Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute bringen wir
ein Kernstück unserer Familienpolitik in dieser Legislaturperiode auf den Weg. Mit der Reform von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub machen wir deutlich: Familien sind bei dieser Bundesregierung gut aufgehoben.
({0})
Der Gesetzesentwurf sieht entscheidende Verbesserungen für Familien vor. Da wir eine Debatte darüber sicherlich noch bekommen werden, möchte ich Sie alle aufrufen,
eine bessere Bezeichnung für das Wort „Erziehungsurlaub“ zu suchen. Die Bezeichnung „Erziehungszeit“ können wir leider nicht verwenden, da sie sozialrechtlich anders definiert wird. Suchen Sie also alle mit!
Mit der Reform des Erziehungsurlaubs wird die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Väter und Mütter
erleichtert. Eltern erhalten mehr Wahlmöglichkeiten für
eine individuelle Lebensgestaltung. Mit der Erhöhung der
Einkommensgrenzen und der Kinderzuschläge erhalten
zukünftig wieder mehr Familien in unserem Land Erziehungsgeld.
({1})
Sie von der Opposition haben über viele Jahre angekündigt, dass Sie die Einkommensgrenzen erhöhen wollen. Es ist aber nie etwas passiert. Wir machen das jetzt.
Wir machen eine Familienpolitik, die die Realität in unserem Land im Blick hat. Wir vollziehen mit diesem Gesetzesentwurf die längst überfällige Abkehr vom bisherigen
Erziehungsgeldgesetz, das immer noch von der traditionellen Aufgabenverteilung in der Familie mit der Zuweisung der Kinderbetreuung an die Mütter und der Ernährerrolle an die Väter ausgeht. Denn dieses Modell hat heute bei den jungen Menschen, sowohl bei den jungen
Frauen als auch bei den jungen Männern, ausgedient. Das
zeigen zum Beispiel auch die Ergebnisse der Shell-Studie
sehr deutlich. Dem werden wir gerecht.
Für die durchweg gut ausgebildeten jungen Frauen ist
das berufliche Engagement heute eine Selbstverständlichkeit. Junge Frauen wollen heute beides: Beruf und Familie. Aber auch bei den jungen Männern rangieren Partnerschaft und Familie gleichberechtigt neben dem Beruf.
Auch die jungen Väter wollen heute mehr Zeit für ihre
Kinder haben; das ist sehr gut so.
({2})
Aber wir wissen, dass es bei den Vätern noch eine erhebliche Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit
gibt. Über 90 Prozent der anspruchsberechtigten Mütter,
aber nur wenige Väter nehmen Erziehungsurlaub. Über
98 Prozent der Eltern im Erziehungsurlaub sind Frauen.
Unser Ziel ist, gerade das zu ändern und das Verhältnis zugunsten der Väter zu verbessern.
({3})
Mit diesem Gesetz machen wir auch mit der Wahlfreiheit für Eltern bei der Gestaltung der Aufgabenverteilung
in der Familie Ernst. Deshalb werden künftig Väter und
Mütter gemeinsam Erziehungsurlaub nehmen können.
Das bisher starre System des Erziehungsurlaubs, bei dem
sich die Eltern entscheiden mussten, welcher der Partner
ihn in Anspruch nimmt, ist damit passé. Das ist eine ganz
Präsident Wolfgang Thierse
entscheidende Verbesserung, die man fast schon als revolutionär bezeichnen kann.
({4})
Mehr Flexibilität erhalten Eltern auch durch das neue
Angebot, mit Zustimmung des Arbeitgebers ein Jahr des
Erziehungsurlaubs zwischen dem dritten und achten
Geburtstag des Kindes zu nehmen, um beispielsweise das
erste Schuljahr begleiten zu können.
Wir erweitern die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit im
Erziehungsurlaub von derzeit 19 Stunden auf bis zu
30 Wochenstunden für jeden Elternteil, der Erziehungsurlaub nimmt. Darauf haben Beschäftigte in Betrieben mit
mehr als 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen
Rechtsanspruch. Bei einem gemeinsamen Elternurlaub
können Vater und Mutter zusammen jetzt also bis zu
60 Stunden pro Woche arbeiten.
Ich möchte Ihnen noch einmal sagen, warum wir uns
für genau dieses Modell der gemeinsamen Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs mit dem Angebot,
ihn auch als „Teilzeiturlaub“ gestalten zu können, entschieden haben. Wenn man sich in Europa umguckt, wie
die verschiedenen Modelle gewirkt haben und ob sie wirklich dazu geführt haben, dass mehr Väter Erziehungsurlaub nehmen, muss man feststellen, dass selbst im Musterland Schweden, das uns gleichstellungspolitisch um
Welten voraus ist, das dortige Modell nicht viel gebracht
hatte. Dort gab es bereits ein Jahr Erziehungsurlaub mit einer Lohnersatzleistung als Alternative zur Erwerbsarbeit,
aber keinen Teilzeitanspruch. Ergebnis war, dass auch in
Schweden über 90 Prozent der Frauen Erziehungsurlaub
in Anspruch nahmen.
Deshalb setzen wir so sehr auf die gemeinsame Inanspruchnahme mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit.
Bei dieser Regelung müssen Eltern, die Erziehungsurlaub
nehmen, nicht ganz aus dem Beruf aussteigen. Das ist gerade für viele Frauen sehr wichtig, die im Erziehungsurlaub Teilzeit arbeiten wollen. Dieses Gesetz ist also nicht
nur familienfreundlich, sondern auch sehr frauenfreundlich. Der Bundesregierung geht es darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, bei denen für Mütter und Väter die
Zugänge zu beiden Welten, zu Beruf und Familie, offen
sind und die auch Übergänge zwischen diesen beiden Welten möglich machen.
Aber auch Unternehmen werden von diesen Regelungen profitieren. Der weiterhin bestehende Kontakt zum
Beruf, das Nicht-aussteigen-Müssen aus dem Beruf
während des Erziehungsurlaubs, die höhere Zufriedenheit
von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die höhere Motivation - das alles sind doch Faktoren, die, wie wir wissen,
für Betriebe positiv zu Buche schlagen.
({5})
Familienfreundlichkeit und betrieblicher Vorteil vertragen
sich durchaus miteinander. Daher fordere ich die Unternehmen auf, zur Abwechslung einmal Familienfreundlichkeit auch als Väterfreundlichkeit zu praktizieren.
Unter Familienfreundlichkeit werden ja meistens Regelungen verstanden, die den Müttern helfen, Beruf und
Familie zu vereinbaren. Wir sollten uns auch einmal ein
Stückchen mehr auf die Väter konzentrieren; denn auch
Väter gehören zur Familie, nicht nur als virtuelle Väter,
sondern als ganz real existierende.
({6})
Mit dem vorliegenden Gesetz wird es in Deutschland
zum ersten Mal einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit
geben. Ich möchte es ganz klar sagen: Familienpolitik hat
mit diesem Gesetz eine hohe Hürde genommen. Es gibt
jetzt einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit während des
Erziehungsurlaubs. Dieser Anspruch gilt in Betrieben mit
mehr als 15 Beschäftigten, wenn dem keine dringenden
betrieblichen Gründe entgegenstehen.
Nun wissen Sie alle, dass diese Regelung nicht unumstritten war. Viele Arbeitgeber wollten überhaupt keinen
Rechtsanspruch. Andere meinten, wenn schon ein solcher
Rechtsanspruch eingeführt werden müsse, dann solle er
für Betriebe mit mindestens 50 Beschäftigten oder - besser noch - ab 100 Beschäftigten gelten. Mit der nun vorgesehenen Regelung für Betriebe ab 15 Beschäftigte erreichen wir 75 Prozent der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten in Deutschland. Das ist ein Ergebnis, das
sich wirklich sehen lassen kann.
({7})
Es ist auch ein Zeichen an die Unternehmen in unserem
Land, sich mutiger und innovativer für neue Modelle zur
Vereinbarkeit von Beruf und Familie einzusetzen und sich
auch an die Väter zu wenden. Sie profitieren davon, wie
positive Beispiele zeigen. Wir wissen längst, dass flexible
Arbeitszeitmodelle Innovationsschübe in den Unternehmen auslösen. Ich weiß durchaus, worüber ich rede: Ich
habe lange genug als Arbeitssenatorin in dieser Stadt gearbeitet. Damals haben wir viele solcher Modelle auf den
Weg gebracht. Das war für beide Seiten sehr positiv, sowohl für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als
auch für die Unternehmer.
({8})
Politik für Familie muss auch in der Arbeitswelt ansetzen.
Wenn sie das nicht tut, ist sie nicht glaubwürdig.
({9})
Genau dort setzen wir mit der Reform des Erziehungsurlaubs und mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit an.
Familien brauchen gemeinsame Zeitstrukturen. Sie
brauchen Zeit für gemeinsame Gespräche. Nur so können
Kinder und Jugendliche Fürsorge und persönliche Zuwendung erfahren. Nur so können Eltern ihnen jene Werte des menschlichen Zusammenlebens vermitteln, die für
die Zukunft unserer Gesellschaft entscheidend sind. Wir
verbessern mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ganz entscheidend die Rahmenbedingungen für die Eltern, damit
sie diesen Ansprüchen gerecht werden können. Da wir
wissen, wie viel Familie jungen Menschen bedeutet - das
war ein sehr interessantes Ergebnis der Shell-Studie -,
muss sich Politik auch darauf einstellen und Möglichkeiten schaffen, damit Familien Zeit füreinander haben und
damit es in der Arbeitswelt zu entsprechenden Veränderungen kommen kann.
Mit unserem Gesetzentwurf werden wir genau den Bedürfnissen der Menschen gerecht. Das besagt nicht nur die
Shell-Studie. Wir haben vor einiger Zeit eine repräsentative Umfrage in Auftrag gegeben. Danach waren 68 Prozent der Befragten der Meinung, dass mehr getan werden
müsse, damit auch Väter Erziehungsurlaub in Anspruch
nehmen. Sogar 81 Prozent der Befragten sprachen sich für
einen Anspruch auf Teilzeitarbeit im Erziehungsurlaub
aus. Wir sorgen also mit unserem Gesetz dafür, dass die
Übernahme der Elternverantwortung nicht gleichbedeutend ist mit dem Verzicht auf andere Gestaltungsmöglichkeiten. Gerade das ist es, was junge Leute in unserem
Land zu Recht von uns erwarten. Dem wollen wir gerecht
werden.
({10})
Es ist für mich eine Frage der Chancengleichheit von
Familien in unserer Gesellschaft, wenn Familien nicht auf
Dinge verzichten müssen, die für andere selbstverständlich sind. Chancengleichheit beginnt auch damit, dass die
finanziellen Verhältnisse der Familien mit geringen und
mittleren Einkommen verbessert werden. Genau das tun
wir mit diesem Gesetzentwurf auch: In Zukunft werden
wieder mehr Eltern Erziehungsgeld erhalten. Das ist ein
Verdienst dieser Regierung.
({11})
Nach 14 Jahren Stillstand, in denen sich nichts getan
hat, erhöhen wir die seit In-Kraft-Treten des Gesetzes im
Jahre 1986 unverändert gebliebenen Einkommensgrenzen
für das Erziehungsgeld ab dem siebten Lebensmonat des
Kindes.
({12})
- Es ist so: Die Einkommensgrenzen sind nicht erhöht
worden. Wir erhöhen sie jetzt um etwa 10 Prozent.
({13})
Wir erhöhen auch den Kinderzuschlag stufenweise um
jährlich 14 Prozent. Das ist ebenfalls ein ganz wichtiger
Punkt.
({14})
Das ist notwendig, weil derzeit nur noch etwa 50 Prozent
der Familien ab dem siebten Lebensmonat des Kindes den
vollen Betrag des Erziehungsgeldes erhalten.
Ich will noch auf eine weitere Verbesserung hinweisen.
Wir haben den jungen Familien folgendes Budgetangebot
unterbreitet: Eltern, die nur ein Jahr Erziehungsurlaub in
Anspruch nehmen, bekommen ein höheres Erziehungsgeld von dann 900 DM; derzeit sind es maximal 600 DM.
Es gibt insbesondere in den neuen Bundesländern eine
Menge Eltern, die nur ein Jahr Erziehungsurlaub nehmen;
für diese Eltern erhöhen sich die finanziellen Zuwendungen ganz erheblich, nämlich um 50 Prozent.
Dieser Gesetzentwurf fügt sich somit in die Reihe der
Maßnahmen ein, die wir zur Verbesserung der finanziellen Situation der Familien bereits auf den Weg gebracht
haben, und zwar vom ersten Tage unserer Regierung an.
Sie wissen: Wir haben das Kindergeld erhöht und es
hat erhebliche Verbesserungen durch das Steuerentlastungsgesetz gegeben. In diesem Jahr wird eine durchschnittliche Familie mit zwei Kindern insgesamt um
gut 2 000 DM entlastet. Im Jahr 2001 werden es fast
3 000 DM und im Jahr 2005 über 4 000 DM sein. Mit diesen Mosaiksteinen verbessern wir die finanzielle Situation der Familien weiterhin. Das kann sich sehen lassen und
die Familien in unserem Land wissen es zu schätzen.
({15})
Wir reden eben nicht nur darüber, wie wichtig uns Familien sind, sondern wir tun auch etwas: Wir entlasten die
Familien finanziell und wir nehmen die notwendigen
strukturellen Verbesserungen vor, damit die Familien
mehr Wahlmöglichkeiten haben. Die geschätzten Mehrkosten des Bundes für diese Reform zugunsten der Familien betragen jährlich etwa 300 Millionen DM.
Diese Novellierung ist durch eine gemeinsame Kraftanstrengung der gesamten Bundesregierung und der Regierungsfraktionen zustande gekommen. Ich möchte allen
Kolleginnen und Kollegen für ihr Engagement zum Wohle der Familien auch in Zeiten angespannter öffentlicher
Haushalte danken. Ich denke, auch die Familien werden
diesen Dank aussprechen.
({16})
Wir machen mit diesem Gesetzentwurf deutlich: Diese
Regierung will den Menschen Mut zur Familie machen.
Wir setzen uns für eine Gesellschaft ein, die Frauen und
Männern mehr Optionen in ihrer Lebensgestaltung eröffnet und die bessere Bedingungen schafft, um Familienleben und Arbeitswelt zu vereinbaren.
Danke schön.
({17})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Renate Diemers, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Palmenstrand, Sandburgen
bauen an der Ostsee, Ferien auf dem Bauernhof und Wanderungen im Schwarzwald - das ist Urlaub. Zeit für
Kinder zu haben, den Erziehungsauftrag mit all seinen
Schwierigkeiten und unvorhersehbaren Ereignissen wahrzunehmen und auch die schwierigen beruflichen PerspekBundesministerin Dr. Christine Bergmann
tiven nicht aus den Augen zu verlieren sind dagegen kein
Urlaub.
({0})
Es ist keineswegs Urlaub, ein krankes Kind zu pflegen,
wenn es quengelig ist, wenn es liebebedürftig ist oder
wenn es zahnt. Es ist natürlich, dass es zahnt; aber es ist
für die Familien kein normaler Alltag, sondern eine besondere Situation mit außergewöhnlichen Belastungen.
Nicht durchschlafen zu können, sich zu sorgen, nicht abschalten zu können, immer für das Kind da zu sein - ich
könnte diese Aufzählung noch lange fortsetzen. Daher ist
es erstaunlich, dass Sie in Ihrem Gesetzentwurf die aktuelle Diskussion um die Umbenennung des Begriffs „Erziehungsurlaub“ ignorieren. Aber, Frau Ministerin, Sie
haben uns ja gerade aufgefordert, einen besseren Begriff
zu finden. Eigentlich müsste es bekannt sein, dass die
CDU/CSU für den Begriff „Erziehungszeit“ plädiert.
({1})
Wir wollen mit der zeitgemäßen Begriffsänderung deutlich machen, dass es sich nicht um eine Erholungsphase
für Mütter und Väter handelt, sondern dass den Eltern
mehr Zeit für die Familie, für die Kinder gegeben werden
sollte.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, die
Interessen und Bedürfnisse der Kinder werden in Ihrem
Gesetzentwurf nur mangelhaft gewahrt - auch wenn Sie
das anders ausdrücken -, da sie als eigene kleine Persönlichkeiten eine nur untergeordnete Rolle spielen. Ich verdeutliche dies anhand der Schilderung einer Familiensituation. Klassische Familie: Vater, Mutter, Kind. Beide Elternteile gehen arbeiten, sagen wir, zum Beispiel, der Vater
40 Stunden, die Mutter 30 Stunden - so wie Sie es in Ihrem
Entwurf vorschlagen.
({3})
Die Mutter geht also zum Beispiel täglich von 9 bis 15 Uhr
arbeiten oder sie geht ganztägig arbeiten und hat pro Woche einen freien Tag.
({4}): Der Vater bleibt
zu Hause!)
In ihrer verbleibenden freien Zeit erledigt sie die Hausarbeit, die Einkäufe, Behördengänge,
({5})
alles - kurz gesagt -, was klassischer Weise bei demjenigen Partner hängen bleibt, der etwas mehr Freizeit hat.
Auch die jungen Mütter, die hier im Parlament sind, können ein Lied davon singen, und insbesondere die alleinerziehenden.
({6})
Ach ja, da war ja noch das Kind. Das Kind - vielleicht
im Alter von sechs oder 18 Monaten - ist mindestens sieben Stunden - An- und Abfahrt inklusive - bei einer Kinderbetreuung, welcher Art auch immer. Wenn Sie auf Mütter und Väter gehört hätten, wüssten Sie, dass eine derartige Konstellation puren Stress bedeutet.
Die erste Reaktion auf diese Schilderung müsste eigentlich sein: Wir müssen unbedingt den Erziehungsurlaub bzw. die Erziehungszeit einführen. Dem müsste ich
entgegnen: In den 30 Stunden bzw. 70 Stunden für beide
Elternteile ist der Erziehungsurlaub nach den Plänen der
SPD und der Bündnisgrünen schon enthalten. Und ich füge hinzu: Dies ist das alte linke Dogma von außerhäuslicher Erwerbsarbeit beider Elternteile um jeden Preis.
({7})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, zwar findet
Ihre Forderung nach dem Anspruch auf Teilzeitarbeit auch
in unseren Reihen Unterstützung, vehemente Unterstützung, aber nicht die Erhöhung der Wochenarbeitszeit
von 19 Stunden auf 30 Stunden. Das würde nämlich bedeuten, dass bei gleichzeitigem Anspruch auf Erziehungsgeld bis zu 70 Stunden pro Woche gearbeitet werden könnte. Wohlgemerkt: bei Inanspruchnahme der Erziehungszeit durch ein Elternteil.
({8})
Dieser Ausbau höhlt das Ziel, den Grundgedanken und
die ursprüngliche Philosophie des Erziehungsurlaubs aus,
nämlich trotz Berufsleben mehr Zeit für die Betreuung und
Erziehung der Kinder insbesondere in den ersten Lebensjahren zu haben und durch das Erziehungsgeld den
Verlust des verloren gegangenen zweiten Einkommens etwas auszugleichen.
({9})
Wir stimmen mit Ihnen überein,
({10})
dass die Schaffung der Möglichkeit der gemeinsamen Erziehungszeit von Mutter und Vater verstärkt angestrebt
werden muss. Wenn es aber ein Anreiz für die Väter sein
soll, dass sie neben der Erziehungszeit möglichst viel
außerhäuslich arbeiten dürfen, läuft doch irgendetwas
falsch.
Ich frage Sie - Frau Ministerin, Sie haben ja von der
Wichtigkeit der gemeinsamen Zeit gesprochen -: Wie viel
Zeit verbringen denn die Familien überhaupt noch miteinander?
({11})
Selbst bei 30 Stunden wird es schwierig, das Kind - ich
spreche von dem Kleinkind - wach anzutreffen, insbesondere in den ersten Lebensmonaten. Außerdem wird
suggeriert, dass die Erziehung der Kinder keine wesentliche Veränderung des Alltagslebens bedeutet.
Wir schlagen Ihnen vor, dass nur bei gleichzeitiger
Inanspruchnahme der Erziehungszeit - unabhängig von
der Verteilung zwischen den Partnern; das ist der Unterschied zu Ihrem Entwurf - im Sinne des Kindeswohls
eine maximale Obergrenze von 60 Stunden außerhäuslicher Erwerbsarbeit möglich wird.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Pläne zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes weisen zugegebenermaßen auch gute Ansätze auf, die die CDU bereits im
letzten Jahr in ihrem familienpolitischen Papier formuliert
hat.
({13})
Hierzu gehört die Möglichkeit zur variablen Einteilung der
Erziehungszeit in den ersten acht Lebensjahren, um zum
Beispiel in der schwierigen Phase der Einschulung wieder mehr Zeit für das Kind zu haben.
({14})
Aber es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei - ich sage das in aller Deutlichkeit, weil immer wieder der Versuch unternommen wird; Sie werden das von Fachleuten,
Verbänden und Eltern bestätigt bekommen -: Die ersten
Lebensjahre prägen das Leben eines Kindes so stark,
({15})
dass auf eine möglichst umfassende Betreuung durch die
Eltern nicht verzichtet werden kann. Keine außerhäusliche
Kinderbetreuung kann die Eltern voll ersetzen. Das hat
überhaupt nichts mit einer Kochtopfmentalität zu tun, wie
Sie es uns in den 80er-Jahren ja immer vorgehalten haben.
Hier geht es um das Wohl des Kindes. Natürlich müssen
wir die Rahmenbedingungen verbessern.
Durch Ihr Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Koalition, wird die nötige Wahlfreiheit für Mütter und
Väter nicht geschaffen. Ganz im Gegenteil: Sie zementieren, dass Frauen auch mit Kleinkindern arbeiten gehen
müssen.
({16})
Ich bin der Meinung, wir müssen alles tun, um die Wahlmöglichkeiten auszubauen, sodass sich Frauen zum Beispiel ohne Angst vor Karriereknicken und ohne große finanzielle Einbuße für eine Erziehungszeit entscheiden
oder eben Berufstätigkeit und Erziehung - allerdings kindgerecht - unter einen Hut bekommen können. Das gilt
natürlich genauso für die Väter.
Die CDU/CSU hat seit 1986, auch wenn es hier immer
heißt, in den 16 Jahren sei nichts passiert, im Bundeserziehungsgeldgesetz die staatlichen Leistungen, wie zum
Beispiel die Anrechnung von Erziehungszeiten, stetig verbessert.
({17})
Die Dauer des Erziehungsurlaubs, wie es damals noch
hieß, wurde von zehn Monaten auf heute drei Jahre ausgeweitet. Wir geben es gerne zu: Finanzprobleme haben
uns in den letzten Jahren unserer Regierungszeit leider
gehindert, zum Beispiel das Erziehungsgeld von 600 DM
und vor allem die Einkommensgrenzen zu erhöhen. Uns
war aber auch bewusst, eine Erhöhung bringt nur dann etwas, wenn zur Finanzierung der Beträge die Familien
nicht an anderen Stellen stärker belastet werden.
({18})
Ich nenne in diesem Zusammenhang beispielsweise die
Ökosteuer.
({19})
Sie erhöhen nun das Erziehungsgeld auf 900 DM. Das
hört sich gut an, hat aber einen ziemlich unangenehmen
Haken: Die Erziehungszeit wird auf ein Jahr beschränkt.
({20})
Was ist, wenn sich Eltern, von der scheinbar höheren Summe geblendet, für die Zahlung von 900 DM über ein Jahr
entscheiden und in sechs Jahren feststellen, dass zur Einschulung des Kindes ein weiteres Erziehungsjahr mit finanzieller Unterstützung sinnvoll wäre? Ich frage mich
auch, wie viele Eltern trotz der Erhöhung der Einkommensgrenzen überhaupt in den Genuss der 900 DM kommen, wenn sie durch die erhöhte Zahl der Arbeitsstunden
auch ein erhöhtes Einkommen haben.
({21})
Budgets haben sich im Gesundheitswesen nicht bewährt. Sie sollten auch in der Familienpolitik davon keinen Gebrauch machen.
({22})
Auf diesen Punkt wird aber mein Kollege Herr Holetschek
noch entsprechend eingehen.
({23})
Zum Schluss möchte ich doch noch einmal ein Wort zur
Anzahl der erlaubten Wochenarbeitsstunden sagen. Über
die sich daraus ergebenden höheren Einkommen und die
damit verbundenen höheren Abgaben freuen sich, laut
Ihren eigenen Aussagen, insbesondere die gesetzlichen
Krankenversicherungen. Für wen machen Sie denn Ihre
Gesetze? Sie können doch ein Leistungsgesetz für Familien nicht unter dem Aspekt verändern, dass sich am Ende
nur die Sozialkassen über die Mehreinnahmen freuen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich appelliere daher
an uns alle - ich sage bewusst: an uns alle -: Wir sollten
bei aller Notwendigkeit, Regelungen zur Ermöglichung
einer gleichberechtigten Lebensgestaltung von Frauen und
Männern zu treffen - dafür habe ich seit vielen Jahrzehnten gekämpft -,
({24})
das Wohl des Kindes nicht außer Acht lassen.
Ich danke Ihnen.
({25})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Diemers, ich habe mir schon die Frage gestellt,
wie Sie es wohl schaffen könnten, gegen diesen guten
Gesetzentwurf zu argumentieren. Jetzt muss ich feststellen, dass es Ihnen nicht besonders gut gelungen ist.
({0})
Einen neuen Begriff für das Gesetz zu finden oder den Sozialismus auszurufen, wenn Mütter neben der Kindererziehung auch der Erwerbsarbeit nachgehen, ist nicht sehr
überzeugend. Ich habe da andere Sorgen.
({1})
Ich frage mich, wie es denn eigentlich um die Demokratie der Geschlechter bestellt ist, wenn eine Maßnahme zu 98 Prozent von einem Geschlecht, nämlich von den
Frauen, und zu weniger als 2 Prozent von dem anderen Geschlecht, nämlich den Männern, in Anspruch genommen
wird. Ich behaupte: schlecht. Gemeint ist hiermit der Erziehungsurlaub. Es gibt in der Tat aber auch Gründe, warum so wenig Väter von ihrem Recht, wenigstens einen Teil
des Erziehungsurlaubes zu nehmen, Gebrauch machen.
Noch immer sind ihre Einkommen meist weit höher als die
der Ehefrauen. Die Frage, wer für die Erziehung des Kindes aus dem Beruf aussteigt, stellt sich faktisch nicht, soll
nicht das Familieneinkommen bedrohlich sinken.
Den wenigen Vätern, die ihre Arbeitszeit wegen der
Kinder reduzieren wollten, zeigten die Arbeitgeber bisher
die kalte Schulter. So waren es meist die Frauen, die in der
Regel für drei Jahre - die Hälfte davon für immer - aus ihrer Erwerbsarbeit ausgestiegen sind. Dieses haben Politik
und Gesellschaft bewusst oder zumindest billigend in
Kauf genommen.
Väter hatten nie ein Problem, Erwerbsarbeit und Familie unter einen Hut zu bringen. Sie wurden weder vom
Arbeitgeber noch vom Arbeitsamt gefragt, wie sie denn ihre Kinder während der Erwerbsarbeit versorgten.
({2})
Diese Frage wurde immer nur an berufstätige und arbeitssuchende Frauen gerichtet.
Nun ist ja die Geduld der Frauen sprichwörtlich. Die
einseitige Zuweisung der Familienarbeit zeigt aber gerade bei den jungen Frauen Wirkung. Sie verweigern sich
nämlich. Vor die Alternative gestellt, zwischen Beruf oder
Kindern entscheiden zu müssen, treffen sie die Entscheidung für den Beruf. Dies besagt eine neue Studie. So wundert es nicht, dass künftig jede dritte Frau kinderlos bleiben wird und dass die Bevölkerung in Deutschland bis
zum Jahre 2020 - Zahlen belegen dies - um 10 Millionen
schrumpfen wird.
Fragt man allerdings die jungen Frauen nach ihren
Zukunftsperspektiven, so ist die Antwort von bestechender Klarheit: Sie wollen einen existenzsichernden Beruf
und eine Familie; sie wollen Zeit für Hobbys und
bürgerschaftliches Engagement. Eine partnerschaftliche
Aufteilung zwischen Erwerbs- und Familienarbeit ist
also das Gebot der Stunde. Darum freue ich mich, dass wir
heute so etwas wie eine kleine Revolution im Bundestag
einleiten können.
({3})
Herr van Essen, ich finde es in der Tat revolutionär,
wenn Männer, die ihre Identität häufig über ausgedehnte
Arbeitszeiten, Überstunden oder Unabkömmlichkeit definieren, als Väter - ebenso wie die Mütter - einen Anspruch
auf Reduzierung ihrer Arbeitszeit um bis zu 30 Stunden
während des Erziehungsurlaubs haben. Das ist mit dem
Recht verbunden, zur vollen Arbeitszeit zurückzukehren.
Wir wollen, dass Väter und Mütter zudem die Möglichkeit haben, gleichzeitig den Erziehungsurlaub in Anspruch zu nehmen. Frau Diemers, „gleichzeitig“ heißt:
Vater und Mutter zusammen, also kein Sozialismus. Diese Vorschriften stärken insbesondere die Rechte der Väter;
denn wegen des überkommenen Rollenverständnisses haben es Väter bisher ungleich schwerer, ihre Arbeitgeber
von der Verkürzung ihrer Arbeitszeit zu überzeugen, als es
bei Frauen der Fall ist. Diese Diskriminierung von Männern wollen wir mit dem heutigen Gesetzentwurf beenden.
Davon profitieren alle.
({4})
Es profitieren die Männer, weil sie eine wichtige Bereicherung ihres einseitig auf Erwerbsarbeit ausgerichteten Lebens erfahren - aus dem „Big Boss“ wird der „Big
Daddy“ -; die Kinder profitieren, weil sie nicht länger in
einer vaterlosen Gesellschaft leben müssen;
({5})
die Frauen profitieren, weil sie nicht mehr allein für die Familien- und Erziehungsarbeit zuständig sind. Letztendlich
profitieren auch die Betriebe, weil sie qualifizierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an sich binden können.
Zudem wird auf die besonderen Belange der Betriebe
Rücksicht genommen. Sie erhalten nämlich das Recht,
von den Bestimmungen abzusehen, wenn dringende betriebliche Gründe der Reduzierung der Arbeitszeit von Eltern entgegenstehen. Deshalb finde ich es schade, dass auf
Druck der Wirtschaft dieser Rechtsanspruch nur für Beschäftigte in Betrieben ab 16 Vollzeitbeschäftigten oder ab
32 Teilzeitbeschäftigten gilt. Damit werden fast 90 Prozent
der Betriebe und 8 Millionen Beschäftigte von dem
Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit ausgeschlossen.
Wie gut gerade kleine Betriebe mit bis zu fünf Beschäftigten mit teilzeitbeschäftigten Frauen arbeiten, zeigt
die Tatsache, dass in diesen Betrieben die Teilzeitquote
von Frauen bei 78 Prozent liegt. Die Eingabe der
Handwerkskammer, das Gesetz erst für Betriebe ab 50 Beschäftigte gelten zu lassen, spricht Bände. Es heißt doch
nichts anderes als: Wir sind für das Gesetz, aber bitte nicht
bei uns. - Oder kennen Sie viele Handwerksbetriebe mit
über 50 Beschäftigten?
Die Möglichkeit, ein Jahr des Erziehungsurlaubs bis
zum achten Lebensjahr des Kindes in Anspruch zu nehmen, ist ein wichtiger Reformschritt; denn noch immer haben Eltern bei der Einschulung ihrer Kinder Probleme. Gerade im ersten Schuljahr stehen die Kinder bereits nach
zwei oder drei Stunden häufig wieder vor der Wohnungstür. An eine Erwerbsarbeit - auch nicht in Teilzeit ist dabei nicht zu denken. Bis zu einer verlässlichen Betreuung in der Grundschule oder in Horten brauchen wir
neben Ganztagsschulen flexiblere Arbeitszeiten der Eltern
mindestens bis zum achten Lebensjahr des Kindes. Dass
dieses dritte Jahr des Erziehungsurlaubs rechtlich nicht abgesichert ist, weil es von der individuellen Zustimmung eines Arbeitgebers abhängig ist, ist ein Problem, das wir in
einer Anhörung noch näher beleuchten sollten.
Aber die positiven Aspekte des Gesetzentwurfs sind
unübersehbar. Wir setzen zugleich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 1998 um, in dem
gefordert wurde, dass der Staat die Voraussetzung dafür
schafft, dass die Wahrnehmung der familiären Erziehungsaufgaben nicht zu beruflichen Nachteilen führt und
dass ein Nebeneinander von Erziehung und Erwerbsarbeit,
Frau Diemers, für beide Elternteile ermöglicht wird. Dazu hat uns das Bundesverfassungsgericht aufgefordert.
Dies haben wir in unserem Entwurf getan. Wir hoffen, dass
die 20 Prozent der Väter, die sich schon jetzt dazu bekennen, dieses Angebot auch annehmen.
({6})
Ebenfalls wird die finanzielle Situation der Kinder
mit diesem Gesetz verbessert. Auch wenn die Einkommensgrenzen nur um circa 10 Prozent und die Kinderzuschläge für Mehrkinderfamilien 2001 zunächst um
14 Prozent, in Stufen bis 2003 aber bis auf 6 000 DM erhöht werden, ist dies in Zeiten von Sparhaushalten mehr,
als die alte Bundesregierung in zwölf Jahren des Bestehens
des Bundeserziehungsgeldgesetzes auf den Weg gebracht
hat.
({7})
Sie haben es zugelassen, dass seit 1986 von ehemals
96 Prozent heute gerade einmal 47 Prozent der Eltern das
ungeschmälerte Erziehungsgeld erhalten.
({8})
Nun kritisieren Sie uns, dass wir zu wenig tun!
({9})
- Wir haben das getan. Ich hätte auch gerne mehr, aber Sie
merken doch wohl, dass Sie sich eigentlich für das kritisieren, was Sie selbst in drei vollen Legislaturperioden unterlassen haben.
({10})
Wenn jetzt die CDU/CSU drei Jahre lang 1 000 DM
monatlich fordert - das sind im Jahr 15 Milliarden DM
Mehrkosten -, scheint mir das eher ein Oppositionsreflex
zu sein als ein ernsthafter Vorschlag.
({11})
Ich frage Sie: Wer hat Sie denn eigentlich daran gehindert, in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit das umzusetzen, was Sie uns heute vorschlagen? - Wir waren das
nicht.
({12})
Besonders zynisch ist in diesem Zusammenhang der
Vorschlag der bayerischen Schwesterpartei. Sie arbeitet
quasi mit Zuckerbrot und Peitsche. Leider sehe ich heute
niemanden hier von den Familienpolitikerinnen. Wer so
lebt, wie es sich die CSU vorstellt und es vorschreibt, wird
belohnt. Wer es sich erlaubt, andere Familienformen zu leben, wird bestraft. Verheiratete Mütter sollen 1 000 DM
monatlich erhalten, Alleinerziehende vielleicht auch. Aber
für Kinder, die in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften aufwachsen, soll es kein Familiengeld geben. Das ist
einfach nur schäbig.
({13})
Verehrte Kolleginnen aus Bayern - leider sehe ich Sie
nicht -, sind Sie wirklich so realitätsfremd, dass Sie nicht
zur Kenntnis nehmen wollen, dass gerade bei lesbischen
Paaren sehr häufig Kinder aufwachsen? Welchen Grund
haben Sie dafür, diese Kinder zu diskriminieren?
({14})
Auch von der F.D.P., die uns in einem heute eilig eingebrachten Antrag
({15})
- ja, gestern Abend, per Fax - auffordert, das Erziehungsgeld auf 800 DM zu erhöhen, habe ich in den vergangenen
Jahren - das waren ja sehr viele der Regierungsbeteiligung, Frau Lenke - derartige Forderungen vermisst.
({16})
Wie kleinkariert sind Sie eigentlich, dass Sie in ein Gesetz
schreiben wollen, dass ein Wechsel der Steuerklasse ein
Jahr vor der Geburt bei der Auszahlung des Mutterschaftsgeldes nicht berücksichtigt werden darf? Frau Kollegin Lenke, ich glaube, da ist die Steuerfachfrau mit Ihnen durchgegangen.
({17})
Welches Bild haben Sie eigentlich von der bösen Mutter, die durch eine Steuerklassenveränderung 30 DM Mutterschaftsgeld zusätzlich erhält? Hätten Sie in der Vergangenheit mit dieser Verve Steuerverkürzungstatbestände bei
den großen Einkommen verfolgt, hätten Sie uns hier nicht
einen so maroden Haushalt hinterlassen.
({18})
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU und der F.D.P., so gerne ich aus familienpolitischer Sicht Ihre Vorschläge zur Erhöhung der Leistung positiv bewerten möchte, ich kann sie nicht ernst nehmen,
weil sie zu durchsichtig sind. Mit solchen Schauanträgen
ohne ernsthafte Vorschläge für eine Finanzierung
({19})
werden Sie auch die Wähler und Wählerinnen in Nordrhein-Westfalen nicht gewinnen. Das durchschauen die
Menschen einfach.
({20})
Wir bieten ein verlässliches Konzept für eine partnerschaftliche Gestaltung der Erziehungsarbeit. Wir unterstützen Eltern darin, dass aus ihrem Kinderwunsch auch
Realität werden kann. Wir unterstützen Frauen in ihren
Ansprüchen auf eine existenzsichernde Arbeit und wir sichern eigenständige Ansprüche für eine auskömmliche Alterssicherung. Endlich haben Eltern eine wirkliche Wahlfreiheit.
({21})
Ich hoffe, dass wir im Laufe der Beratung noch dazu
kommen, dass Sie unseren Anträgen zustimmen.
Vielen Dank.
({22})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion.
Guten Morgen! Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! 1986 ist das Bundeserziehungsgeldgesetz in Kraft getreten. Es regelt unter anderem, dass Mutter oder Vater während des Erziehungsurlaubes Teilzeit arbeiten können, und auch die Höhe und die
Dauer des Erziehungsgeldes. Hervorzuheben ist - es wird
sicherlich auch Ihre Zustimmung finden, dass man das hier
noch einmal sehr deutlich sagt -, dass in den ersten drei
Lebensjahren Kündigungsschutz besteht.
({0})
Das war 1986 sicherlich ein Grund, dieses Gesetz zu formulieren und zu verabschieden, damit die Mütter wirklich
Arbeitsplatzschutz haben. Darüber sind wir uns ja einig.
Wenn die Ministerin sagt: „Es geht los“ und Frau
Schewe-Gerigk von der großen Leistung spricht, die hier
stattfindet, frage ich Sie: Haben Sie in der Vergangenheit
eine parlamentarische Initiative zur Erhöhung des Erziehungsgeldes gemacht?
({1})
Haben Sie da etwas gemacht?
({2})
- Jedes Jahr parlamentarisch? Das werde ich noch einmal
nachprüfen. Wir wollen uns dann im Ausschuss einmal
darüber unterhalten, was Sie damals gefordert haben und
was Sie heute fordern. Denn heute sind Sie in der Verantwortung.
({3})
Meine Damen und Herren, die von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagenen Änderungen sind wieder einmal nicht der große Wurf. Das sage ich hier ganz
deutlich.
({4})
Daraus macht auch die Rhetorik, die Sie heute vorbringen,
nicht unbedingt mehr. Sie haben auch im letzten Jahr, als
uns das Bundesverfassungsgericht den Auftrag gegeben
hat, die steuerliche Entlastung von Familien zu überprüfen, nur sehr wenig für die Familien getan und sind an der
unteren Grenze geblieben.
({5})
Ich möchte zu dem vorliegenden Entwurf des Bundeserziehungsgeldgesetzes kommen. Sie formulieren politische Ziele, an denen Sie sich auch messen lassen müssen.
Erstens zu den strukturellen Verbesserungen beim Erziehungsgeld und beim Erziehungsurlaub. Das ist in
Maßen passiert. Das gebe ich gerne zu und das finde ich
auch so in Ordnung.
Bei einem zweiten Punkt werden wir nicht den erhofften Erfolg haben. Sie wollen den Anreiz für Väter, Erziehungsurlaub zu nehmen, erhöhen.
Meine Damen und Herren, zu Beginn möchte ich noch
einmal anmerken, dass Sie immer noch den Begriff „Erziehungsurlaub“ verwenden. Etwas anderes ist Ihnen nicht
eingefallen. Wenn Sie so lange und so gründlich an diesem
Gesetz gearbeitet haben, wie Frau Schewe-Gerigk gesagt
hat, frage ich mich, warum Ihnen da kein anderer Begriff
eingefallen ist. Das wurde jedenfalls nicht geändert. Wir
haben „Erziehungszeit“ vorgeschlagen. Wir werden uns
jedenfalls nicht mit Ihnen auf den Begriff „Erziehungsurlaub“ einigen - ganz einfach, weil es die Männer bei diesem Begriff noch schwerer haben, diesen so genannten Urlaub zu nehmen. Wir alle, die wir Kinder erzogen haben,
wissen, dass das kein Urlaub ist, dass das - verdammt noch
mal - Arbeit ist.
({6})
Von daher lassen Sie uns - das ist keine Wortklauberei einen anderen Begriff finden. So geht das nicht. Der jetzige Begriff ist diskriminierend für Männer und für Frauen.
Nun zum Inhalt dieses Gesetzes. Unseres Erachtens
wird das Ziel nicht erreicht, dass nämlich 98,5 Prozent der
Väter mit diesem Gesetz überzeugt werden, Erziehungszeit zu nehmen. Mit einer angebotenen Reduzierung der
Arbeitszeit von nur sieben Stunden wöchentlich wird die
Erziehungszeit nämlich nicht gelebt und nicht praktiziert
werden können.
({7})
Das ist keine Teilzeitarbeit, sehr geehrte Frau Ministerin, das ist eher Vollzeitarbeit. Sie mögen damit den Versuch unternehmen, Männern einen Einstieg in ihre Erziehungszeit durch geringe zeitliche Reduzierung der Wochenarbeitszeit schmackhaft zu machen. Aber eine echte
Entlastung für die Frauen, die heute leider immer noch den
größten Teil der Erziehungsarbeit übernehmen, wird das
nicht sein. Uns Frauen wird es leider nicht helfen.
Durch das Gesetz werden die bestehenden hohen Hürden nicht abgebaut. Ich weiß, das können Sie nicht; das
werden wir sicher auch nicht können. Aber wir müssen andere Möglichkeiten finden. Die Hemmnisse sind der
drohende Karriereknick und das Unverständnis von
vielen von uns, auch Männern das einmalige Erlebnis zuzugestehen, für die Erziehung ihrer Kinder in den ersten
Lebensjahren umfassend verantwortlich zu sein. Daran
müssen wir alle gesellschaftspolitisch arbeiten.
Meine volle Aufmerksamkeit hat der Rechtsanspruch
auf Teilzeitarbeit in Ihrem Gesetz. Das ist neu. Wenn
man sich aber nicht einigt, soll es - das steht in Ihrem Gesetzentwurf - vor Gericht ausgefochten werden. Ich denke, das ist keine gute Lösung; das sollten wir nicht machen.
Ich will noch einen Punkt in Ihrem Gesetz ansprechen,
der auch etwas mit Wirtschaftspolitik zu tun hat. In der
letzten Woche hat mich die treuherzige Aussage der Staatssekretärin auf meine Frage, wie die Betriebsgröße von 15
Mitarbeitern beim Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit zustande gekommen sei, empört. Sie sagte:
Wir haben mit dem Wirtschaftsminister diskutiert, ab
welcher Größe Unternehmen diese Art von Flexibilisierung ... verkraften können.
Das bezieht sich also auf den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit. Sie sagte weiter:
Wir sind mit dem Wirtschaftsminister einer Meinung,
dass es für Betriebe ab 15 Mitarbeitern keine Probleme gibt.
Sie stellen das also politisch fest, und damit ist das dann
so!
({8})
Ich kann Ihnen eins sagen: Das stimmt nicht.
({9})
Wir haben entsprechende Gespräche geführt: Es ist unmöglich!
Ich möchte noch zu unserem Initiativantrag kommen
und fasse deshalb zusammen: SPD und Grüne haben einen
Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der einige Verbesserungen bringt, aber wenig innovativ ist. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber haben wenig Raum, Arbeitszeiten individuell
auszuhandeln, und zwar während der ganzen Erziehungszeit. Da sind Sie einfach zu kurz gesprungen; das
sollten wir in den Ausschüssen noch einmal gemeinsam
überdenken.
Deshalb hat die F.D.P. heute einen eigenen Antrag eingebracht. Das ist keine Absicht und hat nichts mit Wahlen
zu tun, wir sind einfach nicht früher fertig geworden.
({10})
- Ich bin zwar Rheinländerin, komme aber aus Niedersachsen. Dort haben wir keine Wahl.
Wir haben diesen Antrag eingebracht und wollen konstruktiv mitarbeiten. Wir wollen dabei aber ganz deutlich
blau-gelbe Markierungspunkte setzen.
({11})
- Ja, genau. Dazu komme ich noch, ich habe ja noch eine
Minute Redezeit.
Wir wollen weg von dem Erziehungsurlaub und wollen
deutlich machen, dass es eine Anstrengung - und eine
Freude! - ist, Kinder zu erziehen. Wir wollen keinen
Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit, denn wir wollen als
Alternative eine sehr flexible Teilzeitregelung. Vielleicht
machen die CDU und die CSU dabei mit. Wir wollen das
Erziehungsgeld einkommensabhängig auf höchstens
800 DM monatlich sowie die Einkommensgrenzen erhöhen.
Ich bin seit Beginn dieser Legislaturperiode frauenund familienpolitische Sprecherin. Wenn ich mir deutlich
mache, wie die Diäten 1986 ausgesehen haben, als das
Bundeserziehungsgeldgesetz auf den Weg gebracht worden ist, und wie sie jetzt aussehen und die Einkommensgrenzen für die Frauen bzw. Mütter, die Erziehungsurlaub
oder Erziehungszeit nehmen, dagegenhalte, dann meine
ich, dass wir „kräftig“ etwas machen müssen. Vielleicht
kommen wir ja gemeinsam zu etwas.
Wir wollen die Erziehungszeit ausweiten, wollen diese
zusätzliche Zeit aber nicht nur auf das letzte Jahr beschränken. Sie haben gesehen, dass wir flexibilisieren
wollen. Damit meine ich nicht nur die Flexibilisierung in
der Woche. Vielmehr sollen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber wesentlich flexibler innerhalb eines Jahres mit ihrer Arbeitszeit umgehen.
Frau Schewe-Gerigk, ich muss Ihnen etwas dazu sagen,
dass Sie sich über unseren Punkt 6, der bei der Berechnung
des Mutterschaftsgeldes Änderungen vorsieht, lächerlich
machen. Wenn Sie sich genauer informieren, werden Sie
feststellen, dass die Findigen belohnt werden und dass die,
bei denen die Frauen ganz brav ihre Steuerklasse V und
deren Männer Steuerklasse III haben, weniger bekommen,
als wenn sie drei oder sechs Monate vorher ihre Steuerklasse geändert hätten.
({12})
Wir wollen nicht die Findigen belohnen. Wir wollen, dass
der Gesetzgeber alle Frauen richtig behandelt und dass es
eine steuerliche Gerechtigkeit gibt.
({13})
Da ich Fachfrau bin, sollten Sie das nicht lächerlich machen, sondern sich erst einmal ins Gesetz einarbeiten.
({14})
Als Letztes ein Appell: Sie sollten die Vereinfachung
der Zuständigkeiten auch bei den Ländern überprüfen.
Denn wir sind mobil. Wir werden zum Beispiel in Mettmann geboren, wohnen dann in Hamburg und ziehen später nach München. Von daher sollten die Ansprechpartner
gleich sein.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss:
Lassen Sie uns alle Ihren und unseren Vorschlag intensiv
beraten. Vielleicht kommt dabei ein vernünftiges und
hilfreiches Ergebnis für die Menschen in unserem Land
heraus. Dann hätten wir hier im Bundestag unsere Arbeit
für die Bürgerinnen und Bürger gut erledigt.
Herzlichen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
({15})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Christina Schenk, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In ihrer Koalitionsvereinbarung haben
SPD und Grüne betont, dass Beruf und Kinderbetreuung
wieder besser miteinander vereinbar sein müssen.
Angekündigt wurde eine umfassende Reform des Erziehungsgeldgesetzes. Das, was die Bundesregierung jetzt
vorgelegt hat, sind allenfalls - das muss man klar sagen erste Schritte zu einer solchen Reform - mehr leider nicht.
Die Höhe des Erziehungsgeldes bleibt unverändert
bei 600 DM. Das ist nach wie vor nur ein Taschengeld. Davon kann niemand leben. Seit 1986 haben sich die Lebenshaltungskosten um 33 Prozent erhöht. Nicht einmal
das ist ausgeglichen worden. Die Folge ist, dass sich die
Bezieherinnen von Erziehungsgeld - auch künftig werden
dies in erster Linie Frauen sein - in jedem Falle in finanzieller Abhängigkeit von Staat oder Ehemann wieder finden. Alleinerziehende werden im Normalfall zu Sozialhilfeempfängerinnen mit all den Folgen, die das hat: Kündigung der Lebensversicherungen und Verbrauch des
Gesparten. Das ist ein Skandal und daran hat die jetzige
Bundesregierung nichts geändert.
({0})
Im vorliegenden Entwurf eines Erziehungsgeldgesetzes
wird nach wie vor davon ausgegangen, dass Kinder in der
traditionellen Kleinfamilie, also bei ihren biologischen
Eltern, aufwachsen. Immer mehr Kinder jedoch - das
dürfte eigentlich allen hier im Raum bekannt sein - werden außerhalb der Ehe geboren und wachsen bei Alleinerziehenden, bei so genannten Stiefeltern oder bei ihren lesbischen bzw. schwulen Eltern auf. Es ist überfällig, dass
der Gesetzgeber dieser Vielfalt an Lebensformen Rechnung trägt und die Bedingungen für soziale Eltern verbessert.
({1})
Das heißt, dass der Anspruch auf Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub auch auf andere Bezugspersonen des Kindes übertragbar sein sollte.
Eindeutig positiv sind die ersten Schritte zur Flexibilisierung des Erziehungsurlaubs und auch die Erhöhung
der zulässigen Teilzeitarbeit während des Erziehungsurlaubs auf 30 Stunden pro Woche.
Wir begrüßen auch die Möglichkeit, künftig das Erziehungsgeld zu budgetieren. Wir meinen, das ist ein klares
Signal an Frauen, ihre Erwerbstätigkeit nicht volle drei
Jahre am Stück zu unterbrechen. Denn wer heute zwei Jahre und länger aus dem Beruf aussteigt, gilt als dequalifiziert und ist in der Konkurrenz mit Männern um gut
bezahlte und Aufstiegschancen versprechende Arbeitsplätze hoffungslos unterlegen. Da helfen auch keine
Gleichberechtigungsgesetze und noch so gut gemeinte
Frauenförderpläne. Darüber hinaus ist festzustellen: Kindern tut es durchaus gut, im Rahmen gemeinschaftlicher
Kinderbetreuung Kontakte zu Gleichaltrigen zu haben und
ein Stück weit der Überbehütung durch die eigenen Eltern
zu entkommen.
({2})
Meine Damen und Herren, damit bin ich bei einem Problem, auf das in dem vorliegenden Regierungsentwurf leider nicht eingegangen wird: Eltern, die all diese angebotenen Neuregelungen nutzen wollen, stehen vor einem
schier unlösbaren Problem. Wohin mit den Kindern, wenn
die Eltern ihren Teilzeitanspruch einlösen wollen? Diese
Frage lässt die Bundesregierung leider unbeantwortet. Wir
alle hier kennen die nach wie vor besonders im
Westen, aber zunehmend auch im Osten bestehende Notlage bei der öffentlichen Kinderbetreuung. Es fehlen
Plätze sowohl für die ganz Kleinen als auch für die Hortkinder. Nur in einem sehr geringen Teil der Kitas stehen
Ganztagsplätze zur Verfügung. Es fehlen also die Rahmenbedingungen, um wenigstens die von der Bundesregierung geplanten kleinen Schritte für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung überhaupt zum
Tragen zu bringen.
Damit wird im Übrigen - auch das will ich hier deutlich sagen - das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
vom November 1998 ignoriert, in dem ganz klar gefordert
wurde, das Angebot an institutioneller Kinderbetreuung zu
verbessern. Das ist die entscheidende Fehlstelle im Konzept der Bundesregierung.
({3})
Der Mangel an Kinderbetreuungseinrichtungen bleibt
auch künftig das wirksamste Instrument, um Frauen zum
Ausstieg aus der Erwerbsarbeit zu zwingen.
Die Bundesregierung nennt als Ziel ihrer Reform, Männer mehr an der Familienarbeit beteiligen zu wollen. Ich
meine, dass die bloße freundliche Aufforderung an Männer und das Angebot, den so genannten Erziehungsurlaub
gleichzeitig mit der Partnerin zu nehmen oder Teilzeit zu
arbeiten, im Einzelfall durchaus hilfreich sein können.
Was aber ist, wenn kein Krippenplatz frei ist und sich die
Frage stellt, wer mit dem Kind zu Hause bleibt? Für Väter
waren die negativen Folgen einer Berufsunterbrechung
wie Karriereknick, Statusverlust und materielle Einbußen
bislang Grund genug, dankend abzuwinken. Das wird sich
nur dann ändern, wenn Männer einen individuellen, nicht
übertragbaren Rechtsanspruch auf Freistellung zur Betreuung ihrer Kinder erhalten, der konsequenterweise verfällt, wenn sie davon keinen Gebrauch machen. Ein solcher Rechtsanspruch könnte Männer ebenfalls auch unterstützen, ihren vielfach geäußerten Wunsch nach aktiver
Elternschaft gegenüber ihrem Arbeitgeber oder ihren Kollegen zu vertreten.
({4})
Der Vorschlag der Bundesregierung belässt die Verantwortung für Kinder bei den Frauen. Auch in seiner novellierten Form wird dieses Gesetz dazu führen, dass Frauen
in der Phase der Familiengründung aus der Berufstätigkeit
herauskomplimentiert werden, sie den Weg frei machen
für die berufliche Karriere ihres Mannes und aller übrigen
Männer. Das Bundeserziehungsgeldgesetz bleibt das, was
seine Kritiker und Kritikerinnen von Anfang an befürchtet haben: ein Handicap für Frauen im Beruf.
Die von der PDS hier vorgelegten Vorschläge - im
Übrigen haben wir uns schon im Februar dazu positioniert,
Frau Lenke - eröffnen die wirkliche Chance, Frauen wie
Männern die Vereinbarkeit von Kindern und Berufstätigkeit zu ermöglichen. Berufstätige Eltern erhalten
nach unserem Konzept tatsächlich die Wahlfreiheit zwischen einer vollen Erwerbstätigkeit, einer zeitweisen Freistellung oder einer vorübergehenden Arbeitszeitreduzierung entsprechend den altersspezifischen Bedürfnissen ihrer Kinder und der eigenen, individuellen Lebensplanung.
Beruf und Kinder sollen nicht mehr nur nacheinander,
sondern auch gleichzeitig lebbar sein.
Wir wollen deutliche Anreize setzen, dass die Freistellungsansprüche zwischen Frauen und Männern verbindlich geteilt werden, indem diese zum Teil nicht übertragbar sind. Das ist ein klares Signal vor allem an die Väter:
Soll der Freistellungsanspruch nicht verfallen, müssen sie
ihren Teil im Interesse ihrer Kinder einlösen. Eltern können den Erziehungsurlaub am Stück oder in einzelnen
Zeitabschnitten, nacheinander oder gleichzeitig nehmen.
Wir wollen ein Recht auf Teilzeitarbeit für Eltern. Die
Zahlung einer Lohnersatzleistung bzw. einer Grundsicherung soll verhindern, dass Familien während der beruflichen Freistellung größere finanzielle Einbußen haben und
dass Alleinerziehende von Sozialhilfe abhängig werden.
({5})
Ich sage es noch einmal: Das beste Vereinbarkeitsgesetz verfehlt sein Ziel, wenn die Frage der Kinderbetreuung nicht verlässlich gelöst wird. Deshalb gehört für uns
zur Vereinbarkeit der Rechtsanspruch auf öffentliche und
bedarfsgerechte Kinderbetreuung.
Wir wissen natürlich um die Finanzsituation der Kommunen und fordern deshalb - das ist in unserem Antrag
nachzulesen -, dass sich der Bund endlich an den Kosten
für die Kinderbetreuung beteiligt. Die Kosten, die durch
unser Konzept entstehen, sind nicht gering. Wer aber die
Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung wirklich
will, der darf über die Kosten nicht schweigen.
Ich möchte zum Schluss die Hoffnung zum Ausdruck
bringen, dass wir in den Ausschussberatungen noch die eine oder andere Nachbesserung an der Vorlage der Bundesregierung vornehmen werden.
Danke.
({6})
Ich erteile der Kollegin Hildegard Wester, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In meinen ersten Sätzen möchte ich auf
das eingehen, was Frau Diemers und Frau Lenke dem
Hohen Haus gesagt haben. Einiges davon hat mich schon
sehr überrascht, man muss schon fast sagen: belustigt.
Frau Lenke, wann hören Sie endlich mit dem Märchen
auf, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts die
jetzige Regierung kritisiert hat, und gestehen ein, dass die
Finanzpolitik der alten Regierung für Familien Gegenstand dieses Urteils war?
({0})
Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir schon ohne dieses Urteil zum 1. Januar dieses Jahres das Kindergeld um
30 DM erhöht hatten und dass wir im ersten Schritt der
Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils noch
einmal 20 DM draufgesattelt haben. Im Jahre 2002 werden wir diesem Urteil voll nachgekommen sein. Dann
werden wir zum ersten Mal davon reden können, dass die
Familienpolitik den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts voll gerecht wird.
({1})
Frau Lenke, Sie haben weiter gefragt, welche parlamentarischen Initiativen wir in der Vergangenheit in
Bezug auf das Erziehungsgeld und den Erziehungsurlaub
ergriffen hätten. Ich muss Ihnen sagen:
Christa Schenk
Wir haben in der 13. Wahlperiode einen umfassenden Antrag vorgelegt, der fast gleich lautend mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf war.
Frau Diemers, Sie hätten Gelegenheit gehabt, diesem
Antrag zuzustimmen. Wenn Sie davon überzeugt sind,
dass das fast das Gleiche war wie das, was in Ihrem Papier
„Lust auf Familie“ steht, dann weiß ich nicht, warum Sie
sich damals dagegen entschieden haben, diesen Antrag zu
unterstützen. Es ist, was die Zeitabläufe betrifft, doch wohl
eher so, dass Sie bei uns abgeschrieben haben, und nicht
umgekehrt. Aber wie dem auch sei: Es ist eine gute Sache
und ich fordere Sie deswegen heute auf, dem Gesetzentwurf in der zweiten und dritten Lesung zuzustimmen.
({2})
Was mich sehr belustigt, Frau Diemers, sind Ihre sehr
engagierten Auslassungen zum Begriff „Erziehungsurlaub“. Ich erinnere mich nicht daran, dass unsere Fraktion diesen Begriff geprägt hat. Vielmehr haben Sie ihn geprägt. Sie haben ihn 16 Jahre lang benutzt und waren immer stolz auf dieses Gesetz. Sie sind von der Ministerin
Bergmann bereits eingeladen worden, sich an einer neuen
Begriffsfindung zu beteiligen. Tun Sie das doch bitte; dann
kommen wir vielleicht zu einem entsprechenden Namen
für dieses Gesetz.
({3})
Ich möchte noch einmal betonen: Es geht mir nicht darum, über Begriffe zu streiten, sondern es geht um Inhalte.
({4})
- Gut. Dann frage ich mich, wie das Bewusstsein 16 Jahre lang geprägt worden ist. Dann ist wohl 16 Jahre lang das
Bewusstsein dafür geschaffen worden, es sei für Mütter
eine schöne erholsame Zeit und sie könnten sich von den
Beschwernissen des Berufslebens ausruhen, wenn sie sich
der Erziehung ihrer Kinder widmen.
({5})
Genau damit wollen wir aufhören, und zwar nicht, weil
wir Ideologie betreiben wollen, Frau Diemers, sondern
weil wir sehen, wie die Menschen leben und wie sie leben
möchten. Die Menschen zeigen uns, dass sie Beruf und Familie miteinander vereinbaren wollen.
({6})
Genau deswegen wollen wir nach 14 Jahren Stillstand,
in denen den Eltern ein gesetzlicher Rahmen geboten worden ist, der ihre Entscheidungsfreiheit erheblich eingeschränkt hat, wieder Flexibilität einführen. Wir wollen,
dass Väter und Mütter selbst entscheiden können,
({7})
ob und in welchem Umfang sie für die Erziehung ihrer
Kinder Arbeitszeit reduzieren wollen. Wir wollen vor allen Dingen, dass Väter und Mütter nicht miteinander aushandeln müssen, wer von beiden nun diese Reduzierung
der Arbeitszeit vornimmt. Beide sind Eltern und beide sollen ihren Beitrag sowohl zur Erziehung als auch zur finanziellen Absicherung der Familie leisten können.
Mit der Neuordnung, die wir heute vorlegen, vollziehen
wir einen Paradigmenwechsel - das ist schon gesagt worden; es kann aber nicht oft genug betont werden -,
({8})
der nachhaltig das Zusammenleben der Menschen mit prägen wird. Endlich wird deutlich, dass Kinder ein Recht auf
beide Eltern haben, dass Väter und Mütter ein Recht auf
Familie und Erwerbsarbeit haben. Nicht zuletzt wird deutlich, dass Betriebe und Unternehmen die Pflicht haben, zur
Bewältigung dieser gesellschaftlich wichtigen Aufgabe
beizutragen.
({9})
Deswegen bin ich froh, dass ein Rechtsanspruch auf
Reduzierung der Arbeitszeit auf bis zu 30 Stunden
wöchentlich geschaffen wird. Das heißt nicht, dass man ich hatte heute Morgen den Eindruck, dass es bei vielen so
angekommen ist - auch 30 Stunden arbeiten muss, sondern dass man höchstens 30 Stunden arbeiten darf und für
die restliche Zeit für die Erziehung des Kindes freigestellt
wird. Dadurch wird eine große Bandbreite von Entscheidungsmöglichkeiten für die Familien eröffnet.
Ich verstehe auch an dieser Stelle die Kritik der CDU,
die man vorab schon lesen konnte, und der ihr nahe stehenden Familienverbände nicht. Wieso wenden Sie sich
gegen größere Gestaltungsfreiräume? Sie werfen uns vor,
das Lebensmodell Berufstätigkeit zu präferieren. Dazu
kann ich nur sagen: Niemandem wird es nach dem Gesetz
verwehrt, sich beruflich ganz freistellen zu lassen, um sich
der Betreuung seines Kindes zu widmen. Niemand wird
auch dazu gezwungen, sich die Erziehungszeiten mit seinem Partner zu teilen.
Die volle Breite der Entscheidungsmöglichkeiten wird
durch unser neues Gesetz erst hergestellt. Vorher war es so,
dass das von der CDU bevorzugte Modell „Mutter bleibt
zu Hause und erzieht Kind“ ohne Probleme möglich war,
während alles andere sehr problematisch war.
({10})
Wir wollen unser Familienbild den Menschen nicht aufdrücken; vielmehr reagieren wir auf die Notwendigkeit der
Veränderung. Diese wird uns aufgezeigt durch das tatsächliche Verhalten der Betroffenen und äußert sich in den Lebenserwartungen von Jugendlichen. Laut Shell-Studie,
die eben schon einmal zitiert wurde, sagen 75 Prozent der
befragten Jugendlichen „Für mich werden Familie und
Beruf immer gleich wichtig sein, es soll sich die Waage
halten“,
({11})
- und zwar Mädchen und Jungen zu fast gleichen Teilen.
Wenn junge Menschen zu fast 75 Prozent äußern, ihre
Lebensplanung sehe Gleichzeitigkeit von Familie und Beruf vor, wenn 39 Prozent der Frauen den Erziehungsurlaub
nicht voll ausschöpfen und wenn nur 1,5 Prozent der Männer Erziehungsurlaub nehmen - trotz anderer eigener Vorstellungen -, dann muss der Gesetzgeber darauf reagieren.
({12})
Deshalb ist es auch kein „Spartopf“ - wie die CDU uns
vorwirft -, wenn wir das Angebot machen, für eine verkürzte Erziehungsurlaubszeit eine Erhöhung des Erziehungsgeldes in Anspruch nehmen zu können. Nein, die
165 000 Frauen und Männer, die in den vergangenen Jahren nach einem Jahr in den Beruf zurückgekehrt sind, waren in der Vergangenheit ein Spartopf des Finanzministers
Waigel.
({13})
Natürlich ist dieses eine Jahr, das für die Budgetierung
entscheidend ist, wie die Erfahrung zeigt, auch ein entscheidender Zeitraum in der Entwicklung von Kindern sowie für den Erhalt des Arbeitsplatzes und der Qualifizierung. Aber ich möchte noch einmal betonen: Wir haben
kein Modell zur Förderung von Fremdbetreuung vorgelegt, sondern für eine möglichst umfassende Betreuung
durch beide Elternteile.
Ich habe bei dieser Fragestellung immer eine Petition
vor Augen, die ich als Mitglied des Petitionsausschusses
zu bearbeiten hatte. Da wollte ein Elternpaar, beide Angestellte im öffentlichen Dienst, ihre Arbeitszeit jeweils auf
24 Stunden reduzieren. Der Deutsche Bundestag und der
Petitionsausschuss hatten beschlossen, diese Petition der
Bundesregierung zur Erwägung zu überweisen. Das heißt,
der Bundestag hat sich voll hinter das Anliegen dieses Elternpaares gestellt.
Nur, die damalige Bundesregierung in Gestalt von Frau
Nolte wollte dies nicht. Sie war der Meinung, es sei für das
Kind zuträglicher, wenn ein Elternteil maximal 19 Stunden arbeite und der andere Elternteil 40 Stunden. Zusammen mit eventuell anfallenden Überstunden wäre dieses
Elternpaar leicht auf mehr als 60 Stunden gekommen. Das
sollte letzten Endes zuträglicher für das Kind sein als der
Wunsch beider Eltern, zusammen nur 48 Stunden pro Woche zu arbeiten. Wenn dahinter nicht die pure Ideologie
steckt, dass es eigentlich gewünscht ist, wenn die Mutter
zu Hause bleibt und das Kind betreut! Wir dagegen reden
von den Anliegen der Menschen, und diesem wollen wir
gerecht werden.
({14})
Für das betroffene Elternpaar kommt unser Gesetzentwurf
leider zu spät. Aber ich denke, dass uns noch sehr viele Eltern dankbar sein werden.
An dieser Stelle muss aber deutlich gesagt werden: Es
ist eine Illusion, zu glauben, die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit sei möglich ohne einen weiteren flexiblen Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen. So passgenau wird die elterliche Arbeitszeit nicht mit
den Bedürfnissen von Kindern vereinbar sein, schon gar
nicht bei Alleinerziehenden. Darum müssen wir diesen
Punkt im Auge behalten und alle Kraft darauf verwenden,
hier erheblich nachzubessern.
({15})
Wenn der heute vorgelegte Gesetzentwurf seine volle
Wirkung erzielen will, müssen auch die Länder und Kommunen ihren Anteil an den Hausaufgaben leisten. Aber das
kann, bitte schön, nicht „Landeserziehungsgeld“ heißen.
Vielmehr muss es um Betreuungseinrichtungen für unter
3-Jährige, für Schulkinder, um Tagesmüttermodelle usw.
gehen.
({16})
Auch die Unternehmen müssen sich die Frage stellen,
welchen Anteil sie leisten können, um Betreuungseinrichtungen für die Kinder ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereitzuhalten. Denn dies ist ja durchaus im
Interesse der Unternehmen. Dass wir trotz hoher Arbeitslosigkeit einen Mangel an hoch qualifizierten Kräften haben, ist in diesen Tagen kein Geheimnis. Es dürfte sicherlich im Interesse der Unternehmen sein, gut qualifizierten
Frauen den Zugang oder den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Auch dies sollte ein Aspekt verantwortungsvoller Unternehmenspolitik sein.
Es geht also bei unseren Vorschlägen zum Erziehungsurlaubsgesetz um eine möglichst breite Berücksichtigung
der Interessen aller, die am Erziehungsprozess beteiligt
sind. Natürlich steht dabei das Interesse des Schwächsten
in der Konstellation, nämlich des Kindes, an zentraler Stelle. Deshalb begrüße ich es, dass die Möglichkeit vorgesehen ist, das dritte Erziehungsurlaubsjahr bis zum achten Lebensjahr des Kindes flexibel einzusetzen.
Dies soll nur mit Zustimmung des Arbeitgebers möglich sein, also nicht als Rechtsanspruch abgesichert werden. Ich halte dies für eine realistische Lösung. Natürlich
wäre es wünschenswert, in für die Familie oder das Kind
besonders belastenden Situationen Anspruch auf eine
Auszeit zu haben. Aber wie bei allen Regulierungen muss
darauf geachtet werden, dass positiv gemeinte Regelungen
nicht zum Hindernis zum Beispiel in Form eines Einstellungshemmnisses werden, sondern dass sie tatsächlich das
bringen, was man erreichen will, nämlich größeren Gestaltungsfreiraum für die Menschen.
({17})
Zum Antrag der PDS, der genau in diese Richtung geht,
möchte ich deutlich sagen: Man kann sich natürlich vieles
wünschen, aber Ihre Vorschläge, die Sie festzementieren
wollen, erschweren es den Frauen und Männern, die diese Rechte tatsächlich in Anspruch nehmen, in Arbeit zu
kommen oder zurückzukommen.
Die neu geschaffene Möglichkeit, dem Vater Erziehungsurlaub während der Mutterschutzfrist zu gewähren, ist auch im Sinne des Kindes und des Vaters. Das
eröffnet die Chance, durch frühzeitige VerantwortungsHildegard Wester
übernahme ein intensives Verhältnis zwischen Vater und
Kind wachsen zu lassen.
Es ist eigentlich schade, dass Tony Blair von diesem
Recht jetzt anscheinend doch nicht Gebrauch machen will.
Es wäre schon gut, wenn gerade viel beschäftigte Männer
hier ein deutliches Zeichen setzen würden.
({18})
Er hätte für viele europäische Männer ein Vorbild sein
können. Ich hoffe, unser neues Gesetz wird trotzdem ein
wenig dazu beitragen, mit dem Mythos zu brechen, dass
wichtige Männer überall unverzichtbar sind, nur nicht bei
ihrem Kind.
({19})
Auch beim finanziellen Teil des Gesetzentwurfes kommen wir einen guten Schritt voran. Die Einkommensgrenzen werden erhöht. Das war überfällig. Seit 1986 ist
in dieser Richtung nichts getan worden. Das haben wir
heute vielfach gehört.
Ich kann nur sagen: Mich wundert es, woher Sie das
moralische Recht nehmen, uns wegen der recht bescheidenen Erhöhung des Erziehungsgeldes zu kritisieren, die
wir uns ehrlichen Herzens abgerungen haben und die wir
ehrlichen Herzens anbieten. Wir zeigen sogar eine Perspektive für die nächsten zwei Jahre auf, um damit deutlich zu machen, dass die Lebenshaltungskosten für Kinder
wie auch die Einkommen steigen.
Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir werden diesen
Weg fortsetzen und wir bitten Sie herzlich, uns dabei zu
unterstützen und damit etwas für die Familien und die Gestaltungsfreiheit der Familien in unserem Lande zu tun.
Ich danke Ihnen.
({20})
Nun hat der Kollege
Klaus Holetschek, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass wir uns das Recht herausnehmen, Sie zu kritisieren, liegt einfach daran, dass
Sie in der Regierung sind und sich an dem messen lassen
müssen, was Sie versprochen haben. Das ist relativ einfach. Jeder, der Verantwortung übernimmt, muss sich diesem Maßstab stellen und dem werden Sie, meine Damen
und Herren, nicht gerecht.
({0})
Wir können das Schwarze-Peter-Spiel relativ lange betreiben und ihn hin und her schieben: Sie haben im Moment die Verantwortung und hier im Parlament die Mehrheit. Sie müssen diese Entwürfe vorlegen und sich auch
der Kritik stellen. Danach können wir uns in der Sache
auseinander setzen. Wir müssen es uns aber nicht antun,
ständig den schwarzen Peter hin und her zu schieben.
Es ist völlig unbestritten, welche familienpolitischen
Leistungen die CDU/CSU in 16 Jahren erbracht hat.
({1})
Meine Damen und Herren von der zukünftigen Opposition, Sie werden in den nächsten zweieinhalb Jahren das,
was wir in den Jahren unserer Regierungszeit erreicht haben, nicht schaffen.
Erfreulicherweise liegt der Entwurf jetzt endlich vor,
der lange angekündigt war. Erfreulicherweise enthält er
auch viele Elemente, die in den Grundsatzpapieren der
CDU und der CSU enthalten sind. Das freut uns und wir
brauchen nicht zu diskutieren, wer voneinander abschreibt. Es ist schön, dass darin zum Beispiel die Anhebung der Einkommensgrenzen, die Flexibilisierung des
Erziehungsurlaubes und der Anspruch auf Teilzeittätigkeit
enthalten sind. Dies ist ein positiver Ansatz. Diesen werden wir auch positiv begleiten.
Es gibt natürlich auch einige Kritikpunkte, Dinge, die
wir nicht mittragen können. Ich halte die Budgetregelung
für verfehlt, und zwar zum einen, weil hiermit ein Anreiz
für diejenigen geschaffen wird, die sich nur ein Jahr rund
um die Uhr um ihre Kinder kümmern, und zum anderen,
weil die Regelung sehr kompliziert ist.
({2})
Die Berechnung des Erziehungsgeldes ist so kompliziert,
dass die Eltern nicht mehr selber einschätzen können, was
sie bekommen, sich aber trotzdem nach der Geburt entscheiden müssen.
Es fehlt auch eine Härtefallregelung, meine Damen
und Herren, weil wir in der Praxis sehen werden, dass es
nicht immer einfach ist, alles vorauszuplanen und vorauszusehen.
Sie haben auch nicht daran gedacht, dass durch diese
Regelung eine erhöhte Beratungskapazität notwendig
wird. Wenn Sie eine bürgerfreundliche Politik machen
wollen, dann müssen Sie in Zukunft auch den Ämtern sagen, dass die, die kommen, einen erhöhten Beratungsbedarf haben.
({3})
Ich möchte zum zweiten Punkt kommen. Wenn Sie die
Erhöhung der Einkommensgrenzen betrachten, dann
werden Sie feststellen, dass die verheirateten Eltern deutlich benachteiligt werden. Während die Einkommensgrenze für Alleinerziehende mit einem Kind deutlich über
dem steuerfreien Existenzminimum liegt, befindet sie
sich bei verheirateten Eltern deutlich unterhalb des steuerlichen Existenzminimums. Auch das muss man ansprechen. Wenn Sie einen neuen Entwurf vorlegen, hätten Sie
diesen Punkt berücksichtigen können.
({4})
Noch problematischer wird diese Einkommensgrenze für
jedes weitere Kind.
({5})
Hierzu möchte ich sagen, meine Damen und Herren,
dass Sie wieder zulasten kinderreicher Familien sparen.
Das ist aber Ihre Politik insgesamt. Hier vollzieht sich der
Paradigmenwechsel: Sie verlassen das Wertefundament,
indem Sie die Familie nicht mehr als Keimzelle der Gesellschaft sehen. Sie setzen auf Zuwanderung, statt auf
Hilfen und Rahmenbedingungen für Familien mit Kindern.
({6})
Meine Damen und Herren, Sie sollten auch das
Verfassungsgerichtsurteil berücksichtigen, das es im
November 1998 gegeben hat. Auch da kennen Sie die Problematik von Alleinerziehenden und deren Besserstellung.
Ich darf auf die Minderungsquote eingehen. Sie werden die Erhöhung der Einkommensgrenzen teilweise
durch Einsparung bei Erziehungsgeldempfängern mit
mittlerem Einkommen erzielen, weil Sie die Minderungsquote von 40 auf 50 Prozent erhöht haben. Auch das muss
angesprochen werden, meine Damen und Herren.
Des Weiteren fehlt die Dynamisierung bei diesem Gesetzentwurf, die es bei anderen Sozialleistungen gibt. Wo
haben Sie die?
({7})
Auch die Erhöhung der wöchentlich erlaubten Erwerbstätigkeit von 19 auf 30 Stunden - das hat die Kollegin
Diemers bereits angesprochen - ist nicht im Sinne des Gesetzes, die Betreuung des Kindes durch die Eltern finanziell zu erleichtern. Sie legen dieses Gesetz anders aus und
gehen nicht mehr auf die Wurzeln Ihrer Regelung zurück.
({8})
Das einstufige Antragsverfahren, Frau Bergmann, haben Sie einmal vorgesehen. Es ist schade, dass Sie sich in
der Fraktion nicht durchsetzen können. Es wurde bereits
angesprochen, dass die Regelungen immer komplizierter
werden und dass viele Eltern manchmal verzweifeln,
wenn sie die Anträge ausfüllen müssen. Deshalb wäre die
Rückkehr zum einstufigen Antragsverfahren, in dem vorgesehen ist, einen Antrag für die gesamte Zeit des Bezuges von Erziehungsgeld zu stellen, eine wirkliche Erleichterung, ein möglicher Gewinn für die Familien und
auch für die Behörden gewesen.
Ich stelle fest: Meine Damen und Herren, wir begrüßen
jede Verbesserung, die Sie für Familien erreichen. Sie haben hierbei unsere volle Unterstützung.
Sie sollten aber endlich eine nachhaltige, zukunftsorientierte und innovative Familienpolitik betreiben. Dazu,
meine Damen und Herren, gehören ein klares Bekenntnis
zur Familie mit Kindern, eine konkrete Antwort auf geänderte Lebensbedingungen der Familien und eine konzeptionelle Neuausrichtung.
Diese Neuorientierung kann in der Bündelung verschiedener Leistungen, wie zum Beispiel des Kindergeldes und des Erziehungsgeldes, zu einem Familiengeld
bestehen. Dadurch soll die materielle Leistungsfähigkeit
der Eltern erhöht werden, die Gleichwertigkeit von Erziehung und Erwerbsarbeit besser zum Ausdruck kommen
und die Familienförderung transparenter werden. Das ist
ein sehr wichtiger Punkt, meine Damen und Herren.
({9})
- Wir werden diesen Vorschlag weiter konkretisieren. Es
ist ein Vorschlag, der in die Zukunft geht, Frau Kollegin
Schewe-Gerigk. Wir wollen einmal an die Zukunft denken.
({10})
Wahrscheinlich sieht die Zukunft so aus, dass Sie dann
nicht mehr an der Regierung sind. Dann werden wir unsere Gedanken selber umsetzen. In der Zwischenzeit sollten
Sie versuchen, Ihre Familienpolitik nicht daran auszurichten, dass Sie in die eine Tasche hineinstecken, was Sie
aus der anderen herausholen.
({11})
Ich will noch einmal die Ökosteuerbelastung ansprechen. Auch wenn es Ihnen nicht gefällt, meine Damen und
Herren, so müssen Sie sich sagen lassen, dass die Familien, die auf dem flachen Land auf das Auto angewiesen
sind, unter dieser Ökosteuer leiden. Es nützt ihnen nichts,
wenn Sie auf der einen Seite Angebote machen und auf der
anderen Seite die steuerliche Belastung erhöhen. Das ist
keine familienfreundliche Politik für unser Land, meine
Damen und Herren.
({12})
Frau Ministerin, glaubwürdige Familienpolitik versteht
die Herausforderung dieser gewaltigen Querschnitts- und
Gemeinschaftsaufgabe nicht als Stückwerk. Wir brauchen
einen neuen Ansatz, der den Familien das gibt, was sie
brauchen, nämlich eine verlässliche Unterstützung, einen
intensiven Rückhalt und einen umfassenden Schutz in der
Gesellschaft. Sie bleiben auch hier hinter den Versprechungen der Koalitionsvereinbarung zurück. Sie haben
dort geschrieben, Sie beabsichtigten, „das Erziehungsgeld
mit besonderen Maßnahmen weiterzuentwickeln“. Was
übrig bleibt, meine Damen und Herren, sind viele Fragen
und Ungereimtheiten.
Lassen Sie mich noch wenige Sätze zu den vorliegenden Anträgen der PDS sagen. Ich lese hier von der Forderung nach einem Rechtsanspruch auf ganztägige außerhäusliche Kinderbetreuung von der Geburt bis zum Ende
des 4. Schuljahres und bis zum Ende des 8. Schuljahres auf
öffentlich geförderte Freizeitgestaltung. Oder: Das Gesetz
will umfassende außerhäusliche Kinderbetreuung zur
„Normalbiografie“ festschreiben und Kinderbetreuung als
gesellschaftliche Aufgabe definieren. Meine Damen und
Herren von der PDS, Sie sollten endlich erkennen, dass der
real existierende Sozialismus vorbei ist
({13})
und dass Sie die Familienpolitik nicht planwirtschaftlich
gestalten können.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Ich erteile der Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es erstaunt
mich doch sehr, dass ich hier im Bundestag zu hören bekomme, wie sich Herr Holetschek enthusiastisch für die
Unterstützung und Beratung der Familien einsetzt,
während ausgerechnet in seinem Wahlkreis das Frauenhaus, das gerade auf Unterstützung und Beratung setzt und
das zurzeit kurz vor dem finanziellen Aus steht, den eigenen Abgeordneten um Hilfe anging. Herr Holetschek stahl
sich aber davon und sagte, dafür sei er nicht verantwortlich. Das ist doppelzüngig; so etwas sollte man nicht machen.
({0})
Herr Holetschek, ich weiß, das schockiert Sie. Aber Sie
sollten sich in Ihrem eigenen Wahlkreis einmal erkundigen.
Es erstaunt mich auch, dass Sie in Ihrer Rede mit
keinem Wort auf das eingegangen sind, was die Frau
Ministerin uns vorhin in einer sehr eindrucksvollen Aufzählung vorgeführt hat: all die Steuerentlastungen, die wir
bereits im vergangenen Jahr im Plenum beschlossen hatten, ebenso wie die Kindergelderhöhung,
({1})
sogar eine Kindergelderhöhung für Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger. Wir haben gesagt, dass wir Politik
für die Kinder und im Sinne der Kinder machen. Das haben wir schon umgesetzt.
({2})
Wir sind auf einem guten Weg. Die ersten Schritte haben
wir hinter uns, weitere Schritte folgen. Aber das scheint Ihnen ja leider entgangen zu sein.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die neue Shell-Studie macht eine bemerkenswerte Entwicklung deutlich: Bei
Jugendlichen beiderlei Geschlechts ist ein verstärktes Interesse an Familie und Kindern, aber auch an Berufstätigkeit vorhanden. Die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf
steht im Vordergrund. Die Jugend von heute will berufstätig sein und Karriere machen, um sich selbst zu verwirklichen, aber zur selben Zeit nicht auf Familie und
Kinder verzichten. Sie sieht die Familie als einen Ort der
Geborgenheit, des Rückzugs, des Vertrauens an. Daher
muss es die Aufgabe der Politik sein, diesem Interesse
nachzukommen.
Tatsächlich hat die Jugendstudie festgehalten, dass sich
die Wertehaltungen von Mädchen und Jungen nach und
nach annähern, auch wenn Frauen ab einem bestimmten
Alter nach wie vor stärker kinder- und familienorientiert
sind. Das nähert sich aber auch bei jungen Männern an,
während Machos - der Mann geht arbeiten, die Frau an
den Herd - bei der Jugend out sind.
({4})
Vorgestanzte Rollenklischees sind nicht mehr zeitgemäß.
Das ist eine Herausforderung an die Politik. Mit unserem Gesetzentwurf, in dem es um Teilzeitarbeit und um
Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht, sind wir auf der
Höhe der Zeit. Wir setzen mit ihm wichtige Maßnahmen
für Frauen um.
({5})
Aber ein Punkt muss uns nach wie vor zu denken geben: Die Studie zeigt auch, dass ausgerechnet junge Frauen von 22 bis 24 Jahren sehr resigniert sind, weil sie befürchten, dass ihr Wunschziel nicht erfüllt werden kann,
dass sie keinerlei Chance haben, Familie und Beruf wirklich unter einen Hut zu bringen.
Dabei fehlt es ganz bestimmt nicht, wie die PDS meint,
am gesellschaftlichen Druck auf die Partner der jungen
Frauen. Es fehlt den Männern nicht an Bereitschaft mitzumachen. Tatsächlich fehlt es an Rahmenbedingungen,
Chancen und Wahlmöglichkeiten. Genau an diesen
Wahlmöglichkeiten müssen wir arbeiten.
({6})
Mit dem Entwurf der Koalition soll den Eltern Zeit für
ihre Kinder gesichert werden. Er soll Rahmenbedingungen für eine gleichberechtigte Teilung der Erziehung zwischen den Eltern schaffen. Aber wir müssen in diesem Bereich auch schon über künftige Schritte nachdenken, wie
zum Beispiel über die Kinderbetreuung, die Sie in Ihrem
Antrag aufgreifen. Auch wir wissen, dass die Kinderbetreuungsmöglichkeiten ausgebaut werden müssen, wenn
die Chancengleichheit von Männern und Frauen und von
Familien hergestellt werden soll. Wir wissen auch, dass
der Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten wichtig
für die Entwicklungschancen der Kinder ist. Aber zum
Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten ist von den
Kollegen der Opposition bis jetzt leider noch nichts Neues vorgetragen worden.
