Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/6/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Europäische Rat von Lissabon setzt die Reihe erfolgreicher europäischer Gipfeltreffen der letzten Zeit fort. Lissabon hat deutlich gemacht: Die Europäische Union ist willens und imstande, den Wandel von der Industriegesellschaft zur Wissens- und Informationsgesellschaft wirtschafts- und gesellschaftspolitisch nicht nur hinzunehmen, sondern aktiv zu gestalten. Die Chancen, die Präsident Wolfgang Thierse dieser Wandel für Wachstum und Beschäftigung eröffnet, werden wir wahrnehmen. Aus der Sicht der Bundesregierung ist besonders erfreulich, dass bei den europäischen Partnern Einigkeit besteht: Es gibt einen europäischen Weg in die Wissens- und Informationsgesellschaft und dieser Weg ist der Weg einer Teilhabegesellschaft, ({0}) also ein Weg, den die gesamte Gesellschaft mitgehen kann. Das ist einer der Gründe dafür, warum wir in Lissabon der Auffassung waren, dass die angeblich bestehende Kluft von der gelegentlich zu hören war, zwischen ökonomischer Effizienz auf der einen Seite und sozialer Ausgewogenheit sowie sozialem Zusammenhalt auf der anderen Seite, bei Licht betrachtet nicht besteht, jedenfalls nicht bestehen darf. Darum ist es die gemeinsame Auffassung der europäischen Regierungen, man müsse diesen Weg als europäischen Weg, als einen Weg der ökonomischen Vernunft und des sozialen Ausgleichs gemeinsam gehen. ({1}) In Lissabon hat die Europäische Union ein neues strategisches Ziel formuliert. Wir, die Europäer, wollen im kommenden Jahrzehnt, was die Wettbewerbsfähigkeit und die Dynamik betrifft, unseren Binnenmarkt zum stärksten Wirtschaftsraum der Welt machen. In diesem Sinne haben wir in Lissabon beschlossen, uns auf die wichtigsten Handlungsfelder zu konzentrieren. Erstens. Wir wollen und wir werden den Fortschritt, den die Industriegesellschaft durch Information und Kommunikation machen kann, so gestalten, dass er den Menschen in Europa in ihrer täglichen Existenz, in ihrer Arbeitswelt zugute kommt. Wir werden dafür sorgen, dass dieser Fortschritt - übrigens genauso wie seinerzeit der Fortschritt von der Agrar- zur Industriegesellschaft - zu mehr Wohlstand und zu einer besseren Lebensqualität für die Menschen in Europa führt. ({2}) Auf nationaler Ebene setzt die Bundesregierung in diesem Sinne das Aktionsprogramm „Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ um und arbeitet mit der Wirtschaft in der Initiative D 21 zusammen. Durch die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik der Bundesregierung zusammen mit der Initiative D 21 ist es uns bereits 1999 gelungen, die Ausbildungsplätze für junge Leute im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien von seinerzeit 13 000 auf 30 000 zu steigern. Das ist eine Leistung, die aus der Gemeinsamkeit zwischen Bundesregierung einerseits und einschlägiger Wirtschaft andererseits resultiert. Das ist im Übrigen eine Leistung, die wir in unser aller Interesse, auch im Interesse der ökonomischen Entwicklung, noch steigern müssen und steigern werden. ({3}) Schon in diesem Jahr - so die Festlegungen der ausbildenden Wirtschaft in diesem Bereich - wird die Zahl der eigentlich erst für 2002 vorgesehenen Ausbildungsplätze in einer Größenordnung von 40 000 - ich vermerke: in den Betrieben - erreicht werden können. Aber auch damit können und dürfen wir uns nicht zufrieden geben, und das ist der Grund, warum wir in der Initiative D 21 gemeinsam beschlossen haben, die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze bis spätestens 2003 - möglicherweise schaffen wir es bis zum Ende des Jahres 2002 - auf insgesamt 60 000 zu steigern. ({4}) Damit schließen wir - oder helfen wir zu schließen - eine Qualifizierungslücke, die ohne Zweifel bestand und besteht und für die man ohne jeden Zweifel keineswegs nur die Politik verantwortlich machen kann und darf, sondern für die man vor allem diejenigen verantwortlich machen muss, die in der Vergangenheit in den Betrieben zu wenig ausgebildet haben. ({5}) Dass es da Defizite gegeben hat, kann man ohne falsche Polemik feststellen; das wird von der ausbildenden Wirtschaft genauso gesehen. Deshalb ist es auch die gemeinsame Aufgabe, die Zahl der Ausbildungsplätze in diesem Bereich in dieser Deutlichkeit und in dieser Schnelligkeit dramatisch zu erhöhen. Wir werden das tun. In diesem Zusammenhang ist es dann wenig hilfreich, wenn aus sehr durchsichtigen Wahlkampfgründen der Versuch gemacht wird, eine zwischenzeitlich bestehende Notwendigkeit in der Weise, wie das Herr Rüttgers tut, zu diffamieren. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie es mich klar sagen: Diese Art des Umgangs mit diesem Thema ist nicht nur in höchstem Maße unanständig, sie ist auch wirtschaftsfeindlich. Das muss man in aller Deutlichkeit hinzufügen. ({7}) Sie ist wirtschaftsfeindlich deshalb - und es wird Sie auch in der Wirtschaft isolieren, wenn Sie so weiter machen -, weil wir wegen der Versäumnisse in der Vergangenheit ({8}) diese Menschen für eine gewisse Zeit brauchen und deshalb alles tun werden, um erstklassige Leute her zu bekommen, weil wir wissen, dass an jedem dieser hoch qualifizierten Menschen zwischen drei und fünf weitere Arbeitsplätze hängen können, die wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Deutschland dringend brauchen. ({9}) Deshalb ist es - ich sage es noch einmal - nicht nur unmoralisch, sondern auch wirtschaftsfeindlich und ein Verstoß gegen das Ziel der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, wenn in der Art und Weise, wie das geschieht, mit diesem Thema umgegangen werden soll. Im Übrigen wird der Entwurf für die einschlägige Verordnung, die wir machen müssen, um - ich sage es noch einmal - auf Zeit hoch qualifizierte Menschen zu uns zu bekommen, in den Ministerien fertig gestellt. Sie wird dann innerhalb der Initiative D 21 besprochen werden, weil wir die bisherigen Erfahrungen, die man in der Wirtschaft mit der Anwerbung hoch qualifizierter Fachkräfte aus dem Ausland gemacht hat, in die endgültige Fassung der einschlägigen Verordnung einbeziehen wollen und einbeziehen werden. Ich hoffe deshalb, dass diejenigen, von denen ich ja weiß, dass es sie auch in der Opposition gibt, vor allen Dingen in der Union, die Oberhand gewinnen, die genau wissen, dass wir dies auf Zeit brauchen und dass es deshalb gegen die eigenen Interessen verstößt, wenn man derartige Kampagnen, wie sie dort gemacht worden sind, fortsetzt. ({10}) Aus dem, was wir vorzuweisen haben, wird deutlich, dass wir dabei sind, die Qualifizierungslücke zu schließen, übrigens nicht nur auf dem Ausbildungssektor, sondern auch und ausdrücklich auf dem Weiterbildungssektor. Es ist völlig klar, dass es gemeinsame Aufgabe von Politik und Wirtschaft ist, diejenigen, die in anderen Berufen keine zureichenden Chancen haben und qualifizierbar sind, auch so zu qualifizieren, dass sie neue Chancen auf dem neuen Arbeitsmarkt erwerben und diese auch nutzen können. Dieser Aspekt wird ebenfalls völlig zu Recht betont. Er wird von uns ins Auge gefasst und realisiert. ({11}) Diese Ansätze, die wir in Deutschland machen, sind bei den europäischen Partnern auf großes Interesse gestoßen. Sie finden sich deshalb auch in den Schlussfolgerungen des Rates wieder. Der Europäische Rat hat sich im Übrigen darauf verständigt, den rechtlichen Rahmen für den elektronischen Geschäftsverkehr rasch, das heißt, noch in diesem Jahr, zu vervollständigen. Die Rechtsakte zu Urheberrechten und verwandten Schutzrechten, zum elektronischen Geld und zum Fernabsatz von Finanzdienstleistungen werden vom Rat vorangebracht und in kürzester Zeit realisiert werden. Im Bereich der Telekommunikation haben wir in Lissabon vereinbart, den Wettbewerb auch bei den Ortsanschlussnetzen zu intensivieren, übrigens nicht nur, damit man billiger telefonieren kann, sondern vor allen Dingen, um zur Kostensenkung bei der Internetnutzung beitragen zu können. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt dessen, was in Lissabon diskutiert und beschlossen worden ist. Liberalisierung und Integration des Telekommunikationsmarktes sollen bis Ende des Jahres 2001 in Europa, im Europa der 15 abgeschlossen sein. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich das Ziel gesetzt, dass die wichtigsten öffentlichen Funktionen für die Bürgerinnen und Bürger und natürlich auch für die Wirtschaft bis zum Jahre 2003 online verfügbar sind. Ich bin sicher, meine Damen und Herren, diese Initiative wird nicht nur die Effizienz der öffentlichen Verwaltung verbessern, sondern auch ein weiterer, und zwar bürgernaher - wenn Sie so wollen: kundenfreundlicher -, Ansatz sein, um die Onlinekommunikation nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa überhaupt zu nutzen. Zweitens. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind sich darin einig, dass die Wachstums- und Beschäftigungspotenziale einer Wissensgesellschaft auf Dauer dann und nur dann genutzt werden können, wenn wir Europäer bei der Forschung und Entwicklung erstklassig sind. Im Vergleich zu anderen gibt es in Europa Defizite. Wir werden diese Defizite abbauen. Deshalb werden in diesem Bereich die nationalen und europäischen Anstrengungen zu bündeln und auf europäischer Ebene zu koordinieren sein. Auch das ist ein Ergebnis der Diskussion von Lissabon. Wir wollen einen großen europäischen Forschungsraum. Wir wollen hoch qualifizierte Forscher dauerhaft für Europa gewinnen. Sie sehen, meine Damen und Herren, auch auf diesem Sektor sind die Europäer dabei, sich zu öffnen, weil sie wissen, dass wir den weltweiten Austausch der qualifizierten Forscher brauchen, um unsere eigene Entwicklung, auch unsere eigene wirtschaftliche Entwicklung, voranbringen zu können. ({12}) Natürlich braucht man dazu eine entsprechende Infrastruktur. Im Bereich der Infrastrukturausstattung wird deshalb mit Unterstützung der Europäischen Investitionsbank ein hochleistungsfähiges Datennetz aufgebaut werden, das wissenschaftliche Einrichtungen in Europa miteinander verbindet, also vernetzt. Gerade Deutschland, das mit dem Deutschen Forschungsnetz bereits hervorragend positioniert ist, hat ein nachhaltiges Interesse daran, die Einbindung dieses Netzes in einen leistungsstarken europäischen Verbund zu schaffen. Zur Förderung der privaten Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen werden wir ein Gemeinschaftspatent einführen, dessen rechtliche Voraussetzungen nach den Beschlüssen von Lissabon bis Ende 2001 geschaffen werden sollen. Wichtig für private Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen gerade junger, innovativer Unternehmen ist ebenso die Bereitstellung von Risiko-, besser: Wagniskapital. In diesem Zusammenhang begrüße ich ausdrücklich die Bereitschaft der Europäischen Investitionsbank, eine weitere Milliarde Euro für Wagnisfinanzierung zur Verfügung zu stellen. ({13}) Drittens. Der Europäische Rat hat noch einmal betont, dass weitere Wirtschaftsreformen notwendig sind, um den Binnenmarkt zu dynamisieren. Er hat dazu aufgerufen, die Liberalisierung in den Bereichen Gas, Strom, Postdienste und Verkehr zu beschleunigen. Ich halte es für eine der ganz großen Leistungen der portugiesischen Präsidentschaft, insbesondere von Premierminister Guterres, in diesem zweifellos schwierigen Punkt Einvernehmen jedenfalls über den Grundsatz einer weiteren Liberalisierung herbeigeführt zu haben. Wir, die Deutschen, haben in diesem Bereich vor dem Hintergrund dessen, was geleistet worden ist, weniger Schwierigkeiten als andere. Aber die Schwierigkeiten anderer sind angesprochen und durch den Beschluss von Lissabon auch weitgehend überwunden worden. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang sagen, dass ich von den Mitgliedstaaten und auch von der Kommission Verständnis dafür erwarte, dass die Bundesregierung nicht tatenlos zusehen kann, wenn gewachsene und bewährte - ich betone ausdrücklich: bewährte - Strukturen öffentlicher Daseinsvorsorge in Deutschland im Zuge europäischer Integration zur Disposition gestellt werden. ({14}) Sie wissen, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass die Frage öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute und auch des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf der Tagesordnung der Europäischen Kommission steht. Es nutzt nun wenig, gegen die Vorstellungen der Kommission zu polemisieren. Das Einzige, was hilft, ist, der Kommission und übrigens auch den Mitgliedstaaten, die eine andere verfassungsrechtliche Situation als wir haben, am Ende deutlich zu machen, dass und warum wir diese Strukturen brauchen und warum das Vorhalten öffentlich-rechtlicher Strukturen nichts mit Beihilfepolitik, sondern mit einer vernünftigen Versorgung mit Dienstleistungen dieser Art auch und gerade in der Fläche zu tun hat. ({15}) Ich habe deshalb die Kommission, die das Verhältnis von Binnenmarkt und öffentlicher Daseinsvorsorge bereits in einer Mitteilung von 1996 aufgegriffen hatte, gebeten, diese Mitteilung im Lichte des Amsterdamer Vertrages zu aktualisieren. Der Europäische Rat hat auf meine Bitte hin eine entsprechende Aufforderung an die Kommission zum Ausdruck gebracht. In den jetzt beginnenden Arbeiten über die Erneuerung dieser Mitteilung werden wir dafür zu sorgen haben, dass die deutsche Position so weit wie irgend möglich eingebracht und verständlich gemacht wird. Wir werden das tun, meine Damen und Herren, weil wir davon überzeugt sind, dass auch und gerade auf dem Kreditsektor die Mischung aus privatwirtschaftlicher und öffentlich-rechtlicher Versorgung eine vernünftige Mischung ist, die wir nicht zuletzt brauchen, damit auf diesem Sektor „kleinere“ Kunden und vor allen Dingen die kleinen und mittleren Unternehmen in optimaler Weise mit Finanzdienstleistungen versorgt werden können. ({16}) Angesichts der Globalisierung auf den Finanzmärkten und entsprechender, nicht immer gelingender Strategien der privaten Banken auf diesem Felde ({17}) glaube ich, dass es eine Renaissance insbesondere der Sparkassen in Deutschland geben kann, ({18}) weil sie kundennah agieren und weil sie von alters her die Versorgung insbesondere der kleinen und mittleren Gewerbetreibenden, aber auch der kleineren privaten Kunden in durchaus optimaler Form geleistet haben. ({19}) Was für die Sparkassen gilt, gilt ebenso für die Genossenschaftsbanken. ({20}) Diese beiden Einrichtungen werden, so glaube ich, gerade vor dem Hintergrund der Globalisierung und der Strategien der großen Kreditinstitute, die damit verbunden sind, eine immer wichtiger werdende Aufgabe in der Versorgung und vor allem in der flächendeckenden Präsenz in Deutschland erhalten. ({21}) Deswegen hoffe ich, dass wir in dieser Frage mit der Kommission und mit denen, die andere staatsrechtliche Verfasstheiten haben und deswegen für diese Probleme nicht von vornherein sensibilisierbar sind, eine gemeinsame Position entwickeln können. Aber auch innerhalb der Phalanx der Bundesländer müssen wir eine gemeinsame Position entwickeln, um deutlich zu machen, dass das, worum es hier geht, im gemeinsamen Interesse des Deutschen Bundestages und des Bundesrates ist. Das würde die Position der Bundesregierung stärken. Ich bin guten Mutes, dass sich in dieser Frage eine Gemeinsamkeit in der europäischen Politik erzielen lässt. ({22}) Viertens. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind sich einig, dass gerade angesichts guter Wachstumsaussichten eine aktive Politik der Haushaltskonsolidierung notwendig und auch möglich ist. Das Zukunftsprogramm der Bundesregierung schafft mit der Konsolidierung der Staatsfinanzen und mit einer Steuerpolitik, die Familien, die Arbeitnehmer und die Wirtschaft entlastet, die Voraussetzungen für ein kräftiges Wirtschaftswachstum und damit für neue Arbeitsplätze. ({23}) Das ist der Grund, warum das Zukunftsprogramm, erstellt vor allem vom Bundesfinanzminister, im Kreise unserer europäischen Partner große Unterstützung findet. Diese Unterstützung geht weit über die hinaus, die von der Opposition hier im Hohen Hause zu erwarten ist. ({24}) Fünftens. Im Europäischen Rat ist es gemeinsames Ziel, eine Spaltung der Gesellschaften zu verhindern. Wir wollen kein Europa der zwei Klassen: die eine mit Zugang zu den neuen Informations- und Kommunikationsangeboten und die andere, die diesen Zugang nicht hat. Diese Spaltung nicht nur in Europa, sondern auch in Deutschland dürfen wir nicht zulassen. Deshalb müssen wir die Anstrengungen in Bezug auf Ausbildung und Bildung kontinuierlich verstärken. ({25}) Alle Schüler - ich betone das Wort „alle“ -, aber auch andere Personen sollten so früh wie möglich den Umgang mit dem Medium Internet einüben können. Deshalb haben wir in Deutschland gemeinsam mit der Wirtschaft die Initiative „Schulen ans Netz“ auf den Weg gebracht. Der Europäische Rat hat auch in diesem Punkt die Politik der Bundesregierung bestätigt und unterstützt. Die europaweite Mobilität von Schülern, Studenten und Lehrern soll gefördert werden. Hierzu sind bereits bestehende Gemeinschaftsprogramme zu nutzen. Daneben geht es aber auch um die Verbesserung bei der Anerkennung von Abschlüssen im Studium und in der Ausbildung. Eine weitere Zielsetzung ist es, die Zahl der Jugendlichen, die nach dem Schulabschluss weder eine Berufsnoch eine weiter führende Schulausbildung durchlaufen, so schnell wie möglich zu halbieren. Insbesondere dank des für andere Mitgliedstaaten vorbildlichen dualen Ausbildungssystems kann Deutschland bei der Berufsausbildung der Jugendlichen weit überdurchschnittliche Erfolge aufweisen. Auch das gilt es noch einmal zu unterstreichen: Die Tatsache, dass wir - nicht zuletzt durch das Programm der Bundesregierung - im letzten Jahr unsere Ausbildungsanstrengungen so verstetigt und ausgeweitet haben, hat dazu geführt, dass Deutschland Gott sei Dank den Spitzenplatz bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit einnimmt. Dies ist, wie ich finde, eine Leistung, die sich sehen lassen kann und die es lohnt, hier im Hohen Hause immer wieder zu unterstreichen. ({26}) Natürlich war mir bei den Beratungen über diesen Punkt in Lissabon immer gegenwärtig, dass die Fragen der Schul- und der weiterführenden Bildung in Deutschland Fragen sind, die im Wesentlichen nicht vom Bund entschieden werden. Alle Aufforderungen - natürlich aus Furcht vor den Gewaltigen aus Bayern - wir müssten bei den Beratungen in Lissabon aufpassen, nicht die Kulturhoheit der Länder zu gefährden, waren mir immer gegenwärtig. Herr Glos, nicht Sie, aber die denkbaren Aufforderungen waren mir immer gegenwärtig. Deshalb findet sich in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates auch der von Deutschland erbetene Hinweis, dass die Mitgliedstaaten den an sie gerichteten Aufforderungen in diesem Sektor selbstverständlich nur im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Vorschriften nachkommen können und sollen. Sagen Sie das also in München und anderswo: Sie dürfen es machen, aber Sie müssen es auch bezahlen. ({27}) Sechstens. Der Europäische Rat hat dazu aufgefordert, wir sollten uns im Rahmen des so genannten LuxemburgProzesses auf die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit, auf lebenslanges Lernen, auf den Ausbau der Beschäftigung im Dienstleistungsbereich und auf die Förderung der Chancengleichheit konzentrieren. Gemeinsames mittelfristiges Ziel einer Beschäftigungspolitik mit exakt diesen Schwerpunkten ist die Erhöhung der Beschäftigungsquote, die nach den Vereinbarungen von Lissabon möglichst nahe an 70 Prozent herangeführt werden soll. Dabei ist selbstverständlich die jeweilige nationale Ausgangslage zu berücksichtigen. Dieses sehr ambitionierte Zukunftsprogramm von Lissabon wird der Europäische Rat alljährlich im Frühjahr auf einer gesonderten Tagung zu Wirtschafts- und Sozialfragen überprüfen und aktualisieren. Das ist, wenn Sie so wollen, ein Beschluss über das notwendige Controlling. Das in Lissabon formulierte strategische Ziel kann nach meiner Auffassung erreicht werden, wenn die Anstrengungen auf der europäischen Ebene mit entsprechenden Anstrengungen auf der Ebene der Mitgliedstaaten einhergehen. Wenn wir die Beschlüsse von Lissabon konsequent umsetzen, schaffen wir die Voraussetzung für eine nachhaltige Steigerung von Wachstum und als Folge dessen selbstverständlich auch von Beschäftigung. Ein durchschnittliches Wachstum in der Europäischen Union von etwa 3 Prozent ist dann eine realistische Aussicht für die kommenden Jahre. Gewiss ist der Hinweis, man könne Wachstum nicht verordnen, nicht falsch. Aber wir haben deutlich gemacht, dass wir die Handlungsmöglichkeiten und die Handlungsnotwendigkeiten der Politik auf europäischer wie auf nationaler Ebene entschlossen an diesem Ziel orientieren wollen. Die Chancen dafür sind gut. Für die Euro-Zone hat der Internationale Währungsfonds seine Wachstumsschätzung für dieses Jahr von bislang 2,8 Prozent bereits auf 3,2 Prozent heraufgesetzt. Der IWF sieht darüber hinaus für Europa gute Möglichkeiten für eine Phase lang anhaltenden Wirtschaftswachstums. Auch und gerade in Deutschland hat sich die konjunkturelle Entwicklung verstetigt und an Dynamik gewonnen. Die Prognosen der Forschungsinstitute gehen für dieses Jahr von einem Wirtschaftswachstum von bis zu 2,7 Prozent aus. Es gibt sogar Institute, die mit einem höheren Wachstum rechnen. Besonders wichtig dabei ist: Der konjunkturelle Aufschwung hat jetzt endlich den Arbeitsmarkt erreicht. Im März hat sich die positive Entwicklung der vergangenen fünf Monate fortgesetzt. Wie schon im Februar sind auch im März die Arbeitslosenzahlen auf dem niedrigsten Stand seit 1996, meine Damen und Herren. ({28}) Mit 4,14 Millionen registrierten Arbeitslosen gab es im März 136 000 Arbeitslose weniger als im Februar. Das Vorjahresniveau, ist damit um 148 000 deutlich unterBundeskanzler Gerhard Schröder schritten. Die Arbeitslosenquote ist auf 10,6 Prozent gefallen. Sie ist in den vergangenen Monaten kontinuierlich gesunken. Gleichzeitig ist die Erwerbstätigkeit im Januar 2000 - über neuere Daten verfügen wir noch nicht - saisonbereinigt um 37 000 gestiegen. Die positive Entwicklung der Vormonate hat sich damit verstärkt. Auch im Vorjahresvergleich gibt es heute 20 000 Erwerbstätige mehr. Dies ist eine Entwicklung, meine sehr verehrten Damen und Herren, die auch die Opposition anerkennen und nicht kaputtreden sollte. ({29}) In Westdeutschland sind die Auswirkungen des Aufschwungs auf die Beschäftigung schon deutlich zu spüren. Die Zahl der Arbeitslosen wird im Vergleich zum Vorjahresmonat um mehr als 200 000 unterschritten und beträgt damit noch 2 691 000. Ich sage es noch einmal: Das ist seit fünf Jahren der niedrigste März-Wert. ({30}) Auf der anderen Seite haben wir zu beklagen, dass sich diese Entwicklung in Ostdeutschland leider noch nicht eingestellt hat. Die Zahl der Arbeitslosen ist im Vergleich zum Februar zwar um 30 000 gesunken, im Vorjahresvergleich aber um 59 000 gestiegen. Niemand bedauert das mehr als die Bundesregierung. Es ist aber auch wichtig, diese Zahl richtig zu bewerten, damit nicht die falschen Schlüsse daraus gezogen werden. Ich möchte deshalb auf eines hinweisen: Die Zahl der Teilnehmer an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, ABM, Weiterbildungs- oder Strukturanpassungsmaßnahmen, in Ostdeutschland ist im März dieses Jahres im Vergleich zum März 1999 um mehr als 155 000 gesunken. Man kann die Arbeitslosigkeit - ich sage es noch einmal -, die in Ostdeutschland bedauerlich hoch ist, überhaupt nur richtig einschätzen, wenn man sich diese Zahl und die Gründe für diese Entwicklung vor Augen führt. Was ist passiert, meine Damen und Herren? Die Regierung meines Vorgängers Herr Kohl hat gegen Ende ihrer Amtszeit aus für den einen oder anderen durchschaubaren Motiven massiv die Arbeitsbeschäftigungsmaßnahmen im Osten ausgeweitet. Heute, nachdem die Wahlkampf-ABM ausgelaufen sind ({31}) - so ist das gewesen, meine Damen und Herren -, ({32}) spüren wir die Nachwirkungen dieser kurzatmigen und im Übrigen ziellosen Politik. ({33}) Die Maßnahmen haben den beteiligten Menschen gerade keine dauerhafte Perspektive eröffnet. ({34}) Wir hingegen verstetigen die aktive Arbeitsmarktpolitik auf einem hohen Niveau und werden damit den Menschen mit wirksamen Maßnahmen auch auf Dauer eine Perspektive und eine echte Chance geben. ({35}) Die Finanz-, die Wirtschaftspolitik und die Verstetigung in diesem Sektor werden - ich bin da zuversichtlich - dazu führen, dass die konjunkturelle Aufwärtsentwicklung die Lage auf dem ersten Arbeitsmarkt, um den es in erster Linie geht, auch in Ostdeutschland verbessert und dass die Arbeitslosenquote auch in Ostdeutschland sinken wird. Wie sehen die Perspektiven für den weiteren Jahresverlauf aus? Die konjunkturelle Belebung aus dem letzten Quartal 1999 setzt sich zu Beginn dieses Jahres fort. Die Dynamik des Aufschwungs nimmt weiter zu. Das wirtschaftliche Umfeld stimmt. Investoren und Konsumenten hegen positive Erwartungen. Dass diese Entwicklung die Opposition noch nicht ganz erreicht hat, ist schade, ({36}) aber wohl kurzfristig nicht zu ändern. ({37}) Die Tarifpartner in der Chemieindustrie, in der Bauwirtschaft genauso wie in der Metallindustrie haben übrigens im Sinne der Vereinbarungen des Bündnisses fürArbeit Tarifverträge abgeschlossen. Zu dieser Entwicklung ein Wort: Aus Ihren Reihen, meine Damen und Herren von der Opposition, insbesondere von der kleineren Oppositionspartei ({38}) - nein, ich habe nicht die PDS gemeint, Herr Repnik, sondern die F.D.P.; die gibt es auch noch -, habe ich, was die Beratungen des Bündnisses für Arbeit und dessen Funktion angeht, ein Jahr lang nur Häme gehört. ({39}) Wenn Sie gleichermaßen politischen Verstand und die Bereitschaft zur Selbstkritik hätten, würden Sie sich hier einmal hinstellen und sagen: Wir haben nicht Recht gehabt. - Es ist völlig unverkennbar, dass nicht nur, aber dass auch die Beratungen des Bündnisses für Arbeit - so die Einlassungen aller Beteiligten - mit dazu beigetragen haben, ({40}) dass wir im Bereich der Metallindustrie, der Chemieindustrie und der Bauwirtschaft gesamtwirtschaftlich vertretbare, vernünftige Tarifabschlüsse bekommen haben, die die Aufschwungtendenzen in Deutschland kräftigen werden und deshalb positive Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt hervorrufen werden. ({41}) Es wäre deshalb ganz im Sinne der weiteren ökonomischen und sozialen Entwicklung des Landes, wenn der hämische Umgang mit dem Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit jedenfalls in diesem Hause aufhört, denn die Erfolge sind unverkennbar. Wir werden daran arbeiten - das wird auch in Zukunft nicht einfach sein, das ist gar keine Frage -, dass dieser Weg in Deutschland fortgegangen wird. Es ist gleichermaßen ein Weg der ökonomischen Vernunft und des sozialen Ausgleichs in Deutschland. ({42}) Wir müssen miteinander dafür sorgen und wir werden auch dafür sorgen, dass in dem beginnenden Aufschwung, der nach dem Urteil aller einschlägigen Institute ein dauerhafter sein kann und die nächsten Jahre bestimmen wird, die Beschäftigungsorientierung im Vordergrund steht. Die Wirtschaft und die Investoren können für die nächsten zwei Jahre mit verlässlichen Rahmenbedingungen rechnen. Ich bin sicher, dass wir unser im Jahreswirtschaftsbericht 2000 gestecktes Ziel erreichen. Die Zahl der Arbeitslosen wird im Durchschnitt des laufenden Jahres um 200 000 Personen zurückgehen. Das ist nicht genug, das weiß auch ich. Wenn ich mir aber die Kritik aus der Opposition anschaue, die Kritik der Seienden und der Designierten, dann muss ich doch darauf hinweisen: In die Zeit Ihrer Regierung fällt dauerhaft steigende Arbeitslosigkeit, ({43}) in die Zeit unserer Regierung fällt dauerhaft sinkende Arbeitslosigkeit. ({44}) - So ist das, meine Damen und Herren. Ich will mich ja nicht auf zu viele Quellen berufen und auch nicht sagen, dass die von mir angeführten Personen immer Recht haben, aber in einem Punkt hat der Hauptgeschäftsführer des BDI Recht: Wir werden auch nach 2002 weiter regieren. ({45}) Der Aufschwung in Deutschland, die konjunkturelle Entwicklung in der Europäischen Union und die Ergebnisse des Europäischen Rates von Lissabon zeigen eines deutlich: Die Politik auf europäischer wie auf nationalstaatlicher Ebene wird Europa auf dem Weg in die Informations- und Wissensgesellschaft voranbringen. Wir werden gemeinsam dafür sorgen, dass dieser Fortschritt in die Informationsgesellschaft Wohlstand und Beschäftigung mehrt, die Lebensqualität in Europa und in Deutschland verbessert und auf diese Weise die Zukunft unserer Kinder und unserer Enkel sichert. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({46})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Friedrich Merz, Vorsitzender der Fraktion der CDU/CSU.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da dies heute mein erster Beitrag in neuer Funktion ist, möchte ich zunächst die Gelegenheit nutzen, den zahlreichen Kolleginnen und Kollegen, die mir gratuliert haben, herzlich zu danken, insbesondere allen Kollegen Fraktionsvorsitzenden aus diesem Haus. Ich habe mich darüber gefreut. Ich nehme die Einladung gern an, den Deutschen Bundestag auch in Zukunft zum Ort der fairen, aber auch harten parlamentarischen Auseinandersetzung zu machen. ({0}) Eines der großen Themen nicht nur unseres Landes aber besonders unseres Landes - ist die weitere Entwicklung in der Europäischen Union. Herr Bundeskanzler, Sie haben eine Regierungserklärung zu einem Gipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs abgegeben. Lassen Sie mich zu diesem Gipfel eine Vorbemerkung machen. In Lissabon hat die Gemeinschaft ihre Politik der Isolierung Österreichs fortgesetzt und noch einmal bestätigt. ({1}) Wir konnten gleichzeitig am Dienstagabend Fernsehbilder einer freundlichen Begegnung von Ihnen, Herr Bundeskanzler, mit dem libyschen Staatschef Gaddafi sehen. ({2}) Wie zu hören und zu lesen ist, bemühen Sie sich offenbar um eine Zusage von Fidel Castro, den Sie als Gast zur Weltausstellung EXPO nach Hannover eingeladen haben. Wie können Sie es eigentlich erklären, dass Sie einen der letzten kommunistischen Despoten dieser Welt als Staatsgast nach Deutschland einladen? ({3}) Zum selben Zeitpunkt tragen Sie persönlich ganz maßgeblich dazu bei, dass eine demokratisch gewählte Regierung eines Mitgliedstaates der Europäischen Union fortgesetzt ausgegrenzt und in geradezu kindischer - um nicht zu sagen: pubertärer - Art und Weise geschnitten wird. Wie können Sie das erklären? ({4}) Stellen Sie sich einmal vor, die frühere Regierung hätte den französischen Staatspräsidenten wegen der Beteiligung der Kommunisten an der Regierung in Frankreich so behandelt und gleichzeitig General Pinochet zur Hannover-Messe nach Deutschland eingeladen. ({5}) Damit keine Missverständnisse entstehen: Niemand von uns hat etwas mit Haider und der FPÖ gemeinsam. Niemand von uns kann sich über das Wahlergebnis in Österreich freuen.Aber dieser ganze Vorgang - er hält an der Ausgrenzung und Isolierung ist und bleibt ein eklatanter Verstoß gegen den EU-Vertrag. Er bleibt eine politische Dummheit ohnegleichen; ({6}) denn alles, was Sie sich im Europäischen Rat und in der Europäischen Union, Herr Bundeskanzler, mit Regierungskonferenz und Erweiterung der Gemeinschaft vorgenommen haben, bedarf der einstimmigen Zustimmung aller Mitgliedstaaten und damit eben auch der Zustimmung der Republik Österreich. Irgendwann müssen Sie aus dieser Sackgasse wieder herauskommen, in die Sie sich hineinmanövriert haben. ({7}) Lassen Sie mich zum eigentlichen Inhalt des so genannten Beschäftigungsgipfels in Lissabon kommen und zunächst eine grundsätzliche Feststellung treffen. Es hat ja durchaus seinen Sinn, dass in der Europäischen Union - und zwar zuförderst in den Institutionen: im Parlament, im Rat und in der Kommission - über die anhaltende Beschäftigungskrise in der Europäischen Union - ich muss wohl genauer sagen: in einigen bestimmten Mitgliedstaaten der Europäischen Union - gesprochen wird. Der Vertrag von Amsterdam enthält dazu ein eigenes Kapitel. Die Gemeinschaft ist nur für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik in den Mitgliedstaaten zuständig, aber nicht für politische Entscheidungen im Einzelnen und auch nicht für die operative Politik selbst. Dies muss klar sein und muss im Kern so bleiben. Denn wenn der Gemeinschaft die Beschäftigungspolitik übertragen würde, müsste sie scheitern, da alle Versuche einer zentralen Lösung scheitern müssen. ({8}) Herr Bundeskanzler, diese Konsequenz müsste eigentlich ein deutscher Bundeskanzler mit besonderem Nachdruck vertreten, weil wir in Deutschland mit dezentraler Verantwortung, mit einem ausgeprägt föderalen Staatsaufbau und mit regionaler Zuständigkeit gute Erfahrungen gemacht haben. ({9}) Die erste Frage, die wir Ihnen daher stellen, lautet: Wie soll denn nach den sehr ehrgeizigen Zielen, die in Lissabon aufgestellt worden sind, die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten in Zukunft konkret aussehen? Soll die Europäische Union wirklich die Verantwortung an sich ziehen, nicht nur Wachstums-, sondern auch Beschäftigungsziele zu formulieren und diese dann auch durchzusetzen? Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, dies bejahen, dann entspricht dies Ihrer Haltung, die Sie auch in Deutschland zum Thema Föderalismus und Wettbewerb einnehmen. Sie wollen ja auch schon in Deutschland den Wettbewerb zwischen den Ländern möglichst vermeiden. Sie misstrauen in Wahrheit zutiefst dem Wettbewerb. ({10}) Dies wird leider auch in Ihrer Haltung zum Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union deutlich. ({11}) Herr Bundeskanzler, es war höchst aufschlussreich, dass das Wort Wettbewerb in Ihrer Regierungserklärung nicht ein einziges Mal vorgekommen ist. ({12}) Wer aber den Wettbewerb nicht will, wer auf zentralistische Lösungen setzt, erhöht die Fehleranfälligkeit. ({13}) - Entschuldigung, das Wort Wettbewerb ist für Sie bezogen auf den Wettbewerb zwischen den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland und auch in der Europäischen Union - offenkundig mehr und mehr zu einem Fremdwort geworden. Wettbewerb ist aber das zentrale Ordnungselement in einer Marktwirtschaft, auch in der Europäischen Union. ({14}) Wer den Wettbewerb nicht will, wer auf zentralistische Lösungen setzt, erhöht die Fehleranfälligkeit, da er das notwendige Korrektiv ausschaltet, im Wettbewerb zu bestehen oder eben nicht zu bestehen. Nur Wettbewerb, auch und gerade zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, schafft wirklich Innovation und damit Wachstum und Beschäftigung. ({15}) Besorgnis erregend ist nicht nur die Sprache, ({16}) sondern mehr noch, was da aufgeschrieben wurde. ({17}) Ich will Ihnen deshalb aus den Schlussfolgerungen des Rates von Lissabon eine Passage vortragen, die den Geist der Europapolitik zu Beginn des Jahres 2000 wie kaum eine andere dokumentiert. Da heißt es: Die Umsetzung der Strategie wird mittels der Verbesserung der bestehenden Prozesse erreicht, wobei eine neue offene Methode der Koordinierung auf allen Ebenen, gekoppelt an eine stärkere Leitungsund Koordinierungsfunktion des Europäischen Rates, eingeführt wird, die eine kohärentere strategische Leitung und eine effektive Überwachung der Fortschritte gewährleisten soll. ({18}) Es geht weiter: Der Europäische Rat wird auf einer im Frühjahr eines jeden Jahres anzuberaumenden Tagung ({19}) die entsprechenden Mandate festlegen und Sorge dafür tragen, dass entsprechende Folgemaßnahmen ergriffen werden. ({20}) Herr Bundeskanzler, das ist die Sprache europäischer Bürokraten und nicht europäischer Politik. ({21}) In der Sache selbst kommt in dieser Sprache zum Ausdruck: Sie setzen offenkundig in der Europäischen Union in Zukunft stärker auf den intergouvernementalen Ansatz und weniger auf die Gemeinschaftspolitik. ({22}) Dies hat Konsequenzen, die offensichtlich auch Ihnen gar nicht so richtig bewusst geworden sind. Die britische Regierung hat sich heute klar und eindeutig - gerade in dieser Woche war es notwendig - hinter den Präsidenten der EU-Kommission gestellt und hat die Kommission gestärkt. Von Ihnen war in der Regierungserklärung zur Kommission und ihrem Präsidenten kein Wort zu hören. Das ist aufschlussreich, Herr Bundeskanzler. ({23}) Aber unterstellen wir, dass dies nun alles richtig wäre. Ich frage Sie einmal aus dem Blickwinkel anderer, auch benachbarter Staaten: Was sollen beispielsweise Länder wie die Niederlande, Dänemark, Luxemburg, Österreich, Portugal, Irland und auch Großbritannien eigentlich für ein Interesse daran haben, mit der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam in Europa Beschäftigungspolitik zu machen? In den genannten Ländern liegt die Arbeitslosigkeit nämlich mittlerweile um 4 Prozent, zum Teil bei 3 Prozent. Diese Länder haben ihre Beschäftigungsprobleme im Wesentlichen gelöst, ({24}) und zwar nicht europäisch, sondern in nationaler Kraftanstrengung und weil sie sich dem Wettbewerb gestellt haben. ({25}) Weil ich natürlich diese Zwischenrufe erwartet habe, lassen Sie mich zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland ein Wort sagen. Es ist schon ein ziemlich dreistes Stück, sich hier hinzustellen und zu sagen, während der gesamten Regierungszeit von Helmut Kohl sei die Arbeitslosigkeit in Deutschland nur gestiegen und während Ihrer Regierungszeit nur gesunken. Herr Bundeskanzler, zur Erinnerung, damit Sie das Gedächtnis nicht völlig trügt und verlässt: In den Jahren zwischen 1982 und 1990, also in knapp zehn Jahren, ist die Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland um 3,2 Millionen gestiegen. Einen solchen Zuwachs an Beschäftigung hat es in der Bundesrepublik Deutschland noch nie zuvor gegeben. ({26}) Wie bescheiden Sie mittlerweile geworden sind, konnte man an Ihrer Rede heute Morgen auch erkennen. Sie verweisen jetzt darauf, dass im ersten Jahr Ihrer Regierungstätigkeit die Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland im Jahresdurchschnitt um 20 000 Personen gestiegen sei. ({27}) Herr Bundeskanzler, wenn Sie bei 4,2 Millionen Arbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Beschäftigungszuwachs von 20 000 Personen zufrieden sein wollen, dann müssen Sie allein zur Halbierung der Arbeitslosigkeit in Deutschland 105 Jahre regieren. Das werden Sie gewiss nicht schaffen. ({28}) Genauso unzutreffend - um nicht zu sagen: unwahr ist Ihre Behauptung im Hinblick auf die so genannte Wahlkampf-ABM in den neuen Bundesländern. Auch hierzu ganz einfach und nüchtern die Zahlen: ({29}) - Die interessieren Sie nicht, ({30}) aber ich werde sie trotzdem nennen, auch wenn Sie versuchen, mich daran zu hindern. ({31}) Meine Damen und Herren, im Jahre 1998 - das war das letzte Regierungsjahr von Helmut Kohl - lagen die Ausgaben für so genannte aktive Beschäftigungspolitik in Deutschland insgesamt bei 39 Milliarden DM, im ersten Jahr Ihrer Regierungstätigkeit, 1999, bei 44,5 Milliarden DM. Das war eine Steigerung um 5,5 Milliarden DM. Im zweiten Jahr Ihrer Regierungstätigkeit, in diesem Jahr 2000, steigern Sie die Ausgaben für aktive Beschäftigungspolitik weiter auf 46 Milliarden DM. Das sind 7 Milliarden DM mehr als im letzten Regierungsjahr der alten Regierung. ({32}) Sie können doch wohl nicht im Ernst behaupten, dass Sie die Ausgaben für aktive Beschäftigungspolitik zurückgefahren haben, nur weil es im Jahr 1998 Ausgaben für Beschäftigungspolitik in den neuen Bundesländern gegeben hat. ({33}) Sie haben das in den neuen Bundesländern übrigens mit ziemlich linker Hand behandelt. ({34}) Die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern hat ganz unabhängig davon, dass Sie auch dort die Ausgaben für so genannte aktive Beschäftigungspolitik gesteigert haben, erneut deutlich zugenommen. Die neuen Bundesländer geraten in die Gefahr, selbst vom wirtschaftlichen Aufschwung, vom konjunkturellen Aufschwung im Westen so weit abgekoppelt zu werden, dass sie auf mittlere und längere Sicht keine Perspektive haben, das Beschäftigungsproblem gelöst zu bekommen. ({35}) Dies ist das eigentliche Problem, das Sie in Ihrer Regierungserklärung mit linker Hand abgehandelt haben. ({36}) Nun haben sich auch die Bedingungen für mehr Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland nicht unbedingt verbessert. Wahr ist: Wir werden im laufenden Jahr ein höheres wirtschaftliches Wachstum haben. ({37}) - Das tut uns überhaupt nicht Leid. Wir begrüßen das ausdrücklich. Sie werden aber im Jahr 2000 vermutlich noch nicht einmal ein wirtschaftliches Wachstum in der Höhe erreichen, in der es im letzten Jahr der alten Regierung gab. ({38}) Da waren es 2,8 Prozent. Sie sprechen jetzt von 2,7 Prozent - à la bonne heure! Aber die Bedingungen für mehr Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland haben sich damit nicht verbessert. Denn Sie haben zu verantworten, dass die Staatsquote in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1999 erneut auf 49 Prozent gestiegen ist. Wir haben mit einer Abgabenquote von 43 Prozent im Jahre 1999 einen historischen Höchststand erreicht. Glauben Sie denn im Ernst, dass die Beschäftigungsprobleme in Deutschland mit höherer Staatsquote und höherer Abgabenquote zu lösen sind? ({39}) Lassen Sie mich zum Inhalt des so genannten Beschäftigungsgipfels zurückkehren, ({40}) den Sie zum „Internet-Gipfel“ hochstilisiert haben. Wir brauchen in Deutschland ohne Zweifel auch und gerade bei den neuen Technologien einen kräftigen Schub, insbesondere bei den Informationstechnologien. Aber Ihr Vorwurf, den Sie auch heute hier erneuert haben, an unseren Kollegen Jürgen Rüttgers, ({41}) dass er das alles verschlafen habe und Sie erst alles erfunden hätten - ({42}) - Sie klatschen etwas zu früh. Der damalige Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Dr. Jürgen Rüttgers, hat im Jahre 1997 allein vier neue IT-Ausbildungsberufe in die Handwerksordnung aufge-nommen. Zum selben Zeitpunkt befanden Sie sich, Herr Bundeskanzler, damals noch als Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, in einem Rechtsstreit mit der Hochschule Hildesheim, an der Sie die Studiengänge für Informatik und Wirtschaftsmathematik geschlossen haben. Das ist die historische Wahrheit! ({43}) Die Hochschule Hildesheim hat sich gegen diesen Verwaltungsakt der Regierung Schröder erfolgreich zur Wehr gesetzt. Im Jahre 1999 hat die Universität den Rechtsstreit gewonnen. Aber Ihr Nachfolger in Niedersachsen hat es bis heute nicht für notwendig befunden, diese Studiengänge an der Universität Hildesheim wieder zu eröffnen. ({44}) Wenn Sie dann wörtlich behaupten: „In Deutschland haben wir die Initiative ‚Schulen ans Netz‘ auf den Weg gebracht“, ist das wirklich eine Dreistigkeit. Denn diese Initiative, Herr Bundeskanzler, hat Dr. Jürgen Rüttgers auf den Weg gebracht und ganz gewiss nicht Sie. ({45}) - Auf Ihre Zwischenrufe, Herr Kollege Schmidt, muss ich sagen: Ende des Jahres 1998 sind bereits 10 000 Schulen in Deutschland am Netz gewesen. Da haben Sie noch gar nicht regiert. ({46}) Sie haben hier auch etwas zu dem Thema ausländische Fachkräfte in der Bundesrepublik Deutschland gesagt. Ich will aus meiner Sicht noch einmal ausdrücklich betonen: Bevor wir in der Bundesrepublik Deutschland in diesem Zusammenhang über Einwanderung und Zuwanderung reden, ist es doch wohl angemessen, einmal darüber zu sprechen - und, wenn notwendig, auch zu streiten -, wie eigentlich die Bedingungen sein müssten, damit in Deutschland bei 4,3 Millionen Arbeitslosen freie Arbeitsplätze besetzt werden können. Deswegen lassen wir einmal den ganzen Streit um die von Ihnen vorgeschlagenen Einwanderungsregeln außer Betracht, Herr Bundeskanzler. Die eigentliche Frage lautet doch: Was sind die Bedingungen eines Marktes - unabhängig von der Nationalität der dort Beschäftigten - damit neue Chancen wirklich wahrgenommen werden können und neuen Unternehmen in jungen Branchen eine Zukunft gegeben werden kann? ({47}) Ich will Ihnen Beispiele nennen. In den USA hat ganz ohne Zweifel ein weitgehend deregulierter Arbeitsmarkt zur schnellen Entwicklung auch und gerade der ITBranche beigetragen. Ist die Bundesregierung also bereit, das sehr dichte Netz der arbeitsrechtlichen Regeln in Deutschland wenigstens daraufhin zu überprüfen, ob dieses Neugründungen von Unternehmen und Einstellungen in Unternehmen eher fördert oder eher behindert? Oder stimmen Sie der Analyse zu, Herr Bundeskanzler, dass das deutsche Tarif- und Betriebsverfassungsrecht bei diesen schnell wachsenden Märkten und Unternehmen in vielerlei Hinsicht eher einen Hemmschuh als einen Standortvorteil darstellt? ({48}) Ich will es ganz konkret machen: Sind Sie bereit, wenigstens das Tarifvertragsrecht in der Weise zu ändern, dass Abweichungen von Tarifverträgen gesetzlich zulässig sind, wenn Belegschaft und Unternehmensführung dies befürworten, um zum Beispiel einen höheren Beschäftigungsstand miteinander zu vereinbaren? Offenkundig lehnen Sie solche wirklich innovativen Schritte zur Flexibilisierung unseres Arbeitsmarktes ab, ({49}) führen aber ständig Worte wie „makroökonomischer Dialog“, „Erneuerung des sozialen Modells“, „Innovation“, „Modernisierung“, „Veränderung“, „Aufbruch in das 21. Jahrhundert“ und viele andere im Mund. Aber dann bitte konkret: Welche Richtung und welche Innovation und Modernisierung sind gemeint, Herr Bundeskanzler? Worin besteht denn der Aufbruch in das 21. Jahrhundert? Sind Sie bereit, so wie die Niederländer Anstöße zu geben, den Bildungssektor grundlegend zu reformieren, Verantwortung an die Schulen und Hochschulen zu delegieren und sie gleichzeitig im Sinne von Benchmarking dem Wettbewerb auszusetzen? Sind Sie bereit, ein besonders eklatantes Beispiel der ganzen Widersprüchlichkeit Ihrer Politik zu beseitigen und zum Beispiel die Verlustverrechnung zwischen verschiedenen Einkunftsarten wieder zuzulassen? Diese Regelung im Einkommensteuergesetz trägt nämlich bis heute und unverändert die Handschrift der orthodoxantikapitalistischen Finanzpolitik von Oskar Lafontaine. ({50}) Herr Bundeskanzler, wenn Sie wirklich im Sinne der New Economy und im Sinne des Beschäftigungsgipfels von Lissabon in Deutschland etwas tun wollen, dann sollten Sie schleunigst dafür sorgen, dass junge Unternehmen Anlaufverluste in den ersten Jahren wieder voll mit anderen Einkünften verrechnen können. Wenn Sie dies nicht tun, dann bleibt die Beschreibung von Mut und Dynamik, die Sie, Herr Bundeskanzler, gerade jungen Menschen auf dem Weg in die Selbstständigkeit wünschen, allenfalls Wunschdenken und in Wahrheit nur floskelhaftes politisches Gerede. ({51}) Meine Damen und Herren, die Detailbesessenheit einer zentralistisch angelegten Beschäftigungspolitik ({52}) verstellt offenkundig den Blick darauf, worum es in Europa wirklich geht: Die Europäische Union steht vor der größten Erweiterung ihrer Geschichte und zuvor in der zwingenden Notwendigkeit, sich darauf vorzubereiten, sich selbst erweiterungsfähig zu machen. Wir unterstützen das Ziel der Erweiterung der EU und wollen, dass sie Erfolg hat. Deshalb werden wir die VerFriedrich Merz handlungen auch künftig konstruktiv begleiten. Wir haben gleichzeitig klare Vorstellungen darüber, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit dieses ehrgeizige und wichtige Projekt auch tatsächlich gelingt. Wir warnen davor, die Schwierigkeiten dieser Aufgabe sowohl auf der Seite der Mitgliedstaaten der Europäischen Union als auch auf der Seite der Beitrittskandidaten zu unterschätzen. ({53}) In unserem Antrag vom 30. November 1999 zum Europäischen Rat von Helsinki haben wir ausführlich beschrieben, wie wir uns die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union und die Beitrittsfähigkeit der künftigen Mitglieder vorstellen. Ich hielte es für wünschenswert, dass wir auch und gerade im Interesse der Menschen in Deutschland, die wir von manchem Schritt erst noch überzeugen müssen, die wir für diese Erweiterung erst noch gewinnen müssen, ({54}) über die Erweiterung im Konsens entscheiden. Das Gleiche gilt für die Regierungskonferenz. Wir wollen, dass die Regierungskonferenz erfolgreich ist; denn sie ist die Voraussetzung für die Erweiterung. Deshalb können wir uns auch nicht auf die Vorstellung einlassen, die Regierungskonferenz müsse nur diejenigen Fragen lösen, zu denen es in Amsterdam noch keine Verständigung gab. Herr Bundeskanzler, das ist wichtig. Denn die Begrenzung der Anzahl der Kommissare, die Stimmengewichtung im Rat und auch die Frage der Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen, sind alles wichtige Fragen der institutionellen Reformen. Aber dies sind bei weitem nicht die einzigen und aus meiner Sicht auch nicht die wichtigsten. Deshalb stelle ich hier - damit es keinerlei Zweifel gibt - für unsere Fraktion fest: Diese Regierungskonferenz muss den Einstieg in eine verbindliche Klarstellung im Hinblick auf die Kompetenzabgrenzung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten schaffen. Die Notwendigkeit hierfür wird nicht einmal in der EU-Kommission selbst infrage gestellt. Diese Frage hat ganz unmittelbar etwas zu tun mit dem, was Sie in Lissabon beschlossen haben. Wenn die Europäische Union nämlich weiter voranschreitet auf dem Weg in die Zentralisierung, in die Anmaßung von Zuständigkeiten, die weit besser in den Mitgliedstaaten und in föderal strukturierten Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland in den Ländern und auf kommunaler Ebene ausgeübt werden, dann wird das Projekt Europa die Zustimmung bei den Bürgerinnen und Bürgern auch unseres Landes verlieren. Bei allen wohlklingenden Beschlüssen, Forderungen und Formulierungen haben Sie, Herr Bundeskanzler, nämlich eines - vermutlich ganz unbewusst - sehr deutlich werden lassen: Die Schlussfolgerungen von Lissabon und Ihre Regierungserklärung dazu sprechen unverändert die Sprache moderner Technokraten. ({55}) Die politische Perspektive, was aus Europa werden soll ich sage nur stichwortartig: Regierungskonferenz und Osterweiterung - und wie es eine dauerhafte politische Ordnung für Europa im Sinne einer gesamteuropäischen Friedens- und Freiheitsordnung geben kann, gerät Ihnen, aber leider auch vielen anderen Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union immer mehr aus dem Blickfeld. ({56}) Ich sage Ihnen zum Schluss: Es ist nicht die technische Anleitung für Computer, die in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts aus Europa das gemacht hat, was es heute ist. Es sind der europäische Geist und die europäische Vision von Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Helmut Kohl, Francois Mitterrand und vielen anderen, aus denen jetzt eine Agenda für die erste Hälfte des neuen Jahrhunderts entstehen müsste, und zwar in enger Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich. ({57}) Aber von deutsch-französischen Initiativen ist seit dem Amtsantritt dieser Regierung genauso wenig zu sehen und zu hören wie von durchdachten langfristigen europäischen Strategien. ({58}) Die innenpolitische Wirkung, die Wirkung in den Medien, ist Ihnen offenkundig noch immer wichtiger als eine Vorstellung davon, was aus Europa im 21. Jahrhundert werden soll! ({59}) Computer aber, so wichtig sie auch sind, meine Damen und Herren - ich persönlich verstehe davon mindestens genauso viel wie Sie, Herr Bundeskanzler -, ({60}) ersetzen auch im 21. Jahrhundert nicht die notwendigen politischen Konzepte. ({61}) Herzlichen Dank. ({62})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion, Peter Struck, das Wort.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

