieses Antrages kurz erläutern. Die Daten sind jetzt gar nicht mehr so relevant. Der erste Aufschlag war: Der Freistaat Bayern stellte ebendiesen Antrag im Bundesrat und unterlag damit. Er bekam also keine Mehrheit. Der zweite Aufschlag - und damit kommen wir zu dem, was Sie, Herr Kollege Pinkwart, eben gesagt haben -: Die bayerischen Sozialdemokraten machten sich das im Landtag zu Bayern zu Eigen und beantragten ebendieses bei der Bayerischen Staatsregierung für die bayerischen Kommunen, denn, wie ja gerade die Kollegin Scheel zu Recht gesagt hat, die Gewerbesteuerumlage geht zu zwei Dritteln zugunsten der Länder und nur zu einem Drittel zugunsten des Bundes. Der Freistaat Bayern, der gerade im Bundesrat unterlegen war, war also nicht in der Lage, zugunsten seiner Kommunen auf diese zwei Drittel zu verzichten. Das hat er bis heute nicht getan. Das war der zweite Schritt des Schaufensterantrages. Jetzt kommt der dritte Schritt, noch einmal im Bundesrat. Dieses Mal gab es eine Mehrheit für die Überweisung des Antrages in die Ausschüsse und da schmort er zurzeit. Der vierte Schritt: Die Union macht das hier. Es ist also ein Antrag ohne Substanz, ({1}) der den Kommunen in keiner Weise nützt ({2}) und der in diesen vier Schritten schon die beiden Kammern auf der Bundesebene und den Landtag von Bayern beschäftigt hat, ohne dass irgendetwas zugunsten der Kommunen dabei herausgekommen wäre oder auch nur herauskommen könnte. Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kommunen, denen es am allerschlechtesten geht, die gar keine Gewerbesteuer mehr einnehmen, profitieren natürlich auch nicht von einer Absenkung der Gewerbesteuerumlage, ({3}) weil sie die ja auch nicht abführen müssen. ({4}) Würden Sie sich mit Ihrem Antrag durchsetzen, dann würde innerhalb der kommunalen Familie denjenigen, denen es verhältnismäßig gut geht, darüber hinaus geholfen werden und denjenigen, denen es ganz schlecht geht, würde gar nicht geholfen werden, sodass sich der relative Abstand zwischen denen, denen es einigermaßen gut geht, und denen, denen es ganz schlecht geht, noch erhöhen würde. Das wäre Folge dieses Antrags - und dass Bund und Länder auf Einnahmen verzichten müssten, wovon zwei Drittel zulasten der Länder gingen. Dasselbe ist natürlich auch aus Ihrem Vortrag zu entnehmen, Herr Kollege Pinkwart. Sie haben ja für die Zukunft der Gewerbesteuer das Modell vorgeschlagen, das auch vom Bundesverband der Deutschen Industrie und vom Verband der Chemischen Industrie vorgeschlagen wird. ({5}) Natürlich kann man sagen, das sei ein Vereinfachungspunkt. Natürlich kann man sagen, dann gebe es keine Gewerbesteuer mehr und jede Steuer weniger sei besser. Selbstverständlich stimmt das rein unter diesem Gesichtspunkt. Wenn man eine Steuer überhaupt nicht mehr verwalten muss, ist das natürlich eine Erleichterung. Das ist nicht zu bestreiten. Aber die Verwirklichung dieses Vorschlags, den Sie sich gerade zu Eigen gemacht haben, ({6}) selbstverständlich bei gleichzeitiger Absenkung der Einkommen- und Körperschaftsteuer, wäre gar nicht möglich. Hintergrund dieses Vorschlags ist Folgendes: Die bis jetzt gewerbesteuerpflichtige Wirtschaft, namentlich die größeren Unternehmen, würden sich zulasten aller Einkommensteuerzahler, also auch aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aller Freiberufler, aller Selbstständigen und natürlich auch zulasten des Mittelstandes, eben nur zulasten derjenigen, die bisher nicht gewerbesteuerpflichtig sind, entlasten. Sie sagen, das solle durch eine Senkung von Körperschaftsteuer und Einkommensteuer aufgefangen werden, damit die Menschen nicht überbelastet sind. Ein löblicher Ansatz! Nur, wer um Himmels willen soll denn bei dieser riesigen Umverteilung - die Belastung liegt ja momentan bei der Großindustrie; dann würde sie bei den Arbeitnehmern liegen - auf seine Anteile an den Einnahmen aus der Körperschaftsteuer und der Einkommensteuer verzichten? Sagen Sie mir bitte, wer das sein soll! Das können nach Lage der Dinge wieder nur die Länder und der Bund sein. Damit wäre auf Dauer die Belastung von einer Gruppe auf eine völlig andere gewechselt. Das sollte man wissen, bevor man solche Vorschläge vorträgt. Natürlich sind die Interessen des BDI und des VCI legitim. Aber man muss zumindest in der Lage sein, deren Interessen aufzudecken. Das habe ich hiermit getan. Das wird sicherlich in Zukunft noch häufiger notwendig sein. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pinkwart?

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Ja.

Andreas Pinkwart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Staatssekretärin, ich möchte Sie fragen, ob man das rein fiskalisch betrachten muss oder ob man das nicht auch wirtschaftspolitisch betrachten darf. Steuersenkungen zugunsten der Wirtschaft - diese schieben Sie ja hinaus - könnten ja die Konjunktur beleben und damit mehr Beschäftigung schaffen, was wiederum weniger Ausgaben für die staatlichen Sicherungssysteme, höhere Steuereinnahmen und mehr Sozialbeiträge bedeutet. Kann dadurch unter dem Strich nicht mehr bewirkt werden als durch das von Ihnen vorgeschlagene Modell? ({0})

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten ist das, rein theoretisch betrachtet, nicht von der Hand zu weisen. Aber noch vor wenigen Monaten, also bis zum Ende des Wahlkampfes, wurde uns zum Beispiel vom Kandidaten Stoiber ja vorgehalten, wir beteiligten die deutsche Großindustrie überhaupt nicht mehr am Steuerzahlen. Was hat denn die deutsche Großindustrie in der Zwischenzeit getan? Hat sie jetzt Arbeitsplätze geschaffen und mehr investiert oder hat sie keine Steuern gezahlt und trotzdem keine Arbeitsplätze geschaffen und keine Investitionen getätigt? Dieses Beispiel, das nur wenige Monate alt ist, müsste uns zu denken geben. ({0}) Was kann man also zugunsten der Kommunen wirklich tun? Selbstverständlich kommt es darauf an, die kommunalen Finanzen auf sichere Füße zu stellen. Ich darf daran erinnern, dass die letzte Gemeindefinanzreform in unserem Land noch in der alten Bundesrepublik Deutschland - unser Land hat sich ja Gott sei Dank verändert - im Jahre 1970 durchgeführt wurde. Man merke sich dieses Datum! Zwischen damals und heute lagen die 80er- und die 90er-Jahre mit der Wiedervereinigung, in denen nichts geschah. Die jetzige Bundesregierung hat im März dieses Jahres - zugegeben, später als gewollt; das lag daran, weil uns die Bayerische Staatsregierung und die Regierungen der übrigen Südländer mit einer Klage gegen den bundesstaatlichen Finanzausgleich vor dem Bundesverfassungsgericht rein zeitlich dazwischengekommen sind - die Vorarbeiten für eine Gemeindefinanzreform begonnen. Die Gemeindefinanzreformkommission tagt. Sie ist breit angelegt. Ihr gehören nicht nur Vertreter des Bundes, sondern in Absprache mit den Ländern auch Landesminister, also Landesfinanzminister, Landeswirtschaftsminister, Landesarbeitsminister, Landesinnenminister, und selbstverständlich auch Vertreter der Wirtschaft und der kommunalen Spitzenverbände an. Diese Kommission wird spätestens am Ende des ersten Halbjahres des nächsten Jahres, also gegen Ende Juni 2003, Vorschläge vorlegen. Ich bin zuversichtlich, dass diese Kommission einvernehmliche Vorschläge vorlegen wird. Wenn dies nicht geschehen sollte, sind wir natürlich nicht reformfähig. Wenn wir eine vernünftige Gemeindefinanzreform tatsächlich auf den Weg bringen wollen, werden wir sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat verfassungsändernde Mehrheiten brauchen. Wir werden also darauf angewiesen sein, dass die verantwortlichen Politiker in Bund und Ländern an diesem Projekt gemeinsam arbeiten. Deshalb haben wir von Anfang an diese Kommission - das sieht man auch an ihrer Zusammensetzung auf Konsens angelegt. Jeder kann sich zwar wünschen, was er will. Aber wir werden verfassungsändernde Mehrheiten in beiden Häusern brauchen. Deswegen müssen wir uns im Laufe des nächsten halben Jahres annähern. Übrigens, auf der Fachebene ist das kein Problem. Ich leite in dieser Kommission die Arbeitsgruppe zu den kommunalen Steuern. Hier gibt es bisher keine großen Probleme etwa zwischen den A-Ländern und den B-Ländern, wie man sie von der Bundesebene her kennt. Ich glaube, wir können es schaffen, den benötigten Konsens zu erzielen. Wir werden den Kommunen zu Beginn des Jahres 2004 eine verlässlichere Besteuerungsgrundlage anbieten können, wenn wir es gemeinsam anpacken. In den 80erund 90er-Jahren sind in dieser Hinsicht Versäumnisse entstanden, die wir nur gemeinsam aufholen können. Ich hoffe, dass auch Sie uns die Hand dazu reichen werden. Herzlichen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Georg Fahrenschon, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Georg Fahrenschon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Frau Staatssekretärin! Ich hätte nicht gedacht, dass wir heute über Verfahrensspielereien diskutieren - das ist mein Eindruck -, sondern hätte eigentlich erwartet, dass Sie am Tag nach der Übergabe der Steuerschätzung diesen Antrag mit einem großen Strauß von Argumenten fachlich und sachlich entkräften. ({0}) Dazu haben Sie aber nichts gesagt. Sie haben zur Frage der aktuellen finanziellen Lage der Kommunen kein einziges Wort verloren, sondern sind nur auf Verfahrensspielereien eingegangen. Diese interessieren uns heute nicht. ({1}) Es geht heute um einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion, der sich mit der aktuellen Notlage der Kommunen in Deutschland beschäftigt und nicht damit, wer wann wo welchen Antrag gestellt hat. Es ist richtig, heute über ihn zu sprechen; denn die Lage der Kommunen war noch nie so dramatisch. Das haben wir gestern schriftlich bekommen. ({2}) Mich wundert, angesichts der anfänglich guten Zusammenarbeit im Finanzausschuss, die ich als Neuling konstatieren darf, dass die Vorsitzende des Finanzausschusses nach ihrem Beitrag den Saal schon wieder verlassen hat. Sie zeigt damit, dass sie sich der Diskussion nicht wirklich stellt. ({3}) Ich komme auf einen wesentlichen Punkt in unserem Antrag zu sprechen. Die Aussage, die Spitzenverbände hätten die damalige Steueränderung uneingeschränkt unterstützt, ist falsch. Die deutschen Spitzenverbände haben gerade die Gewerbesteuerumlageerhöhung ganz explizit abgelehnt. Deshalb darf man hier nicht den Eindruck erwecken, sie wären mit fliegenden Fahnen für diese Gesetzesänderung gewesen, sondern an dem Punkt, um den es im Antrag der CDU/CSU geht, haben sie Ihre Politik mit deutlichen Worten abgelehnt. ({4}) - Dann lesen Sie die Unterlagen des Deutschen Städtetages. ({5}) Da finden Sie es in der Dokumentation zu der Änderung im Jahr 2000 schon im Vorwort. Darüber hinaus können Sie auch in den Protokollen des Finanzausschusses nachlesen; denn der Finanzausschuss hat eine Überprüfung protokollarisch festgehalten. Das Problem der Kompensation, die in dieser Gewerbesteuerumlageerhöhung steckt, wurde also schon im Finanzausschuss der 14. Wahlperiode diskutiert. Man hat damals gesagt - Sie nicken -, man müsse sich erst die Zahlen anschauen, um über eine Kompensation nachzudenken. ({6}) Man muss sich mit dieser Frage also sehr wohl beschäftigen. Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion ist der Auftakt für diese Auseinandersetzung. ({7}) Meine Damen und Herren, in der Vorbereitung auf diese Rede habe ich mich in der kommunalen Landschaft umgeschaut und bin auf Harald Schröder gestoßen. Keine Angst, es handelt sich nicht um einen verschollenen Bruder oder einen neuen Cousin des Bundeskanzlers, nein, Harald Schröder teilt mit dem Bundeskanzler nur seinen Familiennamen und trägt dasselbe Parteibuch. Er ist Bürgermeister der Gemeinde Elsdorf im Erftkreis, einer Gemeinde mit 21 500 Einwohnern und einem Gewerbesteueraufkommen von rund 7 Millionen Euro im Jahr 2000. Dank der Politik seines Parteifreundes teilt Herr Schröder jetzt nicht nur den Nachnamen mit dem Kanzler, sondern auch die Sorgen; denn das Aufkommen aus der Gewerbesteuer ist von 7 Millionen Euro im Jahr 2000 auf nur noch 600 000 Euro zusammengeschmolzen. Das Problem muss man vor Augen haben, wenn man sich den Antrag der CDU/CSU-Fraktion anschaut. ({8}) Der jährliche Ausfall bei dieser Gemeinde mit 21 500 Einwohnern schlägt also mit 6,4 Millionen Euro zu Buche. Es erschrecken aber nicht nur die nackten Zahlen, sondern auch die konkreten Beispiele. Die Gemeinde Elsdorf hat vor wenigen Monaten, finanziert aus Spenden der Bürgerschaft, eine neue Jugendeinrichtung eingeweiht. Allerdings können die jungen Männer und Frauen diese Jugendeinrichtung in den Wintermonaten höchstwahrscheinlich nicht nutzen, da der Zuschuss der Gemeinde zu den Heizkosten dieser Jugendeinrichtung gestrichen wurde, weil kein Geld mehr da ist. Sie muss zumachen; ab November ist sie geschlossen. Die Jugendeinrichtung - das tolle Projekt - in der Gemeinde Elsdorf ist aufgrund Ihrer verfehlten Finanzpolitik in den Wintermonaten geschlossen. ({9}) Wenn Ihnen das Beispiel nicht genügt, nenne ich Ihnen ein weiteres: Der Finanzdezernent der Stadt Saarbrücken - Sie dürften die politischen Verhältnisse in der saarländischen Landeshauptstadt besser kennen als ich -, Frank Oran, hat seine Einbringungsrede zum Haushalt 2002 unter das Motto „Appell an die Vernunft“ gestellt. Im Zentrum seines Appells steht zur Überraschung des Betrachters aber nicht der Stadtrat von Saarbrücken, sondern die Bundesregierung. ({10}) Unter der Überschrift „Appell an die Vernunft“ schreibt er der Bundesregierung ins Stammbuch: Der Einbruch bei der Gewerbesteuer wird uns laut unserer aktuellen Finanzplanung bis 2004 rund 107 Millionen Euro kosten. Das ist ein Betrag, den wir nicht alleine durch Sparen an Papier oder Telefonkosten wieder reinholen können. Herr Oran fährt fort: Ich frage mich, ob die Damen und Herren, die am Steuersenkungsgesetz gearbeitet haben, sich dieser Konsequenz bewusst waren. Das ist die einzig richtige Frage, die ein Finanzdezernent heutzutage stellen kann. Um diesen Punkt geht es in der Debatte heute Abend. Erstens geht es darum, welcher Fehler der Regierung im Jahr 2000 beim Steuersenkungsgesetz unterlaufen ist, und zweitens, was zu tun ist, um diesen Fehler schnellstmöglich zu beheben. Geschäftsgrundlage der Beteiligung der Städte und Gemeinden an der Finanzierung der rot-grünen Steuerreform vom 23. Oktober 2000 war, dass sich die Finanzpositionen der Gemeinden im Vergleich zu denen des Bundes und der Länder nicht verschlechtern sollten. Das war das erklärte Ziel dieser Reform. ({11}) Vor diesem Hintergrund schrieb Rot-Grün eine stufenweise Erhöhung der Gewerbesteuer fest. Die Gegenfinanzierung wurde mit blumigen Prognosen schöngerechnet. Ich nenne nur ein Beispiel: Die Prognose einer jährlichen gesamtwirtschaftlichen Investitionszuwachsrate von 5 Prozent war zentraler Punkt der Gegenfinanzierung. Diese gesamtwirtschaftliche Investitionszuwachsrate von 5 Prozent wurde in keinem einzigen Jahr erreicht. Die gesamte Gegenfinanzierung ist Lug und Trug. Deshalb haben die Kommunen jetzt das Problem mit ihren Haushaltszahlen. ({12}) Meine Damen und Herren, es überrascht uns nicht. Den Kommunen geht es wie vielen Bürgerinnen und Bürgern. Mit den Versprechen, die Rot-Grün damals verkündet hat, geht es ihnen so wie mit den Versprechen von Gerhard Schröder im Bundestag: Heute versprochen und schon morgen gebrochen. ({13}) An dieser Stelle will ich nicht vertiefen, dass es auch sachliche, fachliche und grundsätzliche