({7})
Einen Bauchladen an Wohltaten enthält Ihr Vereinbarkeitsgesetz. Es ist teuer, aber gerecht ist es nicht.
Wir dürfen heute keine ideologische Scheu vor Teilzeitarbeit haben. Wir dürfen nicht irgendetwas fordern,
was utopisch ist und von dem wir wissen, dass es in der
kommenden Zeit sowieso nicht umgesetzt werden kann,
wie zum Beispiel eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung.
Das ist zwar ein tolles Versprechen, aber es ist weder realistisch noch pragmatisch.
In einem Punkt muss ich Ihnen Recht geben: Die Karrierechancen von Teilzeitbeschäftigten sind noch immer
gemindert. Teilzeitarbeit ist in Deutschland noch nicht anerkannt und hat sich hier noch nicht durchgesetzt. Aber wir
dürfen die Teilzeitarbeit deswegen nicht abwerten; vielmehr muss es unsere Aufgabe sein, Möglichkeiten zu
schaffen, damit mehr Menschen in Teilzeit gehen, Teilzeitarbeit aufzuwerten, die Chancen in diesem Bereich zu
verbessern, Teilzeitarbeit in der Öffentlichkeit nach vorne
zu bringen und attraktiv zu machen.
({8})
Kollegin Deligöz, Sie
haben Ihre Redezeit schon deutlich überschritten.
Gut,
nur noch ein Schlusssatz: Wir sind uns bewusst, dass zu einer kinderfreundlichen Gesellschaft vieles dazugehört:
Kinderbetreuung, Teilzeitarbeit, Kinderzeit und Elternzeit. Mit dem vorliegenden Gesetz gehen wir einen entscheidenden Schritt in die richtige Richtung. Diesen
entscheidenden Schritt sollten wir unbedingt gemeinsam
vollziehen.
({0})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer den Antrag der PDS auf staatliche Kinderbetreuung und Freizeiteinrichtungen liest,
bei dem kommt angesichts des Füllhornes angeblicher
kinderfreundlicher Maßnahmen richtig Freude auf.
({0})
- Kollegin Schenk, ein solcher Antrag kann eigentlich nur
von der PDS gestellt werden; denn im Klartext heißt er:
Kommt her alle, die ihr mühselig und beladen seid! Der
Staat wird euch erlösen.
Selbstverständlich gibt die PDS keine Antwort auf die
Frage, woher das Geld kommen soll, mit dem der Staat die
Erlösung bewirken soll.
({1})
Dieser Antrag - das möchte ich hier deutlich sagen bestätigt den Eindruck, den der Bundesparteitag Ihrer Partei bei mir hinterlassen hat:
({2})
Sie beschäftigen sich nicht mit realitätsnahen Problemlösungen, sondern mit Wunschdenken.
({3})
Natürlich wäre angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen, die auch Sie beobachten, einiges wünschenswert. Ja, Sie haben Recht: Wir brauchen mehr Ganztagsschulen und Ganztagseinrichtungen auch zur Entlastung
junger Familien. Es ist unbestritten, dass solche Einrichtungen und solche öffentlichen Freizeitangebote auch zur
Entwicklung der Kompetenz und der Identität der Kinder
beitragen können. Es ist auch unbestritten: Wir brauchen
mehr innovative pädagogische Konzepte mit Altersmischung in Zusammenarbeit mit Nachbarschaftszentren.
Das ist durchaus erstrebenswert.
Besonders der Wunsch nach niedrigen Beiträgen für die
Betreuungseinrichtungen stößt auf meine Sympathie.
Selbst Ihrem Ziel der langfristigen Beitragsfreiheit würde
ich sehr gern zustimmen - im Schlaraffenland, aber nicht
im Deutschen Bundestag.
Immerhin konnten Sie von der PDS sich zu so viel Realitätssinn durchringen, dass Sie feststellen: Ihr Programm
überlastet die Kommunen und sie wären damit hilflos
überfordert.
({4})
Es ist schon sehr großzügig von Ihnen, dass sie schließlich
der Bundesregierung die Vorlage eines Finanzierungskonzeptes für Ihren Wunschzettel überlassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines ist doch klar:
Wenn unsere Gesellschaft zukunftsfähig sein will, dann
muss sie Kindern mehr Chancen bieten. Ja, Deutschland
muss kinder- und familienfreundlicher werden; deshalb
hat die F.D.P. mit ihrem Familienpapier und ihrem heute
eingebrachten Antrag, in dem es auch um Erziehungsgeld
geht, wichtige, aber vor allem praktikable Vorschläge gemacht.
({5})
Wir Liberalen verkennen nicht, dass Familie im weitesten Sinne der wichtigste Ort für Kinder ist, um soziale
Kompetenz zu erwerben. Ein staatlicher Kinderbetreuungsplatz kann zwar eine große Hilfe sein, aber niemals
die Nähe individueller, ganz persönlicher Bezugspersonen
wie der Eltern ersetzen. Das unverzichtbare Engagement
des Einzelnen für Kinder kann nicht allein durch Gesetze
und staatliche Vorschriften verordnet werden.
({6})
Der Staat muss Rahmenbedingungen setzen, die die
Chance erhöhen, dass Kinder in einem intakten sozialen
Umfeld aufwachsen. Deshalb sind die F.D.P.-Vorschläge
geeignet, junge Familien zu entlasten, ohne aber die Last
den Unternehmen oder dem Staat undifferenziert aufzuerlegen.
({7})
Denn, meine Damen und Herren von der PDS, die zusätzliche Belastung öffentlicher Kassen, wie Sie sie mit Ihren
Anträgen demagogisch fordern, ist doch letztlich, wenn
Sie ehrlich sind, eine Belastung für diejenigen, denen sie
eigentlich zugute kommen soll: der jungen Generation.
Wir befinden uns in Deutschland längst in der großen Gefahr, die Wohltaten von heute durch Hypotheken zulasten
kommender Generationen zu finanzieren.
({8})
Kinderfreundliche Politik, Frau Schewe-Gerigk, bedeutet aus unserer Sicht eben auch, den künftigen Generationen Perspektiven offen zu halten und neue zu eröffnen.
({9})
Deshalb wird die F.D.P. jede realistische Bemühung in
dieser Hinsicht unterstützen, aber jede populistische
Traumtänzerei ablehnen.
({10})
Ich erteile der Kollegin Ulla Schmidt, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen von der Union, das eine ist es, ein Papier zu schreiben und zu beschließen, in dem es um Lust auf Familie geht; das andere ist es, tatsächlich eine Politik zu machen, die die Rahmenbedingungen dafür schafft, dass die Lust auf Familie,
die junge Menschen zweifelsohne haben, anhält, sodass
der Kinderwunsch nicht immer diametral zur möglichen
Erwerbstätigkeit steht.
Dass Sie diese Vereinbarkeit nicht herstellen wollen,
({0})
sieht man daran, dass Sie bis heute keinen einzigen Änderungsantrag zu diesem Gesetzentwurf, den Sie offensichtlich schlecht finden, eingebracht haben.
({1})
- Auch wenn Sie schreien, liebe Kollegen von der Union:
Ich weiß, dass Sie noch in einem Selbstfindungsprozess
sind. Herr Biedenkopf hat dies heute im Hinblick auf die
Renten festgestellt. Nötig ist dieser Prozess auch hinsichtlich Familien. Vielleicht brauchen Sie noch einige Zeit.
Wenn Sie das ernst nehmen, was Sie auf Ihren Parteitagen - auch auf den kleinen Parteitagen - beschließen,
dann versuchen Sie einmal, den Vorstellungen junger
Menschen von Familie entgegenzukommen und entsprechende Chancen zu schaffen.
({2})
Sie sprechen davon, mit diesem Gesetzentwurf solle ein
Zwang zur außerhäuslichen Erwerbsarbeit geschaffen
werden. Ich verstehe nicht ganz, was damit gemeint ist.
Sollen wir etwa die innerhäusliche Erwerbsarbeit fördern?
Wahrscheinlich meinen Sie, dass Mütter nach der Geburt
ihres Kindes am besten zu Hause bleiben sollen, um sich
dort um den Nachwuchs zu kümmern.
Nein, meine Damen und Herren, 80 Prozent der jungen
Menschen und auch der jungen Familien sagen: Wir wollen beides; wir wollen Erwerbsarbeit und wir wollen Familienarbeit miteinander teilen. Die jungen Mädchen sagen: Ich möchte einen Beruf, ich möchte darin in meiner
Qualifikation tätig sein, ich möchte einen Mann haben,
möchte Kinder haben, aber der Mann muss sich die Erziehungsarbeit mit mir teilen.
({3})
Dann kommt das Entscheidende, was gesagt wird: Aber
wenn es so ist, dass ich, wenn ich Kinder habe, zunächst
einmal auf einen Start in meinem Beruf verzichten muss
und hier dauerhaft ausgeschlossen werde, dann entscheide
ich mich zuerst dafür, in meinen Beruf einen Fuß zu setzen und dort meine Frau zu stehen, und nicht für die Kinder. Ich glaube, wir sollten das ernst nehmen.
Ich finde, dass junge Menschen - genau wie sie das
wollen - das Recht haben müssen, Kinder zu gebären,
Kinder aufzuziehen, und ich appelliere an die Verantwortung der Väter, hier mehr zu tun.
({4})
Frau Kollegin Diemers, es geht doch nicht darum, dass
wir, wie Sie sagen, den Vätern jetzt möglichst viel außerhäusliche Erwerbsarbeit neben der Erziehungsarbeit aufhalsen wollten. Ich wäre ja froh, wenn wir darüber schon
einmal reden könnten. 1,6 Prozent der Väter verzichten
bisher auf die volle Erwerbstätigkeit, um ihre Kinder zu erziehen. Es geht doch gerade darum, diese Zahl zu erhöhen,
und da spricht doch keiner davon, Kollegin Lenke, dass
wir mit diesem Gesetz direkt 90 Prozent erreichen würden.
Wenn wir in ein oder zwei Jahren hier feststellen könnten, 5, 6, 7, 8, 9, 10 oder 15 Prozent der Väter teilen sich
die Erwerbsarbeit und die Familienarbeit, dann würde ich
sagen: Uns ist wirklich etwas gelungen, und dieser Gesetzentwurf hat etwas auf den Weg dahin gebracht, was wir
in der Familie und was wir auch in der Erziehung wollen.
({5})
Deshalb haben wir in dem Gesetz Möglichkeiten eingebaut, die es Vätern erleichtern, sich an der Familienarbeit
zu beteiligen.
Ich persönlich bin eine große Anhängerin davon und
habe dafür auch immer gekämpft, dass wir den Erziehungsurlaub vom ersten Tag der Geburt an ermöglichen,
und zwar aus einem bestimmten Grund. Wenn die Mutter
im Mutterschutz ist, das Kind geboren ist und der junge
Vater sagen kann: „Ich bleibe vier Wochen ganz zu Hause, ich nehme Erziehungsurlaub oder ich gehe für zwei
Monate, in denen meine Frau noch zu Hause ist, auf halbe Stundenzahl“ - das kann er jetzt machen -, dann - so
sage ich Ihnen - ist diese Zeit, in denen der Vater gemeinsam mit der Mutter die Erziehung und die Betreuung des
Kindes vornehmen kann, wichtig für das Wecken der Bereitschaft des Vaters zu sagen: Ich mache das, ich bleibe
einen Tag in der Woche zu Hause und kümmere mich ganz
um mein Kind. Wenn wir in zwei, drei Jahren - der erste
Bericht wird das zeigen - erreicht haben, dass es mehr Väter geworden sind, dann haben wir viel für unser Ziel getan; dann haben wir Chancen eröffnet. Wir geben den
Menschen darüber hinaus Chancen,
({6})
Frau Kollegin Diemers, indem wir sagen: Du musst nicht
ganz zu Hause bleiben, du musst nicht auf 19 Stunden oder
weniger heruntergehen. - Das ist doch so gewesen: Es lag
ja nicht nur an den jungen Vätern, sondern die finanzielle
Situation, dass die Frauen heute immer noch rund ein Drittel weniger verdienen als die Männer, hat doch die Familien dazu gezwungen, dass die Frauen zu Hause blieben.
Jetzt schaffen wir die Möglichkeiten, dass jedes der beiden Elternteile bis zu 30 Stunden arbeiten kann.
({7})
Ich sage Ihnen eines, Frau Kollegin Lenke: Vor zwei
Tagen kam ein Angestellter des Bundestages zu mir und
sagte: Ich finde es richtig toll, was Sie da machen. Meine
Frau und ich haben bereits ein Kind und wollen noch ein
Kind haben. Und durch die vorgesehene Erhöhung der
Einkommensgrenzen ist es möglich, dass ich einen Tag zu
Hause bleibe - ich gehe auf 30 Stunden -, und meine Frau
kann an diesem Tag ihre Weiterbildung machen, denn wir
wollen, dass sie irgendwann auch wieder ganz in den Beruf kommt. Dafür bedanke ich mich bei Ihnen, denn ohne
die Erhöhung der Einkommensgrenzen hätte ich das nicht
machen können.
Wenn uns das demnächst ganz viele sagen und überall
dort, wo wir sind, diese jungen Väter kommen, ja, was
glauben Sie, was sich dann für die Gesellschaft verändert
hat, und was glauben Sie, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen, was sich eigentlich für die Erziehung eines Kindes geändert hat! Dieses Kind lernt, dass Partnerschaft in
der Ehe bedeutet, dass Vater und Mutter da sind, aber beide auch eigenständige Wesen sind, die ihre eigene Existenz sichern können. Ich glaube, das prägt die Kinder besser als die Erfahrungen, die sie in den vergangenen Jahren
machen mussten.
({8})
Sie sprachen außerdem die Frage der Einkommensgrenzen an. Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass wir
weiß Gott die Einkommensgrenzen gerne auf 60 000 oder
70 000 DM angehoben und liebend gerne ein Erziehungsgeld in Höhe von 1 000 oder 1 500 DM eingeführt
hätten; aber, wie es der Herr Kollege Haupt richtig gesagt
hat, die Frage ist, wie wir mit dem Geld, das dem Staat zur
Verfügung steht, umgehen und ob wir tatsächlich eine
nachhaltige Politik machen. Sie, Frau Kollegin Diemers,
sagen, sie hätten gerne Erhöhungen vorgenommen, aber
Finanzprobleme hätten sie gehindert. Sie haben dabei allerdings vergessen zu sagen, dass Sie uns diese Finanzprobleme vererbt haben, als wir die Mehrheit erhielten,
({9})
wir aber trotz dieser Finanzprobleme - 1,5 Billionen DM
Schulden, meine Damen und Herren von der ehemaligen
Koalition, und 90 Milliarden DM nur für Zinsen in diesem
Jahr - gehandelt haben.
({10})
Wenn wir diese Lasten abbauen, dann haben wir auch das
Geld dafür, um den Familien endlich all das zu geben, was
sie brauchen. Dann hätten wir sogar das Geld dafür, eine
kostenlose Kinderbetreuung in den Kindergärten anzubieten.
({11})
- Das wollen wir auch; das dauert nur noch eine Weile.
Wir haben die Einkommensgrenzen erhöht, 220 000 junge Eltern von derzeit etwa 690 000, die Erziehungsgeld
in Anspruch nehmen, werden mehr Geld erhalten. Das ist
entscheidend. Insbesondere haben wir trotz der geringen
Finanzspielräume festgelegt, dass die Einkommensgrenzen in Familien mit zwei und mehr Kindern erhöht werden.
Wir haben auch noch in einigen anderen Bereichen Ungerechtigkeiten beseitigt, die Sie nie beseitigt haben: Wir
haben endlich klargestellt, dass Erziehungsgeld auch dann
gezahlt wird, wenn die Eltern Arbeitslosengeld beziehen;
das haben Sie nie gemacht. Wir haben klargestellt, dass für
jedes behinderte Kind in einem Haushalt ein Pauschalbetrag angerechnet wird, sodass auch so die Einkommensgrenzen erhöht werden; auch das haben Sie nie gemacht.
Sie haben die Familien mit mehreren behinderten Kindern
in dieser Hinsicht im Stich gelassen.
Sie können sehr gerne kritisieren, dass mit diesem Gesetz zu wenig auf den Weg gebracht wurde. Ich aber bin
stolz darauf, dass wir anderthalb Jahre nach Übernahme
der Regierungsverantwortung hier diesen Gesetzentwurf
beraten. Dieser wird sehr viel mehr für die Familien bringen als die schönen Worte, die man in Ihren Anträgen findet.
({12})
Ich komme jetzt noch auf einen letzten Punkt zu sprechen, den auch die Kollegin Lenke angesprochen hat. Sie,
Frau Kollegin Lenke, haben bezweifelt, dass es keine
Schwierigkeiten mache, in Betrieben mit mehr als
15 Beschäftigten den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit umzusetzen.
({13})
- Da gibt es natürlich eine Grenze; wir gehen davon aus,
dass Betriebe ab 16 Beschäftigten dieses können, sofern
Ulla Schmidt ({14})
nicht außergewöhnliche betriebliche Belange dem entgegenstehen. Sie müssen sich schon anschauen, was da steht.
Warum haben wir diese Grenze festgesetzt? Wir glauben, dass für einen Unternehmer in einem kleinen Betrieb,
in dem ein Beschäftigter Teilzeitarbeit beantragt - obwohl
auch in kleineren Betrieben sehr viele Teilzeit arbeiten damit zu viel Bürokratie verbunden ist, insbesondere wenn
nach einer Ablehnung ein Arbeitsgerichtsverfahren stattfindet. Darauf haben wir Rücksicht genommen. Ab 16 Beschäftigten kann man Teilzeit einrichten oder eine Ablehnung entsprechend rechtfertigen. Ebenso wie hier habe ich
auch in allen Diskussionen mit Vertretern des BDI oder anderen gesagt: Die Industrie sieht heute, welche Fehler sie
in der betriebsnahen Ausbildung von Menschen in den Informations- und Kommunikationstechnologien gemacht
hat. Wenn sie jetzt nicht Rahmenbedingungen schafft und
wirklich darauf schaut, wie Beruf und Familie familienfreundlich miteinander vereinbart werden können und wie
das hohe Qualifikationspotenzial der Frauen in der Bundesrepublik Deutschland von heute erhalten bleiben kann,
auch wenn sie über viele Jahre Teilzeit arbeiten, dann würde sie den gleichen Fehler machen, den sie in den letzten
Jahren gemacht hat, indem sie sich immer mehr von der
Ausbildung verabschiedet hat. Heute beklagt sie aber, dass
wir einen Mangel an ausgebildeten Fachkräften haben.
Ein wirklich guter Unternehmensgeist und eine vernünftige unternehmerische Planung müssten vorwärts
weisend sein, indem sie Frauen und Männern ermöglichen, mehr Zeit für ihre Familien zu haben. Unsere Unternehmenspolitik ist Gesellschaftspolitik. Deswegen begrüßen wir diesen Entwurf.
({15})
Frau Kollegin
Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Lenke?
Ja.
Frau Kollegin Schmidt, können Sie
mir die Grenze von 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
eines Betriebes sachlich begründen? Für mich ist sie willkürlich.
Man muss natürlich eine Grenze setzen. Darin liegt immer ein wenig Willkür. Ich
glaube nur, dass ein Betrieb mit 16 oder mehr Beschäftigten dies leisten kann. Es gibt ja kaum Betriebe, die zwischen 16 und 20 Beschäftigte haben. Eine größere Zahl
von Betrieben hat über 20 Beschäftigte. Schauen Sie sich
die entsprechenden Statistiken an!
({0})
- Ich lebe mitten in Deutschland. Ich weiß, wie das Leben
hier ist.
Wir glauben, dass es Betrieben ab dieser Grenze besser
möglich ist, Teilzeitarbeitsplätze einzurichten, weil sie
über mehr Beschäftigte verfügen. Wenn jemand sagt, das
sei in seinem Betrieb nicht möglich, dann muss er das
schriftlich begründen, sodass der Arbeitnehmer oder die
Arbeitnehmerin eine Möglichkeit hat, dagegen vorzugehen. Aber es gilt: Je größer ein Betrieb ist, desto besser
kann er die neuen Regelungen verkraften.
Ich hätte gerne die Grenze bei 10 Beschäftigten gesetzt.
Die Grenze von 15 Beschäftigten ist ein Kompromiss.
Aber trotzdem ist diese Grenze genauso willkürlich wie
die von 13 oder 17 Beschäftigten. Die Grenze hängt damit
zusammen, dass wir Kleinbetriebe ausnehmen wollen.
Frau Kollegin
Schmidt, gestatten Sie eine Nachfrage der Kollegin
Lenke?
Gerne.
Frau Schmidt, Ihre Erklärung befriedigt mich sehr, weil ich nun kein Vorurteil mehr habe.
Ich habe jetzt vielmehr die Gewissheit, dass Sie glauben,
dass die Betriebe ab 15 Mitarbeitern dieses schaffen können. Ich finde es aber traurig, dass Sie auf bestimmte Betriebe nicht abheben.
({0})
Sie müssen eine Frage stellen.
Ich frage Sie: Haben Sie mit Ihrer
Regelung auch die Betriebe ab 15 Mitarbeitern gemeint,
die überwiegend Frauen eingestellt haben, weil Frauen
qualifiziert und in ihrer Arbeit verlässlich sind? Diese Tatsache haben Sie meines Erachtens bei der Festlegung der
niedrigen Grenze, ab der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit
besteht, nicht bedacht.
Frau Kollegin Lenke,
70 Prozent der beschäftigten Frauen arbeiten in Betrieben
mit mehr als 15 Beschäftigten. Es gibt darüber Statistiken,
in denen man die Zahlen nachlesen kann, was Ihr Kollege
einmal tun sollte. Rund 30 Prozent der beschäftigten Frauen arbeiten in Betrieben mit unter 10 Beschäftigten. In diesen Betrieben gibt es viel Teilzeitarbeit. Für sie wäre es
aber eine große Belastung, wenn dort der Rechtsanspruch
auf Teilzeitarbeit bestehen würde. Ich glaube, dass in kleinen Betrieben sehr viel mehr durch das Miteinanderreden
zu erreichen ist.
Wenn wir feststellen, dass es für Mütter und Väter in
Betrieben unter 15 Beschäftigten ein großes Problem ist,
im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber eine Teilzeitarbeit
zu bekommen, dann müssen wir darüber reden. In diesem
Falle würde aber die Grenze nach unten und nicht nach
oben gesetzt.
Ulla Schmidt ({0})
In größeren Betrieben kann diese Teilzeitregelung auch im Einvernehmen - besser durchgesetzt werden. Wir
werden in zwei oder drei Jahren einen Bericht über die
Wirksamkeit dieses Gesetzes vorlegen. Dann können wir
sehen, ob es wirkt oder ob wir etwas tun müssen. In diesem Punkt bin ich nicht bange; denn es gehört dazu, zu
Veränderungen bereit zu sein und auf Fehlentwicklungen
zu reagieren, wenn man etwas Neues macht. Es ist
zunächst einmal ein Riesenerfolg, dass wir den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit in Betrieben ab 15 Beschäftigten
haben. Mir schwebt vor, dass wir wie die Niederländer, die
immer als Vorbild für unsere Wirtschaft dienen, den Teilzeitanspruch für alle Beschäftigten verankern. Das wäre
mir noch viel lieber.
({1})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Gerald Weiß, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf
einige Aspekte der Debatte aufnehmen. Ich möchte mit Ihnen, Frau Ministerin Bergmann, beginnen und gleichzeitig Frau Schewe-Gerigk ansprechen. Sie beide haben davon gesprochen, dieses Gesetz sei eine kleine Revolution.
Aber mit dieser Revolution hätten Sie noch keinen deutschen Bahnsteig gestürmt.
({0})
Diese Novelle zum Bundeserziehungsgeldgesetz ist doch
die Magerstufe einer familienpolitischen Reform, Reform
light. Ein seltenes Phänomen: wenig Licht, viel Schatten.
Wir haben ja das Positive an diesem Gesetzentwurf anerkannt:AnhebungderEinkommensgrenzen-abernursehr
bescheiden -, Flexibilisierung des Erziehungsurlaubs aber sehr in Maßen -, Anspruch auf Teilzeittätigkeit
während des Erziehungsurlaubs - okay. Aber sehr weit
reicht dieser Entwurf nicht.
({1})
Wenn man Sie an all Ihren Verheißungen, Ankündigungen und Ihrer Kritik von gestern an der Vorgängerregierung misst, ist dieser Entwurf nur eine Maus, die der
Berg geboren hat, und trägt nicht sehr weit.
({2})
Was wir übrigens - der Kollege Holetschek hat es bereits gesagt - einfach nicht akzeptieren, ist, dass die wirklich bahnbrechenden familienpolitischen Leistungen,
von denen man sagen kann, dass sie in den 80er-Jahren revolutionär und neu waren, geleugnet werden: Einführung
des Erziehungsgeldes und des Erziehungsurlaubs - wir sagen lieber: Erziehungszeit; im Gegensatz zu Ihnen sind wir
bereit zu lernen -, Anrechnung der Kindererziehungszeiten in der Rente, Ausbau des Familienleistungsausgleichs.
Das war revolutionär!
({3})
Dann kam die Zäsur. Frau Schmidt, Sie haben hier wieder von den 1,5 Billionen DM gesprochen, was ich nicht
mehr hören kann. Sie wissen doch, dass diese 1,5 Billionen DM im Wesentlichen die Abbruchlasten des konkursreifen Sozialismus in der DDR sind.
({4})
Es ist schwierig für Sie - das war es auch für die Vorgängerregierung -, Familienpolitik zu gestalten. Das muss
man akzeptieren. Aber es gilt, eine neue Zäsur zu setzen.
Frau Lenke hat Recht: Ihr Gesetzentwurf ist kein großer
Wurf und keine große Zäsur.
Aber ich will mich noch mit etwas anderem auseinander setzen. Man kann nicht über Haltungen und Werturteile streiten. Werturteile stehen in der Zustimmungskonkurrenz der Bürgerinnen und Bürger. Man muss sie nur offen legen und transparent machen. Ich bin Frau Wester
dankbar, dass sie als eine der wenigen gesagt hat, der Gesetzentwurf beinhalte einen Paradigmenwechsel. Im Wesentlichen bewegen Sie sich in den Bahnen der Vorgängerregierung. Es sind die Ecksteingesetze, die Sie jetzt
weiter gestalten. Aber es ist schon ein Paradigmenwechsel. Wenn Sie beispielsweise einen klaren Anreiz setzen,
indem Sie 900 DM Erziehungsgeld zahlen, wenn man es
nur ein Jahr in Anspruch nimmt
({5})
- das sage ich ja -, führt das faktisch dazu, dass der Anreiz, sich dem Kind längere Zeit zu widmen - was wir
wollten, weil wir meinen, das Kind braucht in den prägenden ersten Jahren besondere Zuwendung -, schwindet.
Sie rücken die Schiene des Erwerbslebens in den Vordergrund.
Wir denken die Reform anders als Sie. Wir denken sie
vom Kinde her.
({6})
Wir sagen, es ist für das Kind besser, wenn in seinen prägenden ersten Jahren ein Elternteil oder beide Partner für
die Erziehungsarbeit zur Verfügung stehen. Sie setzen die
Anreize fälschlich genau in die entgegengesetzte Richtung. Das ist der Paradigmenwechsel, der in Ihrem Gesetz
spürbar wird.
({7})
Ein bisschen mehr Fantasie wäre doch wünschenswert.
Sie beklagen mit Recht - das hängt auch mit dem Zustand
der Einkommensverteilung und des Familienleistungsausgleichs, wie er heute, im Status quo ist, zusammen -,
dass so wenig Väter Erziehungsurlaub nehmen. Hier einen
Ulla Schmidt ({8})
Anreiz ins Gesetz einzubauen, indem wir sagen: „Die Eltern, die die Erziehungsarbeit in der frühkindlichen Phase
partnerschaftlich miteinander leisten, sollen auch etwas
mehr Erziehungsurlaub haben“, wäre doch prüfenswert.
Wie wäre es denn mit einem Partnerschaftsbonus für die
Eltern, die diesen Erziehungsurlaub teilen? Das wäre ein
Anreiz für mehr Partnerschaft. Den vermisse ich in wesentlichen Passagen Ihres Gesetzes.
Wir halten es auch für ganz bedenklich, dass Sie die
Einkommensgrenzen für Alleinerziehende gegenüber
verheirateten Eltern überproportional erhöhen.
({9})
Das ist eine Schlechterstellung, eine Benachteiligung verheirateter Eltern, die wir nicht akzeptieren. Im Übrigen
glauben wir, dass diese Ungleichbehandlung sehr schnell
am Eisberg des Verfassungsrechts schrammen könnte.
Wir stehen auch der Bestimmung und der Wirkung dieses Gesetzes ganz kritisch gegenüber, dass die erhöhten
Einkommensgrenzen im Wesentlichen von den Erziehungsgeldempfängern mit mittlerem Einkommen finanziert werden. Was ist das für eine Revolution, wenn wir
Umverteilung zwischen Eltern machen? Das ist doch zu
kurz gesprungen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({10})
Vieles andere, was im Raum ist, was jetzt realisiert
werden müsste, kommt in Ihrem Entwurf nicht zum Tragen. Der Kollege Holetschek hat es gesagt. Wie ist es mit
der Dynamisierung von Familienleistungen? Wie ist es ich habe das bereits ausgeführt - mit einem Anreiz im Sinne eines Partnerschaftsbonus? Wie ist es mit der Förderung
wirklicher Partnerschaft zwischen den Eltern?
Hier will ich mit einem granitenen Vorurteil aufräumen,
das in mehreren Diskussionsbeiträgen rot-grüner Sprecher
genannt worden ist. Die Union ist dafür, die Rahmenbedingungen so zu gestalten und so zu verbessern, dass die
Entscheidungsfreiheit der Eltern gefördert wird, gestärkt wird. Wir wollen die wirklich faire Wahlchance,
wann, wie, wo und ob Familie und Beruf miteinander vereinbart werden sollen. Wir halten Ihnen vor, dass Sie in
Wahrheit diese Wahlfreiheit und Entscheidungsfreiheit
nicht wollen.
Sie wollen die Entscheidung - siehe die verunglückte
Budgetregelung in Ihrem Gesetz - in eine ganz bestimmte Richtung lenken. Sie können sich nur vorstellen: außerhäusliche Betreuung so bald als möglich, so lange wie
möglich und zurück ins Berufsleben so früh wie möglich.
Unser Vorschlag ist: Denken Sie die Reform vom Kind
her. Das Kind braucht Bezugspersonen,
({11})
Nähe, Betreuung durch die Eltern. Die Anreize, die Sie setzen, sind alle falsch.
({12})
Also keine Revolution, aber gewisse Elemente eines
Paradigmenwechsels weg von einer gewollten und zu
wünschenden Entscheidungsfreiheit, die zu stützen wir
uns durch Ausbau und Aufbau der richtigen Rahmenbedingungen, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Familienleistungsausgleich, zum Anliegen machen müssten.
So gesehen begegnen wir diesem Entwurf sehr kritisch.
Sie haben nach Anträgen gefragt. Wir werden unsere
Gegenvorstellungen im Gesetzgebungsverfahren zur Geltung bringen.
Wir werden Alternativen sichtbar machen, auch die Werturteile, auch die Wertentscheidungen, die alternative Vorstellungen tragen. Daran liegt uns sehr. Es geht um die unterschiedlichen Grundansätze, um die Grundeinstellung zu
Familie und Kindern und wirklicher Partnerschaft in der
Debatte zu verdeutlichen.
({13})
Gehen wir in diesem Sinne ans Werk! Viel, Frau
Bergmann - den Bergmannsgruß „Glück auf!“ mag man
bei diesem Gesetz gar nicht sagen -, liegt uns allerdings
als Grundlage nicht vor.
Danke.
({14})
Zu einer
Kurzintervention erhält jetzt die Kollegin Christa Wolf
das Wort.
({0})
- Christa Luft.
Das ist nicht das erste Mal,
dass ein solcher Lapsus passiert, Frau Präsidentin. Das ist
kein Problem.
Sehr geehrter Herr Kollege Weiß, Sie haben eben die
Debatte benutzt, um abermals eine These in die Welt zu
setzen, die von Ihrer Seite des Hauses häufig wiederholt
wird, nämlich dass die 1,5 Billionen DM Verschuldung der
Bundesrepublik Deutschland auf das so genannte kommunistische Erbe zurückgingen. Ich will Ihnen sagen:
Diese Aussage wird durch ständiges Wiederholen nicht
richtiger.
({0})
Es gibt keinerlei Zweifel daran - meine Fraktion und meine Partei haben daran auch nie einen Zweifel gelassen -,
dass es eine international nicht wettbewerbsfähige Wirtschaft gegeben hat. Das wissend ist eine Währungsunion
in Gang gesetzt worden, die ohne Anpassungsfristen und ohne entsprechende Modalitäten diese Wirtschaft total in den Ruin geführt hat. Zu Beginn der deutschen Einheit war die alte Bundesrepublik Deutschland
schon mit 900 Milliarden DM verschuldet. Als die Deutsche Bahn privatisiert worden ist, hat es eine Übernahme
der Schulden gegeben. Das ist in den Bundeshaushalt als
Schuldposten übernommen worden. Bei der Privatisierung
von DDR-Unternehmen ist es nie geschehen, dass man
Gerald Weiß ({1})
deren Schulden so komplett übernommen hat. Die Schulden der Treuhandanstalt haben am Ende 256 Milliarden
DM betragen. Sie wollen doch nicht behaupten, dass es
nicht möglich gewesen wäre, die Arbeit der Treuhandanstalt mit einem anderen Ergebnis zu beenden. Wenn es eine komplette Marktumverteilung gibt, dann ist es klar,
dass eine international nicht wettbewerbsfähige Wirtschaft
nicht in eine Marktwirtschaft hineinwachsen kann. Wenn
man ein Potenzial von qualifizierten Menschen lieber alimentiert, als es nutzbar zu machen - über diesen Punkt
werden wir noch im Rahmen des neuen Punktes auf der
Agenda zu sprechen haben -, dann ist völlig klar, was an
Verschuldung entstehen muss.
Ich wehre mich ganz entschieden dagegen, dass Sie die
Öffentlichkeit nach wie vor bezüglich dessen irreführen,
was in die deutsche Einheit eingebracht worden ist. Wir
haben auch Potenziale eingebracht; wir haben nicht nur ein
Minus eingebracht. Das muss die Öffentlichkeit ausgehend von diesem Haus bitte zur Kenntnis nehmen.
({2})
Ein letzter Satz. Die Außenschulden der DDR haben zu
Beginn der Währungsunion - das ist keine Berechnung,
die die PDS angestellt hat; die Bundesbank hat sie angestellt - 19 Milliarden DM betragen. Auch dieses möge die
Öffentlichkeit ausgehend von der heutigen Debatte bitte
zur Kenntnis nehmen. Alle Horrorszenarien sind in der Tat
fehl am Platze.
({3})
Herr Kollege
Weiß, bitte.
Frau Luft,
ich möchte mich eigentlich nur ungern mit Ihnen auseinander setzen.
({0})
- Erstens habe ich es nicht besonders gerne, mit der PDS
zu reden.
({1})
Zweitens stehen Sie für viele Irrtümer - Zahlenirrtümer
und Irrtümer in der Sache - in der DDR von gestern.
({2})
Sie waren, glaube ich, die Dame, die den Sanierungsbedarf
der DDR-Wirtschaft einmal auf 3 Milliarden DM beziffert
hat. Lasst Zahlen sprechen! Ich lasse Zahlen auch im Übrigen sprechen: Die Gesamtheit der DDR-Auslandsschulden, des Umstrukturierungsbedarfs, des Folgemittelbedarfs etwa auf dem Sektor der Angleichung der Sozialversicherungssysteme - alles zusammen wiegt
900 Milliarden DM. Da 900 Milliarden DM der größere
Teil von 1,5 Billionen DM sind, ist richtig, was ich sagte,
nämlich dass der größte Teil der Schuldenlast, mit der wir
es zu tun hatten und mit der es die heutige Regierung zu
tun hat, das Erbe der untergegangenen DDR darstellt.
Danke.
({3})
Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 14/3118, 14/2758 und 14/2759 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 14/3192 soll an dieselben
Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 14/3118 über-
wiesen werden. Einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 2 a und 2 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/
CSU
Keine überstürzte und konzeptionslose Durchbrechung des Anwerbestopps
- Drucksache 14/3012 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik
folgenabschätzung
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Dr. Guido Westerwelle, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Zuwanderung steuern, Aus- und Weiterbildung
intensivieren, Arbeitserlaubnisrecht entrümpeln
- Drucksache 14/3023 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Das ist auch
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Dr. Jürgen Rüttgers.
Frau Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung
hat angekündigt, den seit 1973 existierenden Anwerbestopp aufzuheben
({0})
und damit die seit mehr als 25 Jahren erste staatlicherseits
veranlasste Zuwanderungswelle zu organisieren. Die
CDU/CSU-Fraktion beantragt, diese unvorbereitete und
unkoordinierte Aktion der Bundesregierung abzulehnen.
({1})
Es ist etwas mehr als zwei Monate her, dass Minister
Riester hier im Deutschen Bundestag auf eine entsprechende Anfrage der CDU/CSU-Fraktion wörtlich mitgeteilt hat:
Wie in den anderen Branchen muss auch im Bereich
der Datenverarbeitung das Problem der ausreichenden Gewinnung von Fachkräften durch Maßnahmen
am inländischen Markt gelöst werden. Die Zulassung
von Arbeitnehmern aus dem Ausland würde die Ursachen des Mangels nicht beheben, sondern allenfalls
kurzfristig verdecken.
Ich bin einmal gespannt, wie Minister Riester heute hier
im Bundestag versucht, uns das Gegenteil zu erklären.
({2})
Meine Damen und Herren, ich bin ebenso gespannt, wie
sich der ehemalige stellvertretende Gewerkschaftsvorsitzende Riester zu den Äußerungen der Gewerkschaften in
Deutschland stellen wird, zum Beispiel zum Artikel des
Vorsitzendender IGMetall, dessenStellvertreter erwar,der
in der Zeitschrift „Metall“ gerade erklärt hat, die Green
Card sei eine rote Karte für die Arbeitslosen. Herr Zwickel
hat zwar selten Recht, aber an dieser Stelle hat er Recht.
({3})
Gleichauf der DGB-Vorsitzende Schulte: „Die Forderung ist angesichts von 4 Millionen Arbeitslosen nicht
nachvollziehbar“, oder der DAG-Vorsitzende Issen: „Man
kann nicht einfach die Schleusen öffnen.“ Jeder, der sich
mit Arbeitsmarktfragen beschäftigt, weiß, dass dies eine
falsche Lösung für die bestehenden Probleme ist und dass
es deshalb nicht richtig ist, die Probleme auf dem Arbeitsmarkt dadurch lösen zu wollen, dass wir den Entwicklungsländern ihre neu ausgebildeten Eliten wegkaufen.
({4})
Einwanderung kann keine vernünftige Arbeitsmarktpolitik ersetzen. Es hat niemand etwas dagegen, dass in
dem einen oder anderen Bereich Fachleute nach Deutschland kommen. Das ist schon heute so. Das geht mit dem
bestehenden Instrumentarium. Aber jetzt eine staatliche
Einwanderungspolitik betreiben zu wollen - und das ohne Konzept, ohne ausreichende Vorbereitung und vor allen Dingen ohne ein Gesetz, das heißt ohne Einbeziehung
des Deutschen Bundestages -, ist der falsche Weg. Deshalb stelle ich fest: In dieser Frage wird vonseiten RotGrün versucht, die Bevölkerung der Bundesrepublik systematisch zu täuschen.
({5})
Wer sagt denn, dass es im Bereich der Computertechnologie wirklich 75 000 offene Stellen gibt? Jede Kollegin und jeder Kollege, die oder den ich gebeten habe, einmal zu Hause im Arbeitsamt nachzufragen, wie die Situation aussieht, kommt mit völlig anderen Zahlen. Das
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB,
in Nürnberg sagt dazu wörtlich: Das sind allenfalls grobe
Schätzungen, die nur Sinn machen, um die immer wieder
auftretenden Engpässe plakativ in die Öffentlichkeit zu
tragen und Aktionen auszulösen.
Das ist es wahrscheinlich. Es geht nicht darum, die Probleme zu lösen, sondern darum, eine ganz bestimmte
öffentliche Kampagne zu fahren. Eines allerdings ist wahr:
Die Industrie hat in den letzten Jahren zu wenig ausgebildet und versucht jetzt, von ihren Versäumnissen abzulenken.
({6})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Sie sich
einmal mit diesem Thema beschäftigen, dann werden Sie
schnell zu der Erkenntnis kommen, dass in diesem Jahr
47 000 Personen in Deutschland für diesen Bereich ausgebildet werden. Davon kommen 32 000 aus Weiterbildungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit, 6 000 aus
den Informatikstudiengängen unserer Universitäten, 2 000
aus den Berufsfachschulen, aber nur 7 000 aus der dualen
Ausbildung, also aus der Industrie. Da liegt das Problem,
nirgendwo anders - und da muss es auch gelöst werden,
nicht im Ausland.
({7})
Da wird behauptet, es gebe in Deutschland keine
Arbeitskräfte, die man auf diese freien Stellen, die es
unzweifelhaft gibt, vermitteln kann. Wahr ist aber, dass
es mehr als 30 000 arbeitslose Computerexperten in
Deutschland gibt. Wahr ist, dass es mehr als 50 000 arbeitslose Ingenieure gibt. Wahr ist, dass wir jedes Jahr
12 Milliarden DM für Umschulung und Weiterbildung
ausgeben. Aber anstatt sich jetzt darauf zu konzentrieren,
die freien Stellen mit diesen Leuten zu besetzen, wird gesagt: Das geht nicht, wir brauchen Leute aus dem Ausland.
Wer aber einmal nachhakt, warum diese Leute nicht
eingestellt werden,
({8})
der kommt zu der Erkenntnis - ich beziehe mich auf den
Artikel aus der „Computerwoche“: Mit 40 auf dem Abstellgleis! -, dass die entsprechenden Firmen sagen: Wir
stellen keinen über 35-Jährigen ein. Jetzt sind wir bei einem in diesem Zusammenhang ganz spannenden Punkt.
Es kann nicht sein, dass wir zu einer Gesellschaft werden,
die bereits 40-Jährigen mitteilt, sie seien zu alt, moderne
Berufe auszuüben. Dies ist nicht zu verantworten, und
allein deshalb brauchen wir in diesem Bereich eine andere Politik.
({9})
Da behaupten Sie, man müsse sofort Leute aus dem
Ausland holen, weil die Stellen jetzt zu besetzen seien, und
Ausbilden würde zu lange dauern. Nun weiß ich noch, was
ich als Minister in diesem Hause gesagt und was ich getan
habe. Ich weiß zum Beispiel, dass ich 34 neue Berufe eingeführt habe - davon manche in diesem Bereich -, in denen sich zurzeit 35 000 junge Menschen in Ausbildung befinden,
({10})
während Ihr Bundeskanzler damals in Hildesheim einen
ganzen Informatikstudiengang abgeschafft hat - mit der
Begründung, es gebe zu viele Informatiker in Deutschland.
({11})
Das ist die Wahrheit.
({12})
Ich habe die Aktion „Schulen ans Netz“ ins Leben gerufen. Damit haben wir in unseren Schulen überhaupt erst
den Einstieg in das Internetzeitalter geschafft.
({13})
Während Herr Clement jetzt in Nordrhein-Westfalen sagt,
er wolle für jede Klasse bis zum Jahre 2003 einen Internetzugang, sagen Sie: Die Experten müssen sofort kommen.
({14})
Das verstehe einmal jemand: Unsere Klassen haben bis
zum Jahr 2003 Zeit, aber die Experten aus dem Ausland
sollen sofort kommen. Das, was Sie hier verkaufen wollen, ist die falsche Politik.
({15})
Beschäftigen wir uns doch einmal damit, wie die Wirklichkeit aussieht.
({16})
Ich sage es übrigens mit ein Stück Scham und mit Trauer:
({17})
In Bayern sind inzwischen 87 Prozent der Schulen mit
Computern ausgestattet, in Baden-Württemberg 100 Prozent.
({18})
In Nordrhein-Westfalen aber sind es leider nur 45 Prozent.
Das zeigt, wo das Problem liegt. Weil Rot-Grün die Zukunft verschläft, kommen wir in der Sache nicht weiter.
({19})
Herr Kollege
Rüttgers, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Tauss?
Nein. - Ganz konkret: An der Bergischen Universität - Gesamthochschule Wuppertal kann der Studiengang „Angewandte
Informatik“ nicht eingeführt werden, weil die Genehmigungen von der nordrhein-westfälischen Landesregierung
nicht vorgelegt werden. An der RWTH Aachen wird der
neue internationale Studiengang, zusammen mit den belgischen und niederländischen Freunden, nicht eingerichtet, weil die entsprechenden Genehmigungen durch RotGrün in Düsseldorf nicht vorliegen. An der Universität
Dortmund muss der Fachbereich Informatik eine Professur, 4,5 Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter und
2,5 Stellen für Nichtwissenschaftler abgeben. Das ist die
Realität, die Sie zu übertünchen versuchen, indem Sie Experten aus dem Ausland holen. Sie sollten eher nach dem
Motto verfahren: mehr Ausbildung statt Einwanderung.
({0})
Völlig unverständlich ist, wenn die Fernuniversität
Hagen, die eigentlich das Paradestück ist, das wir in
Deutschland in dem Bereich haben, 50 Stellen im Rahmen
eines so genannten Qualitätssicherungspaktes abgeben
muss. Das zeigt, dass wir viel mehr Anstrengungen machen müssen, um unseren Kindern Möglichkeiten zu geben, in diesen modernen Berufen ausgebildet zu werden,
({1})
und dass das der einzige Weg ist, die freien Stellen langfristig und mittelfristig zu besetzen.
({2})
35 000 junge Leute sind zurzeit bereits in den damals
von mir durchgesetzten Berufen in Ausbildung. Die ersten
7 000 kommen in diesem Jahr aus der Ausbildung. Alles
das beweist, dass es falsch ist zu behaupten, die Stellen
könnten nicht besetzt werden. Sie können besetzt werden
mit Arbeitslosen im Bereich der Computerberufe. Sie
können besetzt werden mit neu ausgebildeten jungen Leuten. Sie können besetzt werden mit Umschülern und Leuten, die weitergebildet werden müssen. Daher gibt es eine
Chance, mit dem sicherlich vorhandenen Problem auch
kurz- und mittelfristig fertig zu werden.
Deshalb sage ich: Die Debatte wird nicht mehr enden.
Wir werden hier im Deutschen Bundestag über die Frage
der Regelung von Zuwanderung diskutieren müssen und
zu Lösungen kommen müssen, weil solche unkoordinierten und unvorbereiteten Aktionen nicht nur verunsichern,
sondern den falschen Weg in die Zukunft zeigen.
({3})
Dann will ich Ihnen ein weiteres Zitat aus der „Computerwoche“ 13/2000 vorlesen. Da werden Meinungen,
unter anderem eines Sali S., aufgeführt.
Ich zitiere das einmal:
({4})
Obwohl ich als Inder selbst in Deutschland studiert
habe,
({5})
muss ich doppelt so gut sein wie ein Deutscher, damit
ich die Hälfte von dem verdiene, was er verdient. Ich
kenne einige Inder, die für 1 200 DM im Monat arbeiten. Es geht nur um billige Arbeitskräfte. Keiner
kann mir etwas anderes weismachen.
({6})
Meine Damen und Herren, wenn das der Hintergrund
ist, wenn jetzt mit Unterstützung von Rot-Grün Lohndumping in Deutschland stattfinden soll,
({7})
dann sind wir an einem Punkt angekommen, an dem eben
nicht Zukunft gestaltet wird, sondern an dem Menschen
schlicht in die falsche Richtung geführt werden.
({8})
Dass Sie um das Ganze wissen, hat Herr Wiefelspütz
gerade in diesen Tagen deutlich gemacht. Er hat nämlich
gesagt - ich zitiere aus der „Rheinischen Post“ -:
Mit den Greencard-Plänen hat der Bundeskanzler eine Kettenreaktion ausgelöst, deren Folgen er kaum
bedacht hat. Er hat einen Dominostein umgeschmissen und der klackert jetzt durchs Land.
({9})
Ich sage Ihnen: Mit solchen Themen kann man nicht so
umgehen, wie es der Bundeskanzler bei der CeBIT gemacht hat. Vielmehr muss darüber diskutiert werden und
da müssen Regelungen gefunden werden. Die zukünftigen
Spielregeln müssen in einem vom Deutschen Bundestag
zu verabschiedenden Gesetz festgehalten werden.
({10})
Ich weiß, dass Sie die ganze Sache nervös macht;
({11})
denn Sie wissen genau, dass die Menschen im Ruhrgebiet
und anderswo spüren, dass sie letztlich von Ihnen allein
gelassen werden mit ihren Ängsten vor Fusionen, vor dem
Verlust des Arb eitsplatzes und dem Verlust von Zukunft.
({12})
Ich stehe nicht an - da können Sie versuchen, so viel
Meinungsterror zu machen, wie Sie wollen -, diese Ängste ernst zu nehmen und den Menschen zu sagen: Zukunft
geht auch menschlich. Es ist notwendig, solche Äußerungen aufzunehmen; denn Modernisierung geht nur, wenn
man Menschen mitnimmt und nicht über sie hinwegregiert, wie Sie das zurzeit versuchen, meine sehr geehrten
Damen und Herren.
({13})
Lassen Sie mich abschließend etwas sagen, was sehr
deutlich macht, dass es sich nicht nur um eine nicht koordinierte und nicht vorbereitete Aktion handelt, sondern
wahrscheinlich sogar um eine Aktion wider besseres Wissen.
({14})
Ich zitiere einmal aus der „FAZ“ vom 17. August 1995.
Dort heißt es in dem Artikel „Fremde Federn“ wörtlich:
Morgen könnte es durch die Internets für Unternehmen lohnender sein, Ingenieurleistungen in Indien zu
kaufen und den deutschen Konkurrenten zum Arbeitsamt zu schicken.
({15})
Volkswirtschaftlich wäre das eine Katastrophe.
Weiter heißt es:
Die Arbeitswelt insgesamt und die Menschen in ihr
werden sich verändern. Sozialdemokraten müssen
sich hier einmischen und den Mut haben, die Arbeitswelt von morgen mitzugestalten. Sonst könnten
wir in eine entsinnlichte Welt hineinwachsen.
Dieser Artikel ist von Gerhard Schröder, 17. August
1995.
({16})
Das zeigt: Der Mann ist nicht nur beliebig.
({17})
Er weiß nicht nur nicht, wovon er redet, sondern dieser
Mann tut etwas wider besseres Wissen. Green Card ist
eben ein Signal der Ohnmacht und nicht ein Signal des
Aufbruchs.
({18})
Rot-Grün weiß das. Deshalb lehnen wir dies ab.
({19})
Zu einer Kurzintervention erhält jetzt der Kollege Tauss das Wort.
({0})
Hätte Herr Rüttgers den Mut, in einer laufenden Debatte auf Fragen zu antworten, dann
könnte man sich Kurzinterventionen sparen.
({0})
Herr Kollege Rüttgers, zunächst einmal: Sie werden Ihrer Verantwortung, mit dem, was Sie hier vortragen, nicht
gerecht. Laut Shell-Studie sind 25 Prozent der Jugendlichen in unserem Land ausländerfeindlich. Statt denen zu
sagen, was an Koordination und Kooperation mit intelligenten Köpfen in einer globalisierten Welt auf sie zukommt, hetzen Sie Jugendliche auf.
Das größere Problem aber ist, dass Sie in vielen Bereichen die Unwahrheit verbreiten. So sagen Sie, die Schulen in Baden-Württemberg seien zu 100 Prozent am Netz.
Wissen Sie: Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast! - Wenn in einer baden-württembergischen
Schule nur ein einziger Computer stand - das war die Politik der CDU/F.D.P.-Regierung: einen PC an die Schulen
zu bringen -, dann hieß es, diese Schule sei am Netz. So
stellen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
uns die Ausstattung von Schulen mit Computern nicht vor,
lieber verehrter Kollege Rüttgers.
({1})
Und zu der Behauptung, Sie hätten die Schulen ans
Netz gebracht: Gut, Sie hatten nie einen Computer. Sie
wissen nicht, was das Internet ist. Vom „Spiegel“ mussten
Sie sich vor dem PC Ihrer Mitarbeiterin fotografieren lassen. Deswegen mache ich Ihnen nicht zum Vorwurf, dass
Sie von Computern nichts verstehen; das war schon, als
Sie noch Forschungsminister waren, offensichtlich. Nur,
Ihr Programm war, 10 000 Schulen ans Netz zu bringen.
Wir bringen im Moment 44 000 Schulen ans Netz
({2})
und sorgen dafür, dass die Gebühren der Schulen dafür
sinken. In Ihrem Verantwortungsbereich waren die Gebühren ein Hauptgrund dafür, dass die Schulen von Internetnutzung wieder abgelassen haben - ohne dass Sie sich
um diese Probleme auch nur annähernd gekümmert hätten.
Das ist die Wahrheit und nicht das, was Sie mit Ihrer Ausländerhetze hier betreiben.
({3})
Im Übrigen ist nur ein Blinder gegen Inder.
({4})
Darf ich Sie alle
bitte ermahnen, dass es zumindest so leise sein muss, dass
man den nächsten Redner hören kann. Das ist jetzt für die
Bundesregierung der Herr Bundesminister Walter Riester.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Rüttgers, ich kann gut nachvollziehen, dass dem Wahlkämpfer die Nerven blank liegen.
({0})
Aber trotzdem: Der Deutsche Bundestag debattiert heu-
te über ein Zukunftsprogramm. Es geht um die Schaf-
fung zusätzlicher Arbeitsplätze in einer Zukunftsbranche,
Herr Rüttgers. Es geht mittelbar also auch um die Steige-
rung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und die
Qualität der Arbeit in der Zukunft. Um dies zu erreichen,
hat die Bundesregierung beschlossen, die Grenzen des Ar-
beitsmarktes für einen begrenzten Personenkreis, nämlich
für 20 000 IT-Spitzenkräfte, für eine Beschäftigung von
bis zu fünf Jahren zu öffnen.
Dieser Beschluss entspricht dem politischen Willen der
Bundesregierung, die Entwicklung eines boomenden Be-
reiches - in Absprache mit den Fachbranchen - nicht zu
bremsen. Die Bundesregierung hat rasch reagiert. Wir
werden verhindern, dass der aktuelle Mangel an Spitzen-
kräften zum Engpass für die Schaffung von Arbeitsplät-
zen wird. Diese Engpässe werden wir beseitigen.
Jörg Tauss [SPD]: Rüttgers Engpässe!)
Denn die Branche sagt ganz eindeutig - daran zweifeln
wenige -, dass jeder Experte in diesem Bereich, wenn er
denn tätig wird, die Schaffung weiterer vier bis fünf Arbeitsplätze auslöst. Darum geht es.
({1})
Lieber Herr Rüttgers, ich komme gerne zurück auf
Ihren Hinweis, der Arbeitsmarkt werde jetzt erstmals
geöffnet. Herr Rüttgers, wo waren Sie denn, als die alte
Regierung unter Ihrer Mitwirkung mit zwölf osteuropäischen Ländern Regierungsvereinbarungen über 54 000
Bauarbeiter, Stahlarbeiter und Landarbeiter getroffen hat?
({2})
43 000 davon sind im Moment noch bei uns tätig. Ich würde Ihnen gern sagen, wie viele davon in NRW sind. Das
war doch nicht im Interesse des Arbeitsmarktes. Ich weiß
auch nicht, ob es unmittelbar im Interesse Deutschlands
war. Ich kritisiere das nicht - um das deutlich zu machen -,
denn man kann das machen, um dem Arbeitsmarkt dieser
Länder zu helfen. Aber ich halte es für unmöglich, lieber
Herr Rüttgers, dass diese Vereinbarungen ohne Konditionen gemacht worden sind. Die Schaffung nicht eines einzigen Ausbildungsplatz hat man zum Inhalt der Vereinbarungen gemacht.
({3})
Wir haben die Genehmigung für 20 000 Spitzenkräfte,
die zu zusätzlicher Beschäftigung führen werden, daran
gebunden, dass zusätzlich 20 000 Ausbildungsverhältnisse angeboten werden.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
({4})
Meine Damen und Herren, das ist zusätzlich zu dem, was
wir in den letzten Monaten mit der Branche vereinbart haben, und zusätzlich zu dem Zuwachs an Ausbildungsplätzen, der sich dort wie nirgends sonst entwickelt.
Sie haben auch Unrecht, Herr Rüttgers, wenn Sie nur
auf das duale Ausbildungssystem abheben.
({5})
Nein, die Mängel - das wollen wir deutlich aufzeigen - liegen natürlich auch in der Hochschul- und Fachhochschulausbildung. Aber ich will hier gar nicht nachkarten.
Natürlich gibt es Defizite auf breiter Ebene, aber die können Sie nicht nur der Industrie anlasten. Diese haben
andere mitzutragen. Aber heute darüber zu rechten, wo
überall die Fehler lagen - vor allen Dingen, wenn Sie das
tun - grenzt an eine Heuchelei, die kaum zu überbieten ist.
({6})
Wenn das dann die Basis für eine inhaltliche Auseinandersetzung in Wahlkampfzeiten ist und Sie in NordrheinWestfalen die Ängste schüren, die Sie hier unters Volk
bringen, müssen Sie sich über Retourkutschen, die dann
von manchen Stammtischen kommen, nicht wundern.
({7})
Bitte schlagen Sie sich dann nicht in die Büsche, sondern
stehen Sie zu dem, was Sie im Moment ankurbeln.
({8})
Ich will Ihnen gern sagen, wie viele im Moment in den
Branchen arbeitslos sind, für die es Regierungsabkommen gab, die Sie mitgetragen haben. Wir haben im Moment 148 000 Arbeitslose in der Land- und Forstwirtschaft. Wir haben 202 000 Arbeitslose - übrigens viele davon in Nordrhein-Westfalen - in der Eisen und Stahl
schaffenden Industrie. Dort sind im Moment 7600 auf der
Basis der von Ihnen abgezeichneten Regierungsvereinbarungen aus Polen und anderen Ländern tätig. Ich kritisiere das nicht, ich stehe dazu. Aber ich mache keine so verlogene Politik, wie ich das im Moment aus Ihrem Wahlkampf höre.
({9})
Wenn Sie mit den Verhetzungsparolen nicht aufhören,
werde ich die Arbeitslosenzahlen Nordrhein-Westfalens in
diesem Bereich für die einzelnen Arbeitsamtsbezirke
aussortieren und zur Verfügung stellen. Dann erklären Sie
Ihre Politik von vorgestern den Leuten von heute.
({10})
Aber hören Sie bitte mit diesen Kampagnen auf.
({11})
Diese Kampagnen machen nicht nur die Zukunft kaputt,
sondern stoßen Leute in die Vergangenheit und hetzen sie
auf.
Das ist offenbar die einzige Möglichkeit, die Nervosität
eines Wahlkämpfers,
({12})
die heute überdeutlich zu hören war, zu korrigieren.
({13})
Wir stehen dazu, in begrenztem Umfang, klar ausgewiesen, Spitzenkräfte mitarbeiten zu lassen, um an zusätzlichen Beschäftigungsmöglichkeiten das zu entfalten,
was wir dringend nötig haben.
Herr Minister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?
Aber gerne.
({0})
Eine solche Debatte hat nur Sinn, wenn die, die Sie mit einer Maßnahme oder
einer Reaktion bedrohen, auch verstehen können, was Sie
meinen, was Ihre Alternative sein soll.
({0})
Ich möchte Sie bitten, uns noch einmal zu erklären, was
Sie im konkreten Fall bei den einzelnen Arbeitsämtern in
Nordrhein-Westfalen tun wollen. Sie haben das etwas verschlüsselt gesagt. Es ist eine wichtige Botschaft. Ich möchte hier gerne Klarheit haben. Sie haben gesagt, Sie wollen
die Arbeitslosen bei den einzelnen Arbeitsämtern sortieren
oder aussortieren. Das möchte ich noch einmal geklärt haben.
Das will ich Ihnen gern erklären. Als Erstes
möchte ich Ihnen aber erklären, was wir im Moment für
Arbeitslose machen und nicht nur versprechen. Die Bundesanstalt für Arbeit hat im letzten Jahr für diesen Bereich
1 Milliarde DM in Weiterbildungsmaßnahmen gesteckt.
Wir haben diesen Betrag in diesem Jahr um 200 Millionen DM aufgebessert.
({0})
- Ich komme gerne darauf zurück, wenn Sie mir jetzt einmal zuhören wollen.
({1})
Ich sage nicht „aussortieren“,
({2})
sondern ich sortiere gern einmal in den Arbeitsamtsbezirken, wie viele Arbeitslose wir in den Bereichen haben, für
die wir Regierungsabkommen haben und wo wir tatsächlich Arbeitslose unterbekommen: Bau, Stahl, Landwirtschaft. Darüber können wir sprechen.
In Anbetracht Ihrer Hetzkampagnen sage ich Ihnen dazu eines: Ich stehe zu den alten Regierungsabkommen,
weil ich die Menschen nicht verunsicheren will, aber ich
wehre mich vehement gegen das, was im Moment in
Nordrhein-Westfalen abläuft, wo man Menschen verunsichert und Kampagnen macht, die menschenunwürdig
sind.
({3})
Nun können wir wieder zur Zukunftsdebatte übergehen, weil dieser Bereich eine, wenn nicht die Schlüsselindustrie ist, die für die Entwicklung von Arbeitsplätzen und
Ausbildungsplätzen zentrale Bedeutung hat. Natürlich ist
es richtig, dass es in der Vergangenheit viele Versäumnisse gegeben hat: im Bereich der Hochschulausbildung, der
Fachhochschulausbildung, aber auch im Bereich des dualen Ausbildungssystems - leider nicht nur in diesem Bereich.
Aber daraus müssen wir doch lernen. Wir können es
nicht einfach verdrängen. Wir können uns auch nicht erlauben, nur über die Fehler der Vergangenheit zu reden,
was einer neuen Regierung ja ganz leicht fallen würde. Wir
müssen schauen, wohin die Entwicklung in Zukunft gehen
soll. Es gibt in keinem anderen Bereich - wir haben am
Mittwoch die Ausbildungsplatzbilanz des letzten Jahres
ausgewiesen - einen so starken Zuwachs. Im Bündnis für
Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit ist
bereits im letzten Jahr vereinbart worden, die vorhandenen
26 500 Ausbildungsverhältnisse im IT-Bereich auf
40 000 anzuheben. Ich sagte Ihnen bereits, dass wir eine
weitere Zusage von 20 000 zusätzlichen Ausbildungsplätzen haben.
({4})
Das sind insgesamt 60 000 Ausbildungsplätze. Das hat
diese Regierung geschaffen. Deswegen ist dieser eigenartige Slogan „Ausbildung statt Einwanderung“ - Sie haben
das einmal viel schlimmer formuliert - so etwas von hinterfotzig,
({5})
so etwas von Verdrängen der Realität, dass es kaum zu
überbieten ist. Aber diese Debatten, lieber Herr Rüttgers,
werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen, wir werden Ihnen auch nicht in die Vergangenheit folgen, sondern wir
werden weiterhin eine zukunftsgerichtete Politik für Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze in diesem Land betreiben.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Guido Westerwelle.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Debatte ist
vor allen Dingen deshalb bemerkenswert, weil sie eine
verkehrte Welt darstellt. Herr Riester vertritt - es erstaunt
mich, dass man das noch erleben darf - als Repräsentant
der Bundesregierung die Wettbewerbsfähigkeit und Herr
Rüttgers befürchtet ein Lohndumping in Deutschland.
({0})
Dies, was hier gerade stattfindet, ist außerordentlich beeindruckend. Verkehrte Welt. Es ist im Grunde genommen
eine Diskussion, die nur noch unter Wahlkampfaspekten
zu erklären ist.
({1})
Da bemühen sich zwei Politiker jeweils auf einem Feld
Kompetenz hinzuzugewinnen, auf welchem sie bislang
keine hatten. Unter dem Strich bleibt leider vor lauter
Wahlkampfpopulismus die Zukunftsdebatte auf der
Strecke.
({2})
Das ist ein großer Fehler in dieser Debatte.
({3})
Herr Kollege Tauss, Sie haben eine Ihrer unnachahmlichen Kurzinterventionen gemacht - mit unnachahmlich
meine ich nicht, dass wir sie nachahmen möchten -, in der
Sie darauf hingewiesen haben, Sie würden sich darum
bemühen, die Gebühren für den Internetzugang an den
Schulen zu senken. Dabei haben Sie möglicherweise etwas vergessen: Die Tatsache, dass wir jetzt über Gebühren
im Zusammenhang mit dem Internet überhaupt reden können, ist auf die Privatisierungspolitik der letzten
Legislaturperiode zurückzuführen, nicht auf die jetzigen
Initiativen an den Schulen.
({4})
Diese Debatte sollte aus unserer Sicht vor allen Dingen
Anlass dafür sein, dass wir uns über die zukünftige Migrationspolitik Gedanken machen. Meiner Meinung nach
liegt in dieser Debatte unter dem Strich eine ganz große
Chance. Diese Chance kann man ergreifen oder man kann
sie verpassen.
({5})
Ich glaube, es hilft uns überhaupt nichts, wenn die eine
Seite der anderen Seite ihre jeweiligen Versäumnisse aus
der Vergangenheit vorrechnet.
({6})
Sie werden die Arbeit der alten Bundesregierung anders
bewerten als wir. Sie werden auch die Vorgänge in Niedersachsen anders bewerten, als wir es tun. Das hilft uns
nicht weiter.
Die Fragen, denen wir uns in einer globalisierten Welt,
in der es nicht nur um harte Standortfaktoren, sondern
auch um einen Wettbewerb der Bildungssysteme geht,
stellen müssen, lauten: Wie kann man die Talente des eigenen Landes motivieren und wie holt man die klügsten
Köpfe für die besten Chancen ins eigene Land? Das ist
mittlerweile internationaler Wettbewerb.
({7})
Wenn uns das nicht gelingt, wird die deutsche Wirtschaft
auf der Strecke bleiben.
Das Gesamtbild ist bei der Union Gott sei Dank nicht
so einheitlich, wie es von Herrn Rüttgers gezeichnet wurde.
({8})
Es gibt beispielsweise Äußerungen des sächsischem Wirtschaftsministers, die ich begrüße und ausdrücklich unterstütze. Er hat sich eindeutig von der Kampagne „Kinder
statt Inder“ abgesetzt. Er sagt, Rüttgers habe sich offensichtlich verrannt. Ich glaube - Herr Kollege Rüttgers -,
dass das stimmt. Sie haben sich verrannt
({9})
und sollten die Gelegenheit nutzen, im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit unserer Arbeitsplätze eine Korrektur
vorzunehmen. Es wäre gut, wenn Sie diese Debatte dazu
nutzten. Bei aller berechtigten Kritik an der rot-grünen
Bundesregierung - auch was deren verfehlte Politik angeht - appelliere ich an Sie: Nutzen Sie die heutige Gelegenheit, Ihre Kampagne „Kinder statt Inder“ zu beenden!
({10})
Es ist besser, dass ein indischer Computerspezialist nach
Deutschland kommt, als dass ein deutsches Unternehmen
nach Indien geht. Über diese Frage müssen wir in Deutschland eine Auseinandersetzung führen.
({11})
Ich möchte die neue Bundesvorsitzende der Union,
Frau Merkel, zitieren, die am 8. April dieses Jahres in
einem Interview auf die Frage, wie sie sich zu der geplanten Anwerbung von 20 000 Computerspezialisten
stelle, sagte: „Das werden wir nicht grundsätzlich ablehnen“. Diese differenzierte Haltung sollte auch die Haltung
dieses Hauses sein.
Es geht nicht darum, die Einwanderung nach Deutschland auszuweiten, sondern es geht um eine systematische
Migrationspolitik in Deutschland. Die Einwanderung
muss endlich besser begrenzt und gesteuert sowie an eigenen, wohlverstandenen nationalen Interessen unseres
Landes ausgerichtet werden.
({12})
Das tut jede moderne Industrienation. Wir scheuen bisher
davor zurück und das ist eindeutig ein Fehler.
Das Versäumnis liegt aus unserer Sicht, Herr Minister
Riester, in dem, was Sie bisher vorgelegt haben. Der Bundeskanzler reist zur Computermesse CeBIT,
({13})
ist vorher von entsprechenden Wirtschaftsexperten aufgebracht worden und legt prompt seinen Green-Card-Vorschlag auf den Tisch.
({14})
Leider ist es ein Konzept ohne System und Methode. Es
wird einfach eine Zahl genannt. Das, was die Bundesregierung bisher vorgelegt hat, entspricht nicht den Ankündigungen des Kanzlers: Das Green-Card-Modell der
Bundesregierung ist nicht schnell, unbürokratisch und flexibel, sondern umständlich, bürokratisch und kleinkariert.
({15})
Das ist das entscheidende Defizit, das von denen, die sich
in der Wirtschaft engagieren bzw. dort tätig sind, genau gesehen wird. Es reicht nicht aus, wenn man alle drei Monate eine neue Branche mit einem Mangel an Arbeitskräften
entdeckt und dann - diesmal was es auf der CeBIT; nächstes Mal geschieht es vielleicht auf der Grünen Woche irgendeine Zahl hinausposaunt. Wir brauchen syste-matische Regelungen, mit denen die Einwanderung nach
Deutschland gesteuert und berechenbar gemacht wird, damit die Menschen in allen Ländern - vor allen Dingen
auch in unserem eigenen Land - wissen, woran sie sind.
({16})
Ich hätte mir auch nicht träumen lassen, dass ich jemals
in die Situation kommen würde, die Lektüre des Wahlprogramms der SPD zu empfehlen.
({17})
Auf Seite 44 des Bundestagswahlprogramms der Sozialdemokraten heißt es:
Deshalb wollen wir eine wirksame gesetzliche Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung. Sie muss die
Arbeitsmarktlage, die Leistungsfähigkeit der sozialen
Sicherungssysteme und humanitäre Gesichtspunkte
berücksichtigen.
Auch Herr Rüttgers spricht von der Notwendigkeit einer
Einwanderungsregelung. Lassen Sie uns doch endlich in
den Ausschüssen darüber beraten. Heute Nachmittag steht
der Gesetzentwurf der F.D.P. auf der Tagesordnung. Sie
waren im Ausschuss nicht bereit, über die Details zu beraten. Ihre Antwort war Ablehnung, weil Sie, die Vertreter
beider Volksparteien, Angst vor einer qualifizierten Auseinandersetzung haben, die aber im Interesse unserer deutschen Arbeitsplätze mehr als notwendig wäre.
({18})
Die befristete Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis für
ausländische Spezialisten, die Sie, Herr Riester, vorgeschlagen haben, ist doch keine Green Card. Die Amerikaner lachen sich über den Begriff „Green Card“ in diesem
Zusammenhang kringelig. Das ist doch keine intelligente
Anwerbung der klügsten Köpfe der Welt, damit sie in
Deutschland Arbeitsplätze schaffen. Das, was Sie mit Ihrer zeitlichen Befristung vorgelegt haben, ist in Wahrheit
nichts anderes als das Saisonarbeiterprinzip, hochgerechnet auf drei Jahre. Nichts anderes haben Sie vorgelegt!
({19})
Darin besteht das große Manko Ihrer Regelung. Es besteht
damit leider die Gefahr, dass die Chance der gegenwärtigen Debatte verpasst wird. Wir sollten diese Auseinandersetzung dazu nutzen, eine Debatte über ein Einwanderungsgesetz zu führen, das steuert, begrenzt und die Zuwanderung auch an den eigenen Interessen, wie etwa an
bestimmten Notwendigkeiten in Mangelberufen, ausrichtet.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Bitte, gerne.
Herr Kollege, ich hätte es mir auch
nicht vorstellen können, dass wir uns zumindest partiell
über den Unfug des Herrn Rüttgers einig sind. So verändern sich die Einschätzungen, wenn sich die Koalitionen
verändern.
Sie haben nun behauptet, die vorgesehene Regelung
bringe nichts. Haben Sie zur Kenntnis genommen - vielleicht haben Sie in Ihrem Büro Ähnliches erlebt -, dass es
im Moment eine ganze Reihe junger hoch qualifizierter
Computerfachkräfte gibt, die zum Teil in Deutschland studiert haben, die aber Deutschland nach ihrem Studium
verlassen sollen, obwohl sie selber sagen: „Wir würden
gerne für zwei oder drei Jahre in Deutschland bleiben, wir
würden dann auch gerne in unserer Heimat mit einem
deutschen Unternehmen kooperieren, oder wir würden
nach unserem Studium hier gerne ein Projekt realisieren.“?
Sind Sie nicht der Auffassung, dass genau solche Leute
uns auch weiterhelfen können und dass die Zahl derer, die
sich dafür interessieren, doch wesentlich größer ist, als Sie
behauptet haben?
Nein. Sie gehen offenbar von der Annahme aus, dass Hunderttausende von
hoch qualifizierten indischen Computerspezialisten auf
gepackten Koffern sitzen und nur darauf warten, nach
Deutschland auswandern zu können, um hier ihr Wissen
einzubringen.
({0})
Solche hoch qualifizierten ausländischen Computerspezialisten haben nicht nur Chancen in Deutschland, sondern
beispielsweise auch im Silicon Valley in Kalifornien. Das
ist der Wettbewerb der Systeme. Wenn wir die wirklich intelligenten Computerspezialisten im Interesse der Wirtschaft und der Arbeitsplätze nach Deutschland holen wollen, dann müssen die Rahmenbedingungen für diese Spezialisten auch stimmen. Diese Bedingungen stimmen
nicht, wenn Sie eine bürokratische, reglementierte und vor
allen Dingen befristete Regelung beschließen, wie das die
rot-grüne Koalition in diesem Hause jetzt vorhat.
({1})
Ich will übrigens einen anderen Aspekt ausdrücklich
würdigen, nämlich die in der heutigen Diskussion angesprochene Kopplung mit der Ausbildung in der Wirtschaft. Diese Kopplung ist sinnvoll. Wir als Freidemokraten begrüßen ausdrücklich, dass es der Bildungsministerin nach eigenen Angaben gelungen ist, mit der
Wirtschaft eine Kopplung zu vereinbaren, sodass diese
mehr Computerlehrlinge ausbildet. Von 25 000 ist die Rede. Das sollte über die Parteigrenzen hinweg ein Grund zur
Freude sein.
({2})
Nur, die Idee, das werde uns sofort helfen, stimmt eben
nicht. Bis aus einem zehnjährigen Computertalent ein 20jähriger Computerspezialist geworden ist, vergehen nun
einmal nach Adam Riese zehn Jahre, und bis dahin ist der
Zug aufgrund der schnellen Entwicklung im Bereich der
Computertechnologie abgefahren.
({3})
Deswegen müssen wir jetzt schnell und kurzfristig, vor allem systematischer als bisher handeln.
Herr Kollege Tauss, da Sie danach gefragt haben: Der
indische Finanzminister ist vor kurzem in Berlin gewesen.
Er hat darauf hingewiesen - das beantwortet Ihre Frage im
Grunde genommen -, dass seine Landsleute in den USA
oder in Kanada bessere Voraussetzungen finden. Wenn
heute zwischen 75 000 und 100 000 Arbeitsplätze in der
Branche der Informationstechnologie unbesetzt sind und
wenn jährlich nur 10 000 Absolventen unsere Universitäten verlassen, dann ist das „Start-up-Unternehmen“, das
Existenzgründungsunternehmen in Nordrhein-Westfalen
längst vom Markt verschwunden, bis dieses Programm
greift. Wir müssen jetzt eilig handeln, gegensteuern und
die Zuwanderungspolitik auf eine verlässliche, berechenbare Grundlage stellen.
Wir Freidemokraten wollen nicht mehr Zuwanderung;
vielmehr wollen wir eine Begrenzung und eine bessere
Steuerung der vorhandenen Zuwanderung. Wir möchten,
dass sich Zuwanderung an den Interessen unseres Landes - auch an wirtschaftlichen - ausrichtet.
({4})
Es muss erlaubt sein, darauf hinzuweisen: Wir lassen zu
viele von denjenigen nach Deutschland herein, die wir
nicht so gut gebrauchen können; aber wir lassen nicht diejenigen herein, die wir dringend brauchen, zum Beispiel
für den Bereich weltweit nachgefragter Computertechnologie.
({5})
Was wir fordern, beinhaltet keinen Widerspruch. Wer
behauptet, wir könnten nur den Weg der Ausbildung und
nicht gleichzeitig den der Anwerbung qualifizierter Arbeitnehmer gehen, macht einen Fehler. Es geht nicht um
eine Kampagne „Kinder statt Inder“. Diese Kampagne ist
genauso falsch wie Ihre Hire-and-fire-Politik auf dem Gebiet der Computertechnologie.
({6})
Es geht darum, dass wir endlich begreifen: Die deutschen
Arbeitsplätze haben nur dann eine Chance, wenn wir bereit sind, die klügsten Köpfe für unser Land zu gewinnen.
Dafür sind zwei Aufgaben zu erfüllen:
Die Aufgabe der Bildungspolitik ist, zu qualifizieren,
die eigenen Talente zu fördern. Die Bildungspolitik von
Bund und Ländern - Bildungspolitik ist nun einmal überwiegend Länderangelegenheit - muss besser werden.
Zugleich besteht die Herausforderung, möglichst viele
derjenigen Talente nach Deutschland zu holen, die wir in
Deutschland dringend brauchen.
VizepräsidentinDr.AntjeVollmer:HerrWesterwelle,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Dieter Wiefelspütz?
Ja.
Herr Kollege Westerwelle,
sind Sie nicht der Meinung, dass wir dieses sehr wichtige
konkrete Projekt, das der Bundeskanzler angestoßen hat,
einfach einmal gemeinsam pragmatisch-praktisch und
unideologisch umsetzen und
({0})
dass wir damit Erfahrungen sammeln sollten? Sollten wir
nicht diesem ersten Schritt, der in der Tat für viele etwas
ganz Neues ist - ich finde das sehr positiv -, weitere
folgen lassen? Wäre das nicht besser, als jetzt eine sehr
grundsätzliche Debatte über die Einwanderungspolitik zu
führen? Damit ist die Gefahr verbunden, ein ganz
konkretes und praktisches Konzept wie die Green Card,
das Sie im Grunde für richtig halten, zu zerreden, Herr
Westerwelle.
({1})
Dr. Guido Westerwelle F.D.P.: Die Idee, ausländische
Intelligenz nach Deutschland zu holen, damit hier bei uns
Arbeitsplätze entstehen und die deutschen Firmen nicht
ins Ausland auswandern, ist richtig. Die Umsetzung, die
bislang von Ihrer Regierung vorgelegt worden ist, dient
aber nicht diesem Ziel, sondern wird das Gegenteil erreichen.
({2})
Sie ist bürokratisch, sie ist unflexibel und sie ist nicht attraktiv genug. Wir bräuchten eine Attraktivität, die es beispielsweise bei der zeitlichen Befristung nicht gibt.
({3})
Da Sie dazwischenrufen, möchte ich Ihnen nur sagen:
Wir haben im Innenausschuss - reden Sie doch nicht so,
als gäbe es diese Debatten nicht - in zwei Sitzungen, glaube ich und auch in anderen Ausschüssen die Vorstellungen
der Bundesregierung gehört. Bei uns hat der Innenminister
selber gesessen. Ich will Ihnen doch gar nicht abstreiten,
dass die Idee, Intelligenz nach Deutschland zu holen, richtig ist. Aber das, was Sie machen, ist bislang absolut untauglich. Lassen Sie sich auf ein vernünftiges Konzept ein!
Dann reden wir parlamentarisch darüber. Das wissen Sie
doch. So haben wir uns doch auch in den Ausschüssen eingelassen. Aber es reicht nicht, einfach so die Idee zu haben, Finger in den Wind,
({4})
da gibt es eine entsprechende Messe, da wird ein Mangel
geortet, wo es doch im gesamten mittelständischen Bereich ebenfalls Fachkräftemangel gibt! Da verweigern Sie
jede Antwort. Das ist in meinen Augen ein falscher Weg.
({5})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss: Arbeitsplätze in Deutschland sichert
nicht, wer die Grenzen abschottet. Arbeitsplätze in
Deutschland sichert, wer die eigenen Talente fördert und
wer ausländischen Experten in Deutschland eine Chance
gibt. Aber das ist nur umsetzbar, wenn an anderer Stelle die
Zuwanderung begrenzt, gesteuert wird und wenn sie sich
an eigenen Interessen ausrichtet. Das ist im Grunde genommen die Aufgabe der Moderne. Das ist bei der Migrationspolitik die eigentliche Antwort, die dieses Haus
geben muss. Wenn dieses Wahlkampfgewitter, wenn dieses gegenseitige Hin und Her nach der Wahl in NordrheinWestfalen einmal ein Ende hat, begreifen wir hoffentlich,
es geht in Wahrheit nicht darum
Herr
Ich bin beim letzten
Satz, Frau Präsidentin!
Hoffentlich begreifen wir- Dr. Guido Westerwelle
({0})
-EntschuldigenSie,HerrKollege, ichmuss Ihnensagen,-
Nein, Herr Kollege Westerwelle, bitte keine längere Debatte!
Ich weiß, dass Ihnen
differenziertes Denken schwerer fällt,
({0})
aber es muss erlaubt sein, in diesem Parlament auch ein
paar differenzierte Gedanken vorzutragen.
({1})
Das passt Ihnen nicht, aber es ist notwendig. Die Wahrheit
liegt hier nun einmal nicht bei schwarz und weiß, rechts
und links, gut und böse,
({2})
sie liegt in einer differenzierten, vernünftigen Politik, die
systematischer als das ist, was Sie vorlegen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Kerstin Müller.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Rüttgers, mit Ihrer Rede heute vor diesem Haus haben Sie,
wie ich finde, leider eine gute Gelegenheit verpasst.
({0})
Sie hätten nämlich die einmalige Gelegenheit gehabt, in
der Green-Card-Debatte zur Vernunft zurückzukehren.
({1})
Stattdessen haben Sie erneut bewiesen, dass es Ihnen in
dieser Diskussion längst nicht mehr um eine ernsthafte politische Auseinandersetzung geht. Sie wissen nämlich sehr
genau, dass Sie in Nordrhein-Westfalen nicht mehr die geringsten Chancen haben, die Landtagswahl zu gewinnen auch nicht mit dieser erbärmlichen Postkartenaktion. Geben Sie doch zu, dass das nur das letzte Aufgebot ist, das
Sie hier noch einmal in die Öffentlichkeit bringen.
({2})
Weil Sie wissen - das ist für mich in dieser Rede auch
noch einmal deutlich geworden -, dass Sie die Wahl nicht
mehr gewinnen können,
({3})
versuchen Sie jetzt wie Roland Koch in Hessen, aus fremdenfeindlichen Stimmungen Stimmen für die CDU zu
machen. Das finde ich das Üble an der Kampagne, Herr
Rüttgers! Deshalb sollten Sie diese Kampagne schnellstens einstellen.
({4})
Ich bin allerdings überzeugt, dass Ihnen das nicht gelingen wird. Die Lage sieht anders aus. Nordrhein-Westfalen ist nicht Hessen und die Menschen verstehen mehr
und mehr, dass Ihre Sprüche nichts, aber auch gar nichts
zur Lösung der Probleme in unserem Land beitragen.
Denn laut Umfragen unterstützen 65 Prozent der Menschen in Nordrhein-Westfalen die Initiative der rot-grünen
Bundesregierung und Ihre Postkartenaktion wird von der
Mehrheit der Menschen abgelehnt. Deshalb, Herr Rüttgers
und meine Damen und Herren von der CDU, zur Sache!
Kommen Sie doch zur Sache!
In Ihrer Verantwortung hat die Kohl-Regierung in ihren
letzten vier Jahren die Bildungsausgaben um fast eine halbe Milliarde DM zusammengestrichen. Sie, Herr Rüttgers,
waren als so genannter Zukunftsminister im Kabinett Kohl
für die Berufsbildung zuständig - das haben Sie hier ja
auch noch einmal deutlich gemacht - und Sie - nicht nur
die Industrie! - haben damit die Lücke bei den Fachkräften in der IT-Branche maßgeblich mit zu verantworten.
Es wäre Ihre Aufgabe gewesen, die Entwicklung in diesem
Bereich zu erkennen und die Weichen richtig zu stellen.
({5})
Doch was haben Sie getan? Nichts.
Sie, Herr Rüttgers, haben ja hier mit dem Einstieg ins
Internet-Zeitalter ein wenig geprotzt. Von wegen!