({0}) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Merz, ich habe Ihnen nach Ihrer Wahl angeboten, freundlich, fair und konstruktiv zusammenzuarbeiten. Dieses Angebot gilt nach wie vor, obwohl ich nach dieser Rede von Ihnen leichte Zweifel bekommen habe. Sie haben nämlich zur Europapolitik einen Popanz nach dem anderen aufgebaut und sie dann umgehauen, mit der Realität hatte das überhaupt nichts zu tun. ({1}) Die Antworten, die Sie gegeben haben, scheinen mir im Übrigen relativ unklar zu sein. Für uns Sozialdemokraten ist klar, dass es bei jenem Konsens bleibt, der uns alle seit Beginn der Europapolitik in unserem Hause ausgezeichnet hat: Dreh- und Angelpunkt unserer Europapolitik ist die tiefe Überzeugung, dass die europäische Integration im ureigenen deutschen Interesse liegt. Ich habe allerdings den Eindruck, Herr Kollege Merz, dass Sie davon abgehen wollen. Sie wollen, wahrscheinlich auf Weisung der Staatskanzlei in München, einen anderen Weg gehen. Dem „Spiegel“ haben Sie kürzlich gesagt: Ich bin mir mit Stoiber völlig einig, dass das Europa-Thema nicht mehr so behandelt werden kann wie in den letzten Jahrzehnten. Damit kündigen Sie unseren Konsens auf. Sie wollen eine neue - wie wir meinen: falsche - Europapolitik. ({2}) Es geht Ihnen gar nicht mehr um Europa; es geht Ihnen nur noch darum, Brüssel in deutsche Wahlkämpfe hineinzuziehen. Ich sehe mit hohem Interesse Altbundeskanzler Helmut Kohl hier sitzen. Herzlich willkommen im Plenarsaal, Herr Kollege Kohl! Wir haben Sie lange vermisst. ({3}) Ich würde mich freuen, Herr Kollege Kohl, da Sie schon einmal mehrere Zwischenfragen bei einer Rede von mir gestellt haben, wenn Sie sich dazu auch jetzt entschließen könnten, ({4}) etwa in der Weise, dass Sie fragen, ob ich mit Ihnen einer Meinung bin, dass die Europapolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte richtig war und dass der Kollege Merz die Union und die Unionsfraktion auf einen falschen Weg bringen will. ({5}) Natürlich lässt es sich nicht vermeiden - das kann ich verstehen -, dass die Opposition an dem Gipfel von Lissabon herumkritisiert. Es allerdings so darzustellen, als habe Schröder das alles ganz alleine beschlossen, was da aufgeschrieben ist, würde die Kraft des Bundeskanzlers, die ich, wie er weiß, sehr hoch schätze, doch deutlich überschätzen. ({6}) Es sind einstimmige Beschlüsse gewesen, an denen auch Konservative mitgewirkt haben. Ihre Kritik geht also absolut fehl. ({7}) - Wenn Sie die Sprache kritisiert haben - Sie haben das getan -: Glauben Sie, dass es unter Kohl und den anderen, die Europapolitik und -gipfel gemacht haben, eine andere Sprache gegeben hätte? Das ist nun wirklich ein künstlicher Gegensatz, den ich überhaupt nicht nachvollziehen kann - nach dem Motto: Ich muss irgendetwas finden, was ich bemeckern kann. Diese Sprache gab es vorher auch. Die Ergebnisse von Lissabon können sich sehen lassen. Sie bringen Europa näher zusammen und nach vorne. Die vereinbarten wirtschaftspolitischen Zielvorgaben von 3 Prozent Wachstum und 70 Prozent Erwerbstätigenquote sind richtig gewählt. Die Beschäftigungspolitik rückt in den Vordergrund. Die Vollbeschäftigung als langfristiges Ziel der Europäischen Union zu formulieren war und ist richtig und ist auch unsere Politik hier in Deutschland. ({8}) Herr Merz, Sie haben diese Zielvorgaben mit der Bemerkung kritisiert, dass sich Wachstum nicht verordnen lasse. Das ist klar; das hat auch der Bundeskanzler gesagt. Aber die Politik kann Rahmenbedingungen für Wachstum schaffen. Genau das haben wir in Deutschland in dieser Koalition getan: mit der Steuerreform 2000, mit der Unternehmensteuerreform, mit dem Zukunftsprogramm, mit der Haushaltskonsolidierung. Das ist der richtige Weg. Die europäischen Staaten folgen uns auf diesem Weg. Das sollten Sie anerkennen. ({9}) Die gestern veröffentlichten Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit geben uns eindeutig Recht. Herr Bundeskanzler hat darüber gesprochen. Wachstum wird in den Beschlüssen von Lissabon nicht angeordnet. Vielmehr werden die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen definiert, unter denen ein Wachstum von 3 Prozent möglich wird. Dafür ist die Frage des Internets, die Sie, Herr Kollege Merz, so heruntergespielt haben, ganz zweifellos von besonderer Bedeutung. ({10}) Wir sind heute in Deutschland und Europa weit hinter der Entwicklung in den USA zurück. Dass hier der Gipfel von Lissabon ein Zeichen gesetzt hat - auch auf Initiative der Bundesregierung -, war dringend nötig. ({11}) Günstige Zugangsmöglichkeiten zum Internet für alle und Internetzugänge für alle Schulen bis 2001: Das sind wichtige Ziele, die uns helfen werden, diesen dringenden Nachholbedarf zu decken. ({12}) Die Ergebnisse von Lissabon bestätigen den Kurs der Bundesregierung mit dem Sofortprogramm zur Deckung des Bedarfs an IT-Fachkräften. Die Fehler der Regierung unter Kohl müssen wir jetzt aufarbeiten. Erlauben Sie, dass ich dazu etwas ausführlichere Ausführungen mache. Die Regierung Kohl hat jahrelang geschlafen. Wenn man dann so unsanft geweckt wird, hat man erst einmal keine Orientierung, weiß nicht, wo links und rechts, wo oben und unten ist ({13}) und wie es weitergehen soll. Dieses Bild bieten Sie hier: Jeder sagt etwas anderes, und manche wissen gar nicht, wovon sie reden. ({14}) Wenn ich dann auch noch höre, dass Sie heute Abend im Fernsehen und heute Morgen in der Zeitung „Die Woche“ ein Interview Ihres Altfraktionsvorsitzenden Schäuble hören bzw. und lesen können, der von „kriminellen Energien“ in Ihrer Fraktion gesprochen hat, der davon gesprochen hat, dass Beteiligte aus seiner Fraktion ihn „umbringen“ wollten - wörtliches Zitat -, dann wundert mich das Durcheinander in diesem Verein ganz und gar nicht. ({15}) Das Durcheinander gilt übrigens auch - das sei nur eine kurze Anmerkung, Herr Kollege Merz - für Äußerungen über die Rente. Ich will Ihnen klar sagen: Man kann sich als Fraktionsvorsitzender am Anfang schon einmal vergaloppieren. Auch mir ist das passiert; das will ich gern zugeben. ({16}) - Am Anfang. Aber, Herr Kollege Merz, wer den Leuten sagt, sie sollen bis 70 arbeiten und ihnen dann auch noch sagt: „Du musst deine Rente versteuern“ der muss nun ganz und gar nicht dicht sein. Das will ich Ihnen einmal ehrlich sagen. ({17}) Zurück zu den IT-Fachkräften. Es ist völlig klar: Es fehlen in Deutschland 75 000 bis 100 000 Fachkräfte. Diese Zahl wächst jedes Jahr an. Lediglich 2 400 der circa 30 000 arbeitslos gemeldeten Datenverarbeitungsfachleute sind Informatiker mit Hochschulabschluss. Bestenfalls ist in diesem Jahr mit 8 000 Hochschulabsolventen aus IT-Studieneinrichtungen zu rechnen. Gebraucht werden aber 30 000. Herr Kollege Merz, ich habe mir gedacht, dass Sie mit Sicherheit über Hildesheim und Niedersachsen reden werden. Das ist ja klar. - Sie müssen dann aber auch ein bisschen bei der Wahrheit bleiben - nicht nur ein bisschen, eigentlich muss man immer bei der Wahrheit bleiben. ({18}) Nach einer Presseveröffentlichung des niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur vom 17. März 2000 beträgt die Zahl der Informatik Studierenden im Wintersemester 1999/2000 5 700, davon 60 Prozent an Universitäten und 40 Prozent an Fachhochschulen; im Wintersemester 1995/1996 waren es 5 168 - mit Hildesheim. Sie haben aber vergessen zu erwähnen, Herr Kollege Merz, dass die niedersächsische Landesregierung - die alte unter Schröder und die neue unter Gabriel - den Studiengang Informatik aus guten Gründen von den Universitäten an die Fachhochschulen verlagert hat. ({19}) Bei den Fachhochschulen gibt es eine Steigerung von 127 Prozent. Das ist dann nämlich die Wahrheit, Herr Kollege Merz. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Struck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Klaeden?