Fehler bei der Gegenfinanzierung gibt. Ich nenne ein Beispiel: Bei der Gegenfinanzierung gibt es eine vollkommen überproportionale Belastung der Kommunen. Im Gegensatz zum Steueraufkommen der Städte und Gemeinden, das im Jahr 2001 um circa 5,5 Prozent gesunken ist, haben sich die Einnahmen des Bundes um lediglich 2,5 Prozent reduziert. Das ist eine klare Schieflage zulasten der Kommunen. Wenn Sie sich die Struktur, die Sie gewählt haben, anschauen, erkennen Sie, dass die Ursache auf der Hand liegt: Rot-Grün ist es im damaligen Verfahren gelungen, die Entlastungen der Steuerpflichtigen vornehmlich auf dem Rücken der Gemeinschaftssteuern zu gewähren. Gleichzeitig wurden die reinen Bundessteuern - namentlich die Mineralölsteuer und die so genannte Ökosteuer erhöht. Deshalb ist es kein Wunder, dass die Ausfälle zulasten der Kommunen und nicht zulasten des Bundes gehen. Er hat seine Bundessteuern nämlich im Trockenen. Sie haben einen zweiten wesentlichen Fehler gemacht; denn Sie haben in der Systematik etwas geändert. Sie haben den Interessenzusammenhang zwischen der Wirtschaft und der Standortgemeinde entscheidend geschwächt. Wenn Sie diesen Weg weitergehen, laufen Sie Gefahr, dass die örtliche Wirtschaft von der Lokal- und Kommunalpolitik nicht mehr gebraucht wird, weil diese nichts mehr davon hat, dass sich erfolgreiche Unternehmen in einem Gewerbe- und Industriegebiet neu ansiedeln. ({14}) Meine Damen und Herren, wenn Sie sich mit diesen Strukturdefiziten auseinander setzen, werden Sie erkennen: Wer ein Interesse an einer gesunden Mischung von Wohnen und Arbeiten am Platz hat, wer ein Interesse an kurzen Wegen zwischen den Wohnstätten und dem Arbeitsplatz hat und wer ein Interesse an flexiblen Konzeptionen - gemeinsam mit den örtlichen Betrieben - zur Betreuung von Kindern hat, muss dieses Gesetz wieder ändern. Durch dieses Gesetz geht die Schere nämlich ganz eindeutig auseinander, sodass die Kommune kein Interesse mehr daran hat, Wirtschaftsunternehmen vor Ort anzusiedeln. Sie kann nicht mehr davon profitieren und wird sich für eine Villengegend bzw. eine ruhige Gegend entschließen; denn Standorte für neue Betriebe werden nicht mehr belohnt. ({15}) Angesichts der aktuellen Haushaltslage klingt es auch zynisch, wenn das Bundesfinanzministerium in seinem Monatsbericht von Mai 2002 wie folgt auf die Handhabung von Kassen- und Kassenverstärkungskrediten hinweist: Bei zahlreichen Kommunen scheinen sich die Kassenkredite aber mehr und mehr zu einem dauerhaften Finanzierungsinstrument der laufenden Ausgaben im Verwaltungshaushalt zu entwickeln. Hierin dürfte sich auch die prekäre finanzielle Situation zahlreicher Städte und Gemeinden widerspiegeln. Es ist in hohem Maße zynisch, wenn das Finanzministerium den Kommunen vorwirft, sie spielten mit Kassenund Kassenverstärkungskrediten. Sie sind nämlich gar nicht mehr in der Lage, anders zu reagieren. Ich kann mit meinem Heimatlandkreis München, der der an Umlagekraft stärkste Landkreis in Bayern ist, ein Beispiel nennen, das die gesamte Dramatik darstellt: Der Landkreis München musste am Montag einen Nachtragshaushalt beschließen, um die Kassenkredite um 20 Millionen Euro zu erhöhen, und zwar allein deswegen, damit der Landkreis das Weihnachtsgeld auszahlen kann. Die Gründe dafür sind Nachforderungen gegenüber Sozialleistungsträgern aufgrund von Budgetvereinbarungen im Jahr 2002 und verzögerte Auszahlungen von Fördermitteln des Bundes und des Landes. Wenn Sie uns schon nicht glauben dürfen oder wollen, dann darf ich noch einen Kronzeugen anführen. Am 15. Oktober, also vor knapp einem Monat, trafen sich erstmals in der Geschichte Münchens alle Arbeiter und Angestellten der Stadt. 15 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter trafen sich unter dem Motto „München ist pleite“. ({16}) Ich darf den Oberbürgermeister, Christian Ude, der schließlich das Aushängeschild der bayerischen SPD ist, zitieren: ({17}) Bei der Gewerbesteuer haben wir dramatische Einbrüche zu verzeichnen. Wir müssen sogar Rückzahlungen in bisher unvorstellbarem Ausmaß leisten. Jetzt kommt es: Das hat mit Fehlern der Steuergesetzgebung in Berlin zu tun. Wo der Mann Recht hat, hat er Recht! ({18}) Deshalb will ich Ihnen zum Schluss meines Beitrags die Resolution der 15 000 Beschäftigten der Stadt München nicht vorenthalten. ({19}) Der erste von insgesamt vier Punkten, die sich an die Bundesregierung richten, lautet: Die ab 1. Januar 2001 von 20 auf 30 Prozent erhöhte Abschöpfung der Gewerbesteuereinnahmen ist sofort zurückzunehmen. Dem ist nichts hinzuzufügen. ({20})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Plenum des Bundestags. ({0}) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernd Scheelen, SPD.

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Fahrenschon, wir sind uns sicherlich darin einig, dass die Lage in vielen Kommunen durchaus ernst ist. Aber Ihr Antrag hilft den Kommunen in keiner Weise, ({0}) schon gar nicht dem von Ihnen hier zitierten Bürgermeister von Elsdorf, Harald Schröder. Denn wenn Sie vortragen, dass die Gewerbesteuereinnahmen in Elsdorf von 7 Millionen Euro auf 600 000 Euro abgestürzt sind, dann können Sie sich nach Ihrer Systematik leicht ausrechnen, dass die Gemeinde fast nichts zurückbekäme, wenn Ihr Antrag beschlossen würde. Das würde ihr nicht helfen. Das Einzige, was ihr wirklich hilft, ist eine grundlegende Gemeindefinanzreform, und die führen wir durch. ({1}) Lassen Sie mich etwas zu dem Verhalten der kommunalen Spitzenverbände im Zusammenhang mit der Beratung der Unternehmensteuerreform anmerken. Sie haben behauptet, die Spitzenverbände hätten der Erhöhung der Gewerbesteuerumlage nicht zugestimmt. Das ist so nicht richtig. Ich war an den Gesprächen beteiligt. Die kommunalen Spitzenverbände haben akzeptiert, dass die Gewerbesteuerumlage ein Ausgleichsmechanismus ist, um zwischen verschiedenen Steuerarten und den verschiedenen staatlichen Ebenen einen Ausgleich herzustellen. Sie haben sich dafür eingesetzt, dass die vorgesehene Erhöhung bis zum Jahr 2004 befristet wird. Unter dieser Voraussetzung waren sie einverstanden. Deswegen haben wir in den Gesetzestext hineingeschrieben, im Jahr 2004 eine Revision vorzunehmen, um im Lichte dessen, was die Unternehmensteuerreform bewirkt hat, zu sehen, ob die Prognose richtig war oder ob man steuernd eingreifen muss. Aber jetzt haben wir erst das Jahr 2002, nicht 2004. Erst im Jahr 2004 werden wir in diesem Bereich aktiv werden. Zum Kollegen Pinkwart. Sie plädieren für die Abschaffung der Gewerbesteuer. Deswegen ist die FDP möglicherweise von vielen Kommunalpolitikern nicht gewählt worden. Diese wissen genau, wen sie wählen müssen. Sie erkennen nämlich, dass SPD und Grüne für sie etwas tun, nicht andere. ({2}) Sie verkaufen das unter dem Stichwort Vereinfachung, die Sie für Bürger und Unternehmen fordern. Es ist eine tolle Vereinfachung, die Unternehmen keine Steuern mehr bezahlen zu lassen und die Belastungen auf die Bürger zu verlagern. Das ist sehr einfach, aber diese Politik machen wir nicht mit. Bei der Ich-AG liegen die Freibeträge oberhalb dessen, was als Einkommen vorgesehen ist. Deswegen gibt es im Zusammenhang mit der Ich-AG keine Probleme mit der Gewerbesteuer. ({3}) Der Kollege Götz hat hier sehr starke Worte gebraucht. Unter anderem hat er uns vorgeworfen, wir würden immer neue Aufgaben auf die Kommunen verlagern, aber kein Geld bereitstellen. Das, Herr Kollege Götz, haben Sie jahrelang, sogar jahrzehntelang gemacht. Ich weiß gar nicht, mit welcher moralischen Berechtigung Sie solche Vorwürfe erheben. Sie haben während der 16 Jahre von Helmut Kohl einiges mitzuverantworten. Wir zum Beispiel haben bei den Themen Grundsicherung, Ganztagsbetreuung und Krippe das Geld gegen Ihren erbitterten Widerstand gleich mitgeliefert. Wir haben uns in der letzten Legislaturperiode über die Grundsicherung unterhalten und sie beschlossen. Sie wissen, dass der Bund den Kommunen über die Länder dafür pro Jahr 409 Millionen Euro zur Verfügung stellt. Nach zwei Jahren werden wir überprüfen, ob das Geld reicht. Wenn es nicht reicht, wird der Bund seinen Verpflichtungen nachkommen und entsprechend mehr zahlen. Wenn es aber zu viel ist, wird sich der Bund vorbehalten, demnächst weniger zu zahlen. Das ist gelebte Konnexität. Das ist die Politik dieser Regierung. ({4}) Dasselbe gilt für den zweiten Punkt, die Ganztagsbetreuung. Wir sehen für die kommende Legislaturperiode vor, den Ländern jedes Jahr 1 Milliarde Euro zur Verfügung zu stellen, um 10 000 neue Plätze in Ganztagsschulen bereitzustellen. Der dritte Punkt: Wir stellen 1,5 Milliarden Euro für die Krippenbetreuung bereit. Das steht in unserer Koalitionsvereinbarung. Wir wollen die Ersparnisse von mindestens 1,5 Milliarden Euro, die die Hartz-Pläne bei den Kommunen bewirken, den Gemeinden zur Verfügung stellen, damit sie eine Betreuung für Kinder unter drei Jahren organisieren können.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Götz?

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte, Herr Kollege.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Können Sie mir sagen, warum die Landräte gegen das Grundsicherungsgesetz, das Sie gerade so sehr loben, klagen?

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist relativ einfach. Wenn Sie sich einmal die Parteibücher dieser Landräte anschauen, dann stellen Sie fest, dass sie alle bei Ihnen organisiert sind. Ich kenne sie. Das war Bestandteil des Bundestagswahlkampfes und eine sehr billige Masche. Ich würde diesen Landräten und auch den Bürgermeistern empfehlen, sich mit dem Gesetz auseinander zu setzen; dann wüssten sie, dass auf sie keine Kosten zukommen. ({0}) Es gibt Anträge, die einfach nicht totzukriegen sind. Ihrer gehört dazu. Wir haben in diesem Jahr, wie ich glaube, zum dritten Mal die Gelegenheit, uns mit der Frage der Gewerbesteuerumlage auseinander zu setzen. Das erste Mal war am 25. Januar dieses Jahres, als die CDU/CSU die Debatte beantragt hatte. Das zweite Mal war am 21. März, als die PDS das Thema aufgewärmt hat. Jetzt kommt die CDU/CSU wieder damit an. Das Thema wird immer wieder dann auf die Tagesordnung gesetzt, wenn irgendwo Wahlen bevorstehen. Ich glaube, Ihr Antrag hängt in diesem Fall mit den Landtagswahlen zusammen, die in Hessen und in Niedersachsen vor der Tür stehen. Aus diesem Grunde wurde der Ladenhüter Gewerbesteuerumlage aus der Tasche geholt. Die Zielrichtung, die Sie damit verfolgen, ist klar. Sie wollen den Bürgern in den betroffenen Ländern weismachen: Wenn ein Schwimmbad geschlossen wird, dann ist das nicht unsere Schuld. Daran ist die Bundesregierung in Berlin schuld. Diese Strategie wird Ihnen nicht gelingen; denn der Rückgang der Gewerbesteuereinnahmen - so dramatisch er in der einen oder anderen Gemeinde auch ist - hat mit der Steuerreform dieser Bundesregierung nichts, aber auch rein gar nichts zu tun. ({1}) Wenn Sie dafür noch Bestätigungen brauchen: Sie können sich das jeden Tag von den kommunalen Spitzenverbänden bestätigen lassen. Die Spitzenverbände wissen, dass das mit der Steuerreform nichts zu tun hat. Sie wissen, dass die Rückgänge bei der Gewerbesteuer konjunkturbedingt sind. Sie wissen auch, dass das mit den Folgen Ihrer Steuerpolitik zusammenhängt. Denn Sie, meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, haben damals noch beschlossen, die konjunkturunabhängigen Bestandteile der Gewerbesteuer abzuschaffen. ({2}) Diese Teile sind weg. Was jetzt übrig ist, ist sozusagen eine reine Gewinnsteuer. Wenn die Konjunktur nicht gut läuft, wenn die Unternehmen keine Gewinne machen, dann zahlen sie überhaupt keine Gewerbesteuer mehr. Wenn sie geringe Gewinne machen, dann zahlen sie eben nur wenig Gewerbesteuer. ({3}) Erst jetzt wird also deutlich, wie konjunkturreagibel das ist, was Sie uns hinterlassen haben. ({4}) Wir werden das korrigieren; denn Kämmerer brauchen mehr Verlässlichkeit. Sie brauchen Stetigkeit in den Haushalten. Sie brauchen Planbarkeit für ihre Haushalte. Das werden wir gewährleisten. Der Deutsche Städtetag hat uns außergewöhnlich gelobt; das ist noch gar nicht so lange her. ({5}) Der Deutsche Städtetag sagt in der Überschrift einer Presseerklärung: „Städte sehen bei der Koalition gute Absichten zur Bekämpfung der kommunalen Finanzkrise“. ({6}) Sie ist von Hauptgeschäftsführer Dr. Stephan Articus und es geht um die Beurteilung der Koalitionsvereinbarung. Ausdrücklich hat er vier Punkte hervorgehoben. Er hat gesagt, es sei sehr zu begrüßen, dass die Koalition die Finanzkraft der Gemeinden stärken wolle; besonders zu begrüßen sei, dass von einer Gewerbesteuerreform gesprochen werde. Es geht also nicht um die Abschaffung der Gewerbesteuer, sondern um eine Reform der Gewerbesteuer. Damit beschäftigt sich die schon angesprochene Kommission. Das wird bis Ende nächsten Jahres zu einem guten Ergebnis geführt. Sehr positiv nennt er dann die Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe. Das ist etwas, was im Hartz-Konzept angedacht ist, aber eben auch in der Gemeindefinanzreformkommission bearbeitet wird. Das wird zum 1. Januar 2004 seine volle Wirkung entfalten und entsprechende Einsparungen in den kommunalen Haushalten zur Folge haben, die dann in Investitionen umgesetzt werden können. Er begrüßt des Weiteren, dass das Konnexitätsprinzip in der Koalitionsvereinbarung einen hohen Stellenwert hat, nämlich Konnexität im Rahmen des bundesstaatlichen Finanzausgleichs. Schließlich begrüßt der Städtetag ausdrücklich unser Vorhaben, die gewerbesteuerliche Organschaft abzuschaffen. Das ist ein Punkt, über den wir schon lange diskutiert haben und der auch in den kommunalen Spitzenverbänden lange diskutiert wurde. Es macht gerade aus heutiger Sicht Sinn, die Gewerbesteuer tatsächlich da anfallen zu lassen, wo Betriebe sind und wo Gewinne gemacht werden. Das ist für die Kommunen eine wichtige Entscheidung. Die Kommunen brauchen auch einen Anreiz - das ist vorhin schon einmal angesprochen worden -, sich weiterhin um die Ansiedlung von Gewerbebetrieben zu bemühen. ({7}) Besser ist eine Koalitionsvereinbarung von einem kommunalem Spitzenverband noch niemals beurteilt worden. Wir werden das, was wir vor der Wahl gesagt haben, nach der Wahl auch tun. Wir werden die Finanzkraft von Städten und Gemeinden stärken und auf eine breite und solide Basis stellen. Leider ist meine Redezeit schon zu Ende. Ich hätte Ihnen gern noch etwas über Hessen erzählt und über die Art und Weise, in der in Hessen, ähnlich wie in Bayern, die Kommunen ausgeplündert werden. ({8}) Als Letztes Folgendes: Sofern diese Debatte auf Phoenix übertragen wird, sitzen sicherlich alle CDU-Minister624 präsidenten mit hängender Zunge vor dem Apparat und hoffen, dass Ihr Gesetzentwurf keine Mehrheit bekommt; ({9}) denn sie wissen, dass ihre Haushalte dann noch verfassungswidriger werden, als sie es zurzeit schon sind. Vielen Dank. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/30 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander- weitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft - Drucksache 15/38 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Kultur und Medien b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den WIPO-Verträgen vom 20. Dezember 1996 über Urheberrecht sowie über Darbietungen und Tonträger - Drucksache 15/15 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Kultur und Medien Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Frau Bundesministerin der Justiz Brigitte Zypries.