Deutschland liegt bei der Anzahl der privaten Internetanschlüsse heute auf dem neunten Platz in Europa. Laut
OECD liegen wir auf Platz 29, bilden also das absolute
Schlusslicht bei den Investitionen in diesen Zukunftsbereich. Das ist das Ergebnis Ihrer Arbeit. Das zeigt sehr eindrucksvoll: Sie haben während Ihrer Ministerzeit kläglich
versagt. Mit Ihrer unsäglichen Kampagne wollen Sie nur
von Ihren eigenen Versäumnissen ablenken.
({6})
Sie haben auch noch die gesamte Wirtschaft gegen die
CDU aufgebracht. Es gibt dazu unendlich viele Zitate.
Das eine oder andere möchte ich Ihnen nicht ersparen.
IBM-Chef Staudt sagte zum Beispiel:
Die Kampagne von Rüttgers ist platt und nicht akzeptabel. Für unseren politischen Willensbildungsprozess ist die Diskussion in NRW eine Schande.
({7})
BMW-Vorstand Teltschik schämt sich für Ihren Slogan.
({8})
Auf Ihr heuchlerisches Argument, wir dürften den Entwicklungsländern nicht ihre Fachkräfte abwerben, hat Ihnen ja der Finanzminister Indiens die richtige Antwort gegeben. Er sagte nämlich am Montag in Berlin, sie hätten
50 Millionen, davon könnten sie einige ruhig abgeben;
Herr Rüttgers solle sich da mal keine Sorgen machen.
Recht hat der Mann.
({9})
Die Regierung in Indien hat nämlich schon vor einigen
Jahren erkannt, dass hier Entwicklungschancen liegen,
und hat deshalb in diesen Bereich investiert, hat Ausbildungs- und Arbeitsplätze geschaffen. Genau das haben
Sie versäumt.
Aber nicht nur die Wirtschaft ist gegen Sie, was Ihnen
ja egal ist, wie Sie immer wieder betonen,
({10})
sondern auch in Ihren eigenen Reihen steht kaum jemand
hinter Ihrer Aktion. Herr Cartellieri zum Beispiel - gerade mit 99 Prozent zum Schatzmeister der CDU gewählt ist für die Initiative der Bundesregierung und begrüßt sie
ausdrücklich. Kajo Schommer, sächsischer Wirtschaftsminister und Vorsitzender der Wirtschaftsministerkonferenz, meint, dass Sie sich da offensichtlich verrannt haben
und dass die Green-Card-Initiative des Bundeskanzlers
richtig ist. Man kann da nur sagen: Der Mann weiß als
Wirtschaftsminister offensichtlich, wovon er spricht.
Wenn wir nicht schnell handeln, wird die Entwicklung einer ganzen Zukunftsbranche weiter an Deutschland vorbeigehen. Genau das will diese Bundesregierung mit der
Initiative verhindern.
So ähnlich sieht das auch der neue CDU-Generalsekretär, der Kollege Ruprecht Polenz - der heute gar nicht
erst gekommen ist -; er wird mit der Bemerkung zitiert:
Der Wahlkampfslogan „Rüttgers - der Mensch“ hört
sich angesichts der Rüttgers - Kampagne auf einmal
wie ein verständnisloses „Mensch, Rüttgers“ an.
Recht hat er, der Kollege Polenz. Herr Wissmann äußerte
in einem Interview auf die Frage, ob er Ihre Kampagne unterstützt, sehr klar, kurz und präzise:
Mir gefällt der erste Teil der Parole besser: mehr
ausbilden.
Frau Merkel hat jetzt - trotz Wahlkampf in NRW - auf
dem Parteitag einen Kurswechsel angekündigt. Sie sagte,
die CDU werde die Anwerbung von 20 000 Computerfachleuten nicht länger ablehnen.
({11})
Ich möchte Frau Merkel und Herrn Merz, die jetzt nicht
mehr da sind, fragen: Warum wird Herr Rüttgers dann
nicht zurückgepfiffen und dieser Antrag, mit dem wir uns
leider beschäftigen müssen, nicht zurückgezogen?
({12})
Trotz der öffentlich verkündeten Einsicht müssen wir uns
nämlich mit diesem Pamphlet beschäftigen. Man muss
sich einmal das auf der Zunge zergehen lassen, was da
schon in der Überschrift steht:
Keine überstürzte und konzeptionslose Durchbrechung des Anwerbestopps.
„Nichts überstürzen!“ ruft uns die CDU heute zu. Träumen
Sie eigentlich immer noch? Heute fehlen 70 000 IT-Fachkräfte. Wir wollen diesen Mangel beheben, Sie aber reden
davon, man solle nichts überstürzen. Das heißt, Sie wollen immer noch so weitermachen wie in den 16 Jahren Ihrer Regierung. Das ist eine tolle Botschaft.
({13})
Wir jedenfalls werden den Kurs ändern. Wir investieren pro Jahr 1 Milliarde DM zusätzlich in Bildung, Wissenschaft und Forschung. Wir erhöhen die Mittel der Bundesanstalt für Arbeit für Qualifizierungsmaßnahmen im
IT-Bereich nochmals um 200 Millionen DM auf 1,2 Milliarden DM. Vor allem hat die rot-grüne Bundesregierung
mit der Wirtschaft die Schaffung von 60 000 zusätzlichen
Ausbildungsplätzen in der Informationsbranche bis 2003
vereinbart. Gleichzeitig wollen und müssen wir kurzfristig mit der Green Card dafür sorgen, dass hoch qualifizierte Menschen aus diesem Bereich ohne bürokratische
Hürden nach Deutschland kommen können, damit durch
sie die Entwicklung hier vorangebracht werden kann und
so neue Ausbildungs- und Arbeitsplätze geschaffen werden.
Herr Westerwelle, wir brauchen dafür wirklich nicht die
klugen Ratschläge der F.D.P. Die F.D.P. hatte bis 1998 30
Jahre lang in der Regierung die Gelegenheit, all das, was
Sie uns vorgeschlagen haben, durchzusetzen.
({14})
- Wir sind erst 18 Monate, also viel weniger als 30 Jahre,
an der Regierung. - Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass Herr Möllemann seinerzeit als Bildungsminister mehr als einmal angekündigt hat, er werde zurücktreten, wenn er nicht mehr Geld bekäme. Er hat fast nie mehr
Geld bekommen. Er ist stattdessen Wirtschaftsminister
geworden und musste dann zurücktreten, weil er private
offensichtlich nicht von dienstlichen Interessen unterscheiden konnte. So weit zur F.D.P.
({15})
Zurück zur CDU: Wenn es nach Ihnen ginge, würden
noch weitere Unternehmen ins Ausland abwandern. Aber
Unternehmen, die ins Ausland gehen, nehmen ihre Arbeitsplätze und auch ihre Ausbildungsplätze mit. Deshalb
Kerstin Müller ({16})
brauchen wir Ausbildung und Einwanderung. Wir brauchen eine Qualifizierungsoffensive und die Green Card.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Christa
Luft?
Ja, gerne.
Danke,FrauKolleginMüller. Sie geben mir doch in der Einschätzung sicher Recht, dass
die rot-grüne Regierung nicht gerade privatisierungsabstinent ist. Ich will diesen Sachverhalt jetzt gar nicht bewerten. Ich will aber fragen: Warum entschließt sich die Bundesregierung nicht dazu, eine ureigene Aufgabe der Wirtschaft, nämlich für die Ausbildung von jungen Menschen
zu sorgen, zu reprivatisieren? Ich begrüße es, dass es ein
Sonderprogramm für die Ausbildung junger Menschen
gibt. Aber dadurch wird die Wirtschaft von ihrer ureigenen
Aufgabe entpflichtet. Es gibt Kopfprämien für Unternehmen, die Lehrlinge ausbilden.
Jetzt gibt es die Aktivität bezüglich der Green Card.
Meine Frage ist: Wäre es nicht denkbar, dass wir endlich
eine Offensive starten, damit die Wirtschaft ihre ureigene
Aufgabe, nämlich junge Menschen auszubilden, wieder
übernimmt, dass wir also eine Reprivatisierung vornehmen? Könnten Sie sich vorstellen, dass jene Unternehmen,
die von der Einstellung ausländischer Spezialisten profitieren werden - diese haben ja in ihren Heimatländern
Ausbildungskosten verursacht -, in einen gemeinsamen
Topf einzahlen, aus dem Ausbildung hier weiter gefördert
werden kann? Es ist ja eine Entlastung der Unternehmen,
wenn in ihnen Spezialisten arbeiten, die auf Kosten anderer Länder ausgebildet wurden.
({0})
Das Konzept der Bundesregierung ist, beides zu
tun. Wir haben das JUMP-Programm ins Leben gerufen.
Wir haben im Rahmen der D-21-Initiative vereinbart, dass
60 000 Ausbildungsplätze im IT-Bereich zusätzlich geschaffen werden. Man braucht beides: bessere Rahmenbedingungen für mehr Ausbildungsplätze - die haben wir
als Gesetzgeber schon geschaffen - und natürlich die Verpflichtung der Wirtschaft, in den Betrieben selber mehr
auszubilden. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir mit den
Vereinbarungen, die sowohl bezüglich der Green Card
als auch bezüglich der Ausbildungsplätze auf freiwilliger
Basis mit den Arbeitgebern getroffen wurden, im Jahre
2003 sehr gute Ergebnisse vorweisen können. Meines Erachtens ist die Vorgehensweise der Bundesregierung richtig.
({0})
Meine Fraktion möchte natürlich, dass die Green Card
ein attraktives Angebot ist, die den Menschen auch eine
längerfristige Perspektive nicht verschließt, die nicht auf
einem Hochschulabschluss für die Arbeitserlaubnis
besteht
({1})
und die es erlaubt, dass sich diese Menschen selbstständig
machen können. So können wieder neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Dafür werden wir uns einsetzen.
({2})
Meine Damen und Herren von der F.D.P., Sie werden
sehen: Rot-Grün wird gemeinsam dafür sorgen, dass ein
guter Entwurf vorgelegt wird, mit dem alle zufrieden sein
werden und dem auch Sie zustimmen können.
({3})
Und, Herr Rüttgers, Sie sollten endlich begreifen, dass
der Einwand Lohndumping wirklich absurd ist. Es geht
um hoch qualifizierte Fachkräfte, die wir brauchen und um
die wir werben müssen. Sie sind nicht auf Deutschland angewiesen, weil sie überall auf der Welt Arbeit finden. Dass
Sie trotzdem von Lohndumping reden, zeigt mir, dass Sie
nichts, aber auch gar nichts verstanden haben.
({4})
Von Frau Merkel und Herrn Merz hört man seit Tagen
ein schallendes Jein zur Green Card. Auf der einen Seite
wollen Sie die Green Card, auf der anderen Seite stehen
Sie zu Herrn Rüttgers. - Ich finde, nicht nur in diesem
Punkt, sondern auch insgesamt ist der Kurs der so genannten neuen CDU nach wie vor völlig unklar.
Vielleicht darf ich Ihnen zum Schluss einen Ratschlag
aus der Bibel empfehlen. Nach Matthäus, Kapitel 5 Vers
37 - das sollte Ihnen als CDU ja genehm sein -, heißt es:
„Euer Ja sei ein Ja, Euer Nein ein Nein, alles andere
stammt vom Bösen.“ Wenn Ihre Ankündigungen ernst gemeint sind, dann ziehen Sie nicht nur Ihren Antrag zurück,
dann ziehen Sie auch Herrn Rüttgers aus dem Verkehr. Damit würden Sie nicht nur Ihrer Partei, sondern auch unserem Land einen guten Dienst erweisen.
({5})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Heidi Knake-Werner.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was ich bis jetzt in dieser Debatte gehört habe, weist auf eine politisch höchst
spannende, aber gleichzeitig auch eine sehr brisante Gemengelage hin. Da werden auf der einen Seite Beschäftigungs- und Qualifizierungsprobleme mit Fragen der Einwanderung und des Asylrechts vermischt und dabei übertriebene Hoffnungen geweckt und auf der anderen Seite
genauso massiv Ängste geschürt.
Die von Bundeskanzler Schröder auf der CeBIT
medienwirksam präsentierte deutsche Green Card ist
weder ein superschneller Megachip noch ein indischer
Kerstin Müller ({0})
Killervirus, wie der Kollege Rüttgers den Wählerinnen
und Wählern in NRW einreden möchte. Was Sie heute hier
in dieser Frage geboten haben, war wiederum dumpfe
Demagogie und entsprach durchaus Ihrer rechtspopulistischen Kampagne.
({1})
Der notwendigen öffentlichen Aufklärung in dieser Frage
haben Sie damit einen Bärendienst erwiesen.
Worum geht es also? Es geht nicht um die „überstürzte“ Aufhebung des Anwerbestopps, wie der Unionsantrag
behauptet. Es geht darum, für einen befristeten Zeitraum
in aller Welt Spitzenkräfte für die IT-Branche anzuwerben; von etwa 20 000 ist die Rede. Im Prinzip ein normaler Vorgang, schon heute möglich und vielfach praktiziert.
Warum also die Aufregung?
Ich will Ihnen gerne erklären, was uns an Ihrem Vorstoß
Sorge macht. Die jetzt losgetretene Debatte ist doch eine
Ohrfeige für die einheimischen Arbeitslosen, die deutschen und die ausländischen. Ihnen wird gesagt: Ihr seid
fürs Erste raus aus dem Geschäft, ihr seid nicht mehr qualifizierbar - so Arbeitgeberpräsident Hundt - und in der
Regel, das ist das Entscheidende - zu alt. Das motiviert
nicht, das grenzt aus.
({2})
Wir alle wissen doch, dass auf den Arbeitsämtern zwischen Rostock und Konstanz mehr arbeitslose EDV-Fachleute herumsitzen, als jetzt angeworben werden sollen.
Das sind eben nicht nur Lochkartensortierer, sondern viele von ihnen lassen sich sehr kurzfristig für den aktuellen
Bedarf fit machen.
Wie ist das überhaupt mit dem Bedarf? Da hört man in
der Tat jeden Tag neue Zahlen; jetzt sollen es schon
150 000 sein. Ich finde die Datenlage höchst unsolide und
deshalb auch die ganze Diskussion leichtfertig, und sie
greift zu kurz. Sie schafft alles andere als Vertrauen und
Verständnis in der Bevölkerung und sie trägt wenig dazu
bei, dass diejenigen, die schließlich als Arbeitskräfte und
Menschen zu uns kommen sollen, ohne Ressentiments
aufgenommen werden.
({3})
Ich will einen zweiten Punkt ansprechen. Das eigentliche Problem an der Debatte - das hat sich auch schon gezeigt - sind nicht nur die heute fehlenden Computerspezialisten, sondern ist auch die seit langem überfällige
Qualifizierungsoffensive. Daran hat der Kollege Rüttgers
seinen gehörigen Anteil. Es ist doch völlig zutreffend,
wenn die Fachleute kritisieren, dass die Green Card im
Prinzip nichts anderes ist als die rote Karte für das deutsche Bildungswesen und eine erschreckende Konzeptionslosigkeit in der Hochschul- und der Wissenschaftspolitik offenkundig macht.
({4})
Aber - das muss genauso deutlich gesagt werden -: Die
Branche, die heute die Spezialistenlücke beklagt, hat sie
weitgehend selbst verursacht.
({5})
Es kann ja sein, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich
die IT-Branche explosionsartig entwickelt. Doch es ist ein
Armutszeugnis für die dort tätigen Manager, wenn sie erst
jetzt - sozusagen als Gegenleistung für die Green Card neue Ausbildungsplätze und betriebliche Weiterbildungskapazitäten bereitstellen.
Deshalb denke ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, es
geht hier im Kern um etwas ganz anderes. Gerade in den
IT-Branchen dominiert doch das Konzept der olympiareifen Beschäftigten, die ohne Rücksicht auf Arbeitszeit,
auf Gesundheit oder gar den Tarifvertrag für eine kurze
Zeitspanne ihres Arbeitslebens Spitzenleistungen erbringen, um im Alter von 40 Jahren oder noch jünger ausgemustert zu werden. Es geht hier einfach darum, dass nicht
nur Höchstqualifikationen gefragt sind, sondern auch junge, ledige, rund um die Uhr verfügbare und vor allen Dingen billige Arbeitskräfte.
({6})
Da kann man es sich nicht so einfach machen, wenn man
hört, wie ausländische Spezialisten in der Bundesrepublik
bezahlt werden. Wir glauben eben nicht, dass die GreenCard-Regelung die Ausnahme im Standortwettbewerb
wird, sondern - das sage ich ganz deutlich - wir fürchten,
dass daraus ein Türöffner für die Deregulierung der Arbeitsmärkte wird, und zwar weltweit.
So ist es denn auch kein Zufall, dass gleich die generelle Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes gefordert
wird. Ich verweise hier nur auf Äußerungen des Präsidenten des Deutschen Handwerks oder auf den F.D.P.-Antrag.
Folgerichtig meldet sich natürlich eine Fülle anderer Branchen, die im Standortpoker auch einen Vorteil mit Menschen erhaschen wollen, für die bei uns weder ein Ausbildungsplatz noch ein Studienplatz bereitgestellt werden
musste.
Ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich finde es erschreckend, mit welcher Selbstverständlichkeit davon ausgegangen wird, dass unsere Wirtschaft, insbesondere die großen
Unternehmen, beim Einkaufen von Menschen die gleichen Freiheiten beansprucht wie beim Import von Bananen und Mikrochips.
({7})
Insbesondere die großen Unternehmer sparen Qualifizierungskosten, kaufen die Menschen dort, wo sie am billigsten sind, und werden sie wieder los, wenn sie den Scheitelpunkt ihrer Leistungsfähigkeit überschritten haben. Ich
finde das einen ziemlich erbärmlichen Vorgang. Ich frage:
Welche Gegenleistung erbringt eigentlich die Wirtschaft?
Meine Kollegin Luft hat ja schon einen diesbezüglichen
Vorschlag gemacht. Ich finde es schon befremdlich, dass
es Ihnen offenbar gar nichts ausmacht, dass den ärmsten
Ländern die Fachleute weggekauft werden. Das ist ein
schlechter Beitrag zu einer vernünftigen Entwicklungspolitik.
({8})
Lassen Sie mich abschließend einen letzten Gedanken
sagen: Mit der Green Card ist auch die Einwanderungsdebatte neu in Gang gekommen - wenn auch gegen den
Willen der Bundesregierung. Sie findet ja, dass gar kein
Zusammenhang besteht. Wir sagen jedoch: Wer Arbeitskräfte holt, muss den Menschen in unserem Land Arbeitsund Lebensrechte garantieren.
({9})
Es kann doch nicht sein, dass die Nützlichkeitskriterien für
Einwanderung allein von der Wirtschaft diktiert werden.
Die PDS hat bei der Einwanderung einen anderen Gestaltungsanspruch. Wir wollen, dass der Mensch im Mittelpunkt der Einwanderungspolitik steht und nicht Standortfragen und Profitinteressen.
({10})
Eines - lassen Sie mich das zum Abschluss sagen wollen wir ganz sicher nicht - das schimmert insbesondere durch die Diskussionen der CDU/CSU-Fraktion -: Wir
wollen nicht, dass mit der Forderung nach einem Einwanderungsgesetz das Asylrecht ausgehebelt wird.
({11})
Menschen in Not müssen Schutz und Aufnahme finden immer. Sie sind nicht quotierbar. Den Kolleginnen und
Kollegen der Regierungsfraktionen sage ich: Wenn der
Preis für ein Einwanderungsgesetz die endgültige Abschaffung des Grundrechts auf Asyl ist, dann ist der PDS
dieser Preis zu hoch.
({12})
Für den Bundesrat erhält nun der bayerische Staatsminister des Innern,
Günther Beckstein, das Wort.
({0})
Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({1}):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Ich bedanke mich zunächst für die so freundliche Begrüßung eines anderen Organs der Bundesrepublik
Deutschland.
({2})
Ich möchte gleich in die Sache einsteigen: Wir diskutieren
zwei Probleme, die zwar eng miteinander verbunden sind,
die aber durchaus unterschiedliche Aspekte haben: einerseits die kurzfristigen Engpässe auf dem Arbeitsmarkt und
andererseits die generelle Politik von Zuwanderung. Ich
kann überhaupt nicht verstehen, dass insbesondere vonseiten der SPD Krokodilstränen vergossen werden und
dass diese beiden generellen Fragen in einer unangemessenen Weise miteinander vermischt werden. Dazu gehört
dann natürlich auch noch die Frage von Asyl und Missbrauch von Asyl.
Diese Vermischung ist schon allein dadurch begründet,
dass der Bundeskanzler, als er das eine Problem angesprochen hat, Begriffe des anderen Problems verwendet
hat. Um ein Mittel zur Lösung kurzfristiger Arbeitsmarktprobleme zu nennen, hat er von Green Card
gesprochen. Jeder weiß, dass Green Card die Frage genereller Einwanderung betrifft.
({3})
Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Uns hat das nicht
sonderlich überrascht. Herr Kollege Stiegler wird Ihnen
erzählen, wie man es in Bayern nennt, wenn ein Problem
allgemein, nebulös, unpräzise angesprochen wird. Bei uns
in Bayern heißt das: Der „schrödert herum“.
({4})
So war es auch im konkreten Fall.
Das aktuelle Problem lautet natürlich: Wie gehen wir
damit um, dass wir eine Internationalisierung im Bereich der Wissenschaft haben und brauchen? Wie gehen
wir mit Mängeln und Engpässen auf dem Arbeitsmarkt
um? Die Unionsinnenminister haben sich vor einigen Tagen getroffen und bestätigt, dass das natürlich ein Problem
sei. Wir waren aber übereinstimmend der Meinung, dass
sowohl der Begriff „Green Card“ als auch das, was als
große Aktion dahinter steht, der falsche Weg ist.
Natürlich brauchen wir eine Lösung des Problems des
Engpasses auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben bereits eine
Arbeitsaufenthalteverordnung, die in bestimmten Bereichen funktioniert und in anderen Bereichen viel zu kompliziert ist. Zunächst möchte ich Ihnen sagen, wie wir beispielsweise in Bayern versucht haben, das Problem, das
auch wir in den vergangen Jahren hatten, zu lösen. Wir haben gesagt: Wir brauchen eine Internationalisierung der
Universitäten. Wir brauchen mehr ausländische Studenten
an unseren Universitäten. Wir brauchen mehr Wissenschaftler, die nach Deutschland kommen. Wir brauchen
aber auch das Umgekehrte: dass mehr Professoren und
Studenten deutscher Universitäten ins Ausland gehen.
Wir haben ohne den Begriff „Green Card“ eine Lösung
gefunden, und zwar aufgrund des geltenden Rechts: Wenn
uns die Universitäten sagen, sie bräuchten jemanden,
dann - jetzt horchen Sie gut zu; dazu braucht man keine
monatelangen Diskussionen mit völlig falschen Vorstellungen, denn Folgendes kann bereits heute gemacht werden - wendet sich die Universität an das Ausländeramt und
sagt, dass sie eine bestimmte Person brauche. Das
Ausländeramt hat dann eine Woche Zeit, etwaige Bedenken zu äußern. Wenn diese Möglichkeit nicht innerhalb der
genannten Frist wahrgenommen wird, gilt die Zusage der
Aufenthaltserlaubnis als erteilt.
({5})
Übrigens war das eine Idee, die wir damals mit Herrn
Rüttgers durchgesetzt haben.
({6})
Im Bereich der Arbeitsaufenthalteverordnung haben
wir eine Überbürokratisierung, die eine monatelange
Suche auf dem Arbeitsmarkt mit sich bringt und die
völlig untauglich ist.
({7})
Deswegen haben wir als Unionsinnenminister einheitlich
gesagt - Herr Kollege Bosbach war bei diesen Beratungen dabei -: Im Hinblick auf kurzfristige Engpässe auf
dem Arbeitsmarkt brauchen wir eine praktikablere und
unbürokratischere Lösung als die der bestehenden Arbeitsaufenthalteverordnung. Dann können wir die anstehenden Probleme lösen. Dazu müssen aber noch einige
Punkte, die von Herrn Rüttgers angesprochen worden
sind, geklärt werden, nämlich dass der Bedarf an Fachleuten ermittelt und vorgelegt werden muss, dass es sich
um hoch qualifizierte Fachkräfte handelt und dass diejenigen, die dann kommen, dieselben tariflichen Konditionen bekommen und nicht als Billiglohnkräfte aus dem
Ausland betrachtet werden.
({8})
Es ist doch völlig blauäugig zu glauben, dass das allein aus
Menschenfreundlichkeit verlangt wird. Das Problem
Hochlohnland hat doch eine massive Bedeutung.
Nach unserer Überzeugung muss ferner überlegt werden, wie eine Einwanderung über die Green Card mit der
Erweiterung der Europäischen Union vereinbar ist. Ich
halte es für völlig unverständlich, dass darüber nicht ernsthaft diskutiert wird. Die Erweiterung der Europäischen
Union wird den europäischen Arbeitsmarkt von bisher
300 Millionen auf 500 Millionen Menschen ansteigen lassen. Die Osterweiterung wird nicht in 10, 20 oder 30 Jahren erfolgen, sondern 2002, 2003 oder 2005. Man kommt
nicht auf die Idee, solche Fragen im Zusammenhang mit
der vor der Türe stehenden Osterweiterung zu lösen und
damit im Vorgriff auf die Osterweiterung Flexibilisierungen zu ermöglichen, die wir brauchen, um die Übergangsprobleme, die gerade auf dem Arbeitsmarkt der neu in die
EU kommenden Länder entstehen werden, abmildern zu
können. Das sind Dinge, die wir auf jeden Fall ansprechen
müssen.
({9})
Das ist mit der Diskussion über den irreführenden Begriff Green Card überhaupt nicht in vernünftiger Weise angegangen worden, ganz abgesehen davon, dass wir im
Rahmen der bisherigen Verfahrensweise sehr viel besser
mit der Frage, ob ein Familiennachzug erfolgen soll oder
nicht, umgehen können.
Hier geht es um die kurzfristige Lösung eines Problems. Ich stelle dazu fest: Ich halte es für richtig, dass
Herr Rüttgers dieses Problem - natürlich in zugespitzter
Art und Weise - angesprochen hat, um damit deutlich zu
machen: Wir können die Scheinheiligkeit der „Herumschröderei“ nicht ertragen,
({10})
die Einbürgerung über die Green Card als kurzfristige
Übergangslösung von Engpässen auf dem Arbeitsmarkt
darzustellen.
({11})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte schön.
Herr Beckstein, vielleicht können
Sie sich einmal festlegen: Wer hat denn nun Recht, Herr
Rüttgers oder Richard von Weizsäcker, der dessen Verhalten und Aktion als „Haider-würdig“ bezeichnet hat? Legen
Sie sich bitte einmal fest!
Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({0}): Ich
halte es für völlig unsinnig, Herrn Rüttgers in die Nähe von
Herrn Haider zu stellen. Dazu kann ich nur sagen: Jeder
aus der SPD, der die Mitverantwortung dafür trägt, ein
ganzes Volk wie das der Österreicher unter Quarantäne zu
stellen, hat sich an dem Ziel der Europäischen Union versündigt.
({1})
Sie sollten einmal mit dem ehemaligen österreichischen
Innenminister Schlögl von der SPÖ sprechen, was er von
der Aktion, die von Herrn Schröder im Rahmen der EU angerichtet worden ist, hält, angesichts dessen, dass in Österreich nach dem Willen der damaligen Großen Koalition
die Erweiterung der EU durch Volksabstimmung geklärt
werden muss. Und da führen Sie eine solche Maßnahme
durch! Ich bin in Deutschland bekannt dafür, dass ich die
Auseinandersetzung mit den Republikanern härter angegangen bin als jeder andere.
({2})
Herrn Rüttgers in die Nähe von Herrn Haider zu stellen
halte ich für unanständig und das sollten Sie sich in Ihr
Stammbuch schreiben.
({3})
Jetzt komme ich zu dem generellen Problem, das Herr
Schröder - ob aus Unwissenheit, „Herumschröderei“ oder
auch ganz bewusst - mit dem Begriff Green Card ausgelöst hat. Dieses Problem beinhaltet die folgende Frage:
Wie gehen wir in einer Welt der Globalisierung der Wirtschaft und angesichts der demographischen Entwicklung
der nächsten Jahre generell mit der Frage der Einwanderung um?
Herr Westerwelle - das ist in der Tat richtig -, diese
Frage haben Sie bereits in der letzten Legislaturperiode im
Rahmen eines von Ihnen geforderten Einwanderungsgesetzes angesprochen. Ich habe mich immer dagegen
gewendet. Ich teile zwar Ihr Anliegen - Sie haben das heute wiederholt -, dass Sie nicht mehr Zuwanderung, sondern eine andere wollen. Aber Sie haben nicht angesprochen, dass dafür bestimmte Instrumente unabdingbar sind.
Denn man kann Einwanderung, die dem Umfang nach
Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({4})
gleich bleibt, nur dann verändern, wenn man das rechtliche Instrumentarium massiv verändert.
Da ist als Erstes zu nennen: Heute gibt es natürlich eine massive Armutszuwanderung. Ich spreche ganz bewusst nicht, wie andere, von Wirtschaftsflüchtlingen, sondern von Armutsflüchtlingen; denn diese Menschen sind
von anderen Kontinenten, aus anderen Ländern, wo sie in
bitterer Armut gelebt haben, nach Deutschland gekommen, weil sie dem Ruf des Asyls gefolgt sind - in der überwiegenden Zahl der Fälle allerdings unter Zuhilfenahme
von kriminellen Schleuserbanden -, und wollen sich hier
ein Stück des Wohlstandes sichern. Dies muss eingeschränkt werden und das geht nicht nur durch schöne Worte, sondern hier muss eine Veränderung des heute geltenden Grundrechts auf Asyl vorgenommen werden.
({5})
Herr Minister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?
Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({0}): Ja.
Herr Minister, sind
wir uns darüber einig, dass, wenn ein Recht wie das Asylrecht missbraucht wird - wer wollte das bestreiten? -, dies
dafür spricht, den Missbrauch zu bekämpfen, und nicht
dafür, das Recht abzuschaffen?
({0})
Zweitens. Stimmen wir auch darin überein, dass - wenn
man ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz machen will,
über das wir in der letzten Legislaturperiode mehrfach
verhandelt haben - nicht schon dadurch eine die Zuwanderung begrenzende Wirkung erzielt wird, dass sich das
Recht auf Zuwanderung und der Asylantrag gegenseitig
ausschließen? Ist es also nicht geradezu ein Anreiz für diejenigen, die den Weg über das Asyl gehen könnten, obwohl
er für sie gar nicht gedacht ist, diesen Weg nicht in Anspruch zu nehmen, weil sie wissen, dass sie sich die Zuwanderungschance ein für alle Mal nehmen, wenn sie einen Asylantrag stellen?
({1})
Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({2}):
Herr Kollege Westerwelle, der zweite Gedanke ist gut gemeint. Jeder weiß aber, dass, wenn man sagt, jemand habe etwas gut gemeint, dies nicht immer ein Lob ist. Es ist
gut gemeint, aber grundfalsch, zu glauben, dass Millionen
von Menschen, die gerne nach Deutschland kämen - unter Zuhilfenahme des Asyls und sonstiger Wege, zum Beispiel durch Schleuserbanden -, diese Chance nicht nutzen
würden, weil andere, nämlich hochspezialisierte Wissenschaftler, die wir auf dem Arbeitsmarkt benötigen, die
Möglichkeit der Zuwanderung erhalten. Das ist doch eine
Illusion.
({3})
Der frühere türkische Innenminister Mentese hat mir
gesagt: Als die Anwerbelisten der Türkei bezüglich der
Einwanderung geschlossen worden sind, waren 6 Millionen Menschen registriert. Ich bin nächste Woche beim türkischen Innenminister und werde mir erlauben, ihn zu fragen, wie seine Einschätzung ist. Der türkische Botschafter jedenfalls hat mir auf meine Frage gesagt: Das sind
soziologisch völlig unterschiedliche Gruppierungen.
Im Übrigen ist es nicht miteinander kompatibel, auf der
einen Seite hochspezialisierte Wissenschaftler aus eigenem Interesse ins Land zu holen und auf der anderen Seite die Armutswanderung unterbinden zu wollen. Deshalb
darf dies meines Erachtens nicht geschehen.
Zu Ihrer zweiten Frage: Natürlich haben Sie Recht,
wenn Sie sagen, man dürfe nicht das Recht insgesamt abschaffen. Ich hebe hervor, dass derjenige, der wie ich dafür
eintritt, unser Grundrecht auf Asyl, Art. 16 a des
Grundgesetzes, in eine institutionelle Garantie umzuwandeln, keine Ermessens-, Billigkeits- oder Gnadenregelungen will. Ich halte es aber nicht für richtig, dass wir als einziges Land der Welt, als einziges Land der EU glauben, mit
Art. 16 a unseres Grundgesetzes allen Menschen dieser Erde ein Grundrecht zur Verfügung stellen zu müssen,
während alle anderen Länder sagen: Wir kommen dem
Schutz durch die Genfer Konvention in einer anderen Weise nach.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Ich habe an den Verhandlungen, die 1993 zur Änderung des Grundrechts auf
Asyl geführt haben, teilgenommen. Eine vernünftige, wesentlich weiter gehende Reduzierung des Grundrechts auf
Asyl werden Sie nicht erreichen. Wir müssen auf ein anderes Verfahren übergehen, um den wirklich Verfolgten
möglichst in wenigen Wochen, spätestens aber in drei bis
vier Monaten Asyl zu gewähren. Wir dürfen denen, die
keinen Anspruch auf Asyl haben, nicht die Chance
geben, durch Inanspruchnahme eines weltweit einmaligen
Rechtswegs über drei oder vier Instanzen und unter Nutzung anderer Wege, zum Beispiel der Petitionsausschüsse
der Länder und des Bundes, ihren Aufenthalt
zulasten der Allgemeinheit auf drei, fünf oder acht Jahre
auszudehnen, um dann anschließend über Altfallregelungen reden zu können. Das darf nicht gehen.
Darum brauchen wir eine Änderung. Eine solche ist schon
deswegen dringend erforderlich, damit wir in Europa nicht
nur eine einheitliche Mindestregelung bekommen, sondern in formeller und materieller Hinsicht zu einem einheitlichen europäischen Asylrecht kommen.
({4})
Wir müssen uns auch einmal ansehen, wie es in Frankreich oder in den Niederlanden konstruiert ist, wo es den
formellen Rechtsweg über Verwaltungsgerichte nicht gibt,
sondern wo zum Beispiel Kommissionen, die parlamentarisch verantwortlich sind, über Entscheide befinden.
Herr Schily hat eine Idee öffentlich geäußert, die von den
Ideen, die ich für richtig halte, nicht so weit entfernt ist.
Man sollte durchaus überlegen, Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder auch die Beratungsorganisationen der Kirchen in eine solche Kommission mit hineinzunehmen. Dann werden Sie feststellen,
Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({5})
dass das neue System auf mehr Akzeptanz stößt als das
heutige, das weltweit als ein System bekannt ist, das missbraucht werden kann.
Herr Minister,
gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage?
Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({0}): Ja.
Bitte. - Da wir
schon sehr in Verzug sind - das wissen alle Kollegen -, bitte ich insgesamt darum, etwas kürzer zu fragen und auch
etwas kürzer zu antworten.
Herr Minister, Sie haben kritisch
angemerkt, dass wir in Deutschland mit dem entsprechenden Grundrecht auf Asyl und den hier maßgebenden
rechtsstaatlichen Verfahren - ich füge hinzu: im Übrigen
nachhaltig reduziert - ein erhebliches Problem durch eine
Vielzahl von Asylbewerbern hätten. Sind Sie denn bereit,
zur Kenntnis zu nehmen, dass in zahlreichen anderen europäischen Staaten bezogen auf die Anzahl der Einwohner
der Anteil der Erstasylantragsteller wesentlich höher ist?
In der Schweiz beispielsweise ist er mehr als dreimal so
hoch und in Belgien und den Niederlanden mehr als doppelt so hoch. Wie bringen Sie das denn damit in Einklang,
dass Sie hier weiteren Einschränkungen beim Asylrecht
das Wort reden?
({0})
Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({1}):
Herr Kollege, ich würde Ihnen empfehlen, auch mit Herrn
Bundesminister Schily eine Diskussion zu führen, der sich
zu dieser Frage mehrfach öffentlich geäußert hat. Jemand,
der praktische Erfahrungen hat, wird eine solche Frage,
wie Sie sie gerade gestellt haben, nicht stellen.
({2})
Vielmehr weiß er, welche Probleme es bereitet, Zehntausende von Asylbewerbern in Sammelunterkünften in einem Land unterzubringen. Er weiß auch, dass das Problem
bei uns schärfer ist als in jedem anderen europäischen
Land. Hinzu kommt, dass wir Bosnier und Kosovo-Albaner in großer Zahl aufgenommen haben und dass die Zahl
der Asylbewerber im Jahre 1999 nur deshalb zurückgegangen ist, weil für die Kosovo-Albaner zu nahezu 100 Prozent ein völlig anderes Verfahren angewendet
worden ist, indem sie nämlich faktisch als Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen worden sind, während das in der
Schweiz anders gehandhabt worden ist. In der Schweiz
zählen sie zu den Asylbewerbern.
Deswegen kann ich nur sagen: Reden Sie das Problem
nicht herunter, sondern nehmen Sie die Interessen unseres
Landes wahr und lösen Sie die Probleme!
({3})
Damit sind wir beim zweiten Bereich. Ich hätte erwartet, dass Herr Riester etwas dazu sagt, da er vor zwei Monaten auf die Frage des Kollegen Singhammer geantwortet hat, die Bundesregierung sei der Auffassung, dass die
Erteilung von Arbeitsgenehmigungen an ausländische
EDV-Spezialisten nicht erleichtert werden sollte. Er hat
das dezidiert dargestellt, auch im Vergleich zu anderen
Branchen.
Natürlich erleben wir es, dass die Wirtschaft massive
Wünsche äußert, dass sie sagt, wir bräuchten in einer globalisierten Weltwirtschaft auch einen globalen Arbeitsmarkt. Dazu kann ich nur sagen: Wir müssen - da stimme ich Herrn Rüttgers auch an dieser Stelle zu ({4})
im Interesse der Menschen in unserem Lande - das sind
nicht nur Deutsche; das sind erst recht auch türkische und
frühere jugoslawische Gastarbeiter, die vor 30 oder
40 Jahren hierher gekommen sind und die in höherem Maße
arbeitslos sind als die einheimische Bevölkerung - dafür
sorgen, dass Sozialstandards oder Arbeitslohnstandards
nicht auf Weltniveau reduziert werden. Wir haben die Aufgabe, einen Weg zu finden, wie wir die Situation im eigenen Bereich verbessern können.
Ich kann Ihnen sagen - das tue ich mit allem Selbstbewusstsein -, dass Bayern diese Frage, gerade im IT-Bereich, früher und umfangreicher angefasst hat.
({5})
Die Bundesregierung hat heute dargestellt, dass in diesem
Bereich 1 Milliarde DM zur Verfügung gestellt wird. Der
Freistaat Bayern hat seit 1994 im Rahmen seiner Hightech-Offensive für Forschung und qualifizierte Ausbildung und für Qualifizierungsmaßnahmen im IT-Bereich
8 Milliarden DM aus Privatisierungserlösen ausgegeben 8 Milliarden DM in Bayern! Deswegen ist es kein Zufall,
dass München heute Weltstandard hat, während die Probleme in Nordrhein-Westfalen massiv sind.
({6})
- Herr Kollege Stiegler, wenn Sie in Bayern reden, sagen
Sie das doch mit demselben Stolz, weil Sie wissen, dass
die Leute Sie wegjagen würden, wenn Sie Ihr eigenes
Land schlecht machen würden.
({7})
Das zentrale Problem ist: Wie senken wir die Zuwanderung, die die Sozialkassen belastet, und steuern auf diese Weise die Zuwanderung, die uns nützt? Wenn man das
polemisch sagen will: Wir müssen weniger von denen haben, die uns ausnutzen, und mehr von denen, die uns nützen.
({8})
Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({9})
Das ist eine riesige Aufgabe.
({10})
Herr Minister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin BullingSchröter? - Ich möchte noch einmal alle Kolleginnen und
Kollegen auf das hinweisen, was ich schon eben gesagt habe: Wir sind sehr in Zeitverzug. Der Minister bekommt
durch Ihre Zwischenfragen eine üppige Redezeit.
({0})
Ich möchte eigentlich keine weiteren Fragen mehr zulassen - aber bitte schön.
Ich werde meine Frage
auch ganz kurz fassen. - Herr Minister, Sie haben ausgeführt, dass die Ausbildungssituation in Bayern sehr gut ist.
Meine Frage: Werden die Elektronikkonzerne in Bayern,
zum Beispiel Siemens, auf diesem Wege keine Kolleginnen und Kollegen aus der Computerbranche einstellen? Ist
es schon gesichert, dass die bayerischen Unternehmen die
Green Card nicht in Anspruch nehmen werden?
({0})
Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({1}):
Frau Kollegin, ich habe den Eindruck, Sie haben bei dem
ersten Teil meiner Rede nicht zugehört. Ich habe nämlich
dargelegt, dass wir - in der Vergangenheit wie in der Zukunft - aktuelle Fragen regeln. Dafür ist das Vorhaben, das
jetzt diskutiert wird, nicht hilfreich und vor allen Dingen
der Begriff „Green Card“ völlig falsch. Wir nutzen die bisherige Rechtssituation aus, um aktuelle Fragen zu beantworten, und machen dabei deutlich, dass Ausbildung strikten Vorrang hat vor Zuwanderung.
({2})
Jetzt noch einmal zu der Frage: Wie gehen wir mit Zuwanderung unter den Aspekten der Globalisierung und
des demographischen Wandels um, wie können wir unseren eigenen Nutzen stärker in den Mittelpunkt stellen und
anderweitige Inanspruchnahme reduzieren? Ich habe die
Problematik der Änderung des Asylrechts deswegen angesprochen, weil von den circa 100 000 Asylbewerbern
pro Jahr nach den Angaben des zuständigen Mitglieds der
Bundesregierung mehr als 90 Prozent nicht asylberechtigt
sind, sondern unter das Motiv Armutswanderung fallen
und damit das Asylrecht missbrauchen. Nach unseren Erfahrungen sind drei Viertel von ihnen unter Inanspruchnahme von kriminellen Schleusergruppen hergekommen. Dieser Anteil muss reduziert werden.
Ein weiterer Bereich muss angesprochen werden, wenn
man das Problem insgesamt angehen will: die Frage des
Familiennachzugs. Natürlich wird eine Partei, die das
„C“ in ihrem Namen führt, den Aspekt der Familie immer
besonders berücksichtigen.
({3})
Es kann doch aber nicht richtig sein - was wir im Moment
feststellen -, dass ein zunehmender Anteil der bei uns
langfristig lebenden Türken ihre Kinder zur Erziehung in
dieTürkeischickt,entwederweildas-ähnlichwiebeiunsden Großeltern zufällt oder weil - dies wird jedermann bestätigen, der sich damit beschäftigt - viele Eltern die Sorge haben, dass die Kinder bei uns „verwestlicht“ und verdorben werden,
({4})
dass diese Kinder dann aber im Alter von 15, 16 oder
17 Jahren zurückkommen, ohne ausreichende schulische
Ausbildung, ohne berufliche Ausbildung. Sie landen dann
zumeist in Zentren, wo wir bereits heute unter Gettobildung leiden.
In diesem Zusammenhang habe ich den Gedanken des
Kollegen Cem Özdemir ganz interessant gefunden, der gesagt hat: Wenn Familienangehörige zu einem relativ späten Zeitpunkt nachziehen, sollten Sprach- und Integrationskurse zur Voraussetzung der Zuwanderung gemacht
werden. Das ist eine vernünftige Idee, über die man sich
unterhalten sollte.
({5})
Ich spreche einen weiteren Bereich an, wohl wissend,
dass dies ein ganz sensibler Punkt ist: Wenn wir die Zukunftsfragen ehrlich ansprechen wollen, dann müssen wir
uns bewusst sein, dass wir einen Missbrauch des Art. 116
des Grundgesetzes abzuwehren haben, und die sich daraus ergebenden Probleme offen ansprechen.
Wenn ich für Spätaussiedler gemäß Art. 116 des
Grundgesetzes eine Sprachprüfung verlange, wird das
auch in anderen Bereichen möglich sein. Wir sehen, dass
zwar der Träger des Rechts nach Art. 116 des Grundgesetzes die Sprachprüfung macht, aber mancher Familienangehörige nicht. Auch dies sollten wir beachten.
Ich biete hier an, dass die Bundesländer, jedenfalls diejenigen, die sich damals als B-Länder-Vertreter mit uns getroffen haben, in einen fairen und offenen Dialog über Veränderungen des gesamten Rechts in diesem Bereich eintreten. Wir sollten mehr danach gehen, wer uns nützt, und
weniger danach, wer uns ausnutzt.
({6})
Das heißt, der Bezug von Sozialhilfe und auch Kriminalität sollten schneller als Ausweisungsgründe gelten.
Herr Stiegler, es sollte einem nicht immer in den Rücken
gefallen werden, wenn man Intensivstraftäter ausweist.
Ein Draufsatteln von weiteren Bevölkerungsgruppen
als Zuwanderer, ohne die Armutswanderung entscheidend
zurückzuführen, ist aus unserer Sicht der falsche Weg. Es
ist aber richtig, die generellen Fragen zu diskutieren. Das
Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({7})
ist eine Aufgabe, der wir uns in den nächsten Monaten und
Jahren zu stellen haben.
({8})
Für die Bundesregierung erhält jetzt der Herr Minister Schily das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Man soll an
das Gute im Menschen glauben.
({0})
Deshalb irre ich mich hoffentlich nicht, Herr Kollege Rüttgers, wenn ich meine, dass Ihnen Ihre Rede heute eigentlich selber peinlich war. Ich meine, dass man das Ihrer
Körperhaltung ein wenig entnehmen konnte.
({1})
Sie waren früher als Minister gerade für die so genannten
Zukunftstechnologien zuständig. Sie haben den wunderschönen Titel des Zukunftsministers zu führen versucht.
({2})
Heute müssen wir feststellen: Sie sind der Vergangenheitsminister oder eher der Vergangenheitspolitiker.
({3})
Wir wissen alle: Die IT-Branche ist die Schlüsselbranche des beginnenden 21. Jahrhunderts. Hier entstehen
nach Aussagen der Wirtschaft weltweit circa 600 000 Arbeitsplätze. In Deutschland gibt es - das ist unbestreitbar
und ich glaube hier eher den Angaben der Wirtschaft und
anderer Institutionen als dem, was Sie, Herr Kollege
Rüttgers, hier vorgetragen haben - einen aktuellen Mangel
an Spitzenkräften auf diesem Gebiet.
Übrigens werden in der deutschen Wirtschaft Spitzenkräfte mit Spitzengehältern bedacht. Deshalb hat das
Ganze mit Lohndumping überhaupt nichts zu tun.
({4})
Dies nur nebenbei. Die Vorschläge des Bundesverbandes
der Deutschen Industrie lauten so: Um eine unbürokratische Anwerbung sicherzustellen, müssen wir gar nicht
groß mit Qualifikationszeugnissen und Ähnlichem arbeiten, sondern können einfach an der Höhe der angebotenen
Vergütung ablesen, ob jemand eine Spitzenkraft ist oder
nicht. Also reden Sie doch kein dummes Zeug über Lohndumping und Ähnliches.
({5})
IT-Spitzenkräfte sind - das ist inzwischen eine Binsenweisheit geworden - von ausschlaggebender Bedeutung
für die Entwicklung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes. Ich bin dem Kollegen Westerwelle sehr dankbar für
das, was er hier - wie ich finde - völlig richtig dargestellt
hat. Aber auch uns ist klar: Ohne IT-Spitzenkräfte kann unsere Wirtschaft im globalen Wettbewerb nicht mithalten.
Sie steht im globalen Wettbewerb gut da. Wir dürfen unseren Standort nicht immer herunterreden. Aber auf diesem Gebiet gibt es einen aktuellen Bedarf, den wir decken
müssen.
Der Rückstand auf diesem Sektor ist auch nicht einzugrenzen. Die Defizite, die dort vorhanden sind, strahlen
auf andere Sektoren aus. Das muss man ebenfalls bedenken. Wer über Arbeitsmarkt und Ähnliches spricht, sollte
wissen - das ist die Einschätzung von Fachleuten - jede
IT-Spitzenkraft, die wir anwerben, wird drei bis fünf Arbeitsplätze schaffen. Sie belastet also nicht den Arbeitsmarkt, sondern sie entlastet ihn.
({6})
Herr Kollege Rüttgers, deshalb stimmt auch Herr Jagoda,
der Ihrer Partei angehört, diesem Vorhaben zu, der im Gegensatz zu Ihnen etwas vom Arbeitsmarkt versteht.
({7})
Meine Damen und Herren, rasches Handeln ist notwendig. Wir könnten uns jetzt lange in Ausführungen, wo
Mangel in Bezug auf Ausbildung besteht und wer dafür
verantwortlich ist, ergehen. Das wäre eine interessante
Diskussion. Aber die Bundesregierung tut etwas. Herr
Catenhusen wird sicherlich einiges dazu sagen. Ich glaube, dass das, was wir auf diesem Gebiet geleistet haben ich finde, dass sich Herr Westerwelle in Anerkennung dessen, was meine Kollegin Bulmahn tut, fair verhalten hat -,
sehr beachtlich ist. Man muss wissen, dass das Programm,
das wir auflegen, zwei Seiten hat: auf der einen Seite eine
aktuelle Anwerbung von IT-Spitzenkräften und auf der
anderen Seite eine Aufstockung des Ausbildungsprogramms. Beides gehört zusammen. Man darf das eine
nicht verschweigen.
({8})
Aber wir sollten möglichst rasch und unbürokratisch handeln. Hier bin ich für jeden Vorschlag dankbar.
Herr Kollege Beckstein, Sie haben heute einen interessanten Vorschlag gemacht. Wir haben bei anderen Gelegenheiten die Möglichkeit, darüber zu reden. Ich nehme
ein solches Gesprächsangebot immer gern an. Wir gleichen das, was wir tun, auf arbeitsrechtlichem und auf aufenthaltsrechtlichem Gebiet ganz sorgfältig mit dem, was
uns aus der Wirtschaft gesagt wird, ab. Wir sind in einem
engen Kontakt. Es wird demnächst in der Initiative D 21,
also im Bereich der IT-Technik, ein Gespräch der Kabinettsmitglieder und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geben. Hier wird geprüft, ob dies die beste und praktischste Lösung ist, die sofort greift. Wir sollten eine pragmatische Lösung finden die innerhalb des bestehenden
Rechts umgesetzt werden kann. Das ist möglich.
Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({9})
Wir sollten in diesem Fall auf die deutsche Neigung
verzichten, alles zur Grundsatzfrage zu erklären.
({10})
Man kann natürlich über Grundsatzfragen reden. Ich komme am Schluss darauf zurück.
Jetzt geht es aber um eine schnelle, unbürokratische
und praktische Lösung. Ich betone noch einmal: Wir handeln im Interesse der deutschen Wirtschaft. Herr Rüttgers,
man kann es Ihnen nicht ersparen: Die härteste Kritik, die
an Ihnen geübt worden ist, stammt aus den Kreisen der
Wirtschaft. Das ist nun einmal so. Der Präsident des
Deutschen Industrie- und Handelstages, Herr Stihl, hat zu
den Äußerungen von Herrn Rüttgers gesagt:
Ich halte das für eine ziemlich starke verbale Entgleisung. Es ist mir gleichgültig, welcher Nationalität
ein solcher Fachmann ist. Wenn er deutschen Firmen
helfen kann, sich im Weltkonzert der neuen Technologien zu behaupten, dann ist er für mich höchst willkommen.
Recht hat Herr Stihl und Unrecht hat Herr Rüttgers. So ist
die Lage.
({11})
Herr Henkel hat gesagt: „Sprüche wie ,Kinder statt Inder, sind einer Industrienation unwürdig.“
({12})
Meine Damen und Herren, Herr Hundt hat gesagt:
Der ehemalige Zukunftsminister redet an den Erfordernissen des Fachkräftemangels vorbei. Seine Äußerungen sind erbärmlicher Populismus.
({13})
Meine Damen und Herren, Sie haben binnen kürzester
Zeit Ihre europapolitische Kompetenz eingebüßt. Dass Sie
sich inzwischen auch als wirtschaftsfeindliche Partei gebärden, ist allerdings ein Ereignis, das es zu würdigen gilt.
({14})
Herr Westerwelle hat mit Recht einen Hinweis auf eine
Äußerung von Frau Merkel gegeben, die ich begrüße schade, dass sie heute nicht anwesend ist - und in der sie
Herrn Rüttgers zurechtgewiesen hat.
({15})
Irgendwie müssen Sie sich - Herr Merz, dass muss ich an
Ihre Adresse sagen - entscheiden: Hat Frau Merkel Recht
oder hat Herr Rüttgers Recht? Das passt nicht zusammen.
Deshalb sollten Sie vor der Wahl für Ordnung sorgen.
Meine Damen und Herren, es ist interessant, was der
Kollege Beckstein heute vorgetragen hat, wenn es auch ein
bisschen verschlungen war. Manchmal konnte man sich in
den Wortgirlanden, die Sie vorgetragen haben, nicht zurechtfinden. Aber das ist Ihre Art, in diesem Fall fränkische
Art, vielleicht ein bisschen altfränkisch.
({16})
Ich glaube, Herr Beckstein hat in einem Punkt Recht:
Wir können einer Grundsatzdiskussion über diese Fragen
nicht ausweichen und wir müssen diese Diskussion vorurteilsfrei führen. Ich begrüße es ausdrücklich, dass inzwischen auch in der Opposition Lockerungsübungen
stattfinden.
({17})
Mittlerweile dämmert sogar Ihnen, dass Deutschland ein
Einwanderungsland geworden ist. Dieser Punkt kommt
ja auch schon in Ihren Überlegungen vor. Wir tun gut darran, diese Fragen frei von Tabus und Vorurteilen miteinander zu erörtern. Ich führe zu diesem Thema eine ganze
Reihe von - übrigens fraktionsübergreifenden - Gesprächen, deren Ergebnis ich nicht vorgreifen will.
Wir müssen auch bedenken, dass wir die Lösung solcher Fragen in die europäische Politik einbetten müssen.
Es gibt keine isolierte deutsche Innenpolitik mehr. Das
wissen wir spätestens seit Tampere. Das war der erste Gipfel, der sich erfreulicherweise ausschließlich mit innenund justizpolitischen Themen beschäftigt hat. Deshalb bedarf es einer Europäisierung der Politik über die Fragen
von Zuwanderung, Asyl und der vorübergehenden Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen. Es ist bekannt, dass
im Amsterdamer Vertrag dieses Themenfeld vergemeinschaftet ist und in die so genannte „erste Säule“ gehört.
Es ist ein umfassendes europäisches Gesamtkonzept
notwendig. Wir sollten uns bemühen, dafür einen breiten
Konsens zu finden. Der entscheidende Punkt dabei wird
sein, ob es uns gelingt, von einer Zuwanderungssituation,
die sich der Steuerung weitgehend entzieht, zu einer Zuwanderungspolitik überzugehen, die aktiv und offensiv
gestaltet wird.
({18})
Wenn wir diese Politik gewissermaßen nur erleiden, werden wir mit den Problemen nicht fertig werden. Wir müssen vielmehr etwas tun, was wir in der Vergangenheit
schon an manchen Stellen auf einer breiten Konsensgrundlage, und zwar unter humanitären Vorzeichen, getan
haben.
Ich will Ihnen zum Schluss ein Beispiel vortragen: Wir
haben uns in einer Krisensituation in Mazedonien, wo
Menschen in Not waren und die Lage aus den Fugen zu geraten drohte, entschlossen - ebenso wie andere Länder -,
vorübergehend eine Reihe von Menschen als Bürgerkriegsflüchtlinge bei uns aufzunehmen. Wir haben damals
15 000 Menschen aufgenommen. Wir haben dabei nicht
auf mögliche Klageverfahren oder Rechtsansprüche geachtet, sondern wir haben eine Situation aktiv gestaltet aus eigenem Entschluss, eigener Moral und eigenem Gewissen
({19})
und nach geltendem Recht. Wir haben eine gute Aktion gemacht.
({20})
In diesem Sinne müssen wir Politik verstehen - und
zwar in verschiedenen Richtungen. Ich halte es für erfreulich, dass Herr Beckstein in einer sehr sachten, aber mutigen Erklärung auch das Problem der Aussiedler angesprochen hat. Obwohl er es sehr sachte und im Hintergrund getan hat, habe ich - so glaube ich zumindest verstanden, was er meint.
({21})
Insofern müssen wir - gerade 50 Jahre nach dem erfreulichen Zusammenbruch des Naziregimes - alle Felder
vorurteilsfrei ansprechen, manche Fragen zu Beginn dieses Jahrhunderts neu stellen und nach passenden Antworten suchen. Wenn dieses Gespräch in einer positiven Weise verläuft und wir zu einem breiten Konsens gelangen,
wäre ich dafür sehr dankbar. Von meiner Seite gibt es das
Angebot zu diesem fairen Dialog. Ich hoffe, dass auch das
Angebot von Herrn Beckstein ernst gemeint ist.
({22})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Matthias Berninger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das, was
heute zum Thema „Deutschland als Einwanderungsland“
und zum Einwanderungsgesetz gesagt wurde, stimmt
mich optimistisch, dass wir in dem Maße, in dem wir anerkennen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist,
vernünftige Gesetze machen, die dieser Tatsache auch
Rechnung tragen. Ich kann für meine Fraktion erklären,
dass wir bereit und offen sind, die Diskussion darüber zu
führen und einen Konsens zu erzielen. Wir brauchen eine
breite Mehrheit dafür. Aber eines ist mit uns nicht zu machen, nämlich ein Koppelgeschäft zwischen dem Grundrecht auf Asyl und einem Einwanderungsgesetz. Wer das
versucht, macht aus meiner Sicht einen schweren Fehler;
denn er wirft zwei Dinge in einen Topf, die so nicht zusammengehören.
Die anderen Themen, um die es heute geht, sind die
Green Card und die Diskussion, die Herr Rüttgers vom
Zaun gebrochen hat. Ich fange mit der Bezeichnung
„Green Card“ an: Herr Beckstein, Sie haben sehr deutlich
darauf hingewiesen, die Green Card sei gar keine Green
Card. Aber Herr Schröder wäre mit seiner Forderung auf
der CeBIT nicht durchgedrungen, wenn er gesagt hätte, er
möchte gerne ein EB-1-Visum für alle einführen. Er hat
den populäreren Namen „Green Card“ benutzt und damit
der Debatte nach meiner Ansicht eine vernünftige Richtung gegeben. Aber wir sollten nicht über den Namen streiten, sondern sachlich darüber reden, ob der Vorschlag vernünftig ist oder nicht.
({0})
Schlechte Nachrichten für Herrn Rüttgers: Ich glaube
nicht, dass das Bundesland Bayern im Bundesrat einer solchen Regelung im Weg steht. Was erklärte der Bayerische
Ministerpräsident nach einer Kabinettssitzung - bei dieser
dürften Sie, Herr Beckstein, anwesend gewesen sein - im
März dieses Jahres?
Die Bayerische Staatsregierung ist grundsätzlich mit
der von Bundeskanzler Gerhard Schröder angekündigten zeitlich befristeten Anwerbung von Computerspezialisten einverstanden. Dies geht im Prinzip in
die richtige Richtung.
Das muss man unterstreichen. Außer Herrn Rüttgers redet
auch kein anderer CDU-Abgeordneter zu diesem Thema.
Er musste heute seine Position alleine darstellen, weil er
sich isoliert hat, weil er einen schweren Fehler gemacht hat
und weil er mit seinen Vorstellungen, die völlig an der
Realität vorbeigehen, versucht, Stimmung zu machen. Er
weiß, dass die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen für
ihn in jedem Fall verloren ist, wenn er das Thema nicht in
dieser Weise aufgreift, wie er es bisher getan hat.
Tatsächlich stehen wir mitten in einem globalen Wettbewerb um die fähigsten Köpfe. Die Deutschen beteiligen
sich an diesem Wettbewerb. Das können Sie daran erkennen, dass junge Deutsche - selbstverständlich - in andere
Länder gehen,
({1})
und zwar nicht nur in die Vereinigten Staaten, sondern
auch in die skandinavischen Länder und nach Frankreich,
um dort im IT-Bereich zu arbeiten. Das, was dieses Land
unter der Regierung von Helmut Kohl und unter der Ägide von Innenminister Kanther falsch gemacht hat, war,
sich nicht an diesem Wettbewerb zu beteiligen, unseren
Arbeitsmarkt abzuschotten und den Wettbewerb um die
fähigsten Köpfe anderswo stattfinden zu lassen. Wir haben
diesen klugen Menschen bislang keine Möglichkeit gegeben, ihren Traum in Deutschland zu verwirklichen. Das
will die rot-grüne Bundesregierung ändern.
({2})
Die Zahlen sprechen für sich: In den Vereinigten Staaten wurden im Jahr 1999 115 000 EB-1-Visa ausgestellt.
In diesem Jahr planen die Vereinigten Staaten sogar,
195 000 dieser Visa auszustellen, während wir in Deutschland es mit der berühmten Anwerbe-Ausnahme-Verordnung immerhin auf die „stattliche“ Zahl von 899 gebracht
haben. Wenn wir so weitermachen, ist Deutschland eines
der Verliererländer beim Kampf um Marktanteile am
IT-Bereich.
({3})
Deswegen brauchen wir eine zügige Regelung. Eine solche Regelung wird die Koalition auf den Weg bringen, und
zwar mit Unterstützung der CDU-regierten Länder und der
SPD-regierten Länder und ohne Herrn Rüttgers.
({4})
Zu Herrn Rüttgers fällt mir Folgendes ein: Es wird immer gesagt: Wem der Herr ein Amt gibt, dem gibt er Verstand. Es ist zweifelhaft, ob das tatsächlich so ist. Aber bei
Herrn Rüttgers weiß man, dass der Umkehrschluss auf jeden Fall richtig ist: Seit er das Amt des Zukunftsministers
niedergelegt hat, kommt von ihm kein vernünftiger Vorschlag mehr, sondern nur das nach meiner Meinung unsinnige Gerede zum Thema Green Card und Einwanderung.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode über das
Thema Internet diskutiert. Wir haben auch erste Schritte
unternommen - daran war Herr Rüttgers beteiligt -,
Deutschland für das Informationszeitalter fit zu machen.
Nur, er hat aufgehört, als ein paar Schulen einen Computer bekommen haben. Ihm war es egal, dass die Schulen,
nachdem sie diesen einen Computer hatten, noch sehr viel
Geld in Form von Telekommunikationsgebühren und anderem zahlen mussten.
Wir wollen, dass jede Schule, möglichst jede Schulklasse kostenlos ins Internet kommen kann. Die rot-grüne
Bundesregierung hat es gemeinsam mit der Industrie geschafft, durchzusetzen, dass nicht nur eine kleine Zahl,
sondern alle Schulen kostenlos ins Internet kommen. Damit wird deutlich: Es gibt keinen Gegensatz zwischen
Green Card und Ausbildung. Das eine ist genauso wichtig wie das andere. Diejenigen Menschen, die nach
Deutschland kommen, werden zusätzliche Arbeitsplätze
schaffen. Es ist mehrfach gesagt worden: Wer nach
Deutschland kommt, der setzt Wachstumskräfte frei und
schafft im Schnitt drei bis fünf Arbeitsplätze.
({5})
Wenn Sie uns nicht glauben, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU - die meisten glauben uns ja;
Herr Rüttgers, der den Saal verlassen hat, ist aufs Sünderbänkchen zu setzen -, dann glauben Sie Herrn Zimmermann, dem Chef vom DIW, der gesagt hat:
Die gezielte Einwanderungspolitik ist eine der wesentlichen Ursachen für den US-Wirtschaftsboom.
Amerika hat sich systematisch um die besten Leute in
der ganzen Welt gekümmert. Die Deutschen haben
das bisher nicht gemacht.
Das will diese Regierung ändern. Sie hat dabei die volle
Unterstützung meiner Fraktion.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael
Catenhusen.
Wolf-Michael Catenhusen, Parl. Staatssekretär bei
der Bundesministerin für Bildung und Forschung. Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, dass
diese Debatte durchaus ihr Gutes hat; denn nur Unbelehrbare wie der wahlkämpfende Jürgen Rüttgers leugnen
noch heute, dass Deutschland gut beraten ist, für die
nächsten Jahre hoch qualifizierte IT-Fachkräfte, die weltweit gesucht und umworben werden, für eine Arbeit in
Deutschland zu gewinnen.
({0})
Das ist ein Stück der neuen Wirklichkeit, die die Globalisierung und die Wissensgesellschaft weltweit geschaffen haben. Die Zahlen für Amerika besagen, dass allein dort bis Januar nächsten Jahres 1,6 Millionen neue
Jobmöglichkeiten entstehen werden. 850 000 davon werden nicht besetzt werden können.
Das Problem, über das wir reden und auf das wir eine
schnelle Antwort finden müssen, hat sich nicht erst gestern
ergeben. Die Wirtschaft in Deutschland hat - das ist keine
Frage - bis Mitte der 90er-Jahre die Dynamik von Internet und Multimedia sträflich unterschätzt. Sie trägt durchaus Verantwortung für den geringen Anteil junger Menschen, die sich in diesen Jahren für ein Studium der Informatik entschieden haben. Sie ist für die geringe Zahl von
Absolventen, also hoch qualifizierter junger Menschen, in
diesem Bereich mitverantwortlich.
Vergessen wir aber nicht, dass schon 1997, vor drei Jahren, die Wirtschaft auf der CeBIT vor einem Fachkräftemangel im IT-Bereich gewarnt hat. Herr Kohl und Herr
Rüttgers umgaben sich von 1994 an mit einem hochrangig
besetzten Technologierat. Dort wurde natürlich auch über
die Informationsgesellschaft gesprochen; aber der Fachkräftemangel, vor allem bei Spitzenkräften - dem heute
dringlichsten Engpass auf unserem Weg in die
Informations- und Wissensgesellschaft -, kam in dieser
illustren Runde bis 1998 nicht auf die Tagesordnung.
Es ist kein Wunder, dass auch die Kürzung des Bildungs- und Forschungshaushaltes des Bundes um
700 Millionen DM von 1994 bis 1998 zu dieser Misere
beigetragen hat. Ich darf darauf hinweisen, dass in derselben Zeit, in der Herr Rüttgers seinen Haushalt um
11,2 Prozent gekürzt hat, Nordrhein-Westfalen seine Ausgaben für Bildung und Wissenschaft um über 27 Prozent,
von 22 Milliarden DM auf 28 Milliarden DM, gesteigert
hat.
Wäre Herr Beckstein noch da, sollte man ihm sagen,
dass die Zahl der Studierenden in Nordrhein-Westfalen
höherals inBayernundBaden-Württembergzusammenist.
({1})
Das zum Thema „Bildungsmarkt Deutschland“.
Die Bundesregierung hat nach der Wahl schnell gehandelt. Wir haben das Thema Fachkräfte vielfältig auf die Tagesordnung gesetzt: im Bündnis für Arbeit, im Ingenieurdialog, in der Initiative „D 21“.
Man hat heute wieder gemerkt, wie Herr Rüttgers argumentiert: Er unterschlägt natürlich, dass die Wirtschaft
in der Vereinbarung über die Erteilung von Arbeitsgenehmigungen zugleich Verpflichtungen eingegangen ist. Insgesamt 60 000 neue Ausbildungsplätze im IT-Bereich - im
dualen System - sind das Ergebnis unserer Politik für die
Kinder und für die jungen Menschen in unserem Lande.
({2})
Wir haben im Herbst ein Aktionsprogramm zur Entwicklung der Informationsgesellschaft aufgelegt, in dem
die Bundesregierung jährlich 1,1 Milliarden DM für diese Zwecke bereitstellt. Herr Rüttgers hat seinerzeit ein
symbolisch nettes Produkt in die Welt gesetzt, die Aktion
„Schule ans Netz“. Sie war sicherlich gut gemeint; aber im
Nachhinein muss man sagen: In drei Jahren insgesamt
60 Millionen DM für diesen Zweck zu mobilisieren war
der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.
({3})
Was Rüttgers und die alte Regierung nicht zustande bekommen haben, ist vor allem das, was wir jetzt schaffen,
nämlich ein strategisches Bündnis der Bundesregierung
mit der gesamten informationstechnischen Wirtschaft, indem wir miteinander vereinbaren, dass bis zum nächsten
Jahr jede Schule in der Bundesrepublik am Netz ist,
({4})
indem wir vereinbaren, dass bis 2004 40 Prozent der Bevölkerung in unserem Land ans Netz kommen. Die Tarife
bewegen sich, „flat rates“ werden möglich. Das sind alles
Dinge, über die die alte Regierung natürlich auch deshalb
nicht nachdenken konnte, weil Ihr Zukunftsminister weder Kenntnisse vom Computer noch vom Internet hatte.
({5})
Das merkt man bis heute in seinen Diskussionsbeiträgen zu diesem Thema. Als Frau Bulmahn und ich ins Ministerium einzogen und unsere erste Frage war, wo eigentlich unser PC sei, wo unser Laptop für unsere Arbeit
sei, haben wir erstaunte Blicke der Mitarbeiter sehen müssen. Das war doch interessant. Nun muss ich zugeben: Die
Rohrpost, die es im Bundeskanzleramt gab, gab es im Forschungsministerium immerhin schon nicht mehr.
({6})
Meine Damen und Herren, ich denke, die Union hat in
den letzten Monaten und Wochen einen Lernprozess
durchgemacht. Am Anfang standen sehr kritische Fragen,
es gab auch fundamentale schroffe Ablehnung. Es gab
auch kritische Fragen aus den Gewerkschaften - keine
Frage.
Aber man kann doch feststellen: Am 28. Februar lehnte Edmund Stoiber - so dpa - die Green Card für ausländische Computerexperten strikt ab. Herr Beckstein tönte
damals - nicht heute -: unverantwortlich. Überstürzt und
konzeptionslos war doch nicht unsere Politik, sondern Ihre Reaktion. Am 15. März - man höre und staune - begrüßte Edmund Stoiber in der „Süddeutschen Zeitung“
mittlerweile schon die Green Card als Schritt in die richtige Richtung.
Diesen Lernprozess begrüßen wir sehr, wir begrüßen
auch den Sinneswandel von Frau Merkel, die am Montag
dieser Woche erklärt hat, die CDU habe keine grundsätzlichen Einwände gegen diese Aktion. Sicherlich ist Ihr
Schatzmeister Cartellieri, der nach eigenem Bekunden den
Bundeskanzler nachdrücklich zu diesem Schritt gedrängt
hat, ja aufgefordert hat, in dieser Frage ein hilfreicher Berater gewesen.
Man stellt sich doch die Frage, für wen Herr Rüttgers
heute eigentlich geredet hat. Der Eindruck entsteht doch:
Die Spitze der Union ist längst eines Besseren belehrt
worden. Sie weiß, dass sie Herrn Rüttgers bis zum 14. Mai
aussitzen muss, und Sie von der Union, die Sie heute geklatscht haben, sind doch selbst zum großen Teil der Überzeugung, dass es auch für Sie gut ist, dass diese elende Diskussion und Kampagne mit der Wahlniederlage von Herrn
Rüttgers am 14. Mai ein Ende finden werden.
({7})
Die letzte Ohrfeige hat Herr Kollege Rüttgers gestern
bekommen. Die Industrie- und Handelskammer in Köln aus seiner Gegend - hat nachdrücklich die Initiative der
Bundesregierung unterstützt. Eine für ihn peinlichere Reaktion kann Herr Rüttgers - so glaube ich - nicht erleben.
({8})
Ich will noch zu einer weiteren Polemik von Herrn
Rüttgers Stellung nehmen. Es ist schon ein starkes Stück,
wenn im Wissenschaftsministerium in Düsseldorf am
6. April ein Antrag auf einen gemeinsamen Bildungsgang
von deutschen, niederländischen und belgischen Personen
eingeht und Herr Rüttgers hier in anmaßender Weise beklagt, dass diesem Antrag noch nicht entsprochen worden
ist. Soll man das wirklich ernst nehmen?
({9})
Zum Thema Lohndumping. Es steht doch fest, dass für
50 Prozent der Arbeitsplätze im IT-Bereich im engeren
Sinne Leute mit Hochschulqualifikation erforderlich sind.
Wir brauchen hier viel stärker als in anderen Bereichen einen starken Anteil hoch qualifizierter Arbeitskräfte. Unser
Problem ist, dass unter den über 30 000 IT-Fachkräften nur
sechs Prozent mit Hochschulabschluss sind. Im Kern haben wir in Deutschland 2 400 arbeitslose Informatiker.
Deshalb ist klar: Wir brauchen mehr Jugendliche, die hier
eine Berufsausbildung beginnen, wir können über jeden
froh sein, der in den nächsten Jahren einen Abschluss in
einem IT-Beruf macht. Jeder junge Student, der jetzt seinen Abschluss macht, wird doch zum Teil schon vor Ende
des Studiums weggekauft und diejenigen, die jetzt mit
Hilfe der Bundesanstalt für Arbeit umgeschult werden,
haben eine gute berufliche Perspektive. Aber das reicht in
den nächsten drei bis fünf Jahren nicht.
Herr Kollege
Catenhusen, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Luft?
Bitte.
Herr Kollege Catenhusen, Sie
haben eben betont, dass es in der IT-Branche vor allem
Menschen mit Hochschulabschluss geben müsse. Was sagen Sie denn zu der Feststellung des SPD-Fraktionschefs,
die in der „FAZ“ vom 13. April wiedergegeben wird? Er
soll gesagt haben, die SPD-Fraktion lege auch keinen allzu großen Wert auf formale Hochschulabschlüsse, sondern
neben der Orientierung an formalen Hochschulabschlüssen allein, wie sie im Entwurf von Arbeitsminister Riester
zunächst vorgesehen sei, werde daran gedacht, sich an den
gezahlten Gehältern für Fachleute aus dem Nicht-EURaum zu orientieren. Diese liegen ja wohl nicht sehr hoch.
Der
Teufel liegt immer im Detail, Frau Luft.
Übrigens ist meine Prognose ganz klar: Es werden nicht
hauptsächlich Inder sein, sondern zu uns werden vor allem
hoch qualifizierte Experten aus dem osteuropäischen
Raum kommen. Das weiß doch jeder.
({0})
Die „Inder-Debatte“ von Herrn Rüttgers ist auch in dieser Hinsicht völlig verlogen, weil er den Eindruck erweckt,
als ob wir die Inder deshalb holten, weil sie Hindus sind,
und wir uns neben den Problemen mit der islamischen
Minderheit noch ein weiteres Problem mit einer Hindu-Minderheit aufhalsen wollten. Diese Art von
Demagogie, die Herr Rüttgers hier vollzieht, kann ich nur
folgendermaßen charakterisieren: Er ist kein Haider, aber
er zündelt mit Haider-Methoden, weil er weiß, dass er auf
andere Weise keine Chance mehr hat.
({1})
Nun zur Antwort auf Ihre Frage, Frau Luft: Das Problem ist, wir müssen im Zusammenhang mit der Anerkennung von weltweit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen prüfen, ob auf unbürokratischem Weg schnell
geklärt werden kann, was das Hochschuldiplom aus Bangladesch oder woher auch sonst wert ist. Wenn wir da auf
bürokratische Hürden stoßen, haben wir eine andere Option zur Verfügung, nämlich über Einkommenshöhen auf
dem Arbeitsmarkt das Qualifikationsniveau festzulegen.
Das ist kein Gegensatz, sondern das sind Alternativen.
Hier besteht Klärungsbedarf.
({2})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch eines deutlich
machen: Die Debatte um eine befristete Arbeitserlaubnis
für hoch spezialisierte Arbeitskräfte lenkt unseren Blick
darauf, dass wir für die Sicherung unserer wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Zukunft immer stärker auch auf
Fachkräfte aus anderen Ländern angewiesen sein werden.
Im Zeitalter der Globalisierung und der Wissensgesellschaft agieren nicht nur Konzerne global, sondern es ist
auch längst ein globaler Arbeitsmarkt von Experten
entstanden, um die sich im Wettbewerb vor allem die
Industriestaaten bemühen. Wenn in Indien ein Bildungssystem existiert, das weit über den Bedarf hinaus hoch
qualifizierte Experten ausbildet und ein Teil dieser
Menschen aus guten Gründen, übrigens auch unterstützt
von der eigenen Regierung, auf diesen globalen Arbeitsmarkt drängt, dann ist die klassische Diskussion, zum Beispiel um Braindrain wie in den 70er-Jahren, hier völlig
fehl am Platze.
({3})
Indien profitiert davon, dass es eine starke Gruppe von
Indern gibt, die die Computerindustrie in Silicon Valley
mit aufgebaut haben.
({4})
Wir werden auf die Dauer davon profitieren, dass in unseren Unternehmen hoch qualifizierte Spezialisten arbeiten,
die anschließend in ihren eigenen Ländern unsere Geschäftspartner werden.
({5})
Deshalb mein letzter Satz. Wir wissen alle, dass wir hier
über eine sensible Frage reden. Wir brauchen in dieser Frage eine Koalition der Vernunft, um gemeinsam durch
Aufklärung das gesellschaftliche Klima weiterzuentwickeln, Ängsten zu begegnen und auch den jungen Menschen die Zukunftschancen, die sich für sie damit ergeben,
deutlich zu machen. Wir müssen behutsam Schritt für
Schritt gehen. Eines geht allerdings nicht: mutigere Schritte auf dem Gebiet der Einwanderungspolitik zu fordern
und zugleich bei passender Gelegenheit schamlos Ängste
zu schüren, parteipolitisch zu instrumentalisieren und auszuschlachten.
({6})
Sie, meine Damen und Herren von der Union, haben es
jetzt selbst in der Hand, ob Sie Teil einer Koalition der Vernunft
({7})
zusammen mit Wirtschaft, Gewerkschaft und Kirchen und
den anderen Parteien in diesem Hause werden wollen und
können.
Herr Kollege
Catenhusen, der Satz ist wirklich reichlich lang.
Ich denke, die Chancen werden nach der Wahlniederlage von
Herrn Rüttgers besser sein als vorher.
Danke schön.
({0})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Doris Barnett für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich müsste ich die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion fragen, ob sie
ganz sicher sind, dass ihr Antrag jetzt von allen bei ihnen
geteilt wird, oder ob er vielmehr nur eine Mehrheits- oder
Minderheitsmeinung beinhaltet; denn täglich lesen wir in
der Presse Stellungnahmen von nicht ganz unbedeutenden
CDU-Leuten, die mal für, mal halbherzig gegen das Sofortprogramm der Bundesregierung sind, mal differenziert
und mal plump argumentieren. Was Sie da treiben, nennt
man einen Schlingerkurs. Dafür verliert ein Autofahrer
seinen Führerschein.
({0})
Einen „politischen“ Führerschein werden Sie weder mit
Ihrem Kurs noch mit Ihrem Antrag machen können. Deshalb meine gut gemeinte Anregung an Sie: Reden und
schreiben Sie nicht wider besseres Wissen dauernd so, als
ginge es bei der Frage bezüglich der IT-Spezialisten um einen Gegensatz! Das ist nämlich nicht der Fall; denn das
Sofortprogramm, das die Bundesregierung mit der Wirtschaft am 13. März vereinbart hat, enthält bereits deutliche Akzente für die Ausbildung unserer Jugendlichen und
für die Weiterbildung der Beschäftigten und der Arbeitslosen in unserem Lande. Es geht also nicht um die Green
Card - ich sollte vielleicht im CDU-Jargon besser sagen:
um die Inder Card - anstelle von Ausbildung oder Beschäftigung von weitergebildeten Arbeitslosen, sondern
um eine sinnvolle Verknüpfung.
({1})
Ihre Anträge zu den Punkten Ausbildung und Weiterbildung kommen zu einem reichlich späten Zeitpunkt.
Darüber hinaus richten sich diese Anträge an die falsche
Adresse. Sie dürfen nicht die jetzige Bundesregierung zum
Handeln auffordern, sondern Sie müssen sich selbst fragen, was Sie alles versäumt haben. Ich muss die Mitglieder der abgewählten Regierung daran erinnern, dass wir in
der letzten Legislaturperiode in der Enquete-Kommission
„Informationsgesellschaft“ schon jede Menge Erkenntnisse gewonnen und Handlungsvorschläge entwickelt haben, die aber offenbar nicht in das Konzept des alten Zukunftsministers passten.
({2})
Die neue Bundesregierung, allen voran der Bundeskanzler, hat die Zeichen der Zeit erkannt. Mit dem Bündnis für Arbeit und mit unserem IT-Sofortprogramm haben
wir gehandelt. Wir führen jetzt endlich eine bildungspolitische Debatte, wie wir in unserem Land junge Schulabgänger für die richtige Qualifikation gewinnen können
({3})
und wie wir die Einsicht in lebenslanges Lernen und Weiterbildung im Betrieb fördern, damit wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gar nicht erst über den
Umweg Arbeitslosigkeit in Weiterqualifizierungsmaßnahmen bringen müssen.
({4})
In den vier IT-Berufen werden schon jetzt im dualen
System - ich sage es ganz langsam zum Mitschreiben insgesamt 26 500 junge Menschen ausgebildet.
({5})
Alleine 1999 wurden insgesamt 12 837 neueAusbildungsverträge abgeschlossen.
({6})
Unser Ziel ist es, dass statt 40 000 im Jahre 2003
60 000 Ausbildungsverträge abgeschlossen werden. Dazu
muss die Wirtschaft ihre gegebene Zusage halten, entsprechende Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.
Wir werden die Unternehmen nicht aus der Pflicht zur betrieblichen Ausbildung entlassen. Gott sei Dank zeigen ja
die Tarifabschlüsse, dass der richtige Weg beschritten
wird.
Das Gleiche gilt für die Weiterbildung. Wenn schon in
einer Boombranche, in der die Halbwertszeit des Wissens
gerade einmal fünf Jahre beträgt, die Beschäftigungsaussichten so gut sind, wie sie uns die Wirtschaft prognostiziert, dann dürfen wir vonseiten der Politik auch erwarten,
dass hier eine Eigenanstrengung in Sachen Weiterbildung
erfolgt. In diesem Zusammenhang danke ich der F.D.P.,
dass sie uns mit ihrem Antrag in dieser Beziehung unterstützt.
Alle reden doch davon, dass unsere bundesrepublikanischen Schätze nicht im Boden liegen, sondern in den
Köpfen der Menschen schlummern. Also müssen wir diese Schätze auch heben und dürfen die Menschen nicht mit
40 Jahren in die Ecke stellen. Deshalb können wir auf die
älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - ich muss
fragen, was denn überhaupt „älter“ bedeutet und ab wann
man älter ist; wir alle sind wahrscheinlich zu alt - und auch
auf die älteren Arbeitslosen im Zuge dieser rasanten Entwicklung nicht verzichten.
Allerdings stehen und fallen die Beschäftigungschancen mit der Bereitschaft der Unternehmen, deren Wissen
up to date zu halten. Auch das ist Inhalt des Sofortprogramms, nämlich diese Menschen einzustellen und nicht
generell durch Jüngere oder durch Arbeitskräfte aus dem
Ausland zu ersetzen.
An dieser Stelle kann ich mir eine Bemerkung nicht
verkneifen: IT-Spezialisten, meine Herren, sind nicht ausschließlich männlichen Geschlechts.
({7})
Weil diese neuen Technologien gerade für Frauen Chancen für eine Neuverteilung ihrer Arbeitszeit, zum Beispiel
durch Telearbeit und durch Teilzeitarbeit, und für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf bieten, muss der
Frauenanteil bei der Ausbildung und Beschäftigung deutlich erhöht werden.
({8})
Nicht umsonst unternehmen wir auch bei der Änderung
des Bundeserziehungsgeldgesetzes Anstrengungen, Frauen - es dürfen auch Väter sein - während der ersten Lebensjahre der Kinder in großzügiger Weise Teilzeitarbeit
zu ermöglichen, damit sie, die Frauen, den Anschluss nicht
verlieren und die Unternehmen möglicherweise ihre besten Mitarbeiter.
({9})
Wir müssen jetzt alle dazu beitragen, dass unsere jungen Menschen Interesse an diesen zukunftsträchtigen Berufsfeldern haben. Deren Studienneigung können wir nur
dann erhöhen, wenn die jungen Menschen wissen, dass ihre Studienzeit gut angelegt ist und dass sie anschließend
auch Beschäftigung finden. Deshalb liegt es jetzt auch an
den nachfragenden Unternehmen, Signale zu geben: den
akuten Bedarf jetzt durch ausländische Spitzenkräfte zu
decken, aber bei der weiteren Planung auf heimische Kräfte zu setzen.
({10})
Bis dahin - ein Studium dauert nun einmal, selbst bei verkürzter Studienzeit, zwischen drei und fünf Jahren - sollten wir alle an einem Strang ziehen und sämtliche Möglichkeiten ausschöpfen: die Umqualifizierung von Arbeitslosen aus anderen, verwandten Fachrichtungen, die
Einstellung auch von älteren Arbeitslosen und die verstärkte Weiterbildung von allen Arbeitnehmern. Dies ist
nicht nur eine Aufgabe der Bundesanstalt, sondern eben
auch der Betriebe.