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte. ({0})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Struck, ist Ihnen bekannt, dass das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in einer Entscheidung festgestellt hat, dass der Verwaltungsakt, mit dem die Studiengänge in Hildesheim abgezogen worden sind, nichtig ist, weil es gerade an sachlichen Gründen - die Sie gerade angeführt haben gefehlt hat? Deshalb sei es dazu gekommen, dass noch nicht einmal das nötige Ermessen ausgeübt worden sei. Sie wissen selber, dass ein Verwaltungsakt rechtswidrig sein kann, dass aber der Grad der Rechtswidrigkeit besonders hoch ist, ({0}) wenn ein Oberverwaltungsgericht dazu kommt, einen solchen Vorgang als nichtig zu bezeichnen.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege von Klaeden, ich weiß nicht, ob Sie Jurist sind, aber ich vermute es einmal. ({0}) - Na langsam, über Prädikatsexamen können wir reden, Herr Repnik. Ich weiß nicht, welches Sie haben. Damit können wir schon einmal anfangen. ({1}) Ihnen müsste eigentlich klar sein, Herr von Klaeden, dass das Oberverwaltungsgericht nicht in der Sache gegen die Landesregierung entschieden hat, sondern wegen eines Formfehlers. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Das müssen wir festhalten. Zurück zu dem Thema IT-Fachkräfte. Die Verantwortung für diesen Mangel an IT-Fachkräften in Deutschland liegt bei der alten Regierung, sie liegt aber auch bei der Wirtschaft. Das darf hier überhaupt nicht verschwiegen werden. ({2}) Es ist versäumt worden, junge Leute rechtzeitig gezielt zu fördern und auszubilden. Bereits zu Beginn der 90erJahre ist die Misere abzusehen gewesen. In der Wirtschaft hat man darauf unzureichend reagiert. Ingenieurstellen sind abgebaut, Forschungsaufträge sind ins Ausland vergeben und Ausbildung ist, wenn überhaupt, nur oft halbherzig betrieben worden. Es gab auch Zeiten, in denen die Wirtschaft Studenten an Fachhochschulen und Universitäten dringend davor warnte, ein Ingenieursstudium zu beginnen. Viele haben zu spät begriffen, dass allein das Etikett „Made in Germany“ überhaupt nicht mehr ausreichend dafür ist, dass man innovativ und erfolgreich ist. Wer jetzt den fehlenden Nachwuchs beklagt, obwohl er selbst nicht ausgebildet hat, hat selbst sehr kurzfristig gedacht. Dafür muss er sich auch deutlich kritisieren lassen. Auch wir hätten uns ein höheres Engagement der Wirtschaft gewünscht. Als Politik müssen wir jetzt das in Ordnung bringen, was sie in der Vergangenheit versäumt und auch mit zu verantworten hat. ({3}) Die Krux in der Vergangenheit ist aber gewesen - da wende ich mich wieder dem Altbundeskanzler Kohl zu -, dass den Arbeitnehmern und auch der Wirtschaft die Orientierung durch die Bundesregierung - eine Bundesregierung, die ihren Zukunftsauftrag in Sachen Bildung und Forschung überhaupt nicht ernst genommen hat -, wohin denn die Reise gehen soll, gefehlt hat. Sie haben keine langfristige Orientierung gegeben, Herr Kollege Kohl. Die neue Regierung dagegen handelt. Das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit, die Initiative D 21 und der EU-Gipfel in Lissabon belegen dies eindrucksvoll. Da ich gerade bei Ihnen bin, Herr Kollege Kohl, fällt mir doch noch etwas ein. Als die neue Bundesregierung 1998 ins Kanzleramt einzog, gab es in dieser Behörde zwei - ich wiederhole: zwei, an Fingern: zwei - Laptops, ansonsten funktionierte die Kommunikation in der Behörde über Rohrpost. ({4}) Das muss man einmal sagen. Sie schütteln den Kopf, Herr Altkanzler, aber mit Rohrpost kann man heute nicht mehr viel werden. Die Bundesregierung arbeitet jetzt viel moderner. ({5}) Die Ausbildungsplätze im IT-Bereich werden auf 60 000 erhöht, die Weiterbildungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit werden auf 40 000 gesteigert, und für das Programm zur Förderung von Bildungssoftware stehen 400 Millionen DM bereit. Alle Schulen werden InternetAnschlüsse erhalten, die notwendige Hardware an den Schulen wird bereitgestellt. Die Anzahl der Hochschulabsolventen im IT-Bereich wird gesteigert und zusätzlich - aber eben nur zusätzlich: nun komme ich auf das Thema Green Card zu sprechen werden 10 000 Green Cards in diesem Jahr und 10 000 im nächsten Jahr im Bedarfsfall ausgegeben; die auf fünf Jahre befristet sind. Dass man über die Bürokratie, die damit vielleicht verbunden ist, noch reden muss, versteht sich von selbst. Die Maßnahme ist aber absolut richtig. Das ist eine Lösung für ein akutes Problem - durch eine befristete Maßnahme und kombiniert mit strukturellen Maßnahmen. Es ist eine gute und wirksame Kombination. Ich höre aus den Reihen der Union in diesem Zusammenhang, dass über Asylrecht und Verfassungsänderung gefaselt wird. Hätte Herr Rüttgers als damaliger so genannter Zukunftsminister seine Hausaufgaben gemacht, hätten wir dieses Problem heute nicht. ({6}) Herr Kollege Merz, glauben Sie eigentlich wirklich, dass Sie in Deutschland verantwortungsvoll Politik machen können, wenn Sie die Wirtschaft, immerhin Ihr ehemals wichtigster Verbündeter, in Sachen Steuerreform zu erpressen versuchen? Oder wenn Sie die Unternehmen jetzt bei dem Thema Green Card als Opportunisten beschimpfen? So kann man vielleicht in der CDU etwas werden, Herr Merz, aber ein Bündnis für Arbeit, an dem Gerhard Schröder intensiv arbeitet, würden Sie so überhaupt nicht hinkriegen. Das will ich Ihnen deutlich sagen. ({7}) Damit das allen klar ist, allen Zuhörerinnen, allen Gästen auf den Tribünen und allen Fernsehzuschauern: Die politisch Hauptverantwortlichen für Deutschlands Mangel an Informationstechnologie-Fachkräften sind heute alle hier. Sie sitzen auf der rechten Seite dieses Hauses, auf den Oppositionsbänken. ({8}) Wer grob fahrlässig die Zukunft unseres Landes verpennt und aufs Spiel gesetzt hat, hat nicht das geringste Recht, eine Regierung zu kritisieren, die handelt, und das auch noch mit einer unglaublichen Postkartenaktion. Fragen Sie doch einmal, Herr Merz, was Ihr Landsmann Rüttgers eigentlich so den lieben, langen Tag als Zukunftsminister getrieben hat. Vielleicht kann Ihnen da der „Stern“ vom 23. März weiterhelfen. Ich zitiere: Es war ein schöner Tag, richtig zum Wohlfühlen, als der Politiker sich auf seinem Chefsessel entspannte und gut gelaunt die Fragen des Mannes vom „Hamburger Abendblatt“ beantwortete. Erstaunt blickte der Reporter auf den blank gefegten Schreibtisch und fragte, ob man denn als Politiker keinen Computer brauche. Der Befragte antwortete: „Wahrscheinlich bin ich mit 45 Jahren zu alt für einen Computer.“ ({9}) Das war im Jahre 1997, und der Politiker hieß Jürgen Rüttgers. Sein Job: Zukunftsminister. ({10}) - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Und der will Ministerpräsident werden im Hochtechnologieland!) Er war wohl nicht nur für den Computer zu alt, er konnte seinen Job einfach nicht machen. Zukunftstechnologien und Ausbildung hat er nicht gefördert. Ich will das an drei kurzen Beispielen deutlich machen. Von 1982 bis 1998 ist der Anteil der Ausgaben für Bildung und Forschung im Haushalt von 4,7 auf 3,2 Prozent zusammengestrichen worden. Beim Anteil der öffentlichen Bildungsausgaben lag Deutschland unter Zukunftsminister Rüttgers auf dem letzten Platz in der OECD. Die Gesamtzahl der Ingenieurstudenten ist zwischen 1992 und 1998 um 23 Prozent zurückgegangen. Herr Rüttgers hat damit nicht nur seine eigene innovative Zukunft verpennt, ({11}) sondern auch dazu beigetragen, dass unser Land in einem der wichtigsten und arbeitsplatzintensivsten Innovationsbereiche aus eigener Kraft nicht mehr in der Lage ist, weltweit mithalten zu können. Er und die alte Bundesregierung Kohl tragen die Verantwortung. ({12}) Die Union sucht verzweifelt nach einem Ausweg, wie sie sich zu diesem Thema „Green Card“ stellen soll. ({13}) Wie kann man der eigenen Konzeptionslosigkeit und dem Schatten der Vergangenheit entrinnen? Sie greifen bekannte Rezepte aus der Mottenkiste auf: Mit polemischen und unsauberen Parolen wollen Sie Angst schüren und hoffen darauf, dass die Bevölkerung darauf hereinfällt. Auch hierzu muss man sich einfach einige Fakten vor Augen halten: Im Jahre 1997 wurden unter dem uns allen aus verschiedenen Anlässen gut bekannten Innenminister Kanther über 450 000 Arbeitserlaubnisse für in Deutschland erstmalig beschäftigte ausländische Mitbürger ausgestellt. Damals haben Sie nicht davon gesprochen, dass dies unseren Arbeitsmarkt kaputt macht. Aber jetzt, da es um die Arbeitserlaubnis für nur 10 000 IT-Spezialisten in diesem Jahr geht, schlagen Sie die populistische Alarmglocke. Das ist unanständig, meine Damen und Herren. ({14}) Ich halte es da lieber mit dem früheren Chef der Deutschen Bank, Hilmar Kopper, einem Mann, der völlig unverdächtig ist, uns nahe zu stehen. Er sagte bei der Konrad-Adenauer-Stiftung zu Jürgen Rüttgers´ Erzählungen: „Kompletter Müll!“ ({15}) Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Aber auch die eigentlich CDU-nahe Wirtschaft wird deutlich: „Undurchdacht und erbärmlich populistisch“, sagt Arbeitgeberpräsident Hundt. „Deutschland kann sich einen solchen Provinzialismus nicht leisten“, sagt BDIPräsident Henkel. Ich könnte jetzt endlos aus dem dissonanten Chor der Unionskollegen zitieren. Ich erspare Ihnen das. ({16}) - Das habe ich die ganze Zeit gemacht, Herr Kollege. Sie haben überhaupt nicht aufgepasst. ({17}) Ich rede über IT-Technologie, über den Weg ins 21. Jahrhundert. Herr Repnik, das ist Ihnen vielleicht ein bisschen fremd, aber ich habe wirklich darüber gesprochen. ({18}) Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie müssen sich jetzt entscheiden, wie Sie zu der Rüttgersnummer stehen: Mal auf Distanz gehen, mal unterstützen, heute so, morgen so, das geht nicht. Frau Merkel - nun ist sie leider nicht mehr da -, das ist nicht die Klarheit, die Sie Ihrer Basis versprochen haben. ({19}) Viele in der Union haben - wie man sieht - bis heute nicht kapiert, worum es eigentlich geht. Es geht nicht um Asylbewerber und es geht auch nicht um die Einwanderung von Ausländern. Es geht lediglich um eine kleine Gruppe von hoch bezahlten Spitzenkräften, die lieber in unserem Land als in den USA oder anderswo ihre Ideen verwirklichen sollten und die uns helfen sollten. ({20}) Auch die CDU/CSU muss doch irgendwann einmal kapieren, dass hier ein Standortproblem gelöst wird und dass alle von ihr aufgeworfenen Parolen mit diesem Problem überhaupt nichts zu tun haben. Das Pikante an der Angelegenheit Rüttgers ist übrigens, dass seine Postkartenaktion natürlich auch über Computer abgewickelt werden muss. Nun will ich dem Hohen Hause nicht vorenthalten, dass Herr Rüttgers, während er dagegen polemisiert, dass ausländische Computerexperten den Deutschen Arbeit wegnehmen, für seine Kampagne indische - ich wiederhole: indische! - Hilfe braucht. Denn für die Auswertung der Postkartenaktion bedient er sich einer Datenbank, die von einem Inder namens Umang Gupta aus Bangalore entwickelt worden ist. ({21}) - So viel, meine Damen und Herren, zum Thema Glaubwürdigkeit. Das zeigt, wohin bei Ihnen die Reise geht. Demgegenüber geht die Reise so, wie wir sie gestalten wollen, in die richtige Richtung. Die Bundesregierung hat die Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion auf dem weiteren Weg nach Europa. ({22})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000836, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeskanzler hat in Lissabon einer Erklärung zugestimmt, in der es heißt, Europa solle sich zu einem der modernsten, dynamischsten Räume des Wissens und Fortschritts entwickeln und sogar zum stärksten Wirtschaftsraum der Welt werden. Die heutige Diskussion über einen europäischen Gipfel ist eigentlich die erste, in der zu den großen Krisen in Europa kein Wort gesagt wurde: ({0}) Wir haben einen angeschlagenen EU-Präsidenten Prodi, der seinerzeit von Herrn Schröder in Berlin als „Wunderwaffe“ gepriesen wurde, wir haben nach wie vor keinen Beitrittstermin für die Osterweiterung, wir haben Stillstand bei den wichtigen institutionellen Reformen und es fiel hier kein Wort über das skandalöse Verhalten gegenüber Österreich. Demgegenüber streiten wir heute über Green Cards und Inder. Ich kann mir richtig vorstellen, wie diese Diskussion die Vereinigten Staaten von Amerika im Hinblick auf die zukünftige Wettbewerbssituation beeindruckt. Wer sich mit den Vereinigten Staaten von Amerika messen will, der muss drei Voraussetzungen erfüllen: Erstens muss er sich auch in Deutschland zu einer modernen, flexiblen, internetgestützten, dynamischen - Sie können auch sagen: liberalen - Wirtschaft bekennen. Deshalb bitte ich die Grünen und die SPD, bei dem Begriff „liberal“ ideologisch abzurüsten. In allen wirtschaftswissenschaftlichen Diskussionen ist „liberal“ der Sinnbegriff für offen, wettbewerbsfähig, innovativ und dynamisch. ({1}) Sie sollten also einmal Ihr Verhältnis zum Begriff „liberal“ klären. Zweitens brauchen wir eine starke europäische Währung, die wir im Moment nicht haben. Drittens brauchen wir ein vereinigtes Europa; damit meine ich keine Vereinigten Staaten von Europa. Die Vereinigten Staaten von Amerika nehmen nur ein Europa ernst, das sich vereinigt hat. Ein solches vereinigtes Europa umfasst nicht nur Westeuropa, sondern das gesamte Europa. ({2}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich mit dem ersten Punkt, der neuen Wissensgesellschaft, beginnen. Hier kann man sich sicherlich an Herrn Rüttgers reiben. Es ist ja interessant, dass Präsident Clinton in Neu-Delhi an einem amerikanisch-indischen Gipfel mit dem Thema „Indien - USA: eine Vision für das 21. Jahrhundert“ teilgenommen hat, während zugleich der frühere Zukunftsminister den auch aus meiner Sicht unsäglichen Slogan „Kinder statt Inder“ geprägt hat. Angesichts der globalisierten Wirtschaft brauchen wir in Deutschland beides: gut ausgebildete Kinder und hervorragende internationale Wissenschaftler und Fachleute. ({3}) Nur kann der jetzt von Herrn Riester vorgelegte „Anwerbestoppausnahmeverordnungsentwurf“ auch nicht die Wunderwaffe sein. Dieses Wort ist zunächst einmal gar nicht ins Englische übertragbar. Das ist vielleicht auch besser, weil sonst der Abschreckungscharakter für Spezialisten noch stärker zum Ausdruck käme, meine Damen und Herren. ({4}) Es ist falsch - das ist typisch sozialdemokratischgrün -, dass die Voraussetzung für eine Zulassung in Deutschland nicht die bisherige berufliche Leistung ist, sondern Zeugnisse sind. ({5}) Es ist falsch, dass der Familiennachzug und vor allem die Berufstätigkeit der Frau nicht geregelt ist. Es ist falsch, dass die Frage der Selbstständigkeit nicht geklärt ist; ({6}) denn viele werden als Arbeitnehmer bei Firmen, zum Beispiel bei SAP in Baden-Württemberg oder anderen, beginnen und werden sich dann, was wir sehr wünschen, selbstständig machen. Es ist falsch, dass die Personen nach drei Jahren zurückkehren müssen und dass nur in einem erneuten Prüfungsverfahren über eine Verlängerung entschieden werden kann. ({7}) In den USA dagegen besteht bei der Green Card von Anfang an die Perspektive, dort auf Dauer arbeiten und leben zu können, und zwar einschließlich der Familie. Nur diese Perspektive wird hervorragend qualifizierte Menschen nach Deutschland ziehen. Wenn Sie mit den Fachleuten reden, dann bekommen Sie von ihnen als Reihenfolge der bevorzugten Länder genannt: USA, Kanada, Australien, Singapur, Niederlande, andere Länder und unter ferner liefen Deutschland. Es kommt nämlich nicht nur auf ein neues Gesetz an, auch das gesellschaftliche Klima ist für kreative Menschen wichtig. Ohne mehr Liberalität, ohne mehr Toleranz gegenüber anderen, ohne mehr Offenheit, ohne Anerkennung von Leistungen in einer Gesellschaft, die nach wie vor von Neid und Wettbewerbsschwäche geprägt ist, werden Sie die besten Leute der Welt nicht in Deutschland versammeln können. Auf Dauer wird es nicht möglich sein, das Thema ohne ein Einwanderungsbegrenzungsgesetz, wie es die F.D.P. vorgelegt hat, zu regeln. ({8}) Wie soll ich der mittelständischen Maschinenbauindustrie in meinem Wahlkreis, die ebenfalls einen Mangel an Fachkräften - allerdings nicht im IT-, sondern im Steuerungsbereich, im Maschinenbau - zu verzeichnen hat, erklären, warum sie sich keiner Kräfte aus dem Ausland bedienen darf? Warum darf das nur eine Branche, die glänzt und die beim Bundeskanzler zu Tische sitzt? Ich glaube, dass es auf Dauer rechtlich nicht gehen wird, bestimmte Branchen auszuschließen. Früher oder später werden Sie beim Gesetzentwurf der F.D.P. landen. Sie brauchen ein Einwanderungssteuerungsgesetz. Das ist für die Wirtschaft von entscheidender Bedeutung. ({9}) Zweitens. Herr Bundeskanzler, wer global mit den USA gleichziehen will, dem darf der Außenwert der europäischen Währung nicht gleichgültig sein. Der Innenwert des Euro ist nach wie vor stabil, was für die Sparer und für die „kleinen Leute“ sehr wichtig ist. Wir haben die gleiche Geldentwertung wie unter D-Mark-Bedingungen. Alle Diskussionen in Amerika zeigen allerdings, dass sich derjenige, der langfristig eine zweite Leitwährung, eine Reservewährung bilden will, entschiedener um den Außenkurs des Euro kümmern muss. Seit Einführung des Euro hat dieser gegenüber dem Dollar 19 Prozent an Wert verloren und gegenüber dem Yen sogar 23 Prozent. Nur der Vergleich „Die USA sind dynamisch - wir nicht“ zieht also nicht. Der Euro ist weltweit auch gegenüber dem Yen nach wie vor eine Schwachwährung. Die Euroschwäche ist die Quittung der Märkte für unterlassene liberale Reformen in Kontinentaleuropa. Das süße Gift einer geduldeten Weichwährung wirkt auf Dauer äußerst negativ auf unsere Wirtschaft und besonders auf den Mittelstand. ({10}) Eine Weichwährung spiegelt mangelnde Wettbewerbsfähigkeit vor. Unter derzeitigen Bedingungen sind die USA trotz hartem Dollar noch wettbewerbsfähiger. Dort gibt es Vollbeschäftigung. Es gibt dort nicht einen Beschäftigungszuwachs von 20 000 Stellen pro Jahr, sondern einen durchschnittlichen Zuwachs von 250 000 neuen Arbeitsplätzen pro Monat. Diese Entwicklung findet schon im achten Jahr statt. Das heißt, mit der amerikanischen Wirtschaftsdynamik wäre die Arbeitslosigkeit in Deutschland in sechs Jahren beseitigt. Im letzten Quartal gab es in den USA ein Wirtschaftwachstum von 7,3 Prozent. Eine weitere Gefahr einer weichen Währung ist, dass sich auf Dauer die importierte Inflation entwickelt. Dann müsste die Europäische Zentralbank die Zinsen erhöhen. Letztlich müssten wieder der Mittelstand und die Sparer die Zeche bezahlen. Die Euroschwäche ist meines Erachtens in Wirklichkeit das Ergebnis eines Systemvergleiches. Auf der einen Seite steht das angelsächsische, flexible, offene, man kann sagen: liberale Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Dem gegenüber steht das mehr bürokratische, kontinentaleuropäische und wenig flexible Wirtschaftssystem. Bevor Sie sich nicht im Steuer-, Arbeits- und Tarifrecht zu echten Reformen entschließen, werden wir den Euro auf Dauer nicht härter bekommen. ({11}) Das ist auf Dauer, insbesondere für die „kleinen Menschen“, von größtem Nachteil. Der dritte für ein wirtschaftliches Kräftemessen mit den Vereinigten Staaten wichtige Punkt ist die kontinentale Organisation Europas. Allein Westeuropa ist auf Dauer zu klein. Deshalb kommt der Osterweiterung auch unter globalen Gesichtspunkten eine enorme Bedeutung zu. Die Osterweiterung ist im besten Sinne Sicherheitspolitik für ganz Europa. Sie liegt im strategischen Interesse unseres Landes. Die Liberalen werden nicht ruhen, die Osterweiterung pünktlich einzufordern. ({12}) Es war die Regierung Brandt/Scheel, die im Jahre 1973 die Ostverträge gegen den Widerstand der Union durchgesetzt hat. Die Ostverträge waren der Anfang der Öffnung und zugleich das Ende des „Eisernen Vorhangs“. Die Regierung Kohl/Genscher hat die Zwei-plus-VierDr. Helmut Haussmann Verträge und den Maastricht-Vertrag ohne Verzögerung ratifiziert und den Euro pünktlich eingeführt. Unter der Regierung Kohl/Kinkel ist die Erweiterung um Österreich, Finnland und Schweden im Jahre 1995 exakt zum vorausgesagten Zeitpunkt durchgeführt worden. Deshalb werden Sie in Osteuropa auch intern keine Stabilität erreichen, wenn Sie sich nicht entscheiden, einen Termin zu nennen. ({13}) Vor kurzem hat uns der frühere Ministerpräsident Mazowiecki besucht, der heute Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses in Warschau ist. Er ist zutiefst von der Zögerlichkeit der jetzigen Bundesregierung enttäuscht. ({14}) Die Agenda 2000 reicht nicht aus und die Agrarpolitik stockt. Wir haben eine Koalition der Verzögerer. Die Bundesrepublik als wichtigstes Land in Europa unternimmt keine entscheidenden Initiativen, um die Voraussetzungen für die Osterweiterung zu schaffen. Wir haben das vor kurzem im Europaausschuss erlebt: Der Außenminister kann nicht anwesend sein. Er setzt sich gegenüber dem Agrarminister nicht durch. Es gibt keinen Beschluss über Mehrheitsentscheidungen. Es gibt keine deutsch-französische Initiative für institutionelle Reformen. ({15}) Mein Gefühl ist - ich sage das sehr offen -, dass sowohl Herr Schröder als auch Herr Stoiber aus wahlkampftaktischen Gründen keine pünktliche Osterweiterung wünschen, weil eine solche genau mit den nationalen deutschen und französischen Wahlen zusammenfallen würde. Das ist der Unterschied zur früheren Regierung Kohl/Kinkel. ({16}) Die Euro-Einführung im Wahljahr war ein äußerst schwieriges Thema. Aber Osterweiterung und europäische Währung sind Fragen der politischen Überzeugung der Eliten. Auch wenn man anfänglich Widerstand spürt, muss man auf Dauer führen und sich durchsetzen. Diese Durchsetzungsfähigkeit vermisse ich bei der jetzigen Bundesregierung. ({17}) Letztlich wird sich Europa weltweit dauerhaft nicht als Wirtschaftsgroßmacht mit Gemeinsamer Währung behaupten können. Europa braucht die politische und kulturelle Dimension. Die politische Union mit einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist auf dem Wege. Allerdings wird uns der jetzige Verteidigungsbeitrag der Bundesregierung dem Ziel einer ernsthaften Verteidigungs- und Sicherheitspolitik nicht näher bringen. Europa braucht auch einen einheitlichen Raum für Recht und Freiheit. Jetzt geht es um eine europäische Grundrechtscharta als erstem Schritt zu einer Verfassung für Europäer. Letztlich wird die Zustimmung zu Europa dann zunehmen, wenn wir die Menschen politisch davon überzeugen, dass europäische Lösungen die wirkliche Antwort sind, um mit der Globalisierung fertig zu werden. Der Nationalstaat allein kann es nicht schaffen. Die F.D.P. wird jede Initiative zu einer pünktlichen Osterweiterung, zu schnellen institutionellen Reformen und zur raschen Einführung einer Grundrechtscharta unterstützen. Hier gibt es und bleibt es bei Gemeinsamkeiten. Die Bundesregierung muss aber als wichtigstes, als größtes Land in Europa eine Führungsrolle übernehmen und darf sich nicht hinter anderen Staaten verstecken. Vielen Dank. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jeder Mensch muss Zugang zu den neuen Medien bekommen. Jeder Mensch muss die Chance haben, die neue Kulturtechnik, den Umgang mit Computern und Internet zu lernen. Das haben die Regierungen der EU erkannt. Und sie haben sich mit der Erklärung von Lissabon vorgenommen, die Entwicklungschancen, die in der Informationstechnologie liegen, die Chancen für Ausbildung und Beschäftigung, die Chancen für Forschung und Innovation endlich zu nutzen. Das, meine Damen und Herren, ist nachdrücklich zu unterstützen. ({0}) Denn viele Länder Europas haben in den letzten zehn Jahren den Anschluss an diese wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen verpasst. Das gilt leider auch für Deutschland. Mit dem Regierungswechsel haben wir auf vielen Feldern angefangen umzusteuern. Wir haben mit dem Wirtschaften auf Kosten zukünftiger Generationen endlich Schluss gemacht, indem wir eine nachhaltige Haushaltspolitik eingeleitet haben. Wir haben eine Steuerreform auf den Weg gebracht, mit der wir systematisch die Nachfrage stärken: durch eine Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen und vor allem durch eine massive Entlastung der Familien. Wir haben gleichzeitig durch eine deutliche Entlastung des Mittelstandes die Angebotsbedingungen verbessert. Wir werden diesen Kurs konsequent fortsetzen. Wir verbinden die soziale und ökologische Erneuerung mit wirtschaftlichen Reformen. Das führt auch zu Erfolgen bei der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Ich halte es für einen Erfolg, wenn wir heute, also im März 2000, immerhin fast eine halbe Million weniger Arbeitslose haben als im März der Kohl-Regierung 1998. ({1}) Darauf können wir uns nicht ausruhen. Das ist völlig klar. Es ist aber ein wichtiger Schritt nach vorn. Die Ergebnisse des EU-Gipfels von Lissabon fügen sich in diese Politik nahtlos ein. Wir sind auf dem Weg in die so genannte Informationsgesellschaft. Wir haben aber bisher in Deutschland noch nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen. Das heißt vor allem: deutlich mehr Investitionen in Bildung. Das ist sowohl eine Frage sozialer Verantwortung als auch Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg unserer Gesellschaft. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob ich möglichst schnell im Netz drin bin, sondern auch darum: Was ist sinnvoll und was nicht? Welche Informationen brauche ich, welche nicht? Es geht um den mündigen Umgang mit den neuen Medien, den wir und die Schülerinnen und Schüler erlernen müssen. ({2}) Es geht um qualifizierte und ausreichende berufliche Bildung. Genau diese Herausforderungen, diese neuen Entwicklungen, meine Damen und Herren von der Opposition, haben Sie in Ihrer Regierungszeit völlig verschlafen. ({3}) Sie haben den Anteil von Bildung, Wissenschaft und Forschung am Bundeshaushalt um über 30 Prozent heruntergewirtschaftet. Allein in der letzten Legislaturperiode unter dem Zukunftsminister Rüttgers sind die Bildungsausgaben um fast eine halbe Milliarde DM zusammengestrichen worden. Da kann man nur sagen: Die alte Regierung, vor allem der Zukunftsminister, hat die Zukunftschancen der jungen Menschen nicht gesichert, sondern vertan. ({4}) Herr Rüttgers, der behauptet, dass er für diesen Bereich gar nicht zuständig gewesen sei, war als Bildungsminister bis 1998 gerade für die Berufsbildung zuständig. Er hat den Bedarf an Fachkräften auch in der IT-Branche total verschlafen. So liegt Deutschland - Herr Merz, weil Sie es angesprochen haben - bei den Privatanschlüssen an das Internet in Europa auf dem 9. Platz. Ich frage mich: Wie konnte das passieren? Wie konnte aus 80 Millionen Deutschen ein Volk ohne Anschluss werden? Wie konnte es passieren, dass ausgerechnet wir gerade einmal 6 Prozent unseres Bruttoinlandprodukts in diesen Zukunftsbereich investieren? Damit liegen wir laut OECD auf dem 29. Platz. Die Antwort darauf ist einfach: Unter Kohl und Rüttgers hat Deutschland digital stillgestanden. Deutschland war offline. ({5}) - Ich würde über diesen Punkt nicht lachen. Ich halte das für absolut entscheidend. Ausgerechnet Herr Rüttgers, der für diese Misere verantwortlich ist, polemisiert jetzt mit dumpfen Parolen wie „Kinder statt Inder“ gegen die Green-Card-Initiative. Der Grund dafür ist ziemlich schlicht: Sie wollen mit dieser schäbigen Kampagne einfach nur von Ihren eigenen Versäumnissen ablenken, ({6}) indem Sie wieder einmal - Herr Koch aus Hessen lässt da grüßen - Wahlkampf auf Kosten von Ausländern machen. Das ist nicht nur peinlich, das ist wirklich verantwortungslos. ({7}) Meine Damen und Herren von der CDU, Deutschland kann sich einen solchen Provinzialismus nicht leisten. Diese Aussage stammt nicht von uns, sondern das sagte kein anderer als der BDI-Vorsitzende Hans-Olaf Henkel. Kollege Struck hat das heute schon erwähnt. ({8}) Erwin Staudt von IBM Deutschland sagte: Was Rüttgers macht, ist die unnötigste Aktion, seit der römische Kaiser Caligula sein Pferd zum Konsul ernannt hat. Auch das ist ein schöner Spruch. ({9}) Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt findet: Die Kampagne ist undurchdacht und erbärmlich populistisch. Eigentlich könnte ich uns ja nur gratulieren, denn Sie haben fast die gesamte Wirtschaft gegen die CDU aufgebracht. An sich könnte uns das ja recht sein, nur leider beschädigen Sie nicht nur den Ruf der CDU, sondern auch den Ruf Deutschlands im Ausland. ({10}) Das ist das Problem. Wenn nämlich die einflussreiche indische Zeitung „Asian Age“ titelt „Der deutsche Haider nimmt IT-Spezialisten aus Indien aufs Korn“, dann heißt das doch, dass die Kampagne nicht nur erbärmlich fremdenfeindlich ist, sondern Herr Rüttgers inzwischen auch schon zum Standortrisiko für unser Land geworden ist. ({11}) Das merken auch die Menschen; Sie werden das am 14. Mai bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen erleben, meine Damen und Herren von der CDU; da bin ich mir ziemlich sicher. Ich will natürlich nicht verschweigen, dass auch die Wirtschaft ein gerütteltes Maß an Verantwortung für die derzeitigen Probleme hat. Natürlich ist eine Ursache die mangelnde Ausbildung von Fachkräften. Natürlich hat die Zurückhaltung bei der Einstellung durch die Unternehmen den Rückgang bei den Studienanfängern in der Informatik verursacht. 1994 waren es nur noch knapp 4 000. Und genau diese schwachen Jahrgänge verlassen jetzt die Hochschulen. Aber umso wichtiger ist es doch jetzt, durch eine gemeinsame Anstrengung den Rückstand in Europa und im globalen Wettbewerb so schnell wie möglich aufzuholen. Die Wirtschaft hat insgesamt bis 2003 60 000 neue Ausbildungsplätze im IT-Bereich zugesagt. Wir reden nicht nur, wir investieren in Bildung und sorgen für mehr Ausbildung: Wir haben 1 Milliarde DM zusätzlich für Bildung, Wissenschaft und Forschung zur Verfügung gestellt. Bei uns steigt der Anteil der Bildungsausgaben am Gesamthaushalt endlich wieder. 1999 haben wieder weit mehr als 10 000 junge Menschen mit dem Informatikstudium begonnen. Die Bundesanstalt für Arbeit erhält nochmals 200 Millionen DM zusätzlich, insgesamt stehen 1,2 Milliarden DM für Qualifizierungsmaßnahmen im IT-Bereich zur Verfügung. Bis 2001 sollen alle Schulen in der Europäischen Union am Netz hängen. Aber all das ist eben - das ist das Problem noch keine Lösung, um den kurzfristigen Bedarf von rund 70 000 Fachkräften sowie den bis 2003 auf 250 000 Fachkräfte ansteigenden Bedarf zu decken. Deshalb - das sage ich für meine Fraktion sehr klar - begrüßen wir ausdrücklich die Initiative des Bundeskanzlers, durch eine unbürokratische Green Card zunächst einmal die Zuwanderung von IT-Fachkräften zu erleichtern. ({12}) Aber lassen Sie mich auch das ganz klar und deutlich an dieser Stelle sagen: Wir wollen ein wirklich attraktives Angebot an die hoch qualifizierten Fachkräfte. Wir wollen wirklich eine unbürokratische Lösung. Sonst werden wir nämlich erleben, dass die Menschen nicht kommen, weil sie in anderen Ländern, zum Beispiel in den USA, bessere Angebote bekommen. Dort bekommt nämlich auch der Partner eine Arbeitserlaubnis, dort kann man sich selbstständig machen und dort gibt es eine langfristige Lebensperspektive, weil man nicht schon nach drei Jahren wieder in die bürokratischen Mühlen gerät. Deshalb, Herr Bundeskanzler, machen Sie Nägel mit Köpfen! Sorgen Sie dafür, dass aus der Green Card keine Red Card wird. Unsere Unterstützung dafür haben Sie. ({13}) Die Entwicklung der Informationstechnologie, die Entwicklung zu einer Wissens- und Informationsgesellschaft, die im Mittelpunkt des EU-Gipfels von Lissabon stand, ist keine leichte Aufgabe, sondern für alle Länder eine große Herausforderung. Die Regierungen der Europäischen Union haben sich dieser Herausforderung nicht nur mit der Erklärung von Lissabon gestellt. Das ist gut so; denn, meine Damen und Herren von CDU und CSU, Globalisierung heißt doch nicht: freier Handel, freier Warenverkehr in aller Welt, wir Deutschen fahren, wohin wir wollen, ({14}) aber für Menschen aus anderen Ländern machen wir die Schotten dicht. Globalisierung und nationale Borniertheit vertragen sich nun einmal nicht. ({15}) Deutsche Unternehmen, die weltweit agieren, sind auf multinationale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewiesen, sonst können sie auf Dauer nicht mithalten. Globalisierung muss eben auch heißen: Deutsche Studierende lernen im Ausland, junge Menschen aus der ganzen Welt studieren an deutschen Hochschulen. ({16}) Das muss eben auch heißen: Deutsche Fachkräfte arbeiten im Ausland; dafür kommen Fachleute aus anderen Ländern zu uns. ({17}) Sicher ist es so: Globalisierung löst bei vielen Menschen auch Ängste aus. Doch ich bin fest davon überzeugt: Wir werden die Herausforderungen nicht bewältigen, wenn wir die Ängste der Menschen für Wahlkämpfe missbrauchen und ansonsten den Kopf in den Sand stecken. ({18}) Wir müssen die Globalisierung sozial und ökologisch gestalten. Wir müssen den Menschen die Chancen deutlich machen, die darin stecken. Jede IT-Fachfrau, jeder ITFachmann, der jetzt nach Deutschland kommt, schafft auch für uns neue Perspektiven, schafft neue Arbeitsplätze, neue Ausbildungsplätze, auch für die Menschen in Deutschland. Aber jede Firma, die ins Ausland geht, weil sie eben hier keine Entwicklungschancen mehr hat, nimmt ihre Arbeits- und Ausbildungsplätze mit. Deshalb sage ich für meine Fraktion sehr klar: Die Bundesrepublik ist gerade vor dem Hintergrund der Globalisierung ein Einwanderungsland. Aus diesem Grunde sind wir der Meinung: Wir können uns auf Dauer einer Debatte um die Gestaltung der Einwanderung nicht verschließen. Ich bin überzeugt: Mittelfristig brauchen wir ein Einwanderungsgesetz, das die Zuwanderung planvoll steuert. ({19}) Aber Ihnen, Herr Merz, fällt dazu wieder einmal nur eines ein: Einwanderung ja, aber Sie wollen dann gleich das Asylrecht abschaffen. Herr Merz, ich weiß, aller Anfang ist schwer. Aber ich finde, dieser Missgriff ist um keinen Deut besser als die fremdenfeindlichen Parolen des Kollegen Rüttgers. ({20}) Sie verabschieden sich damit von der gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik und auch von der Genfer Flüchtlingskonvention. Sie wollen demnächst also wirklich sagen: Tut mir Leid, lieber Flüchtling, wenn Sie verfolgt werden, wenn Sie gefoltert wurden, aber wir haben in diesem Jahr leider schon 100 000 Computerspezialisten ins Land gelassen, da können nicht auch Sie noch hinein. - Das kann ich mir kaum vorstellen. Wenn Sie das wirklich wollen, dann sollten Sie besser nicht mehr über die EU als Wertegemeinschaft reden. ({21}) Aber dass Sie mit der EU als Wertegemeinschaft Probleme haben, haben Sie meines Erachtens schon in Ihrer Bemerkung über einen möglichen Türkei-Beitritt und über die EU als Religionsgemeinschaft gezeigt. Das widerspricht diametral dem Grundkonsens der Europäischen Union. Die EU ist keine Religionsgemeinschaft. Die EU ist eben eine Wertegemeinschaft. ({22}) - Eben! Das heißt, ({23}) wir stehen gemeinsam für Demokratie, für Rechtsstaatlichkeit und für die Wahrung der Menschenrechte ein. Wir stehen für den Schutz der Verfolgten ein, so wie dies auf dem Gipfel in Tampere vereinbart worden ist. Diese Werte sind die gemeinsame Grundlage, nicht irgendwelche Religionszugehörigkeiten. ({24}) Nur auf dieser Grundlage wird der Gipfel von Lissabon mit seiner vereinbarten Strategie zum gemeinsamen Aufbau einer europäischen Wissens- und Informationsgesellschaft, für eine aktive Beschäftigungspolitik und für Reformen zum Erhalt und eben nicht zum Abbau des Sozialstaates auf Dauer erfolgreich sein. Nur auf dieser Grundlage kann es auch eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa geben. Herr Merz und Frau Merkel - Frau Merkel ist leider nicht mehr anwesend -, die neue CDU sollte sicherlich manches anders machen als in den Jahren unter Helmut Kohl. Dieser Meinung sind auch wir. Wenn es aber eines gibt, was Sie bewahren sollten, dann ist es die Absage an Nationalismus und die klare Orientierung auf ein demokratisches und rechtsstaatliches Europa. Wir jedenfalls werden diesen Weg konsequent gehen. Danke schön. ({25})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es spricht nun die Abgeordnete Dr. Knake-Werner, PDS-Fraktion.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lissabon, gern als Internetgipfel gefeiert und als zukunftsfähiger Weg in die Wissensgesellschaft gelobt, erweist sich, wenn man genau hinschaut - wir von der PDS haben das getan -, als Gipfel der Deregulierung. Der Verzicht auf soziale und ökologische Gestaltung hat sich leider durchgesetzt. ({0}) Statt der vielversprechenden Ankündigung eines Europas der Beschäftigung und des sozialen Zusammenhaltes - darauf warten die Menschen, die ohne Arbeit sind und unter sozialer Ausgrenzung leiden - droht ein Europa der Börse, der Finanzmärkte und einer undifferenzierten High-Tech-Euphorie. Lieber Kollege Struck, es ist wohl so, dass sich die Konservativen in Lissabon durchgesetzt haben, leider Hand in Hand mit unserem Bundeskanzler Schröder und Tony Blair. ({1}) Natürlich ist es gut, dass endlich wieder einmal der Begriff Vollbeschäftigung in der europäischen Debatte auftaucht. Es muss der Bundesregierung aber schon zu denken geben, dass ausgerechnet Portugal es schafft, diesen Begriff wieder in die Diskussion zu bringen. ({2}) Wie soll denn diese Vollbeschäftigung aussehen? Geht es tatsächlich um existenzsichernde Arbeit für alle mit sozialen und tariflichen Schutz- und Mitbestimmungsrechten? Oder geht es vielleicht doch eher um Vollbeschäftigung um jeden Preis, ohne jeden sozialen und emanzipatorischen Anspruch? Wenn Sie von Chancengleichheit reden, muss ich fragen: Sollte es jetzt nicht endlich zu einer gerechten Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen Männern und Frauen kommen? Ich fürchte, das wird nicht geschehen. Ich fürchte, Sie, Herr Bundeskanzler, bauen ein Europa für hochqualifizierte und gut bezahlte Eliten und ein Europa der Minijobs für die große Masse. Dieses Europa wollen wir nicht. ({3}) Mit den Beschlüssen von Lissabon ist man endgültig dazu übergegangen, die Beschäftigungspolitik sowie die Wettbewerbs- und Technologiepolitik in eins zu setzen. Die Europäische Union will an die Weltspitze. Das war doch die zentrale Botschaft von Lissabon. Deshalb geht es im Abschlussdokument vor allem um die Steigerung der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit, um den Sieg im Standortkrieg und um ehrgeizige Wachstumsraten, die dann aber wieder so bescheiden sind, dass durch sie die 20 Millionen neuen Arbeitsplätze, die nötig sind, ganz sicher nicht geschaffen werden können. Letztlich hat sich in Lissabon der fatale Irrtum durchgesetzt, dass ausgerechnet die größten Jobkiller der vergangenen beiden Jahrzehnte die sicherste Gewähr bieten, in der Europäischen Union mit der Arbeitslosigkeit fertig zu werden. Das Gegenteil ist doch der Fall: Dem Einsatz neuer Technologien und der Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit fallen nach wie vor die meisten Arbeitsplätze zum Opfer. Bis heute kommen auf jeden Arbeitsplatz in der IT-Branche zwei bis drei Beschäftigte, die in der übrigen Wirtschaft ihren Arbeitsplatz verlieren. Was bedeutet die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit unter den Bedingungen begrenzter Märkte anderes, als die Beschäftigtenzahl zu verringern? Wenn es immer noch so ist, dass die Aktienwerte dann am meisten steigen, wenn Massenentlassungen angekündigt werden, dann wissen wir doch, was die größere Wettbewerbsfähigkeit in Bezug auf Arbeitsplätze heißt. Kein Unternehmen geht heute an die Börse, ohne zuvor einen rigiden Beschäftigungsabbau zu verkünden. Man muss doch gerade im Hinblick auf die Bundesrepublik die Frage stellen, wieso ausgerechnet das Land mit dem größten Exportüberschuss und folglich offensichtlich mit den besten Wettbewerbspositionen auf den Weltmärkten gleichzeitig die geringsten Fortschritte bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze aufweist. In Ostdeutschland - das räumen Sie freundlicherweise ein - haben Sie in dieser Frage komplett versagt. ({4}) Wettbewerbsfähigkeit ist zu einem Fetisch geworden, dem alle sozialen, humanen und ökologischen Ziele und nicht nur die Sicherung der Beschäftigung untergeordnet werden und wo zudem völlig ausgeblendet wird, mit welchen gesellschaftlichen Kosten das Anheizen der Standortkonkurrenz verbunden ist. Ihr werden nicht nur Arbeitsplätze geopfert, sondern durch Steuersenkungsprogramme werden der öffentlichen Hand genau die Mittel entzogen, die für eine zukunftsfähige Entwicklung hier und anderswo in Europa notwendig sind. ({5}) Es fehlt dann eben das Geld für den Ausbau des Bildungswesens oder der Wissenschaftsentwicklung und der Pflege sozialer Strukturen. Woher soll zum Beispiel der in Lissabon geforderte soziale Zusammenhalt der Gesellschaft kommen, wenn nicht aus öffentlichen Investitionen, durch öffentlich geförderte Arbeitsplätze und zusätzliche Anstrengungen in einer öffentlichen Daseinsvorsorge, die sich wirklich dem Ziel widmet, die soziale Ausgrenzung zu bekämpfen, wie es offensichtlich nicht nur die PDS will? Es ist sicher verdienstvoll, wenn in Lissabon zur Überwindung des Analphabetismus aufgerufen wird. Immerhin gibt es selbst in der angeblichen Wissensgesellschaft Bundesrepublik drei bis vier Millionen Menschen, die weder lesen noch schreiben können. Aber hier wie in allen anderen Punkten, die nicht unmittelbar zur technologischen und ökonomischen Weltspitze führen, fehlt es an konkreten Maßnahmen und vor allem an der schlichten Einsicht, dass die viel beschworenen Investitionen in die Menschen ohne Verbesserung der öffentlichen Einnahmen wohl kaum zu bewerkstelligen sind. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, machen da genau das Gegenteil. Was zum Beispiel nutzt eine Selbstverpflichtung, bis zum Ende des nächsten Jahres alle Schulen ans Internet zu bringen, wenn es in den Schulen an Lehrern mangelt von Sozialarbeitern, Schulpsychologen und Berufsberaterinnen gar nicht zu reden? Wie steht es um die Wissensund Informationsgesellschaft, wenn der Stundenausfall in den Schulen bundesweit fast 10 Prozent beträgt und die Klassengrößen ständig zunehmen? Frau Kollegin Müller, ich muss mich schon über Ihre Euphorie wundern, wenn ich gleichzeitig lese, dass die angebliche Wissensgesellschaft nicht nur versäumt hat, genügend Computerspezialisten, sondern auch ausreichend Lehrerinnen und Lehrer auszubilden. ({6}) Allein im berufsbildenden Schulwesen werden im laufenden Jahrzehnt jedes Jahr 1 400 bis 2 000 Stellen fehlen. Diesen Mangel wird weder die Green Card noch der Internetzugang beseitigen. Alles, was in Lissabon unter der wichtigen Überschrift „Bildung und Ausbildung für das Leben und Arbeiten in der Wissensgesellschaft“ zusammengefasst wurde, bleibt auf der Ebene der guten Wünsche und Hoffnungen und steht zudem in tiefem Widerspruch zu einer rigiden Haushaltspolitik, wie sie auch hierzulande betrieben wird. An Letzterem wird sich leider auch wenig ändern, wenn man sich den Entschließungsantrag von SPD und Bündnisgrünen anschaut. Sie bleiben damit tatsächlich noch hinter dem beschäftigungspolitischen Aktionsprogramm der Bundesregierung für das Jahr 2000 zurück. Das Kapitel der Beschäftigungspolitik von Lissabon enthält - bei aller Kritik - viele wichtige Punkte, die dringend in nationale Politikkonzepte umgesetzt werden müssten. Dazu würde zum Beispiel gehören, ernsthafte Schritte zur Eröffnung einer Qualifizierungsoffensive aufzunehmen, statt gering Qualifizierte in Niedriglohnsektoren zu entsorgen. ({7}) Dazu gehören auch Überlegungen, wie die bestehenden Bildungsbarrieren abgebaut und die größte von ihnen, die Armut, endlich beseitigt werden und die zunehmende Spaltung der Gesellschaft aufgebrochen wird. Schließlich müsste dazu gehören, die Instrumente der Arbeitsförderung endlich so zu novellieren, dass der im Dokument von Lissabon ausdrücklich erwähnte und von der PDS seit langem geforderte dritte Sektor endlich verwirklicht werden kann, ({8}) nicht nur - das sage ich auch ausdrücklich - als Feld zusätzlicher Beschäftigung, sondern als Beitrag zum Aufbau des auch in Lissabon geforderten aktiven Wohlfahrtsstaates. Das verlangt auch endlich Konzepte zur radikalen Arbeitszeitverkürzung, zum Überstundenabbau, für sinnvolle Teilzeitmodelle, wie wir von der PDS sie seit langem fordern. Auch hier bei Ihnen Leerstellen! Zur Widersprüchlichkeit der in Lissabon niedergeschriebenen Schlussfolgerungen gehört schließlich auch, dass die kleinen und mittelständischen Unternehmen zwar als Aktivposten der Beschäftigungspolitik erwähnt werden - das ist auch gut und richtig so -, dass sie aber durch die Dominanz der globalen Wettbewerbsorientierung und das Gerangel um den Spitzenplatz als Wirtschaftsmacht wieder an den Rand gedrängt werden. Wer die kleinen und mittelständischen Betriebe fördern will, der muss die Binnennachfrage stärken - das genau aber tun Sie nicht -, der darf die Wirtschaftsstruktur nicht allein dem Markt überlassen - das genau tun Sie -, der muss regionale Kreisläufe fördern - das wiederum tun Sie nicht - und der darf vor allem nicht übersehen, dass die versprochene Ausstattung dieses Wirtschaftsbereichs mit Risikokapital umso schlechter gelingt, je mehr die Finanzmärkte dereguliert werden; und genau das ist Ihr oberstes Prinzip. Lassen Sie mich abschließend eine Bemerkung zum Antrag der Unionsfraktion machen. Man kann Ihnen schon das Kompliment machen, dass Sie den in Lissabon formulierten Widerspruch des Jonglierens zwischen übermäßiger Wettbewerbsfixierung und gleichzeitigem Bekenntnis zum aktiven Wohlfahrtsstaat wirklich auf den Punkt gebracht haben. Sie fordern ein Zurückbleiben der öffentlichen Haushalte hinter der allgemeinen Wachstumsrate, was natürlich die Wettbewerbsfähigkeit des Euro auf den Finanzmärkten erhöhen dürfte. Aber den Wohlfahrtsstaat können Sie endgültig vergessen, wenn Sie die staatlichen Haushalte weiter austrocknen, wie Sie es damit beabsichtigen. Sie scheinen sich endgültig einen Spitzenplatz im Bremserhäuschen der europäischen Integration erobern zu wollen. Wenn man Europa will, Kollege Merz, wenn man eine europäische Beschäftigungspolitik will, dann muss man auch europäische Standards wollen, soziale und ökologische. ({9}) Wer sich mit dem Hinweis auf das Subsidiaritätsprinzip dieser Verantwortung entzieht und diese Standards verneint, verneint auch eine gemeinsame Beschäftigungspolitik. Dazu aber gibt es bei aller Kritik, die wir an Lissabon haben, keine Alternative. Die PDS hat heute dazu einen Antrag für die weitere Beratung eingebracht, in dem viele wichtige Anregungen formuliert sind, die wirklich zu einem gemeinsamen sozialen und ökologischen Europa führen können. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es spricht jetzt Frau Bundesministerin Edelgard Bulmahn.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In Deutschland bewegt sich wieder etwas. Wir haben mit dem Sofortprogramm Hunderttausenden von Jugendlichen eine Chance gegeben, indem wir sie in berufliche Maßnahmen und Ausbildung gebracht haben. Wir modernisieren Berufe schneller und wir schaffen neue Berufe. Die Zahl der Ausbildungsplätze in den informationstechnischen Berufen wird in diesem Jahr auf 40 000 steigen, gegenüber 14 000 im Jahre 1998. Erstmals seit der deutschen Einheit werden in den neuen Bundesländern in den Betrieben wieder mehr Menschen ausgebildet. ({0}) Das alles haben wir nicht allein geschafft, sondern gemeinsam mit den Gewerkschaften und mit der Wirtschaft, und zwar in einem Rekordtempo. Die Zeiten des Stillstandes sind vorbei. Von uns wird - im Gegensatz zu der Vorgängerregierung - die Zukunft nicht verschlafen. ({1}) Wer heute die Zukunft gestalten will, muss dabei international denken und handeln. Wir müssen weg vom provinziellen Abschotten, wie es sich in den wirklich dummen Sprüchen von Herrn Rüttgers widerspiegelt. ({2}) Denn die Zukunft Deutschlands liegt im Fortschritt und in der Innovation. Beides erreicht man nicht, wenn man ängstlich in alten Denkmustern verharrt. Denn mit Angst und Angstmacherei ist kein Staat zu machen. ({3}) Meine Herren und Damen, die Zeit des Stillstandes ist auch bei der Entwicklung und Nutzung der Informationsund Kommunikationstechnologie vorbei. Herr Merz, Sie haben nicht Recht, wenn Sie die Informations- und Kommunikationstechnologie so betrachten wie jede andere Technik. Denn das ist sie nicht. Sie ist eine Schlüsseltechnologie, die in einem hohen Maße darüber entscheidet, ob wir auch in Zukunft zum Beispiel im Maschinenbau, in der Biotechnologie, in der chemischen Branche und in der Lasertechnik wettbewerbsfähig sein werden. Denn Steuerung, Sensorik und Datenverarbeitung sind Schlüsseltechnologien, die sich auf die Wettbewerbsfähigkeit unserer gesamten Volkswirtschaft auswirken. ({4}) Es war dringend notwendig, dass die Bundesregierung in diesem Bereich eine Offensive gestartet hat, um nicht abgehängt zu werden und um nicht Arbeitsplätze zu verspielen. Wir brauchen klare und strategische Ziele in einem handlungsfähigen und sozialen Europa, in einem Europa, das zur Verbesserung unserer wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit und unserer Lebensqualität beiträgt, vor allem aber in einem Europa, das hilft, Arbeitslosigkeit zu überwinden und jungen Menschen Perspektiven zu bieten. Deshalb verstehe ich es nicht, wenn hier ein Widerspruch zwischen nationalen Anstrengungen, das heißt den Anstrengungen der Länder, und europäischen Anstrengungen hergestellt wird. ({5}) Natürlich gehören die wirtschaftliche Entwicklung, die kulturelle Entwicklung und die Entwicklung des Arbeitsmarktes zusammen. Es ist ein völliger Unsinn, wenn man so tut, als ob das nichts miteinander zu tun hätte. ({6}) Erfolgreich kann ich Politik nur dann gestalten, wenn ich nicht borniert nur auf ein Ressort schaue, sondern wenn ich einen Querschnitt herstelle und einen Gesamtblick habe. Bildung und Qualifizierung spielen in einer Welt, in der Wissen immer mehr zu dem entscheidenden Wettbewerbsfaktor wird, eine wichtige Rolle. Sie spielen nicht nur für die Entwicklungsfähigkeit unserer Wirtschaft, sondern auch für die individuellen Lebenschancen eines Menschen und für die Chancen, am gesellschaftlichen Fortschritt teilzuhaben, eine entscheidende Rolle. ({7}) Deshalb war es richtig, dass die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Lissabon im März dieses Jahres diese Themen ganz nach oben auf die Agenda gesetzt haben und beschlossen haben, wichtige Schritte nach vorne zu machen und die Investitionen zu erhöhen, aber auch in einer gemeinsamen Anstrengung die Infrastruktur und die Voraussetzungen dafür zu verbessern. Die Bundesregierung hat dies in Deutschland gleich nach ihrem Amtsantritt angepackt. Deshalb verstehe ich die von der PDS geäußerte Kritik nicht. Wir haben bereits 1999 die Ausgaben für Bildung und Forschung um 1 Milliarde DM erhöht. ({8}) Das hat es in den ganzen 20 Jahren zuvor nicht gegeben. Und wir werden damit fortfahren! Wir werden die Ausgaben für Bildung und Forschung nicht kürzen, so wie das mein Vorgänger bzw. die alte Bundesregierung getan hat. Wir werden vielmehr den Zukunftsgedanken ernst nehmen und Investitionen in diesem Bereich weiter verstärken. Wir haben im letzten Jahr 2 Milliarden DM für das Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit eingesetzt und haben damit einen sehr großen Erfolg erzielt. Wir haben erstmals in Deutschland einen Ausbildungskonsens geschaffen. Auch das hat es unter Ihrer Regierung, meine Herren und Damen von der Opposition, nicht gegeben. Gemeinsam mit Wirtschaft und Gewerkschaften haben wir hier einen erheblichen Fortschritt erreicht. Zum ersten Mal haben wir in den neuen Bundesländern wieder mehr betriebliche Ausbildungsplätze. Das zeigt: Es klappt, es geht, wenn man zusammenwirkt. Wir haben mit unseren Beschlüssen und Vereinbarungen ein Gesamtkonzept erarbeitet und ersetzen damit die Flickschusterei während Ihrer Regierungszeit, meine Herren und Damen von der Opposition. ({9}) Was ist neu? Wir modernisieren die Ausbildungsberufe, zum Beispiel die Laborberufe, aber auch die Ausbildung zum Maschinenbaumechaniker, in der es in der Vergangenheit über 200 detaillierte Lerninhalte gab. So etwas wird es in Zukunft nicht mehr geben. Denn wir wollen, dass die Berufe immer so gestaltet sind, dass sie den bestehenden Arbeitsanforderungen tatsächlich entsprechen. Nur so können wir erreichen, dass unsere Jugendlichen eine dauerhafte Berufschance haben. ({10}) Wir geben allen Jugendlichen eine berufliche Chance. Das bedeutet, auch lernschwächeren jungen Menschen eine Perspektive zu bieten. Sie zu motivieren und ihnen eine richtige Berufsausbildung zu geben, das ist unsere Aufgabe. Deshalb sage ich Ihnen ganz klar: Eine „Ausbildung light“ halten wir für falsch und lehnen wir ab. Das Problem der Jugendarbeitslosigkeit kann man nicht durch abgesenkte Bildungsstandards und eine verkürzte Dauer der Ausbildung lösen. Das wäre der falsche Weg. ({11}) Wir haben uns deshalb im Bündnis für Arbeit mit allen Sozialpartnern darauf verständigt, dass auch Jugendliche mit schlechteren Startchancen eine vollwertige Berufsausbildung erhalten sollen. Dies stößt im Übrigen bei den Unternehmen auf eine sehr gute Resonanz. Sie müssen sich einmal die Mühe machen, sich vor Ort zu informieren. ({12}) Ich habe das gemacht und in der letzten Woche einige Unternehmen in Nordrhein-Westfalen besucht. Ein Unternehmen in Ostwestfalen hat sich in Absprache mit den Schulen verpflichtet, lernschwachen Jugendlichen, auch Jugendlichen, die aller Wahrscheinlichkeit nach keinen Hauptschulabschluss erhalten werden, eine Ausbildung anzubieten. ({13}) Das halte ich für eine tolle Sache. Ich wünsche mir, dass viele Unternehmen diesem Beispiel folgen werden. Durch unsere Verabredung im Rahmen des Bündnisses für Arbeit haben wir die Voraussetzungen dafür geschaffen, lernschwachen, benachteiligten Jugendlichen diese Chance zu geben. ({14}) Die Bundesregierung und die SPD-geführten Bundesländer reden also nicht nur über Ausbildung und Qualifizierung, wir handeln. Noch ein Wort zu der Ausbildung in den informationstechnischen Berufen, zu dem Thema „PCs in Schulen und in der Ausbildung“. Wenn Sie sagen, der Computer ersetze nicht das Denken und das Lernen, so ist das sicherlich völlig richtig. Aber genauso richtig ist es, dass das Arbeiten am PC eine erhebliche Motivationsunterstützung sein kann, eine bessere Lehre und auch eine Verbesserung der Qualität des Unterrichts ermöglicht. Deshalb ist es richtig, dass zum Beispiel im Land Nordrhein-Westfalen inzwischen knapp 7 000 Schulen ans Netz angeschlossen wurden. Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg liegen damit in dieser Hinsicht an der Spitze aller bundesdeutschen Länder. ({15}) Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass Sie all das, was wir in den letzten anderthalb Jahren auf den Weg gebracht haben, schon vor einigen Jahren gestartet hätten. Dann nämlich müssten wir heute nicht über mangelnde Qualifikation und Nachwuchsprobleme miteinander diskutieren. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Ja, gerne.