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Urheberrecht im digitalen Zeitalter mit seinen vielen neuen Medien braucht zeitgemäße Regeln. Dazu gehören der Rechtsschutz für Urheber sowie die Förderung der Kultur und Medienwirtschaft und ihrer Entwicklung. Die Bundesregierung legt Ihnen heute den Entwurf eines neuen Urheberrechts in der Informationsgesellschaft vor, der genau diese Ziele verfolgt. Wir setzen damit die EU-Richtlinie „Urheberrecht in der Informationsgesellschaft“ um. Sie legt das Fundament für die Gestaltung des europäischen Urheberrechts im Internetzeitalter. Zugleich konkretisiert sie die zentralen Bestimmungen der Verträge der Weltorganisation für geistiges Eigentum über das Urheberrecht und über Darbietungen und Tonträger. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist aber noch nichts Originelles, was Sie hier vortragen! Diese Verträge wollen wir zusammen mit den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union möglichst schnell ratifizieren; deshalb haben wir Ihnen auch den Entwurf eines Gesetzes vorgelegt, mit dem die Zustimmung zu diesen Verträgen geregelt wird. Bekanntlich muss diese Richtlinie bis zum Ende des Jahres umgesetzt werden; uns bleibt also nicht mehr viel Zeit. Mit diesem Umsetzungsgesetz wollen wir deshalb in einem ersten Schritt nur all das regeln, was uns die Richtlinie und die WIPO-Verträge zwingend vorschreiben. ({0}) In einem zweiten Schritt wollen wir mit einem weiteren Gesetz die Fragen regeln, die wir jetzt offen lassen, weil wir sie mit den Beteiligten ohne Zeitdruck ausführlich erörtern wollen. ({1}) Jeder Schritt erfordert eine sorgsame Abwägung der Interessen aller Beteiligten. Dass diese Interessen sehr divergent sind, muss ich Ihnen hier nicht sagen. Unser Entwurf eines neuen Urheberrechts in der Informationsgesellschaft berücksichtigt alle Seiten: sowohl die berechtigten Interessen der Urheber und der ausübenden Künstler als auch die der Kunden, der Industrie und des Handels, aber auch die von Wissenschaft und Unterricht. ({2}) - Ich werde jetzt gleich konkreter. Wir führen mit diesem Gesetz ein neues „Recht der öffentlichen Zugänglichmachung“ zugunsten der Urheber ein. ({3}) - Danke schön. - Damit stellen wir klar, dass zunächst einmal allein der Urheber bestimmt, ob und wie sein Werk, zum Beispiel im Internet, öffentlich gemacht wird. Das gleiche Recht bekommen natürlich auch die ausübenden Künstler für ihre Darbietungen. Der Entwurf erlaubt deshalb - quasi im Umkehrschluss - Urhebern oder den von ihnen beauftragten Verwertern, die Werke mit technischen Vorrichtungen zum Schutz vor Kopien zu versehen. Selbstverständlich dürfen Musikunternehmen kopiergeschützte CDs verkaufen. Allerdings müssen die CDs, die kopiergeschützt sind, entsprechend gekennzeichnet sein; denn wir müssen auch die Verbraucher schützen, die wissen wollen, was in der Packung ist. ({4}) Niemand soll die Katze im Sack kaufen müssen und dann erst zu Hause merken, dass er eine CD nicht kopieren kann. ({5}) Das neue Gesetz verbietet es, den Kopierschutz zu knacken, und bezieht auch die Herstellung und die Verbreitung der so genannten Hackersoftware in das Verbot ein. Wer gegen diese Verbote gewerblich verstößt, der muss mit Geldstrafen oder sogar mit Gefängnis rechnen. Allerdings betonen wir ausdrücklich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. ({6}) Das heißt in der konkreten Abwägung: Wenn sich zum Beispiel ein Schüler aus dem Internet Software herunterlädt, um einem Klassenkameraden ein Musikstück zu kopieren, dann bleibt dieser straffrei. Wir wollen nämlich nicht den Schulhof kriminalisieren, sondern wir zielen auf die gewerblichen Rechtsverletzer. ({7}) Im Einklang mit der Richtlinie und den Erfordernissen des digitalen Zeitalters bestimmen unsere Schrankenregelungen, in welchen Fällen Urheber es hinnehmen müssen, dass ihre Werke ohne ihre Zustimmung genutzt werden. So haben wir eine Regelung vorgesehen, wonach in den neuen Medien veröffentlichte Werke für den Unterricht an Schulen und Hochschulen sowie für die Forschung genutzt werden können. Damit entsprechen wir, so meinen wir wenigstens, den Bedürfnissen der Wissensgesellschaft und stärken die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Schulen und Hochschulen im internationalen Vergleich. ({8}) Zugleich stellen wir klar, dass auch die digitale Privatkopie zulässig ist. Es darf sich also jeder von seiner Lieblings-CD eine Kopie für seinen MP-3-Player im Auto brennen. ({9}) - Ja, natürlich. - Selbstverständlich bleibt es dabei, dass den Urhebern ein Ausgleich dafür zusteht, dass ihre Werke ohne ihre Einwilligung genutzt werden dürfen. Noch ist die Zeit nicht reif, unser System der pauschalen Vergütung, das durch die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs erhalten bleibt, durch ein System der Einzelabrechnung, der individuellen Lizenzierung, im digitalen Bereich abzulösen. Die Entwicklung technischer Schutzmechanismen ist weder abgeschlossen noch ausgereift. Unser Entwurf fördert aber die Entwicklung von einsatzfähigen Systemen der sicheren individuellen Abrechnung. Ich weiß natürlich, dass es einen großen Interessenverband gibt, der sehr großen Wert darauf legt, dass diese individuelle Abrechnung dann auch Bestandteil des nächsten Korbes wird. Wir werden das zu verhandeln haben und werden auch sehen müssen, wie weit die technische Entwicklung bis dahin gekommen ist. ({10}) Ich glaube, wir haben mit dieser Gesetzesinitiative einen ersten großen Schritt für ein faires Urheberrecht vorgelegt. Den weiteren Schritt im Laufe des nächsten Jahres wollen wir gemeinsam gehen. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günter Krings. ({0})

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Wenn wir uns heute eine halbe Stunde über Fragen des Urheberrechts unterhalten dürfen und wir diese Debatte von Tagesordnungspunkten zur Steuer- und Finanzpolitik sowie zu künftigen Auslandseinsätzen der Bundeswehr eingerahmt finden, könnte der Eindruck entstehen, dieses Hohe Haus halte eine Weile inne, um sich anschließend wieder den wirklichen Zukunftsthemen der deutschen Politik zuzuwenden. ({0}) Eine solche Einschätzung teile ich ausdrücklich nicht. Sie ginge auch an der wahren Bedeutung des Urheberrechts für unsere moderne Informationsgesellschaft und unsere Wirtschaft vorbei. ({1}) Fast 600 000 Menschen arbeiten in Deutschland in Kulturberufen. Zusammen erwirtschaften sie mehr als 8 Prozent unseres Bruttosozialproduktes; jeder zwölfte Euro wird in der deutschen Wirtschaft mit Produkten verdient, die unmittelbar auf den Schutz des Urheberrechts angewiesen sind. Dieser wichtige Zweig unserer Volkswirtschaft erwartet endlich klare rechtliche Regelungen zur digitalen Verbreitung von urheberrechtlich geschützten Werken. ({2}) Die neuen elektronischen Medien eröffnen eine Fülle neuer Verbreitungsmöglichkeiten, sie schaffen damit aber zugleich eine ebenso große Vielzahl an Gefahren des Missbrauchs und der Werkpiraterie. Dem gilt es Einhalt zu gebieten, denn Urheberschutz ist Eigentumsschutz und die Verletzung von Urheberrechten ist nichts anderes als Diebstahl geistigen Eigentums. ({3}) Vor wenigen Jahrhunderten glaubte man noch, diesen Fällen geistigen Diebstahls mit Verfluchungen beikommen zu können; so wünschte mancher Autor in seinem Vorwort denjenigen „Aussatz und Hölle“, die sein Werk unberechtigt kopierten. ({4}) Ich denke, inzwischen ist auch bei der amtierenden Bundesregierung die Erkenntnis gereift, dass vom modernen Rechtsstaat auf diesem Gebiet schon etwas mehr an Schutz und Rechtssicherheit erwartet werden kann. ({5}) Umso unverständlicher ist es für unsere Fraktion daher, dass es insgesamt sechs Jahre gebraucht hat, um einen Regierungsentwurf zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft in den Bundestag einzubringen. ({6}) Nach der Unterzeichnung der internationalen Verträge im Rahmen der Weltorganisation für geistiges Eigentum Ende 1996 - die Ministerin wies darauf hin - ließ man sich zunächst einmal vier Jahre auf europäischer Ebene Zeit, um auf dieser Basis eine Richtlinie der Europäischen Union zu erarbeiten. Anschließend ging dann ein weiteres Jahr ins Land, ehe man sich jetzt offenbar etwas verwundert die Augen reibt und feststellt, dass die Frist zur Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht am 22. Dezember dieses Jahres ausläuft. Erst unter dem Eindruck der drohenden Sanktionen aufgrund der Verletzung des EGVertrages wurde das Gesetzgebungsverfahren nunmehr auf den Weg gebracht. Angesichts dieses Schneckentempos dürfen wir uns nicht wundern, ({7}) dass uns in der Kultur- und Medienwirtschaft andere Länder nicht nur längst überholt haben, sondern uns sogar meilenweit voraus sind. ({8}) Diese Verzögerung ist aber zugleich auch die Folge falscher Prioritätensetzung auf dem Gebiet der Rechtspolitik. In der Zeit, in der sich die ausgeschiedene Justizministerin im vergangenen Jahr dringend um einen wirksamen Schutz urheberrechtlicher Werke vor Raubkopien hätte kümmern müssen, bastelte sie lieber an dem rechtlichen Monstrum einer angemessenen Vergütung für Urheber, das erst in letzter Minute entschärft werden konnte. So ist es offenbar bei dieser Bundesregierung: Die ideologischen Lieblingsthemen werden vorangetrieben, während die für den Kultur- und Wirtschaftsstandort Deutschland vordringlichen Aufgaben liegen bleiben. ({9}) Ich gestatte mir allerdings die Hoffnung, dass dies unter der neuen Ressortchefin im Justizministerium anders wird. ({10}) Nach so langer Zeit hätten wir und vor allem die Autoren, Künstler und Verleger erwarten können, dass uns ein umfassender und ausgewogener Gesetzentwurf vorgelegt wird. ({11}) Wer diese Erwartung hatte, sieht sich in vielen Punkten leider herb enttäuscht. Der Gesetzentwurf ist an vielen Stellen offensichtlich mit der berühmten rot-grünen heißen Nadel genäht. Einige Punkte fehlen und andere Teile sind wirklich noch sehr verbesserungsbedürftig. ({12}) Der Entwurf ist von schwer überbietbarer Naivität, etwa wenn man sich in § 53 der Neufassung damit begnügt, die altbekannten Regeln für die analoge Vervielfältigung, also zum Beispiel für die private Kopie eines Buches, eins zu eins auf die digitale Vervielfältigung zu übertragen. Wer schon einmal selbst eine Stunde an einem Kopierer zugebracht hat, um - im Rahmen des Erlaubten, versteht sich - ein Buch zu kopieren, ({13}) muss wissen, dass das mit einem etwas größeren Aufwand verbunden ist als das rasche Kopieren einer Datei auf einem Computer. Wenn das digitale Kopieren so viel leichter und schneller von der Hand geht, ist es nur logisch, dass man dann besondere Schutzvorkehrungen gegen solche Kopierarten vorsehen muss. ({14}) Private Raubkopien sorgen dafür, dass die Medienbranche Jahr für Jahr erhebliche Umsatzeinbußen zu verzeichnen hat. Die Film- und Kinowirtschaft klagt inzwischen gar darüber, dass Blockbuster-Filme bereits Monate vor ihrem Kinostart in Deutschland als Raubkopie im Internet die Runde machen. Die im Gesetzentwurf vorgeschlagene pauschale Gleichbehandlung von elektronischen und herkömmlich analogen Vervielfältigungen öffnet dem Missbrauch Tür und Tor. Bleibt die Bundesregierung hier bei ihrer Position, dann verfehlt sie im Übrigen auch einen ganz wesentlichen Zweck dieses Gesetzgebungsprojekts, nämlich die Umsetzung der gerade genannten EU-Richtlinie 2001/29. Hier heißt es im 38. Erwägungsgrund, dass „den Unterschieden zwischen digitaler und analoger privater Vervielfältigung gebührend Rechnung“ zu tragen ist. ({15}) Es lohnt sich, auch einmal das Kleingedruckte einer europäischen Richtlinie zu lesen. ({16}) Wir als Unionsfraktion verstehen jedenfalls die Fachverbände, die sich dagegen wehren, dass ein Rechtsregime, das dem Zeitalter des Papierkopierers entstammt, nun ohne weiteres auf den CD-Brenner übertragen werden soll. Hier muss dringend nachgebessert werden. ({17}) Zustimmung verdient der Gesetzentwurf, soweit er den besonderen Gefahren der Werkpiraterie im digitalen Bereich das strafbewehrte Verbot der Umgehung von Schutztechnologien gegenüberstellt. ({18}) Der massenhafte Diebstahl von geistigem Eigentum wird heute durch die flächendeckende Verbreitung von Umgehungstechnologien erleichtert, die dem Verbraucher Werkzeuge an die Hand geben, um kopiergeschützte Werke zu knacken. Diese Instrumente finden sich inzwischen auf den Seiten bekannter Internetprovider ebenso wie in den Regalen großer Supermarktketten. Das Unrechtsbewusstsein tendiert hier offenbar gegen null. ({19}) Geistiges Eigentum hat Anspruch auf den gleichen Schutz wie Sacheigentum. Es macht eben keinen Unterschied, ob Werkzeugsätze zum Aufbrechen von Wohnungs- oder Autotüren angeboten werden oder solche zum Aufbrechen eines digitalen Kopierschutzes. ({20}) Das europäische Recht lässt dem deutschen Gesetzgeber ausreichend Raum, um effektive Mechanismen zum Schutz des geistigen Eigentums einzuführen. Es steht in unserer Verantwortung, diesen zu nutzen. Es reicht nicht aus, nur Verbots- und Straftatbestände ins Gesetz zu schreiben; ({21}) denn wir können und wollen nun einmal nicht hinter jedem Computerarbeitsplatz einen Staatsanwalt postieren. ({22}) Die Zukunft des Urheberschutzes gehört daher dem digitalen Rechtemanagement als einer neuen, intelligenten Schutzstrategie. Frau Ministerin, Sie haben sich verbal dazu bekannt. Allerdings trifft der Gesetzentwurf zu diesem modernen Schutzkonzept keine konkreten Regelungen. Im Gegenteil: Durch den Anspruch auf Aufhebung von Schutzmechanismen, unter anderem für private Kopierzwecke, erwächst in § 95 b - es lohnt sich, auch diesen einmal zu lesen - der Eindruck, dass der Rechteinhaber für den Einsatz von Schutzmechanismen nachgerade bestraft werden soll. Kommt er diesem Aufhebungsanspruch nämlich nicht nach, muss er, der doch nur sein Urheberrecht, also sein Eigentum schützen will, mit einem saftigen Bußgeld rechnen, dessen Obergrenze pikanterweise doppelt so hoch liegt wie die Buße, die demjenigen droht, der einen solchen Schutzmechanismus knackt, dem Cracker oder Hacker also. ({23}) Der Schutzgedanke des Urheberrechts wird hier auf den Kopf gestellt. ({24}) An anderer Stelle werden Regelungen in den Gesetzentwurf hineingemogelt - in ihm soll doch eigentlich nur Drängendes geregelt werden -, die nun wirklich nichts mit der Umsetzung der EU-Richtlinie zu tun haben. Das gilt etwa für den neu eingefügten § 5 Abs. 3, der immerhin mit einer gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, inzwischen vom Bundesverfassungsgericht bestätigt, bricht. Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt, dass die Gesetzgebungsmaschinerie in Sachen eines verbesserten Urheberrechtsschutzes in der modernen Informationsgesellschaft nun endlich in Schwung gekommen ist. ({25}) Ideen und menschliches Wissen sind die wichtigsten Rohstoffe des 21. Jahrhunderts. Das Urheberrechtsgesetz wird daher zu dem zentralen Marktordnungsrecht des digitalen Zeitalters. ({26}) Genau deshalb werden wir es nicht zulassen, dass dieses wichtige Gesetz jetzt im Schweinsgalopp durch das parlamentarische Beratungsverfahren getrieben wird. Die CDU/CSU-Fraktion will die Anhörung von Sachverständigen im Gesetzgebungsverfahren, damit am Ende ein Gesetz steht, das den berechtigten Anliegen von Urhebern und der Medienwirtschaft auf der einen Seite und den Werknutzern auf der anderen Seite Rechnung trägt und sie zu einem gerechten Ausgleich bringt. ({27}) Immerhin geht es auch um die Sicherung von Tausenden von Arbeitsplätzen in Deutschland. Auf dem Weg zu diesem Ziel gibt es noch einiges zu tun. Die CDU/CSU-Fraktion bietet ihre Mithilfe an, um aus diesem spät und hastig zusammengezimmerten Entwurf ein gutes Gesetz zu machen. ({28}) Vielen Dank. ({29})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen im Namen des Hauses dazu. ({0}) Es ist vorbildlich, dass Sie Ihre Redezeit nicht überschritten haben. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Grietje Bettin. ({1})