({11})
Zwar hat die Bundesanstalt hier gute Ergebnisse vorzuweisen - sie vermittelte je nach Region immerhin zwischen 70 und 100 Prozent der Weitergebildeten -, aber
Aus- und Weiterbildung können wir, auch wenn es jetzt
nur um den IT-Bereich geht, nicht generell der Bundesanstalt für Arbeit aufs Auge drücken.
Trotzdem stellen wir uns der Verantwortung für die arbeitslos Gemeldeten. Die Bundesanstalt für Arbeit wird ihre Weiterbildungsanstrengungen noch einmal verstärken.
Der Minister sagte es heute Morgen schon. Statt 35 000
Teilnehmern werden wir 40 000 Teilnehmer ins Programm
bringen. Das kostet natürlich auch etwas mehr. Ich bin gespannt, ob wir dafür Ihre Unterstützung bekommen.
({12})
Die Zukunft gewinnen wir nicht mit Nörgeln und Postkartenaktionen,
({13})
sondern mit Mut und dem Willen, Probleme jetzt schnell
und unbürokratisch zu lösen.
({14})
Die Bundesregierung handelt genau nach dieser Maxime,
während Sie von der Opposition - nicht alle - noch schlingern und vor lauter Übersteuern und Überfrachten plötzlich mit der ganz eng eingegrenzten IT-Spezialisten-Nachfrage in der Zuwanderungs- und Ausländerecke landen.
Das macht Sie nicht zukunftsfähig, sondern zu den Bedenkenträgern des Jahres.
Vielen Dank.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3012 und 14/3023 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Grundgesetzes ({1})
- Drucksache 14/282 ({2})
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Guido Westerwelle, Ulrich
Heinrich, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({3})
- Drucksache 14/207 ({4})
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dr. Ruth Fuchs, Kersten Naumann und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({5})
- Drucksache 14/279 ({6})
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({7})
- Drucksache 14/758 ({8})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({9})
- Drucksache 14/3165 Berichterstattung:
Abgeordnete Hermann Bachmaier
Rainer Funke
Sabine Jünger
Ich weise darauf hin, dass wir nachher über den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Änderung des
Grundgesetzes namentlich abstimmen werden. Es liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Kollege Hermann Bachmaier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Drei Worte sollen nach dem Willen der großen Mehrheit des Bundestages zum Schutz der
Tiere in die Verfassung aufgenommen werden. Darauf haben sich alle Fraktionen mit Ausnahme der CDU/CSU
verständigt. Der Bundestag beschäftigt sich heute nicht
zum ersten Mal mit diesem Anliegen. Schon in den letzten beiden Legislaturperioden haben sich Bundestag und
Bundesrat mit diesem wichtigen Gesetzgebungs- und Verfassungsanliegen auseinander gesetzt.
Seit Anfang 1999 liegen uns wiederum Gesetzentwürfe der einzelnen Fraktionen und des Bundesrates vor. Wir
halten es, wie es die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zum Ausdruck bringt, für sinnvoll, den
Schutz der Tiere als Staatsziel dem bereits im Jahre 1994
in die Verfassung aufgenommenen Staatsziel Umweltschutz anzufügen. Bei der abschließenden Entscheidung
des Bundestages nach den Beratungen der Verfassungskommission im Jahre 1994 ist eine Verankerung des Tierschutzes als Staatsziel im Grundgesetz am hartnäckigen
Widerstand von CDU/CSU gescheitert. Lediglich eine
wortreiche, aber letztlich unverbindliche Entschließung
wurde damals verabschiedet.
({0})
Deren Ziel war es, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu
streuen und zu verschleiern, dass zumindest die Führung
der Union einen verfassungsrechtlich legitimierten und
im Grundgesetz verankerten Tierschutz mit allen Mitteln
verhindern will.
({1})
Heute droht diesem für einen wirksamen Tierschutz
zentralen Anliegen wieder das gleiche Schicksal.
({2})
Mit zum Teil höchst widersprüchlichen Erklärungen haben die Verantwortlichen der Unionsfraktion gestern mitgeteilt, dass sich die größte Oppositionsfraktion auch heute weigern will, dem Tierschutz endlich seinen ihm angemessenen Platz in unserer Verfassung zuzuweisen.
({3})
Dabei wissen wir nicht zuletzt aus dem Brief, den Frau
Merkel noch am 4. Januar dieses Jahres an den Präsidenten des Deutschen Tierschutzbundes geschrieben hat, dass
es innerhalb der Union - und uns ist nicht entgangen: auch
innerhalb der CDU/CSU-Fraktion - unterschiedliche Auffassungen, wie es in dem Brief hieß, zur Aufnahme des
Tierschutzes als Staatsziel in das Grundgesetz gibt. Wir
wissen, dass es Angehörige Ihrer Fraktion gibt, die gern
zugestimmt hätten. Ich komme noch einmal darauf zurück.
Wir fragen uns natürlich, was die Fraktions- und Parteispitze der Union bewegt, so nachhaltigen Druck auch
auf diejenigen Abgeordneten der Union auszuüben, die
gern dem von uns vertretenen Anliegen zu der notwendigen Zweidrittelmehrheit im Bundestag verhelfen würden.
({4})
Die 1994 genährte Illusion, der verfassungsrechtliche
Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen umfasse
auch - wie es damals wörtlich hieß - „prinzipiell“ den
Tierschutz, ist mittlerweile längst widerlegt. Auf die drängenden Fragen, die sich bei unnötigen Tierversuchen,
quälenden Tiertransporten und im Bereich der Massentierhaltung stellen, gibt der verfassungsrechtliche Schutz
der natürlichen Lebensgrundlagen alleine keine Antwort.
({5})
Spätestens seit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Juni 1997 wissen wir expressis verbis, dass der Tierschutz in den oft schwierigen Abwägungsprozessen mit grundgesetzlich geschützten Belangen unter den Tisch fallen muss. Wenn aber der Tierschutz
endlich seine ihm angemessene Stellung innerhalb der
Werteordnung des Grundgesetzes erhält, werden Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichte dieses Anliegen schon
aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht außer Acht lassen können.
({6})
Das scheint wohl auch der wahre Grund für den hartnäckigen Widerstand zu sein, mit dem sich eine mächtige
Minderheit gegen die von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung gewünschte Verfassungsergänzung stemmt.
({7})
Dabei geht es nicht darum, den Tierschutz mit einem Vorrang vor anderen wichtigen Verfassungsgütern auszustatten. Es geht lediglich darum, dass der Tierschutz endlich
einen ihm angemessenen Platz in unserer Verfassung erhält, damit er nicht gegenüber anderen Belangen schon
von vornherein unter die Räder kommt.
({8})
Es reicht eben nicht aus, Herr Geis, in § 1 unseres
durchaus fortschrittlichen Tierschutzgesetzes festzulegen,
dass Tiere als Mitgeschöpfe geschützt sind und ihnen wie es so schön heißt - ohne vernünftigen Grund keine
Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden dürfen. Es reicht auch nicht aus, dass wir heute schon in acht
Landesverfassungen, unter anderem in Bayern und bald
auch in Baden-Württemberg, den Tierschutz als Staatsziel
verankert haben und dass wir schon vor zehn Jahren im
Bürgerlichen Gesetzbuch auf Anregung des damaligen
Vizepräsidentin Petra Bläss
Justizministers Engelhard festgelegt haben, dass Tiere
nicht als Sache anzusehen sind.
Wenn wir es mit einem wirksamen Tierschutz ernst
meinen und ihm auch seine Daseinsberechtigung im Konfliktfall nicht streitig machen wollen, muss er endlich als
Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen werden.
({9})
Denn in unserer Verfassung haben wir alle zentralen
Grundwerte und Grundüberzeugungen, die unsere Gesellschaft prägen, niedergelegt.
({10})
Nehmen wir den Tierschutz nicht endlich in die Verfassung auf, werden alle noch so schönen einfachgesetzlichen
Regelungen, Staatsziele in Landesverfassungen, Entschließungen des Bundestages und alle sonstigen vielfältigen Bekenntnisse und Sonntagsreden zum Tierschutz
letztlich doch Makulatur bleiben.
({11})
Vor knapp 30 Jahren wurde dem Bund durch eine Verfassungsänderung die Gesetzgebungskompetenz für den
Tierschutz übertragen, weil Bundestag und Bundesrat erkannt hatten, dass es sich um eine Aufgabe handelt, die einer bundesweiten Regelung bedarf.
Einerseits sind seitdem unser Wissen und unsere Erkenntnisse über die Leidens- und Empfindungsfähigkeit von
Tieren erheblich gewachsen. Andererseits werden wir aber
immer wieder Zeugen von geradezu barbarischen
Tiertransporten, unnötigen Tierversuchen oder anderen
Formen der Tierquälerei.
({12})
Wir Sozialdemokraten gehören nicht zu denjenigen, die
so tun, als ob wir diese ganzen Missstände durch die drei
Wörter beseitigen könnten, um die wir unsere Verfassung
in Art. 20 a gerne ergänzt hätten.
({13})
Wir wissen aber auch, dass es einen auf Dauer angelegten
und seine Wirkung stetig entfaltenden Tierschutz nicht geben wird, wenn sich unsere Verfassung bei diesem für eine humane Gesellschaft unverzichtbaren Anliegen in
Schweigen hüllt.
({14})
Sinn und Zweck von Staatszielen ist es nicht, die Welt
von heute auf morgen umzukrempeln. Ihr Ziel ist es,
Grundorientierungen zu geben und Wertmaßstäbe zu setzen, die bei der Gesetzgebung, in der Verwaltung und bei
den Entscheidungen der Gerichte zu berücksichtigen sind.
({15})
- Dann können Sie doch zustimmen, wenn Sie dem Verfassungsrang verleihen wollen, Herr Geis.
({16})
Aber vor dem entscheidenden Akt einer Verankerung in
der Verfassung schrecken Sie zurück. Das haben Sie bei
der ersten Lesung in einem Zwischenruf auch wunderschön zum Ausdruck gebracht. Lesen Sie einmal nach!
Dieser Zwischenruf ist entlarvend.
({17})
Es ergeben sich nicht selten Konflikte zwischen den
nicht immer leicht in Einklang zu bringenden Verfassungszielen. Aufgabe von Gesetzgebung, Verwaltung und
Justiz ist es aber, die oft unterschiedlichen Wertmaßstäbe
miteinander so in Einklang zu bringen, dass die einzelnen
in der Verfassung verankerten Zielsetzungen ihre jeweils
angemessene Berücksichtigung finden.
An die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion appellieren wir deshalb, frei und unabhängig, wie es
bei Verfassungsfragen so grundsätzlicher Bedeutung eigentlich selbstverständlich sein sollte, zu entscheiden. Ich
bin mir sicher und weiß es aus meiner langjährigen Beschäftigung mit diesem Vorhaben auch, dass es bei Ihnen
nicht wenige gibt, die einer Verankerung des Tierschutzes
als Staatsziel im Grundgesetz lieber heute als morgen zustimmen würden. Auch wenn wir nicht verkennen, dass
die Geschlossenheit einer Fraktion im parlamentarischen
Alltag von großer Bedeutung ist, sollte es entsprechend
der Tradition des Bundestages wenigstens bei wichtigen
Verfassungsfragen zu Entscheidungen kommen, die vorrangig an dem jeweils zur Entscheidung anstehenden Anliegen orientiert sind. Bei der Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz geht es nicht um Machtfragen zwischen Regierung und Opposition. Diesem Ziel sollten wir
uns alle unabhängig von unserem jeweiligen politischen
Standort verpflichtet fühlen.
({18})
Wer einen auf Dauer angelegten wirksamen Tierschutz
wirklich will, muss dafür auch die verfassungsrechtlichen
Voraussetzungen schaffen. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung. Diese Bitte richte ich besonders auch an die
Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion.
Herzlichen Dank.
({19})
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Norbert Röttgen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bevor ich zu der
sachlichen Auseinandersetzung in dieser Debatte komme,
liegt mir und liegt uns sehr daran zu betonen, worüber wir
heute nicht streiten. Wir streiten nicht über die Bedeutung
und den grundlegenden Stellenwert, den der Tierschutz in
unserer Gesellschaft hat.
({0})
Von niemandem, der Herz und Verstand hat, wird der
grundlegende Konsens in unserer Gesellschaft in Zweifel
gezogen. Das ist der Konsens, dass der Schutz der Tiere
ein essenzieller Bestandteil jeder humanen Gesellschaft
ist, dass die Anerkennung der Würde der Tiere zu den zivilisatorisch-kulturellen Elementen unserer Rechtsordnung zählt und dass wir Christen sagen, dass die Tiere Teil
der Schöpfung sind und daher eine eigene Würde haben,
der wir gerecht werden müssen.
({1})
Das ist die Wertschätzung, die wir als CDU/CSU dem
Tierschutz in der Gesellschaft einräumen, und zwar nicht
als Lippenbekenntnis. Dies ist für uns vielmehr die Grundlage einer aktiven konkreten Tierschutzpolitik, die die Vorgängerregierung, die im Ergebnis ein weltweit konkurrenzlos hohes Niveau des Tierschutzes vorweisen kann,
gerade in den letzten Jahren betrieben hat.
({2})
Ich betone das übrigens nicht deshalb, um hier rechthaberisch zu sein oder um zu bestreiten, dass es noch Defizite gibt. Die gibt es und die müssen wir abbauen. Ich betone dies, um klarzumachen, worüber wir heute streiten:
nicht über den Tierschutz, sondern darüber, welche Wege
geeignet sind, um in unserem Land den Tierschutz noch
weiter zu verbessern.
({3})
Das ist die Streitfrage.
Wir alle wissen, dass dieses Thema nicht nur eine Frage des Verstandes ist. Tierschutz ist auch etwas, was unser
Gefühl anspricht. Das ist nicht nur verständlich, sondern
es ist auch gut so, dass das Leiden der Tiere, das es gibt,
auch unser Gefühl anspricht. Aber das befreit uns nicht
von der Pflicht, unseren Verstand ganz nüchtern zu gebrauchen angesichts der Frage: Was können wir denn konkret und effektiv tun, damit es mehr Tierschutz gibt? Diese Frage müssen wir ganz nüchtern beantworten.
({4})
Nach den sehr langen Beratungen, nach der Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss und nach intensiven Gesprächen sind es im Kern zwei Gründe, warum wir
sicher sein können, dass mit einer Staatszielbestimmung
kein Beitrag zu einem effektiven Tierschutz geleistet wird.
Der erste Grund ist: Wir müssen - auch nach der Sachverständigenanhörung - zur Kenntnis nehmen, dass eine
Staatszielbestimmung in ihrer Allgemeinheit, in der
Weite ihrer Formulierung ungeeignet ist, konkreten Tierschutz herbeizuführen. Tierschutz ist entweder konkret
oder er ist gar nichts.
({5})
Durch ein im Grundgesetz verankertes Staatsziel Tierschutz wird die Käfigfläche einer Legehenne nicht um einen Quadratzentimeter größer.
({6})
Hier könnten Sie handeln. Es gibt in diesem Bereich zwar
EU-Regelungen, aber die legen nur Mindeststandards
fest. Sie könnten hier mehr tun. Da wo die Bundesregierung etwas verändern könnte, da handelt sie nicht. Sie tut
nichts Konkretes für den Tierschutz. Sie flüchtet sich
vielmehr in nebulöse Aktionen.
({7})
Wir werfen der Bundesregierung vor, dass sie sich ein
tierschutzpolitisches Alibi erarbeiten möchte. Die Bilanz
der Regierung im Tierschutz ist null. Sie hat noch nichts
geleistet. Machen Sie keine großen Worte, sondern handeln Sie konkret dort, wo Sie können! Ändern Sie zum
Beispiel die Hennenhaltungsverordnung. Das müssen Sie
tun, wenn Sie etwas erreichen wollen.
({8})
Der zweite Grund ist: Tierschutz ist heutzutage nicht
mehr national, sondern nur noch europäisch und international machbar
({9})
- genau -, und zwar in zweifacher Hinsicht: Erstens ist der
Tierschutz bereits heute Gegenstand der europäischen Gesetzgebung. Es ist nicht mehr so wichtig, was in dieser
Hinsicht in den nationalen Verfassungen steht. Vielmehr
ist entscheidend, was in der entsprechenden europäischen
Richtlinie dazu steht. Darum hat sich Ihre Vorgängerregierung unter dem Bundeslandwirtschaftsminister Jochen
Borchert dafür eingesetzt, dass der Tierschutz im EGRecht verankert wird. Er hat dabei enorme Fortschritte erzielt.
({10})
Die frühere Bundesregierung war dafür, den Tierschutz
im EG-Vertrag zu verankern. Wir haben uns nicht durchsetzen können, weil es in Europa kulturelle Unterschiede
gibt. Aber wir haben eine verbindliche Protokollerklärung
erreicht. Diese europarechtliche Anerkennung des Tierschutzes ist mehr, als Sie jemals für den Tierschutz getan
haben.
({11})
Wir würden uns freuen, wenn die jetzige Bundesregierung ähnliche Aktivitäten in Europa unternehmen würde,
wenn sie so wie wir auf europäischer Ebene für den
Tierschutz kämpfen und hier nicht nur billige Reden halten würde.
({12})
Da müssen Sie handeln. Da wo Sie handeln könnten, tun
Sie aber nichts.
Die Strategie der Durchsetzung unserer hohen nationalen Standards auf europäischer und internationaler Ebene
ist auch deshalb zur Herbeiführung eines effektiven Tierschutzes erforderlich,
({13})
weil die betroffenen Einrichtungen und Betriebe unser
Land verlassen werden, wenn wir nur national die Standards erhöhen. Diese Gefahr müssen wir sehen.
({14})
Das ethische Dilemma höherer nationaler Standards im
Tierschutz ist, dass es im Ergebnis möglicherweise zu weniger Tierschutz kommt, weil die Tierversuche dann in anderen Ländern durchgeführt werden. Diesem Dilemma
muss sich jeder stellen. Darum müssen wir auf europäischer Ebene handeln, da wird die entscheidende Schlacht
geschlagen.
({15})
All das, was ich bisher gesagt habe, trifft auch auf die
Problematik der Tierversuche zu. Tierversuche sind weitgehend international geregelt. Wir haben europa- und
weltweit die schärfsten Bestimmungen.
({16})
Danach sind Tierversuche nur zu bestimmten Zwecken erlaubt. Neben der Grundlagenforschung geht es im Kern
um den Schutz der menschlichen Gesundheit.
({17})
Zwei Drittel unserer Bevölkerung sagen: Unter den geltenden engen Restriktionen, also nur zu den genannten
Zwecken und wenn der Tierversuch wissenschaftlich nicht
zu ersetzen und darüber hinaus ethisch vertretbar ist - das
sind die engen, weltweit einmaligen Voraussetzungen für
Tierversuche -, und in Abwägung der Sachverhalte sind
wir für Tierversuche.
({18})
Meine Damen und Herren, wir werfen Ihnen nicht nur
vor, dass das Projekt, das Sie propagieren, wirkungslos ist,
weil es keinen konkreten Tierschutz beinhaltet. Besonders
ärgerlich ist vielmehr, dass Sie den Menschen etwas vormachen.
({19})
Mit diesem Vorhaben wird den Bürgern in unserem Lande suggeriert: Wenn wir den Tierschutz in die Verfassung
aufnehmen, haben wir einen enormen Fortschritt gemacht.
Genau das aber ist nicht der Fall. Sie machen den Menschen etwas vor. Das ist kein verantwortlicher Umgang
mit den Bürgern in unserem Land, kein verantwortlicher
Umgang mit dem Anliegen des Tierschutzes - Sie erarbeiten sich nur ein tierschutzpolitisches Alibi, nehmen den
Druck vom Thema Tierschutz - und auch kein verantwortlicher Umgang mit der Verfassung unseres Landes.
Dies ist der letzte Gesichtspunkt, den ich anführen
möchte: Unsere Verfassung lebt von ihrer konkreten Verbindlichkeit. Es ist kein Zufall, dass die Mütter und Väter
des Grundgesetzes weitgehend keine Staatsziele vorgesehen haben, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen.
Sie wollten eine konkrete Verfassung,
({20})
keine Verfassung, die Programme beinhaltet, die viele
Worte macht.
Herr Kollege Röttgen,
ich muss Sie an Ihren eigenen Satz erinnern. Ich bitte Sie,
zum Schluss zu kommen.
Ich komme zum
Schluss.
Diese Verbindlichkeit, diese Wertschätzung unserer
Verfassung wollen wir erhalten. Wir wollen die Verfassung
nicht mit Programmsätzen beladen, von denen die Bürger
enttäuscht sein müssen. Wir treten weiter für die ethische
Dimension des Tierschutzes und für eine konkrete, aktive
Tierschutzpolitik ein.
({0})
Führen Sie die Politik Ihrer Vorgängerregierung weiter!
Dann machen Sie sich auch um den Tierschutz in unserem
Land verdient.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Ulrike
Höfken.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Rede des Kollegen Röttgen ist tatsächlich kaum fassbar - verlogen und
widersprüchlich bis ins Letzte.
({0})
Hier wird - und das von einem Juristen - die Verbindlichkeit der Verfassung eingeklagt. Greifen wir einmal
einige Artikel heraus, zum Beispiel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und „Männer und Frauen sind
gleichberechtigt“. Sind das etwa rechtliche Grundlagen,
die eine Verbindlichkeit beinhalten? Kann die Würde des
Menschen im Einzelfall nicht verletzt werden? All dies hat
doch zum Ziel, eine bestimmte ethische Grundhaltung
auszudrücken und einfach gesetzliche Bestimmungen zur
Geltung zu bringen.
({1})
Genau das soll durch die Aufnahme des Tierschutzes in die
Verfassung erreicht werden. Sie wissen es doch ganz genau: Nur darum geht es. Es ist nicht von einer Erhöhung
der Standards die Rede.
Ich fand es im Übrigen interessant, dass Sie gesagt haben, höhere Standards könnten das ethische Gleichgewicht
der Bevölkerung möglicherweise durcheinander bringen.
Oder wie haben Sie es verstehen wollen?
({2})
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.
An unseren Landwirtschaftsminister gerichtet fordern
Sie in einem Entschließungsantrag die höheren nationalen Standards. Gleichzeitig aber sagen Sie, dass dies die
europäische und die sonstige Rechtsprechung erheblich
durcheinander bringen könnte, und das noch eingedenk
der Tatsache, dass die Verfassungsänderung das überhaupt
nicht bewirkt.
({3})
Die Widersprüchlichkeit bezieht sich nicht nur auf Ihre Äußerungen zu dem Vorhaben, diese drei Worte in der
Verfassung zu ändern, sondern auch ganz konkret und direkt auf die Aussagen von nicht unbedeutenden
Persönlichkeiten Ihrer eigenen Partei. Sie animieren mich
dazu, einen Brief von Dr. Jürgen Rüttgers an den Tierschutzbund vorzulesen.
({4})
- Er hat sich versteckt. - Da heißt es:
Bei mir persönlich laufen Sie mit Ihrem Anliegen,
den Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz
aufzunehmen, offene Türen ein. Ich habe mich schon
früh dafür eingesetzt, dass die CDU ihre bisherige
Haltung in dieser Frage revidiert;
({5})
denn ich weiß, dass der Tierschutzgedanke bei vielen
Mitgliedern der CDU und Wählern hohe Wertschätzung genießt.
Der Landesvorstand der CDU-NRW hat 1999 einen
Beschluss gefasst, wonach das Staatsziel Tierschutz
in die Verfassung aufgenommen werden soll. Dieser
Beschluss sieht vor eine Ergänzung des Art. 20 a GG.
Der Artikel soll um den Passus „und die Tiere“ erweitert werden.
({6})
Das ist genau das, was wir Ihnen hier anbieten. Das heißt,
ein größeres Entgegenkommen bei all den Diskussionen
gibt es wahrhaftig nicht.
Übrigens kann man noch hinzufügen - Frau Wöhrl ist
auch da -: Am 24. März 2000 gab es im Bayerischen
Landtag einen Antrag der CSU zur Aufnahme des Tierschutzes in das Grundgesetz. In diesem sprach sie sich
ebenfalls für die Ergänzung des Art. 20 a des Grundgesetzes aus. - Das zu Ihrer Widersprüchlichkeit und Inkonsequenz.
({7})
- Jawohl.
Wider besseres Wissen und in Kenntnis der anders lautenden gerichtlichen Entscheidungen begründet die Union ihr Abstimmungsverhalten reichlich abstrus. Die alten
Begründungen zur Verfassungsdiskussion von 1994 haben
ganz klar zum Ausdruck gebracht, dass CDU und CSU das
Anliegen, den Tierschutz in die Verfassung aufzunehmen,
unterstützen. So hat es die CDU in ihrem Entschließungsantrag ausdrücklich festgehalten.
Genauso ist zu konstatieren, dass die gerichtlichen Urteile in den letzten sechs Jahren belegt haben, dass dieses,
Ihr ursprüngliches Anliegen nicht erfüllt ist. Es hat nach
der Änderung der Verfassung 1994, als der Tierschutz
nicht aufgenommen wurde, ein eindeutiges Urteil gegeben, in dem die Verfassungsrichter explizit gesagt haben:
Da der Tierschutz nicht in das Grundgesetz aufgenommen
worden ist, gibt es eine entsprechende Rechtsgrundlage
für die einfachgesetzliche Regelung des Tierschutzgesetzes nicht. Das ist Ihnen alles bekannt. Diese Verfassungsentscheidungen sind übrigens im Laufe der Jahre wiederholt und verfestigt worden. Das heißt, Ihre ursprüngliche
Absicht, den Tierschutz aufzunehmen, haben Sie nicht erfüllt. Das ist belegt.
Gleichzeitig begründen Sie einen Fraktionszwang damit,
({8})
dass Sie sagen - das hat Klaus Lippold, stellvertretender
Fraktionsvorsitzender am 12.April 2000 getan -, in Bezug
auf den Tierschutz werde keine Gewissensentscheidung,
sondern eine Sachentscheidung getroffen. Dazu muss man
sagen: Genau das ist der Geist der CDU. Es hat sich nichts
geändert, noch nicht einmal nach der Entscheidung von
1990, wonach Tiere eben keine Sache sind.
({9})
Insofern ist der Entschließungsantrag der CDU/CSUFraktion, der heute zur Abstimmung steht, geradezu
lächerlich.
({10})
Übrigens hat Ihr Kollege Christian Wulff im Hinblick
auf die europäische Dimension, die Sie einfordern und die
wir vollstens unterstützen und umsetzen, seine Auffassung, dass der Tierschutz in die Verfassung aufgenommen
werden sollte, damit begründet, dass Deutschland damit
effektiver für europäische Tierschutznormen eintreten
könne. Das ist eine berechtigte Einlassung.
({11})
CDU und CSU bleiben bei ihrer Betonpolitik und demontieren sich gleichzeitig selbst. Die große Mehrheit der
Bevölkerung, der Deutsche Bauernverband, die Bundestierärztekammer und viele unterschiedliche - prominente
und weniger prominente - Persönlichkeiten unterstützen
dagegen die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung
auch heute. Darunter sind so unterschiedliche Menschen das können Sie alles in der „Berliner Zeitung“ von heute
nachlesen; etliche, wenn auch natürlich nicht alle, unterstützen im Allgemeinen die CDU - wie die Schauspieler
Uschi Glas und Will Quadflieg, wie Reinhold Messner, der
Autor Franz Alt, die „Zeit“-Herausgeberin Dr. Marion
Gräfin Dönhoff, die Bischöfin Maria Jepsen, der Altbundestrainer Berti Vogts. Das heißt, die CDU entscheidet
sich mit ihrem Nein zur Verfassungsänderung dafür, sich
gegen die große Mehrheit der Bevölkerung zu stellen.
Und sie untergräbt mit ihrem Nein - das will ich noch
einmal betonen - zur Aufnahme des Tierschutzes in die
Verfassung die rechtlichen Grundlagen des geltenden Tierschutzgesetzes.
({12})
Die Betriebe und die Forschungseinrichtungen, die sich
bereits heute an das geltende Tierschutzgesetz halten - das
ist die absolut überwiegende Mehrzahl -, werden im Wettbewerb weiter benachteiligt. Sie müssen sich doch einmal
überlegen, wen Sie eigentlich schützen: ein paar Verrückte, die sich jenseits des Gesetzes stellen.
({13})
Genau das ist doch der Effekt Ihres Verhaltens.
({14})
Wir appellieren an die Abgeordneten der CDU/CSU,
trotz des anders lautenden Fraktionsbeschlusses der Änderung des Grundgesetzes zuzustimmen
({15})
und damit endlich dem zur Durchsetzung zu verhelfen,
was das Tierschutzgesetz schon immer fordert, nämlich
das Tier als Mitgeschöpf und als Lebewesen zu respektieren und als solches zu behandeln.
In der Debatte eben, in der Herr Rüttgers geredet hat,
war von der roten Karte die Rede.
({16})
Ich denke, jetzt ist es an der Zeit, dass die Bevölkerung der
CDU/CSU in diesem Punkt die rote Karte zeigt. Natürlich
werden wir im Übrigen die einfachgesetzlichen Möglichkeiten ausschöpfen und überprüfen. Für die rechtlichen
Konsequenzen sind dann Sie verantwortlich.
Als Letztes: Sie haben die rechtliche Verbindlichkeit
unserer Verfassung angesprochen. Acht Bundesländer haben bislang den Tierschutz in ihre Verfassung aufgenommen. NRW wird nach einer gescheiterten Abstimmung
dazukommen - so steht es im Koalitionsvertrag und das
hat man dort auch zugesichert -, genauso wie BadenWürttemberg. Das heißt, die Mehrheit der Länder hat eine Rechtsauffassung, die mit Ihrer Meinung auf Bundesebene überhaupt nicht mehr zu vereinbaren ist. Darum ist
es nicht das letzte Mal, dass wir uns über dieses Thema
hier unterhalten.
Danke schön.
({17})
Es spricht jetzt für die
F.D.P.-Fraktion der Kollege Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wäre schon schön, wenn wir am Ende dieser Debatte sagen könnten: Endlich, nach all den
Mühen, haben wir es geschafft, den Tierschutz im Grundgesetz zu verankern.
({0})
Denn kaum ein anderes verfassungsrechtliches Thema
berührt die Bevölkerung mehr als der Tierschutz. Das sieht
man an den zahlreichen Petitionen, wie ich aus persönlicher Erfahrung hinzufügen kann. Denn als ich in den 80erJahren vier Jahre lang Obmann im Petitionsausschuss war,
habe ich gemeinsam mit Frau Berger für die Verbesserung
des Tierschutzes gekämpft. Damals ging es um die Tiertransporte. Wir haben Erfolg gehabt.
({1})
- Das ist richtig, lieber Herr Geis. Aber auch an dieser Frage des allgemeinen Tierschutzes wird deutlich, dass eine
verfassungsrechtliche Absicherung erfolgen muss. Denn
die Bevölkerung erwartet, dass der Tierschutz einen höheren Rang bekommt, als er heute einnimmt.
({2})
Deswegen haben wir als F.D.P. - als erste Fraktion in
dieser Legislaturperiode - hier im Bundestag einen entsprechenden Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes eingebracht. In den Berichterstattergesprächen mit
den Koalitionsfraktionen haben wir einen gemeinsamen
und, wie ich finde, vernünftigen Weg gefunden, um den
Tierschutz in Art. 20 a des Grundgesetzes zu verankern
und den Tierschutz mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen gleichzustellen, was auch der Einstellung der Bevölkerung entspricht.
Die Mehrzahl der Menschen in unserem Land will nicht
nur die natürlichen Lebensgrundlagen schützen, sondern
hat ein besonderes Verhältnis zu den Tieren, die sie deshalb besonders geschützt sehen will. Wir sind als Juristen
und auch als Verfassungsrechtler aufgerufen, diesem Lebensgefühl der Menschen entsprechend zu handeln. Deswegen ist es richtig, den Schutz der Tiere als Staatsziel zu
postulieren,
({3})
sodass der Gesetzgeber, Gerichte und die Verwaltung bei
der Abwägung mit anderen verfassungsrechtlichen Zielen
das Staatsziel Tierschutz einzubeziehen haben.
({4})
Diese Regelung des Art. 20 a des Grundgesetzes müste
auch mit den Zielen der CDU, einer christlichen
Partei, übereinstimmen. Deswegen werbe ich hier noch
einmal dafür, sich nicht länger gegen die Aufnahme des
Tierschutzes in die Verfassung zu sträuben.
({5})
Geben Sie wenigstens die Abstimmung frei.
({6})
Denn viele in Ihrer Fraktion sind mit uns der Auffassung,
dass dieses Staatsziel ins Grundgesetz geschrieben werden
soll.
({7})
Wir wollen lediglich in unserem Grundgesetz etwas
dokumentieren, was für die allermeisten Menschen längst
tägliche Erfahrung ist: Tiere leben und bereichern unser
Leben, aber sie leiden auch. Beim Umgang mit Tieren ist
Menschlichkeit gefragt.
({8})
Die Art und Weise, wie man mit Tieren umgeht, sagt auch
etwas über die Lebenseinstellung einer Gesellschaft aus.
({9})
Diese offene Formulierung, die wir im Konsens mit den
Koalitionsparteien gefunden haben, ermöglicht es, die Belange und den Schutz der Tiere deutlich zu machen und so
einen Ausgleich zwischen berechtigten Interessen von
Menschen und Tieren zu erreichen. Diese Regelungen und
vorzunehmenden Abwägungen sind auch darauf gerichtet,
die berechtigten Interessen von Forschung und Lehre hinreichend zu berücksichtigen, wie das heute schon der Fall
ist.
Das Staatsziel Tierschutz wird insbesondere für den
einfachen Gesetzgeber ein Hinweis darauf sein, welchen
Rang der Tierschutz zukünftig einnehmen soll. Deshalb
kann ich überhaupt nicht verstehen, dass Kollegen unseres Hauses der vorgeschlagenen Kompromisslösung in
Art. 20 a des Grundgesetzes vielleicht nicht zustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat jetzt die
Kollegin Eva Bulling-Schröter für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zum
x-ten Male die Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz. Das ist ein Thema, das viele Gemüter bewegt und
von dem wir alle wissen, dass die Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung hinter dieser Forderung steht. Ich
hoffe, wir kommen doch noch zu einem guten Schluss.
({0})
- Wenn Sie etwas fragen möchten, können Sie sich melden.
({1})
Sie sehen: Ich bin immer noch eine Optimistin, obwohl ich
Ihren Antrag sehr schlecht finde.
Auch in der letzten Legislaturperiode wurde die Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz auf die Tagesordnung gesetzt. Die PDS hatte dazu einen eigenen Antrag
eingebracht. Doch die damalige Regierungskoalition verhinderte eine Abstimmung, um ihren Bundestagswahlkampf nicht mit diesem Thema zu belasten. Denn für die
Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz gab es damals keine Mehrheit in der Koalition. Seitens der
CDU/CSU gab es damals eine strikte Ablehnung. Man
wollte sichschließlichnichtdieWahlergebnissevermiesen.
Das hat nicht geklappt, meine Damen und Herren; natürlich auch aus anderen Gründen.
Ich wünsche Ihnen nach der heutigen Abstimmung, dass
auch die Wählerinnen und Wähler in Nordrhein-Westfalen
Ihr Wahlverhalten gebührend würdigen werden.
({2})
Wie sehr das Thema Tierschutz vielen Menschen am
Herzen liegt, zeigen die vielen Briefe, die wir gerade in
letzter Zeit wieder erhalten haben. Im Unterschied zu manchen anderen Protestaktionen waren es hier überwiegend
Bürgerinnen und Bürger und nicht nur Verbandsfunktionäre und Unternehmer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bilder von den
furchtbaren Tiertransporten, von Tierversuchen oder von
der Enge in den Legehennenbatterien erschüttern diese
Republik immer wieder.
({3})
Ich frage Sie: Was tun wir eigentlich dagegen, dass diese
Missstände endlich abgeschafft werden? Ein richtiger
Schritt wäre die Verankerung des Tierschutzes in Art.
20 a des Grundgesetzes. Die Freiheit von Forschung und
Wissenschaft muss endlich gegen den Tierschutz abgewogen werden können.
({4})
Alle, die mit diesem Thema zu tun haben, wissen, dass dieser Schritt einen Schwanz von Konsequenzen für die
Rechtsprechung nach sich ziehen würde, einen juristischen Schwanz, der den elenden Bedingungen bei Tiertransporten ein Ende bereiten und die Pharmariesen mit
ihren massenhaften und oft unnötigen Tierversuchen in die
Schranken weisen könnte.
({5})
Wenn ich mir den letzten Tierschutzbericht ansehe,
dann kann ich feststellen, dass Tierversuche wieder zunehmen, gerade an Primaten. Das heißt doch im Klartext:
Wir brauchen endlich die Grundgesetzänderung, damit
Unternehmen eben stärker nach alternativen Methoden
suchen, damit an Tieren nicht mehr so viel geforscht wird,
nur um eine Promotion zu schreiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dem Bundestag liegen heute eine Reihe von Anträgen vor. Auch die PDS hat
in dieser Legislaturperiode wieder einen Antrag eingebracht. Wir hoffen und wünschen, gemeinsam mit vielen
Tierschützern in der Bundesrepublik, dass sich die
CDU/CSU endlich an die Debatten der letzten fünf Jahre
erinnert und dem fraktionsübergreifenden Anliegen stattgibt.
({6})
Mit welcher Scheinheiligkeit sie aber im Moment in
dieser Frage agiert, wurde mir bei einer Podiumsdiskussion vorletzte Woche in Nordrhein-Westfalen klar. Der Vertreter der CDU-Landtagsfraktion führte aus, dass seine
Fraktion immer der Meinung war, es genüge, dass Art. 20a
Grundgesetz, also Schutz der Umwelt, den Tierschutz beinhalte. Das sei aber irgendwie falsch ausgelegt worden,
was nun auch irgendwie klar sei. Und die CDU müsse deshalb noch weiter beraten.
({7})
Ich halte diese Argumentation für absolut lächerlich. Denn
die Diskussion über diese Grundgesetzänderung geht
schon sehr, sehr lange.
({8})
Das Argument, dass dann Forschungsinstitutionen ins
Ausland abwandern würden, ist ein Totschlagargument,
welches immer wieder gebraucht wird und das immer
dann bedient wird, wenn es um Entscheidungen geht, die
von irgendeiner Seite nicht gewollt sind.
({9})
Gerade eine Forschung mit alternativen Methoden
könnte für die Bundesrepublik ein Standortvorteil sein,
weil sie Impulse für neue, intelligente Nachweisverfahren
und Tests gibt.
({10})
Sie würde auch den Druck von Studentinnen und Studenten nehmen, die sich weigern, an unsinnigen Tierversuchen teilzunehmen. Der Nachweis für Alternativmethoden, den diese jungen Leute laut Tierschutzgesetz leider
erbringen müssen, wäre dann einfacher zu beschaffen.
Mit einer Änderung des Grundgesetzes könnte sich
außerdem - nach Einschätzung von Tierschutzverbänden - die Hennenhaltungsverordnung in eine positive
Richtung verändern.
({11})
Denn die jetzt geplante Verordnung orientiert sich ausschließlich an EU-Normen. Das heißt, wichtige Aussagen
der Begründung des Bundesverfassungsgerichtsurteils zur
Hennenhaltungsverordnung wie die, dass Hühner scharren
und picken und die Möglichkeit haben müssen, im Sand
zu baden, werden im Referentenentwurf der Hennenhaltungsverordnung nicht gerecht. Nach diesem Entwurf
würden Hühner nach wie vor auf eine sehr kleine Fläche
gepfercht, und zwar nicht mehr auf ein DIN-A4-Blatt, nun
käme noch die Fläche eines Geldscheins hinzu. Ich finde,
das ist ein Skandal.
({12})
In der Anhörung wurde dazu übrigens klar und deutlich
von einigen Sachverständigen vorgebracht, dass der Entwurf dem Bundesverfassungsgerichtsurteil so nicht gerecht wird.
Herr Röttgen, Sie haben 16 Jahre lang Zeit gehabt, eine bessere Hennenhaltungsverordnung zu machen.
({13})
Sie haben es nicht gemacht. Dann polemisieren Sie doch
nicht hier.
Und letztlich ist mir auch nicht verständlich, warum die
CDU/CSU in verschiedenen Ländern den Tierschutz in
der jeweiligen Landesverfassung verankert hat, aber
dann, wenn es um eine Gesamtetablierung des Tierschutzes im Grundgesetz auf bundesweiter Ebene geht,
blockiert. In Bayern wurde er sogar über eine Volksabstimmung in die Verfassung gebracht.
({14})
Wie ich meine Bayern kenne, werden sie die Logik der
CSU an dieser Stelle für heuchlerisch halten. Ich fordere
Sie auf, meine Damen und Herren von der CDU/CSU:
Geben Sie Ihrem Herzen endlich einen Stoß und zeigen
Sie, dass der Begriff „Schutz der Schöpfung“ in Ihrer Partei ein Zuhause hat.
({15})
Wenn Sie das nicht tun, ist wieder einmal klar, welche
Lobbyinteressen Sie vertreten.
({16})
Das muss einmal so klar gesagt werden.
Mich würde sehr interessieren, was diejenigen Ihrer
Abgeordneten, die Mitglieder von Tierschutzverbänden
sind, dazu sagen werden. In Ihrer Partei gibt es sogar Mitglieder, die Vorsitzende von Tierschutzverbänden sind,
wie zum Beispiel Ihre Kollegin Dagmar Wöhrl, die aber
offensichtlich zu diesem Thema nicht reden darf.
({17})
Noch ein paar Worte zu Ihrem Antrag, in dem Sie ausführen, dass zur weiteren Verbesserung des Tierschutzes
konkrete Initiativen ergriffen werden sollen. Es ist doch in
diesem Hause mittlerweile klar, dass wir dies tun werden.
Ich frage Sie: Warum können Sie dann der Verankerung
des Tierschutzes im Grundgesetz nicht zustimmen? Des
Weiteren sind wir uns auch darüber einig, WTO-Verhandlungen in dieser Sache zu führen. Es gibt also keinen
Grund, warum Sie der Grundgesetzänderung nicht zustimmen könnten. Ich halte das für unsozial und unchristlich.
({18})
Das Wort hat die Kollegin Marianne Klappert, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kollegen und Kolleginnen! Herr Röttgen, ich habe vorhin
gedacht, dies sei Ihre neue Politik, die Sie jetzt - gerade in
Nordrhein-Westfalen - vertreten wollen, nämlich fest auf
dem gleichen Standpunkt wie 1994 zu bleiben. An Ihrer
Argumentation hat sich nichts, aber auch überhaupt nichts
verändert.
({0})
Wenn Sie uns vorwerfen, die von uns gestellte Bundesregierung habe in den letzten anderthalb Jahren nicht genug für den Tierschutz getan, dann schauen Sie doch einmal, was dieser Minister, der hier sitzt, in Europa erreicht
hat.
({1})
- Funke. Der Herr Minister Funke wird gleich zu diesem
Thema reden. Warten Sie ab. - Wenn Sie in Ihrer 16-jährigen Regierungszeit nur etwas davon erreicht hätten, was
sich in Europa in diesem Bereich getan hat, könnten Sie
stolz sein.
({2})
Herr Röttgen, wenn Sie behaupten, die SPD täusche die
Wähler, dann muss ich Ihnen sagen: Sie täuschen die
Wähler. Dies gilt insbesondere für Ihren Kollegen
Rüttgers. Ich habe in der Presse über einen Antrag von
Herrn Rüttgers gelesen, in dem er fordert, das Staatsziel
Tierschutz müsse kommen.
({3})
- Wieso? Diesen Antrag haben Sie doch gar nicht in die
Beratungen eingebracht.
({4})
Sie hätten ihn doch ganz offiziell einbringen können.
({5})
Wir haben doch jahrelang gestritten.
({6})
- Herr Geis, Sie haben doch in der letzten Debatte als Zwischenruf sehr deutlich gemacht, was Sie wirklich wollen.
Ich würde Ihnen einmal empfehlen, zu verhindern, dass
Herr Rüttgers zu Wahlkampfzeiten so etwas aus der Tasche zieht. Frau Merkel verspricht dem Deutschen Tierschutzbund, Ihre Partei werde auf dem Parteitag darüber
reden. Herr Rüttgers erhebt die Forderung, er wolle das
Staatsziel Tierschutz. Er nannte in der Presse keine Formulierung, aber ich kannte die Formulierung.
({7})
Darin liegt die Täuschung der Menschen in unserem Land,
die Sie betreiben.
Sie bringen heute einen Antrag ein, in welchem Sie
konkret eine Verbesserung des Tierschutzes fordern. Ich
habe heute gehört, wir brauchten das alles nicht. Wir haben - darüber sind wir uns alle einig - ein hervorragendes
Tierschutzgesetz. Aber, Herr Geis, es geht um die konkrete Abwägung, die Sie beispielsweise bei der Kunstfreiheit
oder der Forschungsfreiheit immer einfordern. Wenn ich
in der einen Waagschale eine einfachgesetzliche Regelung in Form eines guten Tierschutzgesetzes habe und mit
der Forschungsfreiheit in der anderen Waagschale dies alles abwäge, wiegt die letztere immer schwerer und gewinnt daher immer.
({8})
- Ja, aber dann wird abgewogen. Dann kann man sagen:
Wir haben unseren Teil dazu beigetragen. Was Sie in den
letzten Jahren den Menschen vorgemacht haben, ist wirklich ganz schlimm.
Wir reden immer über den Maßstab, an dem wir uns
selber messen wollen. Für mich ist die Frage - der Kollege Funke hat es eben angesprochen -, ob der Tierschutz in
der Verfassung verankert wird, eine Frage der Werte in unserer Gesellschaft.
({9})
- Stimmt, aber man sollte wenigstens anfangen, die Werte in der Verfassung zu verankern, hinter denen eine breite Mehrheit der Bevölkerung steht. Zwei Drittel stehen
hinter der Forderung, den Tierschutz im Grundgesetz zu
verankern. Es wäre gut, wenn auch Sie dabei wären.
({10})
Ich bleibe bei meiner Meinung: Der Tierschutz ist ein
Maßstab für den moralischen Standard unserer Gesellschaft.
({11})
Der Schutz leidensfähiger Tiere ist für den Menschen eine Verpflichtung. Weil ich und die SPD-Bundestagsfraktion diese Verpflichtung sehr ernst nehmen, bitten wir Sie
eindringlich, heute unserem Antrag und der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zuzustimmen.
({12})
- Ich möchte Ihnen an einem Gerichtsurteil deutlich machen, wie schwierig der Abwägungsprozess ist: Ein Künstler macht ein Happening. Er taucht einen Wellensittich in
Mayonnaise, um zu sehen, welche Spuren dieses Tier auf
dem Papier hinterlässt. Es wird vor Gericht klar festgestellt: Das ist ein Verstoß gegen das Tierschutzgesetz. Aber
der Richter kann den Künstler nicht verurteilen, weil es
Kunst war und die künstlerische Freiheit vorgeht. Sagen
Sie mir doch einmal, wie in einem solchen Fall vernünftig
abgewogen werden soll! Ich finde das schwierig.
({13})
- Das sagen Sie immer. Aber wir müssen auch für die entsprechende rechtliche Grundlage sorgen.
({14})
Ich möchte deutlich machen: In den letzten Jahren gab
es immer wieder Anhörungen, Podiumsdiskussionen und
Berichterstattergespräche über den Tierschutz. Die SPDBundestagsfraktion, Bündnis 90/Die Grünen, die F.D.P.
und auch die PDS haben sich bemüht, einen Konsens zu
finden, den Sie mitgehen können. Ich habe bislang immer
fest daran geglaubt, dass die Entscheidung über die Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel in die Verfassung eine Gewissensentscheidung ist. Gestern musste ich leider
feststellen, dass Ihnen die Fraktionsspitze konkrete Vorgaben macht, wie Sie hier abzustimmen haben.
({15})
- Dann frage ich zurück: Hat die Fraktionsspitze vielleicht
Angst, dass Ihre Kolleginnen und Kollegen nach ihrem
Gewissen entscheiden und sich damit „richtig“ entscheiden könnten? Oder gilt das Gewissen bei Ihnen nichts
mehr?
({16})
Ich bitte Sie sehr herzlich, den Kolleginnen und Kollegen
die Entscheidung freizustellen und ihnen den Rücken zu
stärken, damit wir endlich den Tierschutz als Staatsziel im
Grundgesetz aufnehmen können.
({17})
Ich möchte noch ein Wort zur Glaubwürdigkeit sagen,
weil diese während der gesamten Debatte immer wieder
eine Rolle gespielt hat. Ich glaube, dass Politik und Politiker bei der Entscheidung über die Frage, ob der Tierschutz als Staatsziel verankert werden soll, Glaubwürdigkeit zurückgewinnen können. Immer dann, wenn Tierschützer Politiker vor den Wahlen auf das Thema
Tierschutz ansprechen, wird dieses Thema sehr hoch
gehängt. Aber immer dann, Herr Geis, wenn es konkret
wird und darüber abgestimmt werden soll, sind die früheren Versprechen nicht mehr wahr.
({18})
Ich möchte die Kollegen daran erinnern, wie es vor
1998 war: Die SPD-Bundestagsfraktion hatte einen Entwurf zur Novellierung des Tierschutzgesetzes eingebracht,
ebenso Bündnis 90/Die Grünen. Die F.D.P. hatte teilweise eigene Vorstellungen. Auch als sie noch eine Regierungskoalition mit der CDU bildete, konnten wir gut mit
den F.D.P.-Abgeordneten reden. Schließlich standen Sie
vor der Frage: Wie viel Tierschutz wollen Sie denn wirklich? Wir mussten leider feststellen, dass erst auf Druck
der SPD-regierten Länder im Vermittlungsausschuss wenigstens teilweise mehr Tierschutz durchgesetzt werden
konnte, weil Ihre Fraktion blockiert hat.
({19})
Mit Ihrem Antrag, den Sie heute vorgelegt haben, täuschen und enttäuschen Sie die Menschen in unserem
Lande.
({20})
Nächster Redner ist
der Kollege Werner Lensing für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Meine Kollegen! Zu der
heute anstehenden, außerordentlich bedeutenden und folgenreichen Grundsatzentscheidung, den Tierschutz als
Staatsziel in unserer Verfassung zu verankern, möchte ich
in vier Punkten präzise und klar Stellung beziehen.
Punkt eins. Die bis in die 12. Legislaturperiode hineinreichende, tiefgründige Diskussion über eine Verankerung
des Staatsziels Tierschutz und auch die Aussprache am
heutigen Tage haben zu folgenden Erkenntnissen geführt:
Ein Staatsziel Tierschutz ist erstens für die Lösung der eigentlichen Probleme wirkungslos,
({0})
zweitens für die Verfassung wenig hilfreich und drittens
für die deutsche tierexperimentelle Forschung geradezu
gefahrvoll.
({1})
Über eines sollten wir uns über alle Fraktionsgrenzen
hinweg im Klaren sein: Die eigentlichen unerträglichen
Vergehen gegen Tiere werden mit einer verfassungsmäßigen Verankerung des Tierschutzes nicht einmal im Ansatz
bekämpft.
({2})
Punkt zwei. Die folgenreichste Wirkung einer Verankerung des Staatsziels Tierschutz liegt jedoch in einer unverhältnismäßig großen Benachteiligung der Forschung
und dies gilt angesichts der Tatsache, dass in keinem Land
der Welt Tierversuche einer so engen und lückenlosen
Kontrolle wie bei uns unterliegen. Deshalb ist aus der begründeten Sicht der Forschung eine Staatszielverankerung
geradezu kontraproduktiv. Warum? Wird doch von allen
großen Forschungsgesellschaften wiederholt und begründet festgestellt, dass ein Staatsziel Tierschutz unmittelbare und handfeste Auswirkungen auf sämtliche
Genehmigungsverfahren für die tierexperimentelle Forschung haben dürfte. Schließlich müsste die Rangfolge
zwischen dem Grundrecht der Forschungsfreiheit und
dem Staatsziel Tierschutz stets im Einzelfall festgestellt
werden.
Selbst wenn die zahllosen Verfahren und die Flut von
Musterprozessen im Endeffekt für die Wissenschaft positiv ausgehen würden, so entstünde mit einem heutigen Ja
zur Verankerung eine erhebliche mehrjährige Rechtsunsicherheit, die letztendlich zur Aufgabe von Forschungsvorhaben oder gar zu deren Verlagerung ins Ausland führen wird.
({3})
Frau Bulling-Schröter, das sind Fakten, die Sie gar nicht
bestreiten können.
Die Konsequenzen lägen dann auf der Hand: Absenkung des Niveaus tierexperimenteller Forschung, Behinderung internationaler Zusammenarbeit, Fehlen von Planungssicherheit bei Forschungsprojekten, Qualifikationsdefizite des wissenschaftlichen Nachwuchses und
schließlich auch Verschlechterung des Tierschutzes insgesamt.
Es dürfte uns nicht wundern, wenn unter einer solchen
forschungsfeindlichen Stimmung die Auslagerung von
Forschungskapazitäten ins Ausland stattfindet. Der damit
verbundene Schwund an Arbeitsplätzen für hoch qualifizierte Arbeitskräfte und die damit einhergehende Reduzierung von Berufschancen junger Wissenschaftler
führen - darüber müssen wir uns im Klaren sein - zu einem gefährlichen Teufelskreis.
Man kann nicht auf der einen Seite den Anschluss
Deutschlands an die Weltspitze bei den Biotechnologien
fordern, auf der anderen Seite aber immer wieder neue
Hemmnisse für die Forschung aufbauen.
({4})
Punkt drei. Zugegeben: Die Anzahl der für den Bereich
der Forschung getöteten Tiere mutet auf den ersten Blick
wie eine gewaltige und mahnende Phalanx an. Ich verstehe das sehr wohl. Doch entspricht die Zahl der für die tiermedizinische Forschung benötigten Tiere lediglich einem
1 000stel aller getöteten Tiere. Das ist für die Menschheit
vermutlich das wichtigste 1 000stel schlechthin.
({5})
Die anderen 99,9 Prozent werden geschlachtet und
anschließend verspeist, bei der Jagd erlegt oder beim Angeln geködert. Hierbei ist nicht einmal die riesige Zahl der
Tiere eingerechnet, die - dies geschieht viel zu häufig unter lang andauernden und qualvollen Bedingungen - in der
Schädlingsbekämpfung getötet oder in Tierasylen eingeschläfert werden. Wo bleibt denn hier der Aufschrei des
Entsetzens in all den Fraktionen, die heute für die Formulierung eines Staatsziels Tierschutz plädieren?
Allein die Tatsache, dass die Anzahl der Tierversuche
zurückgegangen ist, spricht eindeutig für das verantwortungsethisch geprägte Bemühen der Wissenschaft, wo immer möglich auf Ersatzmethoden auszuweichen und Versuchstiere nur noch dort zu verwenden, wo ihr Einsatz dies ist durch gesetzliche Vorgaben teilweise geregelt - unabänderlich ist.
Mein vierter Punkt. Bei aller Kritik gegenüber den Tierversuchen sollten wir auch diese Tatsache niemals übersehen - hier denke ich an Frau Höfken, Herrn Bachmaier
und auch an Herrn Funke -: Die meisten unserer
Mitbürgerinnen und Mitbürger verdanken häufig ihr Leben, ihre Gesundheit und die Aussicht auf eine lange Lebenszeit nicht zuletzt den modernen Verfahren einer naturwissenschaftlich fundierten Medizin.
({6})
Deren Geschichte wiederum lehrt uns, dass die Forschung
in der Gegenwart und in der Zukunft auf Tierversuche
nicht wird verzichten können.
Ich möchte noch ein Weiteres sagen, meine Damen und
Herren: Wenn wir die Tierversuche durch eine Staatszielverankerung weiter gefährden oder zumindest verlangsamen, dann müssen wir auch Folgendes zur Kenntnis nehmen. Wir verzichten dann zumindest weitgehend auf Antibiotika, auf Herz- und Kreislaufmittel, auf bestimmte
Narkoseverfahren, auf Operationstechniken.
Und auch dies sollten wir beachten: Die von Tierversuchsgegnern so vehement kritisierte Hirnforschung an
Primaten dient der Vermeidung der Lebensbedrohung von
Menschen, nicht der von Tieren; und sie dient erst recht
nicht der reinen und willkürlichen - wie man das hört Wissensbefriedigung des jeweiligen Forschers.
Wenn wir bei Versuchen - natürlich auf freiwilliger Basis - Menschen das zumuten, was wir wiederholt den Tieren nicht zumuten mögen, dann - so muss ich sagen - feiert der Wahnsinn einsame Triumphe.
Schließlich noch ein Gedanke, der mir besonders am
Herzen liegt: Wir haben zu beachten, dass wir uns in dieser Diskussion nicht von emotionalem Überschwang verleiten lassen dürfen in der Absicht, etwas vermeintlich
Gutes für den Tierschutz tun zu wollen. Wir dürfen kein
Sonderopfer für die Forschung bringen, das vielleicht den
Tieren nützt, den Menschen aber nicht. Wir dürfen die Verhältnismäßigkeit unserer Maßnahmen nicht aus den Augen
verlieren. Vielmehr sollte ein verantwortungsethisch motivierter, rationaler Diskurs im Mittelpunkt unserer Auseinandersetzung stehen.
Ich bitte Sie daher im Namen aller, die einen effektiven
Tierschutz - ich sage das sehr deutlich: einen effektiven
Tierschutz - fördern möchten, dem Entschließungsantrag
meiner Fraktion - gegebenenfalls mit innerem Jubel, weil
auf Sachverstand und Einsichtsfähigkeit basierend - zuzustimmen.
({7})
In diesem Sinne danke ich Ihnen.
({8})
Es ist zwar etwas ungewöhnlich, wenn die Präsidentin fragt, wer jetzt reden
möchte, aber da der Kollege Ströbele inzwischen eingetroffen ist, frage ich - - Aha, der Kollege Heinz Schmitt
hat jetzt für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es wurden heute nochmals
wichtige Gründe für eine Aufnahme des Tierschutzes ins
Grundgesetz genannt. Wir haben erneut auch die Argumente gegen die vorgebrachten Bedenken miteinander
erörtert.
Ich möchte hier auf den Einwand eingehen, eine solche
Grundgesetzänderung würde die Forschung in Deutschland beeinträchtigen. Niemand in diesem Hause beabsichtigt, Forschung zum Wohle des Menschen zu behindern oder gar einzuschränken dort, wo sie notwendig ist.
Es geht nicht um eine Aushebelung des § 7 des Tierschutzgesetzes, in dem die Zulässigkeit von Tierversuchen geregelt ist. Es geht schon gar nicht darum, Forscherinnen und Forscher aus dem Land zu treiben, wie Sie das,
Herr Röttgen und Herr Lensing, vorhin in Ihren rückwärts
gewandten Reden behauptet haben.
({0})
Das alles sind unzulässige und polemische Übertreibungen.
Was den Forschungsbereich betrifft, so möchte ich in
Erinnerung rufen, dass auch heute noch in Deutschland
jährlich ungefähr 1,5 Millionen Tiere zu Versuchszwecken
und bei der Entwicklung von Arzneimitteln und Kosmetika, bei der Grundlagenforschung, in der anatomischen
Ausbildung und auch für den Umweltschutz „verbraucht“
werden, wie es so makaber in den Berichten heißt.
Ich unterstelle keinem Wissenschaftler, dass er sich seiner Verantwortung nicht bewusst ist, was die Durchführung von Tierversuchen betrifft. Aber es lassen sich
auch Beispiele anführen, bei denen zweifelhafte
Tierversuche durchgesetzt wurden und werden, obwohl
Experten deren Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit verneint hatten. Mit der Aufnahme des Tierschutzes ins
Grundgesetz wollen wir erreichen, dass Tierschutz in einem solchen Fall der Abwägung von Rechtsgütern nicht
schon allein wegen seines fehlenden Verfassungsranges in
schöner Regelmäßigkeit hintenangestellt wird, etwa hinter der Freiheit der Forschung. Hier muss in Zukunft eine
objektivere Abwägung möglich sein.
Meine Damen und Herren, ich denke, es ist der Mühe
wert, dass wir die Zahl der Tierversuche auch in Zukunft
weiter senken; dies ist sicherlich auch möglich. Es ist uns
natürlich bewusst, dass in verschiedenen Forschungsbereichen, etwa der medizinischen Grundlagenforschung, noch
keine Alternativen zu Tierversuchen erkennbar sind. Es
gibt aber eine ganze Reihe von Beispielen für Ersatzmethoden, mit deren Hilfe zukünftig auf Tierversuche verzichtet werden könnte.
Es gibt große Fortschritte bei der Entwicklung von
Tests an Zell- und Gewebekulturen, die bereits auf ihre
Funktionalität geprüft und die anerkannt sind und die Tierversuche zunehmend ersetzen können und überflüssig machen können. Das Bundesministerium für Bildung und
Forschung unterstützt und fördert ja auch aktiv solche
Beiträge zur Streichung bzw. Reduktion der Zahl von
Tierversuchen. Heute können Sonnencremes oder hautreizende Chemikalien und die Wirkung von Medikamenten auch ohne Tierversuche im Reagenzglas oder durch
Computersimulation getestet werden. Wir sollten bei den
heutigen Beratungen auch nicht vergessen, dass wir mit
einer Stärkung des Tierschutzes dazu beitragen, dass solche Alternativmethoden schneller entwickelt und auch
schneller als Standards angenommen und eingerichtet
werden können.
Wenn wir es also mit der Verantwortung für das Mitgeschöpf Tier ernst meinen, müssen wir auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Tierversuche in der Forschung
allmählich entbehrlich werden und dass es weniger Qualen in den Versuchslabors gibt. Der vorliegende Gesetzentwurf der Koalition bietet eine für Wissenschaft und
Forschung verträgliche Lösung, da er Forschung unter
Verwendung von Tierversuchen auch dort weiterhin zulässt, wo sie notwendig ist.
Ich weiß, dass nicht nur die Bevölkerung und die Kolleginnen und Kollegen der Koalition dies so sehen, sondern dass die Notwendigkeit dieser Grundgesetzänderung
auch von einer Mehrheit dieses Hauses quer durch die
Fraktionen bejaht wird. Deshalb bitte ich Sie um eine Entscheidung, die Ihrem Gewissen entspricht. Ich bitte Sie um
Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf.
Danke schön.
({1})
Das Wort für die Fraktion der CDU/CSU hat jetzt der Kollege HeinrichWilhelm Ronsöhr.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wohl
kein anderer Berufszweig ist so eng mit Tieren verbunden
wie die Landwirtschaft. Im Zuge der Spezialisierung in
unserer Gesellschaft ist die Beziehung zwischen Mensch
und Tier nicht mehr wie in früheren Agrargesellschaften
Allgemeingut, sondern ist häufig vom Leben der Bevölkerung abgekoppelt. Dies führt manchmal dazu, dass in
der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit der landwirtschaftlichen Tierhaltung reflexartig Begriffe wie Massentierhaltung, Hochleistungszüchtung und dergleichen mehr
auftauchen. Wer auch nur ein wenig Einblick in die landwirtschaftliche Praxis hat, weiß um die Unsachlichkeit
solcher Bezeichnungen.
Ich bin dem Landwirtschaftsminister, Herrn Funke,
sehr dankbar, dass er auf der Grünen Woche in Berlin den
Begriff „Massentierhaltung“ sehr stark relativiert hat. Wer
nämlich das erste Tier falsch hält, der hält auch ein zweites und drittes Tier falsch. Wer aber das erste Tier richtig
hält, hält auch das hundertste oder zweihundertste Tier
richtig.
({0})
Wir müssen diese Debatte zum Anlass nehmen, um solche Diskussionen zu versachlichen; denn wir müssen uns
auch in der Diskussion um den Tierschutz das Verständnis
für die landwirtschaftliche Nutztierhaltung bewahren.
Es ist nicht nur die vermeintliche Schieflage des öffentlichen Bildes von der Landwirtschaft, dass ich heute diese
Debatte zum Anlass nehme, mich als Landwirt und Agrarpolitiker ausdrücklich für den Tierschutz auszusprechen.
Es ist für mich eine Selbstverständlichkeit, das Tier als
Mitgeschöpf zu achten.
({1})
Ich weiß als Landwirt, dass man von einem Tier die gewünschte Leistung nur erwarten kann, wenn man das Tier
gut und mithin auch tierschutzgerecht behandelt.
Die Landwirtschaft ist in unserer Gesellschaft mit Blick
auf die Nutztierhaltung gleichsam zum Dienstleister für
unsere Bevölkerung geworden. Aber die meisten Bürger
bringen diese Nutztierhaltung nur mit Endprodukten der
Landwirtschaft in Verbindung. So wissen die
meisten Verbraucher heute nicht mehr, woher ihre Nahrung kommt und wie sie erzeugt wird. Die Bevölkerung
nahm und nimmt auch teilweise noch heute eine gewisse
Anonymität von Lebensmitteln in Kauf.
Inzwischen wollen aber viele - dankenswerterweise sicher sein, dass Lebensmittel tierschutzgerecht erzeugt
werden. Man muss nur an die Protestwelle angesichts der
Missstände bei den Tiertransporten oder an andere
Diskussionen denken.
({2})
Darin liegt eine Chance für die Landwirtschaft, wobei diese Chance manchmal viel zu groß dargestellt wird. Was in
theoretischen Diskussionen gesagt wird, ist nicht immer
eine reale Größe. Dennoch glaube ich, dass es für die
Agrarpolitik wichtig ist, dem Tierschutz eine hohe Priorität einzuräumen.
({3})
Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben dies
in unserer Regierungsverantwortung getan. Wir werden es
auch weiter tun. Wir haben eines der modernsten und
schärfsten Tierschutzgesetze der Welt geschaffen. Wir
diskutieren im Deutschen Bundestag über den Tierschutzbericht. Wir haben Verbesserungen im Tierschutz - ich
nehme da die jetzige Bundesregierung gar nicht aus - auf
europäischer Ebene erreicht. Ich glaube, dass diese Verbesserungen für uns alle ungemein wichtig sind. Viele
Tierschützer - ich sage das hier ausdrücklich - haben sich
dankenswerterweise für die Verbesserung des Tierschutzes konstruktiv eingesetzt.
({4})
Ich glaube, dass Norbert Röttgen Recht hat. Wir müssen das Augenmerk auf die Weiterentwicklung des Tierschutzes auf europäischer Ebene richten. Wir brauchen
diese Weiterentwicklung auf der europäischen Ebene, damit an der einen Stelle ein Mehr an Tierschutz nicht an der
anderen Stelle zu einem Mehr an nicht tierschutzgerechter Haltung im Wettbewerb führt.
({5})
Der Prozess, der in Amsterdam mit Regelungen über
Tiertransporte begonnen worden ist, muss fortgesetzt werden. Ich fordere dieses Parlament auf, weiterhin Motor des
Tierschutzes über alle Fraktionsgrenzen hinweg zu sein.
Ich glaube, dass wir das auch in Zukunft sein werden.
Heinz Schmitt ({6})
({7})
Nun komme ich zu der Forderung, den Tierschutz ins
Grundgesetz aufzunehmen. Nach den entsprechenden
Briefen verbinden viele mit der Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz die Vorstellung, dass es die tierquälerische Haltung im Ausland nicht mehr gäbe und keine Fernsehbilder mehr über nicht tiergerechte Pferdetransporte in Polen und in Italien zu sehen wären. Aber das
kann eine Grundgesetzänderung nicht leisten.
({8})
Viele haben es jedoch ständig in die Grundgesetzänderung
hineindiskutiert.
Eines sage ich hier einmal kritisch. Ich habe viele
Tierschutzdiskussionen mitgemacht und hier gesagt, wie
ich persönlich zum Tierschutz stehe. Ich habe erlebt, dass
man den Landwirten und den Wissenschaftlern gesagt hat,
es habe keine Auswirkungen, wenn der Tierschutz ins
Grundgesetz aufgenommen wird. Dann habe ich aber auch
erlebt, dass man vor Tierschützern gesagt hat, dass das ungeheure Auswirkungen habe.
So plakativ dürfen wir mit Grundgesetzänderungen
nicht umgehen.
({9})
Das Grundgesetz ist die Grundlage unseres Staatswesens.
({10})
Wenn man für Änderungen des Grundgesetzes eintritt,
dann sollte man das auch wirklich begründen. Diese Begründung habe ich hier leider nicht erfahren.
({11})
Deswegen werde ich, wie viele in meiner Fraktion, dieser
Grundgesetzänderung auch nicht zustimmen, obwohl wir,
glaube ich, hier im Deutschen Bundestag gemeinsam für
den Tierschutz eintreten.
({12})
Das Wort hat der Kollege Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich danke zunächst für die Flexibilität bei der Gestaltung der Rednerliste. Die Haltung vieler, auch Abgeordneter, zu Tieren und zum Tierschutz ist nicht immer
offen und ehrlich. Wohl kaum einer der Abgeordneten
würde die eigene Katze, den eigenen Haushund oder den
Goldhamster der Familie zum Quälen ins Tierversuchslabor geben.
({0})
Viele haben im Kino mitgelitten, wenn der Hund Beethoven versucht hat, sich dem Tierlabor und den Tierfängern
zu entziehen. Warum eigentlich, wenn doch Tierversuche
so unvermeidbar notwendig sind?
Halb Berlin hat mit den Gorillababys Bokito und Mpenzi mitgefühlt, als in der letzten Woche in der „BZ“ die
Schlagzeile erschien: „Verhungert Baby-Gorilla im Berliner Zoo?“ Was wäre wohl geschehen, wenn Forscher den
Jungtieren, mit denen ganz Berlin gelitten hat, die Augen
zugenäht hätten, nur für die Forschung? Die Kolleginnen
und Kollegen hätten dieses Tierexperiment wohl auch an
diesem Podium nicht zu verteidigen gewagt. Ein Sturm der
Entrüstung hätte solche Reden hinweggefegt.
Mit der heute zur Abstimmung stehenden Grundgesetzänderung soll nicht der Mensch als Krone der Schöpfung entthront werden, beileibe nicht. Das eigentlich Notwendige ist inzwischen auf das Realisierbare zusammengeschrumpft. Es geht nur noch darum, eine faire Chance
für die Tiere vor den Gerichten zu wahren.
({1})
1994 hatte ein Berliner Hochschullehrer beantragt, neugeborenen Affen - deshalb ist das, was ich vorhin gesagt
habe, gar nicht so fern hergeholt - für die Forschung die
Augenlider zunähen zu dürfen.
({2})
Der Senat von Berlin verweigerte die Genehmigung. Der
Forscher hat den Gerichtsprozess wegen des Grundrechts
der Forschungsfreiheit gewonnen.
({3})
Er durfte seine Tierversuche durchführen und Affen nach
der Geburt die Augenlider zunähen.
Tausende von Affen leiden und sterben in den Versuchslabors. 1996 waren es 1 500. Jährlich sollen allein
10 000 gezüchtet werden, um in den Versuchslabors in Europa eingesetzt zu werden. Das ist nur eine Tierart; viele
andere sind genauso davon betroffen.
({4})
Der Verband der Arzneimittelhersteller fürchtet, dass
„allein der Umstand der Verankerung des Tierschutzes im
Grundgesetz zu einer verfassungsrechtlichen Neubewertung der Grenzen der Forschungsfreiheit führen“ könne,
„mit all ihren Auswirkungen auf das verwaltungsrechtliche Genehmigungsverfahren und ihrer gerichtlichen
Überprüfung“.
Ich kann dazu nur sagen: Mit der Aufnahme der drei
Wörtchen „und die Tiere“ ins Grundgesetz wollen wir erreichen, dass Gerichtsverfahren gegen unmenschliche
Tierversuche in Zukunft nicht mehr so häufig an der Forschungs- und Kunstfreiheit scheitern.
Ich frage Herrn Rüttgers - den ich jetzt hier gar nicht
sehe -: Was ist eigentlich der Spitzenkandidat von Nordrhein-Westfalen noch wert, wenn er im Deutschen Bundestag nicht mehr das artikulieren darf, was die CDU
Nordrhein-Westfalens noch in ihren Antrag an den letzten
Parteitag geschrieben hat,
({5})
dass nämlich die Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel
in die Verfassung die Bedeutung des Tierschutzes in unserem Gemeinwesen
({6})
und den Verfassungsrang des Tierschutzes in Abwägung
mit anderen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern deutlich machen würde?
Deshalb wollte auch die CDU von Nordrhein-Westfalen das. Hier dürfen sie das nicht einmal mehr artikulieren,
geschweige denn, dass sie nach ihrem Gewissen abstimmen dürfen. Das will ihnen ihre Fraktion verbieten. Das ist
nicht fair und das ist nicht human und das ist schon gar
nicht im Interesse der Tiere.
({7})
Dahinter dürfen sich die Kollegen und Kolleginnen der
CDU von Nordrhein-Westfalen bitte nicht verstecken.
({8})
Tierversuche wird es auch nach einer solchen Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel ins Grundgesetz geben.
Ich sage: leider. Aber die Tierversuche werden einer strengeren Überprüfung unterworfen. Es muss dann eine Abwägung stattfinden zwischen der Forschungsfreiheit, der
Kunstfreiheit auf der einen Seite - die kann da nicht maßlos und grenzenlos gegenüber den Tieren gelten - und
dem Tierschutz auf der anderen Seite.
({9})
Diese Grundrechte müssen dann gegenüber dem Staatsziel
des Grundgesetzes, die Tiere zu schützen, abgewogen werden. Damit wird den Tieren ein bisschen mehr die Chance für ein Leben ohne Qual und ohne Leiden eröffnet.
({10})
Uns wird von coolen Forschern der Universität Marburg vorgeworfen, das Thema Tierschutz und Rechte der
Tiere werde sehr emotional betrachtet. Ich sage: Das mag
sein. Was ist daran so schlimm?
Da halten wir es doch mit dem Philosophen Jean
Jacques Rousseau, immerhin ein Erfinder der Menschenrechte, der auch schon aus der bei Mensch und Tier
verwandten Empfindungs- und Leidensfähigkeit abgeleitet hatte, dass die Tiere vor unnötigen Schmerzen und Leiden wirksam bewahrt werden müssen.
Deshalb appellieren wir an die Abgeordneten der letzten Fraktion, die sich noch nicht dazu bereit gefunden hat,
das mitzutragen: Seien Sie human. Seien Sie nicht unmenschlich. Helfen Sie mit, den Schutz der Tiere in die
Verfassung aufzunehmen, wenigstens als Ziel des Handelns und des Engagements dieses Staates.
({11})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Erika Reinhardt, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Dass der Tierschutz uns allen am Herzen liegt ({0})
ich gehe einmal davon aus, dass er allen uns hier Anwesenden am Herzen liegt -,
({1})
glaube ich, ist unbestritten. Und doch, lieber Herr Kollege Bachmaier, hat mich sehr hart getroffen, dass Sie sich
hier hinstellen und sagen, wir wollten mit allen Mitteln
verhindern, dass der Tierschutz ins Grundgesetz aufgenommen wird - dass der Tierschutz passiert, so haben Sie
sich ausgedrückt. Das halte ich schon für schlimm.
Es ist ja nicht so, dass wir nicht schon seit langem Tierschutz betrieben haben. Wir haben viele Gesetze gemacht.
Ich bin dem Kollegen Ronsöhr sehr dankbar. Er hat das
sehr deutlich dargestellt, sodass ich das im Einzelnen gar
nicht mehr sagen muss. Der Tierschutz hat natürlich immer etwas mit Gefühlen und auch mit Empfindungen zu
tun. Deshalb sage ich noch einmal: Ich habe Verständnis
dafür, dass es die Menschen sehr emotional empfinden.
Aber Tierschutz ist eben ein bisschen mehr.
Ich persönlich bin mit Tieren groß geworden. In unserer Familie gab es immer und gibt es bis heute Tiere. Tierschutz ist mir also auch ein persönliches Anliegen.
({2})
Ich habe kein Problem damit. Aber wird denn das Ziel,
Tiere durch die Einfügung eines Staatsziels in das Grundgesetz besser zu schützen, tatsächlich erreicht? Oder ist die
Verankerung des Tierschutzes in der Verfassung nicht etwas vordergründig? Wenn uns der Tierschutz wirklich
wichtig ist, brauchen wir Gesetze, die die Tiere konkret
schützen. Die notwendigen Verbesserungen kann man nur
über Einzelgesetze erreichen.
({3})
Mit der Novellierung des Tierschutzgesetzes noch in
der letzten Wahlperiode wurde in diesem Sinne ein erster
und ein, wie ich glaube, sehr wichtiger und richtiger
Schritt getan. Weitere Verbesserungen - das ist für uns
auch keine Frage - müssen folgen. Noch mehr zu tun ist
unser Nahziel. Ein einfaches Gesetz würde für den Tierschutz viel mehr Wirkung erzielen als jegliche Verankerung.
({4})
Wir müssen etwas gegen illegale Tierversuche und
nicht artgerechte Tiertransporte tun. All dies verlangt
konkrete Gesetze und nicht eine verbale Aussage im
Grundgesetz nach dem Motto: Wir nehmen es als Staatsziel auf und haben damit unsere Aufgabe erfüllt. Unser
Ziel muss sein - ich habe es vorhin gesagt: wir haben dafür
schon einiges getan -, dass die strengen deutschen Tierschutzbestimmungen stärker als bisher kontrolliert werden
und dass wir eine bessere Abstimmung auch im Rahmen
der Europäischen Union erreichen. Damit schützen wir
unsere Tiere besser als mit jeglicher Verankerung im
Grundgesetz. Wir wollen Tierschutz nicht verhindern, sondern durch Gesetze praktizieren.
Die eigentliche politische Aufgabe liegt doch in der europaweiten Durchsetzung des hohen Standards des Tierschutzes bei uns. Dort müssen wir zu Verbesserungen und
Veränderungen kommen, die das Leid der Tiere lindern;
das wäre der eigentliche politische Durchbruch. Das muss
unser Ziel sein. Hierauf sollte die Bundesregierung ihre
Energie etwas stärker konzentrieren.
Wir wollen eine Tierschutzpolitik, die konkrete Fortschritte bringt und die Tiere tatsächlich schützt. Wir sind
für Tierschutz und nicht gegen Tierschutz. Wir sind für den
Schutz eines jeden einzelnen Tiers. Unser Ziel ist, die Tiere im Einzelnen und im Konkreten zu schützen. Dies erreichen wir aber eben nicht durch eine formale Aufnahme
im Grundgesetz, sondern nur durch konkrete Maßnahmen
und Gesetze zum Schutz der Tiere. Tierschutz, meine Damen und Herren, darf nicht an Grenzen enden.
({5})
Es spricht jetzt der
Kollege Ulrich Heinrich, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Tierschutz - das ist
ein Konsensthema - hat jetzt durch die Abstimmung im
Bundestag die Chance, noch einmal besonders hervorgehoben und berücksichtigt zu werden. Die Zeit dazu ist reif.
({0})
Während der Arbeit der Verfassungskommission Anfang
der 90er-Jahre waren es 170 000 Eingaben, die den Tierschutz so stark wie kaum ein anderes Vorhaben in diesem
Hohen Hause in den Vordergrund gestellt haben.
Wenn wir in der Geschichte zurückgehen, dann erkennen wir, dass es unter der alten Regierung - nicht mehr unter der sozial-liberalen, sondern unter der christlich-liberalen mit dem Justizminister Engelhard - gelungen ist, im
Bürgerlichen Gesetzbuch eine Änderung vorzunehmen,
sodass die Tiere nicht mehr als Sache behandelt werden:
Tiere sind keine Sachen. Sie werden durch besondere Gesetze geschützt. Auf sie sind die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden...
Die Zeit schreitet weiter. 1994 haben wir es in der
Verfassungskommission nicht geschafft, den Tierschutz
zusammen mit dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlage im Grundgesetz zu verankern.
Auch aus Umfragen wird deutlich, dass die Bevölkerung zu über 77 Prozent dafür ist, dass das Staatsziel Tierschutz im Grundgesetz verankert wird.
({1})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, ich nehme nicht an, dass Sie sich mit den restlichen 23 Prozent zufrieden geben wollen.
({2})
Sie wollen ja mit dabei sein. Auch Sie wollen sicherlich
dem Auftrag der Bevölkerung an uns, das Staatsziel Tierschutz im Grundgesetz zu verankern, zustimmen.
({3})
Wir haben mittels einer schlanken Formulierung, die
den Tierschutz dann stärkt, wenn es einen Abwägungsprozess zwischen einem Grundrecht und einer einfachgesetzlichen Regelung gibt, eine klare Positionierung vorgenommen. Das wissen die Damen und Herren Juristinnen
und Juristen ganz genau. Dieser Abwägungsprozess findet
natürlich laufend statt. Dabei verliert der Tierschutz regelmäßig. Der Tierschutz bleibt in diesem Abwägungsprozess auf der Strecke.
({4})
Damit das in Zukunft nicht mehr so ist, möchten wir, dass
in Zukunft im Rahmen der Rechtsprechung, also bei richterlichen Entscheidungen, der Tierschutz als Staatsziel nicht als Grundrecht - eine stärkere Beachtung bekommt.
({5})
Ich habe hier gehört, das sei ein symbolischer Akt.
Diese Aussage kann man vertreten; ich vertrete sie nicht.
Die Gründe dafür habe ich soeben genannt. Gleichzeitig
ist zu hören, es sei zu befürchten, es komme zu einer Wettbewerbsverzerrung bzw. Wettbewerbsverschlechterung
der deutschen Landwirte. Ja, was ist nun? Ist dies ein
symbolischer Akt oder eine Wettbewerbsverzerrung? Dies
ist ein Widerspruch in sich.
({6})
Man sollte wissen, was und wohin man will. Wenn man
den Tierschutz in den Landesverfassungen verankert,
dann sollte man wissen, welche Konsequenzen hier im
Bundestag zu ziehen sind. Wenn man den Tierschutz auf
Europaebene stärken will und ihm in den Kommunen, in
den Bundesländern und spätestens seit dem Treffen in
Seattle auch auf WTO-Ebene einen ganz wichtigen Rang
einräumen will - dafür wir alle sind -, dann verstehe ich
nicht die Logik, dass ausgerechnet der Souverän, der Deutsche Bundestag, dann, wenn er dazu aufgerufen ist, den
Tierschutz konsequenterweise auch in der Verfassung als
Staatsziel vorzusehen, in dieser Frage widersprüchlich
handelt.
({7})
Herr Kollege, ich muss
Sie jetzt einmal bremsen. Es gibt nämlich eine Zwischenfrage des Kollegen Ronsöhr.
Ja, bitte.
Sehr verehrter Herr Heinrich, Sie haben eben ausgeführt, dass einerseits festgestellt worden ist, die Verankerung des Tierschutzes in der Verfassung sei ein symbolischer Akt, und
andererseits, dies führe zu einer Wettbewerbsverzerrung.
Sie haben gesagt, das eine schließe das andere aus. Sagen
Sie doch bitte einmal, was Sie ausschließen: den symbolischen Akt oder die Wettbewerbsverzerrung?
Ich sage Ihnen - das habe ich
bereits unterstrichen -, dass es keine Symbolik ist, den
Tierschutz in dieser Form als Staatsziel zu formulieren und
in Art. 20 a des Grundgesetzes zu verankern. Diese Verankerung wollen wir, weil wir eine in einem Abwägungsprozess zu treffende Entscheidung vorzeichnen wollen.
Wir können das Ergebnis dieser Entscheidung nicht bestimmen, aber vorzeichnen. Auch wir müssen uns in Zukunft bei weitergehenden Gesetzesvorhaben an diesem
Staatsziel orientieren. Wir können dann nicht mehr so tun,
als gebe es dieses Staatsziel nicht.
Nun zum Widerspruch zur Wettbewerbsfähigkeit, den
Sie angesprochen haben, Herr Kollege Ronsöhr: Wir setzen uns nicht nur in den Ländern, sondern auch national,
auf europäischer Ebene und auf der Ebene der WTO für
einen entsprechenden Standard beim Tierschutz ein - auch
im Sinne der Wettbewerbsgleichheit.
({0})
Das ist der politische Auftrag, den wir zu erfüllen haben.
({1})
Meine Damen und Herren, mit der Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel in die Verfassung ist Schluss mit
künstlerischen Darbietungen, mit Happenings und Inszenierungen, bei denen Tiere zur Schau gestellt und gequält
werden, bei denen Tiere zu Tode kommen.
({2})
Das wird aufgrund dieses Abwägungsprozesses in Zukunft nicht mehr stattfinden können.
({3})
Denn wenn sich der Deutsche Bundestag auf die Seite der
Tiere stellt,
({4})
und zwar mit mehr als nur einfachgesetzlichen Regelungen, dann werden wir ihre Lage verbessern können.
Lassen Sie mich eines zum Schluss sagen: Die Millionen von Menschen, denen es ein großes Anliegen ist, dass
der Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen wird, können sich nicht irren; denn sie alle haben
Erfahrungen mit Tieren und leider Gottes auch Tierquälereien gesehen. Darum geht es und deshalb müssen wir als
Parlament uns eindeutig auf die Seite der Tiere stellen.
Ich werbe - Sie merken es, meine Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU - nachhaltig um Ihre Stimme. Es wäre in Ihrem Sinne, im Sinne des Tierschutzes und
auch im Sinne des Ansehens des deutschen Parlaments,
wenn wir dieses Zeichen gemeinsam setzten.