Ilse Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, Sie haben gerade gesagt, wie viele Schulen in Nordrhein-Westfalen ans Netz gegangen sind. Ich frage Sie, warum in Nordrhein-Westfalen noch nicht der Standard anderer Bundesländer erreicht worden ist. In Bayern sind 97 Prozent der Gymnasien, 88 Prozent der Realschulen und etwa 70 Prozent der Hauptschulen ans Netz angeschlossen. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Zunächst einmal: Nordrhein-Westfalen weist ein besseres Ergebnis auf; dort sind mehr Schulen ans Netz angeschlossen als zum Beispiel in Bayern. ({0}) - Sie müssen die Zahl der Schulen addieren. Es geht nicht nur um die Gymnasien, sondern auch um die Hauptschulen, die Berufsschulen, die Realschulen und die Grundschulen. Darauf kommt es an. ({1}) - Es geht doch gerade um die Hauptschulen, Herr Glos. Insbesondere den Jugendlichen an diesen Schulen müssen wir das Arbeiten am PC anbieten, damit auch in dieser Schulform eine bessere Ausbildung ermöglicht werden kann. ({2}) Zum anderen: Gerade Sie von der Opposition haben es in den vielen Jahren Ihrer Regierungszeit versäumt, mit den Ländern und den Netzbetreibern eine Offensive zu starten. ({3}) Wir haben es gemeinsam mit den Netzbetreibern erreicht, dass in den kommenden zwei Jahren alle Schulen kostenlos an das Netz angeschlossen werden. ({4}) Wir haben im Rahmen der Initiative D 21 mit den Unternehmen verabredet, die Hardware-Ausstattung in einer „public private partnership“ so zu erhöhen, dass es in Zukunft in jedem Klassenraum PCs gibt. Wir haben vor einem Monat ein Programm zur Entwicklung von Bildungssoftware gestartet, weil es nicht ausreicht, wenn nur in einem Fach oder in zwei Fächern mit dem PC gearbeitet wird. Das Arbeiten mit dem PC muss genauso selbstverständlich sein wie das Arbeiten mit einem Arbeitsbuch. All das haben wir in anderthalb Jahren geschafft. Hätten Sie das schon Anfang oder Mitte der 90er-Jahre in Angriff genommen, ständen wir heute wesentlich besser da. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage der Kollegin?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Ja, gerne.