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle, jedenfalls die, die die neuen Medien nutzen, merken es in unserer tagtäglichen Arbeit: Das Medium Internet bietet uns eine riesige globale Wissensdatenbank, die weltweit ihresgleichen sucht. Zwar sind wir aufgrund infrastruktureller und politischer Probleme noch meilenweit von einer vernetzten Weltgesellschaft entfernt. Doch die Grundlagen, die noch der konkreten Ausgestaltung bedürfen - damit beschäftigen wir uns heute -, sind jetzt gelegt. Ein konkretes Beispiel für diese Ausgestaltung ist das Urheberrecht im Zeitalter der digitalen Vervielfältigungsmöglichkeiten, das wir heute diskutieren. Wem gehört das Wissen? Dies ist eine zentrale Frage des 21. Jahrhunderts. Dabei ist es aus unserer Sicht ganz besonders wichtig, dass wir die digitale Spaltung überwinden und unser Wissen auch in ärmere und strukturschwache Regionen übertragen. Andernfalls bleibt dieses Wissen im Besitz der Nationen, die sich moderne Netze und Computer leisten können. ({0}) Neben der Notwendigkeit des freien Zugangs zum Wissen steht genauso unmissverständlich fest: Urheberinnen und Urheber, Künstlerinnen und Künstler sowie Autorinnen und Autoren müssen im digitalen Zeitalter für ihre Arbeit entsprechend entlohnt werden. ({1}) Der heute zu debattierende Gesetzentwurf weist auf jeden Fall in die richtige Richtung. Er stellt einen Interessenausgleich zwischen allen vom Urheberrecht betroffenen Gruppen dar. Darüber hinaus müssen wir aber vonseiten der Politik auch dafür sorgen, dass das Wissen, das beispielsweise mit öffentlichen Mitteln generiert wird, auch der Öffentlichkeit breit zugänglich gemacht wird. Um nur ein kleines Beispiel zu nennen: Die Bibliotheken sind oftmals gezwungen, das mit öffentlichen Geldern produzierte Wissen mit Steuergeldern sozusagen zurückzukaufen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich wollen wir das Internet auch für neue Geschäftsmodelle nutzen. Doch das im Zusammenhang mit dem Urheberrecht viel diskutierte Digital Rights Management stellt aus Sicht der Grünen kein Allheilmittel dar. Wer sich heute ein Buch ausleiht oder ein paar Stellen daraus kopiert, muss dafür nicht erst den Urheber oder den Verlag um Erlaubnis bitten. Genauso wenig dürfen die Userinnen und User bestraft werden, wenn sie sich Texte oder Audiofiles auf den Rechner laden, ohne zu wissen, dass es sich dabei um geschütztes Material handelt. ({3}) Selbstverständlich ist uns klar, dass der individuelle kostenpflichtige Bezug von digitalen Gütern sicherlich ein Baustein zukünftiger Vergütungsregelungen sein wird. Aber die digitale Vielfalt, die wir alle anstreben, erfordert keine Patent- oder Pauschallösungen, geschweige denn blindes Vertrauen in zurzeit noch unsichere technische Lösungen. Im Übrigen können Gesetzgeber in die technischen Entwicklungen in diesem Bereich insgesamt nur begleitend oder moderierend eingreifen ({4}) und dort Vorschriften machen, wo urheberrechtlich geschütztes Material illegalerweise vertrieben wird. Doch gehört das Recht zum privaten Vervielfältigen natürlich grundsätzlich nur in begrenztem Umfang zu einem grundlegenden Verbraucherrecht, das per Urteil vom Bundesverfassungsgericht so festgeschrieben wurde. Aus unserer Sicht muss dies natürlich genauso wie für die analoge Welt auch für die digitale Welt gelten. ({5}) Denn die digitale Welt besteht ebenso wie die analoge aus vielen Akteuren - ich habe sie bereits erwähnt -: aus den Nutzerinnen und Nutzern, den Verwertern, den Urhebern und der Industrie. Sie alle haben sehr legitime Interessen. Diese müssen in der Informationsgesellschaft gewahrt bleiben. Dazu wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf unseren Beitrag leisten. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Funke.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Krings, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede und heiße Sie im kleinen Kreis der Parlamentarier, die sich mit dem Urheberrecht beschäftigen, herzlich willkommen. Frau Ministerin, wir haben Ihre Rede sehr wohlwollend entgegengenommen. ({0}) Sie haben immerhin erklärt, dass Sie den schlechten Gesetzentwurf, den Sie hier vorlegen, nachbessern wollen. ({1}) Diesen schlechten Gesetzentwurf haben nicht Sie zu verantworten. Er ist in der letzten Legislaturperiode von Ihrer Vorgängerin in den Bundesrat eingebracht worden. Der Bundesrat hat dazu ausführlich Stellung genommen - im Übrigen auch SPD-Länder -, indem gesagt wurde, dass in dieser Urheberrechtsnovelle keine klare Linie erkennbar ist. Lassen Sie uns in den nächsten Wochen und Monaten diesen Gesetzentwurf gründlich überarbeiten, damit die Bedürfnisse aller Beteiligten tatsächlich berücksichtigt werden, und kein Flickwerk machen! Wir sind dazu - auch in ausführlichen Berichterstattergesprächen - bereit. Darüber haben wir uns schon verständigt. Ich glaube, wir kommen da zu einem guten Ergebnis. Die Umsetzungsfristen im Hinblick auf die entsprechende Richtlinie sind sowieso schon abgelaufen. Jetzt kommt es auf die eine oder andere Woche nicht mehr an. Was die WIPO-Verträge angeht, muss ich Ihnen sagen: Wir sind ohnehin das letzte Land unter den Vertragsstaaten, die diese ratifizieren. ({2}) Das ist eine Schande; aber es ist nun einmal passiert. Jetzt können wir in Ruhe darüber beraten. Es geht um zukunftsweisende Regeln. Diese wollen wir im Interesse unserer Industrie umsetzen. ({3}) - Ich komme gleich dazu, Herr Tauss. - Es geht hier nicht um Peanuts, wie man heute sagen würde, sondern um Milliardenbeträge. ({4}) „Kleine Novelle zum Urheberrecht“ klingt ja recht hübsch. Aber tatsächlich geht es um starke wirtschaftliche Interessen, um Milliardenbeträge. Dazu muss ich sagen, dass Sie bislang im Rahmen der Urheberrechtsnovelle das Recht der Nutzer auf Privatkopien und den elektronischen Pressespiegel nicht hinreichend berücksichtigt haben. Wir müssen uns vor Augen führen - das hat der Kollege Krings schon zu Recht gesagt -, ({5}) dass Urheberrechte auch Eigentumsrechte sind. Nicht der Gesetzgeber sollte über diese Eigentumsrechte verfügen, sondern es muss ein gerechter Interessenausgleich vorgenommen werden. ({6}) Im analogen Bereich, Frau Kollegin, konnten wir Privatkopien natürlich zulassen, weil es die Geräteabgabe gegeben hat. Insoweit war ein gewisser Erlös für die Urheber vorhanden. Im digitalen Bereich sind die Verhältnisse anders, deswegen müssen wir auch andere gesetzliche Regelungen finden. ({7}) Lassen Sie uns also gemeinsam an diesem Gesetz arbeiten! Frau Ministerin, ich teile nicht ganz Ihre Auffassung bezüglich der Individuallizenz. In einem Punkt allerdings sollten wir uns einig sein: Die Zukunft gehört der Individuallizenz und daran sollten wir arbeiten. Vielen Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Manzewski.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird das Ziel verfolgt, das deutsche Urheberrecht der Entwicklung im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie anzupassen. Dies ist insbesondere deshalb notwendig geworden, weil es - das ist schon angesprochen worden mittlerweile aufgrund der digitalen Technologie völlig unproblematisch geworden ist, urheberrechtlich geschützte Inhalte über ein weltumfassendes Netz binnen kürzester Zeit zu übermitteln und zu verbreiten. Als Grundlage für den Gesetzentwurf diente die bereits angesprochene EU-Richtlinie, die bestimmte Aspekte des Urheberrechts sowie der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft unter den Mitgliedstaaten harmonisieren will und die wir in deutsches Recht umzusetzen haben. ({0}) Dabei geht es zum einen darum, den Schutz der Rechtsinhaber zu gewährleisten, und zum anderen darum, den Verwertern und Nutzern einen angemessenen Rechtsrahmen vorzugeben, der den Einsatz der neuen Technologien zulässt und die Entwicklungen in der Informationsgesellschaft fördert. Meiner Auffassung nach - sie unterscheidet sich von der der Kollegen Funke und Krings - wird der Regierungsentwurf dem gerecht. ({1}) So enthält er klare Regelungen für die Verwertung von geschützten Leistungen im digitalen Umfeld. Zugunsten der Urheber und Leistungsberechtigten wird das so genannte Recht der öffentlichen Zugänglichmachung eingeführt. Damit werden wir verdeutlichen, dass Werke in den elektronischen Medien wie dem Internet nur mit Zustimmung der Urheber verwertet werden dürfen. ({2}) Andererseits werden die so genannten Schrankenregelungen den Erfordernissen des digitalen Zeitalters angepasst und wird genau bestimmt, in welchen Fällen es Urheber hinnehmen müssen, dass ihre Werke auch ohne ihre Zustimmung genutzt werden können. Dies soll insbesondere da erfolgen, wo die Bundesregierung ohnehin einen Schwerpunkt ihrer Politik legt, nämlich in den Bereichen Unterricht und Forschung. ({3}) Hier können urheberrechtlich geschützte Werke künftig ohne Zustimmung der Urheber einem bestimmten, abgegrenzten Bereich von Personen, etwa zur Veranschaulichung im Unterricht oder zur eigenen wissenschaftlichen Forschung, zugänglich gemacht werden, wenn - insoweit teile ich die Kritik - dieses am Ende auch etwas enger ({4}) als noch im Gesetzentwurf vorgesehen umgesetzt werden sollte. Darüber werden wir sicherlich noch reden müssen. Klargestellt wird zudem - das ist sehr wichtig -, dass auch digitale Privatkopien zulässig sein sollen. Ich halte das für vernünftig, weil dies der Systematik der Vergangenheit entspricht. Wer also - die Ministerin hat das Beispiel angesprochen - von seiner Lieblings-CD eine Kopie für den CD-Player im Auto brennen möchte, wird dies auch in Zukunft tun dürfen. Ich weise jedoch darauf hin, dass auch ich hier noch ein wenig Diskussionsbedarf habe. ({5}) Es stellt sich nämlich die Frage, inwieweit in diesem Zusammenhang eine Regelung sinnvoll wäre, die solche Privatkopien aus legalen Quellen, also vom eigenen Original, zulässt. Die Bundesregierung weist zwar zu Recht darauf hin, dass dies schwer zu kontrollieren wäre, aber ich meine, dass wir darüber noch einmal reden müssen. ({6}) Meine Damen und Herren, die grundsätzliche Zulässigkeit von Privatkopien einerseits darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass den Rechtsinhabern andererseits ebenso zugestanden werden muss - wenn sie dies eben nicht wollen -, sich davor durch technische Maßnahmen zu schützen. Der Gesetzentwurf ist nicht zuletzt deshalb notwendig geworden, weil es immer häufiger zu einer Verletzung der Urheberrechte gekommen ist, und zwar mit zum Teil erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen für die Betroffenen. Um dies zu verhindern, sind von den Rechtsinhabern in der Vergangenheit immer wieder neue technische Schutzmaßnahmen getroffen worden. Leider haben diese nicht vor illegaler Umgehung schützen können. ({7}) Die Umgehung der zulässigen und wirksamen technischen Schutzmaßnahmen soll daher verboten werden. Verstöße hiergegen werden mit einem Bußgeld oder, wenn dies gewerblich erfolgt, sogar mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe geahndet werden können. Ich halte es allerdings für richtig - insoweit teile ich die Auffassung der Ministerin -, den Rechtsinhabern aufzugeben, dies auf den Produkten deutlich zu kennzeichnen. Der Verbraucher muss wissen, ob er sich von einer gekauften CD eine Privatkopie ziehen darf oder nicht, mit all den wirtschaftlichen Konsequenzen, die das für beide Beteiligten bedeuten kann. ({8}) Dass durch den Gesetzentwurf ausübende Künstler wie Musiker oder Schauspieler hinsichtlich ihrer Rechtsstellung endlich den Urhebern angenähert werden, wird von mir ebenfalls begrüßt. Lieber Herr Kollege Krings, die Bundesregierung hat die in diesem Zusammenhang betroffenen Kreise schon frühzeitig in das Gesetzgebungsverfahren eingebunden. Sie wissen das, wenn Sie die letzte Legislaturperiode verfolgt haben. ({9}) Herr Kollege Funke wird, auch wenn er in anderen Bereichen anderer Meinung ist, bestätigen, dass das Urheberrecht der Ministerin sehr wichtig war. ({10}) Der Gesetzentwurf hat deshalb auch Empfehlungen einer bereits in der vorletzten Legislaturperiode vom Bundestag zu diesem Themenbereich eingesetzten EnqueteKommission sowie ein vom Max-Planck-Institut eingeholtes Gutachten aufgegriffen. Dies gilt ebenso - das halte ich für wichtig - für die Empfehlungen, die in zwei Sachverständigenanhörungen zum Referentenentwurf, im Herbst 2001 und im Frühjahr dieses Jahres, gemacht wurden. Ich beurteile auch die Situation ein wenig anders als Sie: Ich meine, dass von den Verbänden und Institutionen im Großen und Ganzen Zustimmung zu dem Gesetzentwurf signalisiert wird. ({11}) Ähnliches gilt für die Stellungnahme des Bundesrates. Zu Detailfragen habe ich selten eine so politische Stellungnahme gelesen, die im Grunde genommen wenig von dem aufgreift, was man sachlich und fachlich zu dem Gesetzentwurf sagen könnte. ({12}) Ich gehe mit Ihnen insoweit konform, dass wir über Detailfragen sicherlich noch zu diskutieren haben. Ich halte es aber für richtig, dass die Bundesregierung nicht allen Empfehlungen folgt und keine weit über die EURichtlinie hinausgehende Veränderung des Urheberrechts vornehmen will. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen sind einige der gemachten Vorschläge, zum Beispiel zur Behandlung von Archivbeständen, auf EU-Ebene noch nicht abschließend diskutiert worden; dem sollte meiner Ansicht nach nicht vorgegriffen werden. Zum anderen wäre es unter Berücksichtigung der vorgesehenen Umsetzungsfrist unsinnig - selbst wenn wir es nicht bis zum Jahresende schaffen sollten -, bei insoweit noch bestehenden Kontroversen im Detail möglicherweise fehlerhafte Entscheidungen zu treffen. Nach meiner Auffassung kann die Diskussion über diese noch strittigen und nicht umsetzungsbedürftigen Punkte auch noch im nächsten Jahr, also nach dem Gesetzgebungsverfahren, erfolgen. ({13}) - Das ist immer Ihr großes Problem: Manchmal sind wir - gerade in der Rechtspolitik - zu schnell, manchmal sind wir zu langsam. Je nachdem, wie es Ihnen gerade passt, Herr Kollege. ({14}) In der Rechtspolitik habe ich in den letzten vier Jahren die Erfahrung gemacht, dass wir Sie mit schnellen und durchdachten Gesetzgebungsverfahren in der Regel überfordert haben. Da muss man wohl durch. ({15}) - Lieber Kollege Funke, der Untergang des Abendlandes, den Sie in so vielen Bereichen beschworen haben - ich denke beispielsweise an die Schuldrechtsreform und die Zivilrechtsreform -, ist nicht eingetreten. ({16}) Man darf nicht zu viel Wert auf das legen, was Sie da so sagen. Soweit der Bundesrat in seiner Stellungnahme noch einmal für den Vorrang von Individualabrechnungen plädiert, bleibt mir nur, wie die Ministerin es getan hat, darauf hinzuweisen, dass die Technologien hierfür noch nicht ausgereift sind. Kollege Funke, ich folge Ihnen in der Tendenz; wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass das Pauschalvergütungssystem zumindest nicht völlig abgeschafft werden kann. ({17}) Ich komme zum Schluss. Meine Fraktion wird sich an den anstehenden Beratungen konstruktiv beteiligen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ich hoffe, dass Sie es genauso machen werden. Ich danke Ihnen. ({18})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 15/38 und 15/15 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Jörg van Essen, Günther Friedrich Nolting, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Rechtssicherheit für die bewaffneten Einsätze deutscher Streitkräfte schaffen - ein Gesetz zur Mitwirkung des Deutschen Bundestages bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr einbringen - Drucksache 15/36 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den Entwurf, den wir heute debattieren, haben wir bereits zum Schluss der vergangenen Legislaturperiode in den Deutschen Bundestag eingebracht. Wir sind damals nicht zum Ende der Beratungen gekommen. Man kann es auch deutlicher sagen: Wir konnten erst gar nicht so richtig damit anfangen. Trotzdem ist es sehr wichtig, dass wir die Fragen, die wir aufgeworfen haben, debattieren und dass wir zu einer Lösung kommen. Ich glaube, dass die Debatte insbesondere zeigen wird, dass wir noch eine Menge offene Fragen haben, auf die wir Antworten geben müssen. Ich will eine Position klar und deutlich an den Beginn stellen, weil ich mich über eine Bemerkung einer fraktionslosen Abgeordneten heute Morgen ganz außerordentlich geärgert habe. Diese Abgeordnete hat gesagt, wir wollten die Beteiligung des Deutschen Bundestages an der Zustimmung zu den Auslandseinsätzen abschaffen. Das Gegenteil ist der Fall. ({0}) Wir wollen, dass es bei der konstitutiven Zustimmung des Deutschen Bundestages zu den Auslandseinsätzen bleibt. Das hat uns das Bundesverfassungsgericht übrigens aus guten Gründen aufgegeben, ({1}) und zwar deshalb, weil die Bundeswehr ganz bewusst als Parlamentsarmee gestaltet ist und es für die Soldaten ganz außerordentlich wichtig ist, dass sie ihre zum Teil sehr schwierigen Aufträge jeweils vor dem Hintergrund der Zustimmung des Parlaments - einer großen Mehrheit des Parlaments - durchführen. Ich will es noch einmal ausdrücklich betonen: Wir wollen daran nichts ändern. Trotzdem gehört zur Bestandsaufnahme, die wir jetzt, nach einiger Zeit der Notwendigkeit der Zustimmung zu Auslandseinsätzen durchführen können und müssen, dass wir feststellen, dass es Bereiche gibt, für die wir keine wirklichen Antworten haben. Ich will nur ein Beispiel anführen: Das Bundesverfassungsgericht hat bestimmte Dinge vorgegeben für Einsätze, die ohne Verzug erfolgen müssen. Wir haben einen solchen Einsatz einmal gehabt, als Geiseln in Tirana befreit werden mussten. Da kann es nicht sein, dass der Deutsche Bundestag zusammenkommen muss. Da muss es die Möglichkeit einer schnellen Entscheidung und der nachträglichen Zustimmung des Deutschen Bundestages geben. Ich will aber in diesem Zusammenhang nicht verschweigen, dass wir bislang keine Klarheit haben - auch nicht in der Geschäftsordnung der Bundesregierung -, wer eigentlich die Anordnung trifft: das Kabinett als Ganzes, der Verteidigungsminister, der Bundeskanzler? Ich fände hier Klarheit gut, weil das auch die Verantwortung deutlich macht. Das ist ein Bereich, über den wir uns sicherlich unterhalten sollten; denn ich glaube, dass das ein sehr wichtiger Punkt ist. Das genannte Beispiel ausgenommen, haben wir solche Einsätze bisher noch nicht gehabt; sie können aber auf uns zukommen. Die Geiselbefreiung in Tirana war ein geheimer Einsatz und war sofort und auf der Stelle notwendig. Es wird aber irgendwann auch Einsätze geben, die geheim zu halten sind und die lange vorbereitet werden - eine Woche, 14 Tage -, sodass dann grundsätzlich eine Beteiligung des Deutschen Bundestages möglich wäre. Es kann aber nicht sein, dass wir hier im Deutschen Bundestag beispielsweise die Größe des Kontingents der Bundeswehr in aller Breite diskutieren, dass wir uns darüber auseinander setzen, dass die Bundesregierung dies alles in eine Vorlage schreibt und dass der, der möglicherweise durch eine geheime Operation überrascht werden soll, das alles vorher nachlesen kann. Deshalb müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir das regeln können. Wir als FDP machen einen Vorschlag und sagen: Wir haben ja einen Bereich, in dem es eine ähnliche Problematik gibt, nämlich den der Nachrichtendienste, der Geheimdienste. Wir schlagen Ihnen deshalb vor, ein ähnliches parlamentarisches Gremium einzurichten, das, zu Beginn einer Legislaturperiode gewählt, unter Leitung des Bundestagspräsidenten den Bundestag bei der notwendigen Zustimmung ersetzt. Dieses geheime Gremium hat im Übrigen noch einen weiteren Vorteil: Dadurch könnte sichergestellt werden, dass das Parlament über fortlaufende geheime Einsätze unterrichtet werden kann. Ich nenne Ihnen nur ein Beispiel: Wir haben aus der Zeitung erfahren, dass es einen neuen Auftrag für das Kommando Spezialkräfte gegeben hat. Das kann natürlich nicht in der Öffentlichkeit angesprochen werden. Dieses Gremium wäre, wie ich finde, genau die richtige parlamentarische Grundlage für die Unterrichtung des Deutschen Bundestages. Wir haben auch keine Klarheit bezüglich der Frage - auch das möchte ich hier ansprechen -: Was ist eigentlich ein bewaffneter Einsatz? Da gibt es durchaus unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Nach einem Erdbeben in Afghanistan erfolgte der Einsatz von Sanitätskräften. Angesichts der Situation in Afghanistan konnten wir die Sanitätskräfte nicht ohne Bewaffnung - die so genannte Selbstschutzkomponente - in diesen Auftrag schicken. Ist eine solche humanitäre Hilfeleistung mit Selbstschutzkomponente schon ein bewaffneter Einsatz? - Dies hätte zur Konsequenz, dass alle Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts erfüllt sein müssen. - Oder fallen solche Einsätze in den Bereich unterhalb dieser Schwelle? Wir möchten, dass klar geregelt wird, wann ein bewaffneter Einsatz beginnt. Dies dient der Sicherheit der Bundesregierung, der Sicherheit des Parlaments, aber vor allem der Sicherheit unserer Soldaten. ({2}) Bei der Planung und Vorbereitung eines bewaffneten Einsatzes können wir meiner Meinung nach etwas flexibler sein, als wir dies in der Vergangenheit waren. Wir erleben immer wieder, dass die Bundesregierung erst dann Transportraum anmietet, dass sie erst dann bestimmte Lokalitäten für die Bundeswehr oder Frachtraum anmietet, wenn die konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages im jeweiligen Fall erteilt ist. Ich finde, wir sollten dabei ein bisschen großzügiger sein und dem Bundesverteidigungsminister die Möglichkeit geben, bestimmte Planungsschritte vorwegzunehmen, die sich zunächst noch nicht auswirken. Diese wirken sich erst dann aus, wenn die Zustimmung des Deutschen Bundestages tatsächlich erfolgt ist und damit Soldaten in den Einsatz gehen. Gegenwärtig erleben wir es oft, dass beispielsweise Flugzeuge schon weg sind - diese gibt es nur begrenzt auf dem Weltmarkt - oder bestimmte Plätze wie etwa unzerstörte Gebäude, in denen unsere Soldaten untergebracht werden könnten, bereits von unseren Alliierten für ihre Zwecke in Anspruch genommen worden sind, sodass unsere Soldaten in ein Feldlager müssen - und dies in einer schwierigen Umgebung. Es ist notwendig, darüber zu sprechen. Meine letzte Bemerkung betrifft die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Das gegenwärtige Verfahren orientiert sich an einer parlamentarischen Übung, die dem Gesetzgebungsverfahren nachgebildet worden ist. Wir tun so, als ob es sich um so etwas wie eine erste Lesung handeln würde. Dies ist es aber nicht. Deshalb möchten wir, dass wir speziell für die Zustimmung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr einen Abschnitt in die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages aufnehmen. In diesem könnten auch die Unterrichtungspflichten der Bundesregierung gegenüber dem Parlament näher dargelegt werden. Wir laden Sie ein, über unseren Vorschlag zu sprechen. Ich weiß, dass das eine oder andere durchaus unterschiedlich gesehen werden kann. Meine Bitte aber ist, dass wir schnell zu einer Lösung kommen. Mich freut, dass uns der Bundesverteidigungsminister wegen unserer Ansätze gelobt hat. Daher glaube ich, dass es eine Gesprächsbasis quer durch dieses Parlament gibt. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Lambrecht.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr van Essen, ich kann Ihnen unsere Gesprächsbereitschaft schon vorab zusagen. Sie können sich auf uns verlassen. Wir werden im Geschäftsordnungsausschuss als wahrscheinlich federführendem Ausschuss den einen oder anderen Punkt sicherlich näher beleuchten. Seit dem Fall der Mauer gab es Schritt für Schritt auch außerhalb der Grenzen Deutschlands Einsätze der Bundeswehr, so den Einsatz von Sanitätern in Kambodscha, um UNO-Soldaten zu betreuen. Dazu gehört auch der Einsatz von 1992 bis 1996 in der Adria, um das Waffenembargo durchzusetzen und zu überwachen. Von 1993 bis 1995 beteiligten sich Bundeswehrsoldaten an der NATOAktion zur Überwachung des Flugverbots über Bosnien. Deutsche Soldaten waren im humanitären Einsatz in Somalia. 4 000 Soldaten beteiligten sich am IFOR-Einsatz in Bosnien zur Sicherung des Dayton-Abkommens. Wieder Jahre später nahmen deutsche Tornadokampfflugzeuge an einem begrenzten Luftkrieg der NATO gegen Jugoslawien teil. Bundeswehrsoldaten sind zur Unterstützung einer Friedenstruppe im Kosovo und in Mazedonien. Schließlich beteiligen sich bewaffnete deutsche Streitkräfte auch am Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan. Morgen werden wir hier im Deutschen Bundestag namentlich über die Fortsetzung dieses Einsatzes in Afghanistan abstimmen. Natürlich beruhte die Entsendung all dieser deutschen Kontingente stets auf Beschlüssen des Bundestages. Dies muss man ganz deutlich sagen. Der Parlamentsvorbehalt für den militärischen Einsatz von Streitkräften entspricht seit 1918 Verfassungstradition. So sollte es - da kann ich Ihnen nur zustimmen - auch in Zukunft bleiben. ({0}) Auch wenn vielen von uns die Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland sehr schwer fällt, möchte ich gerade dafür plädieren, dass diese tief greifenden Entscheidungen auch in Zukunft dem Bundestag vorbehalten bleiben. Diesen Parlamentsvorbehalt hat das Bundesverfassungsgericht in dem viel zitierten Urteil aus dem Jahr 1994 ausdrücklich bekräftigt und wir wollen nicht davon abrücken. Jetzt stellt sich die Frage: Wie ist momentan die verfassungsrechtliche Ausgangslage? Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil aus dem Jahr 1994 entschieden, dass für den Fall eines Einsatzes bewaffneter Streitkräfte im Einklang mit der deutschen Verfassungstradition seit 1918 grundsätzlich im Voraus die Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen ist. Das ist der konstitutive Gesetzesvorbehalt. Das Zustimmungserfordernis gilt nach Ansicht des Gerichts jeweils für den konkreten Bündnisfall, unabhängig von der Zustimmung des Parlaments zur abstrakt-generellen Beistandsverpflichtung. Ich führe es etwas ausführlicher aus, denn wenn wir darüber reden, müssen wir wissen, welche Lage wir vorfinden und was wir regeln wollen. Das Handeln der Bundesregierung auf dem Gebiet der auswärtigen Verteidigung muss durchgehend und zu Recht von einer parlamentarischen Kontrolle begleitet werden. Einzig bei Gefahr im Verzug ist die Bundesregierung berechtigt, den Einsatz von Streitkräften vorläufig zu beschließen und an entsprechenden Beschlüssen in den Bündnissen und in internationalen Organisationen ohne vorherige Einzelermächtigung durch das Parlament mitzuwirken und diese vorläufig zu vollziehen. Die Bundesregierung muss jedoch auch in diesen Fällen das Parlament umgehend mit dem so beschlossenen Einsatz befassen. Bei dieser besonderen Fallgestaltung wären die Streitkräfte zurückzurufen, wenn der Bundestag es verlangt. Im Übrigen hat der Bundestag über die Einsätze bewaffneter Streitkräfte nach Maßgabe des Art. 42 Abs. 2 Grundgesetz, also mit Mehrheit, zu entscheiden. Dieser Zustimmungsvorbehalt verleiht dem Bundestag allerdings keine Initiativbefugnis. Auch darüber sind wir uns einig. Das heißt, der Bundestag kann lediglich einem von der Bundesregierung beabsichtigten Einsatz seine Zustimmung versagen oder ihn, wenn er ausnahmsweise ohne seine Zustimmung schon begonnen hat, also bei Gefahr im Verzug, unterbinden. Er kann aber nicht die Regierung zu solch einem Einsatz der Streitkräfte verpflichten. Auch darüber müssten wir sprechen. Die Frage des Rückholrechts während eines laufenden und vom Bundestag bereits gebilligten Streitkräfteeinsatzes ist, das muss ich zugeben, nicht abschließend geklärt. Auch darüber sollten wir uns Gedanken machen. ({1}) - Es kommt darauf an, wen Sie als herrschend ansehen. Der verfassungsrechtlich geforderte Parlamentsvorbehalt gilt also ungeachtet näherer gesetzlicher Ausgestaltung unmittelbar kraft Verfassung. Bundesregierung und Bundestag haben natürlich die Möglichkeit, ein Gesetz zu erlassen, das eine förmliche parlamentarische Beteiligung an der Entscheidung über militärische Einsätze näher ausgestalten kann. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir schon unsere Rechte und Pflichten näher defi634 niert wissen wollen, dann sollten wir dieses Anliegen gerade nicht an die Bundesregierung delegieren, sondern es selbst übernehmen, falls möglich, mit einem interfraktionellen Antrag. ({2}) Damit hätten wir natürlich auch eine Grundlage, auf der wir alle stehen könnten, und es wäre ein noch besseres Signal der Rechtssicherheit an die Soldatinnen und Soldaten. Über den Regelungsbedarf wäre dann im federführenden Ausschuss, vermutlich also im Geschäftsordnungsausschuss, zu beraten und zu beschließen, woran wir uns gern konstruktiv beteiligen. Das habe ich Ihnen schon zugesagt. Inhaltlich habe ich bei einigen Punkten Ihres Antrags allerdings Bedenken. ({3}) Er erscheint mir nicht ganz ausgereift. So bedarf meiner Meinung nach die Frage, ob die Delegation parlamentarischer Befugnisse auf andere Gremien möglich und sinnvoll ist, einer gründlichen verfassungsrechtlichen Prüfung. Die in Ihrem Antrag verlangte Kanzlermehrheit würde eine Verfassungsänderung voraussetzen, denn nach dem so genannten Adria-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hat der Bundestag über Einsätze nach Art. 42 Abs. 2 Grundgesetz zu entscheiden, das heißt mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen, soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt. So ist es derzeit. Wollten wir also die Kanzlermehrheit, müssten wir die Verfassung ändern. Dann muss man sich fragen: Wollen wir das wirklich? Müssen wir das wirklich? Oder verfolgt man nicht vielleicht sogar den Zweck, Rot-Grün das eine oder andere Mal vermeintlich vorführen zu können, wenn wir diese Kanzlermehrheit nicht zustande bringen? Ich kann Ihnen aber versichern: Wir von Rot-Grün stehen hinter unserer rot-grünen Regierung und werden die Kanzlermehrheit auch morgen früh wieder zustande bringen. Zum Schluss möchte ich sagen: Wir stehen nicht nur hinter unserer rot-grünen Bundesregierung, sondern vor allem auch hinter unseren Soldatinnen und Soldaten im Ausland, ({4}) die auch ohne ein solches Gesetz derzeit keine Rechtsunsicherheit befürchten müssen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Kossendey.