Herzlichen Dank.
({5})
Es spricht jetzt der
Kollege Rupert Scholz, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte ein
Wort von Herrn Kollegen Heinrich aufgreifen. Er hat seinen Beitrag mit dem Satz begonnen, Tierschutz sei ein
Konsensthema. Dieser Satz ist richtig. Ich nehme ein anderes Wort meines Kollegen Norbert Röttgen auf, der sehr
zutreffend gesagt hat: Wir streiten nicht über das Ja oder
das Nein zum Tierschutz, wir streiten über die Wege. Was
sind die richtigen Wege, auch vonseiten der Gesetzgebung, also des Parlaments, um für den Tierschutz möglichst viel und möglichst Gutes zu tun?
In dieser Frage, Herr Heinrich, hat sich seit der Zeit der
Gemeinsamen Verfassungskommission, die Sie angesprochen haben, nichts verändert. Auch die Hearings in der
letzten Legislaturperiode haben dies deutlich gemacht. Es
hat sich jedenfalls nichts geändert, was dafür sprechen
könnte, heute - im Gegensatz zu der damaligen Entscheidung - eine solche Staatszielbestimmung in das Grundgesetz aufzunehmen.
Eine Staatszielbestimmung wird ganz offenkundig
wieder - diese Debatte belegt es - völlig überschätzt.
({0})
Die Geschichte unseres Grundgesetzes zeigt es: Das
Grundgesetz ist bekanntlich mit Staatszielbestimmungen
immer sehr, sehr zurückhaltend und vorsichtig gewesen,
weil diese in aller Regel Verfassungspolitik, aber nicht
stringentes Verfassungsrecht darstellen. Den Tieren hilft
aber nur stringentes Recht und nicht - ich drücke es einmal so aus - weitgehend zur Kosmetik, zur Lyrik einladende Verfassungspolitik.
Das war der entscheidende Grund dafür, warum wir
damals gesagt haben - und wir haben uns richtig entschieden -: Es hilft den Tieren und auch dem Tierschutz
nicht, wenn man eine Staatszielbestimmung der jetzt wieder in die Diskussion gebrachten Art formuliert und ins
Grundgesetz aufnimmt. Die Argumente, die in dieser Debatte vorgetragen worden sind, belegen das nur allzu deutlich. Hier ist von verschiedenen Rednern der Eindruck erweckt worden, als gäbe es in unserem Land gar keinen
Tierschutz, sondern nur Tierquälerei, schreckliche Tierversuche.
Einige haben darauf hingewiesen, dass es gerichtliche
Urteile gibt. Das sind in der Tat wichtige Urteile. Herr
Ströbele spricht davon, man müsse endlich dahin kommen, dass das Tier vor das Verwaltungsgericht kommt.
({1})
Meine Damen und Herren, das ist doch nicht der richtige
Weg. Es geht um die materiellrechtlich richtigen Regelungen. Der Weg dorthin ist das Tierschutzgesetz, das einfache Gesetzesrecht.
({2})
Wer es mit den Tieren wirklich gut meint - ich gehe davon aus, Herr Heinrich, dass in dieser Frage wirklich Konsens in diesem Hause besteht -, der geht die richtigen Wege, indem er gegebenenfalls das Tierschutzgesetz weiter verbessert. Er geht vor allem - wie Norbert
Röttgen deutlich gemacht hat - den schweren Weg nach
Europa, den wir in der vergangenen Legislaturperiode mit
Nachdruck gegangen sind, auf dem wir aber leider noch
nicht zu Ende gekommen sind. Wir müssen die unterschiedlichen Kulturen sehen. Wir müssen, was den Tierschutz angeht, für unsere Auffassungen werben. Wir müssen dort die rechtlichen Erfolge erzielen. Aber wir dürfen
uns nicht in der Illusion verlieren, dass uns eine nationale
Staatszielbestimmung, die wirklich nur einen sehr, sehr
begrenzten normativen Effekt haben kann, weiterhilft. Ich
fürchte, das wird zum Alibi und nicht zu dem, was hier im
Konsens und zu Recht eingefordert wird.
({3})
Deshalb: Gehen wir den schweren Weg. Es ist nämlich
viel schwerer, in der einfachen Gesetzgebung und auch in
Europa Schritt für Schritt das zu erkämpfen, was wir unseren Tieren schulden.
({4})
Lassen Sie mich noch ein Wort zur Forschung sagen.
Hüten wir uns davor, falsche Konflikte aufzubauen! Der
Forscher ist heute in manchen Beiträgen gleichsam als der
Feind des Tieres dargestellt worden. Meine Damen und
Herren, das ist doch nicht wahr. Die Forschung ist notwendig; das weiß jeder. Aber wo gibt es denn ein so ausgeprägtes, rechtlich gebundenes, dem Tierschutz verpflichtetes Ethos in der Forschung wie in Deutschland?
Das gibt es in keinem anderen Land dieser Welt.
({5})
Ich wehre mich dagegen, dass die Forscher hier verunglimpft werden. Sie haben genau die gleichen ethischen
Prinzipien, mitunter sogar viel mehr als mancher, der
leichthin von diesem oder jenem in dieser Szenerie spricht.
Es ist nämlich leicht, in diesem Feld zu reden, Bekenntnisse abzugeben. Aber es ist schwer, Verantwortung zu
tragen, verantwortlich zu handeln. Dafür werbe ich, dafür
werben wir: Verantwortung ist das gefragte Thema, Verantwortung da, wo es unbequem ist, Verantwortung da, wo
es um konkrete, wirksame, stringente normative Erfolge
geht. Gehen wir diesen Weg gemeinsam! Dazu lädt unsere Resolution ein.
({6})
Es spricht jetzt
der Herr Bundesminister Karl-Heinz Funke.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich möchte einige Stichworte aufgreifen, die in dieser Debatte gefallen sind. Ich
persönlich bin sehr dankbar dafür, dass die Koalitionsfraktionen und die F.D.P.-Fraktion den Tierschutz als
Staatsziel in das Grundgesetz aufnehmen wollen. In der
Tat, Herr Heinrich, wird es Zeit, das zu tun. Ich sage das
mit großem Nachdruck.
({0})
Ich füge hinzu, dass ich in weiten Teilen das unterschreiben kann - lediglich die Schlussfolgerung ist für
mich eine andere -, was der Kollege Ronsöhr hier zum
Tierschutz, insbesondere zur Nutztierhaltung in der
Landwirtschaft, gesagt hat. Das ist unstrittig. Ich hätte eigentlich erwartet, dass er in der Logik seiner Rede gesagt
hätte: Gerade deshalb muss der Tierschutz als Staatsziel in
das Grundgesetz.
({1})
- Dazu komme ich gleich noch!
Es ist hier überhaupt nicht die Rede davon gewesen,
dass dann, wenn man den Tierschutz als Staatsziel im
Grundgesetz hätte, keine spezialgesetzlichen Regelungen
mehr erforderlich wären.
({2})
Es hat niemand gesagt, dass das jetzt schon das Ende wäre. Das wäre es natürlich nicht.
({3})
- Das hat wirklich niemand gesagt. Ich habe aufmerksam
zugehört. Der Kollege Ronsöhr hat das nicht gesagt und
die anderen Redner auch nicht.
Herr Professor Scholz, es hat auch niemand gesagt,
dass der Forscher gleichsam der Feind des Tieres sei. Das
ist in dieser Debatte wirklich nicht gesagt worden.
({4})
- Nein, auch Herr Ströbele hat nicht gesagt, dass der Forscher der Feind des Tieres sei.
({5})
Im Übrigen darf man auch nicht unterstellen, dass der
Standort Bundesrepublik Deutschland für die Biotechnologie gefährdet ist, wenn der Tierschutz als Staatsziel in
das Grundgesetz aufgenommen wird.
({6})
Ich führe schon seit einigen Jahren Diskussionen, auch mit
Wissenschaftlern, über dieses Thema. Gerade der tierversuchsfreien Biotechnologie, so habe ich selbst kritische
Beobachter im Ohr, gehört die Zukunft. Das sagen die
ganz eindeutig und das ist von der Sache her gesehen auch
so.
({7})
Mit einer etwaigen Gefährdung des Forschungsstandortes
hat diese Diskussion nun wirklich überhaupt nichts zu tun.
Über den Beitrag von Herrn Röttgen habe ich mich ich will es sehr vorsichtig sagen - gewundert. Bei einer artgerechten Ablage von Reden wäre dafür der Papierkorb
geeignet.
({8})
- Ich sage das mit aller Ernsthaftigkeit. Es ist schon seltsam - Herr Ronsöhr hat ihm ja Gott sei Dank indirekt auch
widersprochen -, sich hier hinzustellen und zu sagen: Machen Sie doch eine Hennenhaltungsverordnung, Sie haben
es ja in der Hand, im Wege der Spezialgesetzgebung etwas
für den Tierschutz zu tun. - Ich wäre gespannt, was ausgerechnet Sie dazu sagten, wenn wir eine Verordnung auf
den Tisch legten, die weit über das hinausginge, was wir
dazu in der Richtlinie auf europäischer Ebene vereinbart
haben.
({9})
- Er hat ja uns aufgefordert, eine entsprechende Verordnung zu machen, also sozusagen nationales Handeln angemahnt.
({10})
- Ach, hat er nicht? Dann habe ich ihn auch an der Stelle
falsch verstanden. Ich nehme das so zur Kenntnis.
({11})
Ich unterstreiche nämlich das, was der Kollege Ronsöhr
gesagt hat, dass man beides, nationale Regelungen und
Wettbewerbsfähigkeit, gegeneinander abwägen muss.
Herr Professor Scholz, Sie haben ein Argument genannt, das in meinen Augen gerade dazu führen muss, den
Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen.
Sie haben wörtlich gesagt - ich finde das richtig -, dass
Staatszielbestimmungen nur einen begrenzten normativen
Effekt haben. Also haben sie auch einen normativen Effekt, wenn auch einen begrenzten. Angesichts der Diskussion über den Tierschutz wäre es, so glaube ich, schon
sehr gut, wenn diese Staatszielbestimmung im Grundgesetz einen normativen Effekt zur Folge hätte, und sei er
auch noch so begrenzt.
({12})
Das ist für mich ein weiteres Argument dafür, es aufzunehmen.
({13})
- Ich komme noch zu dem Argument, dass wir ja das Tierschutzgesetz haben.
({14})
In der Tat haben wir es, und ich will ausdrücklich anerkennen, dass frühere Bundesregierungen, viele Landesregierungen und der Bundesrat mit seinen Initiativen hier
sehr viel Gutes bewirkt haben. Das ist alles unstrittig. Aber
jetzt will ich Ihnen sagen, warum ich der Auffassung bin,
dass der Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz sollte: zum einen wegen dieses normativen Effektes, zum anderen aber auch, weil eine solche Staatszielbestimmung im
Grundgesetz meiner Auffassung nach bewusstseinsstiftend ist.
({15})
Das ist vielleicht sogar ein zentraleres Argument und
wichtiger als die formaljuristische Argumentation. Denn
im Sinne des Tierschutzes ist es notwendig, ständig und
neu das Bewusstsein für das Mitgeschöpf Tier zu stiften.
({16})
Ich will Ihnen das - mein Namensvetter Funke wies
schon darauf hin - ein bisschen historisch begründen:
Wenn man sich einmal mit alten Gesetzestexten, etwa der
deutschen Länder, zum Schutz von Tieren - auch bei
Transporten beschäftigt, dann stellt man fest, dass viele
gesetzliche Regelungen des 19. Jahrhunderts weiter waren, als wir heute sind. Ich könnte das Stück für Stück belegen. Das heißt, das Bewusstsein, wie man mit Tieren umgeht, war aus verschiedenen Gründen vor mehr als
100 Jahren offenkundig weiter entwickelt als heute.
Fragen Sie einmal junge Leute - ich mache das sehr
gerne -, ob sie denn noch den Satz „Quäle nie ein Tier zum
Scherz, ...“, den wir zu Hause lernten, fortsetzen können.
Viele junge Menschen scheitern bei der Aufgabe, diesen
Satz fortzusetzen. Insofern geht es nicht darum, dass wir
formales Recht zu schaffen haben, sondern darum, die Bewusstseinsbildung in Gang zu bringen,
({17})
damit Tiere so behandelt werden, wie sie in einer zivilisierten Gesellschaft behandelt werden müssen.
({18})
- Nein, es hängt nicht nur vom Grundgesetz ab.
({19})
Das ist völlig klar. Aber es hängt auch vom Grundgesetz
ab, meine Damen und Herren.
({20})
Wenn Ihnen das alles nicht reicht, sage ich Ihnen, was
ich konkret möchte: Ich möchte, dass dann, wenn in der
Schule im Fach Gemeinschaftskunde oder im politischen
Unterricht über Grundgesetzartikel geredet wird, auch
über das Staatsziel Tierschutz anhand grundgesetzlicher
Texte geredet, Unterricht gemacht, diskutiert wird. Dann
erreichen wir eine Bewusstseinsänderung auf diesem Gebiet.
({21})
- Wenn Sie das alles überhaupt nicht beeindruckt, ist es
wohl so, dass Sie das schlicht und einfach nicht wollen.
Das nehme ich zur Kenntnis. Diesen Eindruck hatte ich
auch bei manchem Beitrag. Sie wollen dies einfach nicht
und schieben die formaljuristischen Aspekte der Staatszielbestimmung im Grundgesetz vor.
({22})
Ich bedaure das sehr. Ich möchte wirklich auch vor dem
Hintergrund des pädagogischen Aspekts dafür werben,
dies ins Grundgesetz aufzunehmen.
Es ist in unserer Gesellschaft nun einmal so, dass viele
Menschen nicht mehr auf natürliche Art und Weise mit
Tieren aufwachsen, wie es früher in jedem Haus, auf jedem Hof, in jedem Dorf, sogar in der Stadt selbstverständlich war. Das haben wir nicht mehr. Darum fehlt es
vielen an dem entsprechenden Bewusstsein, an der Einstellung. Man verhält sich auf der einen Seite sehr abstrakt,
theoretisch, vielleicht auch kuschelnd, verklärend, geradezu idyllisch - genauso falsch -, auf der anderen Seite
aber so, dass Tiere leiden und gequält werden. Dies geschieht nicht deshalb, weil man es will und mit Absicht
herbeiführt, sondern weil das Bewusstsein dafür zu unterentwickelt ist. Das ist der Punkt.
({23})
Meine Damen und Herren, ich bitte, noch einmal zu
überlegen, vielleicht noch einmal selber abzuwägen. Ich
glaube, einer Gesellschaft wie der unseren stünde es gut
an, wenn wir hier im Bundestag das machten, was die
große Mehrheit der Menschen und was auch die Tiere,
könnten sie sich denn artikulieren, von uns erwarten. Diese herzliche Bitte habe ich.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({24})
Danke schön.
Damit schließe ich die Aussprache. Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, möchte ich darauf hinweisen, dass
wir nach der namentlichen Abstimmung erfahren, wie es
dann genau weitergeht. Ich bitte die Kollegen also, hier im
Raum zu bleiben.
Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar
zunächst über den von den Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf
zur Änderung des Grundgesetzes, Staatsziel Tierschutz.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der PDS und der F.D.P. gegen die
Stimmen der CDU/CSU angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass nach
Art. 79 des Grundgesetzes ein Gesetz zur Änderung des
Grundgesetzes die Zustimmung von zwei Dritteln der
Mitglieder des Bundestages, das heißt mindestens 446
Stimmen, erfordert. Die Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen verlangen namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen
besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch jemand anwesend, der seine Stimme nicht abgegeben hat? Ich bitte die Schriftführer, mir zu sagen,
wann ich die Abstimmung schließen kann. - Ich schließe
damit die Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich
die Sitzung für wenige Minuten.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über den Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen zur Änderung des Grundgesetzes, Staatsziel Tierschutz, bekannt. Abgegebene Stimmen 603. Mit Ja haben gestimmt 392, mit Nein haben gestimmt 205.
({0})
Es gab sechs Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist damit
abgelehnt, weil die notwendige Zweidrittelmehrheit von
446 Stimmen nicht erreicht wurde.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 602
davon
ja: 391
nein: 205
enthalten: 6
Ja
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr
Dr. Hans Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({1})
Klaus Barthel ({2})
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({3})
Kurt Bodewig
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Dr. Eberhard Brecht
Rainer Brinkmann ({4})
Bernhard Brinkmann
({5})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({6})
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Rudolf Dreßler
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Annette Faße
Lothar Fischer ({7})
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({8})
Harald Friese
Anke Fuchs ({9})
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({10})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({11})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({12})
Walter Hoffmann
({13})
Iris Hoffmann ({14})
Frank Hofmann ({15})
Ingrid Holzhüter
Eike Maria Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Volker Jung ({16})
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({17})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({18})
Christa Lörcher
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({19})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Siegmar Mosdorf
Michael Müller ({20})
Jutta Müller ({21})
Christian Müller ({22})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann ({23})
Gerhard Neumann ({24})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Willfried Penner
Georg Pfannenstein
Dr. Eckhart Pick
Joachim Poß
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({25})
Birgit Roth ({26})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer
({27})
Ulla Schmidt ({28})
Silvia Schmidt ({29})
Dagmar Schmidt ({30})
Wilhelm Schmidt ({31})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({32})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
({33})
Brigitte Schulte ({34})
Reinhard Schultz
({35})
Volkmar Schultz ({36})
Ewald Schurer
Dr. R. Werner Schuster
Dietmar Schütz ({37})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie
Sonntag-Wolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Simone Violka
Ute Vogt ({38})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({39})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
({40})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Jürgen Wieczorek ({41})
Helmut Wieczorek
({42})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Heino Wiese ({43})
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer ({44})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Hanna Wolf ({45})
Waltraud Wolff ({46})
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
CDU/CSU
({47})
Elmar Müller ({48})
Hans-Otto Wilhelm ({49})
Dagmar Wöhrl
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Gila Altmann ({50})
Volker Beck ({51})
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Annelie Buntenbach
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({52})
Katrin Dagmar GöringEckardt
Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Kristin Heyne
Michaele Hustedt
Monika Knoche
Dr. Angelika Köster-Loßack
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Oswald Metzger
Kerstin Müller ({53})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Claudia Roth ({54})
Christine Scheel
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({55})
Werner Schulz ({56})
Christian Simmert
Christian Sterzing
Jürgen Trittin
Dr. Ludger Volmer
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm ({57})
F.D.P.
({58})
Ernst Burgbacher
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({59})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther ({60})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Helmut Haussmann
Walter Hirche
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({61})
Detlef Parr
Gerhard Schüßler
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
PDS
Dr. Dietmar Bartsch
Maritta Böttcher
Roland Claus
Heidemarie Ehlert
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Klaus Grehn
Dr. Gregor Gysi
Uwe Hiksch
Dr. Barbara Höll
Carsten Hübner
Gerhard Jüttemann
Dr. Evelyn Kenzler
Rolf Kutzmutz
Ursula Lötzer
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Rosel Neuhäuser
Dr. Uwe-Jens Rössel
Gustav-Adolf Schur
Dr. Winfried Wolf
Nein
CDU/CSU
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Dr. Joseph-Theodor Blank
Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({62})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Georg Brunnhuber
Hartmut Büttner
({63})
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({64})
Peter H. Carstensen
({65})
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({66})
Axel E. Fischer
({67})
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
({68})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Georg Girisch
Michael Glos
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Horst Günther ({69})
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
({70})
Gerda Hasselfeldt
Norbert Hauser ({71})
Hansgeorg Hauser
({72})
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Hans Jochen Henke
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Dr. Helmut Kohl
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Rudolf Kraus
Dr. Martina Krogmann
Dr.-Ing. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({73})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({74})
Dr. Manfred Lischewski
Wolfgang Lohmann
({75})
Julius Louven
Dr. Michael Luther
({76})
Dr. Martin Mayer
({77})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Bernward Müller ({78})
Bernd Neumann ({79})
Claudia Nolte
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Norbert Otto ({80})
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Christa Reichard ({81})
Katherina Reiche
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Hannelore Rönsch
({82})
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Adolf Roth ({83})
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag
Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Dietmar Schlee
Bernd Schmidbauer
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({84})
Andreas Schmidt ({85})
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt
Wolfgang Schulhoff
Diethard Schütze ({86})
Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Horst Seehofer
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Werner Siemann
Johannes Singhammer
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl
Michael Stübgen
Dr. Susanne Tiemann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Gunnar Uldall
Arnold Vaatz
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Peter Weiß ({87})
Gerald Weiß ({88})
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({89})
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({90})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Aribert Wolf
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Benno Zierer
Wolfgang Zöller
Enthalten
CDU/CSU
Ilse Aigner
Jochen Borchert
Dr. Hans-Peter Friedrich
({91})
Siegfried Helias
Elke Wülfing
F.D.P.
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete
Bierling, Hans Dirk Bühler ({92}), Klaus Haack ({93}), Karl-Hermann Irmer, Ulrich
CDU/CSU CDU/CSU SPD F.D.P.
Kossendey, Thomas Raidel, Hans Rauber, Helmut
CDU/CSU CDU/CSU CDU/CSU
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses zu den Gesetzentwürfen der Fraktionen der F.D.P. und der PDS sowie des Bundesrates zur Änderung des Grundgesetzes. Der Ausschuss hatte empfohlen, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/207,
14/279 und 14/758 für erledigt zu erklären. Dazu wird aber
vorrangig das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht. Ich
gebe das Wort dem Abgeordneten Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Ich bitte, die
Plätze einzunehmen, weil nach der Geschäftsordnungserklärung wieder abgestimmt werden muss. Dafür benötige
ich Übersicht.
Herr Kollege Heinrich, Sie haben das Wort.
Nachdem der gemeinsame
Gesetzentwurf leider Gottes keine Zweidrittelmehrheit gefunden hat, wollen wir, dass die ursprünglichen Anträge,
die schon im Ausschuss behandelt wurden und die zurückgezogen wurden, weil man sich auf einen gemeinsamen Antrag geeinigt hatte, an den Ausschuss zurücküberwiesen werden und dort weiterberaten werden. Wir halten
dies für dringend notwendig, um den Prozess in der Sache
weiterführen zu können. Ich beantrage das im Namen der
Koalitionsfraktionen von SPD und Grünen, der PDS-Fraktion und selbstverständlich auch im Namen der F.D.P.Fraktion.
({0})
Es wird beantragt, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/207,
14/279 und 14/758 an die bisher schon damit befassten
Ausschüsse zurückzuüberweisen. Wer stimmt für den Antrag auf Zurücküberweisung an die Ausschüsse? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der PDS, der F.D.P. und mit einigen
Stimmen aus der CDU/CSU gegen mehrere Stimmen aus
der CDU/CSU
({0})
ist beschlossen worden, dass die Gesetzentwürfe an die
Ausschüsse zurücküberwiesen werden.
({1})
Es ist somit klar, dass heute über die Gesetzentwürfe in der
Sache nicht abgestimmt wird.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Druck-
sache 14/3197. Wer stimmt für diesen Entschließungs-
antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ent-
schließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen, der F.D.P. und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU abgelehnt worden.
Sind Sie damit einverstanden, dass eine persönliche
schriftliche Erklärung des Abgeordneten Stöckel gemäß
§31 der Geschäftsordnung zu Protokoll genommen wird?)
- Das ist der Fall.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 f - es han-
delt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren
ohne Debatte - auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die assoziierte Mitgliedschaft der Republik Polen, der
Tschechischen Republik und der Republik
Ungarn in der Westeuropäischen Union
- Drucksache 14/3076 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 21. Mai 1999 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich
der Niederlande über die gegenseitige Amtshilfe
bei der Beitreibung von Steueransprüchen und
der Bekanntgabe von Schriftstücken
- Drucksache 14/3077 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 10. März 1998 zwischen der Re-
gierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Republik Südafrika über die
Seeschifffahrt
- Drucksache 14/3091 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht der Bundesregierung gemäß Artikel 13
Abs. 6 Satz 1 GG
- Drucksache 14/2452 -
Überweisungsvorschlag:
Gremium gemäß Artikel 13 Abs. 6 Grundgesetz
e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den Stand
von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit
und über das Unfall- und Berufskrankheitengeschehen in der Bundesrepublik Deutschland im
Jahre 1998
- Drucksache 14/2471 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({4})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
f) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({5}) gemäß § 56 a der Geschäftsord-
nung
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
*) Anlage 2
Technikfolgenabschätzung
hier: „Umwelt und Gesundheit“
- Drucksache 14/2848 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind diese Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 m auf. Es
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 24 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({7}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Norbert Geis,
Erwin Marschewski, Ronald Pofalla, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Maßnahmen zur akustischen Wohnraumüberwachung - Unterrichtungspflicht der Bundesregierung nach Artikel 13 Abs. 6 GG und
§ 100 e Abs. 2 StPO
- Drucksachen 14/1146, 14/2383 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer ({8})
Norbert Geis
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen
worden.
Tagesordnungspunkt 24 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({9}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Neunundvierzigste Verordnung
zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
- Drucksachen 14/2486, 14/2555 Nr. 2.1,
14/3131 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung der Bundesregierung nicht zu verlangen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? ,- Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 24 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({10}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Einhundertvierzigste Verordnung
zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum
Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 14/2487, 14/2555 Nr. 2.2, 14/3132 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung der Bundesregierung nicht zu verlangen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 24 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({11})
zu der dem Deutschen Bundestag zugeleiteten
Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht
2 BvE 6/99
- Drucksache 14/3116 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rupert Scholz
Der Ausschuss empfiehlt, eine Stellungnahme abzugeben
und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 24 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({12})
Übersicht 4
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten
Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 14/3117 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rupert Scholz
Der Ausschuss empfiehlt, von einer Äußerung oder einem Verfahrensbeitritt abzusehen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 24 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 145 zu Petitionen
- Drucksache 14/3108 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 145 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 146 zu Petitionen
- Drucksache 14/3109 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 146 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 147 zu Petitionen
- Drucksache 14/3110 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 147 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 24 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 148 zu Petitionen
- Drucksache 14/3111 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 148 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 24 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 149 zu Petitionen
- Drucksache 14/3112 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 149 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und
PDS bei Enthaltung der F.D.P. angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 24 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 150 zu Petitionen
- Drucksache 14/3113 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 150 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU gegen die Stimmen der
PDS bei Enthaltung der F.D.P. angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 24 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 151 zu Petitionen
- Drucksache 14/3114 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 151 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der PDS und der F.D.P. gegen
die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 24 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 152 zu Petitionen
- Drucksache 14/3115 Wer stimmt zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 152 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU gegen die Stimmen von
PDS und F.D.P. ist angenommen worden.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 4 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Dr. Edzard SchmidtJortzig, Hildebrecht Braun ({21}), weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes ({22})
- Drucksache 14/48 ({23})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({24})
- Drucksache 14/2019 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Bürsch
Wolfgang Bosbach
Dr. Guido Westerwelle
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. sieben Minuten erhalten soll. - Kein Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Herr Kollege van Essen.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Diskussion über eine gesetzliche
Steuerung der Einwanderung nach Deutschland wird seit
langem geführt und die F.D.P. ist der Meinung, dass nach
allen diesen Diskussionen nun die Zeit des Handelns gekommen ist. Wir müssen der unübersichtlichen Einwanderungspolitik, die das politische Klima in Deutschland
seit Jahren belastet, eine klare und transparente Linie
entgegensetzen.
({0})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Gerade hier ist Perspektive statt Pannenhilfe, Verlässlichkeit statt Flickschusterei gefragt.
({1})
Deshalb ist die Zeit reif für ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz,
({2})
für ein Gesetz, mit dem die Zuwanderung nach Deutschland gesteuert, begrenzt und stärker an den legitimen Interessen unseres Landes und seiner Bürger ausgerichtet
wird.
Dies ist im Übrigen in vielen anderen Ländern längst
Selbstverständlichkeit.
Nur so wird der Zuzug von Ausländern berechenbar
und sozial verträglich. Deshalb sieht unser Gesetzentwurf,
bei dem wir uns vor allem am australischen Modell orientiert haben, das sich seit vielen Jahren bewährt hat, Folgendes vor:
Unter Einbeziehung aller relevanten Zuwanderungsgruppen sollen in Zweijahresabständen jährliche Gesamthöchstzahlen festgesetzt und innerhalb dieses Rahmens Teilquoten für verschiedene Gruppen - auch für Arbeitszuwanderer, je nach Bedarf auf dem Arbeitsmarkt festgelegt werden. Unser Gesetzentwurf beinhaltet also
die Möglichkeit, an unserem Bedarf orientiert zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit zuzuwandern.
({3})
Dass es diesen Bedarf gibt, hat die Diskussion über die
Computerfachleute, aber auch die Reaktion insbesondere
in der mittelständischen Wirtschaft gezeigt.
Die Bestimmung von Bedarf und Kriterien ist eine politische Entscheidung, die von einer unabhängigen Kommission, in der alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen
vertreten sind, vorbereitet wird. Damit wollen wir unseren
wohlverstandenen nationalen Interessen mehr Raum geben; denn bei der Entscheidung über die Aufnahme eines
so genannten Arbeitszuwanderers sind Alter, Qualifikation und berufliche Erfahrung, Integrationsfähigkeit und
finanzielle Absicherung des Antragsstellers besonders zu
berücksichtigen. Daneben wollen wir aber an den humanitären Verpflichtungen festhalten.
Die Asylbewerberzahlen werden mit der Gesamthöchstzahl der Zuwanderer verrechnet, sodass diese in jedem Fall eingehalten wird. Asyl und Zuwanderung - das
ist mir ein ganz wichtiger Punkt - sollen sich aber gegenseitig ausschließen. Wer einen Asylantrag stellt, muss wissen, dass er dann keinen Antrag mehr auf Zuwanderung
stellen kann.
({4})
Für Zuwanderungswillige macht es daher keinen Sinn
mehr, einen aussichtslosen Asylantrag zu stellen und damit das Asylrecht zu missbrauchen. Dadurch können die
ohnehin schon stark zurückgegangenen Asylbewerberzahlen noch einmal reduziert werden. Unter diesen Umständen - das darf ich hinzufügen - gibt es keinen Grund,
von unserem individuellen Asylrecht in Art. 16 des
Grundgesetzes abzurücken.
({5})
Wenn der Vorschlag Gerhard Schröders zur so genannten Green Card etwas Gutes bewirkt hat, dann ist es die
Tatsache, dass Bewegung in die bisher starren Fronten gekommen ist. Die Union hat die Scheindiskussion darüber
aufgegeben, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei,
und fängt endlich an, sich an der Realität zu orientieren.
Zahlreiche Äußerungen aus der jüngsten Zeit belegen das.
Stellvertretend nenne ich nur den saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller, der am Wochenende gesagt
hat: Die Frage lautet längst nicht mehr „Zuwanderung - ja
oder nein?“, sondern die Frage lautet „Zuwanderung - geregelt oder ungeregelt?“. Genauso sehen wir das auch.
({6})
Es gibt aber noch zu viele Bremser. Die Postkartenaktion von Herrn Rüttgers zeigt, dass die Union in weiten
Teilen noch immer rückwärts gewandt, defensiv und noch
dazu wirtschaftsfeindlich agiert.
({7})
Hier ist noch viel Überzeugungsarbeit in den eigenen Reihen zu leisten.
Ausgerechnet die SPD zögert neuerdings, sich zu einer
transparenten Einwanderung zu bekennen.
({8})
In ihrem Wahlprogramm für die letzte Bundestagswahl
heißt es noch unter der Überschrift „Zuwanderung sozial
verträglich steuern“:
Integration kann nur gelingen, wenn die Grenzen der
Aufnahmefähigkeit und Aufnahmebereitschaft der
Gesellschaft beachtet werden. Deshalb wollen wir eine wirksame gesetzliche Steuerung und Begrenzung
der Zuwanderung. Sie muss die Arbeitsmarktbelastung, die Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme und humanitäre Gesichtspunkte berücksichtigen.
({9})
Nichts anderes schlagen wir vor.
({10})
Jetzt heißt es bei der SPD: In dieser Legislaturperiode soll
es keine gesetzliche Zuwanderungsregelung geben. Das
nenne ich eine merkwürdige Umsetzung von Wahlversprechen.
({11})
Die Grünen, um damit auf die zweite Koalitionspartei
zu sprechen zu kommen, tun sich übrigens mit dem Thema ähnlich schwer. Neuerdings hört man vorsichtige
Äußerungen, man sei für eine gesetzliche Zuwanderungsregelung, und zwar noch in dieser Legislaturperiode. Wie
fast immer gibt man eigene Überlegungen bei Widerstand
des Koalitionspartners sofort auf.
({12})
Die Ausländerbeauftragte hält sich wie in vielen anderen Fragen auch auffallend zurück. Eine liberale Ausländerbeauftragte wie Cornelia Schmalz-Jacobsen hat in
ihrem Amt deutlich mehr Mut bewiesen. Das war für sie
selbstverständlich.
({13})
Sie hat im Übrigen - ich bin sehr stolz darauf - den Gesetzentwurf der F.D.P. maßgeblich mit erarbeitet.
Die Grünen scheuen zudem vor der Selbstverständlichkeit zurück, dass es völlig legitim ist - und in anderen
Ländern als absolut normal angesehen wird -, wohlverstandene nationale Interessen bei der Zuwanderung zu
berücksichtigen.
({14})
Sie wollen das Tor für Zuwanderer noch immer möglichst
weit aufmachen, statt die notwendige Steuerung und Begrenzung vorzunehmen.
Nun wird gerne gesagt, man müsse die Einwanderung
europäisch regeln. Selbstverständlich gehört für eine Europäische Union, in der es keine Binnengrenzen mehr gibt,
die Frage der Zuwanderung, der Ausländer- und Asylpolitik schon aus sachlichen Gründen zwingend zu den auf
europäischer Ebene zu regelnden Fragen.
({15})
Im Vertrag von Amsterdam sind die rechtlichen Voraussetzungen für die schrittweise Umsetzung einer europäischen Regelung geschaffen worden. Die F.D.P. als Europapartei setzt sich sehr für eine europäische Migrationspolitik ein.
({16})
Das schließt jedoch keineswegs aus, dass wir auf nationaler Ebene das tun, was wir tun können und was wir für
richtig halten.
({17})
Wir sollten uns also nicht hinter Europa verstecken.
Ich stelle fest: Als einzige Partei in Deutschland bekennt sich die F.D.P. zu einer geregelten, durchschaubaren
und an den Interessen unseres Landes orientierten Zuwanderung. Wir wollen mehr Zugangsmöglichkeiten für
diejenigen Ausländer, die wir - aus welchen Gründen auch
immer - benötigen, und gleichzeitig die Zuwanderung
derjenigen begrenzen, bei denen das nicht der Fall ist, ohne unsere humanitären Verpflichtungen aufzugeben.
({18})
Herr Kollege van
Essen, Ihre Redezeit.
Im Übrigen stelle ich fest das ist mein letzter Satz, Frau Präsidentin -: Wir stehen mit
unserer Forderung nicht alleine. Wir wissen, dass eine
große Mehrheit in der Bevölkerung die Situation genauso
sieht. Deshalb sind wir sicher, auf dem richtigen Weg zu
sein. Wir bitten Sie deshalb um Zustimmung zu unserer
vernünftigen Regelung.
Vielen Dank.
({0})
Für die Bundesregierung erhält jetzt die Staatssekretärin Frau SonntagWolgast das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es klingt zwar nach
Aufbruch, was der Kollege van Essen gesagt hat. Aber eigentlich handelt es sich fast schon um ein Stück Gesetzesgeschichte, weil wir diesen Gesetzentwurf heute endgültig zu den Akten legen.
({0})
Dieser Gesetzentwurf, Herr van Essen, hat schon eine
ziemliche Staubschicht angesetzt, und zwar so sichtbar,
dass die F.D.P.-Fraktion ihn zu einem Antrag umgemodelt
hat, über den wir heute Morgen beraten haben.
({1})
Diese Anträge sind inhaltlich weitgehend identisch.
Aber es hilft nichts: Die Vorherrschaft in der Diskussion
um die Frage, die uns im Moment bewegt, nämlich warum und unter welchen Bedingungen Zuwanderung bei
uns gesteuert werden soll und kann, erreichen Sie damit
nicht. Denn längst bestimmt die Bundesregierung mit einem ganz anderen Schwerpunkt die Debatte. Das haben
Sie, Herr van Essen, immerhin eingeräumt. Es geht ja hier
und heute um die Deckung eines akuten Bedarfs in einem
begrenzten Umfang, indem ausländische Computerspezialisten ins Land geholt werden,
({2})
und gleichzeitig - ich betone: gleichzeitig - um die Ausund Weiterbildung von einheimischen Kräften.
({3})
Mit einem Einwanderungsgesetz hat das aber nichts zu
tun. Das braucht Zeit, sorgfältige Argumentation und die
Abstimmung mit den europäischen Partnerstaaten. Kurz
gesagt: Dieses wäre eine langfristige - ich betone: langfristige - Perspektive.
Aber immerhin zeigt uns der Gesetzentwurf der Freien
Demokraten, wie man es besser nicht machen sollte.
({4})
Mit Ihrem Vorschlag hätten Sie ein Preisausschreiben für
besondere Umständlichkeit gewinnen können. Da Sie
ja keine zusätzliche Einwanderung nach Deutschland
auslösen wollen, errichten Sie ein kompliziertes Regelwerk mit Teilquoten, Gesamthöchstzahlen und sonstigen
Höchstzahlen. Sie wollen vor- und nachsteuern. Zu allem
Überfluss soll darüber ein Bundesamt für die Regulierung
der Zuwanderung thronen.
({5})
Das ist keine Einwanderungspolitik, sondern Einwanderungsbürokratie.
({6})
Eine solche wollen wir nicht.
({7})
Mindestens ebenso bedenklich, Herr Kollege Niebel,
ist Ihr Umgang mit dem Familiennachzug. Sie wollen
zwar das geltende Recht nicht grundsätzlich zur Disposition stellen, aber Sie wollen diesen Zuzug mit den sonstigen Aufnahmequoten verrechnen. Das kann nur darauf
hinauslaufen, dass sich die Einreise von Angehörigen um
Jahre verzögert. Das würde nicht nur eine besondere Härte bedeuten, sondern wohl auch den grundgesetzlich garantierten Schutz von Ehe und Familie betreffen. Auch das
kann unsere Billigung nicht finden. Wir haben es schließlich mit Menschen zu tun und nicht mit Spielfiguren, die
man wie beim Malefiz-Spiel - je nach Kalkül - vor und
zurückschieben kann.
Wenn Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Gerhardt, in diesen Tagen fordert, in Deutschland müsse man bei Einwanderungsfragen mehr Weitsicht walten lassen, dann
muss ich Sie ganz herzlich bitten, Ihr eher engstirniges
Zuwanderungsbegrenzungsgesetz
({8})
ganz schnell zu vergessen und auszumustern.
({9})
Viel bemerkenswerter finde ich allerdings, was sich bei
der CDU abspielt. Wenn man sich alte Debattenbeiträge
anschaut, dann kann man erkennen, dass noch vor ein paar
Monaten Ihre Redner jeder gesetzlichen Zuwanderungsregelung ein Nein entgegendonnerten. Inzwischen
sind Sie ganz schön durcheinander gewirbelt worden. Auf
das markige Nein von damals folgt nun Frau Merkels vorsichtiger Schwenk zum Ja. Das würde ja nichts machen,
wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, sich entschließen würden, über diese gesamte
schwierige Thematik in der kommenden Zeit einen ruhigen und sachbezogenen Disput zu führen.
Wir sollten uns zum Ziel machen, einerseits den politisch Verfolgten und den Bürgerkriegsflüchtlingen wie bisher Schutz zu gewähren - dazu gehört auch der Zuzug und
Familiennachzug der Spätaussiedler -, andererseits aber
den Spielraum auszuloten, in dem wir die Zuwanderung
aktiver als bisher steuern und gestalten können. Aus diesem sorgfältigen Abwägen des Für und Wider kann durchaus ein geeignetes und schlüssiges Handlungskonzept
werden - wir wünschen uns dazu einen möglichst breiten
gesellschaftlichen Konsens -, allerdings unter zwei Voraussetzungen:
Erstens. Es gibt schon jetzt auf EU-Ebene absehbare
Regelungen - ich nenne als Stichwort die Familienzusammenführung -, deren Folgen wir ebenso abwägen
müssen wie die mögliche Arbeitskräftewanderung, die mit
der geplanten Osterweiterung der Europäischen Union
einhergehen kann. Also muss man sich doch in aller Ruhe
mit dieser Sache befassen.
Zweitens. Diese Sachdiskussion kann nur gelingen das ist mein letzter Satz, mein Appell -, wenn führende
Politiker der Union sich auch in Wahlkampfzeiten von
Demagogie und Desinformation durch Slogans wie „Mehr
Ausbildung statt Einwanderung“ endlich unverzüglich
lossagen. Bitte tun Sie das!
({10})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Erwin Marschewski.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst ein paar Feststellungen. Erstens. Die Zuwanderung nach Deutschland ist weiterhin hoch. Sie ist zu
hoch. Sie ist vor allem ungeregelt. Ja, wir wollen politisch
Verfolgte und Hilfe Suchende aufnehmen; das ist klar.
Aber es kommen zu viele Menschen, die keine Beschäftigung bei uns finden, und es kommen zu wenige, die unser
Land dringend bräuchte.
Zweite Bemerkung. Der Bundesminister des Innern hat
dies offensichtlich erkannt. Er handelt jedoch nicht.
Dritte Bemerkung. Der Gesetzentwurf der F.D.P., das
so genannte Zuwanderungsbegrenzungsgesetz, ist leider
untauglich. Ich werde das gleich belegen. Er löst die Zuwanderungsprobleme nicht einmal im Ansatz. Dieser Gesetzentwurf geht ins Leere; er ist undurchführbar und deswegen erfolglos.
({0})
Der Gesetzentwurf ist erfolglos - ich habe dies schon sehr
oft bei Beratungen im Fachausschuss gesagt, Herr van
Essen -, weil ohne Änderung des Grundgesetzes keine
Höchstzahl für Zuwanderer festgelegt werden kann. Denn
niemand kann doch die Zahl derer begrenzen, die unter
Berufung auf Art. 16 a des Grundgesetzes nach Deutschland kommen, es sei denn, der Bundesinnenminister macht
seine Ankündigung endlich wahr, das subjektive Asylgrundrecht durch eine institutionelle Garantie zu ersetzen.
Wir jedenfalls, Herr Bundesinnenminister, sind bereit, dies
zu tun; hier und heute, Herr Schily.
({1})
Ihr Gesetzentwurf ist deswegen erfolglos, Herr van
Essen, weil nach derzeitiger Grundgesetzlage eine Begrenzung des Familienzuzuges nicht realisierbar ist und
weil eine weitere Einschränkung des Aussiedlerzuzuges
wegen Art. 116 des Grundgesetzes zu Recht nicht statthaft
ist.
Ihr Gesetzentwurf ist weiterhin schon deswegen undurchführbar, weil er die Zahl der abgelehnten Asylbewerber, die nicht abgeschoben werden, unberücksichtigt
lässt. Das sind doch Hunderttausende, weil die Länder,
insbesondere von Grünen und SPD regierte, diese nicht
abschieben, obwohl sie das Asylrecht missbraucht haben
und es somit aushöhlen.
Deswegen wiederhole ich: Ja, wir wollen politisch verfolgte und hilfebedürftige Menschen aufnehmen, das ist
wahr. Aber es kommen mehr Menschen nach Deutschland,
als wir ins Wirtschaftsleben integrieren können. Das würde doch bedeuten, Herr van Essen, dass die von Ihnen geforderte Zuwanderungshöchstzahl auf Jahre hinweg null
wäre. Das wissen Sie doch, Herr Kollege. Sie wissen, dass
dieser Gesetzentwurf untauglich ist, und trotzdem verbleiben Sie bei diesem untauglichen Gesetzentwurf,
({2})
wie auch die Bundesregierung in Fragen der Begrenzung
der Zuwanderung nichts Taugliches, sondern nur Untaugliches angeboten hat.
Richtig ist die Erkenntnis des Bundesinnenministers:
Die Grenze der Belastbarkeit durch Zuwanderung ist
überschritten. Das ist richtig, Herr Schily, denn unseren Integrationsmöglichkeiten bei fast 1 Million ausländischer
Sozialhilfeempfänger in Deutschland sind Grenzen gesetzt. Deswegen sagen wir, Herr Bundesinnenminister:
nicht reden, endlich handeln; der Worte sind genug gewechselt!
({3})
Wer den Willen hat, Herr Schily, Zuwanderung zu steuern und zu beschränken, nicht populistisch, sondern ernsthaft, nicht mit untauglichen Mitteln, nicht zaghaft, sondern wirkungsvoll, der sagt Ja zu unseren Vorschlägen.
Diese Vorschläge sind: Die Zuwanderung nach Deutschland muss gesteuert werden. Nur so ist eine Zuwanderung
möglich, die auch im Interesse unseres Landes liegt. Das
geht nicht auf dem bloßen Verordnungswege. Das geht
nicht durch überstürzte und konzeptionslose Durchbrechung des Anwerbestopps. Das geht nur durch eine gesetzliche Regelung zur Steuerung der Zuwanderung.
Da ist auf Dauer ein Gesetz notwendig,
({4})
weil es sich um eine für Deutschland wesentliche
Entscheidung handelt, Herr Kollege.
({5})
Wahr ist natürlich, dass Bedarf an Fachkräften vorhanden ist. Wahr ist aber auch, dass die jungen Menschen
in Deutschland oft mangelhaft ausgebildet worden sind.
Dafür sind die Bundesländer verantwortlich. Auch das ist
wahr.
({6})
Wahr ist, dass der Bedarf an Fachkräften vorhanden ist,
nicht nur im IT-Bereich, sondern auch in anderen Wirtschaftszweigen, angefangen vom Krankenpfleger über
den Biotechnologen bis hin zum Dachdecker. Deswegen
ist es einfach nötig, die Ausbildung zu verbessern.
({7})
Es ist aber auch nötig - Herr van Essen, da sind wir eigentlich einer Meinung -, den Bedarf zu ermitteln und
Zuwanderungszahlen festzulegen. Umgekehrt ist eine Begrenzung der Zuwanderung nötig, also eine Begrenzung
der illegalen Zuwanderung und eine Begrenzung der legalen Zuwanderung. Es ist also vonnöten, die bisher unbeschränkte Zuwanderung zu begrenzen. Da kann nichts
ausgenommen werden. Da hat der Bundesinnenminister
Recht. Dies gilt für Asyl, dies gilt für den Familiennachzug
und dies gilt auch für die Spätaussiedler. Wenn wir es nicht
tun, Herr Bundesinnenminister, aber vor allen Dingen
meine Damen und Herren der Koalition, dann werden wir
durch Europa früher oder später, spätestens in zwei, drei
Jahren, dazu gezwungen werden. Denn wenn wir das nicht
machen, bleiben die Haupttore für illegale Zuwanderung
offen. Die Folge ist ganz eindeutig: Wir haben kaum Spielraum für Zuwanderung aus arbeitsmarktpolitischen Gründen oder aus anderen Gründen des öffentlichen Interesses.
Zuwanderungsbegrenzungen bedeuten aber weiterhin
eine konsequente Anwendung des Ausländerrechts.
Dies hat für die Einreise wie für die Abschiebung zu gelten. Dabei werden weitere Einschränkungen vonnöten
sein. Wir werden das Nachzugsalter einschränken müssen.
Das gilt auch für die Wiederkehroption und das gilt vor allen Dingen für die Asylfolgeanträge.
In diesem Zusammenhang ist völlig kontraproduktiv,
wenn jetzt eine europäische Familienzusammenführungs-Richtlinie vorliegt, die den Familienbegriff erneut auf homosexuelle Paare und vor allen Dingen auf
Leute erweitert, die in Deutschland nur ein Jahr Aufenthaltsrecht haben. Herr Bundesinnenminister, ich freue
mich, dass Sie im Innenausschuss gesagt haben, Sie
kämpften gegen diese Richtlinie. Sie haben uns an Ihrer
Seite, wenn Sie Ihre Fraktion davon überzeugen - was Sie
in der Vergangenheit mit Ihren Vorschlägen zu Asylrechtsänderungen, mit Ihren Feststellungen nicht geschafft
haben. Die Kluft zwischen Ihnen und der SPD-Fraktion ist
riesengroß, das haben die Beratungen im Innenausschuss
ergeben.
({8})
Das gilt insbesondere auch hinsichtlich der Grünen. Herr
Özdemir, Sie werden gleich versuchen, das zu verkleistern. Aber es stimmt: Die Kluft zwischen Ihnen und dem
Innenminister ist riesengroß.
Nötig ist auch eine Einschränkung bei der Altfallregelung. Wir wollen nicht ständig neue Altfallregelungen,
weil Tausende hier bleiben dürfen - als Prämie für Asylmissbrauch und illegale Einwanderung.
({9})
Erwin Marschewski ({10})
- Herr Kollege, generelle Altfallregelungen erhöhen den
Asylmissbrauch und sie fördern illegale Zuwanderung.
Das ist doch unbestritten. Fragen Sie den Kollegen Penner,
der noch bis zum morgigen Tag beratend unter uns weilt.
({11})
Gerade deswegen müssen wir auch die legale Zuwanderung einschränken.
Meine Damen und Herren, wer illegale Zuwanderung
stoppen will, der muss, bevor es eine einheitliche europäische Regelung gibt, das Asylbewerberleistungsgeld einschränken. Sie kennen doch das Nord-SüdGefälle. Es kann doch nicht sein, dass wir, wenn in Italien 100, 200 DM pro Monat für Asylbewerber gezahlt
werden - ich sage nicht, dass das der richtige Betrag ist -,
hier ein Mehrfaches zahlen. Solange wir das tun und nicht
ändern, wird der Zuwanderungsstrom nach Deutschland
nicht abreißen und Schlepper werden zulasten Deutschlands und zulasten der Ausländer kassieren.
IndiesemZusammenhangistmir-ichwiederholedies völlig unverständlich, dass Sie zu einer Begrenzung des
Schleppertums Nein gesagt haben, dass Sie zu der Einführung von Warndatei und AusländerzentralregisterErweiterungsgesetz Nein gesagt haben.
Der Bundesinnenminister hat eine vorurteilsfreie Diskussion angeboten. Diese hat aber nicht stattgefunden; er
konnte gar nicht im Ausschuss sein. Die unbegrenzte Zahl
von Gutmenschen auf Ihrer Seite, Herr Kollege, hat wieder obsiegt. Es wäre nötig gewesen, den Schleppern, die
die Menschen im Ausland ausbeuten, das Handwerk zu legen und sie, wenn sie nach Deutschland kommen, ihrer
Straftaten zu überführen. Zu diesem wichtigen Vorhaben
haben Sie Nein bzw. die Gutwilligen bei Ihnen haben im
Ausschuss immerhin erwähnt, sie wollten einen eigenen
Gesetzentwurf einbringen, weil sie die Glanztat der Union irgendwie verhindern wollten.
({12})
Zuwanderungsbegrenzungs- oder Zuwanderungssteuerungspolitik bedeutet Folgendes: Erstens. Wir wollen die
illegale Zuwanderung und den illegalen Zuzug, aber auch
den legalen Zuzug begrenzen. Zweitens. Wir müssen neben einer besseren Ausbildung der jungen Deutschen für
bestimmte Wirtschaftszweige Angebote an ausländische
Fachkräfte machen.
Frau Staatssekretärin, das ist kein neuer Vorschlag der
Union. Ich habe diesen Vorschlag schon immer unterbreitet. Unser Problem ist nur, dass alles auf den Tisch muss.
Ich ziehe heute - das ist wahr - einen Nutzen aus der nun
gegebenen politischen Lage. Ich sage allen Fraktionen wir können gerne mit der F.D.P. reden -: Wir brauchen Gespräche über die Steuerung der Zuwanderung, über Gesamthöchstzahlen und -quoten, über Zuwanderungsbegrenzung, über das Ob und Wie der Zuwanderung, aber
auch über Gesetzesänderungen - von der Änderung des
Ausländerrechtes über die Änderung arbeitsrechtlicher
Vorschriften bis hin zur Änderung des Grundgesetzes.
({13})
Denn das ist für unser Land dringend notwendig.
Der Herr Bundesinnenminister hat völlig Recht: Es darf
keine Denkverbote geben und es kann auch keine Denkverbote geben. Aber - und da unterscheiden wir uns von
Ihnen, Herr Schily - am Ende müssen Taten stehen. Nachdenken und Sprüche allein reichen nicht aus. Sie müssen
Ihre Fraktion überzeugen. Wir stünden an Ihrer Seite,
wenn Sie versuchten, diese Gesetze zu realisieren, wenn
Sie versuchten, die Zuwanderung zu stoppen, und wenn
Sie versuchten, eine Einwanderungsregelung zu schaffen.
Dabei ist zu berücksichtigen: Politisch Verfolgte und Menschen, die unserer Hilfe bedürfen, sollen, ja, müssen in unser Land kommen.
Herzlichen Dank.
({14})
Jetzt spricht der
Abgeordnete Cem Özdemir.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir leben in
einer Zeit, in der sich vieles in sehr rascher Folge ändert.
Viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger sind hochgradig verunsichert über das Tempo der Veränderungen.
Wenn ich die Debatte von gerade eben betrachte, dann
muss ich sagen, dass sie auch etwas sehr Beruhigendes hat:
Die Union bleibt, wie sie ist; Herr Marschewski bleibt, wie
er ist. Da können die Asylbewerberzahlen runtergehen, da
kann die Zahl der Aussiedler runtergehen, da kann sich der
Wanderungssaldo als die Zahl derer, die zuwandern, gemessen an denen, die abwandern, umkehren - trotzdem
bleibt die Union dabei: Es ist zu viel Zuwanderung; es sind
zu viele Asylbewerber. Der Art. 16 des Grundgesetzes ist
geändert. Die Union würde wahrscheinlich selbst dann,
wenn nur noch ein Flüchtling an Deutschlands Türen
anklopfen sollte, immer noch eine Debatte dazu organisieren und sagen, es gebe zu viel Zuwanderung.
({0})
Ich glaube, der Beitrag von Herrn Marschewski hat gezeigt: Die Union fällt als Gesprächspartner in der Debatte
über Zuwanderung leider - ich sage das wirklich mit Bedauern - noch auf nicht absehbare Zeit aus. Es wäre demgegenüber wünschenswert, dass wir in dieser Debatte endlich über Parteigrenzen hinweg zu vernünftigen Konzepten und Lösungen kämen. Für meine Fraktion - und ich
nehme an, für die Mehrheit des Hauses - sage ich ganz eindeutig: Die Zuwanderung in Deutschland muss geregelt
werden. Wir brauchen neue gesetzliche Instrumente.
Herr van Essen, wir haben aus der Debatte um das
Staatsangehörigkeitsrecht eines gelernt: Eine Debatte,
die nicht genügend vorbereitet ist, würde uns in der
gegenwärtigen Situation - Sie haben ja die Rede gerade
Erwin Marschewski ({1})
verfolgen dürfen - nicht weiterhelfen. Lassen Sie uns gemeinsam die Diskussion um das neue Einwanderungsrecht führen! Ich bin froh, dass Sie einen Gesetzentwurf
gemacht haben. Auch wenn wir uns hinsichtlich mancher
Fragen unterscheiden, glaube ich, dass manches von dem,
was Sie gesagt haben, es wert ist, weiterdiskutiert zu werden.
Wir als Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben selber
Eckpunkte vorgelegt. Wir werden mit unserem Koalitionspartner das Gespräch über diese Punkte suchen. Ich bin
mir ziemlich sicher: In der nächsten Legislaturperiode
werden wir in der Koalitionsvereinbarung einer wieder
aufgelegten rot-grünen Koalition das Ziel der Einbringung
eines Einwanderungsgesetzes festlegen. Es wird sich in
einem Punkt zentral von dem unterscheiden, was Sie vorgelegt haben: Es wird nämlich nicht „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“ heißen. Das scheint mir ein sprachlicher
Missgriff zu sein. Denn wer „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“ formuliert, der drückt damit aus, dass es sich um
etwas Negatives handelt, um etwas, wovor man Angst haben könnte.
Sie haben in Ihrer Rede genau das Gegenteil dessen gesagt, was Sie hier eingebracht haben. Sie haben nämlich
zu Recht darauf hingewiesen, dass Zuwanderung auch etwas mit eigenen Interessen zu tun hat.
({2})
Zuwanderung hat etwas damit zu tun, dass wir dort, wo wir
Bedarf haben, diesen Bedarf befriedigen. Ich möchte aber
hinzufügen, dass wir auch daran denken müssen, dass wir
humanitäre und soziale Verpflichtungen haben. Die Mischung aus all dem, das ist für uns ein Zuwanderungsbzw. Einwanderungsgesetz. In diesem Sinne lade ich alle
diejenigen, die guten Willens sind, dazu ein, jetzt eine
sachliche Debatte darüber zu führen, damit wir das Ergebnis dieser Debatte spätestens in der nächsten Legislaturperiode in ein Gesetz gießen können.
({3})
Ganz kurz möchte ich noch auf die Debatte von heute
Morgen eingehen. Herr Marschewski, eines Ihrer Lieblingswörter in anderen Debatten ist das Wort „Ganoven“.
In dieser Debatte war es das Wort „begrenzen“. Ich habe
während Ihrer Rede eine Strichliste geführt: Sie haben 17mal das Wort „begrenzen“ verwendet; ich erhebe dabei
keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Manches ist in dieser Debatte begrenzt; das stimmt mit Sicherheit. Begrenzt
sind insbesondere die Beiträge eines Spitzenkandidaten
Ihrer Partei in Nordrhein-Westfalen. Wenn ich mir das anhöre, was da im Einzelnen zum Thema Zuwanderung und
Integration gesagt wird, dann habe ich das Gefühl: Da
spricht einer über ein Thema, von dem er nicht viel weiß,
oder er spricht wider besseres Wissen. Zudem habe ich das
Gefühl: Wenn Herr Rüttgers vom Surfen im Internet
spricht, dann stellt er sich wahrscheinlich vor, dass man
einen Eimer Wasser über den Computer ausleert.
({4})
Wenn er von „Code eingeben“ spricht, dann denkt er wahrscheinlich eher an irgendetwas Unappetitliches. Man sollte also von dem Thema, über das man spricht, ein
bisschen Ahnung haben. Das erleichtert manchmal die
Kommunikation, vor allem die mit den Wählerinnen und
Wählern.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
Leutheusser-Schnarrenberger?
Gerne. Ich habe Sie nicht gesehen, Entschuldigung.
Ich
teile ja voll Ihre Einschätzung, dass man hier wirklich
zum Thema sprechen sollte. Deshalb frage ich Sie: Warum wollen Sie sich den gesamten Rest der Legislaturperiode mit den Argumenten, die wir schon in der letzten Legislaturperiode ausgetauscht haben, auseinander setzen?
Warum nutzen Sie nicht die Vorgabe seitens der Bundesregierung in Bezug auf die Green Card zu einer ganz
grundsätzlichen Debatte über die Einwanderung nach
Deutschland auf der Basis der Argumente und Regelungen, die wir dazu, wie Sie eben ausgeführt haben, brauchen?
({0})
Frau
Kollegin, Sie haben völlig Recht. Sie werden sich wundern: Ich stimme Ihnen und auch Herrn van Essen zu. Die
Initiative des Kanzlers auf der CeBIT wird uns - ob wir
das wollen oder nicht - mitten in die Debatte über das Thema Zuwanderung führen. Das ist auch gut so. Nur, ich
möchte diese Debatte vorbereitet und gut organisiert wissen. Sie wissen genauso gut wie ich, wie die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat sind. Sie wissen genauso gut
wie ich - Sie waren ja einmal Ministerin und haben sich
in diesen Themen engagiert; das weiß ich -: In der gegenwärtigen Situation ein Einwanderungsgesetz einzubringen, wäre schlecht. Es wäre ein Gesetz, das seinen Namen
nicht verdient.
Ich möchte ein gutes Gesetz, ein Gesetz, das dazu führt,
dass die Besten der Besten zu uns kommen. Ich möchte ein
Gesetz, das transparent ist. Ich möchte ein Gesetz, in dem
beispielsweise die Frage der Integrationsleistungen gelöst
wird,
({0})
indem wir, so wie das die Holländer getan haben, Sprachund Integrationskurse in Angriff nehmen. Ein solches
Gesetz werden wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht
hinbekommen.
Aber wir werden diese Debatte ab heute führen. Wir
werden bereits in dieser Legislaturperiode Vorstufen festlegen. Das, was wir im IT-Bereich tun, ist ja, wenn Sie so
wollen, eine Vorstufe dazu. Das Thema ArbeitserlaubnisCem Özdemir
pflicht - diese Frage spielt auch in Ihrer Fraktion eine
wichtige Rolle - muss ebenso wie der Bereich Sprach- und
Integrationskurse in diesem Zusammenhang dringend angesprochen und einer Lösung zugeführt werden.
Hier würde ich mir wünschen, dass wir die bestehenden
ideologischen Gräben, dass wir Aussiedler, Flüchtlinge
und Familienzusammenführungsfälle unterschiedlich behandeln, überwinden. Wenn wir Sprach- und Integrationskurse anbieten, dann kann es nur ein Kriterium geben: Ist
der- oder diejenige, der oder die das machen möchte, ein
Analphabet bzw. eine Analphabetin oder ein Akademiker
bzw. eine Akademikerin? Nur das kann ein Kriterium sein,
wie man die betroffenen Menschen einteilt. Ob jemand aus
Kasachstan, aus Russland, aus der Türkei oder aus Bosnien kommt, das kann nicht das trennende Kriterium für die
Gewährung von Sprach- und Integrationskursen sein.
Auch hier besteht die Einladung, solche Kurse anzubieten. Dafür brauchen wir die Länder. Dies wäre gut.
Denn eines der größten Probleme in der Gesellschaft im
Hinblick auf Integration ist, dass die Menschen sagen,
dass die Sprachkenntnisse nicht so sind, wie sie sein sollten. Wir haben einen konkreten Vorschlag. Lassen Sie uns
darüber reden, wie wir dies finanzieren und rechtlich umsetzen können. Aber lassen Sie uns die Diskussion über
dieses Thema nicht so führen, wie wir es bisher gemacht
haben: Der Bund schiebt es auf die Länder, die Länder
schieben es auf den Bund und gemeinsam schieben wir es
zu den Kommunen. - Das hilft in der Sache nicht weiter.
({1})
Zurück zum Thema. Ich möchte Ihnen widersprechen,
Herr van Essen: Es ist nicht richtig, wenn Sie sagen, dass
die Zuwanderung bisher völlig ungesteuert sei. Sie wissen,
dass wir ein hochkompliziertes Gesetzesgerüst haben. Ich
denke an das Ausländerrecht, das Asylrecht, das EUAufenthaltsrecht, das Kontingentflüchtlingsrecht etc. Dazu gehört auch der Arbeitskräftezuzug. Man kann sich darüber unterhalten, ob die Instrumente ausreichen oder ob
wir andere Instrumente brauchen. Es ist aber nicht so nur, damit in der Öffentlichkeit kein falscher Eindruck
entsteht -, dass es bislang eine unkontrollierte Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland gibt. Im Gegenteil: Viele Gesetze haben Sie mit verfasst. Insofern kann
ich mich nur darüber wundern, dass die Union mit dem,
was sie 16 Jahre lang selber zu verantworten hatte, heute
offensichtlich gar nichts mehr zu tun haben möchte.
Da meine Redezeit gleich abläuft, noch eine Bitte: Ich
habe vorhin gesagt, dass wir eine Debatte um die Zuwanderung bekommen werden. Das ist auch gut so. Wir wollen diese Debatte offensiv führen. Eines aber, werden Sie
mit uns nicht machen können: Wir werden nicht zulassen,
dass die Debatte missbraucht wird, um auf dem Rücken
der Betroffenen das, was von Art. 16 des Grundgesetzes,
dem Recht auf Asyl, noch übrig ist, zu schleifen. Wir bestehen darauf, dass Art. 16 als Individualanspruch weiter
besteht. Ich bin froh darüber, dass sich die Bundesregierung mit Unterstützung beider Koalitionsfraktionen auf
dem Regierungsgipfel in Tampere dafür eingesetzt hat, die
Asyl- und Flüchtlingspolitik europäisch zu harmonisieren.
Das, was Sie immer gesagt haben, setzen wir jetzt um.
({2})
Es bestand der
Wunsch nach einer Zwischenfrage. Machen wir nun eine
Nachfrage daraus, die Sie noch beantworten können.
Herr Kollege Özdemir,
kann es sein, dass Sie sich bei dieser Debatte eigentlich nur
um die Beantwortung einer Kernfrage drücken, nämlich
davor, welche Zuwanderer gut für unser Land sind und
welche nicht?
Das
tue ich nicht, Frau Kollegin. Es tut mir Leid, wenn bei Ihnen dieser Eindruck entstanden ist. Ich habe dies ganz klar
gesagt. Ich schicke Ihnen gerne unseren alten Gesetzentwurf, um den Eindruck zu korrigieren, dass wir die wirtschaftlichen Gesichtspunkte bisher nicht berücksichtigt
hätten.
Ich sage es ganz offen: Es geht um soziale, humanitäre
und selbstverständlich auch wirtschaftliche Aspekte.
Natürlich hat unsere Industrie ein Recht darauf, ihre Bedürfnisse zu formulieren und zu sagen, wo Arbeitskräftebedarf besteht. Wir werden darüber eine sehr spannende
Diskussion zwischen den Entwicklungspolitikern auf der
einen Seite und den Wirtschaftspolitikern auf der anderen
Seite führen. Wir wollen auch keinen Braindrain. Wir wollen nicht Ausbildungskosten sparen, wir wollen nicht die
Besten der Besten zu uns holen und die Länder der Dritten Welt weiter destabilisieren. Deshalb ist es so, wie wir
es machen, richtig: Wir holen Leute ins Land, aber unter
Berücksichtigung des Bedarfs. Gleichzeitig nehmen wir
nicht den Druck weg, hier auszubilden. Das ist genau das
richtige Konzept. Genauso muss ein Einwanderungsgesetz formuliert sein.
Der Kollege
Marschewski gibt Ihnen Gelegenheit, noch eine Antwort
zu geben.
Ich
bin unschuldig.
Herr Kollege Özdemir, Sie haben zu meiner Freude gesagt, wir hätten eine Zuwanderungsbegrenzung beispielsweise im Ausländerrecht und im Asylrecht. Bestätigen Sie,
dass Sie diese Gesetze, die wir gemeinsam mit der F.D.P.
gemacht haben, jahrelang bekämpft und einhellig abgelehnt haben?
Ich
kann es Ihnen offen und frei sagen: Ich bin nicht mit allem
zufrieden, was Sie gemacht haben. Zum Beispiel im Asylrecht gibt es einen massiven Änderungsbedarf. Ich könnte
Ihnen Leitz-Ordner-weise Briefe von Bürgermeistern Ihrer
Partei und auch der CSU zeigen, in denen steht, welcher
Asylfall ganz besonders schlimm sei und warum gerade
diese Person nicht abgeschoben werden dürfe.
Ich will Ihre Frage mit einer Gegenfrage beantworten:
Sind nicht auch Sie wie ich und meine Fraktion der Meinung, dass es nicht sein kann, dass Frauen, die verfolgt
werden, nur weil sie Frauen sind - im Iran zum Beispiel
wurde Frauen Säure ins Gesicht geschüttet -, bei uns kein
Asyl bekommen. Das sind die Fälle, die nachher in der
Statistik als nicht akzeptierte Asylbewerber aufgeführt
werden. Sind Sie nicht der Meinung - es handelt sich nicht
um viele Fälle -, dass wir für diese Frauen eine bessere Lösung brauchen als die bisherige? Es geht hier nicht um
grundsätzlich neue Instrumente, sondern darum, dass wir
im praktischen Bereich nachbessern müssen.
Ich möchte ein zweites Beispiel nennen - da weiß ich
viele Ihrer Kollegen mit mir einig -: die nichtstaatliche
Verfolgung. Dies ist ebenfalls ein wichtiges Thema, das
Sie nicht in Angriff genommen haben. Auch hier sehe ich
Änderungsbedarf. Ist es denn sinnvoll, dass ein Islamist in
Algerien, der vom Staat verfolgt wird, bei uns Asyl bekommt, dass die Personen aber, die vor den Islamisten fliehen, die sich gegen religiöse Fundamentalisten wehren,
kein Asyl bekommen, weil es sich um eine nichtstaatliche
Verfolgung handelt? Sind nicht auch Sie der Meinung wie
wir und übrigens auch die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände und viele andere, dass hier Änderungsbedarf besteht?
Alle diese Punkte werden wir ansprechen. Wir sind uns
nicht immer mit unserem Koalitionspartner einig. Trotzdem bin ich der Meinung, dass dies auf die Tagesordnung
gehört.
({0})
Ich bitte um Verständnis, Herr Kollege Marschewski. Ich habe Sie noch
nach der Nachzeit als Fragesteller zugelassen. Ich glaube,
wir versuchen jetzt, zum nächsten Redner zu kommen.
({0})
Das Wort hat die Abgeordnete Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich
möchte eine Vorbemerkung zur Debatte von heute Morgen
und zu der Frage „Einwanderungsgesetz - ja oder nein?“
machen. Es geht nicht an, dass die CDU diese Frage so repressiv diskutiert, wie Herr Marschewski es heute getan
hat, dass sie die Diskussion mit dem Ziel führt, das Asylrecht restlos aufzuheben, und dass Herr Beckstein und
Herr Rüttgers fremdenfeindliche und populistische Politik
auf Kosten von Menschen betreiben, die sich hier nicht
wehren können und die auch im Lande selbst große
Schwierigkeiten haben, sich zu wehren. Ich bin der Meinung, dass so etwas nicht stattfinden darf. Ich kann nur
hoffen - das sage ich auch als gewählte Abgeordnete aus
Nordrhein-Westfalen -, dass die Wählerinnen und Wähler
Ihrer Politik eine Absage erteilen.
({0})
Doch jetzt zum Thema. Bei der Diskussion um Zuwanderung geht es meiner Meinung nach in der Tat um viele
Ziele. Erstens. Die rechtliche Situation der Menschen, die
zu uns kommen, muss verbessert werden. Dazu gehört die
Wiederherstellung des Asylrechts. Herr Özdemir, es darf
nicht nur davon geredet werden, sondern es muss auch gehandelt werden, wenn es um die Anerkennung von frauenspezifischen Fluchtgründen geht.
({1})
Ebenso muss gehandelt werden, was die nichtstaatliche
Verfolgung angeht, die übrigens in anderen EU-Ländern
Normalität ist. Warum wird hier nicht endlich angepasst?
Zweitens. Die Menschen, die zu uns kommen, brauchen so etwas wie ein Niederlassungsrecht. Auch die
Grünen haben es einmal gefordert. Ich halte es für sehr
wichtig, das wieder aufzugreifen. Ebenso wird man prüfen müssen, ob das Staatsbürgerschaftsrecht, das reformiert worden ist, tatsächlich die Einbürgerung erleichtern
wird.
Drittens. Die soziale Situation der Menschen, die zu
uns kommen, ist unbedingt verbesserungswürdig. Ich
denke an das Asylbewerberleistungsgesetz, das abgeschafft werden muss. Ich denke vor allen Dingen an das
Arbeitsverbot für Flüchtlinge, die hier beispielsweise Asyl
beantragen oder aber als Migrantinnen und Migranten leben, sowie an die Benachteiligung insbesondere der NichtEU-Bürger auf dem Arbeitsmarkt.
({2})
Das ist aus unserer Sicht unsozial und inhuman und muss
im Zuge einer Einwanderungspolitik ebenfalls geregelt
werden.
Viertens. Wir brauchen größere Anstrengungen, was
die Integration der Millionen Menschen angeht, die hier
ihren Lebensmittelpunkt haben. Ich sage noch einmal, was
wir schon oft gesagt haben: Wir werden Rassismus und
Ausländerfeindlichkeit nur bekämpfen können, wenn wir
diesen Menschen wirklich die gleichen Rechte geben, wie
Deutsche sie haben, und nicht auf ihren Pass schauen.
({3})
Meine Damen und Herren von der F.D.P., wir haben
über Ihren Gesetzentwurf schon oft diskutiert. Er hat mit
Einwanderung nicht viel zu tun. Der Name sagt es bereits:
Es heißt „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“. Ich frage
Sie: Wie können Sie eigentlich von Zuwanderungsbegrenzung sprechen, obwohl Sie ganz genau wissen, dass
Zuwanderung nötig ist? Ich teile nicht die Ansicht von
Herrn Marschewski, dass wir zu viel Zuwanderung haben.
Nicht nur UN-Experten sagen nämlich, dass - aus verschiedenen Gründen unter anderem aus wirtschaftlichen
Gründen - jährlich mindestens 500 000 Menschen einwandern müssen, während die Nettozuwanderung tatsächlich gegenwärtig im Grunde genommen bei Null liegt. Sie
wissen ganz genau, dass es in Ihrem Gesetzentwurf keinen
Spielraum gibt, um Zuwanderung zuzulassen.
({4})
Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Es gibt seit
1990 eine Konvention über die Wanderarbeiter. Diese
Konvention ist seit 1990 weder von der damaligen
CDU/CSU-F.D.P.-geführten Bundesregierung noch von
der neuen rot-grünen Bundesregierung unterzeichnet worden. Diese Konvention schreibt ganz klar Gleichberechtigung auch dann vor, wenn Menschen aus wirtschaftlichen
Gründen in anderen Ländern gebraucht werden. Diese
Konvention stellt klar, dass sie die gleichen Löhne erhalten, also Dumpinglöhne vermieden werden müssen. Ich
kann die weiteren Bestimmungen aus Zeitgründen gar
nicht alle aufzeigen. Aber ich meine, das wären die Schritte, die wir als Erstes gemeinsam gehen sollten, anstatt, wie
die Bundesregierung, das zu versuchen, was hier in den
60er-Jahren bereits stattgefunden hat.
Sie wissen ganz genau, dass Ihre Politik gegenwärtig
wieder durch den Spruch gekennzeichnet werden kann: Es
wurden Arbeitskräfte gefordert, aber es kamen Menschen. - Ich fordere Sie auf, für diese Menschen, wenn Sie
sie als Arbeitskräfte herholen, Gleichstellung zu garantieren; das bedeutet, dass sie sozial und rechtlich gleichgestellt werden.
An die Adresse der F.D.P. möchte ich in diesem Zusammenhang ganz deutlich sagen:
Frau Kollegin
Jelpke, es wird Zeit.
Ich komme gleich zum Schluss.
Eine Zuwanderungsbegrenzungspolitik darf nicht zulasten der Menschenrechte gehen. Das aber machen Sie,
wenn Sie - wie es Ihr Gesetzentwurf vorsieht - die im
Wege des Familiennachzuges Eingereisten auf eine
Gesamthöchstzahl anrechnen, wenn die Menschen die Kosten der Integrationsfördermaßnahmen selbst tragen sollen
und wenn der Zuzug auf Kosten von anderen Ausländern
oder von Aussiedlern geht. Das tragen wir auf gar keinen
Fall mit. Das ist auch kein ernsthafter Beitrag zur Einwanderungspolitik.
Danke.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Sebastian Edathy.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Kollege Marschewski, nicht erst
seit Ihrer sehr beeindruckenden Rede hier habe ich sehr intensiv an Sie denken müssen, sondern auch schon letzte
Woche, als ich ein Umfrageergebnis gelesen habe, das
vom Institut für Demoskopie in Allensbach veröffentlich
worden ist. Bei dieser Umfrage sind Bürgerinnen und Bürger in Deutschland gefragt worden, wie es sich denn so mit
dem Erdball und der Sonne verhalte, welcher Himmelskörper sich um welchen drehe. Und siehe da, 10 Prozent
der Befragten sind der Meinung gewesen, die Sonne drehe sich um die Erde. Da habe ich mich gefragt, ob denn
wohl auch der Herr Marschewski zu dieser Gruppe
gehören mag.
Herr Marschewski, wenn man sich Ihre Reden - nicht
nur die heutige, sondern auch die der Vergangenheit näher anschaut, so muss man zu der Auffassung kommen:
Wahrscheinlich halten Sie die Erde nicht einmal für eine
Kugel, sondern immer noch für eine Scheibe.
({0})
- Nein, das ist kein Mobbing, keine Sorge.
({1})
- Da können eher Sie noch etwas lernen, Herr
Marschewski.
Herr Marschewski, Sie haben - deswegen habe ich das
gesagt - Probleme mit der Realität in diesem Lande, und
zwar nicht etwa nur bezüglich des Umgangs mit Zuwanderung; Sie haben - das verschärft die Sache - schon Probleme, die Realität insgesamt sachgerecht wahrzunehmen.
Es hätte nicht der Debatte heute Vormittag bedurft, um das
feststellen zu können. Sie sollten darüber nachdenken, ob
man den Slogan der CDU „Mitten im Leben“ nicht in
„Völlig daneben“ ändern sollte. Ich kann Ihnen nur empfehlen,
({2})
das im Landtagswahlkampf in NRW auf Ihre Plakate
schreiben.
({3})
Was die Diskussion über den Umgang mit Zuwanderung angeht, die in unserem Land bedauerlicherweise
stark emotionalisiert geführt wird, sind Sie nicht gut beraten, sich in der Weise dazu zu äußern, wie Sie das getan
haben. Erst haben Sie jahrelang in Deutschland dafür Sorge getragen, dass der Zug in die falsche Richtung fährt,
und dann haben Sie sich - das hat die Debatte über die
dringend notwendige Reform des Staatsbürgerschaftsrechts im letzten Jahr deutlich gemacht - bei der Kurskorrektur auf die Bremse gestellt.
Ich kann Ihnen von der CDU/CSU nur empfehlen, sich
von Denkweisen zu lösen, die Zuwanderung in erster Linie als Bedrohung sehen, anstatt die Chancen zu begreifen Chancen, die wir aufgreifen und gestalten müssen, wenn
wir mit dieser Frage vernünftig umgehen wollen. Daher ist
es nicht besonders hilfreich, dass wir in einem Bundesland
wie Nordrhein-Westfalen einen „Ex-Zukunftsminister“ erleben, der Äußerungen von vorgestern macht. Was wir
derzeitig in Sachen Debattenkultur erleben, ist eine echte
„Rolle Rüttgers“.
Ich will in diesem Zusammenhang auf eine Sache hinweisen, die mich wirklich sehr beschäftigt und bei der ich
mich darüber wundere, dass Sie da nicht ein wenig vernünftiger sind: Die Aussagen von Herrn Rüttgers in Bezug
auf indische Staatsbürger bzw. Anhänger der größten Religionsgemeinschaft Indiens, des Hinduismus - er hat gesagt, man müsse nicht auch noch Hindus nach Deutschland holen, haben in der indischen Presse zu großer Aufmerksamkeit und auch zu großer Verärgerung in der
Öffentlichkeit geführt. Wer schon dem Argument nicht
zugänglich ist, dass es immer verkehrt ist, auf dem Rücken
von Ausländerinnen und Ausländern Wahlkampf zu machen,
({4})
der sollte wenigstens dem Argument zugänglich sein, dass
Herr Rüttgers ganz elementare deutsche Interessen verletzt, wenn er sich so äußert.
({5})
Es ist nicht nur so, dass wir die hier kurzfristig zu beschäftigenden Computerexperten dringend brauchen,
damit die Wirtschaft in Deutschland den Anschluss nicht
verpasst und eine Weiterentwicklung vornehmen kann.
Wir exportieren zudem Jahr für Jahr Güter in einem Wert
von etwa 4 Milliarden DM nach Indien. Unser Land ist ein
Exportland. Wir sind darauf angewiesen, dass es in anderen Ländern Partner gibt, die mit uns Handel treiben. Das,
was Herr Rüttgers gemacht hat, schädigt nicht zuletzt die
auswärtigen Beziehungen unseres Landes.
({6})
Das, was Sie machen, ist nicht nur innenpolitisch misslich,
sondern hat auch außenpolitische Konsequenzen. Wir von
der Koalition müssen jetzt dafür Sorge tragen, dass dadurch die Wahrnehmung unserer Interessen, die wir in Bezug auf Indien haben, nicht gefährdet wird. Ich will nur eine Zahl nennen: In den letzten Jahren hat es 2 000 Joint
Ventures zwischen deutschen und indischen Unternehmern gegeben. Das sind Kooperationen, die wir ausbauen wollen, weil gerade der indische Markt ein rasant
wachsender Markt ist. Wie leichtfertig hier mit den Chancen umgegangen wird, die wir dort haben, ist schon abenteuerlich.
({7})
Ich will die Zeit, die mir hier zur Verfügung steht, insbesondere noch für eines nutzen, nämlich um deutlich zu
machen, dass wir die verschiedenen Aspekte der Zuwanderung und auch die verschiedenen Gruppen von Menschen, die zu uns kommen, sehr genau auseinander halten
müssen. Herr Marschewski, Sie haben versucht, alles in einen Topf zu werfen und daraus eine eher unappetitliche
Suppe zu fabrizieren. Das macht - wenn wir uns die Zahlen ansehen - keinen Sinn. Herr Marschewski, es wäre
nicht verkehrt, wenn Sie sich auf einem falschen Weg gelegentlich ein Stück weit von der Realität einholen ließen.
Wenn wir uns die Zahlen ansehen, können wir feststellen: Es gibt nur eine sehr kleine Gruppe von Nicht-EUBürgerinnen und -Bürgern, die seit dem Anwerbestopp
von 1973 nach Deutschland gekommen sind, um hier Arbeit aufzunehmen. Deswegen werden wir seitens der SPD
den F.D.P.-Entwurf eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes nicht mittragen können. Ich glaube, dass dies abgesehen von Ausnahmen - generell so lange so bleiben
muss, wie wir eine derart hohe Arbeitslosigkeit in
Deutschland haben.
({8})
Wir haben 4 Millionen Arbeitslose. Das ist ein schweres
Erbe. Wir haben positive Daten hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung. Wir sind zuversichtlich, dass
wir am Ende der Wahlperiode eine deutlich niedrigere
Arbeitslosenquote haben werden, übrigens - wie es sich
abzeichnet - nicht dank der Opposition.
({9})
Eines aber ist völlig klar: Eine generelle gesetzliche
Änderung zum Zwecke der Ermöglichung der Arbeitsaufnahme von Ausländerinnen und Ausländern aus Ländern
außerhalb der EU in Deutschland ist in Verantwortung für
die Lage auf dem Arbeitsmarkt auf absehbare Zeit überhaupt nicht zu realisieren.
({10})
- Natürlich sehen wir uns wieder, Herr Hirche. Wenn ich
Sie nicht wiedersehen würde, würde ich Sie auch sehr vermissen.
({11})
Wenn wir den Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben,
beschließen würden, hätte das insbesondere zwei Auswirkungen, die schlecht wären.
({12})
Zum einen würden bei den Menschen, die interessiert sind,
nach Deutschland zu kommen, Erwartungen geweckt, die
wir angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt, die nach
wie vor bedrückend ist, gar nicht einlösen könnten. Zum
anderen wecken Sie Ängste in der Bevölkerung - obwohl
es keinen Grund gibt, diese Ängste zu wecken -,
({13})
weil die Leute glauben, durch Ihr Gesetz würde sich wirklich etwas an dem Zuwanderungsgeschehen ändern.
({14})
Ich verkenne überhaupt nicht und weise sehr gern darrauf hin, dass wir mittel- und langfristig sicherlich ein Zuwanderungsgesetz benötigen. Das hat etwas mit einer sich
verbessernden wirtschaftlichen Entwicklung, aber insbesondere damit zu tun, dass die Geburtenraten sinken, dass
eine zunehmend große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern
in Deutschland aus Altersgründen aus dem Erwerbsleben
ausscheidet. Es ist völlig klar - dazu bedarf es keiner Studie der UNO oder der Bertelsmann-Stiftung, das wissen
wir auch so; man kann es aber als hilfreiches Material hinzuziehen -, dass wir uns mittel- und langfristig darüber
Gedanken machen müssen, wie wir neben der Zuwanderung, die aus humanitären, grundgesetzlich gebotenen
Gründen erfolgt, Zuwanderung aus staatlichem Interesse
mit Blick auf den Arbeitsmarkt möglich machen können.
Was Sie hier machen, ist Augenwischerei, weil Sie glauben machen wollen, dies wäre kurzfristig ein Thema. Das
ist es nicht.
Ich will auf eines hinweisen. Ich habe mich über das gewundert, was Herr Westerwelle heute Morgen gesagt hat.
Er hat gesagt, dass es Leute gebe, die kommen und die wir
brauchen. Dann gebe es Leute, die wir nicht brauchen. Das
war auch das Thema einer Zwischenfrage der Kollegin
Bonitz. Ich glaube, dass wir sehr gut beraten sind, zwischen humanitär und grundgesetzlich gebotener Zuwanderung, etwa aufgrund des Asylrechtes, und der Gruppe
der Zuwanderer, die mit dem Ziel, Arbeit aufzunehmen,
nach Deutschland kommen, zu differenzieren. Hier will
ich Ihnen, Herr Hirche, ganz konkret sagen: Das, was in
Ihrem Gesetzentwurf steht, ist meines Erachtens gegen
den Sinn und gegen den Wortlaut des Grundgesetzes,
({15})
weil Sie dort unter anderem fordern: Der Familiennachzug
zu Ausländerinnen und Ausländern, die einen gesicherten
Aufenthaltsstatus haben, sollte quotiert werden.