Ilse Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, ich konkretisiere: Ich wollte eigentlich nicht die absoluten Zahlen wissen, weil Nordrhein-Westfalen bekanntlich etwas größer ist als Bayern. Mich hätten die Prozentzahlen interessiert.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Wenn Sie in einer Studie nachschauen, die den Zustand Ende 1998 zeigt - sie ist veröffentlicht worden -, werden Sie feststellen, dass Nordrhein-Westfalen auch bei der prozentualen Verteilung sehr gut dasteht. ({0}) - Entschuldigung, Sie müssen alle Schulen gemeinsam betrachten. Dann kommen Sie zu anderen Ergebnissen. Ich will nur darauf hinweisen, dass das Land Nordrhein-Westfalen nicht nur beim Anschluss der Schulen ans Netz sehr gut dasteht, sondern zum Beispiel auch bei der Entwicklung der Informatikstudiengänge, was genauso wichtig ist, wenn wir hier über Spitzenfachkräfte reden. ({1}) - Doch. Da müssen Sie einmal Fakten zur Kenntnis nehmen. ({2}) In Nordrhein-Westfalen hat sich die Zahl der Studienanfänger von 3 211 im Jahre 1995/96 auf 5 419 erhöht. Inzwischen hat jeder vierte in Deutschland ausgebildete Informatiker seinen Abschluss an einer Hochschule in Nordrhein-Westfalen erhalten. Die Zahl der IT-Absolventen ist in NRW zehnmal schneller gestiegen als im Bundesdurchschnitt. Das sind Fakten, meine Damen und Herren. Hier wird also eine ganze Menge gemacht, in sozialdemokratisch regierten Ländern genauso wie auf Bundesebene. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Ministerin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, diesmal des Kollegen Goldmann?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Ja.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Mehr lasse ich aber an dieser Stelle nicht zu.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Ministerin, Sie haben sicher in vielen Punkten Recht. Aber ich frage mich, warum in dem Land, in dem Sie die Landesvorsitzende sind und aus dem der heutige Bundeskanzler kommt, nämlich Niedersachsen, 1996 der Informatikstudiengang an der Universität Hildesheim, ({0}) der sich in besonderer Weise mit Hochtechnologie im Gesundheitsbereich beschäftigte, geschlossen wurde, obwohl die Universität sich sehr dagegen gewehrt hat. Wie erklären Sie es sich, dass erst im Jahr 2000 der jetzige Ministerpräsident von Niedersachsen immerhin den revolutionären Vorschlag macht, die Lehrerzimmer ans Netz anzuschließen?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Das erkläre ich Ihnen sehr gerne. Nur zur Information: Das Land Niedersachsen wird das erste Bundesland sein, das gemeinsam mit der Telekom alle Schulen ans Netz anschließt. Das ist vereinbart worden. Auch da bitte ich Fakten zur Kenntnis zu nehmen und nicht Vorurteile zu pflegen. Zweitens. Ich wiederhole - zum Lernen gehört die Wiederholung, wie man auch hier feststellt -: Im Jahre 1995/96 betrug die Zahl der Informatik Studierenden in Niedersachsen 5 168. In diesem Jahre beträgt die Zahl 5 700. ({0}) Wir haben das Fachhochschulangebot an Informatikstudiengängen - wir haben heute gerade an den Fachhochschulen einen eklatanten Mangel an Studienplätzen in Informatik und in Kombinationen mit Informatik wie Wirtschaftsinformatik etc., den Sie einmal zur Kenntnis nehmen müssen - um 127 Prozent erhöht. ({1}) Das ist eine Entwicklung, die sich wirklich sehen lassen kann. ({2}) - Nein, die Professoren sind nicht nach Dortmund gegangen. Vielmehr sind sie teilweise an andere Hochschulen gegangen und teilweise an der Hochschule geblieben. ({3}) Alle Fachleute sind sich einig, dass es darauf ankommt, dass unsere Hochschulen ein Profil entwickeln, dass sie in der Region ihre Aufgaben vernünftig verteilen. Ich kann von Ihnen nicht verlangen, dass Sie detaillierte Geographiekenntnisse haben, ({4}) obwohl ich denke, dass es zur Allgemeinbildung gehört, zu wissen, wie nahe zum Beispiel Hildesheim bei Hannover, bei Braunschweig oder bei Clausthal-Zellerfeld liegt. Das sind Universitäten, an denen die Informatikstudiengänge ausgebaut worden sind. ({5}) Es ist sinnvoll, das Profil so zu entwickeln, dass man zum Beispiel technische oder naturwissenschaftliche Studiengänge mit Informatik kombiniert. Genau das ist gemacht worden: eine sinnvolle Profilbildung der Hochschulen. Das ist genau das, was in Zukunft notwendig ist. ({6}) Meine Herren und Damen, Sie haben in Ihrer Regierungszeit jahrelang sträflich versäumt, Wirtschaft und Gesellschaft auf die Anforderungen der Informationsgesellschaft vorzubereiten. ({7}) Sie haben zwar Zeit genug gehabt, aber es ist nichts geschehen. Ich meine, das ist auch kein Wunder bei einem Exbundeskanzler, der die Datenautobahn noch dem Verkehrsbereich zuordnete. Wir haben deshalb gesagt: Jetzt ist Schluss damit, wir packen die Probleme an. Das haben wir mit einer Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive, die wir bereits im letzten Sommer gestartet haben, getan. Wir haben die Ausbildungsplätze in der informationstechnischen Branche erheblich gesteigert - 40 000. Wir haben aber auch die Ausbildung und Umschulung erheblich gesteigert. Das ist der Unterschied zu Ihnen. Sie machen eine „WahlkampfABM“, wir setzen auf Beschäftigung, Weiterqualifizierung und Umschulung, weil nur so die Leute die Chance bekommen, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren. Das ist genau der Unterschied. ({8}) Wir haben wichtige Verabredungen getroffen, um eine deutliche Steigerung der Zahl der Hochschulabsolventen zu erreichen. Auch dabei sind wir auf einem guten Weg, weil sich die Zahl der Studienabgänger gegenüber Ihrem letzten Regierungsjahr verdoppelt hat. ({9}) Wir haben mit den Ländern gemeinsam ein Programm „Neue Medien“ gestartet, wir haben die „be.Ing“-Kampagne gestartet, um auch besonders Frauen für die neuen Berufe zu motivieren ({10}) und das ist - wie schon gesagt - bei weitem nicht alles. Lassen Sie mich noch ein Wort zur Green Card für Spitzenkräfte sagen. ({11}) Die informationstechnische Branche ist - so wie ich das am Anfang gesagt habe - die wichtigste Schlüsseltechnologie in den kommenden Jahren. Sie ist eine der wichtigsten Wirtschaftszweige für Wachstum und Beschäftigung. Dieses Wachstum stößt zurzeit in der Bundesrepublik an seine Grenzen, weil es uns an Spitzenfachkräften mangelt. Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, dass sich die gleichen Leute, die in einem hohen Maße die Verantwortung dafür tragen, dass wir einen eklatanten Mangel an Spitzenfachkräften haben, nicht zu schade sind, mit dümmlichen Sprüchen von ihrem eigenen Versagen abzulenken. ({12}) Wie borniert das ist, was Herr Rüttgers hier macht, das hat sich an dem Beispiel, das Peter Struck hier genannt hat, gezeigt. Wie kann man eigentlich so borniert sein, so einen Spruch in die Welt zu setzen und gleichzeitig die Software, die von einem Inder entwickelt worden ist, einsetzen? Wie kann man eigentlich so borniert sein? Wie kann man so verantwortungslos sein? ({13}) Wenn wir wollen, dass sich unsere Wirtschaft so entwickeln kann, dass Arbeitsplätze geschaffen werden, brauchen wir Spitzenfachkräfte. Wir wissen, dass im Zuge eines jeden Spitzenfachkraftarbeitsplatzes drei bis fünf Arbeitsplätze in der Bundesrepublik geschaffen werden. Und wir wollen die Arbeitsplätze hier halten. Ich möchte eben nicht, dass sie ins Ausland abwandern. Wenn wir wollen, dass die Arbeitsplätze hier bleiben, müssen wir die Ausbildungs- und Qualifizierungsanstrengungen, die wir richtig kräftig gestartet haben, fortsetzen. Das werden wir tun. Wir brauchen zur Überbrückung dieses akuten Spitzenfachkraftmangels die Möglichkeit, ausländischen Spitzenkräften hier eine Arbeit anzubieten. Deshalb ist es richtig, dass wir diese Entscheidung getroffen haben, weil durch jeden dieser Spezialisten hier in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitsplätze geschaffen werden. Diese Bundesregierung wird es nicht zulassen, dass diese Chancen verspielt werden, weil wir Arbeitsplätze in der Bundesrepublik sichern wollen. Vielen Dank. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Für den Bundesrat erhält nun der Herr Staatsminister Reinhold Bocklet das Wort. Reinhold Bocklet, Staatsminister ({0}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die europäischen Staats- und Regierungschefs feiern den Aufbruch, den der Gipfel von Lissabon verordnet hat. Die Erklärung des Bundeskanzlers hat dies noch einmal deutlich gemacht. Hohes Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung, Modernisierung des Sozialschutzsystems, Verringerung der Armut und die Anpassung der Ausbildungssysteme an die Erfordernisse der modernen Wissensgesellschaft lauten die stolz verkündeten Ziele. Wer könnte da nicht zustimmen? Neu sind diese Ziele allerdings nicht, auch nicht besonders originell. Wer wünscht sich denn nicht ein hohes Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung oder die verstärkte Nutzung von Computertechnologie und Internet? Was ist also das Besondere an Lissabon? Die Antwort gibt der Ratspräsident, der portugiesische Premierminister Guterres selber. Das Revolutionäre dieses Gipfels, verkündet er, sei die neue Methode, auf die man sich verständigt habe. Davon findet sich in Ihrer Erklärung, Herr Bundeskanzler, leider kein Wort. Die Einigung auf eine neue Methode europäischer Politikgestaltung ist in der Tat der zentrale Aspekt des Gipfels. „Offene Koordinierung“ heißt das Zauberwort. Nach dem Vorbild der europäischen Beschäftigungsstrategie können künftig vom Europäischen Rat in praktisch allen Politikbereichen konkrete Vorgaben gesetzt werden, die von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden müssen. Die jeweiligen Fortschritte bei der Umsetzung werden dann regelmäßig auf EU-Ebene kontrolliert und bewertet. ({1}) Hier geht es um eine fundamentale Systemänderung in der Europäischen Union. Ratspräsident Guterres nennt dies stolz eine „wahre Revolution“ und der britische Premierminister Blair spricht von einer „Gezeitenwende“. Man kann also nicht behaupten, dass hier nicht aufgeklärt worden wäre. Nur bei unserer Regierung ist das offensichtlich nicht angekommen. ({2}) Doch was verbirgt sich hinter diesem „völlig frischen und neuen Politikansatz“, um noch einmal Ratspräsident Guterres zu zitieren? Bleibt es bei der Formulierung schöner Ziele und hehrer Absichtserklärungen? - Beileibe nicht. Neben abstrakten Zielbestimmungen macht der Europäische Rat im Wege der so genannten offenen Koordinierung auch ganz konkrete Vorgaben für die Politik der Mitgliedstaaten. Vorgesehen sind - ich zitiere aus den Schlussfolgerungen -: Festlegung von Leitlinien mit einem jeweils genauen Zeitplan für die Umsetzung; gegebenenfalls Festlegung quantitativer und qualitativer Indikatoren und Benchmarks im Vergleich zu den Besten der Welt; Umsetzung dieser europäischen Leitlinien in die nationale und regionale Politik durch Vorgabe konkreter Ziele und den Erlass entsprechender Maßnahmen und regelmäßige Überwachung, Bewertung und gegenseitige Prüfung. Das ist es, was vielen für Europa vorschwebt. Der Europäische Rat als Taktgeber, die Mitgliedstaaten als Vollzugsorgane und die Kommission allenfalls als Kontrolleur - und das vorbei an den vertraglichen Zuständigkeitsregelungen und am Strukturgefüge der Verträge. Das ist die staatspolitische Gefahr, die vom Lissaboner Gipfel ausgeht. ({3}) Die Parlamente in Bund und Ländern werden ins Abseits gedrängt, die politischen Verantwortlichkeiten werden verwischt. Die wesentlichen politischen Entscheidungen fallen nicht mehr hier in diesem Haus, sondern beim Europäischen Rat. Nicht nur grundlegende politische Weichenstellungen werden dort vorgenommen, es werden höchst konkrete präzise Vorgaben für die Politik in den Mitgliedstaaten gemacht. Die Parlamente sind beim Zustandekommen dieser Beschlüsse in keiner Weise beteiligt, wohl aber bei der Umsetzung nachher daran gebunden. Sie werden folglich in immer stärkerem Maße zu bloßen ausführenden Organen für Politiken, die praktisch ohne öffentliche Diskussion und jedenfalls ohne Beteiligung der nationalen Parlamente festgelegt worden sind. In letzter Konsequenz führt diese so genannte neue Methode der offenen Koordinierung zur Entmachtung der Parlamente und damit zur Entparlamentarisierung und zur Entdemokratisierung der Politik. Das gilt übrigens für die Parlamente in den Mitgliedstaaten ebenso wie für das Europäische Parlament. Auch der EG-Ministerrat und die Europäische Kommission verlieren an Einfluss zugunsten des Europäischen Rates. Fürwahr eine fundamentale Weichenstellung! Nicht ohne Grund spricht Christian Wernicke in der „Zeit“ deshalb von einem „Putsch von oben“. Damit nicht genug. Mit der so harmlos klingenden „offenen Koordinierung“ kann sich der Europäische Rat in Zukunft leicht über die vertraglich vereinbarte Kompetenzordnung hinwegsetzen. Er kann den Mitgliedstaaten auch in solchen Politikfeldern konkrete quantitative Vorgaben machen, in denen die EU keine Zuständigkeiten besitzt. Davon wurde in Lissabon bereits intensiv Gebrauch gemacht. So gibt der Europäische Rat beispielsweise als Ziel die Weiterentwicklung von Schulen und Ausbildungszentren zu „lokalen Mehrzwecklernzentren“ vor. ({4}) Diese sollen allen offen stehen und ein möglichst breites Spektrum von Zielgruppen erreichen. Was soll man sich darunter vorstellen? ({5}) Etwa eine europäische Gesamtschule? Ebenso wird die europaweite Absolventenquote für einzelne Schulabschlüsse festgelegt. So soll die Zahl der 18- bis 24-Jährigen mit einem Abschluss der Sekundarstufe I halbiert werden. Europa will also festlegen, wie viele Abiturienten, wie viele Mittlere Reifen und wie viele Hauptschulabschlüsse es geben soll. Das geht Europa mit Verlaub gesagt - überhaupt nichts an und es wäre auch nicht sachgerecht. ({6}) Die politische Verantwortung dafür tragen in Deutschland die Landesregierungen und Länderparlamente. Diese kann und soll ihnen weder der Bundeskanzler noch Europa abnehmen. Weiter wird ein „europäischer Rahmen“ für die zu vermittelnden neuen Grundfertigkeiten angestrebt. Darüber hinaus wird dem EG-Ministerrat der Auftrag erteilt, allgemeine Überlegungen über die konkreten künftigen Ziele der Bildungssysteme anzustellen. Ich wiederhole: Bei alledem handelt es sich nicht um europäische Aufgaben. In Deutschland fallen diese Angelegenheiten in die Zuständigkeit der Länder. Der Bundesrat hat daher im Vorfeld von Lissabon ausdrücklich vor Festlegungen in diesen Bereichen gewarnt. Das kam nicht nur von Bayern, Herr Bundeskanzler, sondern ist ein Anliegen aller deutschen Länder. ({7}) Doch der Bundeskanzler hat sich in Lissabon über die klare einstimmige Stellungnahme des Bundesrates hinweggesetzt ({8}) und damit seine verfassungsrechtlichen Pflichten aus Art. 23 des Grundgesetzes grob verletzt. ({9}) Staatsminister Reinhold Bocklet Daran ändert auch Ihr - jedenfalls bislang - erfolgloser Einsatz für den Bestand öffentlicher Daseinsvorsorge nichts. Der Satz in den Schlussfolgerungen des Gipfels: Der Europäische Rat ersucht die Kommission, ihre Mitteilung von 1996 in Einklang mit dem Vertrag zu überarbeiten, führt nicht weiter, weil es nicht darauf ankommt, eine weitere Interpretation des Vertrages zu liefern, sondern darauf, die Daseinsvorsorge im Vertrag selbst abzusichern. Dieses notwendige Ziel hat der Herr Bundeskanzler ganz offensichtlich bereits aufgegeben. Doch es geht nicht nur um Eingriffe der Europäischen Union in Länderhoheitsrechte. Es drohen auch massive Einschnitte in Bundeszuständigkeiten, so etwa in der Sozialpolitik. So heißt es etwa im Beschlusstext, die Sozialschutzsysteme müssten angepasst werden. Dabei hat der Gipfel besonders die Tragfähigkeit der Altersversorgungssysteme im Blick. Ich frage Sie: Wollen Sie die Neuordnung der Rentenversicherung jetzt europäisch regeln? Bezeichnenderweise erklärte Kommissionspräsident Prodi am 17. Februar im Ausschuss der Regionen: Wir sollten aufhören, in Kategorien wie Kompetenz und Subsidiarität zu denken. Das sind veraltete Konzepte. Stattdessen müsse über ein „Netzwerk Europa“ nachgedacht werden. Bei einer solchen Denkweise brauchen wir auf Regierungskonferenzen gar nicht mehr über Vertragsänderungen zu verhandeln und sie dann in Bundestag und Bundesrat zu ratifizieren. Vertragliche Regelungen sind bei diesem Politik- und Rechtsverständnis ohnehin Makulatur. Mindestens genauso schlimm ist, dass der gewählte Ansatz für die Erreichung des eigentlichen Ziels, nämlich die Stärkung Europas im globalen Wettbewerb, völlig kontraproduktiv ist. Hier kehrt sie wieder, die alte Planungsgläubigkeit, die sich doch längst als untauglich erwiesen hat. ({10}) Der Gipfel lebt in der Illusion, man könne einen riesigen Wirtschaftsraum planwirtschaftlich steuern. Er lähmt mit dieser Planungsgläubigkeit die Eigeninitiative in den Mitgliedstaaten und Regionen sowie den fruchtbaren Wettbewerb untereinander. Ziel des Gipfels war es, die USA einzuholen und zu überholen. Doch genau das Mittel, das die USA stark gemacht hat, der innere Wettbewerb, wird nicht angewandt. Stattdessen vertraut man auf planwirtschaftliche Vorgaben und zentrale Konzepte, die den Wettbewerb unter den Mitgliedstaaten begrenzen und behindern. ({11}) Folgerichtig fehlt das Wort „Wettbewerb“ auch in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers. Darüber hinaus werden die Planvorgaben bei den schwächeren Staaten zum Ruf nach zusätzlicher finanzieller Förderung führen, die wiederum zulasten des Hauptnettozahlers Deutschland geht. Statt einer wettbewerbsorientierten Standortpolitik, wie sie Länder wie zum Beispiel Bayern mit der „Offensive Zukunft Bayern“ und der High-Tech-Offensive betreiben, droht jetzt unter Berufung auf die Lissabon-Quoten massiver Druck auf die Europäische Zentralbank mit Gefahren für den Euro-Stabilitäts-Pakt. Herr Bundeskanzler, mit der Methode des Gipfels von Lissabon degradieren Sie die nationalen Parlamente zu bloßen Umsetzungsorganen des Europäischen Rates, stellen Sie zentralistische Bevormundung vor nationale und regionale Eigenveranwortung und Wettbewerb und setzen Sie generelle europäische Allzuständigkeit an die Stelle subsidiärer Aufgabenerledigung. Mit dieser Methode verraten Sie die Vision von Europa. ({12}) Sie verlassen den Weg der Europapolitik der letzten Jahrzehnte und kündigen den europapolitischen Konsens von Ihrer Seite aus auf. ({13}) Mit dieser Methode werden Sie Europa nicht an die Spitze, sondern in eine Krise führen. ({14}) Dies ist das gefährliche Fazit von Lissabon. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Sterzing.

Christian Sterzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002810, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich wollten wir heute vor allen Dingen über Lissabon diskutieren. ({0}) Aber Green Cards und die fremdenfeindlichen Postkartenaktionen sind sehr stark in den Vordergrund der Debatte gerückt. Insofern stellt sich natürlich die Frage, welcher Zusammenhang zwischen der europäischen Dimension und dem besteht, was derzeit in Nordrhein-Westfalen von der Opposition im Wahlkampf betrieben wird. Gestern habe ich in den Tickermeldungen einen solchen Zusammenhang feststellen können. In einer Meldung heißt es: Die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ({1}) hat sich besorgt über den Wahlkampf der nordrhein-westfälischen CDU geäußert. ({2}) Mit Parolen wie „Kinder statt Inder“ habe CDUSpitzenkandidat Jürgen Rüttgers die politische Debatte in Deutschland auf einen neuen Tiefpunkt gebracht, erklärte der EUMC-Verwaltungsratsvor-sitzende. Staatsminister Reinhold Bocklet ({3}) Weiter heißt es: Dadurch würden Fremde zu Sündenböcken gestempelt und Minderheiten bedroht. Die EUMC griff ebenfalls die österreichische Regierungskoalition aus konservativer ÖVP und den rechtspopulistischen Freiheitlichen ({4}) an. ... Ein Schlüsselelement im Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sei es, keine Koalitionen mit der extremen Rechten einzugehen. So weit ist es also gekommen, dass Haider und Rüttgers in einem Atemzug genannt werden! ({5}) Das sollte uns alle sehr nachdenklich stimmen. Der Zusammenhang zwischen Österreich, Haider und der EU war offensichtlich der Opposition so wichtig, dass der Kollege Merz glaubte, damit seine Einstandsrede als Fraktionsvorsitzender eröffnen zu müssen. Das scheint nun wohl zu einem Dauerthema der Opposition zu werden. Wir haben in Lissabon beobachtet, dass Schüssel zwar sein „Mascherl“ abgelegt und eine Krawatte umgebunden hat. ({6}) Aber diese Einordnung in die europäische Kleideretikette reicht nicht aus, damit man wieder Business as usual treiben kann. ({7}) An dieser Stelle muss noch einmal deutlich gesagt werden, dass es keine Sanktionen der EU gegen Österreich gibt. Es gibt lediglich ein abgestimmtes Verhalten der 14 anderen Mitgliedstaaten. Die entsprechenden Passagen in Ihrem Antrag zum heutigen Tage sind leider falsch und irreführend. Sie werfen dort der Bundesregierung vor, sie mische sich parteipolitisch motiviert in die inneren Angelegenheiten Österreichs ein. Dies ist eine Äußerung wider besseren Wissens. Sie brauchen nur in die Meldungen der Agenturen zu schauen. Dort steht: Der Vorstand der Europäischen Volkspartei ({8}) im Europaparlament stimmt am Donnerstag über einen zeitweiligen Ausschluss der Österreichischen Volkspartei ({9}) ab. Der ÖVP wird von mehreren konservativen Gruppen die Koalition mit den rechtspolitischen Freiheitlichen ({10}) von Jörg Haider vorgehalten. Was also ist mit der parteipolitisch motivierten Einmischung? Es scheint offensichtlich auch innerhalb der konservativen Parteien Österreichs ein Problem zu geben. Es ist aber gerade die CDU/CSU, die ihre schützende Hand nicht nur über die ÖVP, sondern damit auch indirekt über Haider legt. ({11}) Es ist darauf hinzuweisen, dass hinsichtlich dieser Position eine weitere Übereinstimmung in den übrigen 14 Mitgliedstaaten in Europa herrscht. Der Ausschuss der Regionen - Herr Haider ist dort Mitglied - hat am 17. Februar beschlossen, dass er bedauert, dass an der österreichischen Regierung eine Partei beteiligt ist, die sich für Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus und Ungleichheit ausspricht. ({12}) Außerdem befürchtet er, dass solche Ideen in der Zukunft verharmlost werden könnten. „Verharmlosung“ ist das Stichwort in diesem Zusammenhang. Die Rüge an die Adresse der ÖVP richtet sich natürlich auch an Sie von der Opposition, denn Sie leisten dieser Verharmlosung Vorschub. ({13}) Die Diskussion in der ÖVP und im Ausschuss der Regionen zeigt deutlich, dass die Kritik an der Bundesregierung, die Sie üben, sehr unaufrichtig ist. Die Haltung der übrigen 14 EU-Mitgliedstaaten zu dieser Koalition ist kein Problem der sozialdemokratischen Parteien in Europa, es ist vielmehr ein Problem der Konservativen in Europa und besonders eines von der CDU und der CSU. ({14}) Insofern ist nicht die Solidarität mit der ÖVP gefragt, sondern die Distanzierung von ihr. Damit würden Sie der Wertegemeinschaft in der Europäischen Union einen besseren Dienst leisten, als Sie das mit den Solidaritätsbekundungen tun. ({15}) Ich höre immer die Sprüche, dass man von Haider und der FPÖ natürlich nichts halte. Lassen Sie mich auf einen Zeitungsartikel zu sprechen kommen, den ich entdeckt habe. Er stand im Jahre 1991 im „Münchner Merkur“. Dort wird geschrieben: Er hatte ihnen aus der Seele gesprochen. Zufriedenes Kopfnicken bei Bayerns Innenminister Edmund Stoiber und langanhaltender Beifall von Umweltminister Peter Gauweiler, der dem Redner freudig viele Gemeinsamkeiten mit der CSU bescheinigte. Kein Wunder: Jörg Haider, Landeshauptmann von Kärnten ... - das war er damals ja auch schon -, zeigte sich beim fünften „Münchner Gespräch“ des CSU-Bezirksverbandes so recht nach dem GeChristian Sterzing schmack der Christsozialen als leidenschaftlicher Föderalist und Europäer. Edmund Stoiber blieb am Ende nur die undankbare Rolle des Co-Referenten, hatte doch der Gast, „das einzige liberale Oberhaupt eines europäischen Landes“ ({16}), mit seinem Referat zum Thema „Österreich und Bayern ...“ schon alles vorweggenommen. Angesichts so vieler Gemeinsamkeiten, die im Jahre 1991 bekundet wurden, denke ich, überrascht natürlich nicht, warum Herr Stoiber der ÖVP kurz nach den österreichischen Wahlen die Koalition mit der FPÖ empfohlen hat.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Abgeordneter, es besteht der Wunsch nach einer Zwischenfrage. Ich suche nur den Namen des Kollegen. ({0}) - Herr Dr. Müller, bitte schön.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, es ist nicht unbedingt notwendig, dass Sie meinen Namen kennen. ({0}) Wie bewerten Sie die Tatsache, dass nach den Wahlen in Österreich im Herbst 1999 der damalige SPÖ-Bundeskanzler zunächst der Partei von Jörg Haider ein Angebot zum Eintritt in die Regierung gemacht hatte und die jetzige Entwicklung erst einsetzte, als Jörg Haider erklärte: „Mit dem nicht“? Wie bewerten Sie darüber hinaus die Tatsache, dass die SPÖ, die sozialistischen Brüder der SPD, mit der FPÖ bis heute in fünf Landesregierungen Österreichs sitzt?

Christian Sterzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002810, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie können mich nicht für das Verhalten von Sozialdemokraten in Österreich in die Verantwortung nehmen. Sie wissen, dass wir dieses Problem hier schon mehrfach angesprochen haben. Ich denke, es geht um die politische Gemeinsamkeit, die hier zwischen CSU, ÖVP und auch FPÖ zum Ausdruck gekommen ist. ({0}) Das ist der entscheidende politische Punkt, den es hier festzuhalten gilt und der auch Ihr Verhalten und Ihr ständiges Betonen erklärt, es gehe Ihnen um dem Schutz Österreichs. Das ist in diesem Zusammenhang das politische Problem: die Behandlung Österreichs innerhalb der Europäischen Union. Die Gemeinschaft hat in Lissabon sehr deutlich gesagt - Präsident Guterres hat es betont -, es gehe nicht um eine Strafaktion gegen Österreich, gegen die österreichische Bevölkerung, sondern darum, dass man mit einer solchen Regierung nicht einfach wieder zu einem „business as usual“ zurückkehren kann. Das ist der Punkt. Ich glaube, vor dieser Auseinandersetzung - auch mit der ÖVP - können Sie sich nicht drücken. ({1}) Sie versuchen - das ist natürlich Ihr Recht - immer wieder, Haare in der europapolitischen Suppe zu entdecken. Das tun Sie auch im Zusammenhang mit dem Lissabonner Gipfel. Auch hier ist darauf hinzuweisen, dass es nicht die Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung ist, sondern dass es die Widersprüchlichkeit und die Konzeptionslosigkeit der Europapolitik der CDU/CSU sind, die hier zu sehr merkwürdigen Einschätzungen führen. Da wurde von Herrn Merz der zunehmende Einfluss des Europäischen Rates zulasten der Mitgliedstaaten kritisiert. Die Gewichtsverlagerung von der Kommission zum Europäischen Rat ist nach meiner Meinung eine durchaus bedenkliche Entwicklung. Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, Sie müssen sehen, dass diese Form der Gewichtsverlagerung innerhalb des Institutionengefüges der EU durch den Amsterdamer Vertrag eingeleitet worden ist. Sie laborieren insofern an den Folgen einer Politik herum, die Sie ganz entscheidend mit auf den Weg gebracht haben. Ich glaube, Ihre Widersprüchlichkeit ist auch heute besonders deutlich geworden. Herr Merz hat dem Bundeskanzler vorgeworfen, er habe das Wort „Wettbewerb“ kein einziges Mal erwähnt. Hinsichtlich der Einstellung von Herrn Stoiber zitiere ich aus der „Berliner Zeitung“ von gestern: Schröder hat mit dem Kapitalismus seinen Frieden geschlossen. ({2}) Dies sei ein Wandel, als ob die Union plötzlich für die Abtreibung einträte.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Sterzing, denken Sie bitte an Ihre Zeit.

Christian Sterzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002810, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum letzten Satz. Angesichts dieser Widersprüchlichkeit in der Analyse der Europapolitik der Bundesregierung durch die Opposition wird es niemanden von uns überraschen, dass die Opposition selbst in der Europapolitik äußerst konzeptionslos ist und bei solchen Debatten immer wieder den Versuch macht, auf politische Nebenkriegsschauplätze auszuweichen. Dies werden wir auf Dauer nicht hinzunehmen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Martina Krogmann.

Dr. Martina Krogmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Natürlich stimmen wir den Zielen von Lissabon zur Entwicklung des Internets ausdrücklich zu. Es kommt aber entscheidend auf die Maßnahmen und ihre Umsetzung an. Was Sie, Frau Bulmahn, heute abgeliefert haben, ist einer Bildungsministerin unwürdig. ({0}) Ich will Ihnen ein einfaches Beispiel aus der Wirklichkeit rot-grüner Politik geben: Zurzeit wird in Nordrhein-Westfalen ein neues Dreiländerhochschulprojekt für den Studiengang Informatik durch die Unfähigkeit von Rot-Grün blockiert. Die jeweilige belgische und die holländische Hochschule haben den Studiengang bereits eingerichtet, die Studenten stehen Schlange. Nur das Wissenschaftsministerium in Düsseldorf schafft es nicht, die notwendigen Fristen einzuhalten. Deshalb droht jetzt das gesamte Projekt zu scheitern. Ich darf aus einem Brief des niederländischen Projektkoordinators Willem Uitterhoeve zitieren: Der deutsche Bundeskanzler setzt auf Multimedia und Internet und möchte in Indien Spezialisten anwerben. Gleichzeitig bekommen deutsche Studenten nicht die Chance, an einem innovativen Studiengang teilzunehmen, der sich gerade auf die Themen Multimedia und Internet stützt. Das ist ein Skandal, meine Damen und Herren! ({1}) Hören Sie einmal, was der Bundesverband der Freien Berufe zu den Auswirkungen des 630-DM-Gesetzes und des Gesetzes zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit gesagt hat. Ich zitiere: Im Bereich der Informatik haben 40 Prozent der befragten Freiberufler Auftragsverluste beklagt. Weiter heißt es, „... die Zahl der Neugründungen..., insbesondere im EDV-Bereich,“ ist durch die beiden Gesetze erheblich zurückgegangen. Dieses Beispiel macht leider deutlich, wie Sie Politik machen. Sie geben Lippenbekenntnisse für eine moderne Politik ab, doch die Realität zeigt: Der alte Mief von gestern kennzeichnet noch immer rot-grüne Politik. ({2}) Ich finde es schade, dass Sie von der Wirklichkeit so weit entfernt sind; dadurch ({3}) verpassen wir enorme Chancen, Herr Kollege. Vergessen Sie bitte nicht: ({4}) Wir leben in einer Zeit des ungeheure schnellen Wandels.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Tauss, ein bisschen zurückhaltender, bitte.

Dr. Martina Krogmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir stehen mitten in einer Revolution unseres gesamten Wirtschaftslebens, was Sie immer noch nicht begriffen haben. Noch nie zuvor hat sich ein Medium so schnell entwickelt wie das Internet. Noch nie zuvor waren die Auswirkungen einer neuen Technik so weit reichend. Das Zeitalter der Internetwirtschaft hat begonnen - mit ungeheuren Chancen für unsere Arbeitsplätze. Die USA haben uns Europäern vorgemacht, wie das geht. Sie haben seit 1993 20 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen, davon 80 Prozent im Dienstleistungsbereich und hier wiederum zum überwiegenden Teil im Bereich der neuen Medien. Es ist natürlich richtig, dass auch Europa, wie in Lissabon geschehen, endlich die Chancen der New Economy nutzen will, dass wir auf europäischer Ebene den ordnungspolitischen Rahmen verbessern und weiter liberalisieren. Denn wie in Europa und gerade wir in Deutschland haben große Chancen: Wir haben weltweit die modernsten und leistungsfähigsten Telekommunikationsnetze. Wir sind in der Verbreitung von ISDN-Anschlüssen international führend. ({0}) Aber trotz dieser guten Voraussetzungen müssen wir feststellen, dass wir bei der Schaffung von neuen Arbeitsplätzen in diesem Bereich hinterherhinken. Seit Rot-Grün an der Regierung ist, ist die Zahl der Arbeitslosen um mehr als 175 000 gestiegen. Andere Länder sind bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze erfolgreicher gewesen als wir. Ich denke hier an die Niederlande, Dänemark, Großbritannien und Irland, mit Blick auf das vergangene Jahr sind hier auch Spanien und Frankreich zu nennen. Nur Sie schaffen es nicht. Der Grund dafür ist Ihre vollkommen verfehlte Wirtschaftsund Finanzpolitik. ({1}) Neue Arbeitsplätze schaffen Sie nur durch strukturelle Reformen, durch eine Senkung der Steuer- und Abgabenlast, durch eine Senkung der Staatsquote und vor allem durch eine Liberalisierung der Arbeitsmärkte. Andere Länder machen uns doch vor, wie das geht. Natürlich hat jedes Land gemäß seiner Kultur seine eigenen Instrumentarien genutzt. Aber dennoch gibt es zwei Gemeinsamkeiten, die alle diese erfolgreichen Länder haben: Das eine ist eine niedrige Staatsquote und das andere sind liberalisierte Arbeitsmärkte. Bei uns geht die Staatsquote hoch. Sie versuchen, unsere Arbeitsmärkte immer noch in das Korsett der 70er-Jahre zu pressen. Sie sind auch nicht bereit, über den Tellerrand zu schauen und von erfolgreichen Ländern in Europa, von denen wir umgeben sind, zu lernen. Aber gerade in dem Prozess des Voneinander Lernens steckt die große Chance der EU bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Gerade bei der wichtigen Frage der Beschäftigungspolitik müssen wir die Frage nach der Kompetenzabgrenzung stellen: Was kann, was muss Europa leisten? Was kann, was muss bei den Nationalstaaten und bei den Bundesländern verbleiben? Wir haben über 15 Millionen Arbeitslose in Europa. Wenn wir, nur um Verantwortung abzuschieben, immer mehr Aufgaben auf die europäische Ebene übertragen, wecken wir Erwartungen, die die EU nicht erfüllen kann. Genau dies tun Sie aber: Sie schieben Verantwortung ab, um von den eigenen Problemen abzulenken. Damit schaden Sie Europa und dem europäischen Integrationsprozess. ({2}) Es ist vollkommen absurd zu glauben, mit verbindlichen quantitativen Zielvorgaben und immer mehr bürokratischen Koordinierungsprozessen auf europäischer Ebene Arbeitsplätze schaffen zu können. Die Ursachen und damit auch die Lösungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sind in Europa viel zu unterschiedlich. In Andalusien hat die Arbeitslosigkeit andere Ursachen als im Bayerischen Wald und im Bayerischen Wald wiederum andere als im Emsland oder in der Lausitz. Direkt vor Ort gibt es die beste Sachkenntnis bezüglich der Arbeitsmarktlage und der Anforderungen der örtlichen Wirtschaft. ({3}) Die Lösung der Probleme haben Sie bisher nicht in Angriff genommen. Stattdessen haben Sie in Lissabon eine Charta für Kleinstunternehmer in Auftrag gegeben. Der Bundeskanzler hat vorhin in seiner Regierungserklärung das Wort online entdeckt. Ich stelle fest, dass er in der Sache ziemlich offline ist. ({4}) Ich würde Ihnen vorschlagen, doch mal mit jungen Existenzgründern aus dem IT-Bereich und mit SoftwareEntwicklern zu reden. Die sagen Ihnen: Wir brauchen keine Charta, sondern vernünftige wirtschaftliche Rahmenbedingungen. ({5}) Reden Sie einmal mit jungen Existenzgründern aus der ITBranche über EU-Förderprogramme. Die sagen Ihnen, dass die Prozedur, bis sie das Geld bekommen, so lange dauert, dass in der Zwischenzeit die Idee veraltet. Wir wollen vernünftige Rahmenbedingungen. ({6}) Stattdessen haben Sie während Ihrer Ratspräsidentschaft den makroökonomischen Dialog auf EU-Ebene ins Leben gerufen. Dieses bürokratische Ungeheuer allein beweist schon, dass Sie von der Wirklichkeit der New Economy, des E-Commerce, des E-Learning und des Internets Lichtjahre entfernt sind. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, Herr Tauss kann scheinbar gleichzeitig telefonieren und sich zu einer Zwischenfrage melden. Lassen Sie diese zu?

Dr. Martina Krogmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, jetzt nicht, er ist wieder einmal zu spät dran. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Dann muss ich Sie darauf hinweisen, dass Ihre Redezeit schon überschritten ist. Sie können noch einen Schlusssatz sprechen.

Dr. Martina Krogmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Hören Sie auf, die Verantwortung auf Europa abzuschieben. Schaffen Sie endlich hier neue Arbeitsplätze und machen Sie endlich eine moderne Wirtschafts- und Finanzpolitik! Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günter Gloser.