Thomas Kossendey (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001188, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuerst herzlichen Dank, Frau Kollegin Lambrecht, dass Sie Gesprächsbereitschaft signalisiert haben. Ich glaube, das ist eine ganz wichtige Sache, die wir in den letzten Jahren bei vielen Fragen nicht immer erlebt haben. ({0}) Für uns ist wichtig, dass das, was der Kollege van Essen eingangs seiner Rede gesagt hat, auch in Zukunft Bestand hat: Die Bundeswehr ist seit ihrem Bestehen eine Parlamentsarmee, das heißt, dass jeder von uns Verantwortung für den Einsatz der Soldatinnen und Soldaten trägt, egal ob er gerade in der Opposition ist oder vielleicht morgen in der Regierung sein wird. Das war in der Vergangenheit so und das soll auch in Zukunft so bleiben. Die Frage ist nur, wie und auf welche Weise wir diese Verantwortung wahrnehmen. Das Spektrum der Wahrnehmung der Verantwortung ist ja ziemlich groß: Die einen im Parlament fühlen sich als Ersatzfeldherr, während die anderen ungefragt ihre Verantwortung bei der Regierung abgeben möchten. Ich glaube, dass es unsere Aufgabe ist, zwischen diesen beiden Positionen einen vernünftigen Weg zu finden. Das Bundesverfassungsgericht hat uns dazu einiges aufgetragen. Ich möchte das für diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die die einschlägigen Bundesverfassungsgerichtsurteile nicht ständig im Kopf haben, noch einmal deutlich machen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung von 1994 festgestellt: Es ist Sache des Gesetzgebers, die Form und das Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung näher auszugestalten. Je nach dem Anlass und den Rahmenbedingungen des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte sind unterschiedliche Formen der Mitwirkung - des Parlaments denkbar. Insbesondere im Hinblick auf unterschiedliche Arten der Einsätze, vor allem bei solchen, die keinen Aufschub dulden oder erkennbar von geringer Bedeutung sind, empfiehlt es sich, den Zeitpunkt und die Intensität der Kontrolle des Parlaments näher zu umgrenzen. Ich glaube, man wird im Großen und Ganzen sagen können, dass sich das, was wir in der Vergangenheit praktiziert haben, bewährt hat. Wir schicken seit zehn Jahren - davon vier Jahre unter Rot-Grün - Soldatinnen und Soldaten in internationale Einsätze. Man kann sagen, dass die Regelungen, die wir im Parlament aufgrund des Bundesverfassungsgerichtsurteils vereinbart haben, uns selten gehindert haben, Soldaten in Einsätze zu schicken. Man muss allerdings auch feststellen, dass es Schwachstellen gibt. Kollege van Essen hat einige aufgezeigt. Ich möchte das gerne ergänzen, damit wir Stoff für die Gespräche haben, die Frau Lambrecht angekündigt hat. Der Beirat für innere Führung hat gerade im letzten Jahr ein Gutachten herausgegeben - es ist dem Verteidigungsausschuss zur Verfügung gestellt worden -, in dem er sehr deutlich festgestellt hat, dass eines der Hauptprobleme darin besteht, die Soldaten möglichst früh und genau über Art, Zeitraum und Auftrag ihres Einsatzes zu informieren. Genau das ist eines der wichtigen Probleme, die wir Parlamentarier haben: Die Vorgesetzten der Soldaten, der Minister, die Hardthöhe, können erst dann präzise informieren, wenn das Parlament einen entsprechenden Beschluss gefasst hat; denn vorher sind ihnen ja die Hände gebunden. Wir selbst sind also die Hauptursache für dieses Dilemma; denn ohne dass wir über einen Auslandseinsatz endgültig entschieden haben, können in der Truppe weder vorbereitende Aktivitäten entfaltet werden noch Informationen mitgeteilt werden. Wir haben uns allerdings in den letzten Jahren zunehmend daran gewöhnt, dass dieser zeitliche Ablauf, den das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, durch die Praxis der Regierung und des Parlamentes zugunsten einer effektiven Einsatzmöglichkeit unserer Soldaten stillschweigend unterlaufen wird. Es gibt aber auch gegenteilige Beispiele. Ich erinnere an den Einsatz unserer Soldaten in Mazedonien. Damals haben wir im Parlament - ich formuliere das vorsichtig - so lange diskutiert bzw. hatte sich der Entscheidungsgang zwischen Exekutive und Regierung bzw. Parlament so verlangsamt, dass unsere Soldaten, als sie in Mazedonien eintrafen, feststellen mussten, dass ein Großteil der Waffen, die sie eigentlich einsammeln sollten, schon von den NATO-Partnern eingesammelt worden waren. Das kann eigentlich nicht im Interesse der Bündnisfähigkeit unseres Landes sein. Lassen Sie mich noch das Beispiel ergänzen, das der Kollege van Essen genannt hat. Als unsere Luftlandebrigade 31 in Kabul tätig war, gab es just zu dieser Zeit ein dramatisches Erdbeben in Afghanistan. Unsere Soldaten sind dann, ohne auf ihr Mandat zu achten, weit nach Afghanistan hineingefahren, um den dort lebenden Menschen zu helfen. Das haben wir alle begrüßt. Aber wir haben auch stillschweigend hingenommen, dass das jenseits der Grenzen des Mandates war. Was wäre wohl passiert, wenn ein Wagen auf dem Weg dorthin auf eine Mine gefahren wäre? Was wäre wohl passiert, wenn ein Wagen das Zielobjekt von Taliban geworden wäre? Das hat General von Butler auf seine eigene Kappe genommen. Ich weiß nicht, ob wir alle bereit gewesen wären, diesen außermandatsmäßigen Einsatz hier zu billigen. Ich will nun einen weiteren Punkt nennen, einen Punkt, der meiner Meinung nach zu wenig beachtet worden ist. Die Bundeswehr wird, wie das in der Vergangenheit der Fall war, ihre internationalen Einsätze auch in Zukunft nur im Rahmen der Vereinten Nationen, der OSZE, der NATO oder künftig auch der EU oder von anderen Koalitionen durchführen. Das heißt, wir werden mit unseren Soldaten in internationale Verflechtungen eingebunden werden, aus denen wir uns nur sehr schwer herauslösen können, wenn wir im Bundestag eine andere Entscheidung treffen sollten. Diese internationale Verflechtung unserer Soldaten muss bei den Entscheidungsverfahren vielmehr berücksichtigt werden. Gerade jetzt bei der zur Diskussion stehenden NATO-Response-Force wird das wichtig sein. Minister Fischer hat heute Morgen zwar gesagt, dass erst der NATO-Rat und darauf folgend das Parlament beschließen müssen und dass erst dann unsere Soldaten in den Einsatz gehen könnten. Ich glaube, er irrt hier; der reale Ablauf dieser Dinge sieht anders aus. Ein solcher Fall wird wesentlich schneller und intensiver auf uns zukommen, als wir ihn im Augenblick mit unseren schwerfälligen Verfahren bewältigen könnten. Wir werden schnell in ein Dilemma geraten. Sollte nämlich eines Tages der NATO-Rat oder ein Gremium der EU beschließen, ein Verband der EU oder der NATO werde in einem bestimmten Gebiet eingesetzt, und unser Vertreter in diesem Gremium hat zugestimmt, dann stehen wir vor einer Situation, die wir alle uns nicht wünschen: Entweder wir lassen den Vertreter mit seinem Ja im Regen stehen oder wir müssen einen Entschluss fassen, den wir vielleicht nicht fassen wollen. Solch eine Entscheidung kann sich kein Abgeordneter wünschen, in eine Situation gebracht zu werden, in der er nur mit Nein stimmen kann und damit einen außenpolitisch großen Schaden für unser Land hinnehmen muss. Noch schwieriger wird die Lage, wenn unsere Soldaten in internationalen Verbänden bestimmte Aufgaben wahrnehmen, die von anderen nicht wahrgenommen werden können. Dann kann am Veto des Bundestages unter Umständen ein internationaler Einsatz scheitern. Ich glaube nicht, dass das die Bündnisfähigkeit und die Koalitionsfähigkeit unseres Landes stärken würde. Es gibt also viele gute Gründe, den Antrag der Freien Demokraten in den zuständigen Ausschüssen ausführlich und ernsthaft zu beraten. Wir sollten das ohne parteipolitische Schranken tun. Ich bin dankbar dafür, dass sich sowohl der Verteidigungsminister vor einiger Zeit sehr positiv zu diesem Antrag geäußert hat als auch in der Vergangenheit mancher sozialdemokratische Abgeordnete. Kollege Zumkley zum Beispiel hat darüber im letzten Jahr intensive Überlegungen angestellt. Frau Lambrecht, herzlichen Dank dafür, dass Sie das so ausführlich dargestellt haben. Für unsere Soldaten im Einsatz wäre es sehr schwer verständlich, wenn vernünftige Regelungen dieser Einsätze, die wir zu breiten Teilen in diesem Parlament wünschen, nur deswegen nicht zustande kämen, weil die Grünen in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt haben, dass dieses Thema nicht auf die Tagesordnung kommt. Ich glaube, das darf nicht sein. Deswegen möchte ich abschließend feststellen: Keinem Parlamentarier würde durch eine Änderung der Verfahren irgendein Recht genommen werden. Es müssen aber Möglichkeiten gefunden werden, unter Beachtung der Grenzen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 1994 sowohl den außenpolitischen Interessen unseres Landes als auch den ganz konkreten Sicherheitsinteressen unserer Soldatinnen und Soldaten gerecht zu werden. Wenn dies das Ergebnis dieses Gespräches sein sollte, dann, glaube ich, können unsere Soldaten auf dieses Parlament stolz sein. Das wäre ein gutes Ziel. Schönen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried Nachtwei.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auslandseinsätze der Bundeswehr sind kein Mittel der Politik wie viele andere, sie sind in der Regel besonders teuer, sie sind riskant und deshalb auch besonders begründungsbedürftig. Auch wenn es für uns immer um multilaterale Einsätze geht, so ist zugleich klar, dass die Entscheidung über eine deutsche Beteiligung an multilateralen Maßnahmen zur Krisenbewältigung nicht in New York, nicht in Washington und nicht in Brüssel fällt. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 12. Juli 1994 klargestellt, dass diese Verantwortung nicht allein der Bundesregierung überlassen werden darf. Es ist vielmehr der Deutsche Bundestag, der konstitutiv über den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zu entscheiden hat. ({0}) Die parlamentarische Entscheidungshoheit über den Einsatz der Streitkräfte ist eine fundamentale demokratische Errungenschaft. Der konstitutive Parlamentsvorbehalt ist nicht nur verfassungsrechtlich vorgeschrieben, sondern auch politisch überaus sinnvoll. ({1}) Er gewährleistete bisher eine besonders intensive parlamentarische Beratung und trug, so meine ich, immer zu einer verantwortlichen Entscheidungsfindung und breiten Konsensbildung im Parlament und in der Gesellschaft bei. ({2}) Der Parlamentsvorbehalt ist zugleich Eckstein der militärpolitischen Zurückhaltung der Bundesrepublik, der sich, so glaube ich, weiterhin alle Fraktionen verpflichtet fühlen. Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994 haben wir umfassende Erfahrungen mit den verschiedensten Arten von Auslandseinsätzen der Bundeswehr gemacht. Man kann wirklich sagen: Keiner war dem anderen gleich. Dabei ergaben sich zugleich bestimmte Anforderungen. Die wichtigste Anforderung an die Rechtmäßigkeit von Auslandseinsätzen ist selbstverständlich ihre völkerrechtliche Legalität. Diese war bei der Beteiligung der Bundesrepublik an den NATO-Luftangriffen auf die Bundesrepublik Jugoslawien strittig. Es bestand und besteht in diesem Haus aber auch ein breiter Konsens darüber, dass das Übel der Nichtmandatierung durch den VN-Sicherheitsrat nicht als Präzedenzfall, sondern als Ausnahme in einem Wertekonflikt und bei Bestehen einer völkerrechtlichen Regelungslücke verstanden werden muss. ({3}) Die Bundesregierung hat bewiesen, dass sie eine eindeutige völkerrechtliche Legitimation seitdem immer zur Voraussetzung für Auslandseinsätze macht. Deshalb hat sie auch immer eine Mandatierung durch den VN-Sicherheitsrat angestrebt. Neue Fragen ergeben sich allerdings bei der militärischen Bekämpfung des Terrorismus. Mit den einschlägigen Resolutionen, mit denen er das naturgegebene Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung bekräftigte, gab der UN-Sicherheitsrat eine Art Einstiegslegitimation. Immer deutlicher stellt sich aber die Frage nach den Grenzen dieses Selbstverteidigungsrechts. Wenn zum Beispiel das Recht beansprucht wird, zu jeder Zeit und an jedem Ort gegebenenfalls mit Präemptionsangriffen gegen die terroristische Bedrohung vorzugehen, wird das völkerrechtliche Gewaltverbot der UN-Charta unterhöhlt und seine Beachtung de facto in das Belieben der Stärksten gestellt. Laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts liegt ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte dann vor, wenn Bundeswehrsoldaten in - Zitat - „bewaffnete Auseinandersetzungen einbezogen werden können“. Beobachtermissionen, wie zum Beispiel in Georgien, oder unbewaffnete Hilfseinsätze, wie vor einiger Zeit bei der Flutkatastrophe in Mosambik, fallen eindeutig nicht darunter. Abgrenzungsprobleme gibt es aber in der Tat bei Hilfseinsätzen mit Selbstschutzkomponente - Herr van Essen hat den Fall Afghanistan angesprochen - sowie bei bewaffneten Erkundungs- und Vorauskommandos. ({4}) In dem Bereich der vorbereitenden Maßnahmen und vor allem dann, wenn bewaffnete Streitkräfte sehr schnell entsandt werden sollen, gibt es sicherlich Klärungsbedarf. Das wird zurzeit vor allem im Kontext des US-Vorschlags einer NATO-Response-Force diskutiert. Bei der Klärung dieser Fragen ist allerdings zweierlei zu berücksichtigen: Erstens darf der konstitutiven Befassung des Bundestages nicht vorgegriffen werden; sie darf nicht präjudiziert werden. Zweitens sind die Erfahrungen mit VN-Friedensmissionen zu bedenken, wonach eine zügige Einsatzbereitschaft der nationalen Kontingente und dabei - das sage ich ausdrücklich und ich betone es - der militärischen, polizeilichen und zivilen Komponenten entscheidend für ihre Wirksamkeit ist. Die aktuelle Diskussion um die Schnellst-Einsatzbereitschaft einer NATO-Response-Force und die Anführung angeblicher Probleme, die sich aufgrund der bisherigen Parlamentsbeteiligung ergeben hätten, scheinen mir allerdings weitgehend an der Sache vorbeizugehen. In Not- und Rettungseinsätzen ist in der Tat eine Entsendung in kürzester Zeit notwendig. Wenn es auch keine ganz klare Regelung gibt, so gibt es doch zumindest eine gewisse abgesicherte Praxis. Bei allen anderen umfassenden Kriseneinsätzen sind das Vorliegen einer politischen Konzeption, die Abstimmung unter Partnern und die Flankierung durch nicht militärische Fähigkeiten unverzichtbar. Das braucht selbstverständlich eine gewisse Zeit. Ich meine, diese Zeit reicht allemal auch für eine fundierte Beteiligung des Bundestags. Die Streitkräfte und das Regierungshandeln in militärischen Fragen unterliegen immer einer besonderen parlamentarischen Kontrolle durch den Verteidigungsausschuss, den Wehrbeauftragten und aufgrund des Budgetrechts des Parlaments. Der Einsatz von Spezialkräften erfordert eine besondere Geheimhaltung. Spezialsoldaten agieren praktisch immer verdeckt und auch in so genannten unkonventionellen Einsätzen, bei denen sich die Frage stellen kann, wie dabei die Regeln des Kriegsvölkerrechts eingehalten werden können. In der vorigen Legislaturperiode war meiner Erfahrung nach eine parlamentarische Kontrolle von Spezialeinsätzen de facto nicht gewährleistet. ({5}) In der Koalitionsvereinbarung ist deshalb ausdrücklich festgehalten worden, dass die parlamentarische Kontrolle von Spezialeinsätzen gewährleistet werden muss. Nach meiner bisherigen Erfahrung in dieser Legislaturperiode erfolgt die Unterrichtung des Parlaments über die Obleute ordnungsgemäß. Nichtsdestoweniger meine ich, dass wir weiter darüber diskutieren sollten, ob in diesem Zusammenhang nicht doch eine der Geheimdienstkontrolle vergleichbare Einrichtung des Parlaments angebracht wäre. Zur politischen Kontrolle der Auslandseinsätze gehört auch ihre regelmäßige politische Bewertung. Hierzu wurden vor allem im Rahmen von Enduring Freedom erhebliche Fortschritte gemacht. Durch Vorlage eines zweiten bilanzierenden Gesamtberichts der Bundesregierung zur deutschen Beteiligung an Enduring Freedom ist das Parlament nun in ganz anderer Weise in der Lage, zu beurteilen, wie wirksam dieser Einsatz tatsächlich war. Angesichts dieser Debatte meine ich, dass wir mit der Klärung der heute angesprochenen und zum Teil noch offenen Fragen gut vorankommen können. Danke schön. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Schockenhoff.