({16})
In Art. 6 des Grundgesetzes - ich bin kein Jurist, kann aber
sehr gut lesen - steht:
Ehe und Familie stehen unter dem besonderen
Schutze der staatlichen Ordnung.
Herr Hirche, wenn Sie mir sagen wollen, dass das nur für
deutsche Familien und für deutsche Ehepaare gilt, dann sagen Sie das bitte. Wenn das aber für Ausländerinnen und
Ausländer gilt, können Sie so etwas nicht quotieren. Dann
können Sie den Leuten nicht sagen: Die Familie ist für uns
ein grundgesetzlich geschützter Wert, aber ihr könnt mit
der Zusammenführung noch zwei Jahre warten, weil die
Quote erfüllt ist.
({17})
Herr Marschewski würde am liebsten noch eine Quote
für Asylbewerber einführen. Man müsste sich dann wohl
letztlich dafür einsetzen, die Bibel zu ändern. Dann würde der barmherzige Samariter nicht mehr Halt machen
und dem Schwerverwundeten helfen, vielmehr würde er
sagen: Vielleicht komme ich im nächsten Jahr zur selben
Zeit vorbei. Wenn du immer noch dort liegst, helfe ich dir
möglicherweise. - Das ist zynisch, christlich ist es nicht.
({18})
Das ist nicht vernünftig. Diese Haltung ist vor allen
Dingen überhaupt nicht von den Zahlen gedeckt. Ich will
sie noch einmal nennen. Vor einigen Wochen hatte ich die
Gelegenheit, darauf hinzuweisen; ich mache es jetzt aber
noch einmal, weil immer so getan wird, als gäbe es einen
Änderungsbedarf beim Asylrecht. 1992 hatten wir 400 000
Asylbewerber. 1993 hatten wir 300 000 Asylbewerber.
Dann hat eine große Koalition in Bonn beschlossen, das
Asylrecht zu ändern. Seitdem haben wir jährlich etwa
100 000 Asylbewerber. Wenn man die Zahlen, die uns aus
diesem Jahr vorliegen, hochrechnet, dann werden wir vermutlich auf 80 000 Asylbewerber am Ende des Jahres
kommen. Wer angesichts solcher Zahlen - Herr Kollege
Özdemir hat vollkommen Recht - darauf hinweist, dass sie
zu hoch sind, der unterschätzt die Integrationsmöglichkeiten eines Landes mit 80 Millionen Einwohnern, der
verkennt auch, dass wir als Demokraten die Zuwanderung
aus humanitären Gründen weiterhin ermöglichen müssen.
({19})
- Das muss man unterscheiden. Das ist wohl wahr.
Ich muss zum Schluss kommen, meine Damen und
Herren. Ich denke, dass wir über diese Legislaturperiode
hinaus eine Koalition der Vernünftigen brauchen, die an
diesem Thema ein echtes Interesse haben und darüber
nicht nur im Vorfeld von Wahlen diskutieren. Wir sollten
hier keine Schaumschlägereien machen. Das Thema ist
viel zu wichtig.
Wir brauchen mittelfristig ein Zuwanderungsgesetz,
das nicht nur quantitativ der Zuwanderung Rechnung
trägt. Wir brauchen insgesamt ein Integrationskonzept.
Die Fehler, die in der Vergangenheit gemacht worden sind,
dürfen nicht wiederholt werden. Vor kurzem habe ich mit
einer türkischen Staatsbürgerin aus meinem Wahlkreis gesprochen, die sehr schlecht Deutsch spricht. Sie sagte mir
in ihrem gebrochenen Deutsch: Als ich in den 60er-Jahren
gekommen bin, habe ich meinem Chef gesagt: Ich möchte Deutsch lernen. Er hat mir gesagt: Du bist nicht hier, um
Deutsch zu lernen, sondern du bist hier, um zu arbeiten. Solche Fehler müssen wir künftig vermeiden. Wir wissen,
die Mehrheit derer, die zu uns kommt, wird auf Dauer bleiben. Dann müssen wir auch die Integrationsmöglichkeiten, die wir anbieten, deutlich verbessern.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({20})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Marschewski das
Wort.
({0})
Meine Damen und Herren! Herr Hirche hat Recht. Es wäre schön, wenn wir zu einer gemeinsamen Lösung kämen.
Dazu wäre natürlich Sachlichkeit geboten.
({0})
Wir schlagen ein Zuwanderungssteuerungsgesetz vor. Die
F.D.P. schlägt ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz vor.
Die Regierungskoalition sagt zu beidem gar nichts. Sie
bleibt untätig, wie im gesamten Bereich der Ausländerpolitik, wie in vielen anderen Bereichen des Bundesministers des Innern. Das ist wahr.
({1})
Ich hätte es gern gesehen, wenn der Bundesinnenminister sich an die Spitze der Bewegung gestellt und gesagt hätte, was er im Innenausschuss ausgeführt hat. Wir
waren gar nicht verschiedener Meinung, Herr Bundesinnenminister.
Wenn wir die Frage der Zuwanderungssteuerung behandeln, dann muss natürlich alles auf den Tisch - mehr
sage ich doch nicht -: Es muss das Asylrecht auf den
Tisch, es muss die Grundgesetz-Frage auf den Tisch, es
müssen arbeitsrechtliche Vorschriften auf den Tisch, es
muss das Ausländerrecht auf den Tisch. Das ist doch keine
Frage, meine Damen und Herren.
({2})
- Ich bin mehrfach angesprochen worden, Herr Kollege
Schmidt, und musste mich daraufhin zu Wort melden, zumal ich auch Recht habe.
({3})
Diese Dinge gehören auf den Tisch und ich erwarte,
dass die Bundesregierung mit einem Vorschlag kommt.
Ich sage Ihnen heute schon: Wir werden Sie in nächster
Zeit per Antrag auffordern, uns ein Zuwanderungsteuerungsgesetz vorzulegen, und zwar mit allem, was auf
den Tisch muss, natürlich auch mit Höchstquoten und
Gesamtquoten, weil es nötig ist, die Zuwanderung nach
Deutschland zu regeln.
Ich bleibe dabei:
Erstens. Wir wollen politisch Verfolgten und
Bedrängten helfen.
({4})
Zweitens. Es kommen zu viele Menschen zu uns, die
hier keine Beschäftigung finden.
Drittens. Es kommen zu wenige zu uns, die wir
brauchen.
({5})
- Schreien Sie doch nicht andauernd dazwischen.
Des Weiteren hat mich der Kollege Özdemir ausdrücklich darauf angesprochen, dass ich mich zu dem Problem
der iranischen Frauen äußern solle. Herr Kollege Özdemir,
wenn Sie sagen, die Frauen bekämen kein Asyl, so ist
auch das nur die halbe Wahrheit; denn Sie wissen, dass
diese Frauen ebenso wie diejenigen, die etwa in Algerien
von nicht staatlichen Einrichtungen, die Staatsgewalt
ausüben, verfolgt werden, natürlich nicht abgeschoben
werden. Unsere Gesetzesleistung war ja gerade, sicherzustellen, dass sie nicht abgeschoben werden.
Legen Sie als Regierung doch einen Antrag vor. Wir
diskutieren darüber. Ich bin in diesen zwei Punkten
durchaus Ihrer Meinung.
Herr Kollege
Marschewski, jetzt ist Ihre Redezeit abgelaufen.
Wir diskutieren darüber. Aber dazu gehört auf der anderen
Seite auch eine generelle Regelung der Zuwanderungsbegrenzung. Das müssen wir gemeinsam machen, weil der
Integrationskraft des deutschen Volkes Grenzen gesetzt
sind.
Herzlichen Dank.
({0})
Man kann Kurzinterventionen zu konkreten Redebeiträgen - dann kann
der angesprochene Redner antworten - und auch zur
ganzen Debatte machen. Aber wie auch immer, Herr Kollege Marschewski: nie länger als drei Minuten.
({0})
Das nur noch einmal zur Festigung der Regeln.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion der F.D.P. eingebrachten
Entwurf eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes,
Drucksache 14/48. Der Innenausschuss empfiehlt auf
Drucksache 14/2019, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen
der F.D.P. abgelehnt worden. Daher entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 sowie den
Zusatzpunkt 2 auf:
5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1})
zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag zum Erfolg führen
- Drucksachen 14/2908, 14/3163 Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Zapf
Karl Lamers
Rita Grießhaber
Ulrich Irmer
Dr. Dietmar Bartsch
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi
Lippmann und der Fraktion der PDS
Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag
- Drucksache 14/3190 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem
Abgeordneten Gert Weisskirchen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute hat die
Duma hinter verschlossenen Türen darüber beraten, ob sie
endlich den START-II-Vertrag ratifizieren wird. Morgen
wird sie im Plenum beraten. Es ist ein ermutigendes
Zeichen, dass die Duma bereit ist, der Abrüstung neue,
wesentliche Elemente hinzuzufügen. Wir können der
Duma dazu gratulieren, wenn sie morgen diesen Schritt
geht. Dieser Schritt läge in der Tradition der Abrüstungsprozesse. Deswegen sagen wir den Kolleginnen und Kollegen der Duma: Es ist gut, dass ihr morgen so beschließt,
damit der START-II-Prozess endlich weiter vorankommt.
({0})
Das würde auch genau dem Tenor dessen entsprechen, was
wir, die Koalition, Ihnen vorgeschlagen haben.
Es würde übrigens - Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS, haben eben geklatscht - einen Punkt
entkräften, den Ihr Antrag enthält: Sie unterstellen, dass
die Duma bzw. dass Russland nicht in der Lage wären, den
Nichtverbreitungsvertrag so voranzutreiben, wie wir
von der Koalition es uns wünschen. Ich bitte Sie, zu überdenken, ob Ihr Antrag nicht zumindest in diesem von Ihnen formulierten Punkt falsch ist.
Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU und besonders Sie, lieber Kollege Lamers - Sie
werden wohl nachher für Ihre Fraktion sprechen -: Halten
Sie an dem Grundkonsens fest, den wir in den 60er-Jahren
gefunden haben, nämlich an dem Nichtverbreitungsvertrag, der 1969 abgeschlossen wurde. Sie erinnern sich
sicherlich noch: Es war die große Leistung von John F.
Kennedy, die Abrüstung zum gemeinsamen internationalen Thema gemacht zu haben. Wir haben im
Deutschen Bundestag über 30 Jahre hinweg an dem
gemeinsamen Grundkonsens festgehalten. Auch als wir in
der Opposition waren, haben wir immer der Auffassung
zugestimmt, dass der Nichtverbreitungsvertrag gestärkt,
unterstützt und vorangetrieben werden muss.
Nach meiner Meinung wäre es gut, wenn der Bundestag
durch eine gemeinsame Entschließung die Bundesregierung dazu bringen könnte, die Position des
Deutschen Bundestages bei den jetzigen Verhandlungen in
New York zu vertreten. Ich bitte Sie herzlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS und von der
CDU/CSU: Bleiben Sie bei diesem Grundkonsens! Unterstützen Sie die Bundesregierung, damit sie in New York
das Richtige tut, nämlich den Prozess der Abrüstung voranzutreiben!
({1})
Warum bitte ich Sie um Ihre Unterstützung? Ich bitte
Sie darum, weil der Nichtverbreitungsvertrag der einzige
international anerkannte Vertrag ist, der die vollständige
nukleare Abrüstung zum Ziel hat. Ich wiederhole: die
vollständige nukleare Abrüstung. Wir haben diesem Vertrag nicht nur zugestimmt, sondern die Bundesrepublik
Deutschland hat auch selbst entschieden, dass wir niemals
Nuklearwaffen besitzen wollen. Das ist Grundkonsens.
Diesen können wir bei den Verhandlungen in New York
am besten stärken, wenn wir im Anschluss an diese Debatte eine gemeinsame Entschließung des Deutschen Bundestages verabschieden könnten.
({2})
An diesem Konsens sollten wir wirklich festhalten. Ich
hoffe, dass dies auch für uns alle so bleiben wird.
Der Vertrag wurde zum entscheidenden Instrument des
internationalen kooperativen Widerstands gegen die Verbreitung von Atomwaffen. Dieses Instrument war im
Grunde genommen doch erfolgreich, und dass das so kam,
war überraschend; denn das konnte man in den 60erJahren noch gar nicht erkennen. Sie erinnern sich: John F.
Kennedy fürchtete zu Beginn der 60er-Jahre, dass es in
wenigen Jahrzehnten, also gegen Ende des Jahrhunderts,
30 oder sogar 40Atomwaffenstaaten geben könnte. Das ist
nicht eingetreten. Es ist deswegen nicht eingetreten, weil
der Nichtverbreitungsvertrag so erfolgreich gewesen ist.
Er ist deswegen so erfolgreich gewesen, weil sich die
Atommächte gemeinsam verpflichtet haben, den
Nichtverbreitungsvertrag zu stärken, zu unterstützen und
auch in den schwierigsten Zeiten, in den 80er-Jahren, am
Grundkonsens des Nichtverbreitens festgehalten haben.
Das war der große Erfolg dieses Vertrages.
Das hat auch dazu geführt, dass der Grund für das gelegt
werden konnte, was notwendig gewesen ist, nämlich für
ein kooperatives Zusammenspiel zuerst der unterschiedlichen Atomstaaten. Der Grundgedanke der Kooperation hat dazu geführt, dass es - nicht zu vergessen:
nach Vorbereitung der damaligen sozialliberalen Koalition - schließlich 1975 in Helsinki gelungen ist, den
Prozess der KSZE in Gang zu setzen, der darauf gerichtet
war, das, was in den drei entscheidenden und zentralen
Körben festgelegt war, voranzubringen, nämlich Abrüstung und ökonomische Zusammenarbeit voranzutreiben
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
und schließlich auch das Thema der Menschenrechte in
den Mittelpunkt der Weltgemeinschaft zu stellen.
Dies war die Grundlage dafür, dass seither die
Kooperationsbeziehungen zwischen den Staaten auf der
Erde vorangetrieben worden sind. Wir sollten auch nicht
vergessen: Der Beginn dieser Kooperation war der
Nichtverbreitungsvertrag. Ich bitte - gerade jene, die angesichts zweifellos berechtigter Kritik andere Voten
anstreben - herzlich darum, einen gemeinsamen
Beschluss des Deutschen Bundestages zustande zu bringen.
Ich will noch einen Punkt hinzufügen und erklären, was
an den bisherigen Maßnahmen erfolgreich gewesen ist.
Die Atommächte haben sich bisher an den Vertrag gehalten. Neben den fünf offiziellen Atommächten sind in der
letzten Zeit noch drei weitere inoffizielle hinzugekommen, nämlich Israel, Indien, Pakistan und - nicht zu
vergessen - Südafrika. Nehmen wir den Fall Südafrika:
Dieses Land hat politisch entschieden, seine sechs
Sprengkörper zu demontieren, dem Vertrag beizutreten
und sich für die Inspektionen der Wiener Internationalen
Atomenergie-Agentur zu öffnen. Man muss einmal - an
die Adresse der Union gerichtet - klar sagen: Südafrika hat
sich äußerst kooperativ verhalten, indem es dem Vertrag
beigetreten ist und dafür gesorgt hat, dass der gesamte
Kontinent Afrika zu einer atomwaffenfreien Zone werden
konnte.
Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union, herzlich darum: Nehmen Sie die Debatte um atomwaffenfreie Zonen ernst. Es gibt nicht nur Lateinamerika,
es gibt auch Afrika, es gibt die Antarktis, es gibt andere
Teile der Erde, die bereit sind, sich dem Nichtverbreitungsvertrag, dessen elementarer Bestandteil die atomwaffenfreien Zonen sind, kooperativ zu öffnen und
sicherzustellen, selbst keine Atomwaffen zu erlangen.
Nehmen Sie doch diese kritische Bemerkung gegenüber
dem im Vertrag selbst festgelegten Grundsatz zurück. Insofern noch einmal der Appell: Eine gemeinsame Abstimmung wäre sicherlich sehr sinnvoll, weil es die Position
der Bundesregierung insgesamt stärkt.
Die anderen Staaten, die im Zusammenhang mit Nuklearwaffen erwähnt werden, haben Waffenprogramme
oder haben Raketenentwicklung betrieben - oder beides ohne bisher die Schwelle einer Nuklearexplosion überschritten zu haben. Zu diesen Staaten gehört zum Beispiel
das Land, das gegenwärtig berechtigterweise am stärksten
in die Kritik geraten ist, nämlich Nordkorea. Bis zum
Ende des Golfkrieges gehörten auch der Irak sowie - so
vermuten zumindest die USA - der Iran dazu. Diese drei
Länder haben jedoch den Nichtverbreitungsvertrag unterschrieben - im Unterschied zu Israel, Indien und Pakistan.
Die bevorstehende Konferenz in New York - das wäre
ein weiteres Argument, sie zu stärken - will das bestehende und immer weiter verfeinerte Regime der
Nichtverbreitung überwachungstechnisch prüfen, weiterentwickeln und insbesondere politisch stärken. Die
Atomwaffentests von Indien und Pakistan waren die Auslöser bzw. Verstärker für diese Konferenz. Beide Staaten
gehören - ebenso wie Israel und Kuba - zu den vier Nichtunterzeichnern des NVV. Gegenwärtig gelingt es wohl
nicht, beide Staaten dazu zu bewegen, dem Vertrag
beizutreten. Wir sollten dabei jedoch nicht das Ziel aus
dem Auge verlieren.
Deshalb halten wir - dies bekräftigt unser Antrag - an
den notwendig voranzutreibenden Zwischenschritten fest:
Testmoratorium, CTBT, Exportkontrollen für sensitives
Nuklearmaterial und - nicht zuletzt - die Beteiligung von
Indien und Pakistan an Verhandlungen mit dem Ziel, die
Produktion von Spaltmaterial für Waffenzwecke zu beenden. Durch diese formulierten Zwischenziele soll also
nicht das Endziel, eine atomwaffenfreie Welt zu schaffen,
aus den Augen verloren werden. Die Zwischenschritte
sollen dazu dienen, das Ziel genauer zu präzisieren und
jetzt konkrete Schritte dafür einzuleiten, dem Endziel
näher zu kommen.
Der NVV verbindet - das ist nach meiner Meinung eine
für die damalige Zeit unglaublich wichtige Verknüpfung die Nichtverbreitung, die Zusammenarbeit bei der
friedlichen Nutzung der Kernenergie, für die die Wiener
Behörde mit zuständig ist, und die nukleare Abrüstung
miteinander.
Vor allem die Leistungen der Atommächte in der Abrüstung werden allerdings von vielen Nichtkernwaffenstaaten als unzureichend empfunden. Wenn man sich in die
Position Indiens begibt und mit den Augen Indiens andere
Mächte betrachtet, dann ist das Argument ja nicht ganz
von der Hand zu weisen.
Die späten 80er-Jahre und die frühen 90er-Jahre haben
Hoffnungen geweckt, dass der Abrüstungsprozess stärker vorankommt. Das ist so leider nicht realisiert worden.
Heute sind viele ernüchtert und schauen doch etwas skeptisch auf diesen Abrüstungsprozess. Der gute Wille der
Atommächte wird häufig bezweifelt. Das genau ist der
Grund, warum New York so wichtig ist.
Der Vertrag droht politisch zerrieben zu werden. Höchst
bedeutend wäre es also, wenn START II durch die beiden
Großmächte ratifiziert würde - die Duma macht jetzt den
richtigen Schritt - und START-III-Verhandlungen aufgenommen würden. Darüber hinaus sollte auch der Teststoppvertrag besonders durch Russland und die USA ratifiziert werden, die damit den weiteren Staaten mit entwickelter nuklearer Industrie ein Beispiel geben, sich dem
auch anzuschließen.
Des Weiteren wünschen wir, dass in New York
beschlossen wird, dass endlich über ein rechtsverbindliches Ende der Produktion von Spaltmaterial für Waffenzwecke verhandelt wird.
Diese unterschiedlichen Punkte sind konkrete Schritte,
um den Nichtverbreitungsvertrag durch Materialisierung
jener Schritte auch voranzutreiben.
Wir erwarten deshalb von der Bundesregierung, dass
sie alles unternimmt, um bilateral und innerhalb der NATO
mit den USA darüber zu reden, wie es verhindert werden kann - das ist sicherlich ein Punkt, der uns alle bewegt
und auch sicherlich noch Schwierigkeiten bereiten könnte
-, dass das geplante nationale Raketenabwehrsystem National Missile Defense in Russland, in China und auch in
den Schwellenländern eine neue nukleare Aufrüstung
Gert Weisskirchen ({3})
auslöst. Wir stehen also in diesem Jahr vermutlich vor einem
schwierigen Prozess. Ich hoffe, dass die Bundesregierung
Stärke zeigt und versucht zu überzeugen, damit der
amerikanische Präsident an diesem Punkt noch einmal
überdenkt, ob das gegenwärtig der richtige Schritt ist. Wir
sollten ihm deutlich machen, soweit wir es können: Bitte,
denken Sie darüber noch einmal neu nach, mindestens
aber denken Sie darüber nach, ob nicht der neue Präsident
der USA darüber entscheiden sollte. Dann hätten wir noch
einmal Zeit gewonnen, um mit der neuen Administration
darüber zu reden.
Unser Interesse jedenfalls ist es, kooperative Beziehungen zu stärken und voranzutreiben. Wir fürchten, dass
ebenjene Kooperationsbeziehungen wenigstens zeitweise
durch die Durchsetzung von National Missile Defense
gestört werden könnten. Wir bitten unsere Kollegen im
Kongress in den USA, darüber noch einmal neu nachzudenken.
({4})
Aber falls - das sollten wir auch einmal mit berücksichtigen - der amerikanische Präsident den Aufbau eines
solchen Systems beschließt, sollte sichergestellt werden,
dass das kooperative Geflecht - das jahrzehntelang getragen hat, das gehalten hat, das auch schwierige Phasen gut
überstanden hat - der militärischen Sicherheit der Nuklearmächte untereinander nicht gefährdet wird. Ich hoffe
sehr, dass eine Lösung gefunden wird - manchmal hört
man es; ich weiß nicht, ob es nur eine Rede ist; vielleicht
steckt ja mehr dahinter; vom Verteidigungsministerium ist
niemand hier -, wonach auch Russland mit beteiligt werden kann, wenn es denn realisiert werden sollte.
Ich glaube, dass wir darüber zumindest noch einmal neu
diskutieren müssen, und ich wünsche mir, dass die
amerikanische Präsidentschaft auch darüber noch einmal
mit sich selbst zu Rate ginge.
Deutschland hat jedenfalls ein überragendes Interesse
daran, dass die Großmächte ihre Kooperationsbeziehungen untereinander ausbauen. Nur so können künftig auch
die atomaren Kurzstreckenwaffen in Europa wegverhandelt werden. Denn wenn ein neuer Aufrüstungsprozess
in Gang gesetzt würde - zum Beispiel durch National Missile Defense -, dann könnte und müsste man fürchten, dass
auch die Kurzstreckensysteme bei uns in Europa leider
eben nicht wegverhandelt würden, sondern dass alle anderen möglichen Waffensysteme in einen neuen Aufrüstungsprozess mit hineingezogen werden könnten.
Unser Antrag zielt also darauf ab, dass die erste Überprüfungskonferenz seit der Entscheidung, diesen Vertrag
unbefristet zu verlängern - das haben wir übrigens im
Deutschen Bundestag in Bonn noch gemeinsam beschlossen -, jetzt in New York dafür sorgt, dass der Nichtverbreitungsvertrag gestärkt wird. Damals haben wir das
Richtige getan - wir aus der Opposition heraus und Sie als
Regierungskoalition. Das war auch gut so. Fünf Jahre
später wird nun in New York überprüft, ob die damaligen
Beschlüsse bezüglich der Prinzipien und Ziele der nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung und der Stärkung
des Überprüfungsprozesses umgesetzt wurden. Alle
Bundesregierungen haben sich zu dem Ziel der Nichtverbreitung bekannt. Will die Union das - ich hoffe nicht infrage stellen? Das kann ich mir eigentlich nicht denken.
Diese Debatte wird die Opposition wieder an diesen
langjährigen Grundkonsens erinnern und ihn erneut befestigen.
Gewiss trifft es zu, dass eine kernwaffenfreie Welt nur
dann Wirklichkeit werden kann, wenn die Sicherheitsbedürfnisse der Kernwaffenstaaten überzeugend auch
ohne Kernwaffen befriedigt werden können. Das ist natürlich ihr allererstes Interesse. Dieses Ziel, eine kernwaffenfreie Welt zu schaffen, kann nur dann realisiert werden,
wenn es wirklich konkrete Wege gibt, die zur nuklearen
Abrüstung führen, und wenn der Wille dazu international
gewachsen ist. Richtig ist aber auch: Es gibt viele realistische Schritte, die man gehen kann, ohne bereits über die
vollständige nukleare Abrüstung entschieden zu haben.
Unser Antrag zielt darauf ab.
Bei all diesen konkreten Schritten und schon gar nicht
in New York dürfen wir aus dem Auge verlieren, worum
es wirklich geht und was das überragende Ziel der
Nichtverbreitung ist, nämlich die Welt von allen Atomwaffen freizumachen.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Karl Lamers.
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Der Nichtverbreitungsvertrag für Kernwaffen aus dem
Jahre 1968 ist ein Eckpfeiler der internationalen Sicherheitspolitik in unserer Zeit. Längst ist die Welt aus dem
Stadium herausgewachsen, in dem einzelne Staaten allein
für ihre nationale Sicherheit sorgen konnten. Deshalb
bleibt nach wie vor das Ziel richtig, mit einem Kontrollregime erstens die Verbreitung von Nuklearwaffen und
Nukleartechnologie zu verhindern, zweitens die Zahl der
Kernwaffenstaaten so klein wie möglich zu halten und
drittens den Abrüstungsprozess auch bei diesen Waffen
zügig fortzusetzen. Dies war auch Ziel der von CDU/CSU
und F.D.P. getragenen Bundesregierung. Wir haben hart
daran gearbeitet und viel dafür getan. Wir stehen nach wie
vor zu dieser Politik und zu den Zielen, die der Nichtverbreitungsvertrag verfolgt.
({0})
Es wäre allerdings unrealistisch, zu glauben, dass diese
Einstellung in aller Welt vorherrschend ist. Pakistan und
Indien sind die Staaten, die in der letzten Zeit nukleare
Sprengsätze gezündet und so ihren Anspruch angemeldet
haben, als Atommächte behandelt zu werden. Nordkorea
konnte nur mit Mühe davon abgehalten werden, sein
Streben nach Nuklearwaffentechnologie fortzusetzen. Wir
würden uns auch wünschen, dass verschiedene Länder,
vor allem Indien, Pakistan, Kuba und Israel, den NichtverGert Weisskirchen ({1})
breitungsvertrag ratifizieren und so einen Beitrag zur
Sicherheit in der Welt leisten.
Meine Damen und Herren, alle Inhalte des Vertrages
tragen wesentlich zur Sicherheit in der Welt bei und sind
deshalb auch in diesem Hause nicht umstritten. Die
6. Überprüfungskonferenz am Sitz der Vereinten Nationen
in New York von Ende April bis Mitte Mai ist auch aus unserer Sicht, Herr Professor Weisskirchen, ein wichtiger
Schritt im Hinblick auf mehr Sicherheit in der Welt und auf
die Fortsetzung der Abrüstung der Nuklearpotenziale.
Dass es heute nicht zu einem Konsens zwischen uns
kommt, liegt nicht daran, dass wir dieser Überprüfungskonferenz nicht allen Erfolg wünschen, sondern
daran, dass Sie einen Antrag vorgelegt haben, der in vielen Punkten nicht konsensfähig ist. Darum geht es; das
möchte ich an einzelnen Beispielen darlegen.
({2})
Wir stimmen der Zielsetzung zu, die Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag zum Erfolg
zu führen. Wir stimmen allerdings zum Beispiel Punkt 7
Ihres Antrages in dieser undifferenzierten Form nicht zu,
in dem die Schaffung von kernwaffenfreien Zonen,
verknüpft mit einem Nichtverbreitungsvertrag, gefordert
wird. Aus unserer Sicht führt die Deklarierung von
atomwaffenfreien Zonen - man erinnert sich an die
Sprache der Vergangenheit ({3})
nicht automatisch zu mehr Sicherheit vor Nuklearwaffen.
Eine freiwillig verkündete oder gar eine von außen
aufgezwungene atomwaffenfreie Zone kann mehr Sicherheit schaffen. Sie kann aber auch die Abhängigkeit des
jeweiligen Landes oder einer Region von dem Wohlwollen
eines Nuklearstaates erhöhen. Eine atomwaffenfreie Zone
bedeutet nicht generell eine Perspektive für mehr Sicherheit, wenn andere ihre Nuklearwaffen behalten.
({4})
- Frau Beer, ich glaube, Sie können noch viel aus dieser
Debatte lernen, wenn Sie genau zuhören.
({5})
Natürlich wissen wir, dass es auch in unserem Interesse
liegt, Staaten und Kontinente wie etwa Südamerika, von
denen Herr Weisskirchen gesprochen hat und in denen es
keine Nuklearwaffen gibt, in diesem Status zu belassen.
Das ist auch Ziel unserer Politik. Wir wenden uns aber
dagegen, dass der Begriff atomwaffenfreie Zone - man
muss sich diesen Begriff einmal auf der Zunge zergehen
lassen; er wurde während des Kalten Krieges von der
Sowjetunion arg strapaziert; so lange liegt es noch gar
nicht zurück ({6})
ein Jahrzehnt nach dem Ende dieses Konfliktes wieder in
der Politik auftaucht. Auch mit Sprache kann man Politik
machen und Bewusstsein prägen. Darauf wollen wir hinweisen.
({7})
Ich weiß, dass Sie jetzt mit dem Begriff Sicherheitsgarantie gegenüber Nichtkernwaffenstaaten kontern auch das ist in Ihrem Antrag enthalten -, mit dem Staaten
und Menschen in atomwaffenfreien Zonen suggeriert
wird, allein ein Stück Papier, ein Vertrag, sei im Laufe der
Geschichte ein Garant für Sicherheit vor Nuklearwaffeneinsatz und für territoriale Unverletzlichkeit.
Dieser Begriff der Sicherheitsgarantie war schon
vor 1990 Gegenstand der Politik. Wäre es der Sowjetunion damals mit diesen verlockenden Angeboten
gelungen, einzelne NATO-Staaten aus dem Bündnis
herauszubrechen, dann wäre es in diesem Bereich nicht zu
mehr, sondern zu weniger Sicherheit der betroffenen Staaten gekommen. Dem wirkte einzig und allein die Nukleargarantie der NATO entgegen. Über mehr als 50 Jahre war
und ist dies der eigentliche Garant für die Sicherheit und
für die Stabilität in Europa.
({8})
Ich komme zu einem weiteren Punkt. Ich möchte jetzt
die ansprechen, Herr Weisskirchen, die diesen Antrag formuliert haben. Haben diejenigen, die diesen Antrag formuliert haben und die hier um Zustimmung werben, Frau
Beer, überlegt, welche Sicherheitsgarantien ein Staat
gegenüber einem Nichtkernwaffenstaat übernimmt, wenn
er eine so unpräzise Formulierung, wie sie in diesem
Vorschlag enthalten ist, unterschreibt? Muss der Sicherheitsgeber dann, so frage ich Sie, in jedem Fall als Garant
eintreten, wenn ein Angriff auf einen Nichtkernwaffenstaat erfolgt? Wie weit gehen die vertraglichen Bindewirkungen und die Sicherheitsgarantien? Wird hier ein Automatismus vereinbart? - Sehen Sie, das ist es, was uns an
diesem Antrag stört: unklare, unpräzise Formulierungen
und ihre vielleicht fatalen Folgewirkungen.
({9})
- Wenn Sie Ihren Zuruf beendet haben, setze ich meine
Rede fort.
Die funktionierende Nuklearstrategie der NATO ist seit
vielen Jahren der Garant für unsere Sicherheit. Die rotgrüne Koalition fordert in diesem Antrag die Offenlegung
aller Nukleardoktrinen, also auch die der NATO. Auch
das ist ein undifferenziert vorgetragenes Argument, dem
wir in dieser sehr auslegungsfähigen und damit missverständlichen Form nicht zustimmen können.
Gewiss ist es die Politik der NATO, seit dem Ende des
Kalten Krieges mit Offenheit und Transparenz zum Abbau
von Spannungen beizutragen und so das jahrzehntelang
vorhandene Misstrauen zwischen den Militärbündnissen
abzubauen. Aber die Frage ist doch: Was heißt Offenlegung? Kann sie so weit gehen wie zum Beispiel im Kosovo-Konflikt, dass nämlich sämtliche Schritte und Maßnahmen der Allianz gegen den Aggressor Milosevic groß
und breit in allen Medien diskutiert wurden, bevor überhaupt eine militärische Aktion erfolgte? General Naumann
hat dazu sehr beeindruckend Stellung genommen und darauf hingewiesen, dass Milosevic aufgrund der öffentlichen Diskussion bereits abends wusste, was am nächsten
Tag militärisch geschehen sollte.
Wenn die rot-grüne Koalition - ich muss sagen: mehr
oder weniger geschickt und undifferenziert - die Offenlegung der Nuklearstrategie der NATO in den Zusammenhang des Nichtverbreitungsvertrages hineinmogelt, dann
kann das nur stutzig machen und vielleicht auch den
Grund haben, dass man letztlich die Abschaffung dieser
Strategie erreichen will.
HerrStaatsminister, ichwilldanichtnachtarocken,nicht
nachsetzen, aber icherinneredochandenVorstoß IhresMinisters im letzten Jahr bei der Jubiläumstagung der NATO,
als er versucht hat, die Erstschlagoption der NATO abzuschaffen und aus der Bündnisstrategie herauszukippen.
Ein Jahr später, heute, ist Russland dabei, sich aus dieser
jahrzehntelangen Tradition zu verabschieden, nämlich den
Verzicht auf den nuklearen Erstschlag aufzugeben und abzuschaffen. Das muss Sie doch nachdenklich stimmen,
nachdem Sie gerade im letzten Jahr noch versucht haben,
Herr Staatsminister Volmer, genau dies zu erreichen und
das Bündnis in diesem Punkt zu schwächen.
Das nur als Ergänzung dazu, dass im vergangenen Jahr
über die Initiativen des grünen Außenministers im Bündnis Irritationen und große Differenzen entstanden sind.
Wir wollen die NATO als Garant unserer Sicherheit in
vollem Umfang erhalten und fortentwickeln. Wir wenden
uns, Frau Beer, Herr Weisskirchen, auch gegen den
Schlussabsatz des zweiten Abschnitts Ihres Antrags, in
dem von einem „Prüfprozess“ die Rede ist. Der in der
NATO eingeleitete Prüfprozess in Bezug auf die Nuklearstrategie kann und darf nach unserer Überzeugung nicht
dazu führen, dass die NATO-Strategie Stück um Stück demontiert wird.
Rot-Grün rufe ich zu: Sie dürfen nicht einmal imAnsatz
den Eindruck erwecken, dass NATO und nukleare Abrüstung einen Gegensatz darstellen. Denn die NATO hat mit
den unterschiedlichenAbrüstungsabkommen gezeigt, dass
sie bereit und fähig ist, ihr Nuklearpotenzial wesentlich zu
verkleinern. Seit Ende der 80er-Jahre wurden die nuklearen Mittelstreckenraketen und die nuklearen Gefechtsfeldwaffen vollständig aus dem europäischen NATO-Gebiet abgezogen. Auch die Zahl der noch verbliebenen Nuklearwaffen ist wesentlich reduziert worden.
Der Antrag der rot-grünen Koalition ist von unserer
Seite nicht zustimmungsfähig. Ich sage noch einmal:
Dafür tragen Sie die politische Verantwortung, weil Sie im
Vorfeld nicht den Versuch gemacht haben, hier zu einem
Konsens zu kommen. Entfernen Sie alles, was unsere Solidarität mit unseren NATO-Partnern infrage stellt! Mischen Sie nicht Äpfel mit Birnen, indem Sie den Eindruck
erwecken, die NATO sei eher ein Hindernis auf dem Weg
zu weniger Nuklearwaffen in der Welt! Genau diesen Eindruck erweckt dieser Antrag. Sagen Sie doch, dass die
NATO Tausende von Nuklearwaffen abgezogen und verschrottet hat und dies beispielhaft für wirkliche Abrüstung
weltweit ist!
Seien Sie ehrlich und geben Sie zu, dass Sie sich mit
diesem Antrag mit politischen Gegnern anlegen wollen,
indem Sie zwei eigentlich nicht miteinander zu vereinbarende Dinge mischen und so den Zwang erzeugen, dass
wir zustimmen, wenn wir von Ihnen nicht anschließend als
Gegner des Nichtverbreitungsvertrages bezeichnet werden wollen. Wir sind keine Gegner, denn wir wollen den
Erfolg dieser Konferenz - um das noch einmal zu sagen.
Ich möchte deswegen abschließend für meine Fraktion
festhalten: uneingeschränktes Ja zu dem Nichtverbreitungsvertrag und zum Teststoppvertrag; das ist völlig klar.
({10})
Nein aber zu Ihrer Absicht, in einer ganz undifferenzierten und nicht hinnehmbaren Weise Politikinhalte wie die
atomwaffenfreien Zonen und die Nuklearstrategie der
NATO mit dem Nichtverbreitungsvertrag in Zusammenhang zu bringen, die besser auch in Zukunft differenziert
und mit Augenmaß betrachtet werden sollten.
Meine Damen und Herren, das sind die Gründe, aus denen wir diesem Antrag nicht zustimmen. Wir fordern Sie
auf, wenn Sie dies wollen und politisch für richtig halten,
den Antrag zurückzuziehen und mit uns zusammen einen
neuen Antrag zu formulieren,
({11})
der alle Zweifel beseitigt, vollständige Klarheit schafft
über Absichten und Wirkungen, zu denen wir uns bekennen.
({12})
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({13})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Angelika Beer vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollege
Lamers, nur so viel: Ich finde es schwierig, dass Sie in einer aktuellen Situation, die überaus problematisch ist - ich
werde gleich etwas dazu sagen -, versuchen, übrigens zum
ersten Mal seit Jahren im Deutschen Bundestag, aus der
Frage der Nichtweiterverbreitung und der nuklearen Abrüstung parteipolitisches Kalkül zu ziehen.
({0})
Das ist ein Rückschritt im nationalen Verständnis
Dr. Karl-A. Lamers ({1})
({2})
über die Notwendigkeit der Reduzierung der Atomwaffen.
Dann zu dem, was Sie hier gegen atomwaffenfreie Zonen angeführt haben: Nennen Sie mir doch einmal die
Nachteile für eine Region, die zum Glück noch atomwaffenfrei ist. Diese Ideologie, die Sie heute angeführt haben,
ist ein Abschied von der Rüstungsbegrenzung und der Rüstungskontrolle. Das sind Alarmzeichen. - So weit dazu.
Die Situation ist ernst; ich will nur auf die Eckpunkte
eingehen: Ich erinnere an unsere Debatte vor fünf Jahren,
vor der letzten Überprüfungskonferenz, in der wir gemeinsam die Gefahren und Risiken, aber auch die großen
Chancen formuliert haben. Ich glaube, dass man konstatieren muss, dass die Rüstungskontrolle in diesem Bereich
heute in einer Krise steckt, die sich möglicherweise auch
auf der bevorstehenden NVV-Konferenz deutlich zeigen
wird.
Ich stelle fest, dass die Lage der atomaren Abrüstung
und Rüstungskontrolle Besorgnis erregend ist. Ich möchte gerne die wenigen Punkte, die dafür entscheidend sind,
nennen.
Nun kann nicht allein das Verhalten der Kernwaffenbesitzer als Grund für diese destabile Situation genannt werden, obwohl wir natürlich nach wie vor fordern, dass sich
die so genannten Havens endlich an der Verpflichtung aus
dem Art. VI orientieren und weiter nuklear abrüsten.
Es ist natürlich eine Tatsache, dass Staaten wie der Irak,
Nordkorea oder Libyen versuchen, in den Besitz von
Kernwaffen zu kommen, bzw. durch die Vergrößerung von
Reichweiten tatsächlich eine Bedrohung in den Bereichen
Proliferation und Angriff darstellen. Diese Probleme darf
man nicht negieren. Man muss sich mit ihnen auseinander
setzen. Sie sind eine sicherheitspolitische Destabilisierung
für die jeweiligen Regionen der Länder.
Wir haben die indischen und pakistanischen Atomtests
erleben müssen, die wider alle Vernunft die nukleare Karte regionalpolitisch missbraucht haben und dadurch das
Nichtverbreitungsregime gefährden. Wir raten aber zum
rationalen, vernünftigen Umgang mit diesen Entwicklungen. Das heißt aus unserer Sicht zunächst der Verzicht auf
die Dämonisierung der so genannten Schurkenstaaten und
die Stärkung der rüstungskontrollpolitischen Elemente.
Herr Lamers, das hätte ich heute von Ihnen erwartet.
Ein Regime, das vom Scheitern bedroht ist, kann man
doch nicht in der Form, wie Sie es gemacht haben, parteipolitisch an die Wand reden.
({3})
Wir müssen aber auch sehen, dass der republikanisch
dominierte US-Kongress den Abschluss eines Vertrages
über einen Atomteststopp verweigert hat, dass er ihn
blockiert und dass die Vereinigten Staaten möglicherweise durch die National Missile Defense Initiative den
ABM-Vertrag gefährden. Den ABM-Vertrag zu gefährden heißt, die gesamte nukleare Rüstungskontroll- und
Abrüstungspolitik möglicherweise zum Scheitern zu bringen. Überlegen Sie doch einmal, welche Folgen das hat!
Herr Kollege Lamers, Sie können sich freuen, wenn Sie in
Zukunft überhaupt noch irgendwo eine atomwaffenfreie
Zone finden.
Doch auch die russische Position - das will ich hier
noch ansprechen - ist nicht frei von Ambivalenzen. Kollege Weisskirchen hat die Duma angesprochen. Sie hat bisher den START-Prozess blockiert. Wir hoffen inständig,
dass morgen tatsächlich eine Wende dieser Blockade erfolgt und die Ratifizierung gelingt.
({4})
Damit wäre der Weg für START III frei. Doch wir müssen auch nach den Motiven dafür fragen.
In Russland wie in den USA wird über eine neue Rolle
von Atomwaffen nachgedacht. Solange Atomwaffen noch
einen hohen Prestige- und Statuscharakter haben, fällt es
dem wirtschaftlich angeschlagenen Russland, dessen
Rüstungsindustrie noch zu den intakten Bereichen gehört,
schwer, auf diese Waffen zu verzichten. Russland übernimmt im Moment spiegelbildlich die Strategie des Westens aus dem Ost-West-Konflikt - nicht zuletzt als Reaktion auf die Erweiterung der NATO.
Wir müssen uns konfliktreich, aber im Dialog, mit dem
Hochschaukeln von Rüstungspotenzialen aus den Zeiten
des Kalten Krieges auseinander setzen. Wir müssen uns
sowohl mit den Amerikanern als auch mit den Russen ins
Benehmen setzen. Kollege Lamers, gerade uns als einem
Land, das ganz bewusst für immer auf den Besitz eigener
Massenvernichtungswaffen verzichtet hat, steht es doch
an, bei diesen gefährlichen Entwicklungen den Zeigefinger mahnend, wenn auch in Kooperation, zu erheben.
Vor dem Hintergrund dieser Problembeschreibung sollten wir uns in dem genannten Bereich insbesondere um Folgendes bemühen - ich appelliere an Sie mitzumachen -:
Die Atomwaffen besitzenden Staaten müssen ihre Verantwortung wahrnehmen und das Gebot aus dem NVV endlich umsetzen.
({5})
Wir müssen uns für die Universalisierung der bestehenden nuklearen Rüstungskontrollverträge, insbesondere bei Indien und Pakistan, einsetzen, um neue Eskalationen zu verhindern. Der NATO-Prüfprozess zur Nuklearstrategie, den der Kollege Lamers - ich will nicht
„verpennt“ sagen - verschlafen hat,
({6})
muss sich an den Zielen des NVV orientieren. Es sind kritische Töne auch innerhalb der NATO gehört worden. Sie
haben dazu geführt, dass eine Arbeitsgruppe eingesetzt
worden ist. Auch die NATO hat ein Interesse daran, von
einer neuen Nuklearpolitik, die nicht mehr zu bändigen ist,
Abstand zu nehmen. Deswegen ist sie gehalten, sich an
den Abrüstungsprozess zu halten. Dort gibt es einen Konsens, den Sie heute gebrochen haben. Das ist schade.
({7})
Als nächster Redner hat der Kollege Hildebrecht Braun von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gert
Weisskirchen hat natürlich Recht, dass wir bei Grundfragen der Außen- und Sicherheitspolitik die Gemeinsamkeiten betonen sollen. Deswegen will ich zu Beginn deutlich machen, was uns verbindet. Allerdings werde ich am
Schluss auch deutlich machen müssen, weswegen wir dem
vorgelegten Antrag nicht zustimmen können.
Der Vertrag zur Nichtverbreitung von Kernwaffen war
das erste grundlegende Abkommen zur Abrüstung in der
Welt überhaupt. Im Jahr 1968 fürchteten viele - übrigens
zu Recht -, dass statt der damals fünf Atommächte wohl
bald bis zu 30 Staaten im Besitz von Atomwaffen sein würden, wenn sich nicht nahezu die ganze Welt darauf verständigte, keinen weiteren Staaten den Zugang zu Atomwaffen zu ermöglichen.
Der Vertrag wurde in der Tat zur Erfolgsstory. 187 Staaten sind ihm beigetreten - darunter auch Länder wie Argentinien, Brasilien und Südafrika, aber auch die Ukraine,
Kasachstan und Weißrussland. Das sind Staaten, die entweder schon Atomwaffen hatten oder doch sehr nahe daran waren. Nur Indien, Israel, Pakistan und Kuba haben
sich bisher noch nicht angeschlossen.
Die Unterschrift unter den Vertrag gibt allerdings noch
keine hundertprozentige Gewissheit über das Verhalten
des unterschreibenden Staates, wie Entwicklungen im Irak
oder in Nordkorea deutlich machen. Dennoch sind seit
dem Abschluss dieses Vertrages die Nukleargefahren für
die Welt ohne Zweifel geringer geworden.
({0})
Dass die Bundesrepublik Deutschland ebenso wie Japan - zwei wirtschaftlich starke Nationen mit großem wissenschaftlichen Know-how - auf den Besitz von Atomwaffen verzichtet hat, hat viele kleinere Staaten ermutigt,
ihrem Beispiel zu folgen. Dies war gut für den Weltfrieden, denn noch immer verbinden manche Staaten mit dem
Besitz von Atomwaffen die Vorstellung, sie würden damit
wichtiger, mächtiger oder gar sicherer.
Das geistige Umweltgift des Nationalismus ist wohl
die zentrale Triebfeder, die Staaten wie Indien und Pakistan mit ihrem Dauerzankapfel Kaschmir trotz immenser
Kosten in die Entwicklung von Atombomben getrieben
hat.
Nicht unerwartet hatte Präsident Clinton bei seinem
Besuch in Indien vor wenigen Wochen keinen Erfolg, als
er die Inder aufforderte, von ihrem Atomrüstungsprogramm abzulassen. Konnte doch Indien darauf verweisen,
dass es viermal so viele Einwohner wie die USA hat, die
ihrerseits nach wie vor ein riesiges Atomwaffenarsenal
unterhalten und den Atomtestverbotsvertrag nicht ratifiziert haben.
Dieses Beispiel zeigt, dass die nach dem Vertrag in
Kauf genommene Aufteilung der Welt in Waffenbesitzer
und Habenichtse durchaus problematisch ist. Dieses Konzept ist aber wohl noch auf lange Sicht ohne Alternative.
Die USA erschweren durch ihre nationale Politik des
letzten Jahres die Bemühungen, den Nichtverbreitungsvertrag endgültig zum Erfolg zu führen. So haben die Weigerung des Senats, den Atomtestverbotsvertrag zu ratifizieren, und die Erklärung der führenden Politiker der
USA, in Abweichung vom ABM-Vertrag ein Antiraketensystem auf amerikanischem Boden zu installieren, genau die falschen Signale gegeben. Wenn sich schon die Supermacht USA trotz ihrer weltweit konkurrenzlosen Ressourcen und trotz ihres Arsenals an Atomwaffen und
Trägerraketen bedroht fühlt, so stärkt die Beobachtung
dieses Umstands die Bedenken anderer Nationen, ob man
auf scheinbare zusätzliche Sicherheit durch eigene Raketenprogramme oder gar Atombomben verzichten kann.
In dem vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen
werden all diese Gefahren erkannt und es wird insoweit
der Wille ausgedrückt, die Abrüstungspolitik der Vorgängerregierung fortzusetzen.
Die F.D.P. kann diesem Antrag dennoch aus folgenden
Gründen nicht zustimmen: Erstens. In diesem Antrag werden kernwaffenfreie Zonen als ein geeignetes Mittel zur
Festigung des Nichtverbreitungsregimes bezeichnet. Ich
frage die SPD: Was hat Sie geritten, dass Sie diesen Problembegriff, der, da er aus der Zeit des Kalten Krieges
stammt, sehr negativ besetzt ist, wieder aufgenommen haben?
({1})
Wo sollen denn welche kernwaffenfreien Zonen errichtet werden? In Afrika, Südamerika oder vielleicht
nicht doch auch in Westeuropa?
({2})
Damit würden wir die Flexibilität der NATO-Strategie
aufgeben, die uns während des Kalten Krieges den Frieden bewahrt hat.
Warum denn überhaupt diese geographische Einengung
auf Zonen? Wir halten an der Vision des Vertrages im Hinblick auf eine kernwaffenfreie Welt fest und wir wollen auf
dem Weg dorthin dafür sorgen, dass außer in den jetzigen
fünf Kernwaffenstaaten und auf dem NATO-Gebiet nirgends Kernwaffen stationiert werden. Wozu dann noch die
Festlegung von Zonen? Das ist nicht hilfreich.
Wir wollen auch nicht, dass nach dem unglückseligen
Versuch des Außenministers Fischer, den NATO-Partnern
sein völlig untaugliches Konzept des Verzichts auf die Option eines atomaren Ersteinsatzes und damit eine grundlegende Änderung des strategischen Konzeptes aufs Auge
zu drücken, neuerlich Irritationen von Deutschland aus in
die NATO gebracht werden.
({3})
Wir wollen es Bundesminister Scharping gerne ersparen, erneut Wogen im transatlantischen Verhältnis glätten
und die vom deutschen Außenminister angefachten Kohlen aus dem Feuer holen zu müssen.
({4})
Die NATO-Strategie ist vor einem Jahr neu gefasst, aktualisiert und einmütig beschlossen worden. Die Sicherheitspolitiker der SPD haben bisher keinen Zweifel daran
gelassen, dass sie zu diesem strategischen Konzept stehen.
Sie sollten jetzt nicht einen Antrag einbringen, der ernsthafte Zweifel daran erkennen lässt.
({5})
Die Nichtverbreitung von Atomwaffen ist längst nicht
mehr nur ein Thema der Vereinbarung von Staaten, die
früher die absolute Kontrolle über diese Waffen hatten.
Kein Mensch weiß, wo exakt jeder Einzelne der circa
20 000 Gefechtsköpfe herumliegt, die die Sowjetunion
ihren Nachfolgestaaten hinterlassen hat. Internationaler
Terrorismus und eine fehlende berufliche Perspektive von
Menschen, die Zugang zu spaltbarem Material und zu
Atomwaffen hatten, stellen mittlerweile wohl das größte
Gefahrenpotenzial im Bereich der Kernwaffen dar.
Hierzu wird in dem vorliegenden Antrag nichts gesagt.
Das gemeinsame Vorgehen aller Vertragsstaaten bei der
Verhinderung von quasi privater Verbreitung von Atomwaffen ist aber das Gebot der Stunde. Die Konferenz in
New York muss sich auch hiermit beschäftigen - und dies
mit allem Nachdruck.
Vielen Dank.
({6})
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Heidi Lippmann
von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab: Wir werden den Regierungsantrag unterstützen, da in Abschnitt I unter den Punkten 1 bis 7 viele richtige und auch wichtige Aspekte aufgeführt sind. Zusätzlich aber haben wir einen eigenen
Entschließungsantrag eingebracht,
({0})
weil wir einige Dinge klarer ansprechen wollen und uns
ein konsequenteres Verhalten der Bundesregierung wünschen.
Unter I. 6. des Regierungsantrags steht, dass der ABMVertrag „eine Grundvoraussetzung für Fortschritte nuklearer Abrüstung“ sei. Dies ist vollkommen richtig, das
unterstützen wir. Da aber die USAgegenwärtig dabei sind,
diesen Vertrag durch den geplanten Aufbau einer nationalen Raketenabwehr auszuhebeln - das wurde schon von
den Kollegen angesprochen -, bedeutet dies das Ende dieses Eckpfeilers der Rüstungskontrolle; und das zieht
unweigerlich eine neue Aufrüstungsspirale im Bereich der
Kernwaffen nach sich.
Auch wir hoffen, dass die Duma den START-II-Vertrag ratifizieren wird, doch die Gefährdung des ABM-Vertrages durch das National-Missiles-Defense-Program
bleibt natürlich bestehen.
Herr Kollege Lamers, auf Ihre Rede hin möchte ich Ihnen doch einmal empfehlen, sich mit der neuen Nukleardoktrin der Russen auseinander zu setzen,
({1})
die Putin am 4. Januar dieses Jahres verabschiedet hat.
Dann werden Sie sehen, dass Ihre Interpretation nicht ganz
zutreffend ist. - Wir wollen, dass dies unmissverständlich
ausgedrückt und nicht herumgeeiert wird.
Dieselbe Kritik betrifft Punkt II des Regierungsantrages. Darin wird die „Fortentwicklung der Sicherheitsgarantien gegenüber den Nichtkernwaffenstaaten zu einem
vertraglich abgesicherten Instrument“ gefordert. Das ist
gut und schön, wir unterstützen dies auch. Aber alle Fachleute wissen, dass die neue Nukleardoktrin der USA den
Einsatz von Kernwaffen gegen Staaten, die sich B- oder
C-Waffen zulegen wollen oder im Verdacht stehen, solche
Waffen herzustellen, zumindest nicht ausschließt. Das
aber verstößt gegen die Sicherheitsgarantien, die lauten,
dass Kernwaffen unter keinen Umständen gegen Nichtkernwaffenbesitzer eingesetzt werden dürfen.
Man müsste sich also auch in diesem Punkt mit den
USAanlegen. Genau dies ist im Regierungsantrag nicht so
deutlich enthalten. Deswegen wünschen wir uns hier eine
Verstärkung. Herr Staatsminister, sollten Sie an der Konferenz in New York teilnehmen, so hoffe ich, dass Sie dies
mit auf Ihren Weg nehmen.
Dasselbe Spiel haben wir auch beim dritten Spiegelstrich, bei der Überprüfung der Nukleardoktrinen „auf ihre Vereinbarkeit mit dem Ziel der Abrüstung und Nichtverbreitung“. Man kann sich vorstellen, dass hier gerade
an die Infragestellung der Ersteinsatzoption der NATO
gedacht ist. Aber nachdem man in der NATO mit einem
ersten Vorstoß schmählich gescheitert ist, wird, statt Klartext zu sprechen, auch an dieser Stelle verwässert. Wir
wollen, dass die Regierung in dieser Sache beharrlich
dranbleibt. Wer den Ersteinsatz von Atomwaffen ins Kalkül zieht, kann nicht glaubhaft an der nuklearen Abrüstung
und Rüstungskontrolle arbeiten.
({2})
Im Unterschied zur Regierung wollen wir ein praktisches Bemühen um nukleare Abrüstung sehen. Alle in
Deutschland stationierten Sprengköpfe müssen abgezogen bzw. verschrottet werden, und das schnellstmöglich.
({3})
Es genügt nicht, kernwaffenfreie Zonen zu einem probaten Mittel zu erklären - so steht es im Regierungsantrag -; man muss dies vielmehr in konkrete Schritte umsetzen. Ich denke, dass wir uns bei dieser Forderung einig
sind.
Hildebrecht Braun ({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schließlich sollte die
Bundesregierung unseres Erachtens das Bemühen um die
vollständige nukleare Abrüstung dadurch unterstreichen,
dass alle Formen der so genannten nuklearen Teilhabe im
Rahmen der NATO aufgekündigt werden. Das würde die
Glaubwürdigkeit des Engagements gegen den atomaren
Rüstungswahnsinn erheblich erhöhen.
Wir werden Ihrem Antrag zustimmen. Wenn Sie unseren Antrag als Verstärkung und Ergänzung unseres gemeinsamen Bemühens verstehen - damit spreche ich die
linke Seite des Hauses an -, dann dürfte es Ihnen nicht allzu schwer fallen, unserem Antrag zuzustimmen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich
dem Herrn Staatsminister Ludger Volmer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Ende des Kalten Krieges hat sich für uns in Europa das Gefühl der unmittelbaren Bedrohung durch Kernwaffen drastisch verringert. Damit ist für viele die Bedeutung des
30 Jahre alten nuklearen Nichtverbreitungsvertrags in den
Hintergrund getreten. Leider gilt dies nicht für andere Regionen der Welt. Die indischen und pakistanischen Nukleartests vom Mai 1998 waren ein herber Rückschlag, mit
dem sich die Staatengemeinschaft nicht abfinden wird.
Die nukleare Nichtverbreitung und Abrüstung sind heute
ebenso wichtig wie zu Zeiten des Kalten Krieges.
({0})
Bei der letzten Überprüfungskonferenz im Jahre 1995
wurde der NVV unbegrenzt verlängert. Allerdings stehen
vier Länder, nämlich Kuba, Indien, Israel und Pakistan,
dem Vertrag immer noch fern. Die Bekämpfung der nuklearen Proliferation und die Fortführung der nuklearen
Abrüstung werden nur zu erreichen sein, wenn auch diese Staaten dem NVV als Nichtkernwaffenstaaten beitreten. Die Universalität des Vertrages bleibt das vorrangige
Ziel. Auf der bevorstehenden Überprüfungskonferenz
werden wir uns nachdrücklich darum bemühen, dieses
Ziel zu erreichen.
Das nukleare Nichtverbreitungsregime ist aber auch
durch andere Entwicklungen erheblich belastet worden.
Dazu gehören vor allem die im Irak aufgedeckten Programme zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen
sowie die Entwicklung weitreichender militärischer Raketentechnologie in verschiedenen Ländern. Sie wirkt politisch sehr destabilisierend, weil sie dem Verdacht auf die
mögliche Existenz geheimer Programme zur Entwicklung
von Massenvernichtungswaffen neuen Auftrieb geben
könnte.
Im Gegensatz zur konventionellen Rüstungskontrolle,
bei der unsere Abrüstungsbemühungen zu Erfolgen wie
der Anpassung des KSE-Vertrages führten, sieht es im nuklearen Bereich leider weniger gut aus. Die Genfer Abrüstungskonferenz stagniert. Der Atomtestverbotsvertrag
konnte bisher nicht in Kraft treten, weil wichtige Staaten
den Vertrag noch nicht ratifiziert haben. Ebenso kritisch
steht es um die Aufnahme von Verhandlungen über das
Verbot der Produktion von Spaltmaterial für Kernwaffen
oder anderen Kernsprengkörpern, die so genannten Cutoff-Verhandlungen. Die Bundesregierung verstärkt daher
ihren Appell an alle beteiligten Staaten, diesen Stillstand
jetzt zu überwinden.
In diesen Zusammenhang gehört übrigens auch die
zwar nicht proliferationsrechtliche, aber proliferationspolitische Problematik von Forschungsreaktoren, in denen
hoch angereichertes Uran verwendet wird.
Die rasche Fortsetzung der nuklearen Abrüstung ist von
überragender Bedeutung. Zwar haben die USA und Russland ihre nuklearen Arsenale nach dem Ende des Kalten
Krieges mehr als halbiert und Frankreich sowie Großbritannien einseitige Abrüstungsschritte unternommen. Aber
seit der letzten Überprüfungskonferenz stockt der Prozess.
Dies liegt vor allem daran, dass die russische Duma dem
START-II-Vertrag bisher ihre Zustimmung versagt hat.
Wir freuen uns daher über aktuelle, hoffnungsvolle Zeichen, dass die Duma den START-II-Vertrag am morgigen
Freitag endlich ratifizieren will.
({1})
Zu begrüßen ist in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass sich zentralasiatische Staaten, die früher der Sowjetunion angehörten, nun zu atomwaffenfreien Zonen
erklärt haben.
Mit der Duma-Entscheidung wäre der Weg für weitere
substanzielle Abrüstungsschritte im Rahmen eines
zukünftigen START-III-Vertrages frei, der unmittelbar
anschließend in Angriff genommen werden sollte. Dies
wäre ein positives Signal für die Überprüfungskonferenz
von New York.
Neben einer umfangreichen Bestandsaufnahme wird
man dort hauptsächlich Wege aufzeigen müssen, wie den
wachsenden Gefahren der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägermittel, vor allem der nuklearen Waffen, zukünftig wirksamer begegnet werden
kann. Die Bundesregierung setzt dabei weiterhin in erster
Linie auf politische und diplomatische Mittel, das heißt die
Stärkung der Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge sowie der darauf aufbauenden Exportkontrollsysteme.
({2})
Die Verträge müssen universelle Geltung erhalten sowie
umfassend implementiert und zuverlässig verifiziert werden.
Militärische Mittel dagegen können erst dann Bedeutung erlangen, wenn alle anderen Instrumente versagt haben. Ihre Einführung darf jedoch vorhandene Abrüstungsund Rüstungskontrollverträge nicht in ihrer Substanz gefährden. Sie darf nicht dazu führen, dass neue nukleare
Rüstungsspiralen in Gang gesetzt werden.
({3})
Dies gilt auch konkret für den ABM-Vertrag, über dessen Zukunft zwischen Russland und den USA gegenwärtig gesprochen wird.
Wir meinen, dass dies einvernehmlich geschehen und eine Vertragsanpassung nur gemeinsam mit weiteren substanziellen Abrüstungsschritten im Rahmen eines zukünftigen START-III-Vertrags realisiert werden sollte.
Auf der Überprüfungskonferenz sollten daher konkrete Maßnahmen zur Stärkung der nuklearen Nichtverbreitung und Abrüstung im Vordergrund stehen. Ziel ist ein
realitätsadäquater Katalog praktischer Schritte in einem
einvernehmlich beschlossenen Abschlussdokument. Besonders wichtig wird dabei die enge Zusammenarbeit mit
unseren EU-Partnern sein. Auf unsere Initiative hin gelang
es zum ersten Mal, zu einer gemeinsamen Position der EU
zu Fragen der nuklearen Nichtverbreitung und Abrüstung
zu kommen, die voraussichtlich heute Nachmittag formell
beschlossen wird.
Dies gibt der EU neuen Handlungsspielraum und setzt
ein wichtiges Beispiel für die Vertragsstaatengemeinschaft. Die EU selber wird so auf der Überprüfungskonferenz wesentlich besser dazu beitragen können, zu konkreten Ergebnissen zu kommen. Die Bundesregierung
wird sich - hoffentlich mit Unterstützung des gesamten
Hauses - auch weiterhin für das Ziel der vollständigen Abschaffung aller Atomwaffen einsetzen.
({4})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem
Titel „Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungs-
vertrag zum Erfolg führen“, Drucksache 14/3163. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2908
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti-
onsfraktionen und der PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/3190 mit dem Titel
„Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU-Fraktion und der
F.D.P.-Fraktion gegen die Stimmen der PDS-Fraktion ab-
gelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Waldzustandsbericht der Bundesregierung
1999 - Ergebnis des forstlichen Umweltmonitoring - Drucksache 14/3090 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({1})
- zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Hilfsprogramm für die Beseitigung von Sturmschäden im Wald durch den Orkan „Lothar“
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich
Heinrich, Birgit Homburger, Ernst Burgbacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Rasche und wirksame Hilfe für Waldbesitzer
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heidemarie
Wright, Iris Follak, Renate Gradistanac, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Steffi Lemke, Ulrike Höfken,
Winfried Hermann und der Fraktion BÜNDNIS90/
DIE GRÜNEN
Waldschäden durch die Orkane im Dezember
- Drucksachen 14/2570, 14/2583, 14/2685,
14/3045 Berichterstattung:
Abgordneter Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Heidi Wright von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der diesjährigen Walddebatte, die heute am späteren Abend noch durch
die Debatte zum Tropenwaldbericht ergänzt wird, begleitet uns die Erkenntnis, dass trotz Anstrengungen zwar geringfügige Verbesserungen beim Waldzustand erreicht
werden konnten, weitere Anstrengungen jedoch kontinuierlich nötig sind und keinesfalls Entwarnung gegeben
werden kann.
Um es vorweg und unumwunden zu sagen: Der Waldzustandsbericht des Jahres 1999 zeigt weiterhin einen kritischen Waldzustand. Dennoch meine ich - das will ich
gerne detailliert ausführen -: Die Bundesregierung ist auf
einem guten Wege, durch Ansätze in verschiedenen Politikbereichen den Waldzustand bzw. auf diesen einwirkende Kriterien zu verbessern.
Natürlich freuen wir uns über jeden einzelnen Lichtblick, über jede Verbesserung, so zum Beispiel darüber
dass der Anteil der deutlichen Schäden in keiner Baumart
mehr den höchsten Stand hat. Hingegen will ich aber auch
nicht negieren, dass der Anteil der Bestände ohne Schäden
bei der Buche bei lediglich 21 Prozent und bei der Eiche
bei nur 20 Prozent liegt, also erschreckend hoch ist.
Jeden, der glaubt, sich an den kritischen Waldzustand
gewöhnen zu können, oder sich diesen besser redet als er
ist, jeden, der glaubt, Umweltverbesserungsmaßnahmen
seien nicht mehr oben auf die Tagesordnung zu setzen,
kann ich nur warnen:
({0})
Der Waldzustand hat sich zwar nicht verschlechtert,
aber von einer Verbesserung zu reden wäre bereits übertrieben. Insbesondere die anhaltend negativen Ergebnisse
der Bodenzustandserhebung im Wald müssen aufschrecken. Hier ist nicht weniger festzustellen als eine flächendeckende Versauerung, eine Disharmonie im Verhältnis
von Kohlenstoff zu Stickstoff
({1})
und eine kritische Konzentration von Schwermetallen.
Dies gefährdet nicht nur die Stabilität des Waldes maßgeblich, sondern kann auch zu einer Gefährdung von
Quell- und Grundwasser führen.
Somit ist nachdrücklich festzuhalten, dass Wald natürlich weit mehr als die Summe der Bäume ist. Gerade die
Multifunktionalität des Waldes ist nicht hoch genug zu
schätzen und die Anstrengungen zum Schutz des Waldes
dürfen uns nicht hoch genug sein.
({2})
Es ist, verehrte Kollegen der Opposition, absolut schädlich, die Ökosteuer zu diffamieren, anstatt sie als kreativen
Anstoß
({3})
zur Reduzierung des Treibstoffverbrauchs im individuellen Kfz-Verkehr zu begreifen.
({4})
Es genügt auch nicht, sich immer wieder vorzubeten,
unsere deutschen Umweltschutzauflagen und -maßnahmen seien ausreichend oder gar überzogen, die Düngemittelverordnung zur Minderung von Stickstoffeinträgen
sei jetzt absolut ausgereizt. Es genügt nicht, sich vorzubeten, die deutsche Forstpolitik, die sehr föderal gestaltet ist,
also die bayerische und die niedersächsische Waldbaupolitik, sei eh so gut, dass sie gar nicht verbessert werden
könnte.
({5})
Das ist alles nicht so gut. Gut sein heißt nicht, nicht noch
besser werden zu können.
({6})
Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen und lieber Herr
Minister Funke, müssen wir: noch besser werden.
Besser kann man nur werden, wenn man sich selbst in
die Pflicht nimmt, sich aber auch von außen reinschauen
und kontrollieren lässt. Ich spreche die Zertifizierung an.
Erst hat sie keiner gewollt. Es hieß: Brauchen wir nicht,
weil wir eh die Besseren sind, wollen wir nicht, weil es uns
nichts bringt und uns nur Mühe macht, bekommen wir
nicht, weil wir eh die Mehrheit haben. Das war einmal. Wir
brauchen die Zertifizierung, wir wollen sie und wir bekommen sie.
({7})
Hier danke ich dem Ministerium, das sich eingesetzt
und verdient gemacht sowie moderierend die Zertifizierungsdiskussion positiv begleitet und vorangebracht hat.
({8})
Zeit, sehr verehrter Herr Kollege Ronsöhr, Freiherr von
Schorlemer, wurde allemal vertan. Denn bis zum Regierungswechsel waren die Abwehrmechanismen festgezurrt.
Für mich ist das Thema Zertifizierung keineswegs abgehakt. Wir bekommen die Zertifizierung, weil der Markt
sie nachfragt. Aber das darf es nicht gewesen sein. Zertifizierung ist keinesfalls Selbstzweck, sondern Ziel und
Hintergrund müssen die Fortentwicklung der Nachhaltigkeit und die angemessene Verbesserung der ökonomisch,
ökologisch und sozial relevanten Qualitäten des Waldes
sein. Neben der Erfüllung glaubwürdiger Zertifizierungskriterien sind die Politik der Luftreinhaltung sowie die
Maßnahmen der Überwachung des Zustandes unseres
Waldes dringend fortzusetzen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition
und lieber Kollege Hornung, auch wenn es schmerzt: Ein
Weg zur Luftreinhaltung ist auch die ökologische Steuerreform, die zu einer Reduzierung des Treibstoffverbrauchs
und zu einem Innovations- und Entwicklungsschub beigetragen hat und weiter beitragen wird.
({10})
Das EEG, das Erneuerbaren-Energie-Gesetz, die Förderprogramme für erneuerbare Energien und das 100 000Dächer-Solar-Programm sind ein nicht unwesentlicher
Beitrag zur Energiewende und zur Klimaschutzpolitik, die
wir insbesondere auf europäischer Ebene forcieren müssen.
({11})
Schwefelfreiheit im Dieselkraftstoff, vermehrter Gütertransport auf der Schiene, weitere Minderung der Ammoniakemissionen aus der Landwirtschaft müssen folgen.
Klimaschutz ist eine ständige Aufgabe und ich weiß,
dass wir diesen Klimaschutz nicht allein national bewerkstelligen können. Wohl sehe ich, dass im europäischen
Vergleich des Waldzustandes in weiten Teilen Deutschlands signifikante Verbesserungen, hingegen in fast allen
europäischen Regionen signifikante Verschlechterungen
zu verzeichnen sind. Das zeigt der Waldzustandsbericht
auf Seite 37.
Dies will ich jedoch nicht zum Ausruhen nutzen, sondern als europäische Aufgabe Ihnen, sehr verehrter Herr
Minister, auch in den Europäischen Rat mitgeben. Und
hier ist auch die EU-weite Harmonisierung der Energiebesteuerung voranzubringen.
({12})
Liebe Kollegen, es ist viel liegen geblieben. Es gibt viel
zu tun. Wir packen es an.
({13})
Noch einiges zu den Sturmschäden aufgrund des Orkans „Lothar“, weil wir diese Anträge auch behandeln:
Frankreich, Baden-Württemberg und Bayern wurden
enorm geschädigt. Die heutige Walddebatte möglicherweise nochmals zu einer Südschienen-Wahlkreis-Betroffenheits-Debatte auszuweiten
({14})
und diese zu instrumentalisieren, nützt nichts. Lassen Sie
es einfach, liebe Kollegen.
({15})
Frau Kollegin Wright, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ronsöhr?
Er kommt nicht aus einem
der betroffenen Gebiete. Deshalb möchte ich dem Kollegen Ronsöhr einmal vortragen, was wir bereits gemacht
haben. Vielleicht erübrigt sich dann seine Frage. Danke,
Herr Präsident.
Also keine Zwischenfrage?
Nein.
Kolleginnen und Kollegen, wir haben hier bereits die
Debatte geführt, und sind uns nicht einig geworden. Dass
bei einer solchen Naturkatastrophe jede Hilfe als zu wenig
erscheint, ist das eine, dass aber jede Hilfe doch auch willkommen sein muss, ist das andere. Es ist geholfen worden,
und es wird weiter geholfen. Der Minister ist nicht nur
unmittelbar danach in das Sturmgebiet gereist. Die Bundesregierung hat auch ein ganzes Bündel von Sofortmaßnahmen angeschoben und darüber hinaus ein Sonderhilfsprogramm von 30 Millionen DM aufgelegt. Liebe
Kollegen, ich hoffe, es hat sich jetzt auch bis zu Ihnen herumgesprochen: Diese 30 Millionen DM sind vermehrbar.
Die Kreativität der betroffenen Länder durch Ko-Finanzierung und, wie geschehen, durch eigene Sonderhilfsprogramme ist gefordert. Hier hinkt der Vergleich mit dem
vom Oder-Hochwasser betroffenen Land Brandenburg.
Dieser Vergleich ist einfach schmählich und kleinlich.
({0})
Noch etwas zum Praktischen aus den Sturmgebieten:
Erkundigungen haben ergeben, dass die Räumungsarbeiten unter schwierigsten Bedingungen dennoch zügig
vorangehen. Hier gilt meine Anerkennung den Einsatzkräften, den Waldbauern, den Facharbeitern vor Ort. Probleme bestehen jedoch beim zügigen Abtransport aus den
Sturmschadensgebieten.
Damit die bundesweite Einschlagsbeschränkungsverordnung ihre marktstabilisierende Wirkung entfalten kann,
sind größere Sturmholzmengen auch in weiter entfernte
Holzverbrauchszentren zu liefern. Dabei kann eine zeitlich
befristete Ausnahmegenehmigung für höchst zulässige
Gesamtgewichte bei Holztransporten angewandt werden.
Ich baue darauf, dass sich im Ländle und in Bayern die
Bürokraten den Praktikern nicht in den Weg stellen und
der zügige Fortgang gewährleistet ist. Denn - und das ist
auch eine erfreuliche Nachricht - 70 Prozent des
Sturmholzes sind vermarktungsfähig, und der Holzmarkt
hat sich bislang glücklicherweise als aufnahmefähig erwiesen.
Ich danke Ihnen sehr.
({1})
Als nächster Redner hat der Kollege Reinhard von Schorlemer von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Frau Wright, Sie haben in der Zusammenfassung der Beurteilung des Waldzustandsberichtes praktisch das hervorgehoben, was auf Seite 5 zusammenfassend beschrieben worden ist:
Die Politik der Luftreinhaltung sowie die Maßnahmen der Überwachung des Gesundheitszustandes unseres Waldes müssen deshalb fortgesetzt werden.
Ich habe mir gerade vorgestellt, was gewesen wäre, wenn
wir vor zwei Jahren diesen Satz vorgelesen hätten: Welch
eine Empörung, welch eine Entrüstung, welch eine Dramaturgie wären dann vonseiten der jetztigen Koalition
hier vorgeführt worden!
({0})
Wenn man in der Regierung ist, sieht manches anders aus.
Das ist nun einmal so. Sie erleben es jetzt entsprechend.
({1})
Drei ganz entscheidende Sätze im Waldzustandsbericht
sind für mich die folgenden:
Auf dieser Erkenntnis aufbauend konnte sich in
Deutschland seit mehr als 200 Jahren eine Forstwirtschaft entwickeln, die die Nachhaltigkeit der Holzproduktion und deren periodische Planung und Kontrolle verfolgte. Es entstand der „Wirtschaftswald“.
Heute versteht man unter Nachhaltigkeit die dauerhafte Bereitstellung der ökonomischen, ökologischen
und sozialen Wirkungen und Leistungen des Waldes.
Herr Minister, ich empfehle Ihnen, dass Sie gerade diese drei Sätze auch dann sehr ernst nehmen, wenn wir das
Thema Zertifizierung behandeln. Ich bin froh, Frau Kollegin Wright, dass Sie das angesprochen haben. Natürlich
wird es eine Zertifizierung geben. Der Prozess war langwierig, weil wir ihn zusammen mit den Betroffenen durchlaufen wollten. Wir wollten nichts aufstülpen, wir wollten
es nicht durch Fremdkontrolle erreichen, sondern wir
wollten es mit den Betroffenen gemeinsam machen.
({2})
Wir wollten es nicht nur national, sondern international
machen. Das heißt, wir wollten es praktisch von Finnland
bis nach Griechenland erreichen, um zum Beispiel im
PEFC zu europäischen Standards zu kommen. Ich bin
dankbar, dass beispielsweise mein Heimatland Niedersachsen oder das Land Rheinland-Pfalz durch ihre Landwirtschaftsminister erklärt haben, dies sei der richtige
Weg, wie wir zu einer Zertifizierung mit den Betroffenen
kommen könnten.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie sieht es
aber mit dem politischen Rahmen für die Forstwirschaft
aus? Ich rufe bei solchen Debatten immer wieder ins Gedächtnis, wie sich das Waldeigentum zusammensetzt:
dass der Privatwald 46 Prozent ausmacht, der Staatswald
34 Prozent und der Kommunalwald 20 Prozent. Die
1,3 Millionen Waldbesitzer haben eben nicht alle 500 oder
1 000 Hektar, sondern das sind im Durchschnitt Betriebe
mit rund 5 Hektar.
({4})
- Herr Kollege Heinrich gehört auch zu den 1,3 Millionen
Waldbesitzern.
In der Frage der Waldpolitik hören wir dann allerdings
konkret, dass eine Neubewertung der Einheitswerte vorgenommen werden soll. Dies bedeutet höhere Grundsteuer, dort, wo vorhanden, höhere Kammerbeiträge oder andere höhere Abgaben, die nach dem Einheitswert berechnet werden. Auch gibt es höhere Berufsgenossenschaftsbeiträge. Kleinwaldbesitzer werden zum Beispiel durch
Anhebung der Grenze von 150 auf 450 DM überproportional belastet. Wir wissen auch, dass die von Ihnen so gepriesene und von Frau Wright gerade angeführte Ökosteuer dem Ökosystem Wald zusätzliche Kosten aufbürdet, was angesichts seiner großen Leistungen in der Luftund Wasserreinigung widersinnig ist.
({5})
Auf unsere Kritik wird von der Bundesregierung sehr
schnell auf die Haushaltssituation hingewiesen. Das könnte man ja akzeptieren. Aber dazu steht natürlich total in
Widerspruch, dass wir auf der anderen Seite von Herrn
Trittin hören, dass er gleichsam zum Nulltarif Wald an
Umweltverbände verschenken, verscherbeln und verschleudern will.
({6})
Wir müssen auch den Schwarzwaldbauern und anderen
Geschädigten sagen, dass durch die Änderung des § 34 b
des Einkommensteuergesetzes durch die Koalition ein
schlechterer Steuersatz zu mehr Belastungen führt.
({7})
Bei der Holzvermarktung kann und muss der Holzabsatzfonds eine fördernde Rolle spielen. Nur dafür zahlen
die Betriebe der Forst- und Holzwirtschaft Beiträge ein.
Sie sind übrigens die einzigen Einzahler. So wird in Zusammenarbeit zwischen Holz- und Forstwirtschaft durch
Verbreiterung der Absatzmärkte die Ertragssituation verbessert.
Auch hier sollte der alte Satz gelten: Mehr selbstentwickeltes Handeln und weniger staatlicher Einfluss tut allen gut.
Die fürchterlichen Folgen des Orkans „Lothar“ in
Süddeutschland sind für die Waldbesitzer eine riesige Belastung. Ich sage ganz offen: Als der im Frühjahr angekündigte Besuch des Bundeskanzlers im Schwarzwald
aus Termingründen abgesagt wurde, war mir klar: Mehr
Hilfen gibt es nicht. Hier läuft kein Drehbuch à la Holzmann ab.
({8})
Sie, Herr Minister, mussten dann die für die Betroffenen
schlechteren Nachrichten verkünden und verteidigen.
Ich weiß aus eigener Kenntnis, wie das anders gemacht
werden kann. Wir haben es im Sturmwinter 1990 besser
gemacht. Als ein Orkan 1972/73 Millionen Festmeter Holz
in Niedersachsen niedergemacht hat, ist damals einvernehmlich von Bundestag und Bundesregierung - damals
gab es dort eine sozial-liberale Mehrheit - ein großes
Hilfsprogramm aufgelegt worden. Damit konnte den
Waldbauern sichtbar geholfen werden. Das scheint jetzt im
Schwarzwald nicht in ähnlicher Weise zu gelingen.
({9})
Herr Minister, ich verkenne überhaupt nicht: Sie haben
sich bemüht und Sie bemühen sich weiterhin. Ich möchte
Ihr Wollen und Ihr Engagement bezüglich der Hilfe überhaupt nicht infrage stellen.
({10})
Aber wenn man auf der Regierungsbank sitzt, dann - das
ist das Schicksal, wenn man dort sitzt - entscheiden nicht
wohlfeile Worte, sondern einzig und allein Taten, die unten ankommen.
({11})
Herr Minister, Sie werden sich auch mit den Fragen
auseinander setzen müssen: Was habe ich erreicht? Habe
ich den Finanzminister überzeugt? Sie werden sich trotz
Ihrer guten Ansätze zum Beispiel bei der Novellierung des
Bundesnaturschutzgesetzes fragen müssen: Was habe ich
angekündigt? Was ist unten angekommen? Was habe ich
in der Regierung, insbesondere gegenüber Herrn
Trittin, durchgesetzt?
({12})
Diesen Fragen haben Sie sich, Herr Minister, zu stellen. An
diesen Fragen wird Ihre ganz persönliche forstpolitische
Arbeit bewertet werden.
({13})
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Steffi Lemke vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr
geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beschäftigen uns heute mit zwei Beratungsgegenständen, nämlich mit dem Waldzustandsbericht 1999 und
mit mehreren Anträgen zur Sturmkatastrophe „Lothar“ in
Baden-Württemberg, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, außer dass es sich bei
beiden Beratungsgegenständen um den Wald handelt.
Aber wenn man Ursachenanalyse in den beiden Themenbereichen betreibt, dann wird man vielleicht feststellen,
dass sie enger beieinander liegen, als es uns allen lieb ist.
Der Waldzustandsbericht 1999 mahnt uns, den Blick
erneut auf die Schäden im Ökosystem zu richten, die direkt durch den von Menschen verursachten Schadstoffausstoß entstehen. Alle Interpretationsspielräume hinsichtlich einer leichten Verbesserung des Waldzustandes in
einzelnen Regionen oder des Zustandes einzelner Baumarten, die es in der Tat gibt, dürfen nicht über die deutliche Sprache des Berichts hinwegtäuschen: Wir muten unserem Ökosystem nach wie vor zu viel zu. Ich weigere
mich, die Tatsache, dass alles nicht noch viel schlimmer
ist, als man vor Jahren befürchtet hat, als Erfolg zu verbuchen, so wie es die CDU/CSU immer wieder versucht.
Der Zustand des Waldes hat sich bei einigen Baumarten seit Mitte der 90er-Jahre auf einem schlechten Niveau
eingependelt. Allerdings hat sich beispielsweise der Zustand der Eichen weiter verschlechtert: Fast die Hälfte dieser Baumart weist starke Schäden auf. An diesem Beispiel
zeigt sich, dass man mit einer monokausalen linearen Betrachtung bei der Lösung des Problems nicht vorankommt. Das Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren wie Schadstoffe, Trockenheit und Klimaveränderungen, mit denen wir auch in Mitteleuropa verstärkt zu
tun haben, muss mehr Beachtung finden.
Dieser notwendigen Weiterentwicklung der Waldzustandsbetrachtung trägt der vorliegende Bericht Rechnung. Er stellt erstmals die Untersuchungen zu den Ursache-Wirkung-Beziehungen breit dar. Das wird bei der
Entwicklung von Maßnahmen in der Zukunft eine große
Rolle spielen müssen.
Hinzu kommt, dass wir über den eigenen Tellerrand
schauen und international angewandte Methoden der Ökosystembetrachtung in den Waldzustandsbericht 1999 einfließen lassen.
(Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]
Das so genannte Critical-Loads-Konzept wird inzwischen auch im Waldzustandsbericht genutzt. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat dieses System bereits 1996 gefordert, das dazu dient, festzustellen, wie sich die Schadstoffentwicklung im Ökosystem Wald darstellt. Eine weitere Forderung war, entsprechende Gegenstrategien zu entwickeln. Dies wird hoffentlich die Diskussion - weg von
der ideologischen Auseinandersetzung über leichte Verbesserungen oder Verschlechterungen von Jahr zu Jahr dahin gehend konzentrieren, dass wir verstärkt über Maßnahmen zum Klimaschutz beraten.