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Debatte verfolgt, muss man sich manchmal fragen, in welcher Welt eigentlich die Christlich Demokratische Union und auch die Christlich-Soziale Union leben. ({0}) Frau Dr. Krogmann, ich möchte an Ihre Ausführungen anknüpfen: Diese Bundesregierung macht eine moderne Wirtschafts- und Bildungspolitik und damit Zukunftspolitik. ({1}) Das ist auch das Ergebnis des Lissabonner Gipfels. ({2}) Ich möchte einmal in der Geschichte zurückgehen: Es war die Sozialdemokratie, die während ihrer Oppositionszeit darauf gedrungen hat, dass in den Amsterdamer Vertrag ein Beschäftigungskapitel aufgenommen wird. ({3}) Sie haben weit gefehlt, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Wir wollten keine zentralistische europäische Beschäftigungspolitik, sondern wollten in der Tat eine Abstimmung auf europäischer Ebene. Da gibt es auch keinen Widerspruch zwischen uns. Auch Sie haben gesagt, dass in bestimmten Bereichen ein Schauen über den Gartenzaun stattfinden muss und man vom anderen lernen soll. Genau das ist unsere Devise. Nichts anderes machen wir. Herr Staatsminister Bocklet, wenn man aus der Trutzburg der Bayerischen Staatsregierung kommt, dann ist klar, dass man sich eine virtuelle Welt aufbauen muss. Dabei kommt man dann zu solchen Ergebnissen, wie sie heute in Ihrer Rede zu hören waren, aber auch in Ihrer Presseveröffentlichung nachzulesen sind. Wenn Sie von planwirtschaftlichen und sonstigen zentralistischen Elementen sprechen, frage ich mich mittlerweile: Wo lebt Ihr Ministerpräsident? Wo leben Sie? Haben Sie eigentlich begriffen, dass auf dem Lissabonner Gipfel nicht nur sozialdemokratisch geführte, sondern konservativ geführte Regierungen vertreten waren? Jean-Claude Juncker, Christdemokrat aus Luxemburg, sagte schon vor vielen Jahren. Wir müssen uns gerade im Bereich der Beschäftigungspolitik klare Ziele setzen. Auch hier müssen wir das erreichen, was wir beim Euro erreicht haben. Nach dem Gipfel in Lissabon hat er gesagt. Endlich einmal ein Ergebnis, das von anderen Gipfelergebnissen abweicht, endlich, nicht die übliche Lyrik, sondern ganz konkrete Verabredungen! Ich denke, dazu hat auch diese Bundesregierung einen wesentlichen Beitrag geleistet. ({4}) Der neue Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU hat uns in seiner so genannten Einstandsrede vorgeworfen, es gebe keine Visionen keine visionären Vorstellungen dieser Bundesregierung in Sachen Europapolitik. Doch was helfen alle wunderschönen Sonntagsreden, die wir alle halten können, wenn wir nicht gerade im Bereich des Abbaus von Arbeitslosigkeit, des Zuwachses von Beschäftigung in den nächsten Jahren vorankommen - natürlich bei klaren europäischen Zielvorgaben? Darum geht es, nicht um das Klein-Klein, wie uns die Rednerinnen und Redner der Opposition heute ständig weismachen wollten. ({5}) Diese Bundesregierung hat diese Perspektive aufgegriffen. Wenn wir heute über Zukunft sprechen, dann sprechen wir auch junge Menschen an: Sie wollen arbeiten. Sie brauchen eine Ausbildung. Sie möchten eine entsprechende schulische Qualifikation haben. Sie möchten nicht mit Aussagen eines Mannes konfrontiert werden, der sich noch vor wenigen Jahren mit dem Etikett des Zukunftsministers geschmückt hat. Dieser Mann gehört der Vergangenheit an. Er ist der Erste, der in eine Qualifizierungsoffensive hinein müsste. ({6}) Lassen Sie mich noch - die Opposition macht dies gerne zum Thema - die Frage der Vertrauenswürdigkeit dieser Bundesregierung ansprechen, auch im Hinblick auf die Osterweiterung - . der Kollege Dr. Haussmann kann nicht mehr hier sein, weil er sich beim verbalen Austausch vermutlich den Fuß verletzt hat; ({7}) deshalb jetzt an die Adresse der - Union: Wir wollen die Bürgerinnen und Bürger bei diesem europäischen Erweiterungsprozess mitnehmen; das ist völlig klar. Dem, der bei sämtlichen europäischen Debatten pausenlos sagt, nun müsse ein Termin her, antworte ich: Was hat es für einen Sinn, jetzt konkret Termine zu nennen, wenn gerade die bayerische CSU ständig verlangt, die Osterweiterung nicht zu schnell durchzuführen? Es müssen sich also Prozesse entwickeln. Wir können, Herr Bocklet, in diesem Punkt möglicherweise eine Übereinstimmung erreichen. Aber dann müssten Sie - Ihrem Ministerpräsidenten werden Sie es nicht sagen können, das werde ich machen müssen endlich Ihre chamäleonhafte Politik aufgeben. Sie können nicht auf der einen Seite einem Gast aus Osteuropa, dessen Land zu den Beitrittskandidaten gehört, sagen: Natürlich, wir wollen den raschesten und schnellstmöglichen Beitritt. Kaum ist er wieder weg, wird auf der anderen Seite typisch Stammtischpolitik in Bayern - auf die Bremse gedrückt. Ich meine, Sie sollten diese Doppelmoral endlich aufgeben. ({8}) Natürlich, wir wissen, welche Anpassungsprozesse die Osterweiterung mit sich bringen wird, gerade auch im Hinblick auf den Arbeitsmarkt. Wir als SPD nehmen die Ängste und Befürchtungen, die vielleicht in unmittelbar an den Grenzen liegenden Regionen vorhanden sind, gerade auch was die Freizügigkeit angeht, ernst. Aber unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker ist es, den Leuten nicht ständig die Angst zu bestätigen, sondern wir sollten versuchen, gerade auch im Bereich der Arbeitsplätze, unsere Verantwortung wahrzunehmen, indem wir die Risiken minimieren, und nicht noch Ängste schüren. ({9}) Fazit: Europäische Beschäftigungspolitik ist ein typisch sozialdemokratisches Projekt. Wir haben das initiiert und umgesetzt. Ein anderes Projekt ist die europäische Grundrechtscharta, zu der wir gestern eine sehr interessante Anhörung hatten. Die Union wollte das Beschäftigungskapitel und auch die Grundrechtscharta nicht. Davon spricht aber in der Union keiner mehr. Heute wollen alle diese Weiterentwicklungen. Ich habe diesen Punkt ganz bewusst erwähnt, weil Herr Kollege Dr. Haussmann vorhin den ehemaligen Ministerpräsidenten aus Polen genannt hat. Ich bitte Sie von der Union: Lassen Sie uns den Grundkonsens gerade in der europäischen Politik, der über viele Jahrzehnte bestanden hat, fortsetzen! Es hat keinen Sinn, jeden Tag nur Erbsenzählerei zu betreiben. Lassen Sie uns vielmehr diese europäische Idee in vielen Bereichen umsetzen! Herr Fraktionsvorsitzender Merz, bringen Sie den größeren Teil Ihrer Fraktion wieder auf den europäischen Weg! Es gibt bei Ihnen doch die überzeugten Europäer, die viele Dinge anpacken wollen. Aber sie sind momentan in der Minderheit. Bei Besuchen im Ausland können sie zwar viele hehre Worte sagen, aber in der Fraktion haben sie momentan kein Gewicht mehr. ({10}) Wir haben als SPD-Bundestagfraktion der Bundesregierung für ihre Initiativen auf diesem Beschäftigungsgipfel zu danken. Wir sind uns sicher, dass die Bundesregierung in den Bereichen Wirtschaft, Bildung und Beschäftigung die Zukunft gestalten wird. Das ist ein guter Weg für Europa. Lissabon brachte ein gutes Ergebnis für diese Bundesregierung. Vielen Dank. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Franz Thönnes.

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die neue Bundesregierung wird die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den Mittelpunkt der europäischen Politik stellen. Ihr Ziel ist ein europäischer Beschäftigungspakt. In die beschäftigungspolitischen Leitlinien sollen verbindliche und nachprüfbare Ziele vor allem zum Abbau der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit sowie zur Überwindung der Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, aufgenommen werden. So steht es im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien. Das haben wir versprochen; das haben wir gehalten. Es ist gut, dass es in Deutschland wieder eine Regierung gibt, die die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auch auf europäischer Ebene in den Mittelpunkt stellt. Es ist auch gut, dass es einen Kanzler gibt, der nicht nur redet, sondern gemeinsam mit den anderen Ländern in Europa handelt. ({0}) Die beiden Tage des Sondergipfels am 23. und 24. März dieses Jahres waren gute Tage für Europa und für Deutschland. Sie haben gezeigt: Europa wird menschlicher. Das Maß aller Dinge ist eben nicht der Shareholder-Value. Jetzt wird endlich über den Menschen gesprochen. Der Titel des Gipfels „Beschäftigung, Wirtschaftsreformen und sozialer Zusammenhalt - für ein Europa der Innovation und des Wissens“ und die getroffenen Verabredungen sind die Antworten Europas auf die Herausforderungen auf unserem Kontinent und auf die Herausforderungen der Globalisierung. Es sind die Antworten auf die Zahl von über 15 Millionen Arbeitslosen. Es sind die Antworten auf die ökonomischen und sozialen Herausforderungen. Es wird höchste Zeit, dass diese Antworten jetzt gegeben werden; denn wir brauchen endlich ein Europa der fairen Verteilung und der Teilhabe, ein Europa der Leistung, der Verantwortung und der Solidarität untereinander. ({1}) In den nächsten Jahren wird der Wandel in Wirtschaft, Technik und Politik noch rasanter vorangehen. In 10 Jahren werden wir Produkte und Dienstleistungen kaufen bzw. nachfragen, an die wir heute noch gar nicht denken. Wir werden bald in Fabriken und Büros mit Techniken arbeiten, die heute noch nicht entwickelt sind. Es wird Berufe geben, die wir heute noch gar nicht kennen. Aber entscheidend für eine gute Zukunft und für diesen Wandel ist, dass die Balance zwischen Fortschritt und Sicherheit sowie zwischen Innovation und Gerechtigkeit gewahrt wird. Wir wollen, dass in Europa dabei keiner auf der Strecke bleibt. ({2}) Deshalb begrüßen wir sehr, dass die Staats- und Regierungschefs in Lissabon eine konkrete Vision wieder auf Platz eins der europäischen Politik gesetzt haben, nämlich die Vision der Vollbeschäftigung. Wirtschaftswachstum wird nicht alleine um des Wachstums willen forciert. Es wird vielmehr ein qualitatives Wachstum postuliert, das mit einer 3-prozentigen Steigerungsrate binnen 10 Jahren wieder zur Vollbeschäftigung führen soll. Damit wird ein wichtiger Beitrag zur Demokratisierung Europas geleistet. Was wäre denn ein Europa des freien Verkehrs der Waren, der Dienstleistungen, der Niederlassung und des Kapitals ohne die Vision einer Gesellschaft, die Menschen, die Arbeit haben wollen, auch Arbeit gibt? ({3}) Deswegen setzt der Zusammenhalt in der Gesellschaft voraus, dass die Menschen eine Perspektive haben: eine Perspektive auf Arbeit, eine Perspektive auf Ausbildung für ihre Kinder, ein Mindestmaß an Integration, an Sicherheit und an Zukunft. Die beschlossenen Strategien, die Wissens- und Informationsgesellschaft voranzubringen, strukturelle Reformen weiterzuentwicklen, das europäische Sozialmodell zu modernisieren und die solide makroökonomische Politik fortzusetzen -, das sind Strategien auf einem richtigen Weg. Es ist gut, dass der Rat die Investitionen in die Menschen jetzt als einen wesentlichen Schwerpunkt seiner Arbeit bestimmt hat. Die Umsetzung der vom Rat beschlossenen umfangreichen Qualifizierungsoffensive ist dabei ein wesentlicher Schritt. Es ist gut, dass man sich gemeinsam Ziele setzt, - die nach den unterschiedlichen Bedingungen in den Ländern und, wie ich ausdrücklich hinzufüge, nach deren verfassungsrechtlichen Gegebenheiten - von den einzelnen Ländern in eigener Verantwortung umgesetzt werden. Es ist gut, dass es dafür einen Leistungsvergleich, ein Benchmarking, untereinander gibt. ({4}) Deswegen unterstützen wir die Absicht, innerhalb von zehn Jahren die Beschäftigungsquote von 61 auf 70 Prozent anzuheben und bei den Frauen eine Anhebung von 51 auf 60 Prozent zu erreichen. Hier ist die Bundesregierung genauso auf dem richtigen Weg, wie sie es war, als wir die Investitionen in die aktive Arbeitsmarktpolitik mit gut 44,5 Milliarden DM im Jahr 1999 vorgenommen haben, die wir sie jetzt, im Jahr 2000, mit 46 Milliarden DM fortsetzen wollen. Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung zeigen konkrete Erfolge. Die konjunkturelle Belebung hat den Arbeitsmarkt erreicht. Mit 535 000 offenen Stellen bei den Arbeitsämtern ist der höchste Stand seit zehn Jahren erreicht worden. ({5}) Da Sie so gerne Vergleiche ziehen: Immerhin sind 482 000 Menschen weniger arbeitslos als im März 1998. Das zeigt: Die Politik greift. Die gemeinsamen Kraftanstrengungen, die im Bündnis für Arbeit unternommen wurden, zeigen Erfolge. Das Gleiche gilt für die Situation auf dem Ausbildungsstellenmarkt: Ende Dezember konnten wir dank der gemeinsamen Kraftanstrengung fast 25 000 mehr Ausbildungsverträge als vor einem Jahr verzeichnen. Das sind 4 Prozent mehr. Das sind gute Investitionen in die Zukunft unserer Kinder und alle sind aufgefordert mit dazu beizutragen, dass die Brücke von der Schule in das Beschäftigungssystem eine gangbare Brücke für die Schülerinnen und Schüler wird und dass ihnen nicht die Tür vor der Nase zugeschlagen wird. ({6}) Ein wesentliches Element hierbei - das werden wir fortsetzen - ist das Zwei-Milliarden-Programm für die jungen Menschen. Wir haben mit 100 000 Plätzen angefangen und am Ende konnten wir selbst erfreut feststellen: 220 000 junge Menschen in Deutschland habe eine neue Perspektive bekommen und gut 11 000 Arbeitsplätze sind beim JUMP-Programm entstanden. Dieses Geld ist gut investiert worden. Es war besser, es in diesen Bereich zu investieren als in die nachsorgende Jugendarbeit und später möglicherweise noch in Jugendstrafanstalten. ({7}) Jetzt gilt es, diese Politik fortzusetzen mit einer Reform des SGB III, mit einer Reform der Arbeitsmarktförderung, die die Vermittlung in die Arbeit noch stärker beschleunigt, die Arbeitslosigkeit nicht weiter finanziert, sondern die Investitionen in Arbeit umlenkt; denn Investitionen und die Zurverfügungstellung von Geld für die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten, von Qualifizierungsmöglichkeiten sind allemal besser als die Finanzierung von Arbeitslosigkeit. Das nützt am Ende keinem. ({8}) Der Gipfel von Lissabon hat deutlich gemacht, dass die Menschen das wichtigste Gut in der Gemeinschaft sind. Die Verabredung des Rates auf die Modernisierung des sozialen Schutzes und der Förderung der sozialen Integration beschreibt nach der Montan-, der Zoll-, der Wirtschafts- und der Währungsunion nun endlich auch den so dringend notwendigen Schritt in die Sozialunion. ({9}) Die Absicht, sich im Dezember in Nizza auf eine europäische Sozialagenda zu einigen, unterstreicht dies. Wir lassen uns auch hier nicht, nachdem wir nun das erfolgreiche Bündnis für Arbeit auf den Weg gebracht haben, in der Tarifpolitik die Erfolge zu sehen sind, in der Altersteilzeitregelung die Erfolge zu sehen sind, die anderen wichtigen Elemente, Herr Merz, wie das deutsche Tarifvertragsrechtswesen, wie die deutsche Betriebsverfassung, die Elemente der guten Beziehungen der Sozialpartner sind, von Ihnen zerreden. Wir lassen nicht zu, dass sie zu Dumping-Entwicklungen im Arbeitsmarkt herangezogen werden. ({10}) Wir wollen, dass es gute Sozialbeziehungen zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaften gibt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, denken Sie an die Redezeit.

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - Der Gipfel von Lissabon ist dem Ziel eines innovativen und menschlichen Europas in einer sich rasant verändernden Welt ein erhebliches Stück näher gekommen. - Das ist das eine Ergebnis der heutigen Debatte. Das zweite Ergebnis ist leider, dass uns die Opposition nach dem Scheitern und dem Versagen in der Sozialpolitik, der Finanzpolitik und der Steuerpolitik heute gezeigt hat, dass auch in der Europapolitik ihre Internetadresse in den nächsten Jahren lauten wird: http://www.cdu-csu.ade. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem beschäftigungspolitischen Aktionsplan der Bundesregierung, Drucksache 14/2596 unter Buchstabe a. Der Ausschuss empfiehlt, die Unterrichtung auf Drucksache 14/1000 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Ausbildung, Qualifizierung und Arbeit für junge Menschen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1011 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3030 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung abweichend von der Tagesordnung beim Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung liegen soll. Einverstanden? - Ja. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Weiterhin wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 14/2950 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an - jetzt neu - den Finanzausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder und den Ausschuss für Tourismus zu überweisen. Gibt es weitere Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen. Die Entschließungsanträge zur Regierungserklärung auf den Drucksachen 14/3099 und 14/3101 sollen nach einem interfraktionellen Vorschlag zur federführenden Beratung an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, den Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung sowie den Finanzausschuss überwiesen werden. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 14/3099 soll zusätzlich an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Gibt es weitere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Wehrbeauftragte Jahresbericht 1999 ({0}) - Drucksache 14/2900 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das auch so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Claire Marienfeld. Claire Marienfeld, Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages ({1}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 21. Januar dieses Jahres habe ich von dieser Stelle aus Abschied genommen, in der sicheren Erwartung, nicht mehr im Plenum zu sprechen. Ich habe mich bei Ihnen allen für die große Unterstützung meiner Arbeit bedankt. Nun kommt es für Sie und mich zu einem Déjà-vu-Erlebnis besonderer Art. Ich nehme erneut Abschied von Ihnen und werde Ihnen am Ende meiner Ausführungen auch erneut danken, obwohl natürlich mein damaliger Dank keine Halbwertszeit hat. Mit der heutigen Debatte geben wir den Soldaten in der Bundeswehr gleich zweierlei: parlamentarische Aufmerksamkeit und politische Orientierung. Beides wird - dessen bin ich mir ganz sicher - in der Truppe sehr genau registriert und hochwillkommen sein. Mitte März habe ich dem Herrn Bundestagspräsidenten meinen letzten Jahresbericht übergeben. Mit diesem Bericht erfülle ich meine Chronistenpflicht für das Jahr 1999. Aber Seelenlagen und Stimmungen halten sich nicht an den Kalender. Und so gilt vieles von dem, was 1998 galt, unverändert auch für 1999 und für dieses Jahr. Geblieben sind viele der geschilderten Probleme, Missstände und Unzulänglichkeiten. Ich will mich in der Darstellung meiner Erkenntnisse aus 5 800 Eingaben und zahlreichen Truppenbesuchen deshalb auf das wichtigste Thema beschränken, auf die Unsicherheit. Die Klagen vieler Soldaten und auch höherer Vorgesetzter über die Materialsituation und die Mängel in der Ersatzteilversorgung sind Ihnen bekannt. Altes Material und Versorgungsengpässe erschweren den Dienst seit langem. Seit langem behelfen sich die Soldaten mit improvisierten Zwischenlösungen. Aber die Freude an dieser Improvisation nimmt spürbar ab. Die Klagen zur Personalplanung und -führung sind ebenfalls bekannt. Auch hier wechselt die Tonlage jetzt häufiger auf Moll. ({2}) Zu viele Soldaten klingen mir enttäuscht und frustriert. Lassen Sie mich an dieser Stelle hinzufügen: Es gibt zwar nur eine Wirklichkeit, aber sicher mehrere Wahrnehmungen dieser Wirklichkeit. Das, was ich Ihnen schildere, ist meine Wirklichkeit. Neben den vielen kleinen und großen Mängeln, die sehr häufig in fehlenden Haushaltsmitteln ihre handfeste Ursache haben, gibt es den wenig greifbaren Virus der Verunsicherung. Dieser Virus ist für die Einsatzbereitschaft der Truppe nachteilig. Vielen aktiven Zeit- und Berufssoldaten fehlt heute die Aussicht auf eine Verbesserung der Lage oder zumindest eine klare Perspektive für die nächsten Jahre. Viele potenzielle Bewerber wollen aus diesem Grund erst gar keine Zeit- oder Berufssoldaten werden. ({3}) Man ahnt so einiges und man weiß zu wenig. Man ahnt, dass noch viele Kontingente in der Krisenregion auf dem Balkan Dienst leisten müssen und dass nicht genügend qualifiziertes Personal vorhanden sein wird, dass die versprochene Pause von zwei Jahren zwischen den Einsätzen nicht eingehalten werden kann, dass sich die Beförderungsstaus in vielen Dienstgradgruppen nicht auflösen werden, dass die Truppe erheblich verkleinert wird und die Nachwuchsprobleme zunehmen und dass es vielleicht irgendwann keine Wehrpflicht mehr geben wird. Man ahnt es; aber man möchte es gerne genau wissen. Es gibt große Erwartungen an die Wehrstrukturkommission. Die größte Erwartung ist, dass sie mehr Planungssicherheit bringt, und die allergrößte Erwartung ist, dass der Verteidigungshaushalt es zulässt, diese Planungen zu verwirklichen. Das Ziel der Reform soll die Aufrechterhaltung und Verbesserung der Einsatzbereitschaft sein. Deshalb darf bei dieser Reform die Befindlichkeit der Soldaten nicht vergessen werden. Denn die Menschen sind das größte Kapital der Bundeswehr. Mit klaren, nachvollziehbaren und praktikablen Entscheidungen von Parlament und politischer Führung der Bundeswehr kann und wird die Unsicherheit beendet. Erst dann kehrt das Vertrauen zurück, das für ein Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer motiviertes und engagiertes Dienen in der Bundeswehr unverzichtbar ist. Erst dann kehrt die Motivation zurück, die nicht nur Voraussetzung für eine Reform der Streitkräfte ist, sondern auch der Garant für deren Erfolg. Denn nur eine Bundeswehr mit einer klaren Perspektive ist attraktiv und wirkt attraktiv genug, um den qualifizierten Nachwuchs anwerben zu können, den sie dringend braucht. Ich will aber auch die Soldaten auf etwas hinweisen: In Zeiten eines tief greifenden Wandels haben sie nicht nur das Recht, sie haben geradezu die Pflicht zu konstruktiver Kritik. Diese konstruktive Kritik ist kein Angriff auf die Gehorsamspflicht. Ich habe in allen meinen Jahresberichten gerade auf diesen Punkt hingewiesen. Sie ist unverzichtbar, um der militärischen und politischen Führung der Bundeswehr ein vollständiges und korrektes Bild des Bundeswehralltages zu vermitteln. Sie ist das, was die Truppe zum Erfolg der Strukturreform selbst beitragen kann. Ich schließe, wie versprochen, mit einem erneuten Dank an Sie alle. Ich habe das Vertrauen, dass es Ihnen gemeinsam gelingt, die Interessen unseres Landes, der Bundeswehr und der Soldaten in Einklang zu bringen; denn ich glaube, dass die Interessen deckungsgleicher sind, als es auf den ersten Blick aussieht. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin Marienfeld, da Sie Ihr Mandat direkt vom Deutschen Bundestag erhalten haben, möchte ich Ihnen an dieser Stelle noch einmal für Ihre Arbeit danken. Es wird uns auch nicht zu viel, wenn wir dies nun zum zweiten Mal tun. ({0}) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe Göllner.