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns offensichtlich über alle Fraktionen des Hauses hinweg darüber einig, dass in bestimmten Fragen Regelungsbedarf besteht. Ich gehe davon aus, dass wir diese Fragen auch ziemlich ähnlich bewerten. Deswegen begrüße ich die Initiative der FDP-Fraktion und bin nach dem bisherigen Verlauf der Debatte der Überzeugung, dass wir zu einvernehmlichen Regelungen kommen werden. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts legt eindeutig fest, wer konstitutiv über Einsätze zu entscheiden hat, wer das Initiativrecht hat und wer die Umstände der Einsätze bestimmt. In dem Antrag wird zu Recht darauf verwiesen, dass im Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seiner Begründung die Frage offen bleibt, was unter dem Einsatz bewaffneter Streitkräfte zu verstehen ist. Ich meine aber, dass das Bundesverfassungsgericht die genaue Definition oder Kategorisierung von Einsätzen nicht aus Nachlässigkeit unterlassen hat, Herr van Essen, sondern dass es aus gutem Grund so gehandelt hat, weil sich nämlich alle Einsätze voneinander unterscheiden. Der Kollege Kossendey hat darauf hingewiesen, dass wir seit mehr als zehn Jahren Erfahrungen mit der parlamentarischen Befassung mit diesem Thema gesammelt haben. Aber bisher unterschied sich jeder einzelne Einsatz in seinem Charakter, seinen Risiken und auch hinsichtlich der jeweiligen Umstände von den anderen Einsätzen. Deswegen stehe ich der in dem Antrag enthaltenen Forderung, in einem Gesetzentwurf zu definieren, was unter dem Begriff „Einsatz bewaffneter Streitkräfte“ zu verstehen ist, skeptisch gegenüber. Sie haben eine Unterscheidung zwischen zwölf Sonderfällen einschließlich des Einsatzes regulärer Streitkräfte vorgeschlagen, die noch erweitert werden kann. Aber gerade das von Ihnen, Herr van Essen, genannte Beispiel der Bundeswehr-Mission in Afghanistan, die plötzlich zur Erdbebenhilfe herangezogen wurde, zeigt, dass diese Einsätze im Zweifelsfall in keine bestimmte Kategorie hineinpassen. Dies kann auch dann eintreten, wenn wir einen relativ langen Katalog von bestimmten standardisierten Einsatzmöglichkeiten vorsehen. Wenn die Einsatzmöglichkeiten zu genau definiert sind und der Fall eintritt, dass sich der Charakter oder die Umstände des Mandats oder die Situation, in der dieser Einsatz stattfindet, verändern: Muss sich dann der Bundestag damit erneut befassen? Kommen wir dann nicht eher in Schwierigkeiten? Völlig zu Recht heißt es in dem Antrag, dass wir vor allem bei der Planung und Vorbereitung auch den zeitlichen Ablauf der Beratungen optimieren müssen. Das ist sicherlich richtig. Dies gilt auch für Erkundungsmissionen. Wir werden morgen über die Verlängerung von Enduring Freedom diskutieren und abstimmen. Herr Nachtwei, Sie haben völlig Recht: Dazu gehört auch eine politische Bewertung, die wir für jedes Mandat und auch für eine Mandatsverlängerung öffentlich und damit im Plenum vornehmen müssen. Als wir vor einem Jahr Enduring Freedom beraten und beschlossen haben, waren zur selben Zeit Soldaten schon in Kuwait, um sich vor Ort sachkundig zu machen. Aber sie waren dort nicht in Uniform, sondern in Zivil. Sie haben deshalb zu manchen Informationen und zu manchen Stellen in Kuwait überhaupt keinen Zugang gehabt. Das war ineffektiv und im Grunde genommen für die Soldaten unwürdig. Deshalb spricht vieles dafür, der Bundesregierung für eine Erkundungsmission zur Vorbereitung und Planung eines Einsatzes mehr Spielraum zu lassen oder sie nach Vorliegen eines Kabinettsbeschlusses schon vor der Befassung der Gremien oder des gesamten Parlamentes handlungsfähiger zu machen. ({0}) - Gerade deswegen, Herr van Essen, glaube ich nicht, dass wir einen Einsatz genau definieren und in bestimmte Schubladen einsortieren können, weil im Zweifelsfall keine Schublade passt. Auf jeden Fall muss eine Wehrpflichtarmee immer eine Parlamentsarmee bleiben. Aus diese Grunde ist schon zu Recht gesagt worden, dass die Information und die Beschlussfassung des Bundestages nur dann in einem Geheimgremium stattfinden sollten, wenn dies aus Sicher638 heitsgründen unabdingbar ist. Dies darf aber nicht die Regel werden. ({1}) Wir dürfen jedenfalls nicht sagen: Eine Behandlung in einem Gremium ist manchmal weniger mühsam und von der Geschäftsordnung einfacher zu handhaben. Dies gilt ebenso für Zeiten, in denen es mit der parlamentarischen Planung nur schwer in Einklang zu bringen ist, oder auch dann, wenn wir uns an Feiertagen zu Hause aufhalten und nicht im Plenum sind. - Zu diesen Argumenten sage ich: Jeder Einsatz ist gefährlich und setzt die Soldaten Risiken aus. Deswegen muss jeder Einsatz - ich komme noch einmal auf Sie zurück, Herr Nachtwei -, wenn er nicht unabdingbar in einem Geheimgremium beraten werden muss, öffentlich bewertet und begründet werden. Daher muss die Behandlung im Plenum die Regel bleiben. Wir müssen die Verbesserungen, die der Regierung mehr Handlungsspielraum geben, und auch solche, die uns in die Lage versetzen, dies in der Geschäftsordnung leichter handhabbar zu machen, miteinander verbinden. Dazu ist die Initiative geeignet. Dafür finden wir über die Fraktionen hinweg bestimmt gute Regeln. Danke. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Merten.

Ulrike Merten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003192, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege van Essen, es ist ganz unzweifelhaft, dass unsere Soldaten bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr einen Anspruch auf Rechtssicherheit haben. Aber es ist auch unzweifelhaft, dass diesem Anspruch bereits jetzt, wie ich finde, gründlich Rechnung getragen wird. ({0}) Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 ist klar, dass die Bundesregierung vor einer deutschen Beteiligung an einem bewaffneten Einsatz die Zustimmung des Deutschen Bundestags einholen muss. Das ist auch die Praxis, die wir nun schon viele Jahre üben. Entscheidend dabei ist, dass sich durch die Notwendigkeit der konstitutiven Zustimmung die Regierung und das gesamte Parlament gleichermaßen für die Bundeswehr verantwortlich fühlen. Die Bundeswehr - das betone ich - darf niemals zum Werkzeug einer Regierungsmehrheit, gleich welcher Couleur, werden. ({1}) Heute unterstützen deutsche Soldaten eine Friedenstruppe im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina. Im Mazedonien-Einsatz hat sich die Bundeswehr hohe Anerkennung im In- und Ausland erworben. Im Rahmen der UN-Friedensmission haben sich unsere Streitkräfte als wesentliche Stütze der Strategie von Stabilisierung und Friedenssicherung in Afghanistan erwiesen. Ohne diese engagierte Arbeit wäre der Friedensprozess so nicht möglich gewesen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich auf Folgendes hinweisen: Der Deutsche Bundestag hat in der 14. Wahlperiode 17-mal über Auslandseinsätze abgestimmt. Bis zum Jahresende wird sich das Parlament in dieser neuen Legislaturperiode viermal mit Auslandseinsätzen befasst haben. Schon morgen früh stimmen wir namentlich über die Fortsetzung unserer Beteiligung an Enduring Freedom ab. Über die zeitliche Nähe der Einbringung Ihres Antrags und der Mandatsverlängerung bin ich - das sage ich ganz deutlich - ein bisschen unglücklich. Wir sollten jeden Eindruck vermeiden, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang gibt und das Parlament in seinen Rechten beschnitten werden soll. Gleichwohl sollten wir Gelegenheit nehmen, uns auch die Zeit nehmen, über die Empfehlung aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nachzudenken. Ich brauche das jetzt nicht noch einmal zu zitieren; Sie haben das schon an verschiedenen Stellen getan. Ich will aber noch einmal hervorheben, dass das Verfassungsgericht uns die Gestaltung überlassen hat. Es hat dafür weder ein zwingendes Gebot aufgestellt noch eine Frist gesetzt. Insofern gibt es keinen unmittelbaren Entscheidungsdruck. Heute, nach mehr als zehn Jahren Einsatzerfahrung und auch vor dem Hintergrund der sehr praktischen Erfahrungen, die unsere Soldaten in der Vorbereitung von Mandaten machen, ist es meines Erachtens angezeigt, darüber nachzudenken - das ist auch schon an vielen Stellen gesagt worden -, welche tatsächlichen Probleme sich zwischen Bundestag und Bundesregierung bei konkreten Einsätzen bewaffneter Streitkräfte ergeben haben. Zu welchem Schluss wir auch immer kommen: Grundlage bleibt unsere Verfassung. Daran hätte sich auch ein Parlamentsbeteiligungsgesetz unter allen Umständen zu orientieren. Das ist wichtig zu wissen, auch für diejenigen, die erst jetzt in die Debatte einsteigen und die glauben, hiermit solle das Parlament möglicherweise wichtiger Rechte enthoben werden. ({3}) Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die bisher allenfalls kurz angedachten, keineswegs aber ausführlich diskutierten Fragen von großer Komplexität sind. Sie bedürfen meines Erachtens zunächst einer intensiven juristischen und politischen Analyse. Dabei ist umfassend zu untersuchen, welche offenen Fragen tatsächlich bestehen, ob zwingend etwas neu geregelt werden muss und wie dies sachgerecht geschehen könnte. Wenn wir zu einer Änderung kommen, dann sollte es unser gemeinsames Ziel sein, die Rechtslage so zu gestalten, dass sie auch über einen längeren Zeitraum Bestand hat. ({4}) Dies kann meiner Ansicht nach nur gelingen, wenn wir uns über die offenen Fragen und über einen Lösungsweg verständigen können. Dafür brauchen wir einen breiten Konsens über die Fraktionsgrenzen hinweg. Der Antrag der FDP kann als ein Beitrag zu der Debatte verstanden werden, an deren Anfang wir erst stehen. Ich habe den Eindruck, dass wir auf einem guten Wege sind. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Bei so viel Konsens neigt man fast dazu, diesen Antrag noch heute Abend verabschieden zu wollen. ({0}) - Kollege van Essen, diese Reaktion wollte ich einfach nur hören, damit Sie nicht auf die Idee kommen - Sie würden es nicht tun -, sich jetzt schon fälschlicherweise in dem Gefühl einer sicheren Mehrheit zu wiegen. Wir haben festgestellt, dass dieser Punkt im Koalitionsvertrag, den wir alle aufmerksam gelesen und archiviert haben, nicht enthalten ist, obwohl wir das eigentlich erwartet haben. Da der Koalitionsvertrag in so vielen Punkten zwischenzeitlich schon überholt ist, ergibt sich hier vielleicht die Möglichkeit, eine positive Entwicklung anzustoßen. Vorneweg möchte ich Folgendes sagen: Ich bin schon sehr dankbar dafür - das möchte ich unterstreichen -, dass wir tatsächlich einen Konsens haben. Der Deutsche Bundestag hat im Vergleich zu den anderen Parlamenten Europas, vielleicht sogar der Welt - ich sage das, obwohl ich diesbezüglich keinen vollkommenen Überblick habe die stärkste Stellung, was die Zulassung der Beteiligung der Streitkräfte des eigenen Landes an militärischen angeht. Die Tweede Kamer in den Niederlanden hat ein gewisses Entscheidungsrecht. Wir kennen aus den USA den so genannten War Powers Act. Er ist im Wesentlichen ein Rückholrecht bzw. Befristungsrecht. Er ist nicht gleichzusetzen mit dem Gebot der Zustimmung der Konstitutive, das unser Bundesverfassungsgericht in einer - sehr lobenswerten - Entscheidung formuliert hat. Wenn man ganz ehrlich ist, dann muss man einräumen: Das Verfassungsgericht hat dabei im Wege der Rechtsschöpfung gearbeitet. Frau Kollegin, Sie haben auf das Zitat aus dem Jahre 1918 hingewiesen. Das, was da gesagt worden ist, ist natürlich auch ein Teil der Rechtfertigung des Verfassungsgerichts gewesen, als es darum ging, eine in sich schlüssige, kluge Entscheidung zu treffen. Mit dieser Entscheidung ist es dem Bundesverfassungsgericht gelungen, einen offensichtlichen Streit, den wir nun einmal hatten und der eigentlich nicht zielführend war, vernünftig zu beenden. Sedes materiae ist nicht Art. 87 a des Grundgesetzes. Die Problematik des Einsatzes deutscher Streitkräfte im Ausland bleibt bestehen. Sedes materiae ist aber auch nicht Art. 24 des Grundgesetzes. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist aus der Verfassung heraus entwickelt worden. Sie knüpft an einer Rechtsvorstellung an, die ein starkes Parlament vorsieht. Das ist gut und das ist richtig. Ich entsinne mich an die sehr kontroversen Debatten in der 12. Legislaturperiode vor der AWACS-Entscheidung. Gemessen daran war diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ein wirklich verfahrensbefriedendes Urteil, was wir bis heute merken. Allerdings stellt sich doch die Frage, ob gerade in solchen dynamischen Prozessen, wie es Einsätze ihrer Natur nach nun einmal sind, ein relativ statisches Verfahren wie ein Zustimmungsverfahren - der Antrag räumt uns, den Abgeordneten des Bundestages, nicht die Möglichkeit ein zu gestalten; vielmehr können wir nur Ja oder Nein sagen; wir können allenfalls über politischen Druck oder über Protokollnotizen die eine oder andere Ergänzung erreichen - der Lösung der Probleme, denen wir gegenüberstehen, vollkommen gerecht wird. Formal ist die Beteiligung gesichert. Diese Sicherheit ist - das ist von den Kollegen mehrfach dargelegt worden - holprig. Das ist einer der Gründe, wieso wir sie in der Tat „einschleifen“ müssen. Es ist zu klären, ob die Bundeswehr an Vorauskontingenten oder an Vorgängen teilnimmt, die in einem gewissen Rahmen stattfinden, der nach dem Prinzip „minima non curat curia“ ablaufen. Es muss nicht unbedingt sein, dass ein Parlament mit 603 Abgeordneten in einer Sondersitzung darüber bestimmt, dass fünf oder sechs Soldaten der Bundeswehr in eine Position gebracht werden, ob das ein Einsatz ist oder nicht. Ich möchte mit dieser Bemerkung nur auf die Dimension verweisen. Wir können und sollten in der Tat Verfahren finden, die uns in solchen Fällen - in der vergangenen Legislaturperiode waren es 17; in dieser Legislaturperiode werden es möglicherweise nicht weniger sein - zu einer gewissen Flexibilität verhelfen. Das heißt nicht, dass wir etwas von unseren Rechten abgeben. Wir dürfen die Augen nicht davor verschließen, dass die Rechtspraxis wieder an einem gewissen Punkt angelangt ist, der es nötig macht, für eine verfahrensmäßige Regelung zu sorgen. Die damalige Bundesregierung tendierte zu Beginn ihrer Regierungszeit klugerweise dazu, sehr detaillierte Anträge zu stellen. Das hat