({0})
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat dazu in den
vergangenen Jahren immer wieder verschiedene Strategien vorgelegt. Ich erinnere an die Ozonminderungsstrategie. Ozon ist, was die Waldschadensproblematik anbetrifft, erst in den letzten Jahren verstärkt in das Bewusstsein gerückt. Man hatte ursprünglich gar nicht
angenommen, dass die steigenden Ozonwerte in den Sommermonaten auf den Waldzustand so deutliche Auswirkungen haben könnten. Darüber wird inzwischen diskutiert und Ozonminderungsstrategien werden in diesem
Haus in den nächsten Wochen und Monaten noch eine Rolle spielen. Dann wird die Unterstützung von all denjenigen, die sich heute positiv für den Waldschutz aussprechen, gefragt sein.
({1})
Stichwort Klimaschutz: Ich möchte darauf hinweisen,
dass die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen sehr wohl Erfolge vorzuweisen haben.
Maßnahmen sind eingeleitet worden, die sich nicht kurzReinhard Freiherr von Schorlemer
fristig, aber hoffentlich mittelfristig auf den Zustand der
Wälder niederschlagen werden. Das Ökosystem ist so
komplex, dass dafür niemand eine Garantie abgeben kann.
Aber durch die Ökosteuer, durch die Förderung der regenerativen Energien und durch Bestrebungen, den Verkehr
umweltfreundlicher zu gestalten, insbesondere durch die
Verlagerung von Straßenverkehr auf die Schiene, werden
wir bei der CO2-Minderung und auch bei der NOX-Reduzierung vorankommen.
({2})
Wenigstens darüber, dass all dies nur gemeinsam mit
denjenigen, die die Wälder pflegen und damit ihr Einkommen erzielen, zu erreichen ist, können wir in diesem
Hause einen Konsens finden. Die Debatte über die
Unternehmensteuerreform werden wir im Ausschuss noch
intensiv führen. Heute haben wir andere Beratungsgegenstände.
Ich möchte auf einen Punkt, der angesprochen worden
ist, Bezug nehmen, und zwar auf die Zertifizierung. Die
Zertifizierung verfolgt das Ziel, ein Label, also eine Kennzeichnung, zu entwickeln, um Holz besser zu vermarkten,
um Holz am Bau - dort ist es sinnvoll; es ist ein ökologischer Baustoff - stärker einzusetzen. Mit diesem Ziel diskutieren wir seit mehreren Jahren eine Zertifizierung. Es
haben sich bedauerlicherweise verschiedene Zertifizierungssysteme entwickelt. Ich hätte es lieber gesehen,
wenn man sich ideologiefrei auf eines hätte verständigen
können. Das war aber in Deutschland leider nicht möglich.
An dieser Debatte stört mich massiv, dass man versucht, die beiden Siegel gegeneinander auszuspielen, um
seine parteitaktischen Spielchen auf dem Rücken der
Forstwirtschaft auszutragen.
({3})
Man kann über das eine oder andere Zertifizierungssystem dieser oder jener Meinung sein. Was aber aus meiner Sicht nicht geht, ist das, was Landwirtschaftsminister
von CDU und CSU in den vergangenen Wochen unternommen haben, indem sie sich an eine Baumarktkette, die
beabsichtigt, das FSC-Siegel einzuführen, gewandt haben
und unter Androhung von „moralischer Keule“ dieses Unternehmen aufgefordert haben, bestimmte Siegel dort
nicht so einzusetzen, wie die Unternehmen es planen.
Ich komme ja aus einem anderen Land als die meisten
Kollegen von CDU und CSU, aber einen solchen Eingriff
in freie marktwirtschaftliche Entscheidungen von Unternehmen hätte ich Ihnen - ehrlich gesagt - nicht zugetraut.
({4})
Das müssen Sie mit sich selber ausmachen. Ich hoffe, dass
sich die Unternehmen von solchen populistischen Briefen
von Ministern, von Regierungen der CDU/CSU nicht beeindrucken lassen und ihre unternehmerischen Entscheidungen weiterhin so treffen, wie sie erforderlich sind.
Denn die Zertifizierungssysteme sollen sich am Markt
durchsetzen und nicht in den Landesregierungen in BadenWürttemberg oder in Bayern.
({5})
Damit möchte ich überleiten zu der Debatte, die wir
hier bereits geführt haben über die Schäden durch den
Sturm „Lothar“ in Baden-Württemberg im Dezember
des letzten Jahres. Ich denke, dass hier deutlich geworden
ist, dass die Bundesregierung und die Fraktionen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen die betroffenen Waldbesitzer
intensiv unterstützen.
({6})
Diese haben wirtschaftliche Verluste erlitten, zum Teil
sind auch menschliche Verluste zu beklagen gewesen.
Aber wir versuchen, die wirtschaftlichen Schäden für diese Waldbesitzer aufzufangen. Hier hat auch die Landesregierung von Baden-Württemberg durchaus positive Ansätze entwickelt und Hilfen für die Waldbesitzer gegeben.
Ich fände es positiv, wenn dies gemeinsam von Bundesregierung und Landesregierung weiterentwickelt
würde; denn es reicht nicht aus, laut den Rachen aufzusperren - wie Sie das getan haben - und zu schreien: Es
muss mehr sein, es muss mehr sein! 30 Millionen DM an
Hilfen für die Waldbesitzer sind viel zu wenig! Das ist eigentlich gar nichts!
Das ist eine Debatte, die den Waldbesitzern in keinster
Weise hilft. Es sind jetzt Gelder bereitgestellt worden über das hinaus, was die Bundesregierung insbesondere
bei der Begrenzung des jetzt auf den Markt kommenden
Holzes sehr schnell und unbürokratisch getan hat.
Des Weiteren ist es jetzt notwendig, die 30 Millionen DM zum einen kozufinanzieren, um die Summe zu erhöhen, die den Waldbesitzern dann tatsächlich zur Verfügung steht,
({7})
das heißt, seitens des Landes und seitens der EU-Ebene
kozufinanzieren - das ist eine Bestrebung, die von uns intensiv weiter verfolgt werden wird -, und zum anderen
dafür zu sorgen - statt hier einfach nur in platter Polemik
nach mehr Geld zu rufen -, dass das Geld bei den Betroffenen ankommt.
({8})
Es hilft nichts, diese Gelder irgendwo auf dem Papier
stehen zu haben, wenn es nicht in gemeinsamen Anstrengungen gelingt, sie auch zielgenau bei den Waldbauern das ist aus meiner Sicht das, worauf wir uns im Moment
konzentrieren sollten -, bei den Kleinwaldbesitzern in Baden-Württemberg und in Bayern ankommen zu lassen, damit die in ihren Betrieben dann auch tatsächlich entsprechende Maßnahmen für die wirtschaftliche Sicherung ergreifen können.
({9})
Das ist das, was aus meiner Sicht den Betroffenen, der
Holzwirtschaft und dem Wald am meisten nützt. Daran
werden die Bundesregierung und die Fraktionen von
Bündnis 90/Die Grünen und SPD weiter arbeiten und die
Maßnahmen, die im Bereich der CO2-Reduktion zur Verhinderung einer deutlichen Zunahme von Stürmen in der
Zukunft notwendig sind, konsequent fortführen.
Danke.
({10})
Als
nächster Redner hat der Kollege Ulrich Heinrich von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! „Lothar“ hält in Baden-Württemberg noch rund hundert Tage nach dem schrecklichen
Ereignis die in den Wäldern arbeitenden Menschen in
Atem. Bei 1 829 Unfällen sind bisher dreizehn Tote zu verzeichnen. Man kann sich kaum einen schwierigeren Job
als den der Aufarbeitung dieses Sturmholzes vorstellen.
Ich möchte an dieser Stelle deutlich sagen, dass wir auch
an die Familien denken und mit den Familien fühlen, die
neben der Existenzbedrohung auch noch das Schicksal
Toter und Verletzter in ihren Familien zu beklagen haben.
({0})
Rund 5 000 Menschen sind derzeit in Baden-Württemberg in Aktion, die zum Beispiel auch aus vielen Revieren
in anderen Bundesländern kommen. Auch hier sei mir ein
herzlicher Dank an die Länder gestattet. Die überregionale Zusammenarbeit ist beispielhaft. Hier heißt es Solidarität zu üben. Diese Solidarität können wir derzeit in Baden-Württemberg erfahren. Dafür sind wir sehr dankbar.
({1})
Insgesamt sind 25 Millionen Festmeter gefallen. Das ist
eine gewaltige Menge. Die Aufarbeitung stellt einen Wettlauf mit der Zeit dar, denn neben dem Problem des Aufarbeitens selber droht jetzt ganz aktuell der Käferbefall; die
Prognosen dazu sehen nicht gut aus. Man probiert im
Rahmen von Forschungsvorhaben aus, ob man durch
Brandrodungen damit fertig werden kann. Die enorme
Menge an Schwachholz, Reisig und all dem, was ohnehin
zurückbleibt, bietet natürlich Käfern allerbeste Möglichkeiten zum Nisten. Man versucht ganz gezielt, neue
schlagkräftige Methoden auf den Weg zu bringen. Ich hoffe, dass wir bei diesen forstwirtschaftlichen Einsätzen
neue Erkenntnisse sammeln können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, leider Gottes
muss man auch über Geld reden. Es ist nun einmal so, dass
Existenzen nicht mit guten Worten wieder auf eine solide
Basis gestellt werden können, sondern Existenzen, die in
Gefahr sind oder gar vernichtet wurden, kann man nur mit
Geld einigermaßen wieder auf die Füße stellen. Dabei helfen die von Baden-Württemberg bereitgestellten
100 Millionen DM und das sehr ausgeklügeltes
Programm, das über Beifuhr-, Polterungs-, Nasslager- und
Entrindungshilfe sowie Flächenräumungspauschalen
läuft, außerdem Investitionen für Holzkonservierungsanlagen, Grundinstandsetzung forstwirtschaftlicher
Wirtschaftswege, Naturverjüngung, Vorbau und Wiederaufforstung fördert. Diese ganze Latte von Maßnahmen
wird finanziell entsprechend unterstützt. Dazu kommt
noch die Möglichkeit, ein zinsverbilligtes Darlehen über
drei Jahre zu 4,5 Prozent mit einer Mindestdarlehenssumme von 10 000 DM und maximal 60 DM je Festmeter
Sturmholz zu erhalten.
Ich spreche davon so ausführlich, weil mir sehr viel daran liegt, dass hier keine Polemik betrieben wird, sondern
sachliche Argumente beigebracht werden. Vor diesem
Hintergrund kann man darum bitten, dass die zusätzliche
finanzielle Last von staatlicher Seite wenigstens mit ausgeglichen wird. Es sind ja Schäden mit einer Gesamthöhe
von über 2 Milliarden DM zu beklagen.
Das Kreditprogramm des Bundes - wir kennen es bietet gegenüber den 4,5 Prozent Zinsen beim Kreditprogramm von Baden-Württemberg nochmals um einen weiteren Prozentpunkt verbilligte Kredite an. Auch die Bundeshilfe in Höhe von 30 Millionen DM ist schon zur Sprache gekommen; diese Hilfen werden mit 30 Millionen
DM europäischer Mittel und mit 20 Millionen DM baden-württembergischer Mittel auf insgesamt 80 Millionen
DM aufgestockt werden. Dieses ist im Vergleich zur
Schweiz gering. Bei uns werden etwa 5 DM pro Festmeter Sturmholz ausgegeben, in der Schweiz sind es etwa
100 DM. Man redet immer sprichwörtlich von der reichen
Schweiz. Offensichtlich haben die auch ein etwas besseres Gespür dafür, was ihre Waldbauern leisten, und zwar
für uns alle und nicht nur für ihren eigenen Geldbeutel.
({2})
Damit möchte ich zum Waldzustandsbericht überleiten und mich ausdrücklich bei der Bundesregierung für
den ausgezeichneten Bericht bedanken. Wenn man sich
ein paar Stunden Zeit nimmt und ihn studiert, erhält man
in der Tat Informationen, die eine gute Basis und Grundlage bilden, um die Dinge herauszufinden, die in Zukunft
verändert werden müssen, damit all die positiven Funktionen des Waldes, Erholungs- und Schutzfunktionen, erhalten bleiben, die wir benötigen. Insbesondere die Stickstoffeinträge machen mir ein bisschen Sorge.
Häufig stellen wir voller Staunen fest, dass unsere
Quellen in Bereichen landwirtschaftlicher Nutzflächen
weniger Nitratbelastung haben als ausgerechnet Quellen
in den Wäldern. Man fragt sich dann, woher das kommt.
({3})
Da düngt doch niemand. Es wird dennoch gedüngt: Vom
Himmel kommen zwischen 9 und 50 Kilogramm Reinstickstoff, Nitrat und Ammoniak sowie alle möglichen anderen Stickstoffe pro Hektar und Jahr.
({4})
Man könnte jetzt meinen, der Wald nehme diese Stoffe
auf, das Wachstum werde entsprechend stärker und damit
sei alles neutralisiert. Nein, das ist nicht so. Ich habe in vielen Diskussionen immer wieder versucht, folgenden Sachverhalt zu erklären: Wir düngen in der Landwirtschaft der
Pflanze sozusagen so viel ins Maul, wie sie aufnehmen
kann. Damit wird das Grundwasser geschont. Beim Wald
haben wir diese Möglichkeit aber nicht; denn das Düngen
erfolgt direkt und ohne unser Zutun.
Der Wald kann maximal 8 bis 15 Kilogramm Stickstoff
pro Hektar und Jahr aufnehmen. Das heißt: Wir haben im
Durchschnitt pro Hektar einen Überschuss von mehr als
10 Kilogramm Stickstoff jährlich. Wenn also die Aufnahmefähigkeit des Bodens erschöpft ist, werden diese Stoffe ins Grundwasser ausgewaschen. Wir haben dann das
Phänomen, dass selbst in Regionen, in denen kein Stickstoff ausgebracht wird, eine Grundwasserbelastung vorhanden ist, die unseren europäischen Normen nicht entspricht und weit über den Grenzwert der entsprechenden
Richtlinie hinausgeht.
Diese Tatsachen müssen uns zu denken geben. Deshalb
müssen wir in diesem Punkt besonders ansetzen. Den
Schaden nachher mit Waldkalkungen zu beheben ist eine
Notmaßnahme, die sicherlich sehr teuer ist. Ich meine, es
wäre wichtiger, die Ursache - sprichwörtlich - an der
Wurzel zu bekämpfen.
({5})
Deshalb müssen wir alles daran setzen, dass wir den Ammoniakausstoß reduzieren.
Herr Präsident, wenn Sie erlauben, möchte ich noch eine Bemerkung machen.
Bitte
schön, gerne.
Der Schwefel, ein weiterer
entscheidender Schadstoff, hat seine Ursache im Bereich
des Kraftfahrzeugverkehrs. Die Versäuerung der Böden
geht immer noch weiter; wir haben sie immer noch nicht
im Griff. Als agrarpolitischer Sprecher sage ich, dass wir
uns auch im Stickstoff- und Ammoniakbereich anstrengen
müssen. Wir können zwar der Kuh die Verdauung nicht
verbieten - das würde zu weit gehen -, aber wir können
vielleicht das, was wir zum Schluss in den Behältern sammeln, ein bisschen sinnvoller verwenden. In diesem Zusammenhang möchte ich die Initiative der Koalition loben.
Dass die Förderung der Biogasanlagen verbessert wird,
ist ein positiver Aspekt, der zur Entgiftung der Gülle
beiträgt.
Da der Herr Präsident schon ganz kritisch schaut,
möchte ich mich zum Schluss für Ihre Aufmerksamkeit
bedanken
({0})
und möchte uns wünschen, dass wir den Zustand des Waldes, der eine wichtige Funktion hat, in Zukunft verbessern
können, damit unsere Lebensgrundlagen erhalten bleiben.
Herzlichen Dank.
({1})
Da alle
Seiten des Hauses so aufmerksam zugehört haben, war ich
mit Blick auf die Redezeit etwas großzügiger.
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege - Entschuldigung: die Kollegin - Kersten Naumann von der
PDS-Fraktion. Ich bitte zu entschuldigen, dass ich das
zweite Mal darüber gestolpert bin.
Ich könnte jetzt eigentlich
„Frau Präsidentin“ sagen. Aber ich verkneife mir das.
({0})
Das würde meine Chance auf Wiederwahl erhöhen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS-Fraktion hat ihre Position zu
den Hilfsprogrammen für die Sturmschäden durch den Orkan „Lothar“ schon in der ersten Lesung dargelegt. Wir
betonen nochmals, dass wir den vorgesehenen Maßnahmen zustimmen werden. Wir halten sie allerdings nicht für
weitgehend genug. Auch das haben wir schon begründet.
Die von uns kritisierte Inkonsequenz der Regierung
zeigt sich auch beim Waldzustandsbericht. Die Waldkatastrophe, die beim Auftreten der ersten Waldschäden befürchtet wurde, ist zwar nicht eingetreten. Dennoch zeigt
sich insgesamt eine schleichende, wenn auch abgemilderte Verschlechterung des Waldzustandes.
Die Anstrengungen zur Luftreinhaltung haben nur
sehr begrenzt zu positiven Ergebnissen geführt. Das gilt
besonders für die Schwefeleinträge. Bei den Säureeinträgen ist der Rückgang unzureichend. Beim Stickstoff verharren die Einträge weiterhin auf einem hohen Niveau. Der Schadensdruck übersteigt wesentlich das Maß
dessen, was die Wälder langfristig verkraften können.
Ein Risiko für eine Schädigung besteht bei Säuren auf
90 Prozent und bei Stickstoff auf 99 Prozent der Waldfläche. Wie die Forschung gezeigt hat, ist mit dieser
Feststellung nicht die Vielzahl der Einflussfaktoren der
neuartigen Waldschäden erfasst. Sie sind aber Hauptfaktoren, die zur Veränderung der biologischen Vielfalt, zur
Verschiebung der Artenzusammensetzung, zu Nährstoffungleichgewichten, zu Nährstoffverlusten und zur Verminderung der Baumvitalität führen. Da als Hauptquellen
der Stickstoffeinträge der Kraftfahrzeugverkehr und die
landwirtschaftliche Tierhaltung ausgemacht wurden, müssen vor allem hier politische Maßnahmen angesetzt werden.
Dringend notwendig ist die Verlagerung des Verkehrs
von der Straße auf die Schiene.
({0})
Das betrifft sowohl den Ausbau des öffentlichen Personennah- und -fernverkehrs als auch den Wirtschaftsverkehr. Dazu ist eine entsprechende Verlagerung der Mittel
im Bundeshaushalt, ergänzt durch steuerliche Begünstigungen, erforderlich. Die Landwirtschaft muss durch
Veränderung der Tierhaltungsformen und die Reduzierung
des Tierbesatzes auf unter zwei Tiereinheiten je Hektar den
Stickstoffausstoß mindern. Ein möglicher Schritt wäre die
Überwindung der starken Spezialisierung der Betriebe. Es
sind jedoch weitaus mehr Schritte notwendig, die allgemein bekannt sind.
Doch auch für die Regierung Schröder gilt: Wirtschaftswachstum, Konkurrenzfähigkeit und Verschlankung des Staates haben Vorrang vor dem Schutz der Wälder und der Umwelt. Die Bauern würden gern umweltgerechter produzieren, doch die Bundesregierung fordert von
ihnen, sich für den Weltmarkt fit zu machen und weiter zu
intensivieren. Ihre Politik lässt kein Geld für den Ausgleich ökologischer Vorhaben übrig. Selbst Naturschutzgebiete will sie privatisieren.
Als ein zunehmendes Problem, besonders in den neuen
Bundesländern, erweist sich die nachhaltige Waldnutzung. Über 98 Prozent der privaten Waldbesitzer in
Deutschland haben unter 50 Hektar Wald; es sind durchschnittlich 4,3 Hektar. Die Nutzung der in den deutschen
Wäldern vorhandenen Biomasse könnte wesentlich zur
Verbesserung der Rohstoff- und Energiebilanz sowie zur
Reduzierung des CO2-Ausstoßes beitragen.
({1})
Im Forstamt Minden gibt es positive Erfahrungen, wie
durch Waldwirtschaftsgenossenschaften und Holzabsatzfonds die Rohholzbereitstellung verbessert,
({2})
die Einnahmen aus dem Wald erhöht und ein Umbau der
Waldbestände erreicht werden können. Ermöglicht wurde
das durch eine Rundumdienstleistung für Kleinstwaldbesitzer durch das Forstamt. Eine zielgerichtete Förderung
von Waldgemeinschaften ist nicht nur für die Waldbesitzer von Vorteil, sondern auch ein wirksamer Beitrag zum
Natur- und Umweltschutz. Besonders in den neuen Bundesländern muss dieser Prozess gefördert werden, bevor
über die Verschlankung der Forstverwaltungen nachgedacht wird.
({3})
Es ist dringend notwendig, das durch das BML angeregte Thüringer Modell zur Erweiterung der Dienstleistungen und der Zusammenschlüsse der Waldbesitzer
gründlich auszuwerten und breit zu fördern. Die Initiative
der PDS Brandenburg zur Unterstützung der kleinen privaten Waldbesitzer, die im Landtag von allen Parteien unterstützt wird, sollte deshalb beispielgebend sein.
({4})
Der notwendige Waldumbau ist untrennbar mit der
Durchsetzung eines europäischen Nachhaltigkeitszertifikats und der Erarbeitung eines nationalen Forstprogramms zu verbinden. Minister Funke hat diese Themen
zwar schon einmal in einem Interview aufgegriffen; im
parlamentarischen Raum haben sie jedoch noch keine Rolle gespielt. Vielleicht liegt es daran, dass die EU die Ausreichung von Mitteln für die forstliche Förderung noch
nicht an ein nationales Forstprogramm gebunden hat.
Die PDS fordert deshalb Minister Funke auf, die Erarbeitung eines solchen Programms auf die Agenda zu setzen und damit im neuen Jahrtausend eine neue Qualität in
einer nachhaltigen Forstpolitik einzuleiten.
Ich komme zurück auf eine Aussage des Waldzustandsberichtes: “Der Wald erfüllt unverzichtbare Funktionen für Wirtschaft, Natur und Gesellschaft.“ Diese
Funktionen dürfen nicht den Marktkräften überlassen werden. Nachhaltige Forstpolitik ist gefragt.
({5})
Minister Funke, in diesem Zusammenhang wünsche
ich Ihnen einen erholsamen Waldspaziergang in gesunden
Wäldern. Ich hoffe, dass Sie dort neue Ideen und vor allem Tatendrang für eine nachhaltige Forstpolitik entwickeln werden.
({6})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Christel Deichmann
von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr von Schorlemer,
wenn Sie angesichts unserer Bemühungen, besonders
schützenswerte Flächen auch zukünftig für diese Zwecke
vorzuhalten und zu bewahren, von Verschleuderung von
Wald sprechen, finde ich das ziemlich heftig.
({0})
Ich erinnere Sie nur an die Worte des ehemaligen Umweltministers Töpfer, der in diesem Zusammenhang vom
Tafelsilber der deutschen Einheit sprach. Aber ich denke,
darüber werden wir an anderer Stelle noch intensiv zu
reden haben.
({1})
- Wald ist mehr als die Summe von Bäumen.
({2})
Ich wiederhole das gerne und bewusst und möchte auf die
vielfältigen Funktionen des Waldes aus der Sicht des Naturschutzes eingehen. Der Wald ist eines der wertvollsten
großflächigen Landökosysteme in Mitteleuropa. Ein funktionierendes Waldökosystem filtert bis zu vierfach höhere Schadstoffmengen aus der Luft, als Offenlandschaften
dies vermögen. Die Schadstoffe werden zwar aus der Luft
herausgefiltert, doch je höher die Konzentration ist, umso
größer sind die Einwirkungen auf den Wald.
Die Schäden an den einzelnen Bäumen sind selbst für
Laien erkennbar. Stellen Sie sich unter einen Baum und sehen Sie hoch in die Krone. Oftmals ist es beängstigend,
wie lichtdurchlässig das ursprünglich dichte Blätterdach
schon geworden ist.
Viel verheerender als die offensichtlichen Schäden sind
für uns die zunächst unsichtbaren Wirkungen. Die Schadstoffe reichern sich im Boden an, führen zu Versauerung,
beeinträchtigen und verschieben die Nährstoffversorgung
und tragen zu tiefgreifenden Veränderungen der Waldökosysteme bei. Trotz vieler Verbesserungen ist das Schadensniveau auch 1999 insgesamt immer noch zu hoch gewesen; Entwarnung kann also lange nicht gegeben werden.
Der Waldzustandsbericht weist unter anderem auch
Auswirkungen der Waldschäden auf die biologische Vielfalt aus.
Mit den Stickstoffeinträgen und der Bodenversauerung
verändern sich Standortbedingungen. Arten, die mit stickstoffarmen und basischen Bedingungen sehr gut zurechtkommen, werden durch Stickstoff liebende und konkurrenzkräftigere Arten schlichtweg verdrängt.
Wir sind dabei, die genetische Vielfalt unserer Wälder
stark zu reduzieren und setzen die vorhandenen Ökosysteme vielfach aufs Spiel. Noch sind unsere Wälder ein
wahrer Fundus an Vielfalt. Wir müssen alles daran setzen,
diesen Fundus zu erhalten.
({3})
Viele Auswirkungen unseres Tuns werden erst nach
Jahren sichtbar. Ein Baum stirbt langsam. Handeln ist dringend geboten, um die Auswirkungen unterlassener Maßnahmen der Vergangenheit - insbesondere der alten Bundesregierung - zum Schutz der Wälder zu beheben. Mit
der Einführung schwefelarmer Kraftstoffe, der Unterzeichnung des UNECE-Protokolls zur Bekämpfung von
Versauerung, Eutrophierung und bodennahem Ozon, der
Einführung der Ökosteuer sowie der Klimaschutzziele
usw. hat die Koalition erste Maßnahmen eingeleitet, die
auch zur Verbesserung des Waldzustandes beitragen.
({4})
Die Wirkungen des Ökosystems Wald sind - wie gesagt vielseitig und lang anhaltend, wenn denn der Wald gesund
ist.
Um Naturschutzaspekte stärker in die forstwirtschaftliche Nutzung einzubinden, ist es erforderlich, die Naturnähe der Wirtschaftswälder weiter auszubauen und
annähernd flächendeckend zu erfüllen. Naturschutzfachlich fundierte Konzepte zum Erhalt der biologischen Vielfalt sind dabei noch stärker in die forstwirtschaftliche Praxis zu integrieren.
In Anerkennung der forstlichen Leistungen für die Gesellschaft wurde durch die Europäische Union und die
Bundesregierung die Fortsetzung der forstlichen Förderung beschlossen. Nicht nur Wiederaufforstung ist bedeutend, auch Erstaufforstungen bieten gute Chancen für die
Verbesserung unserer Umweltsituation. Mit der Neuanlage von Wald kann aktiv Landschaftsplanung betrieben
werden. Schutz, Pflege und Entwicklung der Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts und der Nutzbarkeit der
Naturgüter als Beitrag zur Sicherung unserer Existenzgrundlagen sowie Bewahrung der Vielfalt, Eigenart und
Schönheit von Natur und Landschaft sind Chancen für
zukünftige Generationen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wald und Forstwirtschaft und Naturschutz gehören zusammen und bilden gegenseitig eine gute Ergänzung. Lassen Sie uns die Chance nutzen, die in nachhaltiger, naturnaher Waldbewirtschaftung liegen.
Vielen Dank.
({6})
Als nächster Redner hat der Kollege Albert Deß von der CDU/CSUFraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns alle einig - das ist heute auch schon öfter angesprochen worden -: Der Wald erfüllt in Deutschland und weltweit wichtige Funktionen.
Werden Wälder vernichtet, verschwindet damit auch ein
Stück lebenswerter Zukunft. Die Zerstörung von Wäldern
kann unterschiedliche Ursachen haben. Riesige Waldflächen werden gerodet oder durch Brandrodung vernichtet, um landwirtschaftliche Nutzflächen zu schaffen. Dieses Thema werden wir heute Abend beim Tropenwaldbericht noch ansprechen.
Durch Schadstoffe werden Waldbestände mehr oder
weniger geschädigt. Auch durch Naturgewalten wie den
Orkan „Lothar“ können Waldbestände flächendeckend
zerstört werden. Der Waldzustandsbericht der Bundesregierung ist eine gute Gelegenheit, vor aller Öffentlichkeit über den Zustand und die Ursachen der Schädigung
unserer Wälder zu diskutieren.
Die Ergebnisse des Berichts geben keinen Anlass, in
Euphorie auszubrechen. Es besteht aber auch kein Grund,
in Weltuntergangsstimmung zu verfallen, wie es die Grünen und auch manche Umweltverbände immer wieder getan haben, vor allem als wir an der Regierung waren.
({0})
„Der Wald stirbt“ - das war eine der unverantwortlichen
grünen Parolen der Vergangenheit. Dazu zitiere ich Bundeskanzler aD. Helmut Schmidt, der in der „Bild“-Zeitung
im September 1996 schrieb:
Vieles, was die Grünen auf ihre Fahnen geschrieben
haben, ist abwegig, war aber nicht von vornherein als
abwegig erkennbar. Da haben sie beispielsweise jahrelang über das Waldsterben lamentiert - aber der
Wald ist nicht gestorben. Im Gegenteil: Er ist vital. In
Deutschland gibt es derzeit genauso viele Baumarten
wie zur Zeit von Jesus Christus.
Eines ist klar: Unseren Wald erhalten nicht diejenigen,
die über ihn viel reden und lamentieren, sondern diejenigen, die ihn hegen und pflegen. Am allerwenigsten sind
das die selbst ernannten Umweltschützer und Aktivisten
von Ökoparteien.
({1})
Es sind unsere Waldbauern und Forstbesitzer, unsere Förster und Waldarbeiter, die unsere Wälder erhalten.
({2})
Ihnen gilt unser Dank für ihre oft nicht leichte Arbeit; das
möchte ich hier im Bundestag einmal erwähnen.
({3})
Die Aussage „Der Wald stirbt“ halte ich für verantwortungslos. Warum soll ein Waldbesitzer denn in den Wald
investieren, wenn ihm jahrelang erzählt wird, dass der
Wald stirbt? Tatsache ist, dass der Wald durch
Schadstoffeinwirkungen zum Teil krank ist. Einem
Kranken kann man in vielen Fällen helfen. Der Waldzustandsbericht 1999 zeigt, dass sich unsere Wälder auf dem
Weg der Besserung befinden. Bayern hat bereits in den
70er-Jahren damit begonnen, die Kraftwerke mit moderner Umwelttechnik auszustatten, um die Schadstoffemissionen zu senken. Hätten SPD-regierte Bundesländer genauso früh wie die CSU reagiert, hätten wir heute einen
noch besseren Waldzustandsbericht.
({4})
Es gibt dazu ganz genaue Fakten. Die Schwefeldioxidemissionen in Bayern wurden von 1976 bis 1997 von
729 000 Tonnen auf 95 200 Tonnen pro Jahr gesenkt. Das
sind 1997 87,8 Prozent weniger Schwefeldioxidemissionen als 1976.
({5})
Was hat das SPD-regierte Nordrhein-Westfalen in dieser Zeit zustande gebracht?
({6})
Außer schlauen Reden sehr wenig.
({7})
Im Freistaat Bayern und in Baden-Württemberg wurden die meisten Kraftwerke bereits mit moderner Umwelttechnik ausgestattet, als es die Grünen noch gar nicht
gab. Deshalb ist es auch falsch, wenn behauptet wird, dass
erst mit dem Entstehen der Grünen der Umweltschutz erfunden wurde. Wer hat in Deutschland und Europa dem
Umweltschutz im Fahrzeugbereich zum Durchbruch verholfen?
({8})
Es war die von der CDU/CSU und F.D.P. getragene
Bundesregierung, die der Markteinführung des Katalysators zum Durchbruch verholfen hat. Zuständig war damals
der Minister Zimmermann.
({9})
Die für den Wald schädlichen Emissionen konnten dadurch nachhaltig gesenkt werden.
Zur Absenkung der Stickoxidemissionen hat Bayern
1995 ein Stickstoffprogramm aufgelegt. Von 1996 bis
1998 wurden über 76 Millionen DM Fördermittel und über
12 Millionen DM an zinsverbilligten Darlehen für die
Anschaffung moderner Ausbringungstechnik für landwirtschaftliche Wirtschaftsdünger ausgegeben. Durch dieses im CSU-regierten Bayern aufgelegte Stickstoffprogramm 2000 werden bereits jetzt jährlich 40 000 Tonnen
Ammoniakemissionen vermieden.
Welches SPD-geführte Bundesland hat ein solches umweltnützliches Programm finanziert? Fehlanzeige in ganz
Deutschland!
({10})
SPD-geführte Bundesländer haben natürlich eine andere
Haushaltssituation. So hat beispielsweise NordrheinWestfalen eine doppelt so hohe Pro-Kopf-Verschuldung
wie Bayern. In Nordrhein-Westfalen ist deshalb trotz einer
Umweltministerin von den Grünen für solche Umweltprogramme kein Geld vorhanden.
({11})
Bei Rot-Grün wird Umweltschutz nicht durch finanzielle Förderung vorangebracht, sondern ausschließlich
durch Auflagen, Gebote und Verbote. Das ist nicht der
richtige Weg, um die Schadstoffe zu reduzieren und damit
den Wald in Deutschland weiter gesunden zu lassen.
({12})
Entscheidend für die Pflege und Gesunderhaltung des
Waldes ist eine auf Dauer existenzfähige Forstwirtschaft.
Die rot-grüne Bundesregierung betreibt eine soziale und
steuerliche Kahlschlagpolitik, die nicht nur die Existenz
landwirtschaftlicher Betriebe, sondern auch die forstwirtschaftlicher Betriebe gefährdet. Die Absenkung der Vorsteuerpauschale betrifft auch die Waldbauern. Die Ökosteuer belastet auch unsere Forstbetriebe einseitig, und die
sozialen Einschnitte betreffen vor allem die einkommensschwächsten Waldbesitzer.
Es darf nicht sein, dass sturmgeschädigte Waldbauern
von der rot-grünen Bundesregierung steuerlich abkassiert
werden. Der Bund hat sich zwar bereit erklärt, Bundesmittel für die sturmgeschädigten Waldbesitzer bereitzustellen. Mit 1 DM je Festmeter Sturmholz ist diese Hilfe
aber mehr als bescheiden. Die rot-grüne Bundesregierung
ist aufgefordert, den Waldbesitzern, die zum Teil in ihrer
Existenz gefährdet sind, die gleiche Hilfe zu geben, die die
französische Regierung ihren sturmgeschädigten Bauern
gibt.
({13})
Die Hilfe der rot-grünen Bundesregierung ist nur ein
Fünftel dessen, mit dem die CDU/CSU-geführte Bundesregierung den Waldbesitzern damals bei den durch die Orkane „Wiebke“ und „Vivian“ entstandenen Schäden geholfen hat. Daran, Herr Minister Funke, muss sich die rotgrüne Regierung messen lassen.
({14})
In diesem Fall wäre eine Nachbesserung der Hilfe durch
die rot-grüne „Nachbesserungsregierung“ dringend erforderlich.
({15})
Als nächster Redner hat der Bundesminister Karl-Heinz Funke das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, ich brauche hier keine Zahlen mehr aus dem Waldzustandsbericht zu nennen. Die
sind schon dargestellt worden. Im Übrigen sind sie in diesem Bericht sehr detailliert - Herr Heinrich, ich bedanke
mich in diesem Zusammenhang für Ihren Hinweis schriftlich aufgeführt. In diesem Zusammenhang muss
festgestellt werden - Herr von Schorlemer, dies gehört in
der Tat dazu -, dass sich der Zustand unserer Wälder seit
1991 allmählich verbessert hat. Ich meine, man darf ruhig
sagen, dass der Anteil der Flächen mit deutlichen Schäden
1999 bei 22 Prozent statt wie im Jahre 1991 bei 30 Prozent
lag.
Klar ist aber auch, dass das überhaupt kein Grund ist für
eine Entwarnung. Denn es ist so, dass die Entwicklung im
Mittel aller Baumarten und auch der Regionen - Herr Kollege Deß, da bildet Bayern im Übrigen keine Ausnahme in gewisser Weise stagniert.
Ich nehme an dieser Stelle gerne die Gelegenheit wahr,
all die Zahlen, die hier genannt worden sind, einmal mit
denen in anderen Ländern zu vergleichen. Sie haben - sicherlich aus bestimmten Gründen; vielleicht auch nicht ausschließlich auf Nordrhein-Westfalen abgestellt und andere Länder nicht in diesen Vergleich einbezogen.
({0})
- Ich wollte schon sagen, dass das sicherlich abgestimmt
gewesen ist. Insoweit verstehe ich das ja auch.
({1})
- Ich bin dankbar. Ich hätte mich außerstande gesehen,
dann, wenn Sie Zahlen aus Niedersachsen genannt hätten,
zu sagen: In Niedersachsen ist es besser als in Bayern.
({2})
- Ja, ich hätte mich außerstande gesehen, es zu widerlegen,
wenn Sie für Niedersachsen schlechtere Zahlen genannt
hätten. Ich vermute allerdings, dass Sie die Zahlen von
Niedersachsen deshalb nicht genannt haben, weil sie besser sind als die von Bayern.
({3})
Es ist aber immer so: Man sucht so lange, bis man das
Land gefunden hat, das im Vergleich schlechter abschneidet als das eigene.
({4})
- Da ist etwas dran, Herr Hornung; das gebe ich als Niedersachse gerne zu. Was die Besiedlung mit Baumarten
anbelangt, liegen wir natürlich entschieden hinter Bayern
und Baden-Württemberg zurück.
({5})
Meine Damen und Herren, das, was der Kollege von
Schorlemer hier vorgetragen hat, nehme ich durchaus
ernst.
({6})
- Dem widerspreche ich doch gar nicht, ganz im Gegenteil. - Ich will aber darauf hinweisen - das gehört zum Gesamtkontext Klimaschutz -, dass zum Beispiel das Multikomponentenprotokoll, das die Bundesregierung Ende
vergangenen Jahres in Göteborg unterzeichnet hat, ein
wichtiger Beitrag zur Luftreinhaltungspolitik ist. Dies
führe ich an, weil gesagt wurde - und zwar zu Recht -,
dass auf diesem Sektor so weiter zu verfahren sei. Ich bin
auch dankbar für die Hinweise zum Programm für erneuerbare Energien, zum 200-Millionen-DM-Programm.
All das sind Schritte, um die Situation des Waldes insgesamt zu verbessern, und das hat diese Bundesregierung getan, niemand sonst.
({7})
Ich füge hinzu, dass wir in den Debatten über den Waldzustands- oder die Waldschadensberichte in den Länderparlamenten, aber auch im Bundestag Gott sei Dank in
weiten Bereichen Konsens feststellen konnten. Ich sage
„Gott sei Dank“, weil ich es für richtig halte, dass wir alle gemeinsam dem Wald eine aktive Rolle beim Klimaschutz zukommen lassen.
Ich will hervorheben, dass wir heute über ein entsprechendes Monitoring in der Lage sind - gleichzeitig will
ich all jenen besonders danken, die von der technischen
Seite her dabei geholfen haben -, den Waldzustandsbericht
in dieser Art zu fertigen und Vergleiche anzustellen. Mittlerweile haben wir, übrigens europaweit, Dauerbeobachtungsflächen, die es ermöglichen, Analysen zu erstellen
und daraus die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen.
Ich denke, dass das Geld, das seitens des Bundes, der Europäischen Union und der Länder hierfür zur Verfügung
gestellt worden ist, sinnvoll investiert ist.
Herr Heinrich, ich möchte mich dafür bedanken, dass
Sie die Hilfen für Baden-Württemberg umfassend dargestellt haben. Es ist völlig klar - alles andere wäre eine
Sensation gewesen -, dass die Opposition beklagt, dies sei
zu wenig. Es ist nun einmal so - da schließe ich mich
Herrn von Schorlemer an, der dies zu Beginn seiner Rede
in anderer Weise so ausgedrückt hat -, dass für diejenigen,
die in der Regierung Verantwortung tragen, vieles anders
aussieht und von ihnen anschließend auch anders formuliert werden muss, als wenn man sich in der Opposition befindet. Man will ja auch in die Bundesregierung, um diese Seite einmal kennen zu lernen, Herr Kollege von
Schorlemer.
({8})
Dann ergeben sich plötzlich völlig neue Situationen,
man sieht sich mit neuen Argumenten konfrontiert oder
muss das, was man bisher total kritisiert hat, verteidigen.
Das sind eben unterschiedliche Rollen.
Ich gebe Ihnen aber durchaus Recht, dass bei der Diskussion über den Wald schon einmal die eine oder andere
Schieflage herbeigeredet worden ist, nicht immer, aber
teilweise durchaus, auch was die Dramatik anbelangt.
Ich will mich jetzt nicht mit der Zertifizierung befassen
- dieses Stichwort ist gefallen -; dazu ist schon einiges gesagt worden. Ich gebe gerne zu, dass ich in Nuancen die
eine oder andere Position nicht teile bzw. dass ich eine Position einnehme, die sich unterscheidet ({9})
- Ich weiß nicht, ob ich nahe bei der Opposition bin, Herr
Kollege Heinrich. Es sind mehrere Gruppen in der Opposition. Insoweit wüsste ich nicht, wo ich mich zuordnen
sollte. Man müsste einmal abwarten, wohin Sie mich sozusagen tragen. Ich gebe aber zu, dass ich, was die Frage
der Zertifizierung anbelangt, ganz entschieden auf der Seite bin, die sachlich richtig liegt.
({10})
Letztlich soll ja auch der Markt mitentscheiden. Ich glaube, dies ist vernünftig. Ich halte es nicht für gut, wenn wir
in diese Diskussion, auch im Hinblick auf die Frage der
Zertifizierung, zu viel Politik bzw. Ideologie hineintragen.
({11})
Herr Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Deß?
Ja, natürlich.
Herr Deß,
bitte schön.
Herr Minister Funke, sind
Sie, da Sie kritisiert haben, dass ich Niedersachsen nicht
erwähnt habe, bereit zur Kenntnis zu nehmen, dass es in
Ihrem Waldzustandsbericht in Bezug auf Bayern heißt: „In
den letzten vier Jahren hat sich der Kronenzustand der
Waldbäume in Bayern erkennbar stabilisiert“, während es
in Bezug auf Niedersachsen heißt: „Das Gesamtergebnis
der Erhebung zeigt keine Veränderungen zum Vorjahr.“?
Dies heißt doch, dass sich der Zustand in Bayern verbessert hat.
({0})
Herr Kollege Deß, mit einer
solchen Bemerkung habe ich gerechnet. Darum habe ich
den zuständigen Abteilungsleiter gebeten, mir den gesamten Bericht zu geben.
({0})
- Nein, den von diesem Jahr.
Ich habe nachgeschlagen, was in Bezug auf die Länder
Niedersachsen und Bayern dort geschrieben steht, und habe die von Ihnen zitierten Sätze auch gelesen. Dies führte
bei mir zu der Konsequenz, das, was dort im Hinblick auf
Niedersachsen erwähnt wurde, nicht zu zitieren.
({1})
Ich bitte Sie allerdings, nicht nur den Satz, den Sie mit
Bezug auf Bayern zitiert haben, sondern auch die Anschlusssätze zu lesen, in denen die Aussage des von Ihnen
zitierten Satzes nämlich stark relativiert wird.
({2})
Dies müssen Sie zugeben. Insoweit räume ich ein: Sie haben exakt das zitiert, was Ihnen hilft, und die Relativierungen weggelassen.
({3})
Dass Sie so vorgegangen sind, gestehe ich Ihnen zu. Aber
ich muss Ihnen mitteilen, dass ich Ihre Vorgehensweise bemerkt habe. Ich hatte diesen Teil des Berichts vorsorglich
gelesen, weil ich mit einer derartigen Bemerkung gerechnet habe.
({4})
Meine Damen und Herren, ich möchte zu den Orkanschäden Folgendes sagen: Es ist klar, dass beklagt wird,
dass der Umfang der in diesem Zusammenhang aufgebrachten Leistungen zu gering sei. Die dort geleisteten Arbeiten werden aber auch anerkannt. Dafür möchte ich
mich bedanken und mich ausdrücklich den Dankesworten
von Herrn Heinrich anschließen. Im Übrigen habe ich
gehört, dass die Koordination dort manchmal nicht so ablief, wie sie eigentlich hätte ablaufen können und müssen.
Deshalb haben wir uns mündlich und schriftlich an die
Landesregierung gewandt. Ich hoffe, hier ist mittlerweile
Besserung eingetreten.
Von allen ist anerkannt worden, dass wir im Rahmen
der Möglichkeiten, die wir hatten, sehr schnell und umfassend sowie in ständigem Kontakt und ständiger Absprache zwischen Landes- und Bundesregierung, zwischen den Fachleuten und auf der Arbeitsebene geholfen
haben. Dies sollte man nicht gering schätzen. Wir haben
sehr schnell und zügig reagiert.
({5})
Ich unterstreiche das, was die Kollegin Lemke dazu gesagt
hat: Wir können froh sein, dass das, was wir im Bereich
des Holzmarktes befürchtet haben, in dieser Schärfe und
Dramatik - ich sage dies in aller Vorsicht: bis jetzt - nicht
eingetreten ist.
({6})
Vielleicht haben die umfassenden Maßnahmen und Absprachen, auch die mit den anderen Bundesländern, sich
beim Holzeinschlag zurückzuhalten, mit dazu beigetragen, dass die gegenwärtige Situation auf dem Markt bis
jetzt noch besteht.
Herzlichen Dank.
({7})
Als nächster Redner hat der Kollege Siegfried Hornung von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesminister hat soeben eingestanden, dass die Bundesregierung
noch einiges zu leisten hat. Daher werde ich ihm jetzt vielleicht etwas gnädiger angehen, als ich es sonst getan hätte.
Der Orkan „Lothar“ hat am 26. Dezember 1999 mit
Spitzengeschwindigkeiten von über 200 km/h im Südwesten über unser Land hinweg schwere Verwüstungen an
Waldbeständen angerichtet. Die gesamte Forstwirtschaft
hat katastrophale Schäden zu verkraften.
In der Bundesrepublik Deutschland sind insgesamt
30 Millionen Festmeter Holz angefallen. Von diesen insgesamt 30 Millionen Festmetern Schadholz liegen circa
25 Millionen Festmeter in Baden-Württemberg und circa
4,3 Millionen Festmeter in Bayern. Das heißt, der Orkan
hat allein in Baden-Württemberg mit dem Niederwurf von
mindestens dem dreifachen Jahreshiebsatz einen Schaden
von 1,5 Milliarden DM angerichtet.
Nach einem solchen Schadensereignis stellt sich natürlich die Frage nach dessen Bewältigung. Für viele bäuerliche Waldbesitzer ist das Lebenswerk mehrerer Generationen vernichtet worden. Wir dürfen diese Menschen
mit diesen außergewöhnlichen Belastungen jetzt nicht allein lassen.
({0})
Außerdem hat es bei der Holzaufarbeitung in BadenWürttemberg - ich habe mir die Zahlen von der Berufsgenossenschaft jetzt noch einmal geben lassen - acht Todesfälle von bäuerlichen Unternehmern gegeben. Ich weiß
von einem Fall: Ein 22-jähriger Bauernsohn ist unter den
Toten. Die Zahl, die Sie, Herr Heinrich, genannt haben,
mag stimmen; denn hier kommen die Gemeinden und der
Staatswald noch hinzu.
Die Waldbauern sollten jetzt zumindest bei der Schadensbegrenzung und Wiederaufforstung die Solidarität
des Deutschen Bundestages erfahren. Der Wald und seine
Besitzer brauchen gerade wegen der für die Allgemeinheit
umsonst und nachhaltig erbrachten Wohlfahrtswirkungen
jetzt die Unterstützung der Allgemeinheit. Der Wald erfüllt
Sozialfunktionen und gehört damit zu den Eigentumsarten, die am stärksten sozial belastet sind. Das darf keine
Einbahnstraße sein.
Hier kommt die Unglaubwürdigkeit besonders der
Grünen zum Ausdruck. Im Fordern sind sie groß, im Helfen sind sie klein, besonders seit sie in der Regierungsverantwortung sind.
({1})
Die grüne These „Erst stirbt der Wald, dann stirbt der
Mensch“ gilt auf dem Regierungssessel wohl nicht mehr.
({2})
Im Gegenteil:
({3})
Einige „Naturschützer“ sehen in der Sturmkatastrophe
schon ein natürliches Ereignis, das der Wald verkraftet. Sicher, in 120 Jahren. Das können aber nur solche sagen, die
nicht betroffen sind. Wenn nun schon ein Streit auch vor
Ort entsteht, ob die Forstverwaltung „Nasslager“ in diesen
Regionen einrichten darf, um Sturmholz zu lagern und den
Markt zu entlasten, zeigt sich, dass es diesen so genannten
Schützern überhaupt nicht um den Wald und schon gar
nicht um die Waldbauern geht.
({4})
Erst Anfang März hat der Bundeslandwirtschaftsminister nach starkem politischen Druck von uns 30 Millionen DM als Sonderprogramm für Orkanschäden im
Forst zugesagt, während Baden-Württemberg und Bayern
den Waldbesitzern insgesamt 115 Millionen DM an Hilfe
gewähren. Was sind 30 Millionen DM gegenüber einem
entstandenen Schaden von 1,5 Milliarden DM allein in Baden-Württemberg? Was können die betroffenen Waldbauern im Süden dazu, dass sie auf der rechten Seite des
Rheins leben, während die Sozialisten auf der anderen
Seite des Rheins wirklich mit Eigenmitteln und auch über
EU-Mittel ihren Bauern helfen? An der rot-grünen Regierung Frankreichs könnte sich unsere Bundesregierung ein
Beispiel nehmen.
({5})
Mit ein bisschen Kanzlerschau, vor Ort geplant, ist da
nicht geholfen. Der Bundeslandwirtschaftsminister muss
sich schon fragen lassen, wie groß sein Einfluss auf Bundeskanzler Schröder überhaupt ist. Den Bauern werden
einerseits auf allen Ebenen mit einer rot-grünen Schredderpolitik und einer Brutalität Fördermittel gekürzt, die
ihresgleichen sucht. Andererseits gibt sich der Bundeskanzler bei einer anderen Klientel - das ist heute schon
gesagt worden - gerne als Retter der kleinen Leute. Wie
bei Holzmann wird dafür das Millionenfüllhorn ausgeschüttet.
Wie sich doch die Zeiten ändern! Die frühere unionsgeführte Bundesregierung hatte bei den Stürmen „Vivian“
und „Wiebke“ 1990 tatsächlich geholfen, indem sie bei
weniger Schaden allein den Waldbesitzern in Baden-Württemberg etwa 60 Millionen DM zur Verfügung gestellt hatte. Demgegenüber sind die jetzt vom Bund zugesagten
30 Millionen DM für mehrere Bundesländer ein Tropfen
auf dem heißen Stein. Es bleibt ein Missverhältnis zwischen damals und heute.
Es ist deshalb längst überfällig und notwendig, dass eine wirkliche Hilfe und Unterstützung für die betroffenen
Waldbesitzer auch seitens des Bundes und der EU gestartet wird. Ich appelliere an Sie, Herr Minister Funke, setzen Sie sich doch mit etwas mehr Akribie dafür ein, dass
die Maßnahmen der Länder rasch bewilligt werden, damit
neben den Bundesmitteln auch EU-Mittel ihren Einsatz
finden.
Die CDU fordert in ihrem Antrag „Hilfsprogramm für
die Beseitigung von Sturmschäden im Wald durch den
Orkan „Lothar“, die Auflegung eines mehrjährigen Sonderprogramms für die Beseitung von Orkanschäden mit
60-prozentiger Finanzierung durch den Bund. Diese Mittel sind zusätzlich zur Verfügung zu stellen.
Die Union hat sich dafür eingesetzt, dass die Mittel für diese Hilfen nicht aus dem Topf des Agraretats genommen
werden, der heute ohnehin schon wie eine Zitrone ausgequetscht ist. Außerdem müssen angesichts des überhöhten
Holzangebotes alle Maßnahmen ergriffen werden, um den
Holzmarkt zu stabilisieren.
Nun ist es mittlerweile April geworden und eine weitere Gefahr droht durch die Borkenkäfer. Um solche Nachfolgeschäden zu verhindern, müssen jetzt verstärkt die
Sturmwürfe aufgearbeitet werden. Die CDU hat als einzige Fraktion Maßnahmen zur Verhinderung des Borkenkäferbefalls in ihren Antrag aufgenommen. So sehen wir
praxisnahe Politik.
({6})
Die Union setzt sich in diesem Sonderfall ebenfalls für
zinslose Kredite für in ihrer Existenz bedrohte Betriebe der
Privatwaldbesitzer ein, damit diese wenigstens die Liquidität haben, um die Aufarbeitung der riesigen Holzmengen
überhaupt bewältigen zu können. Wir fordern deshalb zur
steuerlichen Erleichterung den Ein-Achtel-Steuersatz für
Kalamitätsnutzungen.
Die Schadensbewältigung wird uns noch mehrere Jahre beschäftigen. Für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ brauchen wir einen separaten Block für die Unterstützung bei
der Bewältigung der Sturmschäden, während die übrigen
Mittel normal auf die Länder zu verteilen sind.
Bei solchen Sturmschäden, die weder versichert sind
noch von den Waldbesitzern beeinflusst werden können,
bedarf die Forstwirtschaft unserer Hilfe und unserer Solidarität. Das sind wir ihr schuldig. Diese Unterstützung zu
geben, ist eine politische Herausforderung, die wir aufgenommen und in unserem Antrag umgesetzt haben. Wir bitten Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
Vielen Dank.
({7})
Ich
schließe die Aussprache.
Zunächst zu Tagesordnungspunkt 6 a: Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3090 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Der Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU
auf Drucksache 14/3095 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten und zur Mitberatung an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und an den Finanzausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Nun zu Tagesordnungspunkt 6 b: Wir kommen zu den
Abstimmungen, und zwar zunächst zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft
und Forsten zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen zu den Waldschäden durch Orkane im Dezember 1999 auf Drucksache 14/3045 unter
Buchstabe a. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/2685 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Fraktion
der CDU/CSU zu einem Hilfsprogramm für Sturmschäden
im Wald durch den Orkan „Lothar“ auf Drucksache
14/3045 unter Buchstabe b: Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 14/2570 abzulehnen.
({0})
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Fraktion
der F.D.P. zu einer raschen und wirksamen Hilfe für Waldbesitzer auf Drucksache 14/3045 unter Buchstabe c: Der
Ausschuss empfiehlt, denAntrag auf Drucksache 14/2583
abzulehnen.WerstimmtfürdieseBeschlussempfehlung?Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die
Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU- und der
F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherstellung der Rentenauszahlung im Vormonat
({1})
- Drucksache 14/3159 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit Sozialordnung ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister Walter Riester.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf festigt
die Bundesregierung das Vertrauen der Rentnerinnen und
Rentner in den Eingang der Rentenzahlung am letzten
Bankgeschäftstag vor dem Monatsersten. Dieses Vertrauen in das System der gesetzlichen Rentenversicherung
darf nicht beschädigt werden. Es ist durch die Wertstellungspraxis der Banken in den vergangenen Jahren gewachsen. Hier darf es keine Enttäuschung, keine Verunsicherung der älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger geben.
Der Gesetzentwurf stellt sicher: Die Rentnerinnen und
Rentner können ihre zum Monatsersten fälligen Zahlungsverpflichtungen aus ihrer Rente für den jeweiligen
Monat erfüllen. Sie werden deswegen von ihrem Geldinstitut nicht mit Sollzinsen belastet werden. Mir kommt es
darauf an, hier Klarheit herzustellen. Der Gesetzentwurf
verpflichtet die Träger der Rentenversicherung, durch geeignete Maßnahmen dafür Sorge zu tragen, dass die Rentnerinnen und Rentner nach dem gewöhnlichen Ablauf des
jeweiligen Zahlungsverfahrens schon am letzten Bankgeschäftstag vor dem regulären Fälligkeitstermin über ihre
Rente verfügen können.
Lassen Sie mich kurz die Gründe skizzieren, die die
Bundesregierung bewogen haben, gesetzgeberisch initiativ zu werden. Die Rentnerinnen und Rentner haben schon
jetzt einen gesetzlichen Anspruch darauf, ihre Monatsrenten im Voraus zu erhalten, und zwar zum Ersten eines
jeden Monats.
({0})
Die Rentenversicherungsträger haben dementsprechend
schon heute dafür Sorge zu tragen, dass die Rentnerinnen
und Rentner nach dem gewöhnlichen Ablauf des Verfahrens am Ersten jedes Monats über ihre Rente verfügen
können. Um eine solche fristgerechte Auszahlung der
Renten sicherzustellen, sind die Rentengelder den Banken
in der Vergangenheit stets einen Tag vor ihrer eigentlichen
Fälligkeit zugeleitet worden.
Dieses Verfahren hatte nach Erlass des Wertstellungsurteils des Bundesgerichtshofs im Jahre 1997 zur Folge,
dass die Banken aufgrund einer unterschiedlichen Auslegung des Urteils unterschiedlich verfuhren: Ein Teil der
Banken schrieb den Rentnerinnen und Rentnern ihre Rente weiterhin am Ersten des jeweiligen Monats gut, ein anderer Teil jedoch schon am Letzten des Vormonats. Dadurch verbuchte ein Teil der Banken einen Zinsgewinn für
sich, der eigentlich den Rentenversicherungsträgern zustand, während die Rentnerinnen und Rentner selbst unterschiedlich behandelt wurden.
Die Situation widersprach aus Sicht der Rentenversicherungsträger der - unter anderem auch vom Bundesrechnungshof geforderten - wirtschaftlichen Optimierung
des Rentenzahlverfahrens. In Verhandlungen zwischen
dem Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, der
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, dem
Rentenservice der Deutschen Post und den Banken wurde
daher im zweiten Halbjahr 1999 ein Verfahren vereinbart,
wonach der sich aus dem Wertstellungsurteil des Bundesgerichtshofs ergebende Zinsgewinn generell den Rentenversicherungsträgern zugute kommen sollte. FürdieRentnerinnen und Rentner sollte dadurch gleichzeitig der
Zustand wieder hergestellt werden, der vor dem Wertstellungsurteil des Bundesgerichtshofes bestand.
Für den Teil der Rentnerinnen und Rentner, der seine
Rente in den letzten Jahren schon vor dem Letzten des Vormonats gutgeschrieben bekam und sich darauf einstellen
konnte, dass laufende Überweisungen bereits am Letzten
des Vormonats ausgeführt wurden, bedeutete dies jedoch
eine gravierende Änderung, eine Verschlechterung, die
wir so nicht hinnehmen konnten. Angesichts der
Gesetzesinitiative, die wir nun ergriffen haben, haben sich
die Rentenversicherer darauf eingestellt, das alte Verfahren wieder einzuführen.
Nun möchte ich noch kurz auf die Frage des vermeintlichen Zinsgewinns eingehen. Die Rentenversicherer sagen zunächst einmal nicht zu Unrecht, durch das
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wertstellungsgutachten hätten sie bei diesem Verfahren einen Zinsgewinn von 16 Millionen DM realisiert. Auf der
anderen Seite muss man sehen, meine Damen und Herren,
dass es um 22 Millionen Rentenzahlungen geht. Der Zinsgewinn macht also pro Rentenzahlung im Jahr etwa
75 Pfennige oder pro Rentenzahlung rund 7 Pfennige aus.
Dafür möchte ich keine Verunsicherung von 17 Millionen
Rentnerinnen und Rentnern in Kauf nehmen.
({1})
Ich bin sehr für ein wirtschaftlich effizientes Verfahren.
Ich bin auch sehr dafür, ein bestehendes Gesetz mit den jeweiligen technischen Möglichkeiten einzuhalten. Aber so,
wie dort verfahren worden ist - auch noch mit der Unzulänglichkeit, dass die Rentnerinnen und Rentner nicht
informiert worden sind; unser Haus ist auch nicht befasst
worden, aber das lasse ich einmal beiseite -, geht es nicht.
Deswegen haben wir schnell gehandelt und sind der Meinung, dass die Sicherheit bei 22 Millionen Rentenzahlungen beziehungsweise die Sicherheit von 17 Millionen
Rentnern mehr wert ist als der Zinsgewinn, der in dieser
Frage unterstellt worden ist. Daher bitte ich Sie, dem Gesetz zuzustimmen.
({2})
Ich gebe das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Heinz Schemken.
Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage für die
CDU/CSU-Fraktion, dass der Gesetzentwurf den richtigen
Weg darstellt. Sicherlich ist auch richtig, dass das gewachsene Vertrauen nicht erschüttert werden darf, weil es
sich hier um eine Praxis handelt, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte entwickelt hat. Es geht um die Rentenzahlung am letzten Geschäftstag der Banken - vor dem Monatsersten. Das gilt für die Renten sowohl der Rentenversicherungsträger als auch der Unfallversicherungsträger.
Dieses Gesetz verpflichtet sie, die Regelung, die bisher üblich war, in Zukunft beizubehalten, sodass der Rentner
rechtzeitig über die ihm zustehende Rente verfügen kann.
Die Rentenversicherungen haben nun - interessanterweise in dieser Zeit - versucht, die Rentenzahlung etwas
zu strecken. Das bringt natürlich Geld. Der Minister hat
schon auf die Summe hingewiesen; es können sicherlich
einige 10 Millionen DM sein. Aber darum geht es nicht.
Es geht insbesondere darum, dass der Rentner im Hinblick
auf seine Zahlungsverpflichtungen am Monatsersten disponieren kann, damit er nicht Sollzinsen bezahlen muss.
Was die Habenzinsen angeht, so erfolgt die Wertstellung hier hat sich die Praxis schon wohltuend geändert - auch
noch am Freitagnachmittag. Auch dies ist für den einzelnen Rentner sicherlich wichtig: Er muss rechtzeitig über
die Rente verfügen können und darf nicht mit Kontokorrentzinsen belastet werden. Die Rentner, die bisher darauf
bauen durften, erhalten durch diese Gesetzesinitiative Sicherheit.
In Zukunft wird also die frühere Überweisungspraxis
beibehalten werden können. Dabei geht es im Übrigen um
Sonntage, um Feiertage und auch um verlängerte Wochenenden, an denen Banken nicht tätig sind. Das ist die
eine Seite des Vertrauensschutzes, den der Minister hier
völlig zu Recht herausgestellt hat.
Aber es gibt auch einen anderen Teil des Vertrauensschutzes.
({0})
- Ja, ich habe schon gesagt, dass es der richtige Weg ist.
In einer Fragestunde habe ich bereits nachgefragt, wie
weit hier überhaupt noch die Post AG eingeschaltet wird.
Aber darüber müssen wir sicherlich in den Ausschussbesprechungen noch reden.
Nun komme ich aber zu einem anderen Teil des Vertrauensschutzes. Es gab nämlich einen enormen Vertrauensverlust: Noch vor drei Monaten wurde eine Rentenerhöhung angekündigt, die den Rentnern die volle Kaufkraft
erhalten sollte.
({1})
Aber dies ist nicht eingetreten. Wie sich nun herausstellt,
werden die Renten noch nicht einmal in Höhe der Inflationsrate angepasst. Die Rentenerhöhung fällt um 1 Prozent
niedriger aus als vom Bundesarbeitsminister versprochen.
Sie ist also weit geringer als angekündigt. Sie bringt dem
Rentner präterpropter noch nicht einmal einen 10-DMSchein. Hier ist das Vertrauen erschüttert. Das ist der
Punkt.
({2})
Die jetzige Rentenerhöhung ist die drittniedrigste seit
1957 und die geringste seit der Wiedervereinigung. Wäre
es bei der nettolohnbezogenen und damit leistungsbezogenen Anpassung der Renten geblieben, dann wäre die
Rentenerhöhung doppelt so hoch gewesen.
({3})
Dies ist also ein eklatanter Vertrauensbruch. Das Rentenauszahlungsgesetz ist dagegen vertrauensbildend. Da gebe ich Ihnen Recht, Herr Minister. Aber in Ihrer kurzen Regierungszeit gab es schon vier solcher Fehlmeldungen.
Das kann das Vertrauen der Rentner natürlich nicht stärken. Ich denke an das Wort des Kanzlers und auch an das
des Arbeitsministers.
Ich möchte abschließend feststellen: Die heutigen
Rentner, die weitgehend der Aufbaugeneration zuzuordnen sind, haben mit harter Arbeit in schwieriger Zeit ihre
Rente verdient.
({4})
Ich bin der Meinung, dass diese Renten nicht gekürzt werden dürfen. Bei aller Anerkennung des vorgelegten Gesetzes muss auch dies zu dieser Stunde gesagt werden. Wir
sollten in nächster Zeit miteinander im Ausschuss versuchen, dies neu zu regeln. Das ist mein Angebot.
Schönen Dank.
({5})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Katrin
Göring-Eckardt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Schemken, das, was Sie hier gerade gemacht haben,
ist genau das, was wir im Moment nicht brauchen.
Das Rentenauszahlungsgesetz ist notwendig, um
Rechtssicherheit zu schaffen. Es muss gewährleistet werden - der Minister hat das ausgeführt -, dass alle Rentnerinnen und Rentner gleich behandelt werden. Eine einheitliche Regelung stellt sicher, dass alle Rentnerinnen
und Rentner zum gleichen Termin ihre Rente erhalten und
dass nicht die einen zufällig besser und die anderen zufällig schlechter gestellt werden. Das ist gerade für diejenigen wichtig, die wenig Rente beziehen. Auch sie haben
Zahlungsverpflichtungen, denen sie nachkommen müssen, möglichst ohne Sollzinsen zu zahlen.
Die große Verunsicherung, die im Februar dieses Jahres durch die Forderung der Rentenversicherungsträger
nach einem anderen Auszahlungstermin ausgelöst wurde,
hat mit unterschiedlichen Dingen zu tun. Sie hat zum Beispiel mit der Art und Weise zu tun, in der die Debatten über
die Rente im Deutschen Bundestag geführt werden und die
nicht einer vernünftigen und konstruktiven Atmosphäre
entspricht, um die wir uns bei den Rentenkonsensgesprächen bemühen. Das verunsichert die Rentnerinnen
und Rentner zusätzlich. Nach meiner Meinung sollten wir
die Debatte nicht in der bisherigen Weise fortführen.
({0})
Die Renten- und Unfallversicherungsträger werden
verpflichtet, am letzten Werktag vor dem Monatsersten die
Rente auszuzahlen. Aufgrund der Beschleunigung im modernen Zahlungsverkehr der Banken hat sich die Dauer
verkürzt, bis eine Gutschrift auf dem Konto erscheint. Wir
wollen natürlich auch verhindern, dass die Banken - kostenlos - zulasten der Rentnerinnen und Rentner und zulasten des Vertrauens spekulieren, das wir brauchen.
Ich hoffe, dass wir das Vertrauen und die Verlässlichkeit gemeinsam wieder herstellen wollen. Wir machen
mit dem jetzt vorgelegten Gesetz einen ersten Schritt in
diese Richtung. Es ist zwar nur ein kleiner Schritt, aber
dieser Schritt ist angesichts der großen Reform notwendig,
die wir noch vor uns haben. Sie sollten diesen Schritt nicht
diffamieren, indem Sie im Bundestag eine alte Debatte immer wieder neu aufrollen und alte Argumente immer wieder neu vorbringen.
Aus meiner Sicht sind wir in unseren Konsensgesprächen schon sehr viel weiter. Deswegen schlage ich Ihnen vor: Geben Sie zu, dass dies ein richtiger und guter
Schritt ist. Alles andere sollten wir dort verhandeln, wo wir
es gemeinsam verhandeln wollen. Mit der Art und Weise,
in der Sie an dieser Stelle agieren, diffamieren Sie sich
selbst. Ich bitte Sie herzlich: Seien Sie an dieser Stelle ehrlich und konstruktiv zugleich und geben Sie zu, dass dieser Schritt richtig ist.
Vielen Dank.
({1})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Riester, „dumm
gelaufen“, so sagt man landläufig zu solchen Fehlentscheidungen.
({0})
Klammheimlich sollten die Mitarbeiter der Rentenversicherungsträger die Renten einen Tag später auszahlen, als
dies bisher bei den meisten Rentnern der Fall gewesen ist.
Sie sollten es hinter dem Rücken des Ministers und des
Parlaments tun.
Wie es in dieser Republik nun einmal ist: Der „Bild“Zeitung bleibt fast nichts verborgen und schon ist ein
handfester Skandal produziert. Dies, Herr Riester, hat Sie
nun zum Handeln gezwungen. Es wäre besser gewesen,
Sie hätten diesen Fehler ohne diese Art von öffentlicher
Aufregung und Verunsicherung der Rentner vernünftig
korrigiert.
Die Rentenversicherungsträger hatten natürlich - Sie
haben das eben ausgeführt - das Gesetz auf ihrer Seite. Im
Gesetz steht, dass am Ersten eines jeden Monats für den
laufenden Monat ausgezahlt werde. Richtig ist aber auch,
dass die Banken bisher nicht in der Lage gewesen sind, die
Anweisung auf das Konto taggenau vorzunehmen. Aus
diesem Grund wurde die Rente in den meisten Fällen bereits einen Tag früher ausgezahlt. Nun sollen die Rentner
ihr Geld einen Tag früher erhalten. Die F.D.P. begrüßt das.
Die Umsetzung des Plans erfordert eine Änderung des
Gesetzes. Wir können dem uns vorliegenden Entwurf in
der Fassung, in der er in die Ausschüsse geht und - wenn
das Ministerium richtig gearbeitet hat - aus diesen wieder
herauskommt, zustimmen.
Wichtig ist, dass die Verunsicherung der Rentner aufhört. Wichtig ist mir aber auch, dass wir nicht jede Kleinigkeit zum Anlass nehmen, zusätzliche Aufregungen zu
produzieren. Herr Kollege Schemken, wir schätzen Sie
sehr, aber vieles von dem, was Sie hier gesagt haben, hat
mit dem Gesetzentwurf, der heute in erster Lesung behandelt wird, nichts zu tun.
({1})
Rentenkürzungen stehen heute nicht auf dem Programm. Auf dem Programm steht vielmehr, dass die Rentner ihr Geld mit Sicherheit jeweils einen Tag vor dem Beginn des neuen Monats bekommen.
({2})
Deswegen sollten wir dies auch so akzeptieren. Wir versuchen auf jeden Fall, durch eine sachbezogene Diskussion die Aufregung aus diesem Thema herauszunehmen.
Lassen Sie uns deshalb dieses Gesetz im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung so reibungslos behandeln, wie dies
in unserem Ausschuss in anderen Bereichen sehr häufig
der Fall ist. Wir jedenfalls sind dazu bereit. Ich hoffe, auch
die CDU/CSU macht mit.
Danke schön.
({3})
Ich gebe das Wort
dem Abgeordneten Peter Dreßen, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Ich hätte mich nicht zu Wort gemeldet, wenn
nicht der zweite Redeteil von Ihnen, Herr Kollege
Schemken, inakzeptabel gewesen wäre. Ihr Beitrag war
nun wirklich ein bisschen dreist. Ihre Ausführungen muss
man einfach zurückweisen.
({0})
Sie wissen genauso wie ich, dass in all den Jahren, in
denen es die Rentenversicherung gibt, als Bezugsgröße
für die Erhöhung das vorangegangene Jahr herangezogen wurde. Das geht auch nicht anders. Wir wissen doch
heute überhaupt nicht, wie hoch die Inflationsrate am Ende des Jahres sein wird. Es kann durchaus passieren, dass
im nächsten Jahr die Inflationsrate wesentlich niedriger
sein wird, obwohl als Bezugsgröße die höhere Inflationsrate des laufenden Jahres genommen wird. Ihre Behauptungen waren insofern ein starkes Stück.
({1})
Ich will Ihnen noch etwas entgegenhalten: Wir werden
nie das tun, was Ihnen passiert ist. 1996 haben unter Ihrer
Regierung Rentner - vor allem Frauen - Rentenbescheide
bekommen, die beispielsweise eine Rente von 700 DM
auswiesen. Ein Jahr später, als sie dann die Rente tatsächlich bekommen haben, haben sie einen Abschlag bis zu
300 DM gehabt. Herr Kollege Schemken, so etwas werden Sie bei uns nie erleben,
({2})
dass gerade die Renten, die ohnehin schon niedrig sind,
noch um 200 bis 300 DM nach unten gehen. Das war nun
wirklich ein starkes Stück. Sie haben sicherlich auch in
Ihrem Wahlkreis diese Frauen im Büro gehabt und mussten sie betreuen. Ich hätte nur gern gewusst, was Sie ihnen gesagt haben. Ich habe gesagt: Das, was sich die
Regierung da leistet, ist eine Unverfrorenheit.
({3})
Aber leider hatten wir damals keine Mehrheit, um das zu
verhindern, was Sie sich geleistet haben.
Dann will ich Ihnen noch eines sagen: In den letzten
Jahren Ihrer Regierungszeit, von 1994 bis 1998, machten
die Erhöhungen - ich sage das, weil Sie das erwähnt haben - Pfennigbeträge aus; sie lagen unter der Inflationsrate. Wir können das Jahr für Jahr genau nachweisen. Ihre
Erhöhungen lagen unter der Inflationsrate. Wir erhöhen
jetzt die Renten entsprechend der Inflationsrate - zwei
Jahre lang. Wir haben versprochen, dass wir danach wieder zur Nettolohnanpassung zurückkehren. Sie wissen:
Das, was die SPD verspricht, hält sie auch ({4})
gerade in der Rentenversicherung. In der Rentenversicherung haben wir noch immer alles gehalten.
Kollege Laumann, wir haben im Wahlkampf versprochen, dass wir die Fremdleistungen aus der Rentenversicherung herausnehmen.
({5})
Das ist passiert. Wir finanzieren die Fremdleistungen heute aus Steuermitteln; sie werden heute aus der Ökosteuer
finanziert. Und wir haben die Renten in Ordnung gebracht,
({6})
wie wir es den Leuten gesagt haben.
Wir haben bei der Rentenversicherung natürlich auch
im Vorfeld Ordnung geschaffen. Wir haben gesagt, dass jeder, der arbeitet, seinen Beitrag in die Rentenversicherung
einbringen muss. Unter heftigem Widerstand und Protest
von Ihnen haben wir die 630-DM-Regelung in der
Rentenversicherung eingeführt - zum Guten.
({7})
Und Sie sehen, welche Erfolge wir nebenbei auch noch in
der Krankenversicherung haben.
({8})
Ich meine also, dass Sie sich wirklich ein Stück davon
abschneiden können, wie man eine solide Rentenpolitik
ohne Verunsicherung der Rentner macht - etwas, was man
Ihnen leider immer wieder vorwerfen musste.
({9})
Für die Fraktion der
PDS gebe ich nun der Kollegin Monika Balt das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war ein schlechter Scherz auf Kosten der Rentnerinnen und Rentner und Herr Minister
Riester sprach von einem „Testversuch“, der Gott sei Dank
wieder abgebrochen werden musste: Erst beschließt die
Regierungskoalition im Haushaltssanierungsgesetz die
Abkopplung der Rentenentwicklung von der Nettolohnentwicklung
({0})
bei gleichzeitiger Mehrbelastung der Rentnerinnen und
Rentner durch die Ökosteuer, was ja real einer RenDr. Irmgard Schwaetzer
tenkürzung gleichkommt - aber darüber werden wir ja
morgen debattieren -, und dann zahlen die Rentenversicherungsträger die Renten zum Ersten des laufenden Monats mit dem Ziel aus, rund 16 Millionen DM an Zinseinkünften zulasten der Rentnerinnen und Rentner zu erwirtschaften.
Mir kann hier niemand erzählen, dass das Bundesarbeitsministerium über dieses Vorgehen nicht wenigstens
informiert war.
({1})
Aber: Hier wurde die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
Aufgrund der massiven Proteste der Betroffenen und der
medialen Öffentlichkeit erfolgte im darauf folgenden Monat die Rückkehr zur ursprünglichen Regelung und diese soll nunmehr gesetzlich verankert werden. Das macht
auch Sinn, liebe Kolleginnen und Kollegen. Denn viele
der Seniorinnen und Senioren sind Mieterinnen und Mieter und begleichen ihre Miete im Bankeinzugsverfahren.
Viele der Seniorinnen und Senioren kommen mit ihrer
monatlichen Rente gerade so über die Runden. Sie staunten nicht schlecht und waren ziemlich empört, als ihr Kontoauszug ohne ihr eigenes Verschulden einen Negativsaldo aufwies mit der Folge, dass sie auch noch Überziehungszinsen zu zahlen hatten.
Wenn man den Botschaften der Rentenkonsensgespräche, von denen wir ja immer noch bewusst ausgegrenzt werden, glauben kann, dann bastelt man dort nur an
der Leistungsseite der gesetzlichen Rente herum - und das
nicht zum Vorteil der Rentnerinnen und Rentner.
Nun machen ausgerechnet die Rentenversicherungsträger einen kühnen Vorstoß in die Richtung, die mehr Geld
in die Rentenkasse bringen soll. Löblich, aber so nicht!
Die PDS unterbreitete kürzlich in der Öffentlichkeit
Überlegungen und realisierbare Vorschläge, wie mehr
Geld in die Rentenkasse, in die gesetzliche Rentenversicherung gelangen könnte. Unserer Meinung nach müssen
bisher nicht versicherte Personenkreise schrittweise in die
gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden.
({2})
Die Krise der Rentenfinanzen ist heute vor allem eine
Krise der Bemessungsgrundlage, der Bruttolöhne und
der Bruttogehälter. Die Bruttolohn- und -gehaltssumme
wächst seit rund 20 Jahren im Durchschnitt deutlich
langsamer als die Wertschöpfung der Unternehmen. Die
Berechnungsgrundlage wird relativ schmaler, weil der
Faktor Arbeit für die betriebliche Wertschöpfung im gesellschaftlichen Durchschnitt an Bedeutung verliert. Die
Lohnsumme allein ist daher kein ausreichender Maßstab
mehr für die wirtschaftliche Leistungskraft eines Unternehmens und damit für seine Beteiligung am gesellschaftlichen Solidarausgleich. Auch hierzu hat die PDS
Vorschläge gemacht.
Lassen Sie mich, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum
Abschluss eines sagen: Rentenreform ist Gesellschaftspolitik. Beziehen Sie die PDS mit ein!
Danke.
({3})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Heinz
Schemken.
({0})
Nein, ich bin nicht der
Meinung, dass ich hätte schweigen sollen. Hier ist die vertrauensbildende Maßnahme sehr hoch angesiedelt worden. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, dass ich jetzt noch
einmal auf die Gesamtproblematik eingehe. Ich habe es
nicht so gesagt, wie es Herr Dreßen dargestellt hat.
({0})
Herr Dreßen, da beißt keine Maus ‘nen Faden ab: Durch
zweimalige Rentenanpassung in Höhe der Inflationsrate sinkt das Rentenniveau von 70 auf 67 Prozent. Das
ist Fakt. Fakt ist auch, dass der Rentner dieses Ergebnis
aufgrund wiederholter Klarstellungen und Antworten in
den letzten anderthalb Jahren von Ihrer Seite - das beginnt
beim Kanzler und hört beim Minister auf - so nicht erwarten konnte. Darin liegt ein Vertrauensbruch. Das ist
meine Meinung. Dabei bleibe ich. Ich habe es in Mark und
Pfennig dargelegt. Diese Aufstellung ist auch nicht widerlegt worden.
Darüber hinaus darf ich noch einmal feststellen: Durch
zweimalige Anpassung gemäß der Inflationsrate durchbrechen wir das System, ohne dass wir einen übergreifenden Konsens über eine Rentenreform hergestellt hätten.
Dies bedauern wir nach wie vor. Natürlich wirken wir mit.
Das habe auch ich zuletzt gesagt. Ich sehe dieses Thema
aber in einem größeren Zusammenhang. Diese Haltung
lasse ich mir nicht nehmen.
Schönen Dank.
({1})
Zu einer Erwiderung
der Kollege Dreßen.
Kollege Schemken, wir sollten
gemeinsam festhalten - da gebe ich Ihnen Recht -, dass die
Rente auf ein Niveau von 67 Prozent sinken kann. Haben
Sie aber einmal überlegt, wo wir gelandet wären, wenn Ihr
demographischer Faktor gezogen hätte, der ja auch nur
willkürlich gegriffen war, weil er nur halb so groß war wie
nötig? Sie wären damit bei einem Rentenniveau von
64 Prozent gelandet.
({0})
Jeder willkürlich gegriffene Ansatz kann natürlich immer
verändert werden. Wenn Sie den demographischen Wandel komplett berücksichtigt hätten, wären Sie sogar unter
60 Prozent gelandet. Das hätten wir nicht mitgemacht.
Aber mit dem offiziell von Ihnen festgesetzten Faktor, der
einen Teil des demographischen Wandels berücksichtigte,
wäre man bei 64 Prozent gelandet. Ich bin heilfroh, dass
das vom Tisch ist.
Ich hoffe, dass wir uns in den Rentenkonsensgesprächen so weit einig werden, dass die Rente auf einem
Niveau liegen muss, von dem jeder Mensch leben kann.
Man kann heute natürlich einem 50-Jährigen nicht zumuten, dass er Eigenvorsorge betreibt. Auch Sie wissen, dass
solche Änderungen nur langfristig möglich sind. Ich bin
eigentlich guten Mutes, dass wir, wenn wir in der Kommission nüchtern und sachlich miteinander diskutieren,
auch zu einem vernünftigen Ergebnis kommen.
({1})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes
auf Drucksache 14/3159 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Hierzu gibt es kei-
ne anderweitigen Vorschläge. Damit ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Nooke, Markus Meckel, Werner Schulz ({0})
sowie weiterer Abgeordneter
Errichtung eines Einheits- und Freiheitsdenkmals auf der Berliner Schlossfreiheit
- Drucksache 14/3126 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Gewölbe unter dem ehemaligen Nationaldenkmal auf dem Berliner Schlossplatz für die Öffentlichkeit zugänglich machen
- Drucksache 14/3120 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem Kollegen Günter Nooke das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit unserem Gruppenantrag
fordern wir die Bundesregierung auf, auf der Berliner
Schloßfreiheit ein Einheits- und Freiheitsdenkmal zu errichten. Es ist die Forderung nach einem positiven Nationaldenkmal, das davon erzählen und zeugen soll, wie die
Deutschen 1989/90 zur Freiheit und zur Einheit fanden. Ja,
wir betreten damit politisches Neuland. Wir fordern ein
positives nationales Symbol.
Die Initiative dazu kam im Mai 1998 aus der Mitte der
Gesellschaft, aus Ost und West: von Florian Mausbach,
dem Präsidenten des Bundesamtes für Bauwesen und
Raumordnung, von dem Journalisten Jürgen Engert,
Lothar de Maizière und mir. Aber es zeigte sich, dass wir
anders als erwartet breite Zustimmung bei den Repräsentanten unserer höchsten Verfassungsorgane und bei zahlreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens fanden.
Was für uns damals ein besonders ermutigendes Zeichen war: Die positiven Reaktionen kamen sowohl von
Parteilosen als auch von bekannten, ehemals oder noch aktiven Parteipolitikern verschiedenster Couleur. Als sich
damals beispielsweise Richard Schröder, Klaus von
Dohnanyi, Ignatz Bubis, Josef P. Kleihues, Hans-Olaf
Henkel oder Lothar Späth - um nur sechs Namen zu nennen - unserer Idee angeschlossen haben, war klar, dass
dieser Vorschlag so ernst genommen wurde, wie er gemeint war.
Die friedliche Revolution vom Herbst 1989 war im
Grunde die einzige erfolgreiche Freiheitsrevolution in der
deutschen Geschichte. Die erste inhaltliche Forderung dieser Revolution war die nach der deutschen Einheit. Beides
war, ja, ist von historischer Bedeutung. Wir sollten daran
auch in der Mitte der Bundeshauptstadt erinnern und damit auch eine Herausforderung für die Zukunft formulieren.
({0})
Wir schlagen vor, für die Errichtung dieses Einheitsund Freiheitsdenkmals einen internationalen Wettbewerb auszuschreiben, der unter der Losung „Freiheit und
Einheit“ stehen sollte, wie sie in jenen Tagen formuliert
wurde: „Wir sind das Volk!“, „Wir sind ein Volk!“
Die Kulturnation Deutschland braucht für ihre Erinnerungskultur nicht nur das Gedenken an die Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und den Massenmord
an den Juden. Sie braucht auch die Erinnerung an die zweite deutsche Diktatur des SED-Regimes. Aber erst recht
braucht sie dann auch - neben Gedenkstätten und Mahnmalen - Freudenmale, die den Freiheitswillen der Menschen symbolisieren und an die Überwindung der Diktatur erinnern.
Es geht uns also nicht um eine neue Debatte über Denkmäler und eine Diskussion darüber, ob Denkmäler noch
zeitgemäß sind. Die öffentliche Debatte hat die Kritiker
schon lange widerlegt. Uns liegt an einer Debatte und an
der Herausforderung, wie wir, die Bürger und ihr Staat, unsere Nation, damit umgehen, der Erinnerung der Freiheit
in Einheit zu gedenken.
In der alten Bundesrepublik hatte diese Forderung noch
Verfassungsrang. Die Ostdeutschen haben mit der friedlichen Revolution das Defizit an demokratischen Revolutionen in der deutschen Geschichte behoben. Das ist
Grund genug, dass hier und heute 177 Abgeordnetenkollegen des Deutschen Bundestages die Bundesregierung in
die Pflicht nehmen wollen, für ein solches Denkmal die
Verantwortung zu übernehmen.