Uwe Göllner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002943, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Wehrbeauftragte hat es gesagt: Es ist erst wenige Wochen her, dass wir über den Jahresbericht 1998 diskutiert haben. Sie hat in diesem Rahmen den damals vermeintlich letzten Dank an uns ausgesprochen. Frau Marienfeld, ich gebe diesen ehrlichen Herzens zurück: Ich bedanke mich für die vertrauensvolle Zusammenarbeit. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch sagen: Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit bieten wir selbstverständlich auch dem Nachfolger an. Ich bin sicher, dass die Kontinuität in diesem Amt gewahrt bleiben wird. ({0}) Meine Damen und Herren, ich habe darauf hingewiesen, dass es ungewöhnlich ist, in einem so kurzen Zeitraum über zwei Jahresberichte zu diskutieren. Normalerweise wäre dieser Bericht ohne Aussprache an den Verteidigungsausschuss überwiesen worden, um dort vorab darüber zu beraten und ihn dann dem Plenum zuzuleiten. ({1}) Aber manche - so pflegen wir im Rheinland zu sagen können das Wasser nicht halten. Jeder will über die Zukunft der Bundeswehr diskutieren, jeder will mitreden. ({2}) Dass dies vor Ablauf der verabredeten Zeit nur spekulativen Charakter haben kann, Herr Nolting, stört fast niemanden. Ich finde, es ist wenig verantwortungsvoll, darüber zur Unzeit eine öffentliche Debatte zu führen. ({3}) Der Kollege Breuer nimmt den Bericht der Wehrbeauftragten für das Jahr 1999 zum Anlass, dem Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping, ein Scheitern an seiner Aufgabe vorzuwerfen. ({4}) Statt der versprochenen Perspektiven herrschten Mangelwirtschaft, Zukunftsangst und Perspektivlosigkeit in der Bundeswehr. Herr Breuer, Sie müssten dem erstaunten Publikum schon erklären, wie wir im Laufe einer nur einjährigen Regierungszeit den von Ihnen beschriebenen Zustand hätten herstellen können. ({5}) Schon im Bericht der Wehrbeauftragten für das Jahr 1996 heißt es in Kapitel 5.5: Wie schwierig die Lage ist, zeigt der Umstand, dass von 150 für den Einsatz im ehemaligen Jugoslawien abzugebenden Kfz 140 die vorgeschaltete Überprüfung aufgrund von Mängeln nicht bestanden haben. Ihr Kollege Kossendey wird in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 20. Juni 1997 folgendermaßen zitiert: Immer mehr soll mit immer weniger Geld geleistet werden. Diese Rechnung geht nicht auf. Da helfen auch keine Denkverbote, wie der Verteidigungsminister ... sie gerne verkündet. Der Verteidigungsminister hieß damals Rühe, nicht Scharping. ({6}) In der Debatte über den Jahresbericht 1996 habe ich damals für die SPD-Fraktion erklärt: ... die Folgen fehlender Kontinuität in der Finanzplanung ziehen sich wie ein roter Faden durch den vorliegenden Bericht. Es ist die nur schwer zu verantwortende Haushaltskürzung des Bundesministers der Finanzen, die den inneren Zustand der Bundeswehr beeinträchtigt. Wo man hinschaut, stimmen die finanziellen Mittel nicht mehr mit Auftrag, Struktur, Umfang und Ausrüstung überein ... Claire Marienfeld Wir Sozialdemokraten setzen uns daher für eine parteiübergreifende Wehrstrukturkommission ein, die neue und für alle tragbare Lösungen entwickeln könnte. Meine Damen und Herren, hätten Sie damals der Einrichtung dieser Kommission zugestimmt, wären wir heute ein gutes Stück weiter. Die in allen Berichten der Wehrbeauftragten angeführten Materialmängel haben uns veranlasst, die Investitionsmittel 1999 und 2000 um über 2 Milliarden DM zu erhöhen. Der Verteidigungshaushalt weist damit die höchste Investitionsquote seit 1991 auf. Wir sind entschlossen, diesen Weg fortzusetzen. ({7}) Meine Damen und Herren aus der CDU/CSU-Fraktion, Sie können meinen Ausführungen zum Bericht der Wehrbeauftragten für 1996 entnehmen, dass ich schon damals mehr den Bundesminister der Finanzen als den der Verteidigung im Visier hatte. Nicht, dass mir die Sorgen der Finanzminister fremd wären! Nein, ich wollte schon damals mögliches Streitpotenzial aus unserem Arbeitsgebiet heraushalten. In den letzten Jahren Ihrer Regierung haben wir als Opposition geholfen, möglichst Konsens in Sicherheitsfragen zu fördern. Manche Wortmeldungen aus Ihren Reihen haben mich in den letzten Wochen zweifeln lassen, ob dieser breite Konsens von Ihnen noch gewünscht ist. Damit mich niemand falsch versteht: Konsens heißt nicht Kritiklosigkeit. Aber wer eingedenk der eigenen Schwierigkeiten in seiner Regierungszeit das eingangs Zitierte vertritt, der trägt nicht zur Klimaverbesserung in diesem Bereich bei. ({8}) Auch von dem, was nach der Vorstellung des Berichtes 1999 durch die Frau Wehrbeauftragte in den Zeitungen stand, habe ich vieles nicht nachvollziehen können. Das Ausscheiden der Frau Wehrbeauftragten hat wohl manchen Journalisten bewogen, erstmals einen Bericht der Wehrbeauftragten zu lesen. Denn nichts von dem, was da veröffentlicht wurde, war neu. Das allermeiste war in früheren Jahresberichten nachzulesen. An einer Stelle heißt es im Bericht der Wehrbeauftragten: Auch im militärischen Einsatz hat der Soldat sein Verhalten an den Menschenrechten ... auszurichten. ... Ich habe ... mit großer Erleichterung zur Kenntnis genommen, dass unsere Soldaten gut ausgebildet und beispielhaft vorbereitet in den Einsatz gegangen sind. Die Soldaten, von denen Frau Marienfeld da spricht, sind unsere Soldaten. Ich denke, diese Feststellung der Wehrbeauftragten wäre ein Grund für die gesamte Nation, auf diese Truppe stolz zu sein. ({9}) Aber die Journalisten nehmen dieses Positive durchaus nicht zur Kenntnis. Stattdessen wird folgender Satz undifferenziert aufgegriffen und breit ausgewalzt: Bei den Soldaten und ihren Familien „treffe ich ... vermehrt ... auf Unsicherheit und Motivationsverlust“. Hätte man den nächsten Satz dazu gelesen, hätte man vielleicht nachgefragt. Denn dort wird beschrieben, dass die sich abzeichnende strukturelle Veränderung, Innovationsstau und Fragen nach der eigenen künftigen Verwendung dabei eine Rolle spielen. Dass dies die Menschen in der Bundeswehr interessiert und bewegt, ist eine schlichte Selbstverständlichkeit. Daraus Motivationsverlust für den derzeitigen Dienst abzuleiten, halte ich allerdings für eine falsche Schlussfolgerung. Sie ist mir so auch noch nicht begegnet. ({10}) Die Soldaten wissen nur zu gut, dass - bei aller Ungeduld, die verständlich ist - die Kommission Zeit für ihre Arbeit braucht. Das Ende ist ja nun abzusehen. Wer den Minister in den 17 Monaten seiner Amtszeit einigermaßen objektiv beobachtet hat, der kann sicher sein, dass die notwendigen Konsequenzen zügig auf den Tisch kommen. ({11}) Meine Damen und Herren, was die sicher notwendige Kenntnisnahme von ärgerlichen Sachverhalten und Vorkommnissen betrifft, verweise ich auf die Debatte vom Januar. Ausdrücklich erwähnen will ich allerdings den drastischen Rückgang der gemeldeten Verdachtsfälle mit rechtsextremem Hintergrund. Die besonderen Bemühungen von militärischer und politischer Führung scheinen hier zu wirken. Dafür will ich allen Beteiligten ausdrücklich danken. ({12}) Obwohl die Debatte über den Bericht 1998 erst wenige Wochen her ist, will ich die darin enthaltenen Dankadressen wiederholen. Da waren die Militärseelsorge, die Evangelische und die Katholische Arbeitsgemeinschaft für Soldatenbetreuung und die Familienbetreuungszentren zu erwähnen. Ausdrücklich will ich in den Dank alle einschließen, die zum Ansehen der Bundeswehr im In- und Ausland beigetragen haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in wenigen Wochen beginnt für die meisten von uns das Verfahren zur Aufstellung des Bundeshaushalts 2001. Die Begehrlichkeiten sind in allen Bereichen groß. Allzu viele in diesem Parlament und in der Gesellschaft sehen den Verteidigungshaushalt immer noch als Deckungsreserve für anderes, vermeintlich Wichtigeres. Gesellschaftliche und parlamentarische Gestaltung in Frieden und Freiheit wäre ohne Sicherheit nicht denkbar. Diese Sicherheit kostet natürlich Geld. Für dieses Geld zu streiten und seine Verwendung breiter gesellschaftlicher Akzeptanz zuzuführen, das ist unsere Aufgabe. In diesem Sinne sollten wir alle in unseren Parteien und darüber hinaus keinem Streit aus dem Wege gehen. Danke schön. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Paul Breuer.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte am Anfang meiner Ausführungen der Wehrbeauftragten Claire Marienfeld für ihre Arbeit ein herzliches Dankeschön sagen. Ich darf für meine Fraktion formulieren, dass wir eine sehr gute und fruchtbare Zusammenarbeit hatten. ({0}) Ich schließe die Mitarbeiter in diesen Dank mit ein. Wir werden bei der Verabschiedung der Wehrbeauftragten Gelegenheit haben, auf ihre Arbeit intensiver einzugehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist hier eben in der Debatte sowohl von Frau Marienfeld als auch vom Kollegen Göllner als eine Besonderheit dargestellt worden, dass die erste Beratung des Berichts der Wehrbeauftragten für das Jahr 1999 so schnell erfolgte. Herr Kollege Göllner, Sie haben aus der Sicht der SPD dazu Ausführungen gemacht. Lassen Sie mich jetzt aus der Sicht meiner Fraktion formulieren. Der Bericht der Wehrbeauftragten auf das Jahr 1999 bezogen ist kein normaler Bericht. Dieser Bericht stellt fest, dass die Bundeswehr in der Gefahr steht, in eine tiefe Krise zu geraten. Wenn diesem Parlament seitens der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages deutlich gemacht wird, die Armee drohe in eine tiefe Krise zu stürzen, dann muss sich der Bundestag damit umgehend beschäftigen. ({1}) Schauen wir genau hin, um welche Art Krise es sich handelt. Es ist eine Krise, herbeigeführt durch Irritation und Desorientierung und auch eine Krise bei der Nachwuchsgewinnung. Man muss sich über die Verantwortlichkeiten sehr genau Gedanken machen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die 17 Monate Ihrer Amtszeit an dieser Krise durch Irritation und Desorientierung ein erhebliches Stück mitgewirkt haben und dass Minister Scharping die Hauptverantwortung dafür trägt. ({2}) Schauen wir uns einmal genau an, was im Einzelnen gemacht worden ist. Minister Scharping ist ins Amt gekommen und hat gesagt: Ich tue das nur deshalb - er hat das ja nicht unbedingt aus eigenem Willen heraus gemacht -, weil ich Garantien besitze. Ich besitze Garantien seitens des Bundeskanzlers, ich besitze Garantien seitens des Bundesfinanzministers. Er hat davon gesprochen, er besitze Garantien, die noch kein Verteidigungsminister vor ihm besessen habe. - Das stimmt. Solche schlechten Garantien hat niemand vor ihm besessen. ({3}) Dann schauen Sie sich doch die Koalitionsvereinbarung, die Sie von Rot und Grün getroffen haben, genau an. In der Koalitionsvereinbarung steht etwas, was ich wörtlich zitieren kann. ({4}) - Ich hoffe, dass Sie die Koalitionsvereinbarung noch im Einzelnen interessiert. Ich weiß, einige von Ihnen haben sie längst vergessen. Dort steht: Vor Abschluss der Arbeit der Wehrstrukturkommission werden ... keine Sach- und Haushaltsentscheidungen getroffen, die die zu untersuchenden Bereiche wesentlich verändern oder neue Fakten schaffen. ({5}) - Das ist so geschehn? Herr Zumkley, der Finanzminister hat im Vergleich zum Verteidigungsetat 1998 in den Haushalten 1999 und 2000 Fakten geschaffen, die die Grundlagen um 4 Milliarden DM verändert haben. ({6}) Das ist eine ganz entscheidende Zahl, um die es hier geht. ({7}) Dann beschäftigen wir uns etwas mit der Wehrstrukturkommission und der Art, wie sie arbeitet. Herr Minister Scharping, Sie haben gesagt, Sie wollten mit dieser Wehrstrukturkommission sichern, dass alle Teile dieser Gesellschaft in eine Diskussion über die Zukunft der Bundeswehr einbezogen werden. ({8}) Es ist löblich, so etwas zu versuchen. Aber glauben Sie etwa, dass die Art, wie die Kommission arbeitet - die Art hat nicht die Kommission gewählt, sondern Sie -, dass hinter verschlossenen Türen gearbeitet wird, dass Ergebnisse oder Nichtergebnisse herausgespielt werden, dass spekuliert werden kann, ({9}) dass Sie parallel zur Wehrstrukturkommission den Generalinspekteur beauftragen, eine eigene Planung zu erarbeiten, ({10}) dass all das das Vertrauen in diese Kommission stärkt? Das führt zu Spekulationen, ({11}) und diese Spekulationen führen genau zu den Irritationen, von denen die Wehrbeauftragte spricht. ({12}) Schauen Sie sich, Herr Minister Scharping, doch nur die letzten Tage an. Schauen Sie sich an, was Sie selbst in diesen letzten Tagen gemacht haben. Insgesamt ist es ja so, dass viele der Forderungen, die Sie erheben, von uns unterstützt und geteilt werden können. ({13}) Ich stelle auch fest, dass wir diese Forderungen, insbesondere im Hinblick auf die haushaltspolitischen Folgen, stärker unterstützen als diejenigen in der SPD-Fraktion, in der Fraktion der Grünen oder im Finanzministerium, die für den Haushalt zuständig sind. Das ist doch ein Widerspruch. Sie stellen Forderungen, die Forderungen werden nicht erfüllt. Das wirkt irritierend, das öffnet Spekulationen Tür und Tor. Und dann meinen Sie, das sei eine Veranstaltung, die mehr Vertrauen erwecken kann? Das begünstigt das Misstrauen. Das wirft Ihnen die Wehrbeauftragte zu Recht vor, meine Damen und Herren. ({14}) - Das ist bemerkenswert. Schauen Sie doch, wie Sie in den letzten Tagen gesprochen haben. Sie sind zunächst vor die Kameras getreten und haben gesagt, Sie wollten den Wehrdienst verkürzen, nannten eine Zahl von sechs Monaten und anschließend Wehrübungen. Heute lese ich in der Tageszeitung „Die Welt“, Sie wollten es mitnichten; Sie wollten eine Wehrdienstdauer von neun Monaten. Früher haben Sie gesagt: Die Wehrstrukturkommission wird die Grundlagen für die Entscheidungen bringen, warten wir es ab. Dann haben Sie den Generalinspekteur eingesetzt, der sollte eigene Planungen machen. Nun können Sie das Wasser nicht halten und spekulieren jeden Tag über neue Zahlen. Das soll Vertrauen schaffen? Das wirkt irritierend und verunsichernd auf jeden, der sich damit beschäftigt. ({15}) Nun zu den Zahlen im Haushalt: Es ist sicher richtig, Herr Zumkley und Herr Göllner, dass auch in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre der Verteidigungsetat von der damaligen Mehrheit im Deutschen Bundestag nicht großzügig gestaltet worden ist. Volker Rühe wäre der Letzte, der das bestreiten würde. ({16}) Aber eines will ich Ihnen sagen. Wenn man sich die Haushaltsentwicklung am Ende der Legislaturperiode und die mittelfristige Finanzplanung, die sich daraus bis zum Jahre 2003 entwickelt hat, anschaut, kommt man zu der Erkenntnis: Die Haushaltsentwicklung wurde verstetigt und berechenbar und die mittelfristige Finanzplanung führte zu einer moderaten Erhöhung und damit zur Verstetigung und Berechenbarkeit des Verteidigungshaushaltes. ({17}) Ganz im Gegenteil dazu, Herr Kollege Zumkley, steht die mittelfristige Finanzplanung der rot-grünen Koalition. Diese mittelfristige Finanzplanung vergeht sich doch an der eigenen Koalitionsvereinbarung. Sie wollen innerhalb eines Vier-Jahres-Zeitraums den Verteidigungsetat so weit nach unten fahren, dass der Bundeswehr dabei fast 20 Milliarden DM entzogen werden. Glauben Sie, damit könnten Sie Vertrauen innerhalb der Bundeswehr schaffen? Damit führen Sie zu Desorientierung, zu Irritation, zu Zukunftsangst, und Sie vergrößern damit die Schwierigkeiten bei der Nachwuchswerbung, die von der Wehrbeauftragten beschrieben worden sind. Es ist zum großen Teil auch von den jetzt realisierten Haushaltszahlen her gar nicht möglich, das dann alles in das Spielfeld der ehemaligen Mehrheit zu führen. Ich will Sie darauf hinweisen, dass Sie, die Mehrheit dieses Hauses, im jetzt gültigen Haushalt 2000 im Kapitel „Materialerhaltung und Betrieb“- ein wichtiges Kapitel im Bericht der Wehrbeauftragten - bei der Materialerhaltung von Fahrzeugen ein Minus von 14 Prozent herbeigeführt haben, eine Kürzung von 1,032 Milliarden DM auf 890 Millionen DM. Der Verteidigungsminister tritt an und spricht davon, die Fahrzeuge seien älter als die Soldaten, was stimmt. Aber das moralische Recht, das gegenüber der Vergangenheit zu kritisieren, hätte er doch nur, wenn die Haushaltszahlen heute verbessert worden wären. Sie werden nicht verbessert, sondern sie werden bei dieser Position um 14 Prozent gesenkt. Ist das vertrauenerweckend? Der Haushalt für die Erhaltung von Fernmeldematerial - Verbindung und Information, ein wichtiges Thema, das der Verteidigungsminister immer anspricht - reduziert sich um 10 Prozent von 235 Millionen DM auf 211 Millionen DM. Ich frage Sie: Ist das vertrauenerweckend? Das ist absolut irritierend. ({18}) Sie sind aufgefordert, durch eine konsistente Planung und nicht durch Verzögerungstaktik und alles auf die Wehrstrukturkommission abschiebend dazu beizutragen Sie haben die politische Verantwortung -, dass die Zukunft der Bundeswehr sicher ist, dass Berechenbarkeit, Vertrauen und Planungssicherheit entstehen. Meine Damen und Herren, momentan sind Sie davon meilenweit entfernt. ({19})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich fordere Sie dringend auf, die Grundlage für diese Sicherheit zu schaffen. Ich halte es für notwendig, dass dieses Parlament, dem gegenüber die Bundeswehr zur Loyalität verpflichtet ist daran hat niemand Zweifel -, im Hinblick auf die deutschen Sicherheitsinteressen, aber auch im Hinblick auf unsere Verpflichtungen gegenüber der Bundeswehr tätig wird. Schaffen wir eine Zukunft für die Bundeswehr, die den deutschen Sicherheitsinteressen innerhalb Europas und innerhalb des NATO-Bündnisses gerecht wird und die den Menschen in der Bundeswehr, den jungen Wehrpflichtigen und der Gesellschaft signalisiert, dass wir es mit der deutschen Sicherheit und den Belangen der Bundeswehr ernst meinen. ({0}) Hören Sie auf damit, jedes Jahr erneut darüber zu diskutieren, welche Kürzungen vorgenommen werden sollen und wie die Bundeswehr verkleinert werden soll. Das kann sie auf Dauer nicht ertragen. Das war die Grundlage des Berichtes von Claire Marienfeld. Ich bedanke mich. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt Bundesminister Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst einmal Ihnen, Frau Marienfeld, sehr herzlich für das danken, was Sie für die Bundeswehr, für die Soldaten und deren Belange getan haben. Die Berichte der Wehrbeauftragten müssen auf Unzulänglichkeiten und Mängel hinweisen. Insofern sind sie hilfreich. Es ist eine ganz andere Frage der politischen Verantwortung, wie man mit diesen Mängeln umgeht. Dafür haben wir gerade ein sehr interessantes Beispiel erlebt: Herr Kollege Breuer, ich habe hier ein Interview von Ihnen vom 8. Februar 2000 vorliegen. Dieses spiegelt eine ganz eigenartige Vertrautheit mit den Fakten wider. Darin behaupten Sie, dass eine Brigade 5 000 Soldaten hätte, was nicht stimmt. ({0}) - Das steht alles in dem Interview. ({1}) - Ich kann Ihnen das auch alles vorlesen. Sie behaupten, der Haushalt habe 48,3 Milliarden DM betragen, was auch nicht stimmt. Dann sagen Sie, der Wehrdienst könne zwischen sechs und 23 Monaten schwanken, um mir hinterher Verunsicherung vorzuwerfen, ({2}) wobei Sie nichts anderes getan haben, als einen Prüfungsauftrag an den Führungsstab der Streitkräfte zur Kenntnis zu nehmen, als eigenen Vorschlag an die Öffentlichkeit zu bringen und dann hinterher Verunsicherung zu beklagen. ({3}) Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Die Bundeswehr hat 1999 700 Millionen DM mehr zur Verfügung gehabt als 1998. Das waren zusammen mit den internationalen Einsätzen insgesamt 47,4 Milliarden DM. ({4}) Die Bundeswehr hat im Jahre 2000 einschließlich der internationalen Einsätze 47,3 Milliarden DM zur Verfügung. In die Ausrüstung der Bundeswehr werden in den Jahren 1999 und 2000 2,5 Milliarden DM mehr als in den Jahren 1997 und 1998 investiert. Sie tragen die Verantwortung dafür, dass die Investitionen in die Ausrüstung der Bundeswehr im Jahre 1997 auf 5,3 Milliarden DM - ein unverantwortlich niedriges Niveau - zurückgegangen waren. ({5}) Sie können doch nicht der Bundesregierung und dem Verteidigungsminister vorhalten, dass die Bundeswehr es mit Gerät zu tun hat, das zum Teil 30 oder 40 Jahre alt ist, und dass allein in die Nutzungsdauerverlängerung von Mannschaftstransportfahrzeugen 500 Millionen DM investiert werden müssen, weil Sie die Kraft nicht hatten, rechtzeitig zu investieren. Die Betriebskosten sind doch deswegen so hoch, weil Sie über Jahre hinweg die Investitionen in kostengünstigeres und leistungsfähigeres Gerät schlicht versäumt haben. ({6}) Im Übrigen: Der Haushalt 1999 war der erste seit 1992, in den mit globalen Minderausgaben nicht eingegriffen wurde, was für Verlässlichkeit der Haushaltsführung und übrigens auch für Vertrauensbildung in der Bundeswehr richtig und notwendig gewesen ist. Sie haben doch zu vertreten, dass in den 90er-Jahren allein mit globalen Minderausgaben in Höhe von über 5 Milliarden DM in die laufenden Haushalte des Verteidigungsministeriums eingegriffen worden ist. Und dann tun Sie hier so, als könnte man an all diesem vorbeisehen. In den 90er-Jahren ist eine Investitionslücke von über 15 Milliarden DM entstanden. Wir haben begonnen, sie abzubauen. Wir werden das konsequent fortsetzen, und zwar auch in den kommenden Haushaltsjahren. Das ist der eine Teil. Der zweite Teil betrifft das Personal. Sie haben zu verantworten, dass es einen Beförderungsstau gibt und dass in der Bundeswehr 8 000 Menschen unterwertig besoldet werden. ({7}) Sie haben zu verantworten, dass die Besoldungs- und Personalstruktur so ist, wie sie ist. Die Bundeswehr ist zurzeit der einzige Bereich des öffentlichen Dienstes, der noch in einem nennenswerten Umfang nach A 1, A 2 oder A 3 besoldet wird. Sie haben zu verantworten, dass im Zuge der Halbierung der Bundeswehr in der Mitte der 90erJahre nicht nur viel Verunsicherung, sondern auch ein Fehl von über 6 000 Unteroffizieren entstanden ist. Ich wehre mich dagegen - und zwar ganz engagiert -, dass Sie weitere Verunsicherung der Bundeswehr betreiben. In der jetzigen Situation gibt es klarere und für die Zukunft der Bundeswehr wesentlich nützlichere Entscheidungen als alles, was Sie in den 90er-Jahren hier im Parlament beschlossen haben. ({8}) - Ich komme gleich auch noch zur mittelfristigen Finanzplanung, aber Sie werden schon die Geduld aufbringen müssen, sich mit den Konsequenzen Ihrer Entscheidungen auseinander zu setzen. Sie haben zu verantworten, dass das fliegende Personal in der Bundeswehr durch Ihre Entscheidungen 15 Prozent Nettoeinkommensverlust hinnehmen musste. Die daraus entstehenden Schwierigkeiten in der Nachwuchsgewinnung, ja sogar im Halten der Leute müssen bereinigt werden. Es wird Sie interessieren, dass der Bundesinnenminister und ich bereits dabei sind. Sie haben zu verantworten, dass nur 8 Prozent der Dienstposteninhaber in der Bundeswehr in der mittleren und gehobenen Laufbahn - Unteroffiziere und Feldwebel - die Spitzenpositionen erreichen können, während das beispielsweise in der Polizei 50 Prozent sind. Sie haben sich doch nie getraut, die Personal- und Besoldungsstruktur zu verändern. ({9}) Was wir als Folge Ihrer Politik auf der Kompanieebene erlebt haben, war ein Ausdünnen der Leistungsfähigkeit auf beiden Seiten: auf der Seite des Personals und auf der Seite der Ausrüstung. ({10}) Ich werde nicht anstehen, das nüchtern zu beschreiben, und im Übrigen werde ich alles tun, um das zu ändern. Das heißt, die Investitionen in die Ausrüstung der Bundeswehr werden steigen und sie müssen auch steigen. Das bedeutet: Die Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten wird steigen; sie darf im Interesse der Leistungsfähigkeit der Bundeswehr nicht fallen. Das bedeutet auch, dass wir uns in Fragen der Wehrpflicht intelligentere Konzepte überlegen müssen. Da ist ja mit der freiwilligen Verlängerung des Wehrdienstes schon etwas getan. Allerdings kann ich mir mehr Flexibilität vorstellen. Damit bin ich bei der Wehrpflicht. Das Folgende sage ich mehr an die Adresse der Öffentlichkeit, weniger an die Adresse des Parlamentes, weil ich weiß, dass das hier eine breite Übereinstimmung findet. Wir sollten uns davon verabschieden, eine Gesellschaft allein so zu definieren, dass sie nach dem Motto funktioniert: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Das geht nicht. Jeder Freiheit steht eine Verantwortung, jedem Recht auch eine Verpflichtung gegenüber. Die gemeinsame Verpflichtung, die Freiheit und die Sicherheit unseres Landes und seiner Bündnispartner zu gewährleisten, wird am besten in der Wehrpflicht ausgedrückt. Im Übrigen hat das auch etwas mit dem zivilen, dem inneren Gefüge der Streitkräfte selbst zu tun; denn mit jedem Wehrpflichtigen gibt es auch Eltern und Großeltern, die sehr genau hinschauen, was in der Bundeswehr wirklich passiert. ({11}) - Entschuldigung, man wird doch in der Lage sein, Herr Kollege Nolting, das eine oder andere noch einmal zu bekräftigen, ohne dass das als Ansprache an irgendjemanden, auch nicht an unseren Koalitionspartner, missverstanden werden muss. Ich bin jedenfalls dagegen, diese gemeinsame Sicherheit wie eine gewerbliche Dienstleistungsagentur zu betrachten. Das wird nicht weiterhelfen. Der Dank an die Soldaten wird sichtbarer und deutlicher, wenn man darauf aufmerksam macht, dass trotz dieser Mängel und trotz der Fehlentwicklung der 90erJahre die Bundeswehr ein sehr hohes Maß an Leistung erbringt. Das hat mit einem systematischen und gründlichen Entscheidungsprozess zu tun. Ich habe veranlasst, dass eine Bestandsaufnahme gemacht wird. Ich weiß, dass manche diese nicht lesen wollen oder im Mai 1999 dazu vielleicht keine Zeit gefunden haben. Diese Bestandsaufnahme ist Ergebnis einer sehr systematischen Arbeit in den Streitkräften, durchgeführt vom Generalinspekteur sowie von den Führungsstäben, und einer sehr sorgfältigen Bestandsaufnahme in über 15 Tagungen mit Angehörigen der Bundeswehr. Meine Führung ist ausdrücklich für die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr und somit auch für die Mitsprache der Angehörigen der Bundeswehr. Man hat nämlich nichts von Soldaten, die bloße Befehlsempfänger sind. Aber man hat auch nichts von Verteidigungsministern, die Vorlagen durch die Gegend werfen nach dem Motto: Ich will überhaupt nicht wissen, was die Oberstleutnants denken. Ich möchte das wissen. Ich möchte die Angehörigen einbeziehen, nicht nur die Oberstleutnants. ({12}) Wir erarbeiten nun systematisch Arbeitsgrundlagen. Dies tun wir in der Kommission. Wie Sie sich verhalten, ist - auch angesichts der vielen, die Ihrer Partei angehören und in dieser Kommission mitarbeiten - in hohem Maße erstaunlich. Sie sollten einfach das Normalste der Welt tun und sagen: Gott sei Dank gibt es in diesem Land noch Menschen, die sich Stunden, Tage und Wochen um die Ohren schlagen, ohne irgendetwas dabei zu verdienen, die sich den einen oder anderen Ärger einhandeln und die sachkundig und qualifiziert im Interesse des Landes und seiner sicheren Zukunft arbeiten. ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Breuer?

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Ich möchte diesen Gedanken erst zu Ende bringen. Diese Kommission hat Respekt verdient. Dass die Streitkräfte Vorschläge auf den Tisch legen, ist ausdrücklich mein Wunsch. Es gehört zum guten Recht der Streitkräfte, an diesem Prozess beteiligt zu sein.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Es kommen nun Zwischenfragen der Kollegen Breuer und Nolting. Herr Kollege Breuer, bitte sehr.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister Scharping, darf ich Sie darauf hinweisen, dass ich nicht Kritik an der Arbeit der Kommission geäußert habe, sondern an den Umständen, unter denen diese Kommission arbeitet? ({0}) - Die Frage ist, ob ich Herrn Scharping darauf hinweisen darf. Aber gut, ich nehme Ihren freundlichen Rat auf und werde meine Ausführungen deutlicher als Fragen formulieren. Erinnern Sie sich daran, dass Sie gegenüber dem Verteidigungsausschuss zugesagt haben, dass über die Arbeit der Kommission kontinuierlich und fortlaufend informiert werde? Können Sie sich daran erinnern, dass Sie sich an diese Zusage irgendwann nicht mehr erinnern mochten? Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich eben darauf hingewiesen habe, dass ich es für falsch halte, dass die Kommission hinter verschlossenen Türen arbeitet? Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es andere Kommissionen in Europa gibt, die ihre Verhandlungen öffentlich gemacht haben, sodass mehr Transparenz entsteht? Das ist die eigentliche Kritik.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Minister, bitte sehr.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Herr Kollege Breuer, ich beantworte Ihre Fragen mit einem kurzen Hinweis. Ich will mich mit Ihnen nicht über Erinnerungen streiten, sondern will Sie nur auf Folgendes aufmerksam machen: Ich habe Sie und einige Ihrer Fraktionskollegen im späten Herbst des letzten Jahres über eine ganze Reihe von Fragen im Zusammenhang mit der Bundeswehr der Zukunft informiert. Danach habe ich in den Zeitungen völlig haltlose Spekulationen gelesen. Ich stehe nicht an zu sagen, Vertraulichkeit ist nur in einer „Zweibahnstraße“ möglich. Ich bin aber nicht bereit, mich noch einmal dem Umstand auszusetzen, dass Sie bzw. Ihre Fraktionskollegen auf eine so erbärmliche Weise vertrauliche Informationen verfälschen, wie das geschehen ist. Ich habe mich - mit dem vollen Verständnis Ihrer Fraktionsführung - korrekt verhalten und habe sie informiert. Wenn Kollegen Ihrer Fraktion ein solches Gespräch missbrauchen, um im Vorfeld eines Parteitages der Sozialdemokraten Mist in die Welt zu setzen, führe ich keine vertraulichen Gespräche mehr. Das ist ganz einfach.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Eine zweite Frage des Kollegen Breuer. Bitte schön.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, darf ich darauf hinweisen, dass bezüglich dieses Gespräches in der Öffentlichkeit kein sachlicher Inhalt zum Ausdruck kam, sondern dass die von Ihnen genährte Erwartung, den Bundeskanzler zu beerben, Gegenstand dessen war, was Sie hier kritisieren?

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Das war Gegenstand Ihrer öffentlichen Berichterstattung, obwohl dies in unserem Gespräch keine Rolle gespielt hat und auch keine Rolle spielen konnte, weil ich diese Absicht weder hatte noch habe noch in Zukunft haben werde. Im Übrigen will ich Sie im Zusammenhang mit Ihrer Frage nach der Kommission auf eines aufmerksam machen: Ich habe es einfach satt, dass einige in der Union Gott sei Dank nicht alle - regelmäßig den Versuch machen, Fragen über die Zukunft der Bundeswehr, die einer gründlichen Diskussion bedürfen, weil sie Entscheidungen fordern, die für zehn bis 20 Jahre Bestand haben müssen, zum Gegenstand eines ganz billigen parteipolitischen Spiels zu machen. ({0}) Ich könnte Ihnen Dutzende von Interviews als Beispiel nennen. Das läuft mit mir nicht. Das hat die Bundeswehr nicht verdient und das ist im Übrigen ein Stil der politischen Auseinandersetzung, den ich nicht sonderlich schätze. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Minister, gestatten Sie nun eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting? Ich möchte darauf hinweisen, dass wir uns beim Tagesordnungspunkt 6, der Beratung des Berichts der Wehrbeauftragten, befinden. Wir sollten uns etwas an die Inhalte der Tagesordnung halten. ({0}) Herr Kollege Nolting, bitte.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister Scharping, könnten Sie uns erklären, welchen Sinn eine Zukunftskommission macht, die ja von Ihnen eingesetzt wurde und auf deren Ergebnisse wir warten, wenn Sie gleichzeitig den Generalinspekteur beauftragen, eigene Planungen vorzunehmen, die offensichtlich in Widerspruch zu dem stehen, was die Zukunftskommission vorlegen wird? Glauben Sie nicht, dass dies insgesamt - wie hier schon diskutiert wurde - zur Verunsicherung in der Truppe führt? Darf ich Sie im Zusammenhang mit der mittelfristigen Finanzplanung auch daran erinnern, dass weitere Kürzungen in Höhe von circa 18 Milliarden DM vorgenommen werden sollen und dies in absolutem Widerspruch zu dem steht, was Sie fordern: nämlich zusätzliche 15 Milliarden DM?