uns dazu verführt, in den Ausschüssen nahezu militärstrategische Erwägungen zu diskutieren. ({1}) Kollege Karl Lamers hat damals - wir saßen einmal einen Tag vor Weihnachten zusammen - im Auswärtigen Ausschuss davon gesprochen, dass es doch eigentlich unnötig sei, wirklich jeden Feldspaten aufzuführen. Das ist nicht der Weg, den wir gehen können. Wir sind nicht der Ersatzgeneralstab, sondern der Aufsichtsrat bezüglich Entsendungen der Bundesregierung. Deshalb sollte meiner Meinung nach diese Form von Kontrolle auch eine gewisse Selbstbeschränkung beinhalten. Faktisch ist die Selbstbeschränkung eigentlich über die gelobten Prinzipien hinaus im letzten Jahr durchgehalten worden. Morgen verfahren wir auch wieder so. Wir hatten uns nicht nur darauf verständigt, sondern auch das Urteil so interpretiert, dass ein Vorratsbeschluss nicht möglich ist. Ich würde gern einmal eine Diskussion darüber führen - das können wir bei diesem Thema im Plenum nicht leisten, aber schon im Rahmen der Gesetzesberatungen -, ob nicht der Enduring-Freedom-Beschluss eigentlich ein Vorratsbeschluss ist: über die halbe Welt gültig, größtmöglicher Freiraum bei der Benennung von Stärken und eine völlig im Allgemeinen gelassene Zielsetzung der Aktion. Angesichts dieser Charakterisierung sind wir eigentlich bei einer Form von Vorratsbeschluss angelangt. Ich sage ganz offen, dass so etwas natürlich auch nicht befriedigt, denn das ruft nach dauerhafter Kontrolle. Da entsteht in der Tat das Bedürfnis nach ständiger Information und der Möglichkeit ständiger Einflussnahme. Diese ist aber nur über das Setzen von Fristen und immer wieder erneuter Positionierung in der Frage möglich. In der Praxis sind die Beschlüsse inzwischen mit einer Jahresfrist versehen. Müssen wir aber nicht darüber nachdenken, ob wir bei einem solchen Gesetz über das reine Ja oder Nein hinaus nicht auch in grundsätzlichen Fragen ein Gestaltungsrecht verlangen sollten, zwar nicht in Details oder der Frage des Auftrags, aber schon in der Frage der Befristung? Wir haben gehört, dass die Mandate ursprünglich für sechs Monate galten, dann für ein Jahr und dann wieder für sechs Monate. Das Parlament sollte doch einmal von sich aus über die Frage des Rückholrechtes diskutieren. Auf ein Problem, von dem ich hoffe, dass es Ihnen, Herr Verteidigungsminister, und uns nie ins Haus steht, möchte ich noch zu sprechen kommen, nämlich dass wir Aufträge erteilen, aber das Budget für die Erfüllung dieser Aufträge nicht mehr ausreicht. Natürlich müssen der Haushaltsausschuss und das Parlament zustimmen. Aber wir müssen doch über die Frage diskutieren, ob nicht das Budgetrecht - vom Kollegen Nachtwei zu Recht als Königsrecht des Parlaments bezeichnet - hier einen stärkeren Einfluss haben könnte oder sollte. Das ist nicht abschließend gemeint; vielmehr werden wir intensiv über den Antrag der FDP diskutieren, der sehr lobenswert ist. Dies möchte ich aber zu bedenken geben. Ein letzter Gedanke: Die NATO-Response-Force, deren Gründung in Prag beschlossen werden soll und die ich für sehr wichtig halte - wir haben an anderer Stelle darüber diskutiert -, wird ebenso wie eine ESVP-Truppe mit konkretem Auftrag eine andere Qualität in das Thema bringen, weil hier Einsatzstrukturen multilateral ausgelegt und noch weniger Einflussnahmen nationaler Parlamente möglich sein werden. Ich weiß nicht, wie der gegenwärtige Stand der Behandlung dieses Themas im Europäischen Konvent ist. Ich hatte aber bei Gelegenheit schon einmal die Kollegen, die uns da vertreten, darauf hingewiesen, dass wir auch über diese Frage reden müssen. Im Entwurf eines europäischen Verfassungsvertrages müssen - vielleicht unter Einschränkung gewisser Rechte des Deutschen Bundestages - andere legislative Organe mit einer Kontrollfunktion hinsichtlich der ESVP bedacht werden. ({2}) Es gibt sehr viel zu tun. Ich habe nur einige wenige Punkte genannt, über die wir reden sollten. Gott sei Dank sind wir schon über Zustände früherer Zeiten hinaus: Ich erinnere mich, wie ein Bundeskanzler vor einem Einsatz - ich weiß nicht mehr, um welchen es ging - versuchte, den damaligen Oppositionsführer Engholm in Afrika oder Australien aufzuspüren, um seine Zustimmung einzuholen, was damals nicht gelungen ist. Die jetzige Opposition ist immer hier in Berlin erreichbar. Wenn sie formal eingebunden wird, ist sie auch sehr gerne bereit, sachbezogen im Sinne unseres Landes und unserer Soldaten möglichst in Form von geregelten Verfahren diese Dinge im Konsens zu beschließen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Als letztem Redner in der Debatte erteile ich nun dem Abgeordneten Christoph Zöpel das Wort.

Dr. Christoph Zöpel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002604, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einer ganz allgemeinen Einsicht beginnen. Zu dem, was mich an Hinweisen während meiner jetzt langen administrativen wie parlamentarischen Tätigkeit besonders beeindruckt hat, gehörte der Hinweis eines nordrhein-westfälischen Beamten kurz vor seiner Pensionierung. Er war liberal-konservativ eingestellt und stark von Willi Weyer geprägt. Er hat mir einmal, als wir über ein Gesetz sprachen, gesagt: Herr Minister, wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen. ({0}) Diesen ersten Gedanken würde ich über diese Diskussion stellen. Ist es notwendig, ein Gesetz zu machen? ({1}) Ich bin mir nicht sicher. Herr Kollege, ich bin bereit, mit Ihnen darüber nachzudenken, aber ich bin noch nicht überzeugt. Der konstitutive Beschluss des Bundestages zu Einsätzen deutscher Soldaten im Ausland hat sich bewährt. Es ist vielleicht das Schönste in dieser Debatte, dass die Redner aller Fraktionen dies gesagt haben. Er hat sich weit darüber hinaus insofern bewährt, als er im Verfahren des Bundestages funktional ist. Er hat sich als ein Beitrag zur Stabilisierung von Demokratie in Deutschland und zur demokratischen Integration bewährt. Der schwierige Prozess öffentlich wirksamer Debatten hier im Hause darüber, was deutsche Soldaten - vor allem Christian Schmidt ({2}) nach 1989, als wir wieder eine andere Handlungsfähigkeit im globalen und internationalen Zusammenhang bekommen haben - im Ausland dürfen oder nicht, war wichtig und unverzichtbar. So berechtigt es sein mag, sich heute vorzuhalten, was der eine vor einigen Jahren gesagt oder nicht gesagt hat, es gäbe ohne diesen intensiven Diskussionsprozess, der nur in Verbindung mit diesem konstitutiven Recht möglich war, heute nicht diese kritische und erforderlichenfalls auch zustimmende Haltung der großen Mehrheit der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland bei schwierigen Weltlagen. ({3}) Dass diese in Westdeutschland zurzeit etwas stärker ist als in Ostdeutschland, ist völlig begreifbar. An solchen Stellen wird historisches Schicksal offenkundig, nämlich dass der, der sich erst später in diesen demokratischen Diskurs einschalten konnte, mehr Zeit braucht, um aufzuholen. Der erwähnte Prozess war und bleibt notwendig als ein Beitrag Deutschlands zur Diskussion innerhalb von und zwischen Demokratien über die Funktion von Militäreinsätzen. Dass Deutschland besonders kritisch damit umgeht, bleibt historisch notwendig. Es gibt gar keinen Grund, nicht Stolz darauf zu sein, dass wir Deutschen die Lehre aus den verbrecherischen Möglichkeiten, Soldaten in andere Länder zu schicken, gezogen haben und jetzt auf der internationalen Bühne besonders kritisch damit umgehen. Insoweit ist es kein Zufall, sondern ein Grund, berechtigt und dennoch wieder nachdenklich hinsichtlich der eigenen Geschichte den deutschen Parlamentsvorbehalt betreffend Soldateneinsätze international zu verteidigen und auch zu erklären. ({4}) Wenn Deutschland hinsichtlich Krieg das nachdenklichste Land unter den Demokratien ist, dann ist das notwendig und gut. Für den Alltag finde ich es schön, wenn der deutsche Vertreter im NATO-Rat bei den ersten Überlegungen über die NATO-Response-Force darauf hinweist, es gebe in Deutschland den Parlamentsvorbehalt und an dem solle festgehalten werden. Ich halte das für einen Beitrag zur demokratischen Kultur innerhalb der internationalen Gemeinschaft. ({5}) Verschiedene Hinweise sind gegeben worden, worüber im Einzelnen nachgedacht werden kann. Ich komme noch darauf zurück. An einer Stelle möchte ich Ihnen zwar nicht direkt widersprechen, Herr Kollege Kossendey, aber ich muss sagen, dass ich da nachdenklich geworden bin. Es geht um Ihren Hinweis, die Art der internationalen Zusammenarbeit in Fragen der Sicherheitspolitik müsse uns dazu veranlassen, zu überprüfen, wie ein solcher Parlamentsvorbehalt zur Geltung gebracht werden kann. Die Frage ist berechtigt. Ich will dazu sehr offen sagen: Die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik, in der Umweltpolitik, in der Wirtschaftspolitik und in vielen anderen Bereichen ist unumstritten. Diese Zusammenarbeit ist notwendigerweise zunächst einmal eine Zusammenarbeit der Regierungen. Diese internationale Zusammenarbeit beschränkt sich aber nicht auf die Zusammenarbeit von Regierungen, sondern sie wird in vielen Bereichen - das ist besonders kritisch im Bereich der Sicherheitspolitik zu sehen - zunehmend zu einer Aufgabe sich verselbstständigender internationaler Bürokratien. Ich will nicht von vornherein etwas gegen diejenigen Institutionen sagen, die sich um die Sicherheit kümmern. Aber wenn es richtig ist, dass die Frage von Krieg und Frieden eine Schicksalsfrage ist, dann muss man sich fragen, ob hinsichtlich der Sicherheit der öffentliche Diskurs und die parlamentarische Kontrolle reichen. Solange wir in Europa - natürlich auch weltweit - noch nicht darüber nachgedacht haben, wie eine parlamentarische Begleitung der von internationalen Institutionen verantworteten Politik möglich ist, sollten wir besonders an unserem konstitutiven Recht festhalten und es geradezu als Vehikel benutzen, zunächst in Europa und dann weltweit darüber zu diskutieren, wie mehr parlamentarische Kontrolle gegenüber sich sonst verselbstständigenden internationalen Bürokratien organisiert werden kann. Diese Frage stellt sich mir im Zusammenhang mit dem Punkt, den Sie angesprochen haben. ({6}) Deswegen bin ich an dieser Stelle ganz besonders vorsichtig. Die NATO-Response-Force ist aufgrund des Parlamentsvorbehalts ein Problem. In diesem Punkt gab es eine gute Analyse und es wurden die richtigen Fragen gestellt. Meine Antwort lautet: Gerade bei der NATO-ResponseForce sollten wir an dem Parlamentsvorbehalt festhalten und mit allen Alliierten darüber sprechen, wie er auch woanders eingeführt werden kann. Eine weitere Bemerkung. Der Umgang mit diesem Recht des Parlaments ist nicht immer einfach. Das mag von Regierung zu Regierung unterschiedlich sein, abhängig davon, von welchen Parteien sie gestützt werden. Ich glaube aber, dass alle Regierungen große Mühe aufwenden mussten, entsprechende Beschlüsse zu erreichen. Ich nehme da keine Regierung aus. ({7}) - Wenn man lange in diesem Bereich tätig ist, weiß man, dass handwerkliche Fehler nie auszuschließen sind. ({8}) Wenn man zu viele handwerkliche Fehler macht, kann man daran scheitern. Man kann aber auch scheitern, wenn man sich nicht um eine ausreichende demokratische Legitimation bemüht. ({9}) Lassen Sie mich deshalb mehr an die Adresse meiner Partei und an die des Koalitionspartners sagen: Es war anstrengend in der letzten Legislaturperiode, für bestimmte Bundeswehreinsätze eine Zustimmung zu bekommen. Ich denke, Bundeskanzler Gerhard Schröder und die Parlamentarischen Geschäftsführer waren manchmal nachdenklich. Aber mein Eindruck ist: Diese Debatten haben sich gelohnt, weil sie die Demokratie stabilisiert haben ({10}) und die Legitimation außerhalb des Parlaments eingeholt haben. Auf diese Leistung, die auch in Zukunft notwendig ist, möchte ich nicht verzichten. Auch diesen Punkt sollte man sehen. Die Vorredner meiner Fraktion haben die Gesprächsbereitschaft signalisiert. Ich schließe mich dem an. Lassen Sie mich deshalb aus meiner Sicht nur noch die Richtung nennen. Ich bin der festen Überzeugung, dass man über die Geschäftsordnung reden sollte: Wie kann man die Rechte des Parlaments respektieren, ohne die Abläufe zu verzögern? Es entspricht nämlich nicht der Lebenswirklichkeit, davon auszugehen, dass ein Parlament an 365 Tagen jeweils 24 Stunden zur Verfügung stehen kann. Auch das sollte man berücksichtigen. Ich als Nichtjurist bin sehr skeptisch, ob ein kasuistisches Gesetz, das regelt, was in welchem Fall eines internationalen Vorfalls passieren sollte, überhaupt möglich ist. Stellen wir uns einmal vor, wir hätten dieses Gesetz vor fünf Jahren verabschiedet. Ich vermute; ein Großteil der dann vorgenommenen Legaldefinitionen würde der Situation nach dem 11. September nicht entsprochen haben. Dann hätten wir jetzt eine neue Debatte. Reichen unsere Definitionen? Das ist meine Hauptskepsis. Deshalb neige ich dazu, primär die Geschäftsordnung heranzuziehen und sich dann doch eines zu sagen: Wir sind auf der Grundlage unseres Grundgesetzes, interpretiert durch das Bundesverfassungsgericht, ganz ordentlich mit diesen Einsätzen umgegangen, mit vielen positiven Wirkungen: Alle Einsätze, die wir für nötig hielten, haben stattgefunden. Den Soldaten ist dabei meines Erachtens im Ergebnis nichts geschehen, was sie in Unsicherheit gebracht hätte. Die Legitimation in der Bevölkerung, die dadurch erzielt wurde, war erheblich. In der derzeitigen Lage haben wir den Eindruck, die Sicherheitssituation könnte in zwölf Monaten wieder völlig anders sein als heute. Wer kann das so genau voraussagen? Die Abgrenzung zwischen dem Militär und der internationalen Polizei mag Gegenstand eines neuen völkerrechtlichen und dann auch in den einzelnen Staaten zu beachtenden Gesetzesvorhabens sein. Lassen Sie uns vor diesem Hintergrund diese Angelegenheit eher in Ruhe betrachten, als vorschnell etwas zu tun. Dennoch, Herr Kollege van Essen, Ihre Anregung ist richtig. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/36 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit offensichtlich einverstanden. Dann verfahren wir auch so. Die Überweisung ist beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. November 2002, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.