({1})
Ich garantiere Ihnen: Die Bürgerinnen und Bürger werden Sie weiter dazu drängen. Was den Ort anbelangt, so
kann man und wird man sicherlich darüber diskutieren.
Eine kurze Begründung unserer Vorschlages sei hier
gleichwohl gestattet. Der verlassen erscheinende Schlossplatz bildet wieder die natürliche Mitte des wieder vereinigten Berlins und damit auch die politische institutionelle
Mitte der Bundesrepublik. Hier ließe sich aus topographischer und historischer Sicht Einiges dazu sagen. Man denke nur an die Ereignisse eines Vorläufers der 1989er
Herbstrevolution, nämlich die 1848er Revolution zur Erlangung von Demokratie. Diese spielte sich auch und vor
allen Dingen um diesen Platz herum ab.
Die friedliche Revolution des Herbstes 1989 in der
DDR hatte viele Zentren, von denen manche - denken Sie
nur an Plauen, Leipzig oder Dresden - den Berlinern sogar weit voraus waren. Aber für uns Zeitgenossen ist hoffentlich noch gegenwärtig, dass der große Demonstrationszug von über 750 000 Menschen am 4. November 1989
auf dem Weg Unter den Linden gen Westen über diesen
Platz, also quasi vor dem Sockel der Schlossfreiheit, abbog. Von da aus ging es wieder zurück zur Kundgebung
auf den Alexanderplatz.
Der Einheitsbeschluss der frei gewählten Volkskammer fand nicht einmal einen Steinwurf weit von diesem
jetzt noch kahlen Sockel im damaligen Palast der Republik
statt. Unweit davon, im Kronprinzenpalais, wurde wenig
später der Einigungsvertrag unterzeichnet. So, wie die
deutsche Einheit im Anschluss an die friedliche Revolution von 1989 ein knappes Jahr später erfolgte, könnte ein
solches Denkmal den bereits im 19. Jahrhundert vorhandenen Einheitswillen in anderer Weise symbolisieren.
Mit der Errichtung eines Denkmals auf dem für den
Zweck eines Reiterstandbildes für Wilhelm I. gebauten
Sockel wird jener Ort des Einheitswillens gleichsam demokratisch vollendet. Sie können es auch so formulieren:
Wir sollten den Mut haben, diesen Sockel im hegelschen
Sinne demokratisch aufzuheben und mit neuem Leben zu
erfüllen.
Dieser Ort ist viel zu wichtig, als dass er vielleicht nur
Abstellplatz für Baucontainer oder Anlegeplatz für
Kaffeefahrten mit den Spreedampfern sein sollte.
({2})
Es ist der Logenplatz deutscher Geschichte. Ob das Gewölbe darunter auch geöffnet werden sollte, ist dabei völlig zweitrangig. Manchmal provoziert allerdings eine allzu prinzipielle Kritik an der Initiative für ein Freiheits- und
Einheitsdenkmal die Frage, ob sich dahinter nicht eine
prinzipielle Ablehnung der friedlichen Revolution verbirgt.
Ich bin überzeugt, dass der vorliegende Antrag zur Errichtung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals auf der
Berliner Schlossfreiheit gerade in dem Jahr, in dem wir
den zehnten Jahrestag der deutschen Einheit begehen werden, ausgesprochen zeitgemäß ist. Denn bei aller Diskussion und zuweilen gerade hier in diesem Hause scharfen
Auseinandersetzungen über die richtige Politik, die seit
zehn Jahren im wiedervereinigten Deutschland gemacht
wurde: Ich zweifle nicht daran, dass die Tatsache der 1990
erfolgten Wiedervereinigung, dass die politische Willensbekundung zum Ende der staatlichen Teilung auch heute
von der übergroßen Mehrheit der Menschen in unserem
Land positiv gesehen wird.
({3})
Darüber können weder Analysen über noch bestehende
Unterschiede zwischen Ost und West, weder mehr oder
weniger kunstvolle Essays über die mentalen Schwierigkeiten des Zusammenwachsens der beiden ehemaligen
deutschen Teilstaaten noch diverse Prognosen, nach denen
der Prozess der inneren Einheit sich noch über Generationen hinziehen würde, hinwegtäuschen.
Auch wenn die Deutschen, wie zu vermuten ist, noch
lange Zeit über die Wege des Zusammenwachsens diskutieren werden, so steht doch deren berechtigter positiver
Bezug auf eines der wichtigsten Ereignisse des soeben vergangenen Jahrhunderts bereits heute fest: Wir haben nicht
nur ein Recht, sondern sogar eine Verpflichtung, auf die
freiheitlichen und demokratischen Bewegungen in unserer Geschichte hinzuweisen und diese im öffentlichen Bewusstsein zu halten.
({4})
Vielleicht gibt es vor dem Hintergrund mancher Diskussionen über die Härten und Schwierigkeiten der mit der
deutschen Einheit verbundenen tagespolitischen Erfordernisse sogar eine Notwendigkeit. Diese besteht darin,
mit einem solchen Denkmal diese großartige Freiheitsbewegung, die ohne die Freiheitsbewegungen in Mittel- und
Osteuropa nicht denkbar gewesen wäre, für manche erst
wieder ins Gedächtnis zu rufen.
Sehr geehrte Damen und Herren, der Gründungsmythos des vereinten Deutschlands ist nicht ein vermeintlicher oder ehrlicher Antifaschismus. Und schon gar nicht
beinhaltet ein solcher Gründungsmythos den Sieg des
Westens über den Osten. Der Gründungsmythos, der in
dem zu errichtenden Denkmal auf der Berliner Schloßfreiheit symbolisiert werden und für alle sichtbar und erkennbar gemacht werden soll, beinhaltet den - schließlich erfolgreichen - Kampf für Freiheit und Demokratie.
Deshalb kann ein solches Denkmal weder zur Pilgerstätte für Rechte oder für Linke werden, sondern - ähnlich
wie die Kuppel dieses Hohen Hauses - nur zu einem Mekka der Demokraten.
({5})
Als Berliner füge ich hinzu: Vielleicht wird es auch so etwas wie die Spanischen Treppen in Rom, wo sich Menschen einfach gern treffen.
So gesehen ist dieses Denkmal auch nie in Opposition
zu irgendwelchen anderen Symbolen der demokratisch
verfassten Bundesrepublik zu verstehen. Wir wollen kein
Antidenkmal zum Holocaust-Mahnmal errichten. Aber
wir lassen uns als Nation nicht auf die zwölf schrecklichen
Jahre Nazidiktatur festlegen. Die Hülle des Begriffs „Freiheits- und Einheitsdenkmal“ ist mit Inhalt und - ich scheue
mich nicht vor dieser Formulierung - mit Bedeutung zu
füllen. Ich bin überzeugt davon, dass es in dieser Frage einen vielleicht sonst nicht üblichen großen Konsens unter
sonst demokratischen Konkurrenten gibt.
Ich bitte Sie stellvertretend für die 177 Abgeordnetenkollegen aus vier Fraktionen, die diesen Antrag einbringen
und bei denen ich mich noch einmal ausdrücklich bedanken möchte, diesem demokratischen Konsens durch ihre
Unterstützung und aktive Teilnahme bei der Umsetzung
Ausdruck zu verleihen.
Herzlichen Dank.
({6})
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Markus Meckel.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir schlagen heute ein Freiheitsund Einheitsdenkmal vor, um der Ereignisse vor zehn Jahren zu gedenken und uns darüber zu freuen und für dieses
Freudenereignis einen entsprechenden Ort zu schaffen.
Wir haben in den letzten Monaten bei verschiedenen
Ereignissen gemerkt, dass wir Deutsche wahrhaft Schwierigkeiten haben, angemessene Formen der Erinnerung und
des Gedenkens zu finden, sowohl beim Erinnern und beim
Gedenken an eigenes Unrecht, an Schuld als auch bei so
erfreulichen Ereignissen, wie es nun einmal Mauerfall, eine friedliche Revolution und deutsche Einheit sind. Noch
im Jahre 1948 zum Gedenken an den Jahrestag 1848 hat
Carlo Schmidt erklärt, dass wir Deutsche eben keine gelungene Revolution haben. Jetzt haben wir eine. Dies ist
ein wesentlicher Teil unserer Identität, unseres Gemeinund unseres Selbstverständnisses.
Gerade nach den Schrecken des 20. Jahrhunderts ist
dies nun wahrhaftig ein Geschenk - ein Geschenk, zu dem
der eine oder andere und dann doch sehr viele ihren Teil
beigetragen haben, aber das keiner von uns aus eigener
Kraft erreichen konnte. Dies war eine Konstellation, die
die große Mehrheit des deutschen Volkes glücklich gemacht hat.
Wenn ich sage, dass wir Schwierigkeiten haben, so
zeigt sich dies an einer Kleinigkeit: indem wir etwa dieses
Denkmal gemeinsam vorschlagen, die Reihenfolge der
Begriffe aber unterschiedlich setzen - manchmal ein und
dieselbe Person. Der Antrag selbst ist überschrieben mit
„Errichtung eines Einheits- und Freiheitsdenkmals“, und
im Text selber schreiben wir von einem „Freiheits- und
Einheitsdenkmal“.
Der Zusammenhang von Freiheit und Einheit ist eine ganz wesentliche Sache, über die wir miteinander
nachdenken sollten, vielleicht sogar miteinander streiten
sollten, die von ganz zentraler Bedeutung ist und für die
Gestaltung dieses Denkmals sein wird.
Ich habe vor einigen Jahren in Bonn im Plenum schon
einmal sagen hören, dass man sich freue, dass wir, die
16 Millionen Ostdeutschen, durch die Einheit die Freiheit
erhalten hätten. Ich muss einfach sagen: Das war falsch.
Denn erst war die Freiheit und dann war die Einheit. Weil
wir im Osten Selbstbestimmung errungen haben, war und
wurde die Einheit möglich, und zwar durch einen selbstbestimmten Weg der Ostdeutschen.
({0})
Diese Zusammenhänge sind Teil unserer Identität geworden, Teil unseres Erbes. Wir merken, dass wir noch
viel miteinander reden müssen, um festzustellen, dass wir
auch zu gemeinsamen Selbstverständnissen kommen, dass
wir diese Zusammenhänge gemeinsam und wirklich zusammen beschreiben können.
Ich denke, dass es ganz wichtig ist, dass wir über diese Zusammenhänge bei der Gestaltung dieses Denkmals und bei
der Diskussion über dieses Denkmal - wir werden noch
viele Diskussionen haben - laut nachdenken.
Es soll ein Denkmal sein, das für uns alle, für unser Gemeinwesen, eine Bedeutung hat. Es soll kein Heldenmal
sein. Mein Freund Gunter Weißgerber hat uns ein wichtiges Argument gegen den vorliegenden Vorschlag genannt.
Er sagte: Es ist gut, dass gerade ihr, die ihr damals beteiligt wart, ein solches Denkmal vorschlagt. Es wird später
bestimmt kommen. Aber sollt ihr selber euch ein Denkmal
errichten? Seine Frage hat mich durchaus nachdenklich
gemacht. Ich denke aber, es geht eben nicht darum, dass
wir ein Heldendenkmal für den einen oder den anderen errichten. Es geht darum, dass wir dieses nationalen Ereignisses, an dem Tausende, an dem die Bevölkerung in Ost
und in gewisser Weise auch in West beteiligt waren, miteinander gedenken und diesem Freudenereignis einen Ort
geben.
Wenn von Einheit und Freiheit gesprochen wird, so hat
dies eine lange Tradition. 1848 habe ich als Stichwort
schon genannt. Auch damals ging es um Einheit und um
Freiheit. Die Diskussion in Deutschland war während des
ganzen 19. Jahrhunderts von diesen beiden Begriffen geprägt. Das erste Nationaldenkmal war ein Einheitsdenkmal, jedoch kein Freiheitsdenkmal. Es kam durch ganz
andere Zusammenhänge zustande. Deshalb ist es wichtig,
das Streben nach Einheit und Freiheit anhand der Ereignisse von vor zehn Jahren heute neu zu beschreiben.
Wenn bei dem geplanten Denkmal vielleicht auch von
einem Nationaldenkmal geredet werden kann - ich
scheue mich nicht, dieses Wort in den Mund zu nehmen -,
dann macht dies gleichzeitig deutlich, dass die Ereignisse
der 14 Monate vom Sommer 1989 bis zum Oktober 1990
keine nationalen, gegen die anderen Völker gerichteten Ereignisse waren; denn die friedliche Revolution im Herbst
war Teil der ost- und mittelosteuropäischen Revolution,
die den Ostblock zersprengt hat. Bei dieser Revolution hat
nicht der Westen im Sinne eines Blockes gesiegt. Vielmehr
haben sich Freiheit und Demokratie durch den Willen der
Menschen durchgesetzt.
({1})
Auf der anderen Seite ist es ein Einheitsdenkmal, weil
die deutsche Einheit eben durch Mitwirkung der Nachbarn
zustande gekommen ist. Durch den Zwei-plus-Vier-Prozess eingebunden in Europa, wollte die deutsche Einigung
ein Impetus für das Zusammenwachsen in Europa sein und
ist es dann auch gewesen. Der Fall der Mauer ist nicht nur
für uns, er ist weltweit das Symbol für das Ende der Teilung Europas und für den Beginn des Zusammenwachsens, für das Ende des Kalten Krieges geworden. Ich denke, dass dies eine ganz wesentliche Dimension ist. Es lohnt
sich und es ist wichtig, sie in dieser Weise in Form zu
gießen.
({2})
Über den Ort ist nachzudenken. Wir haben den Vorschlag gemacht, das Denkmal am Schloßplatz zu errichten. Ich denke, das ist ein guter Ort, weil er in gewisser
Weise die Tradition von Einheit und Freiheit neu bestimmt. Natürlich braucht es Zeit, bis wir ein Konzept haben, wie der Schloßplatz insgesamt gestaltet werden wird.
Was wird mit dem Schloss? Ich selber bin sehr dafür, dass
es wieder aufgebaut wird, zumindest was die äußere Form,
den stadtarchitektonischen Rahmen anbelangt. Ich denke
dabei auch an die Bauakademie oder eben die Gewölbe,
über die hier noch zu reden sein wird. All dies braucht
natürlich ein Gesamtkonzept. Jedenfalls denke ich, dass
der Schloßplatz ein guter Ort wäre.
Wir werden im Prozess des Nachdenkens möglicherweise dazu kommen müssen, zu sagen: Entweder wir warten noch eine Weile, bis alles zusammen gemacht werden
kann, oder wir müssen einen anderen Ort suchen. Ich muss
gestehen, ich halte auch das nicht für ausgeschlossen.
Auch andere Orte bieten sich durchaus an. Ich will kurz
nennen, was mir so einfällt. Hinter uns, im Osten des
Reichstages, verlief zwischen Reichstag und dem alten
Reichstagspräsidentengebäude die Mauer. Warum nicht
an diesem Ort, an einer entsprechend guten Stelle ein solches Denkmal aufstellen? Auch das halte ich für möglich.
Ein anderer möglicher Ort wäre auf der anderen Seite des
Schlosses - heute noch des Palastes der Republik, der nun
etwas fahl und verlassen dasteht -, in dem Park, in dem
heute noch Marx und Engels stehen.
({3})
Es ist die Frage, ob nicht auch das ein Ort im Zentrum Berlins ist, der durch ein solches Denkmal neu gestaltet werden kann und dann auch eine neue Bestimmung erhält.
Ich glaube, dass diese verschiedenen Vorschläge bedacht und debattiert werden müssen. Ich hoffe sehr, dass
uns dies in der Weise gelingt, dass dieses Projekt nicht einfach nur auf die lange Bank geschoben wird, sondern dass
wir konzentriert und sachlich miteinander darüber diskutieren und dann - hoffentlich noch in diesem Jahr - zu einer Klärung kommen, wie und in welchen Schritten wir
diese Vorschläge umsetzen können.
Ich danke Ihnen.
({4})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht die Kollegin Cornelia Pieper.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn mir vor zehn Jahren jemand
erzählt hätte, dass ich hier im Deutschen Bundestag vor
fast leeren Reihen gemeinsam mit meinen Kollegen aus
den Fraktionen der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die
Grünen und der SPD einen Antrag zur Errichtung eines
Einheits- und Freiheitsdenkmals einbringe, hätte ich das
nicht geglaubt. Deswegen bedauere ich es ein bisschen,
dass wir es nicht geschafft haben, dieses Thema zum Jubiläum zehnten Jahrestages des Falls der Mauer oder
der freien Volkskammerwahlen einzubringen. Denn ich
glaube, dass die historische Bedeutung dieser Ereignisse
vollkommen unbestritten ist.
({0})
Wir brauchen uns dafür auch nicht zu schämen. Ganz
im Gegenteil: Dies ist für uns ein freudiges Ereignis. Ich
erinnere an die Worte von Professor Richard Schröder anlässlich des Jubiläums „Zehn Jahre freie Volkskammerwahlen“. Da hat er hier im Deutschen Bundestag gesagt,
uns als Deutsche fehle manchmal - auch im Zusammenhang mit der deutschen Einheit - die Fähigkeit zur Freude.
Was ist das denn für ein Ereignis, das gerade wir als
Ostdeutsche erlebt haben? Wir sprechen über ein Ereignis,
was seinesgleichen nicht nur in der deutschen, sondern
auch in der europäischen Geschichte und weltweit sucht.
({1})
Nicht nur in Europa, sondern auch weltweit ist es mit Anerkennung aufgenommen worden, was die Ostdeutschen
damals im Rahmen der friedlichen Revolution geleistet
haben. Denn noch nie ist es durch eine Revolution auf
friedlichem Wege, sozusagen durch den Druck auf der
Straße, gelungen, eine Diktatur zu stürzen und den Weg in
einen freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat zu ebnen.
Die Franzosen haben Ende des vergangenen Jahres, also kurz vor der Jahrhundertwende, in einer Umfrage erklärt, dass für sie nach dem Flug des Menschen zum Mond
das herausragendste Jahrhundertereignis der Fall der
Mauer und die friedliche Revolution bzw. die deutsche
Einheit gewesen ist.
({2})
Ich finde es bemerkenswert, wie unsere europäischen
Nachbarn dieses Ereignis sehen. Wir haben allen Grund,
uns darüber zu freuen und anzuerkennen, was die Völker
Mittel- und Osteuropas vor zehn Jahren mit ihren
Freiheitsbewegungen - sei es die Solidarnosc, sei es Glasnost - geleistet haben. Sie haben uns als Ostdeutsche damit die Kraft gegeben, diese friedliche Revolution auf den
Weg zu bringen.
Die Ereignisse vom Herbst 1989 und die deutsche
Einheit sind ein Glücksfall für uns Deutsche und für unsere Geschichte - zum einen natürlich deswegen, weil mit
der Einheit Deutschlands ein Jahrhundert der Kriege und
der totalitären Systeme beendet wurde, zum anderen deswegen, weil die Worte „deutsches Volk“ und „deutsche
Nation“ nicht mehr mit Schande, sondern von uns Deutschen wieder mit einem gewissen patriotischen Stolz verwendet werden können.
Hinzu kommt, dass damit die Worte der Präambel in der
Verfassung der alten Bundesrepublik Wirklichkeit geworden sind. So mancher hat damals nicht mehr daran geglaubt; auch daran will ich erinnern. Liberale haben immer
für das Bekenntnis zur deutschen Einheit gestanden. In
diesem Zusammenhang haben in der Vergangenheit unter
anderem liberale Außenminister mit ihrer Entspannungspolitik Pflöcke eingeschlagen.
Deswegen meinen wir zu Recht: Wenn es denn ein Verfassungsauftrag der Bundesrepublik Deutschland war,
dass die deutsche Einheit wieder hergestellt wird, hat die
Bundesregierung die Verpflichtung, über ein Symbol, wie
es ein Denkmal ist, deutlich zu machen, dass dieses Ziel
erreicht wurde und dass uns das noch immer wichtig und
eine Herzenssache ist.
Dies ist ein Denkmal, das nicht nur den Weg der Deutschen in die Freiheit und Einheit dokumentiert. Es ist ein
Denkmal der lebendigen Demokratie. Es ist ein Denkmal
für die Zivilcourage von Menschen in diesem Land. Es
enthält die Botschaft, dass nur durch eine starke Demokratie, durch die Beteiligung der Bürger, die Grundlagen
für einen liberalen Rechtsstaat gesichert werden können.
({3})
Es ist mir wichtig, das hier herauszustellen, weil dieses
Thema meines Erachtens noch immer eine hohe Aktualität
genießt.
Die Debatten über Denkmäler waren immer emotionalisiert - das haben wir erst vor kurzem im Deutschen Bundestag erlebt -, aber fanden stets in der Öffentlichkeit statt.
Genau das kann die Debatte über dieses Denkmal im zehnten Jahr der deutschen Einheit leisten. Sie soll nämlich
nicht nur hier im Parlament, sondern auch im Volk geführt
werden. Auch darüber, wie wir mit der Vollendung der inneren Einheit vorangekommen sind, ist eine Debatte des
gesamten Volkes wichtig. Die Bereitschaft zur Freude über
das Ereignis selbst sollte uns über die Grenzen hinaus gelingen. Das ist aus meiner Sicht auch das Ziel dieses Antrages.
In diesem Sinne wünsche ich mir eine lebendige Debatte über ein Denkmal, welches der Freiheitsmetropole
Berlin mit der Identität stiftenden Erinnerung an die Jahre
1989 und 1990 gut zu Gesicht steht. Ich bedanke mich noch
einmal bei den Mitinitiatoren, insbesondere bei Günter
Nooke und Markus Meckel, die für diesen Antrag schon
in der letzten Legislaturperiode gekämpft haben.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Werner
Schulz spricht nunmehr für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegin Pieper, möglicherweise fehlt uns die patriotische Emphase für dieses Ereignis. Es ist aber vielleicht auch ganz
gut, dass wir darüber so nüchtern und sachlich diskutieren,
als ginge es um einen technischen Vorgang. Früher sind in
diesem Haus wesentlich markigere Sprüche geklopft worden, wenn es darum ging, ein Nationaldenkmal zu errichten.
Ich glaube auch nicht, dass uns die Fähigkeit zur Freude fehlt; das wird uns immer leicht unterstellt. Möglicherweise fehlt uns die Fähigkeit, diese Freude dauerhaft aufrechtzuerhalten, sie dauerhaft im Bewusstsein zu halten.
Denn die Freude über die Vereinigung, die Freude über
den Mauerdurchbruch hat es doch gegeben; wir haben es
erlebt, und zwar überall. Es gab Freudenfeste. Die Leute
haben getanzt, auf der Mauer und vor dem Brandenburger
Tor. Viele fragen sich: Warum ist das weg? Warum ist das
heute nicht mehr im Bewusstsein? Warum reden wir über
das Kleinkarierte, über das Klein-Klein der deutschen Einheit? Warum können wir uns an diesem großen, an diesem
epochalen Ereignis nicht mehr erfreuen? Ich glaube, auch
das kann ein Denkmal in gewisser Weise wieder ins Bewusstsein rücken, wach halten.
Ich habe diesen Antrag mit initiiert, weil ich glaube,
dass es wichtig ist, dass wir den gesamten, komplizierten
und wechselvollen Werdegang unserer Nationalgeschichte bei der Um- bzw. Neugestaltung von Berlin zum
Ausdruck bringen, dass wir uns Mühe geben, nicht nur die
schrecklichen, sondern auch die glücklichen Kapitel unserer Nationalgeschichte festzuhalten.
({0})
Das verlangt hohe Sensibilität.
({1})
- Wenn Sie mich freudig wünschen, dann tue ich das - keine Frage. Aber Sie merken, dass ich versuche, die Sätze
nicht abzulesen, sondern aus meinem Kopf zu holen. Und
das ist meist mit Stirnrunzeln verbunden.
({2})
Dafür gibt es sogar eine Verlängerung der Redezeit.
({0})
Das ist ja richtig lieb.
Es geht um eine sensible Darstellung der schrecklichen
Kapitel. Wir haben in letzter Zeit viel darüber diskutiert;
ich erinnere beispielsweise an das Holocaust-Denkmal.
Eines der sensibelsten Denkmäler in Berlin ist übrigens
das Denkmal zur Bücherverbrennung auf dem Bebelplatz. Durch das Glasfenster im Boden sieht man auf die
verschwundene Bibliothek.
({0})
Ich wünsche mir, dass uns dies hier genauso gelingt,
dass wir die Epoche machenden Gedanken von Freiheit
und Einheit zum Ausdruck bringen. Ich betone das, was
Markus Meckel gesagt hat, weil es mir sehr nahe und sympathisch ist: Wir müssen bei diesem Denkmal auf die
Rangfolge der Begriffsbestimmung achten. Für mich
kommt zuerst die Freiheit und dann die Einheit; denn wir
haben zuerst die Freiheit errungen und dann die Einheit erreicht.
({1})
Diese Reihenfolge sollten wir einhalten; daran müssen wir
erinnern. Im Sinne eines Imperativs, wenn auch nicht eines kategorischen, sollten wir uns in Erinnerung rufen,
dass wir die Freiheit verloren haben, warum dies geschehen ist und wie mühsam es war, sie wieder zu erringen. Ich
glaube, es lohnt sich, dieses „Denk mal darüber nach“, wie
das geschehen ist, wach zu halten. Dies ist der Sinn eines
Denkmals.
Ich tue mich mit Denkmälern wirklich schwer. Lange
habe ich überlegt, ob ich diesen Antrag unterzeichnen soll.
Denn wir Ostdeutschen sind in dieser Hinsicht etwas geschädigt. Wir sind mit Denkmälern überreichlich bedacht
worden. Es gab eine Epoche, in der wir mit Denkmälern
vollgeschüttet wurden. In Ostdeutschland stehen noch die
in Bronze gegossenen und in Stein gemeißelten Irrtümer
einer ganzen Epoche. In Deutschland gibt es außerdem
reichlich Denkmäler, die ihre Bedeutung und ihren Sinn
verloren haben oder die vom Stolz vergangener Epochen
künden und heute nicht mehr nachvollziehbar sind.
Aber es gibt kaum ein Denkmal, das diese beiden
Triebkräfte bzw. Motivationen, die Freiheit und die Einheit, symbolisiert. Wenn wir diesen Wettbewerb ausschreiben, stellt dies für die Künstler eine wirklich schwierige Herausforderung dar. Ich bin mir nicht sicher, ob wir
Entwürfe bekommen werden, die diese Aspekte abdecken.
Ich halte aber nichts davon, in der Diskussion zu sagen:
Dafür ist es zu früh. Das kann man nicht machen. Die Helden setzen sich hier einen eigenen Sockel.
Es gibt keine Helden der Freiheit und der Einheit, und
falls doch, dann gäbe es von 1848 bis 1990 sehr viele. Es
handelt sich um einen sehr langen Kampf, den diese Nation geführt hat, um ihre Freiheit und Einheit zu erreichen.
In unserer Nationalhymne taucht im Übrigen das Wort
„Einigkeit“ auf. Diese Einigkeit haben wir noch nicht erreicht. Vielleicht fehlt in diesem Zusammenhang noch etwas an dem Denkmal.
({2})
- Recht haben wir. Ganz recht.
Die Einigkeit, die innere Einheit stehen noch aus. Aber
ich glaube, es lohnt sich, diese beiden Gedanken umzusetzen. Das ist eine große Herausforderung für den Künstler. Es ist auch eine neue Art in der Denkmalkultur, dass
wir keine Personen mehr auf Sockel stellen. Die Zeit der
tonnenschweren Bronzeskulpturen ist möglicherweise
vorbei.
Dies ist eine europäische Herausforderung und hat eine europäische Dimension. Es könnte ein Symbol der Berliner Republik und des gewachsenen staatsbürgerlichen
Selbstverständnisses sein. Das würde ich mir sehr wünschen.
Ich hoffe, dass wir eine belebtere Diskussion führen
und ein volleres Haus bekommen, wenn es um die Entscheidungen geht. Vielleicht lässt sich die gegenwärtige
Situation auch so deuten, dass die Diskussion um dieses
Denkmal nicht mit einer solchen Spannung geführt wird
wie die, die wir im Zusammenhang mit dem Kunstwerk,
das wir im Innenhof des Reichstages aufstellen wollen, geführt haben.
({3})
Möglicherweise ist der Konsens heute viel größer, sodass
sich einige Kollegen die Entscheidung leicht gemacht haben, an dieser Diskussion nicht teilzunehmen.
({4})
Für die Fraktion der
PDS spricht die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Um jeglichen Irrtum auszuschließen,
möchte ich zu Beginn und sehr grundsätzlich betonen: Die
Demokratiebewegung von 1989 und 1990 in der DDR
war und bleibt ein herausragender Bestand deutscher, ja
europäischer Geschichte. Denn sie war eine osteuropaweite Volksbewegung. Vielleicht stimmen Sie mir zu,
wenn ich sage: Der Geist dieser demokratischen Volksbewegung ist am besten und am konsequentesten im täglichen demokratischen Engagement der Bürgerinnen und
Bürger in der so entstandenen neuen Bundesrepublik
aufgehoben.
({0})
Denn die Courage und das verändern wollende Engagement im letzten Jahr der DDR gehören zur bewahrensund übertragsenswerten Mitgift der neuen Bundesländer
und ihrer Bürgerinnen und Bürger. Die Errichtung eines
Nationaldenkmals der friedlichen Revolution, wie sie beantragt ist, käme nicht nur, wie der Kollege Weißgerber in
die Debatte einbrachte, zur falschen Zeit, sondern widerspräche auch dem, was das Denkmal zu bedenken vorgibt.
Der Aufbruch, der im Herbst 1989 stattfand, war weder
ein zentrales noch ein nationales Ereignis. Er hatte obendrein relativ wenig mit dem vorgeschlagenen Denkmalort
zu tun. Wenn es denn besondere Orte gibt, deren Bedeutung hervorhebenswert wäre, dann wären dies doch
wohl eher der Alexanderplatz oder der Leipziger Ring.
Warum sollte man nicht dort und mit dem authentischen
„Wir sind das Volk“ an diese Zeit und an das, was hiermit
in die neue Bundesrepublik eingebracht wurde, erinnern?
({1})
Ich teile aber auch die Meinung und achte die Bescheidenheit von Jens Reich, der vor Monaten im Kontext einer Debatte hier im Bundestag für sich beanspruchte, nicht
er habe am meisten bewegt und bewirkt, denn seine Bekanntheit und Prominenz habe ihm manches erleichtert.
Seine Achtung, so Jens Reich, gelte vor allem den vielen
Frauen und Männern zwischen Sonneberg und Rügen, die
ihre Belange mutig in die eigenen Hände genommen haben. Wenn Sie dann die grundlegenden Papiere, die Aufrufe aus jener Zeit nachlesen, vom Neuen Forum oder von
Demokratie Jetzt, sei es auch von der SDP
({2})
- sie hieß doch so - oder auch von oppositionellen Plattformen der auseinander brechenden SED, wer sich das alles in Erinnerung ruft, wird sich schwerlich vorstellen können, wie deren Anliegen und wie die Akteure selbst mit
einem Nationaldenkmal auf dem Schloßplatz in Übereinstimmung zu bringen sind.
({3})
- Kollege Nooke, natürlich. Ich weiß, dass einige zur Einheit Deutschlands aufgebrochen sind. Trotz alledem hat
sich der Ruf „Wir sind das Volk“ erst im Verlaufe dieser
Bewegung zum Ruf „Wir sind ein Volk“ gewandelt.
({4})
Nun noch ein letzter Gedanke. Ich meine den Platz, auf
den sich beide Anträge beziehen. Wir werden noch viel
Gelegenheit haben, zum Thema zu debattieren. Ich teile
den Ansatz von Rita Süssmuth - der heute nachzulesen
war - dass der Platz, wo einst Kaiser Wilhelm I. hoch zu
Ross thronte, eine neue Bestimmung braucht, und zwar
nicht nur der leer stehenden Sockel, sondern die gesamte
Spreeinsel.
Wir haben vor Wochen einen Vorschlag für die Bestimmung und Belebung des Schlossplatzes eingebracht.
Wir denken, ein Bürgerforum gehört dorthin. Der vorliegende Antrag der PDS ist ein Mosaiksteinchen zur Schaffung dieses Bürgerforums.
Danke schön.
({5})
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Eckhardt Barthel.
Meine Damen und
Herren. Ich habe jetzt die Schwierigkeit, von den Höhen
einer Denkmalsdiskussion in die Tiefen eines verschütteten Gewölbes zurückzuführen, weil das der Antrag verlangt. Das ist nicht einfach, aber gestatten Sie mir zu der
anderen Sache einen Satz.
Ich habe diesen Gruppenantrag mit unterschrieben. Alle, die bisher gesprochen haben, waren direkt Betroffene.
Ich war es nicht. Ich war auf der anderen Seite der Mauer.
Ich bin für dieses Denkmal, weil ich meine: Im Stadtbild
muss dieses Ereignis zu sehen und sinnlich zu erfahren
sein. Deswegen halte ich es für nötig. Wo das ist und wie
es gemacht wird, darüber müssen wir noch eine Diskussion führen. Es gibt einiges, bei dem ich durchaus andere
Positionen habe. Aber ich glaube, das wird sich aus der
Diskussion ergeben.
Nun zu dem Gewölbe. Meine Damen und Herren Antragsteller, es geht eben nicht um diesen Kontext, den Sie,
Frau Pau, in Ihrem Antrag genannt haben. Sie beziehen das
auf das gesamte Schloßareal und die Spreeinsel. Sie beantragen, dass kurzfristig ein Gewölbe eröffnet werden
soll, von dem - das möchte ich wetten - höchstens zwei
oder drei Leute im Saal wissen, wo das ist und wie das aussieht.
({0})
- Jetzt sind wir drei. Das finde ich in Ordnung. Das ist
schön.
Ich finde es den anderen gegenüber unfair, dass sie über
etwas entscheiden sollen, was sie gar nicht kennen.
({1})
- Herrschaftswissen.
Auch ich war dort früher nicht drin. Aber ich kann nur
jedem empfehlen, dort einmal hinzugehen. Es ist beeindruckend, wenn man sich einmal dort hinunterquält.
Dieses Gewölbe könnte durchaus einmal so etwas wie
in Leipzig die Sachsenbastei werden, wenn man das Geld
hat. Aber Ihre Idee, wie Sie sie in Ihrem Antrag formulieren, losgelöst von der Konzeption des Schloßplatzes und
allem drumherum, diesen Gedanken, es kurzfristig eröffnen zu wollen, halte ich für eine schlichte Illusion. Das ist
nicht machbar.
({2})
Es klingt bei Ihnen so, als bräuchte man dort nur ein paar
Tapeten zu kleben und den Fußboden zu kehren, vielleicht
einen Lichtschalter anzubringen. Wenn man es sieht, erkennt man, dass man erst einen Meter Erde herausbringen
muss, damit man gerade so durch einige Gänge gehen
kann. Das ist eine gewaltige Arbeit.
Der Eindruck ist: Dies muss in der Gesamtkonstellation des Schloßplatzes genutzt werden. Dafür trete ich mit
Leidenschaft ein. Aber es soll jetzt kein singuläres Objekt
werden, von allem losgelöst. Sie haben auch kein Nutzungs- und Finanzierungskonzept. Ich weiß nicht, wie Sie
das machen wollen.
Herr Kollege Barthel,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Ja gern, natürlich.
Herr Kollege Barthel, können
Sie sich nicht vorstellen, dass die Berlinerinnen und Berliner sowie natürlich auch andere Leute genau an diesem
Ort, dann, wenn sie ihn nutzen können, eine ganz eigene
Kreativität an den Tag legen werden, ganz eigene Ideen
entfalten werden, wie sie diesen Ort nutzen können, und
zwar genau im Sinne dessen, was hier die ganze Zeit beschworen wird, nämlich im Sinne der Kreativität des
Volkes der damaligen DDR bei ihrer Befreiung? Sie würden diesen Ort ganz frei in Besitz nehmen und nutzen und
dann in die zukünftige Nutzung des Platzes einbeziehen.
Können Sie sich das nicht vorstellen?
Das ist sehr allgemein. Es gibt viele Orte, an denen solche Gefühle entwickelt werden können.
({0})
Das würde ich nicht auf diesen Ort beziehen, vor allen
Dingen nicht, wenn ich nicht weiß, was damit geschehen
soll.
Ich betone noch einmal: Ich halte es für wichtig, dass
man diesen Ort nutzt, aber im Rahmen einer Gesamtplanung für die Spreeinsel. Dann kann das eine tolle Sache
werden. Aber um das beurteilen zu können, muss ich das
Finanzierungs- und das Nutzungskonzept kennen.
Ihr Antrag ist sicher wichtig, aber eigentlich gehört er
in die Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte.
({1})
Vielleicht hätte man erst einmal dort darüber reden sollen. Der Gedanke ist gut und ich glaube, er sollte auch von
der Schlosskommission diskutiert werden. Das werden
wir auch tun. Aber für sich halte ich ihn für falsch und unangebracht. Wir werden ihn deshalb in den Ausschüssen
ablehnen.
Danke.
({2})
Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Petra Pau das Wort.
Herr Kollege Barthel, Sie stimmen
sicherlich mit mir darin überein - das habe ich Ihrer Rede
entnommen -, dass dieser wichtige, vielleicht sogar wichtigste noch zu gestaltende Platz in der Hauptstadt möglichst schnell eine Perspektive bekommen muss, die es den
Bürgerinnen und Bürgern der Stadt sowie ihren
Gästen ermöglicht, endlich auch hier in der Stadtgestaltung nicht nur die Mitte zu sehen, sondern auch die Verbindung beider Stadthälften herzustellen. Dieser unsägliche Zustand muss ein Ende haben, dass auf der Brücke immer noch die einen stehen bleiben, sich gruseln und den
Blick nach Osten nach dem Motto „Der Palast ist aber
hässlich, weiter gehen wir nicht“ richten, und die anderen
dort oftmals stehen bleiben - was ich auch kritisiere - und
sagen: Lasst uns unseren Palast bewahren. Ich denke, die
Gestaltung dieses Platzes muss dem Anspruch der Verbindung, des Zusammenkommens von Ost und West, natürlich manchmal auch der Konfrontation im besten Sinne,
nämlich der mit neuen Ideen, genügen.
In diesem Zusammenhang mache ich Sie darauf aufmerksam: Eigentümer dieses Platzes und auch der hier besprochenen Gewölbe ist nun einmal nicht die Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte, auch nicht das Land
Berlin, sondern der Bund. Deshalb ist dieser Antrag hier
am richtigen Ort.
Ich gebe zu: Wenn all unseren Anträgen zur Zukunft
des Palastes der Republik bzw. des Rohbaues, der
nach der Asbestsanierung übrig bleibt, und unseren
Anträgen zur Gestaltung dieses Platzes etwas mehr
Aufmerksamkeit gewidmet würde, wenn daraus nun endlich wirklich eine gesellschaftliche Debatte würde, hätten
wir es nicht nötig gehabt, diesen Antrag zu den Gewölben
hier extra einzubringen. Sehen Sie ihn also als Anstoß zur
Debatte.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 14/3126 und 14/3120 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Das
Haus ist damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Fortentwicklung der Altersteilzeit
- Drucksache 14/3158 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Die Kolleginnen und Kollegen Renate Rennebach,
Dr. Susanne Tiemann, Dr. Thea Dückert, Dr. Heinrich Kolb,
Dr. Heidi Knake-Werner, Wolfgang Meckelburg und der
Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres geben ihre
Reden zu Protokoll. Ich bedanke mich.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/3158 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Andere Vorschläge
liegen nicht vor. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 10 sowie
Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1})
zu dem Antrag der Fraktion SPD, CDU/CSU,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.
50 Jahre Europarat: 50 Jahre europäischer
Menschenrechtsschutz
- Drucksache 14/1568, 14/2209 ({2}) Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Behrendt
Klaus Bühler ({3})
Christian Sterzing
Ulrich Irmer
Wolfgang Gehrcke-Reymann
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten
Hübner, Fred Gebhardt, Wolfgang GehrckeReymann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
derPDS
Gegen die Todesstrafe in den USA - Keine Hinrichtung von Mumia Abu-Jamal
- Drucksache 14/3196 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem Kollegen Wolfgang Behrendt für die Fraktion der SPD das
Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute erneut über
den Europarat diskutieren, dann tun wir das vor einem aktuellen Hintergrund. Der Europarat hat in der letzten
Woche in seiner Vollversammlung in Straßburg die bedeutsame Entscheidung getroffen, indem er erstmals
Sanktionen gegen ein Mitgliedsland ergriffen hat. Der
russischen Delegation wurde ihr Stimmrecht entzogen.
Gleichzeitig wurde das Ministerkomitee aufgefordert, den
Ausschluss Russlands vorzusehen, falls die Forderungen
des Europarates im Hinblick auf Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien nicht erfüllt würden.
Lassen Sie mich kurz auf die letzten zehn Jahre zurückkommen, um diesen Hintergrund auszuleuchten. Der Europarat hat nach dem Ende des Kalten Krieges eine sehr
lebhafte und intensive Debatte darüber geführt, ob es richtig sei, Staaten des ehemaligen Ostblocks aufzunehmen,
auch wenn sie nicht die hohen Kriterien des Europarates
erfüllen, oder ob man erst abwarten solle, bis sie so weit
sind. Wir haben uns dann nach heftigen Diskussionen
dafür entschlossen, zu sagen: Auch wenn noch nicht alle
Kriterien erfüllt sind, wollen wir eine Aufnahme mit ganz
konkreten Verpflichtungen vornehmen. Wir werden die
Erfüllung dieser Verpflichtungen sehr sorgfältig beobachten. Das war auch im Januar 1996 so, als Russland nach
heftigen Debatten aufgenommen wurde.
Nun haben wir erleben müssen, dass sich Russland als
Mitgliedsland des Europarates in Tschetschenien gravierender Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht
hat. Der Europarat hat deshalb in der letzten Woche nach
zehnstündiger Debatte beschlossen, wegen dieses Vorgehens Sanktionen zu verhängen. Wir haben bewusst davon
abgesehen, die russische Delegation völlig aus der Parlamentarischen Versammlung auszuschließen. Wir haben
uns auf eine Aussetzung des Stimmrechtes konzentriert, in
dem Wunsche, weiterhin im Dialog zu bleiben, um auf die
Entwicklung in Russland Einfluss zu nehmen. Die russischen Kollegen haben das allerdings zum Anlass
genommen, auszuziehen und sich zunächst einmal zurückzuziehen. Die Duma hat an der Entscheidung des Europarates Kritik geübt, hat aber gleichzeitig eine Beschlussempfehlung korrigiert, in der ein Rückzug aus dem Europarat ausdrücklich vorgesehen war, sodass weiterhin die
Hoffnung besteht, dass wir in enger Verbindung mit unseren russischen Kollegen mithelfen können, die Entwicklung gerade im Nordkaukasus positiv zu beeinflussen.
Ich glaube, die Entscheidung des Europarates war
außerordentlich wichtig, ist er doch eine Organisation, in
deren Statuten der Menschenrechtsschutz ausdrücklich
verankert ist und die den Menschenrechtsschutz und die
Menschenrechte über alle anderen Interessen stellt. Insoweit war es das internationale Gremium, das ein Signal
setzen musste.
Wir haben für diesen Beschluss inzwischen Unterstützung aus den Reihen der Europäischen Union bekommen.
Das Ministerkomitee wird, wenn nicht sehr eindeutige positive Signale aus Moskau kommen, ein Verfahren zum
Ausschluss durchführen. Darüber hinaus haben wir
gleichzeitig die Mitgliedstaaten des Europarats aufgefordert, eine Staatenklage vor dem Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte gegen Russland zu erheben.
Lassen Sie mich auf einen anderen Punkt eingehen, der
in der letzten Woche eine Rolle gespielt hat. Wir haben
über die Ukraine diskutiert. In diesem Zusammenhang
will ich noch einmal darauf hinweisen, dass der Beitritt
zum Europarat eine eindeutige Abkehr von der Todesstrafe bedeutet. Mit dem Protokoll 6 zur Europäischen Menschenrechtskonvention, die alle neuen Mitgliedstaaten
unterzeichnen müssen, ist die Verpflichtung
verbunden, die Todesstrafe abzuschaffen. Wir haben
einen bedeutsamen Erfolg erringen können. Die Ukraine wird zum 1. Mai 2000 das Protokoll 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Abschaffung der
Todesstrafe beschließen.
Ein weiterer Punkt, der zur Hoffnung Anlass gibt, ist die
Tatsache, dass wir das Überwachungsverfahren für die
ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien beenden
konnten. Sie wissen, dass im Zusammenhang mit der Aufnahme solche Überwachungsverfahren durchgeführt wurden, die einmal dazu dienen sollten, diesen Staaten auf
dem Wege zur Rechtsstaatlichkeit und zur Demokratie besondere Unterstützung zuteil kommen zu lassen, zum anderen aber auch dem Ziel dienen sollten, zu überprüfen, ob
die eingegangenen Verpflichtungen eingehalten werden.
Wir konnten mit Genugtuung feststellen, dass die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien dies getan hat.
Insofern konnte der Überwachungsprozess eingestellt werden. Man muss besonders hervorheben, dass
dieses Land den schwierigen Prozess hin zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie unter außerordentlich problematischen äußeren Umständen hat vollziehen müssen.
Während der Kosovo-Krise hat es eine Vielzahl von
Flüchtlingen gegeben, die die Einwohnerzahl Mazedoniens überschritten hat. Ich nenne die positive Entwicklung
Mazedoniens beispielhaft; es wären auch andere Beispiele hervorzuheben.
Vizepräsident Rudolf Seiters
Als Letztes möchte ich noch das ansprechen, was jetzt
in der Europäischen Union im Zusammenhang mit der
Grundrechtscharta diskutiert wird. Hier scheint sich ein
gewisser Interessenskonflikt zwischen der Menschenrechtskonvention und der Grundrechtscharta anzubahnen.
Dazu möchte ich nur darauf hinweisen, dass wir immer
den Standpunkt vertreten haben, dass die EG der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten sollte. Diesen
Standpunkt halten wir aufrecht, weil wir glauben, dass
auch eine Grundrechtscharta einen solchen Schritt nicht
überflüssig macht. Es geht vor allem darum, Bürger der
EU etwa vor Menschenrechtsverletzungen von Organen
der EU zu bewahren. Wir meinen, dass die Europäische
Menschenrechtskonvention und der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg geeignete Mittel dafür wären. Dies
ist weiterhin unsere Forderung.
Darüber hinaus glauben wir, dass die Grundrechtscharta auf den wesentlichen Elementen der Europäischen
Menschenrechtskonvention, aber auch etwa der erweiterten Sozialcharta des Europarates aufbauen sollte. Ich wünsche mir in diesem Zusammenhang, dass die Bundesregierung diese erweiterte Sozialcharta möglichst bald unterzeichnet und wir zu einer Ratifizierung kommen. Im
Übrigen schreibt auch der Vertrag von Amsterdam ausdrücklich vor, dass die Europäische Menschenrechtskonvention die Grundlage für die Achtung der Grundrechte in
der Europäischen Union abgeben soll.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Europarat hat sich
seit seiner Gründung vor allem den Menschenrechten verschrieben, aber auch vielen anderen Bereichen, etwa dem
Minderheitenschutz und allen Formen von Diskriminierung, seine Aufmerksamkeit gewidmet. Die Europäische
Menschenrechtskonvention ist das erste Rechtsinstrument
in diesem Bereich, das auf eine parlamentarische Initiative hin zustande gekommen ist. Sie ist, wenn man so will,
ein Meilenstein in der europäischen Rechtsgeschichte.
Man muss einfach noch einmal hervorheben, dass mit ihr
rund 770 Millionen Bürgerinnen und Bürger in Europa die
Möglichkeit haben, gegen individuelle Menschenrechtsverletzungen vor dem Gerichtshof in Straßburg zu klagen.
Das ist ein bedeutender zivilisatorischer Fortschritt.
Damit hat der Europarat insbesondere für die Länder
Mittel- und Osteuropas eine überragende Bedeutung erlangt. Er wird diese Bedeutung auch weiterhin haben, insbesondere für die Staaten, die in Zukunft nicht der Europäischen Union angehören werden. Ich wünschte mir,
dass der Europarat in Deutschland und auch in diesem
Hause ein wenig mehr Beachtung finden würde.
Vielen Dank.
({0})
Der Kollege Klaus
Bühler spricht für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich kann diese
Rede genauso wie die am 30. September des letzten Jahres
beginnen, als ich eingangs sagte: Diese Debatte unterscheidet sich wohltuend von vielen anderen Debatten, weil
es hier parteien- und fraktionsübergreifend einen großen
Konsens in der Sache gibt. - Das können wir auch heute
feststellen und das erfüllt uns mit Genugtuung.
Ich begrüße ferner, dass wir zum zweiten Mal in relativ kurzer Zeit eine Debatte über den Europarat haben. In
der parlamentarischen Geschichte der letzten 50 Jahre gab
es zwei solcher Debatten, nämlich im Jahre 1999 und jetzt
im Jahre 2000. Ich hoffe und wünsche, dass wir damit einen Neubeginn haben: dass die Befassung mit dem Europarat - das hat auch der Kollege Behrendt angesprochen hier zu einer Tradition wird und dass gleichzeitig - hier
wende ich mich an den Staatsminister - das Instrument Europarat ein bisschen mehr als politisches Instrumentarium
von der Bundesregierung genutzt wird, so wie es andere
Länder in Europa seit langem und auch erfolgreich tun.
({0})
Die Geschichte des Europarats wurde schon von meinem Vorredner angedeutet. Ich muss das nicht wiederholen. Aber ich möchte zwei oder drei Schwerpunkte in die
Debatte einbringen: Die Gründung des Europarates 1949
war auch der Beginn einer Politik in West- und Mitteleuropa, die - das wird viel zu wenig zur Kenntnis genommen
- im positiven Sinne mit dafür verantwortlich ist, dass wir
in West- und Mitteleuropa die längste Friedenszeit gehabt
haben und noch immer haben, die es je auf diesem Kontinent gegeben hat. Das muss man erwähnen. Es hat mit der
deutsch-französischen Versöhnung begonnen. Das wurde
dann ausgeweitet.
({1})
Die Eintrittskarte für die Mitgliedschaft im Europarat
ist die Unterzeichnung der europäischen Menschenrechtskonvention, die nach wie vor das Kernstück dieses
Gremiums ist und deren Bestimmungen - darauf wurde
bereits hingewiesen - für viele Millionen Einwohner in
Europa einklagbar sind, und zwar im Gegensatz zur Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, deren Bestimmungen nicht einklagbar sind. Das bedeutet einen
Wert an sich, der vielen Bürgerinnen und Bürgern bei uns
und vielen Mitgliedern dieses Hauses - das möchte ich in
aller Deutlichkeit sagen - noch gar nicht so bewusst ist,
wie das normalerweise der Fall sein sollte.
Des Weiteren ist ein Monitoringverfahren eingeführt
worden, in dessen Rahmen alle 41 Mitgliedstaaten des Europarats regelmäßig überprüft werden, ob sie die von ihnen eingegangenen Verpflichtungen auch einhalten. Um
ein kleines Missverständnis gleich auszuräumen: Das Monitoringverfahren ist nicht wegen der neuen Mitgliedstaaten aus Ost- und Mittelosteuropa eingeführt worden; vielmehr gilt dieses Verfahren für alle 41 Mitgliedstaaten. Es
gilt genauso für die Bundesrepublik Deutschland, für
Frankreich, für England und für andere Staaten, die schon
lange dabei sind.
Der Kollege Behrendt hat das Thema „Tschetschenien
und Russland“ angesprochen. Lassen Sie mich dazu ein
sehr offenes Wort sagen: Bereits in der Januarsitzung des
Europarates ist über dieses Thema debattiert worden.
Schon damals wurden von meiner Fraktion Maßnahmen
gegen Russland gefordert.
({2})
Ich will Folgendes sagen: Der Europarat hat damals versagt; denn im Januar wurde kein Beschluss gefasst. Es
wurde mehr oder weniger in der Diskussion lediglich zum
Ausdruck gebracht: Wir geben den Russen bis zum Beginn
der nächsten Sitzung am 3. April noch einmal eine Chance. Das hatte zur Folge - das mag jetzt hart klingen -, dass
der jetzige russische Präsident Putin - damals war er geschäftsführender Präsident - seinen Wahlkampf ungestört
führen konnte. Welchen Wahlkampf er bis zum Wahltag
am 26. März geführt hat, muss ich diesem Hohen
Hause, glaube ich, nicht mehr in Erinnerung rufen. Es wäre also viel besser gewesen, lieber Herr Kollege
Behrendt, wenn wir bereits damals die harte Haltung gegenüber den Russen eingenommen hätten, die meine Fraktion gefordert hatte.
({3})
- Ich weiß es. Aber der Europarat als Ganzes konnte sich
zu einer solchen Haltung nicht durchringen.
Deswegen ist es jetzt höchste Zeit, um auch nur den Anschein zu vermeiden, wir würden Unterschiede zwischen
großen und kleinen Staaten machen. Ich möchte jetzt keine Namen von Mitgliedstaaten des Europarates nennen.
Aber wir, die Delegationsmitglieder des Europarates, können uns sehr gut vorstellen, dass man gegen gewisse Staaten sehr schnell Sanktionen verhängt hätte, während man
- das ist auch weltweit ein Problem - gegenüber Staaten
wie Russland oder China aus Gründen, die ich jetzt gar
nicht näher nennen möchte, sehr leicht einknickt, wenn es
um die Frage der Menschenrechte geht. Deswegen muss
es unser Ziel sein, alle Staaten, ob groß oder klein, ob Weltmacht oder nicht, an dem gleichen Maßstab zu messen und
für sie die gleichen Sanktionen vorzusehen.
({4})
Die Reaktion Russlands auf die Maßnahme des Europarates war zunächst so, wie sie der Kollege Behrendt beschrieben hat. Aber es gibt ein interessantes Zitat, mit dem
sich eine andere Sichtweise belegen lässt.
Eine russische Zeitung schreibt, dass sich der Europarat
unglaubwürdig gemacht hätte, wenn er diese Maßnahmen
gegenüber Russland jetzt nicht ergriffen hätte.
({5})
- Dieses Zitat stammt aus der Zeitung „Sewodnja“. Es lautet wörtlich:
Die Härte der europäischen Abgeordneten hat ihre
Ursache: Eine weitere Verschiebung des Beschlusses
zu Tschetschenien würde faktisch die Existenz des
Europarates sinnlos machen. Er würde sein Gesicht
verlieren, wenn er ein weiteres Mal zur Verletzung
der Menschenrechte schweigen würde.
Ich möchte einen anderen Punkt ansprechen. Wir haben
innerhalb des Europarates alle Fragen, die die Menschenrechte angehen, diskutiert. Durch die Einsetzung des Menschenrechtsgerichtshofes haben wir gerade in den letzten
Jahren eine Reihe von großen Fortschritten erzielt.
Ich möchte hier die Gelegenheit wahrnehmen, Ihre
Aufmerksamkeit auf ein anderes europäisches Interessengebiet zu lenken, das zwar weniger mit dem Europarat zu
tun hat, uns aber im Augenblick hautnah betrifft.
Die Mitglieder der Delegation, die den Deutschen Bundestag im Europarat vertritt, sind gleichzeitig Mitglieder
der Delegation unseres Hauses in der Westeuropäischen
Union. Die Westeuropäische Union hat die Absicht
geäußert, den von der EU gefassten Beschluss, nämlich eine eigene europäische Sicherheitspolitik entsprechend den
Petersberger Beschlüssen aufzubauen, zu begleiten. Wenn
man die Dramen der Jahre seit 1989/90 auf dem Balkan
betrachtet, dann muss man mit einer gewissen Scham zur
Kenntnis nehmen, dass die Europäer nicht in der Lage waren, ihr eigenes Haus in Ordnung zu halten.
Ich möchte es einmal etwas überspitzt formulieren - Sie
verstehen, wie ich das meine -: Der europäische Verteidigungsminister saß in all dieser Zeit nicht in Europa, sondern in Washington. Um in der Zukunft zu gewährleisten,
dass schon im Vorfeld durch neue Maßnahmen einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik solche Tragödien, wie wir sie auf dem Balkan erlebt haben, gar nicht
mehr möglich werden, sollten wir prophylaktisch an diese Angelegenheit herangehen. Herr Staatsminister, das
Parlament und die deutsche Regierung sollten der europäischen Politik, die wir auf den Gipfeln von Helsinki
und Köln beschlossen haben, ihr Augenmerk etwas mehr
als bisher zuwenden.
Es gibt Bestrebungen der Europäischen Union, eine eigene Menschenrechtscharta zu konzipieren und einen eigenen Menschenrechtsgerichtshof aufzubauen. Ich erinnere daran, dass alle 15 EU-Staaten gleichzeitig auch Mitglied im Europarat sind und dass das Kernstück des
Europarats - das wurde bereits erwähnt - der Menschenrechtsgerichtshof und gleichzeitig die Menschenrechtskonvention sind.
Herr Staatsminister, deswegen möchte ich das wiederholen, was ich auch am 30. September gesagt habe: Wir
fordern die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken,
dass die Europäische Union dieser Menschenrechtscharta
beitritt. Das ist ein alter Wunsch und ich bin der Auffassung - ich bin mir darin mit vielen Kolleginnen und Kollegen aus unserer Delegation einig -, dass uns eine Zweigleisigkeit der Menschenrechtspolitik und eine Zweigleisigkeit der Europäischen Gerichtshöfe für die Zukunft
nichts bringen.
Wir haben heute die zweite Debatte zu diesem Thema
geführt. Ich bin darüber wirklich sehr erfreut und möchte
auch die Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass wir es
vielleicht zu einer Tradition machen, einmal im Jahr über
die wichtigen Fragen des Europarates und anderer europäischer Gremien zu sprechen. Wir haben einen Anfang
gemacht und wenn damit eine gute Tradition begonnen
werden könnte, dann hätte diese Debatte einen noch viel
besseren Sinn, nämlich eine Perspektive für die Zukunft.
Vielen Dank.
Klaus Bühler ({6})
({7})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Dr. Helmut
Lippelt.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Vorhin kam die
Nachricht, dass Putin die OSZE-Delegation aufgefordert
habe, nach Tschetschenien zurückzukehren.
({0})
- Na ja, das sind schwierige Sicherheitsfragen, die dahinter stehen. Das ist nicht so einfach „Es ist erlaubt und dann
gehen wir einmal.“
Ich möchte eine Bemerkung zu der Vielfalt europäischer
Institutionen machen. Es ist ganz klar, dass der Europarat
eine vorzügliche Rolle spielen konnte, als die OSZE in
Moskau saß und als gewissermaßen innerhalb der OSZE
Polarisierungen einsetzten, weil Russland da ja ein größeres Lager haben kann.
Wenn wir vom Europarat sprechen, dann müssen wir
auch darüber sprechen, dass sich in unseren Köpfen drei
verschiedene Europabilder festgesetzt haben: einmal EUEuropa, das sich nun nach Osten erweitert, das aber gewisse Probleme mit sich bringt, weil die Frage, wo die
Grenzen Europas sind, auch Ausgrenzungen mit sich bringen kann, wenn sie nicht richtig behandelt wird.
Das Problem der Europacharta ist hier angesprochen.
Ich mache nur noch eine kurze Bemerkung dazu: In
Russland gibt es zurzeit mehrere Tausend Kriegsdienstverweigerer. Es gibt eine Verfassungsgarantie für Kriegsdienstverweigerung in der russischen Verfassung, es gibt
aber kein Ausführungsgesetz für Ersatzdienst. Das bedeutet, die ersten Verweigerer sitzen schon im Gefängnis und
weitere werden folgen.
Für Russland, also für den Teil Europas, der außerhalb
der EU und außerhalb der EU-Grundrechtscharta bleiben
wird, wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte immer wichtiger werden. Das ist eine sehr dringende Berufungsinstanz, mit der man aus den nationalen
Grenzen herauskommt.
Auf der anderen Seite gilt: Wenn er hier für westlichen
Grundrechtsschutz gewissermaßen nur die dritte Instanz
wird, die man nicht mehr unbedingt braucht, weil man
schon zwei zur Verfügung hat, dann tritt in der Tat in diesem Rechtsraum eine Ungleichheit ein. Das ist etwas sehr
Bedauerliches. Deshalb unterstütze ich auch sehr den Weg,
die EU nun endlich als Rechtspersönlichkeit zu konstituieren und dann der Menschenrechtskonvention beizutreten. - Das ist die erste Bemerkung gewesen.
Die zweite Bemerkung: Wenn jetzt die OSZE wieder
aktiv sein kann, weil der Europarat einen Beschluss
gefasst hat, der wehtut - vorher war es eher umgekehrt -,
dann halte ich dieses Spiel verschiedener Institutionen für
ein gutes Zeichen für die Vielfalt Europas.
Im Augenblick erleben wir eine gewisse Polemik in den
Zeitungen, in der einerseits darauf hingewiesen wird,
welch hervorragenden Beschluss der Europarat gefasst
hat, der ihn ja an den Ministerrat weitergibt. Andererseits
gibt es aber offensichtlich ein sehr dubioses Verhalten innerhalb der Kommission für Menschenrechte der UN. Es
heißt, dort habe man an einer „toughen“ Resolution nur
halbherzig mitgearbeitet, da man eine mildere Fassung im
Auge gehabt habe.
Ich glaube, wer solche Kritik, die man ja in den Zeitungen immer wieder lesen kann, äußert, versteht den Unterschied zwischen Resolution und Chairman-Statement
wirklich nicht. Das Chairman-Statement ist etwas, worauf
man hinarbeiten kann, weil es der Betroffene
ja mitträgt. Chairman-Statement bedeutet letztlich - so
glaube ich -, Russland auf den Weg zur politischen
Lösung zu ziehen. Es bedeutet also eine Tat. Natürlich bergen sehr wichtige Beschlüsse und Resolutionen immer die
Gefahr in sich, den anderen in die Selbstisolierung zu treiben. Insofern denke ich, dass ein zum jetzigen Zeitpunkt
gefasster Beschluss - es liegt vielleicht auch an der Jahreszeit - eine stärkere Wirkung haben könnte, als wenn er
im Januar gefasst worden wäre.
Natürlich hat Russland Probleme; wir hoffen aber, dass
der Ministerrat den Beschluss sehr klug umsetzt und wir
das erreichen, was wir eigentlich wollen. Wir wollen nämlich Russland nicht nur massiv anprangern, sondern es vor
allem endlich dazu bewegen, den ersten Schritt auf dem
Weg zu einer politischen Lösung zu gehen und damit zu
Verhandlungen, um diesen Krieg beizulegen. Je eher
Russland begreift, dass es sich dazu auch europäischer
Hilfe bedienen darf und kann, umso besser ist es für ein gemeinsames Europa.
({1})
Für die F.D.P.Fraktion spricht die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Europarat verdient als Hüter von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu Recht das Lob und die
Unterstützung aller im Bundestag vertretenen Fraktionen.
Es ist auch gut, dass die Instrumente des Europarates in
den letzten Jahren immer weiter verbessert worden sind.
Gerade heute war ja zu hören, dass das Antifolterkomitee
des Europarates im Rahmen einer nicht angekündigten
Kontrolle schwere Verstöße eines Mitgliedstaates der Europäischen Union und des Europarates festgestellt hat,
nämlich Verstöße bei der Behandlung von Strafgefangenen in Spanien. Ich glaube, dass gerade durch diese Kontrollinstrumente des Europarates die Öffentlichkeit und
damit das Bewusstsein in Europa und auch in der Europäischen Union für die Achtung und Einhaltung der eingegangenen Verpflichtungen sensibilisiert wird. Damit
kommt es zu dem unangenehmen Druck, sich öffentlich
rechtfertigen zu müssen und vor allen Dingen - was viel
Klaus Bühler ({0})
wichtiger ist -, diese Menschenrechtsverletzungen auch
abzustellen.
Ich teile nicht die Bedenken, die bei meinen Vorrednern
hinsichtlich der Ausarbeitung der europäischen Grundrechtecharta aufgrund des Spannungsfeldes mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und einer möglichen Bedeutungsminderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg angeklungen sind.
Zum einen kommt der Europäischen Menschenrechtskonvention wieder eine Motorfunktion zu, da die
Europäische Union sich ja in der bizarren Situation befindet, dass sie jetzt eine Grundrechtscharta erarbeitet, die
auch die europäischen Organe bindet. Das hatten wir in der
Form bisher nicht. Art. 6 des Vertrages von Amsterdam
enthält nur eine sehr allgemeine Formulierung, wonach
diese Rechte geachtet werden sollen, das alles aber doch
sehr der nationalen Rechtsprechung zuordnet. Von daher
sehe ich in der Erarbeitung der europäischen Grundrechtecharta eine Riesenchance für die Europäische Union.
Ich sehe überhaupt kein Chaos von Institutionen entstehen. Vielmehr wird es unterschiedliche Wirkungskreise mit entsprechenden Rechtsschutzverfahren geben.
Das ist wirklich gut und wichtig. Mangels einer
Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union und aufgrund der juristischen Streitigkeiten, die seit Jahren darüber bestehen, sehe ich auch nicht, dass in absehbarer Zeit
ein Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen
Menschenrechtskonvention erfolgt. Von daher brauchen
wir dringend die EU-Grundrechtecharta. Es ist ja auch gerade von Ihnen, Herr Lippelt und Herr Bühler, gesagt worden, wie wichtig für viele Staaten, die nicht Mitglied der
Europäischen Union sind, die Möglichkeit ist, Straßburg
anzurufen.
Natürlich muss auch die Rolle Russlands in Tschetschenien, wo völkerrechtliche Konventionen und wohl
auch die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt
werden, heute, wo wir das Jubiläum 50 Jahre Europarat
und europäischen Menschenrechtsschutz begehen, erwähnt werden.
Auch wenn es mit Verzögerung erfolgte, finde ich es
gut, dass es gerade der Europarat war, der nicht nur unmissverständlich die Menschenrechtsverletzungen festgestellt hat - spät, aber doch in einer sehr klaren Form -, der
auch klare Konsequenzen aufgezeigt hat, die vielleicht
jetzt schon zu ersten Reaktionen vonseiten der russischen
Regierung führen. Es wird hoffentlich auf der Sitzung der
Menschenrechtskommission in Genf nicht von dem abgewichen, was gerade vom Europarat in Bewegung gesetzt
worden ist.
Ich sage zum Schluss ganz offen und ehrlich - dreieinhalb Minuten Redezeit sind halt ein bisschen wenig für
50 Jahre Europarat und europäischen Menschenrechtsschutz -: Ich hätte mir schon gewünscht, dass schon sehr
viel früher die Verstöße gegen die internationalen Konventionen auch in Deutschland von der Bundesregierung
gerügt worden wären und entsprechende Reaktionen nicht
schon von vornherein zu Beginn des Jahres ausgeschlossen worden wären. Diese Reaktion ist überhaupt keine
Form von Sanktion, auch nicht die, die im Europarat unter aller Abwägung in Betracht gezogen worden ist.
Ich bedanke mich für Ihre dreieinhalbminütige Aufmerksamkeit.
({1})
Es war sogar eine
viereinhalbminütige Aufmerksamkeit, Frau Kollegin.
({0})
Nun gebe ich das Wort für die Fraktion der PDS dem
Kollegen Wolfgang Gehrcke.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Da ich noch eine halbe Minute weniger Redezeit als meine Kollegin habe, bitte ich um
Nachsicht.
Ich will zunächst einmal sagen - ich will mich angesichts der Kürze der Zeit nicht allzu lange an diesem Punkt
aufhalten -, dass die Würdigung des Europarates, die
Wertschätzung der Menschenrechtskonvention und die
Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit an einer Grundrechtecharta fraktionsübergreifend geschehen soll.
({0})
Aber was die aktuelle Politik angeht, bin ich mit Blick auf
Russland zu einem ganz anderen Ergebnis gekommen.
Das will ich Ihnen vortragen.
Ich halte sowohl den Entzug des Stimmrechtes für die
russischen Delegierten in der Parlamentarischen Versammlung als auch erst recht den Antrag auf Ausschluss
Russlands, über den ja das Ministerkomitee entscheiden
muss, für kontraproduktiv. Ich habe mehrmals im Parlament zum Tschetschenienkrieg gesprochen. Meine Fraktion hat nicht nur im Parlament, sondern auch in der Öffentlichkeit immer Position gegen diesen Krieg bezogen.
Wir haben auf die Völkerrechtsverletzungen aufmerksam
gemacht. Aber ich glaube, dass dieser Schritt in Russland
die Debatte über einen Ausstieg aus dem Krieg nicht
befördert, sondern - ganz im Gegenteil - zu einer Verhärtung der Position beitragen wird.
Ich sehe keinen anderen Weg als den, im Europarat wie
auch außerhalb des Europarates den zähen Dialog des Unter-Druck-Setzens und der Kontroverse von Angesicht zu
Angesicht fortzusetzen, weil ein Ausschluss und damit ein
Abbruch des Dialoges die Situation nicht verbessert, sondern verschlechtert. Deswegen richte ich die Bitte an den
Herrn Staatsminister, dass Deutschland im Ministerkomitee den Ausschluss Russlands nicht mitträgt, auch wenn
der Außenminister in der Presse eine solche Entscheidung
als angemessen bezeichnet hat.
Ich will Sie auf ein zweites Problem aufmerksam machen und bitte Sie diesen Punkt mit zu erwägen. In einer
solchen Situation wie dem Tschetschenienkrieg darf man
keine doppeldeutigen Signale geben: auf der einen Seite
Ausschluss aus dem Europarat mit Zustimmung des
Außenministers und auf der anderen Seite eine Reise des
Verteidigungsministers nach Russland zu einem Zeitpunkt, zu dem Grosny verwüstet worden ist, um eine weiSabine Leutheusser-Schnarrenberger
tere und engere militärische Zusammenarbeit zu vereinbaren. Jetzt liest man, dass der BND-Präsident in Tschetschenien war. Das passt nicht zusammen; das ist doppeldeutig und kann in Russland nur falsch verstanden
werden.
({1})
Ich finde, wir brauchen eine geradlinige und eindeutige Politik: Ablehnung des Krieges, weitere Bereitschaft
zum Dialog und Einbindung Russlands in Europa. Das ist
zumindest die Politik meiner Fraktion.
({2})
Gestatten Sie mir noch zum Schluss, mich mit einer Bitte an die Kolleginnen und Kollegen des Hauses zu wenden. Wir haben Ihnen einen Antrag vorgelegt, in dem wir
uns dafür einsetzen, die Todesstrafe gegen einen farbigen
amerikanischen Bürgerrechtler, Mumia Abu-Jamal, nicht
zu vollstrecken. Wir bitten das Haus aus Gründen der
Menschenrechte und der Humanität, auch gegenüber den
USA deutlich zu machen, dass wir Gegner der Todesstrafe sind und dass wir eine Vollstreckung der Todesstrafe
nicht wollen.
({3})
Ich bitte Sie wirklich aus ganzem Herzen: Lassen Sie
uns bei dieser Entscheidung, bei diesem Entschließungsantrag über die fraktionellen Grenzen springen. Vielleicht
stimmen Sie diesem Antrag zu. Ich bitte Sie darum. Ich
glaube, das hat einen Sinn.
Haben Sie herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat nun der
Staatsminister im Auswärtigen Amt, Dr. Christoph Zöpel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die Gründungsstunde des Europarats war
die Konsequenz des bisher grausamsten Scheiterns Europas bei der Verwirklichung seiner Werte, der Werte der
Aufklärung. Bevor wir andere kritisieren, macht es durchaus Sinn, festzuhalten, wo sie gescheitert sind: bis 1945 in
ganz Deutschland durch die grausamste Form der Abwendung von der Aufklärung, die seit Kant festzustellen
war, und bis 1989 in einem Teil Deutschlands, bis wenige
hundert Meter hinter diesem Gebäude, ebenfalls durch
eklatante Verletzung der Werte der Aufklärung. Das in
Deutschland festzuhalten, halte ich auch in dieser Stunde
für notwendig.
Seitdem ist der Europarat ein hocheffizientes Instrument zur Realisierung der Werte der Aufklärung, der Allgemeinheit der Menschenrechte und der Idee von Kant,
Krieg nach und nach durch einen Bund von Staaten weltweit zu verhindern.
Bei dem ersten Ziel sind wir weitergekommen. In Westeuropa gelten die Menschenrechte. Seitdem - darauf sollten wir alle verpflichtet sein - ist der Europarat in der Tat
am besten geeignet, einen Teil von Europäizität zu prüfen,
und zwar die erste Voraussetzung dafür, zur europäischen
Staatengemeinschaft gehören zu können, nämlich die Realisierung der europäischen Menschenrechtskonvention.
Diese Prüfung nimmt der Europarat gegenüber Russland vor, und diese Prüfung nimmt er gegenüber der Türkei vor. Es macht sehr viel Sinn, bei der positiven Beantwortung der Frage die gleichen Konsequenzen zu ziehen
wie bei der negativen. Im Augenblick kann man weder bei
Russland noch bei der Türkei feststellen, dass sie den Kriterien des Europarats entsprechen. Deshalb sind derzeit
beide keine Europäer im Sinne unserer Wertegemeinschaft.
Damit bin ich bei der Russland-Resolution. Die Entscheidung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats hat - das ist wesentlich für die politische Diskussionskultur - deutlich gemacht, wo Europa handeln kann
und - das muss man davon abgrenzen - wo nicht. Der Beschluss hat deutlich gemacht, dass wir Russland sagen
können und müssen: Bei den Menschenrechten handelt ihr
nicht als Europäer.
Andererseits wird man in dem Zusammenhang aber
auch festhalten müssen - ich habe das hier schon einmal
gesagt -, dass der Tschetschenienkrieg seitens Deutschland nicht mit militärischen Mitteln beendet werden kann
- das muss man sich klarmachen, wenn man gefragt wird,
was man tut - und dass es dabei bleibt, dass es bei einem
Mitglied des UNO-Sicherheitsrats, das über Atomwaffen
verfügt, wie zu Zeiten Breschnews keine Alternative zum
Ringen um Abrüstung gibt, um Gefahren von Westeuropa
abzuwenden. Das ist keine Inkonsequenz hinsichtlich des
anderen.
({0})
Ich halte die Diskussion über Blindheit für falsch. Intellektuelle Beobachter, die Europa Blindheit gegenüber
Russland vorgeworfen haben, können dies nach dem Beschluss der Parlamentarischen Versammlung nicht mehr
tun.
Eine zweite Bemerkung. Der Europarat zeigt in seiner
Arbeit, dass internationale Politik mehr ist als Diplomatie.
Das verdanken wir den Mitgliedern der Parlamentarischen
Versammlung. Mit diesem Beschluss ist auch recht deutlich gemacht worden, wo Unterschiede im außenpolitischen Handeln liegen und dass die Parlamentarische Versammlung am klarsten formulieren konnte, wo die Grenzen und die Anforderungen an Europäizität liegen.
Dass damit für die nächste Sitzung des Ministerrats eine deutliche Aufforderung gegeben ist, ist klar. Ich will
hinzufügen: Ich will alles dafür tun, dass sehr gründlich
beobachtet wird, was Russland jetzt auf diesem Gebiet tut,
und dass gegebenenfalls Konsequenzen auch auf der Ebene der Minister zu treffen sind, wenn sie im Mai zusammenkommen. Das ist eine nach dieser Vorgabe klare Notwendigkeit.
Ich will auch nicht hintanstellen, dass die auswärtige
Politik der Bundesrepublik Deutschland in ihrer auch positiven Kontinuität den Europarat in der Vergangenheit
und in der Gegenwart nicht als Schwerpunkt der Agenda
behandelt. Es macht Sinn, das zu ändern.
({1})
Die entsprechende Aufforderung nehme ich persönlich
sehr ernst.
({2})
Ich hoffe, das wird Wirkungen haben.
Ich stimme auch zu, dass es sehr viel Sinn macht, bei
der Frage der Neuformierung der europäischen Sicherheitspolitik sehr klar zu prüfen, wo deren parlamentarische
Kontrolle effektiv liegen kann, wenn sie sozusagen nicht
ganz eindeutig zugeordnet wird. Ich hoffe, dass die Europäische Union, wenn sie sich eine eigene Verfassung mit
Grundrechten gibt, keine Konkurrenz zum Europarat wird.
Aber solange nicht alle Mitglieder der Europäischen Union sind oder es werden wollen, macht es auch Sinn, zu fragen, ob sich diese nicht in Form eines Beitritts zu den
Menschenrechten am Europarat beteiligt. Da die Regierungskonferenz inhaltlich noch aufgewertet werden wird,
macht es Sinn, darüber zu diskutieren.
An dieser Stelle deshalb diese Bemerkungen: Der Respekt der Regierung vor dem Europarat ist in ganz hohem
Maße der Respekt der Regierung vor den Parlamentariern
des Europarats, die Maßnahmen internationaler Politik für
Europa und auch Deutschland ergreifen, die gerade in Bezug auf die Entscheidung zu Russland unverzichtbar geworden sind.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu der Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. mit dem Titel „50 Jahre Europarat: 50 Jahre europäischer Menschen
rechtsschutz“, Drucksache 14/2209 ({0}). Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1568 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Die Vorlage auf Drucksache 14/3196 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss überwiesen werden. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten
Fred Gebhardt, Dr. Heinrich Fink, Wolfgang GehrckeReymann weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den
Tag des Gedenkens an die Befreiung vom Nationalsozialismus
- Drucksache 14/1002 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2})
- Drucksache 14/2901 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Gisela Schröter
Martin Hohmann
Dr. Max Stadler
Die Kolleginnen und Kollegen Gisela Schröter, Martin
Hohmann, Volker Beck und Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
geben ihre Reden zu Protokoll.*)
Die antragstellende Fraktion, PDS, erbittet einen Redebeitrag für Professor Dr. Heinrich Fink. Ich gebe ihm
das Wort.
Verehrter Herr Präsident!
Kolleginnen und Kollegen! Die Gedenktage eines Volkes
spiegeln das Verhältnis zur eigenen Geschichte wider.
Das für Deutschland und Europa rettende Datum, der
8. Mai 1945, an dem die bedingungslose Kapitulation der
faschistischen Machthaber Deutschlands gegenüber den
Armeen der Anti-Hitler-Koalition besiegelt wurde, ist immer noch kein nationaler Erinnerungstag im wiedervereinigten Kalender.
In Frankreich, den Niederlanden, Polen, Griechenland
und in anderen Ländern Europas, die im Namen der deutschen Herrenrasse im Zweiten Weltkrieg okkupiert und
geplündert worden waren, begehen die Menschen seit
Jahrzehnten in festlichem Gedenken das Datum ihrer Befreiung vom deutschen Besatzungsjoch. Die europaweit in
ihre Heimatländer zurückgekehrten Zwangsarbeiter
brachten den 8. Mai als persönlichen Rettungstag mit, der
aber nicht zum gesamtdeutschen Bußtag wurde.
Millionen von ihnen haben es nicht mehr erlebt, dass
nun endlich in Deutschland eine kleine finanzielle Entschädigung für die Zwangsarbeit aufgebracht worden
ist. Es wird höchste Zeit, dass das wiedervereinigte
Deutschland den 8. Mai 1945 als Datum seiner Befreiung
von der selbst gewählten Barbarei im öffentlichen Bewusstsein auch kommender Generationen verankert.
Es ist zwar wichtig, dass am 27. Januar all der Opfer des
Naziregimes gedacht wird, die in den unmenschlichen Varianten von politischer Verfolgung, Rassenmord,
Euthanasie, Vernichtung durch Arbeit in den Konzentrationslagern und Ermordung von Deserteuren und Geiselerschießungen ums Leben gebracht wurden.
Der 8. Mai dagegen ist der Tag der Überlebenden, der Tag
der Erschütterung. Von vielen zwar als Schande und
Demütigung jahrelang nicht verkraftet, war es für
Deutschland aber der Tag der Befreiung von Krieg, Bombennächten und Naziterror.
({0})
Besitzergreifende Lieder der Hitlerjugend und des deutschen Militärs wie „Heute gehört uns Deutschland und
morgen die ganze Welt“ mussten mühsam verlernt werden. Der 8. Mai 1945 steht für den großen widersprüchlichen Umlernprozess der Deutschen auf dem Weg zurück
in die europäische Völkergemeinschaft. Das Opfergedenken am Tag der Stilllegung der Menschenvernichtungsfabrik Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar und der 8. Mai 1945 als Erinnerung an das sehr unterschiedlich bewertete Ende von Faschismus und Krieg
als für viele unfassbarer Zusammenbruch, unerwartete
Niederlage oder so lange erhoffte Befreiung müssen immer wieder neu durchdacht werden. Nur aus lebendigem
Erinnern erwachsen die Kräfte, mit denen neu erstehenden
Naziumtrieben widerstanden werden kann.
({1})
Eine demokratische Regierung sollte es als historische
Pflicht ansehen, den Gedenktag 8. Mai bewusst als parlamentarisches Engagement zu begehen und als Datum der
Wiedergeburt der Demokratie zu schützen - auch angesichts blutiger neonazistischer Attacken gegen In- und
Ausländer. Den neuen Naziopfern kann der 8. Mai wohl
eher als der 27. Januar als Tag der Totenehrung dienen;
denn er wäre ein selbstkritisch verpflichtendes Datum, damit demokratische Mitmenschlichkeit nicht aufs Neue vor
Menschen kapituliert, die sich als Herrenrasse berufen
fühlen und in bedenklicher Umdeutung der jüngsten Geschichte sowohl von „Auschwitzlüge“ als auch von der
„Ehre der deutschen Helden des Zweiten Weltkrieges“ zu
reden wissen.
Gedenktage sind unentbehrliche Lernzeichen nach innen. Angesichts der gemeinsam zu gestaltenden Zukunft
Europas sollten wir als Deutsche endlich europaöffentlich
zum 8. Mai als Tag der Befreiung stehen.
({2})
Damit folgen wir dem Vermächtnis der Anti-Hitler-Koalition und aller noch unter uns lebenden Widerstandskämpfer.
Herr Kollege Fink,
Sie haben Ihre Redezeit längst überschritten.
Deshalb bitte ich Sie um Ihrer Kinder und Enkelkinder willen, die Erinnerung wach
zu halten, damit sich an ihr Verantwortung für die Zukunft
entwickeln kann. Ich bitte Sie, dem Gesetzentwurf der
PDS zuzustimmen und den 8. Mai als Tag des Gedenkens
an die Befreiung vom Nationalsozialismus in Deutschland
einzuführen.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der PDS zu einem Tag des Gedenkens an die
Befreiung vom Nationalsozialismus auf Drucksache
14/1002. Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/2901, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über
den Gesetzentwurf der PDS auf Drucksache 14/1002 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über Fernabsatzverträge und andere Fragen
des Verbraucherrechts sowie zur Umstellung
von Vorschriften auf Euro
- Drucksachen 14/2658, 14/2920 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
({1})
- Drucksache 14/3195 Berichterstattung:
Abgeordneter Alfred Hartenbach
Dirk Manzewski
Dr. Susanne Tiemann
Volker Beck ({2})
Die Kolleginnen und Kollegen Dirk Manzewski, Prof.
Dr. Susanne Tiemann, Volker Beck, Rainer Funke, Rolf
Kutzmutz und Prof. Dr. Eckhart Pick geben ihre Reden zu
Protokoll.*)
Damit kommen wir zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu einem
Gesetz über Fernabsatzverträge und andere Fragen des
Verbraucherrechts sowie zur Umstellung von Vorschriften
auf Euro, Drucksachen 14/2658 und 14/3195. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD, des Bünd-
nisses 90/Die Grünen und der PDS gegen die Stimmen der
CDU/CSU und der F.D.P. angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
mit dem gleichen Stimmenergebnis wie in der zweiten
Beratung angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
*) Anlage 5
schaft und Forsten ({3}) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Schutz der Bewirtschaftung der Tropenwälder -
6. Tropenwaldbericht der Bundesregierung
- Drucksachen 14/1340, 14/2703 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Albert Deß
Die Kolleginnen und Kollegen Christel Deichmann,
Cajus Caesar, Dr. Angelika Köster-Loßack, Ulrich
Heinrich, Carsten Hübner und der Parlamentarische Staatsse-
kretär Gerald Thalheim geben ihre Reden zu Protokoll.1)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft
und Forsten zum 6. Tropenwaldbericht der Bundesregie-
rung, Drucksache 14/2703. Der Ausschuss empfiehlt un-
ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, den Bericht
auf Drucksache 14/1340 zur Kenntnis zu nehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion der PDS
angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung die Annahme einer Ent-
schließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
- Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die
Grünen und der F.D.P. gegen die Stimmen der CDU/CSU
und der PDS angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Johannes
Singhammer, Horst Seehofer, Max Straubinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Neue Belastungen für ehrenamtlich Tätige
zurücknehmen
- Drucksache 14/2989 -
Die Kolleginnen und Kollegen Peter Dreßen, Johannes
Singhammer, Max Straubinger2), Dr. Thea Dückert,
Gerhard Schüßler und Dr. Klaus Grehn geben ihre Reden
zu Protokoll3).
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/2989 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 14. April 2000, 9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.