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Herr Kollege Nolting, erstens: Ich habe auf eine Investitionslücke aus den 90er-Jahren hingewiesen. Ich müsste dies mit dem Hinweis ergänzen, dass diese Investitionslücke nicht all das erfasst, was angesichts einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik und wegen der von der NATO gemeinsam beschlossenen Strategie an künftigen Fähigkeiten für die Bundeswehr erworben werden muss. Zweitens. Ich muss Sie darauf hinweisen - wir haben das mehrfach diskutiert -, dass die Zahlen der mittelfristigen Finanzplanung unter einem - dem Parlament im Übrigen mitgeteilt - Vorbehalt stehen, sodass Sie ebenso wie ich darauf warten müssen, was im Juni 2000 wirklich entschieden werden wird. ({0}) Ich bin ziemlich sicher, dass Sie von den Umständen etwas überrascht sein werden. Drittens. Mit Blick auf Ihre Frage nach der Arbeit der Kommission muss ich Sie darauf hinweisen, dass nach unseren Regeln und den Ihnen bekannten Vorschriften der Generalinspekteur der Bundeswehr als oberster sicherheitspolitischer Berater der Bundesregierung verpflichtet ist, konzeptionelle Eckwerte für die Bundeswehr zu entwickeln. Ich sage es einmal etwas polemisch: Wenn es bei Ihnen üblich sein sollte, dass niemand denken darf, weil ein anderer denkt, würde ich das für sehr unsinnig halten. Dies hat aber auch einen sehr begründeten, sachlichen Umstand, nämlich die klare Tatsache, dass Sie die Bundeswehr in einen Zustand gebracht haben, der einen langen Entscheidungsprozess nicht duldet. Deswegen bin ich der Kommission dafür dankbar, dass sie ihre Ergebnisse im Mai vorlegt; deswegen habe ich veranlasst, dass parallel gearbeitet wird, um vor den Sommerferien zu Entscheidungen über diese Eckpfeiler zu kommen. Denn alles andere hätte dazu geführt, dass einige Kollegen in diesem Haus ihre Taktik der Verunsicherung hätten weiter betreiben können, die Entscheidung erst im Jahre 2001 statt jetzt im Sommer 2000 gefallen wäre und der Zustand der Bundeswehr nicht nach vorne hätte verbessert werden können. Dies wäre angesichts des Zustandes, den die Bundeswehr erreicht hat, nicht verantwortbar. Deswegen bin ich gemeinsam mit dem Bundeskanzler fest entschlossen, diese Eckpfeiler im Sommer entschieden zu haben. Sie haben mit dem Umfang der Bundeswehr, mit der Wehrform, mit der Beseitigung der Personal- und Besoldungsmängel und mit einer klaren Perspektive der Beseitigung der Ausrüstungsmängel zu tun. Wenn Sie nach dem Vorliegen dieser Entscheidung dann die Kraft haben, Ihre Spekulationen als so haltlos zu bezeichnen, wie sie heute schon sind, dann wird mein Respekt wieder etwas wachsen. ({1}) Im Übrigen möchte ich abschließend, Frau Präsidentin, darauf hinweisen, dass der Bericht der Wehrbeauftragten eine Fülle von sehr beachtlichen - ({2}) - Ja, natürlich. Sie können doch keine Motivationsmängel und Verunsicherungen innerhalb der Truppe beklagen, ohne dass wir beginnen, über die Ursachen zu reden. Wo kommen wir denn da hin? Das geht doch nicht nach der Methode: Ich beklage den Zustand, frage nicht nach den Ursachen und verliere deswegen die Fähigkeit, sie zu beseitigen. Mit Verlaub: Das ist nicht nur politisch, sondern auch intellektuell unredlich. Deswegen will ich Sie noch auf einen Umstand aufmerksam machen. Ihre unüberlegte Reduzierung der Bundeswehr - personell wie finanziell wurde die Bundeswehr in den 90er-Jahren halbiert - hat dazu geführt, dass allein in einem einzigen Jahr über 50 000 zusätzliche Umzüge bewältigt werden mussten. Sie dürfen sicher sein: Ich orientiere mich an sehr klaren Leitlinien der planerischen und sozialen Sicherheit für die Soldaten als Voraussetzung für Motivation und Leistungswillen, für die Dauerhaftigkeit dieses Willens, die Erhöhung der wirtschaftlichen Effizienz innerhalb der Bundeswehr, was dringend erforderlich ist, und die Rücksichtnahme auf das familiäre Umfeld der Soldaten und der zivilen Angehörigen der Bundeswehr. Denn 50 000 ohne Not provozierte Umzüge waren 50 000 Eingriffe in das Leben von Familien, in die Berufstätigkeit von Frauen, in das schulische Umfeld von Kindern usw. Wer jetzt Mängel in der Motivation, schwere Mängel in der Ausrüstung beklagt, beklagt das zu Recht. Das befreit uns nicht davon, nach den Ursachen zu fragen und sie konsequent auszumerzen. Das wird auch geschehen. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Frau Marienfeld! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Breuer, Sie haben gerade so bedeutungsschwer festgestellt, der Bericht der Wehrbeauftragten sei kein normaler Bericht, sondern er sei ein Bericht zur Krise der Bundeswehr. Sie haben dabei eine Kleinigkeit vergessen, nämlich, dass das der Bericht zum Jahr 1999 war. Das Jahr 1999 war, abgesehen von schon erheblichen Veränderungen für die Bundeswehr in den 90er-Jahren, das einschneidende Jahr der Veränderungen. Immerhin war die Bundeswehr und das demokratische Deutschland zum ersten Mal an einem Krieg beteiligt. Die personelle und materielle Belastung spitzte sich durch den gesamten Einsatz im letzten Jahr zu. Die Rahmenbedingungen für die innere Führung, für das Verhältnis der Streitkräfte zur Gesellschaft haben sich dadurch verändert. Ich glaube, die Anforderungen an den Primat der Politik sind dabei gewachsen. Zum ersten Punkt. Die Wehrbeauftragte stellt fest, sie habe die Bundeswehrsoldaten im Einsatzgebiet auf dem Balkan als gut ausgebildet und bestens vorbereitet erlebt. Diejenigen, die die Bundeswehrsoldaten besucht haben, können dieses Urteil voll und ganz bestätigen. ({0}) Bei SFOR und KFOR erweist sich die Bundeswehr als voll bündnisfähig - ich sage das einmal ausdrücklich so -, als fähig zum Zusammenwirken mit Armeen, die nicht der NATO angehören, zum Beispiel den russischen Bataillonen, und schließlich mit zivilen Kräften, was gerade bei Kriseneinsätzen von entscheidender Bedeutung ist. Erstmalig nahmen Bundeswehrsoldaten an einem Kriegseinsatz teil. Wir haben dabei nichts von einer Art befreiendem Aufatmen gespürt, dass man endlich „voll dabei“ war. Es gibt auch keinerlei Bedürfnis, möglichst schnell ein nächstes Mal zu erleben und vielleicht auch das Heer einzubeziehen. Nein, unverändert - das ist jedenfalls mein fester Eindruck - und sogar noch stärker als früher gehen die Bundeswehrangehörigen von der Grundhaltung aus, dass der Frieden weiterhin der Ernstfall ist und die Bundeswehr ganz entscheidend vor allem etwas zur Friedensbewahrung, zur Friedensunterstützung und zur Kriegsverhütung beitragen soll. ({1}) Ich habe darüber hinaus die Erfahrung gemacht, dass Soldaten und Offiziere mit Balkanerfahrung inzwischen zu den stärksten und überzeugtesten Befürwortern von Krisenprävention, umfassender Krisenbewältigung und Friedenskonsolidierung gehören. In diesem Zusammenhang, Herr Minister Scharping, danke ich Ihnen für Ihre Anregung, ein Friedenskorps aufzustellen. Das zielt ja genau in die Richtung, die zivile Eingreiffähigkeit entsprechend zu stärken. Diese Anregung sollte nicht einfach in einem Interview verschwinden, sondern von uns für die weitere Arbeit wirklich aufgenommen werden. ({2}) Der Bericht der Wehrbeauftragten zeigt, dass das Jahr 1999 eine enorme Steigerung der personellen und materiellen Belastung der Bundeswehr brachte, der Auftakt zu einer erheblich höheren Dauerbelastung als in den Vorjahren war. Bewältigt wurde die rapide gewachsene Aufgabenbelastung durch einen zum Teil ungeregelten Abbau der Teile der Bundeswehr, die noch für ihre traditionellen Hauptaufgaben wie die Landesverteidigung vorgehalten werden. Das Jahr 1999 bestätigte aber vor allem die Entscheidung der rot-grünen Koalition vom Herbst 1998, schnell eine umfassende Bundeswehrreform anzugehen. ({3}) Sie müssten sich eigentlich noch sehr deutlich daran erinnern, dass gerade die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU zum damaligen Zeitpunkt keinerlei nachhaltigen Reformbedarf gesehen haben. Wo die Bundeswehr stände, wenn Ihrer Devise gefolgt worden wäre, kann sich jeder ausmalen: Sie wäre noch in ganz andere Krisen hineingerutscht. ({4}) Das Jahr 1999 unterstreicht, wie notwendig eine durchgreifende Reform ist, die lange trägt. Jede kurzschrittige Reform, wie sie sich zum Beispiel im CDU-Vorschlag findet, ist zwangsläufig auch eine kurzlebige Reform und würde die jetzige Planungsunsicherheit fortschreiben. Voraussetzung für eine langfristig ausgelegte Bundeswehrreform ist neben einer nüchternen Bestandsaufnahme auch eine breite Debatte mit Beiträgen der einzelnen Parteien. Diese Debattenbeiträge dienen der Entwicklung von Urteilsfähigkeit und der Meinungsbildung, ohne dabei in irgendeiner Weise den Ergebnissen der Kommission vorzugreifen. ({5}) Deshalb ist zurzeit natürlich eine gewisse Unsicherheit über den weiteren Weg der Bundeswehr unvermeidbar. Das Entscheidende ist allerdings, trotz aller unvermeidbaren Unsicherheit nicht mutwillig und zum Teil böswillig Verunsicherung zu schüren, wie es soeben von der Opposition geschieht. ({6}) Zurzeit befinden sich mehr als 8 000 Bundeswehrsoldaten im Auslandseinsatz und weitere 16 000 entweder in der Vor- oder Nachbereitungsphase. Damit leben sie getrennt von ihren Familien und ihrem sozialen Umfeld sowie von ihren Heimatstandorten überwiegend unter ihresgleichen, sind zumeist in Militärlagern untergebracht und stecken sieben Tage die Woche in Uniform. Das sind inzwischen ganz andere Rahmenbedingungen für den Bürger in Uniform und sein Verhältnis zur Zivilgesellschaft. Deshalb ist es vor dem Hintergrund dieser veränderten Rahmenbedingungen umso wichtiger, auf die Stärkung und Weiterentwicklung der inneren Führung zu achten, die sich eben nicht auf schlichtes, ordentliches Vorgesetztenverhalten und Sozialtechnik beschränken soll und darf. Die Wehrbeauftragte hat ja in diesem und in den letzten Berichten darauf hingewiesen, wie wichtig gerade die Bereitschaft und die Fähigkeit von Vorgesetzten zur Zivilcourage ist, also dass jeder Kritik einbringen kann, ohne damit seine Karriere aufs Spiel zu setzen. Ich glaube, in dem Bereich müssen wir genau hinschauen und Soldaten unterstützen. ({7}) Die Auslandseinsätze ändern auch die Rahmenbedingungen der Kontrolle. Wir erfahren schon einiges durch unsere parlamentarischen Kurzbesuche vor Ort. Diese sind sehr hilfreich. Noch viel nützlicher und umfassender sind natürlich die Berichte der Wehrbeauftragten. Aber ich glaube, gerade um längerfristige und eher geräuschlose Veränderungen in den Streitkräften und in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft wahrnehmen zu können, brauchen wir ein noch weiter verfeinertes Wahrnehmungsinstrumentarium. Die Bundesrepublik weist in diesem Bereich bisher eine große Forschungslücke auf. Wir verfügen wohl über das Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut der Bundeswehr, das nützliche und hilfreiche Arbeit leistet. Aber was uns ganz im Gegensatz zu angelsächsischen Ländern fehlt, ist das breite Feld der militärbezogenen Sozialwissenschaft, der Militärsoziologie. Ich glaube, dass die Stärkung dieses Forschungsbereiches auch dazugehört, wenn wir jetzt die Friedens- und Konfliktforschung fördern. Man sollte sich auch um dieses Themenfeld kümmern. ({8}) Die Entscheidung von Bundestag und Bundesregierung im letzten Jahr stellte die Bundeswehrangehörigen vor höchste Anforderungen. Auf der anderen Seite - das schreiben Sie, Frau Marienfeld, in Ihrem Bericht - haben die Bundeswehrangehörigen völlig zu Recht hohe Erwartungen an ihre politischen Auftraggeber, also an uns. Der Einsatzauftrag musste und muss deshalb nicht nur moralisch legitim sein, er muss nicht nur rechtlich begründet; werden können er muss selbstverständlich auch völkerrechtlich legal sein. Hier müssen wir feststellen, dass wir aus Gründen der Nothilfe, zu der es keine Alternative gab, den Luftwaffensoldaten der Bundeswehr im letzten Jahr zumuten mussten, dass sie sich nicht an das völkerrechtliche Gewaltverbot hielten. Die ganze Koalition ist der festen Überzeugung, dass diese Vorgehensweise im letzten Jahr eben die Ausnahme in einer Extremsituation war, dass sich daraus die positive Verpflichtung auf UN-Mandate in Zukunft ergibt. Jedes Gerede von einem UN-Mandat als Königsweg, wie es im letzten und vorletzten Jahr von der CDU/CSU zu hören war, ist nur noch als verantwortungslos zu bezeichnen. Die Soldaten erwarten aber auch verantwortbare Aufträge. Dazu gehört, dass Ziele, Risiken und Fähigkeiten nüchtern abgewogen werden, dass vor allem auch rückblickend die Ergebnisse des Kosovo-Krieges, die gewollten Wirkungen und Ergebnisse, die Teilerfolge, aber auch die Opfer und die Zerstörungen umfassend und offen bilanziert werden. Hier hat mir die gestrige Debatte gezeigt, dass wir, als Koalition und auch unsere Bundesregierung in dem Punkt der umfassenden Bilanzierung noch Nachholbedarf haben.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Frau Marienfeld, das war Ihr letzter Jahresbericht. Es ist kein Ritual, wenn ich Ihnen im Namen meiner Fraktion für Ihre und Ihrer Mitarbeiter vorzügliche Arbeit herzlich danke, insbesondere für Ihre sehr genaue Beobachtung des menschlichen Klimas in der Bundeswehr. Sie haben sich um eine Bundeswehr, die fest in Demokratie und Rechtsstaat verankert ist, verdient gemacht. Danke schön. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Hildebrecht Braun, F.D.P.-Fraktion.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst ein Wort an den Verteidigungsminister: Herr Scharping, ich bedaure die Rede, die Sie vorhin gehalten haben, sehr. ({0}) Wir sprechen hier über den Bericht der Wehrbeauftragten und versuchen gemeinsam, die richtigen Konsequenzen aus diesem Bericht und der geschilderten Situation zu ziehen. ({1}) Sie aber nutzen heute Ihren Auftritt für eine polemische und polarisierende Rede, ({2}): Wenden Sie sich ein- mal an die richtige Adresse!) in der Sie nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ auf die unbestreitbaren Schwächen der Haushaltsfinanzierung in den 90er-Jahren verweisen, statt einfach zu sagen, dass Sie es bedauern, dass Sie sich nicht gegenüber Ihren Kollegen durchsetzen konnten und deswegen in den nächsten Jahren eine deutliche Einschränkung Ihrer Handlungsfähigkeit als Verteidigungsminister hinnehmen müssen. Das wäre richtig gewesen und hätte Ihnen Respekt bei allen Beteiligten verschafft. ({3}) Ich möchte mich nun mit dem Bericht der Wehrbeauftragten befassen und dazu einige Anmerkungen machen. Im letzten Jahr hatten wir die Gelegenheit, das 50-jährige Bestehen der NATO zu feiern. Die Bundeswehr ist eine große Stütze des NATO-Bündnisses, das unserem Land 50 Jahre Freiheit gebracht hat und weiterhin die Freiheit erhält. Wir haben im letzten Jahr zugleich das 40-jährige Bestehen der Institution des bzw. der Wehrbeauftragten gefeiert. Darauf will ich jetzt zu sprechen kommen. Es ist eine wunderbare Sache, dass die Bundeswehr, die in unserer Gesellschaft integriert ist - auf diesen Punkt werde ich noch zu sprechen kommen - eine Wehrbeauftragte des Parlaments hat, die jedes Jahr in einem Bericht alle Mängel der Bundeswehr ungeschönt auflistet und diese der Öffentlichkeit mitteilt, sodass wir darüber diskutieren können. Es gibt wohl kaum eine Armee auf dieser Welt, die in dieser Form im Auftrag des Parlaments von einer Wehrbeauftragten beobachtet wird und die weiß, dass ihre Nöte und Probleme im Parlament offen diskutiert werden. Es gibt auch kaum eine andere Armee, über die trotz der schonungslosen Offenlegung aller Mängel insgesamt ein Bericht zustande käme, von dem wir sagen könnten: Natürlich gibt es viele Mängel und viele Defizite; aber sie halten sich in einem gewissen Rahmen. Ich denke in diesem Zusammenhang an die Soldaten beispielsweise in Russland, in der Ukraine und in China, aber auch an die Soldaten in etlichen Berufsarmeen, die dankbar wären, wenn die Situation in ihrer Armee so wäre, wie sie in dem Bericht bezüglich der Bundeswehr dargestellt wird. ({4}) Das Wichtigste an dem Bericht ist, dass es ihn gibt, dass er hier diskutiert wird, dass er in großer Auflage verbreitet wird und dass auch die Presse ihn erwähnt. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass jeder in der Bundeswehr, der sich gegen die Prinzipien der inneren Führung und gegen das Prinzip der Kameradschaft unter Soldaten wendet, Gefahr läuft, dass die Wehrbeauftragte davon Kenntnis erlangt und dass dieser Einzelfall dann in dem Bericht erwähnt wird. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Existenz dieses Berichtes dazu beiträgt, dass Vorkommnisse, die wir in der Bundeswehr nicht wollen, erst gar nicht geschehen. Unsere Bundeswehr kann nicht besser sein als die Gesamtgesellschaft. Deswegen ist es gut, wenn wir nicht unerfüllbare Erwartungen an die Bundeswehr stellen. Das wäre nicht hilfreich. Wir müssen uns immer wieder vor Augen halten: Die Bundeswehr ist nicht die Schule der Nation; die Schule der Nation ist die Schule. Was das Elternhaus, der Kindergarten und die Schule nicht zu leisten vermögen, das kann die Bundeswehr in den wenigen Monaten, in denen junge Männer in ihr als Wehrpflichtige dienen, nicht nachholen. Wenn wir uns dessen bewusst sind, dass unsere jungen Menschen tagtäglich unter anderem der Berieselung durch Gewaltsendungen im Fernsehen ausgesetzt sind und dass das die Seelen und das Denken junger Menschen prägt, dann dürfen wir uns nicht darüber wundern, dass wir die einen oder anderen Übergriffe in der Bundeswehr erleben, die wir natürlich beklagen und gegen die wir gemeinsam angehen müssen. Natürlich müssen wir alles tun, um die pädagogischen Möglichkeiten der Vorgesetzten in der Bundeswehr zu verbessern. Aber wir sollten nicht erwarten, dass wir jedem jungen Mann, dem wir eine Uniform verpassen, zugleich einen guten Charakter mitgeben könnten. Damit würden die Bundeswehr überfordern. ({5}) Ich möchte die Gelegenheit nutzen und auf die Möglichkeiten des positiven Einflusses der Bundeswehr auf junge Leute hinweisen; denn es gibt viele junge Leute, die in ihrem Leben zum ersten Mal erleben, in der Gruppe Verantwortung für sich, aber auch für andere zu übernehmen. Das ist eine wichtige Erfahrung, die rundherum als förderlich bezeichnet werden kann. Sie bietet eine Chance für viele Menschen, die in ihrem privaten Bereich, zumindest in diesem Alter, Derartiges noch nicht erleben können. Ich erwähne dies speziell vor dem Hintergrund der immer wieder aufflackernden Diskussion über die Wehrpflicht und möchte bei dieser Gelegenheit sehr deutlich machen: Die F.D.P. steht mit ganz großer Mehrheit nachhaltig hinter der Wehrpflicht und das wird sich auch in den nächsten Jahren nicht ändern. ({6}) Ich möchte zu einigen Einschätzungen von Ihnen, liebe Frau Marienfeld, kommen, die Sie in diesem Bericht gebracht haben. Den meisten stimme ich zu; sie muss ich hier nicht wiederholen. Ich möchte aber drei Punkte nennen, bei denen ich von Ihrer Einschätzung abweiche. Der erste Punkt betrifft die Familienbetreuung. Sie haben für diesen Bereich gerade zehneinhalb Zeilen in Ihrem Bericht reserviert. Das war mir schon vom Ausmaß her, aber auch inhaltlich viel zu wenig. Denn wir müssen uns eines vor Augen halten: Wir schicken nicht nur die Soldaten über einen gewissen Zeitraum in den Kosovo, nach Bosnien, nach Mazedonien oder nach Osttimor, sondern wir belasten auch die Familienangehörigen mit diesen Auslandseinsätzen sehr stark. In der Öffentlichkeit wird viel zu wenig wahrgenommen, dass die Angehörigen, auch die Kinder, von Soldaten ohnehin sehr belastet sind - durch sich wiederholende Umzüge in kurzer Zeit, infolge derer sie zum Beispiel wieder in neue Schulen müssen und damit nicht an das anknüpfen können, was sie davor erlebt haben. Das ist eine schwere Last, die Familien mittragen. Aber jetzt, wo die Männer zum Teil in Kampfeinsätzen im Ausland tätig sind, kommt noch ein neues Moment hinzu, nämlich die tägliche Angst um den Mann, aber auch um den Freund, den Lebensgefährten, den Vater. Das sind Belastungen neuer Qualität und wir müssen natürlich auch in neuer Form darauf eingehen. Ich glaube, dass das, was wir bisher an Familienbetreuung leisten, schlicht zu wenig ist. Zweiter Punkt: Mütter in der Bundeswehr. Da haben Sie sich sehr deutlich und sehr klar für die Interessen des Dienstes und gegen die Interessen der Mütter ausgesprochen. Ich kann dem so nicht folgen. Ich glaube, wir sollten die Botschaft vermeiden, dass eine junge Frau, die den Dienst in der Bundeswehr anstrebt, damit zugleich mehr oder weniger auf die Rolle als Mutter verzichten muss. Das kann es nicht sein. Das war früher bei Stewardessen der Lufthansa der Fall. Das ist durch die Gerichte untersagt worden. Ich bin der Meinung, dass eine Mutter, die bei der Bundeswehr Dienst tut, die also eine Uniform trägt, immer noch Mutter ist und sie Rechte haben muss, die Mütter auch in allen anderen Bereichen der Gesellschaft haben. ({7}) Wir müssen in der Zukunft flexibler sein und auch Teilzeitarbeit ermöglichen. Das wird auf die Bundeswehr zukommen und ich halte das auch für richtig. ({8}) Drittens. Die Dauer des Einsatzes im Ausland, die von vier auf sechs Monate angehoben wurde, haben wir immer für falsch gehalten. Ich wiederhole das hier. Die Belastung für die Soldaten und für die Familien ist dadurch ungleich größer geworden. Wir halten das für falsch. Ich möchte das hier nochmals betonen. Hildebrecht Braun ({9}) Nun zu unseren Soldaten, speziell im Kosovo: Wir Abgeordnete des Bundestages haben allen Anlass, den Dienst tuenden Soldaten, aber auch der Bundeswehrführung dafür zu danken, dass dieser Dienst im Kosovo in hervorragender, ja in beispielhafter Weise geleistet wurde, ({10}) dass Ergebnisse erreicht wurden, die uns stolz machen können, nämlich dass die Situation im deutschen mindestens so gut ist wie in den anderen Sektoren, in Teilbereichen sicherlich sogar besser. Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass die von Deutschland entsandten Polizisten einen oft noch schwierigeren Job machen, dass sie nämlich, ohne die große Gruppe der Bundeswehr hinter sich zu haben, vor Ort Probleme lösen müssen, in einem Umfeld von Menschen, deren Sprache sie nicht sprechen. Auch das möchte ich bei dieser Gelegenheit einmal ansprechen. ({11}) Es ist gut, dass bei den Auslandseinsätzen das Einkommen der Soldaten aus Deutschland Ost und Deutschland West gleich hoch ist. Es ist aber nicht gut, dass nach der Rückkehr nach Deutschland diejenigen, die im Osten stationiert sind, wieder nur 86,5 Prozent des Einkommens derer bekommen, die im Westen Soldaten sind. Wir sind der Meinung, dass sich dies bald ändern muss. Ich verweise auch hier darauf. ({12}) Der Bericht spricht auch von den Reservisten und ihrem wichtigen Auftrag zur Aufgabenerfüllung im Kosovo, aber auch hier zu Hause. Das ist eine Botschaft, die durch das Ministerium immer wieder an die Öffentlichkeit gebracht werden sollte: Unsere Bundeswehr kann ihren Auftrag nicht ohne die Unterstützung von hoch qualifizierten Reservisten erfüllen. Das ist wichtig zu wissen. Ich möchte auf einen Punkt zu sprechen kommen, der mir besonders am Herzen liegt.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Aber denken Sie auch an Ihre Redezeit.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gut, ich denke an meine Redezeit und mache es ganz kurz. Die Bundeswehr hat eine Integrationsaufgabe, die nicht nur von unschätzbarem Wert ist, weil junge Menschen aus Ost und West gemeinsam erleben, welche Sorgen, Ängste, Erwartungen, Hoffnungen die anderen jeweils haben, sondern ebenso, weil sie mit jungen Deutschen, deren Eltern hier noch als Ausländer gelebt haben, zusammen den Dienst erleben. Ich meine hier auch die Russlanddeutschen, junge Mensche, die oft ganz schlecht Deutsch sprechen und sich in unser Land noch gar nicht richtig eingefunden haben. Hier wird eine gewaltige Leistung für alle erbracht. Erlauben Sie mir einen letzten Gedanken. Der Bericht konnte zum Thema Homosexuelle in der Bundeswehr natürlich noch nicht das aufgreifen, was wir vor einer Woche im Parlament angesprochen haben. Ich danke ganz herzlich dem Bundesverteidigungsminister für seine geänderte Haltung in diesem Bereich, ({0}) besonders aber auch der CDU/CSU, die hier eine neue Entwicklung mitträgt und dafür sorgt, dass es in der Bundeswehr keine Diskriminierung mehr gibt, ganz gleich, aus welchem Grund sie entstehen mag. Das ist gut so; ich freue mich darüber. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteilte ich das Wort der Kollegin Heidi Lippmann, PDS-Fraktion.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Marienfeld! Wie ein roter Faden durchzieht die neue Rolle der Bundeswehr als aktiver Kriegsteilhaber den vorliegenden Bericht der Wehrbeauftragten. Dass der von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, politisch gewollte Umbau der Bundeswehr von einer Manöverarmee zu einer Interventionsarmee nicht ohne tief greifende Veränderung in der Struktur vonstatten gehen kann, zeigt nicht nur die Debatte um die zukünftige Wehrstruktur, sondern insbesondere der vorliegende Bericht. Zu Recht wird festgestellt, dass die Soldaten möglichst rasch Planungssicherheit bräuchten. Doch die Rezepte, die hier gehandelt werden, um den Problemen begegnen zu können, greifen zu kurz und gehen in die falsche Richtung. Nachdem der Kollege Breuer eben schon fast eine Krisenreaktionstruppe zur Rettung der Bundeswehr gefordert hat, möchte ich einmal darauf hinweisen, dass in den meisten Bereichen bei den vier Fraktionen, die mir gegenübersitzen, doch ziemlich große Einigkeit herrscht und die Unterschiede doch häufig nur in Nuancen bestehen, wie zum Beispiel bei der Aufstockung der Krisenreaktionskräfte, bei der Verbesserung der Betreuungskonzepte und bei der finanziellen Ausstattung. Von daher sollten wir versuchen, die Debatte etwas ruhiger zu führen. Was mir in der Diskussion zu kurz kommt, ist die grundsätzliche Frage, ob und wozu die Bundesrepublik eine große, starke, schlagkräftige Armee braucht. ({0}) Es wird überhaupt nicht mehr infrage gestellt, dass sich die Bundeswehr künftig an internationalen Kampfeinsätzen beteiligen wird, ({1}) es wird nicht über den originären, im Grundgesetz festgelegten Auftrag der Bundeswehr debattiert und es wird auch nicht die Frage gestellt: Wollen wir überhaupt, dass sich deutsche Soldaten an Kriegseinsätzen außerhalb des Verteidigungsauftrages beteiligen? Hildebrecht Braun ({2}) Dies sind Fragen, die nicht nur wir hier verstärkt diskutieren müssen, sondern die ebenso ganz massiv die Soldaten bewegen. Das geht auch aus dem Bericht von Frau Marienfeld hervor. Diese Fragen stellten sich nicht, wenn sich die Bundesrepublik der neuen NATO-Strategie entgegenstellen würde, wenn sie sich nicht länger an völkerrechtswidrigen Kriegen beteiligen würde und wenn man sich davon abkehren würde, die Bundeswehr künftig nur noch als Interventionsarmee zu sehen. Diese Unsicherheiten spielen bei den Soldaten eine sehr viel größere Rolle als hier im Parlament. Diese Probleme gilt es ernst zu nehmen. Deswegen fordern wir Sie auf: Geben Sie den Soldaten - auf der Grundlage einer erheblichen Reduzierung der Bundeswehr und auf der Grundlage des Grundgesetzes - Planungssicherheit. ({3}) Die Wehrbeauftragte hat in der Truppe vermehrt Unsicherheit, Frustration und Motivationslosigkeit festgestellt, was durch die derzeitige Übergangssituation und materielle Engpässe noch verstärkt werde. Ein Beispiel dafür ist - Kollege Braun sprach es bereits an - die Ungleichbehandlung bei der Besoldung zwischen Ost und West. Zehn Jahre nach Vollendung der deutschen Einheit ist es niemandem mehr zu vermitteln, dass Soldaten aus den neuen Bundesländern, die beim Auslandseinsatz die gleichen Bezüge erhalten wie ihre Westkollegen, zu Hause nur rund 85 Prozent der Westbesoldung erhalten. ({4}) Diese soziale Ungerechtigkeit muss umgehend abgeschafft werden, und zwar nicht nur bei der Bundeswehr, sondern auch im gesamten Tarifgefüge. ({5}) - Das habe ich. ({6}) - Doch. Wenn wir über eine neue Struktur sprechen, darf nicht ausgeblendet werden, dass die gesunkene Zahl der gemeldeten rechtsextremen Vorfälle nicht als Signal zur Entwarnung verstanden werden darf. Angesichts der drastischen Zunahme von rechtsextremistischer Gewalt bei Jugendlichen muss sich auch und gerade die Bundeswehr weiterhin damit beschäftigen. Dies betrifft nicht nur die Soldaten im aktiven Dienst, sondern insbesondere auch die Reservistenstruktur. Erst vor wenigen Tagen erhielten wir die Antwort auf eine in diesem Zusammenhang gestellte Kleine Anfrage, wonach die Auswertung der Verbandszeitschrift „Soldat im Volk“, die über den Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr indirekt mit Bundesmitteln unterstützt wird, tatsächlich einen „rechtsextremen Hintergrund“ ergeben hat. Diese Auskunft der Bundesregierung überrascht und erschreckt zugleich. Denn obwohl PDS, engagierte Gruppen und auch die Grünen immer wieder darauf hingewiesen haben, dass im Milieu der soldatischen Traditionsverbände rechtsradikales und neonazistisches Gedankengut weit verbreitet ist, ({7}) wurde dies bisher immer geleugnet, abgestritten und verdrängt, Herr Nolting. Selbst im Untersuchungsausschuss „Rechtsextremismus in der Bundeswehr“ war die Einbeziehung dieser Problematik tabu. Es gab keine Untersuchung der vielfältigen Querverbindungen zwischen Traditionsverbänden, dem Reservistenverband und Einheiten der Bundeswehr. Diese Fragen müssen dringend geklärt werden. Wir fordern Sie, Herr Verteidigungsminister, auf, in eine kritische Diskussion mit den Reservisten zu treten, damit dort nicht länger falsche Kameradschaften gepflegt werden. Wer den Holocaust leugnet oder Verbrechen der Wehrmacht prinzipiell in Abrede stellt, hat in der Bundeswehr nichts zu suchen. Neben den materiellen Schwierigkeiten in Bezug auf Ausrüstung und Ausstattung, finanzielle Absicherung, Zuschläge und Ähnliches ist die Liste der Probleme, die Frau Marienfeld erstellt hat, lang: angefangen von den großen psychischen und physischen Belastungen im Auslandseinsatz über den Missbrauch von Alkohol und Drogen in der Truppe bis hin zu der Frage, welcher Schmuck bei Soldatinnen und Soldaten im Zuge der Gleichberechtigung angemessen ist. Ein ernsthaftes Problem ist nach wie vor die unzureichende Beförderungspraxis bei schwulen Soldaten. Auch Kollege Braun hat darauf soeben hingewiesen. Ich denke, die Debatte in der vergangenen Woche hat gezeigt, dass das amerikanische Prinzip „Don´t ask, don´t tell“ nicht mehr länger Gültigkeit in der Bundeswehr haben darf. Angesichts des politischen Willens der Regierungsfraktionen, Frauen den Dienst mit der Waffe künftig zu gestatten, wird die Liste der Probleme in Zukunft noch länger werden. Denn es kommen verstärkt zum Beispiel Fragen im Hinblick auf Erziehungsurlaub und Teilzeitbeschäftigungsmöglichkeiten, aber auch das Thema „sexuelle Belästigungen“ hinzu. Bei der Anhörung des Rechtsausschusses zum Thema „Waffendienst für Frauen“ sagte einer der Experten der Universität der Bundeswehr: Soldaten sind immer nur für den Ernstfall da. - Dieser Gedanke, der viele Soldaten der Bundeswehr bewegt, sollte ebenso wie das Grundgesetz die Grundlage aller Überlegungen über den Zustand der Bundeswehr und die künftige Struktur sein. Nehmen Sie Abschied von Ihren bisherigen Vorstellungen, dass die Bundeswehr überall auf dieser Welt in Kampfeinsätzen und sonstigen Einsätzen dabei sein muss. Wir fordern Sie auf: Denken Sie über eine Bundeswehr in abgespeckter Form nach, die ausschließlich den im Grundgesetz verankerten Verteidigungsauftrag erfüllt und gegebenenfalls ihrer Pflicht im Bündnisfall nachkommt! Schaffen Sie die Wehrpflicht ab! Streiten Sie gemeinsam mit uns dafür, dass es im Rahmen der jetzigen Bestände der Bundeswehr und darüber hinaus zivile Krisenreaktionskräfte gibt, die humanitäre Hilfe bzw. Katastrophenschutzdienste leisten und die künftig vor allen Dingen OSZE-Missionen zur Verfügung stehen! Ich denke, wenn man wirklich für eine friedliche Außen- und Sicherheitspolitik streitet, wäre diese Vision sehr viel wirkungsvoller als eine weitere Aufrüstung, als das Bemühen, mit allen Mitteln die neue NATO-Strategie umsetzen zu wollen, auch wirkungsvoller als eine Beteiligung an der europäischen Militärunion. ({8}) Sehr verehrte Frau Marienfeld, ich bedanke mich im Namen der gesamten Fraktion der PDS im Nachhinein bei Ihnen und wünsche Ihnen für Ihren weiteren Lebensweg, für Ihre politische und berufliche Zukunft alles Gute. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Albrecht Papenroth, SPD-Fraktion.

Albrecht Papenroth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002748, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei der Betrachtung des Berichts der Wehrbeauftragten fällt auf, dass sich gegenüber den Berichten der vergangenen Jahre die Schwerpunkte nur unwesentlich verändert haben. Das betrifft in erster Linie die Kritik an Einzelfällen von subjektivem Fehlverhalten Bundeswehrangehöriger verschiedener Dienstgrade. Die im Bericht einzeln aufgeführten Sachverhalte sind aber weder verallgemeinerungsfähig noch auf die Bundeswehr insgesamt zu beziehen. Sie dürfen demnach auch nicht überbewertet werden. Damit will ich keine Art von Fehlverhalten beschönigen oder gar tolerieren. Ich will nur darauf hinweisen, dass ein besonderes Vorkommnis nicht hochgespielt werden darf. Wichtig ist allerdings, dass auf jedes Fehlverhalten angemessen reagiert wird: Die Ursachen müssen erforscht und grobe Verstöße unnachgiebig geahndet werden. ({0}) Mit größerer Sorge sind die Ausführungen von Frau Marienfeld zu den zunehmenden Mängeln an Ausrüstung, Ausstattung und Unterbringung zu betrachten. Hier macht sich außerordentlich drastisch bemerkbar, was durch die Vorgängerregierung in mehr als einem Jahrzehnt vernachlässigt wurde. Für unsere Bundeswehrangehörigen ist nicht nachvollziehbar, dass zum Beispiel die derzeit genutzte Wehrtechnik älter ist, als sie selbst es sind, und dass die Unterbringung unserer Soldaten teilweise in sanierungsbedürftigen Gebäuden erfolgt; unser Minister hat bereits darauf hingewiesen. Diese Umstände erfordern zwar von unseren Soldaten Kreativität und Improvisationsvermögen, die jeweilige Situation zu meistern. Ich bin allerdings der Auffassung, dass diese Art der Mängelbewältigung dem Image der Bundeswehr schadet. Die Bundeswehr muss wirtschaftlicher und effektiver werden. Das geht aber nicht ohne die gleichzeitige Modernisierung der Ausrüstung und Ausstattung, auch nicht ohne die entsprechende Ersatzteilbeschaffung. Wir wissen - das haben unsere Soldaten in der Vergangenheit für alle sichtbar bewiesen -, dass sie hoch motiviert und diszipliniert ihre oftmals sehr schwierigen Aufgaben auch unter widrigen Bedingungen gelöst haben und weiterhin lösen. Dafür möchten wir uns bei ihnen ausdrücklich bedanken. ({1}) Meine Damen und Herren, ich komme nun zu einem Punkt, der im Bericht der Wehrbeauftragten nicht ausreichend bewertet worden ist: die Bezahlung der Bundeswehrangehörigen und die Auswirkungen auf die Attraktivität des Dienstes. In dieser Hinsicht wird es nun darauf ankommen, die von der Vorgängerregierung angehäuften Missstände schrittweise abzubauen. Zu Recht weist unser Verteidigungsminister darauf hin, dass zurzeit mehr als 8 000 Soldaten, gemessen an den von ihnen wahrgenommenen Dienstposten, unterwertig besoldet werden. So entspricht die Bewertung und Bezahlung vieler Dienstposten nicht mehr der jeweiligen Verantwortung. Beispielsweise erhält ein Kompaniechef nach sieben Jahren intensiver ziviler und militärischer Ausbildung bei einer Verantwortung für bis zu 200 Soldaten und für Gerät in einem Wert bis zu 1 Milliarde DM eine Besoldung nach A 11. Das ist weniger, als beispielsweise eine Lehrkraft an einer Hauptschule bekommt. Dies ist unzumutbar. Noch drastischer wirkt sich die Vergütung in den neuen Bundesländern aus, da sie hier um 13,5 Prozent niedriger ist. Es ist für mich nicht akzeptabel, dass Soldaten in den Ostländern bei gleicher Leistung nur 86,5 Prozent der Westbezüge erhalten. ({2}) Ich stimme Herrn Braun zu: Man kann eigentlich nicht oft genug erwähnen, dass es recht kurios ist, dass Ostsoldaten, die zum Auslandseinsatz antreten, zwar 100 Prozent erhalten, ihre Vergütung aber, sobald sie wieder nach Hause kommen und sie Schulter an Schulter mit ihren Westkollegen ihren Dienst tun, wieder um 13,5 Prozent abgesenkt wird. Das kann kein Dank sein.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting?

Albrecht Papenroth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002748, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Für die paar Minuten lohnt das nicht. ({0}) Meine Damen und Herren, nun werden sicherlich einige sagen, die Angleichung des Wehrsoldes sei ebenso unbezahlbar wie die Angleichung der Vergütungen des sonstigen öffentlichen Dienstes oder der Löhne und Gehälter in der Wirtschaft. Sie werden mir aber zustimmen, dass diese drei Komponenten untereinander nicht vergleichbar und damit auch nicht gleichzusetzen sind. Wir müssen uns darüber klar sein, welchen Stellenwert die Bundeswehr zur Gewährleistung der veränderten Anforderungen der eigenen Sicherheit, der Bündnisverpflichtungen sowie der Krisen- und Konfliktbewältigung einschließlich der humanitären Hilfe jetzt und in Zukunft hat. Nur das kann Maßstab für die Bereitstellung angemessener finanzieller Mittel sein. Wir müssen gewährleisten, dass unsere Bundeswehrangehörigen nicht durch fortgesetzte Ungleichbehandlung und eine fast durchgängige Unterbezahlung demotiviert werden. Unsere Soldaten haben Verständnis dafür, dass nicht alles auf einmal geht. Sie müssen aber konkrete Schritte der Anpassung und Erhöhung erkennen können. Laufbahnperspektiven müssen in West und Ost in gleicher Weise mit den Realitäten künftiger Bundeswehr übereinstimmen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, nun müssen Sie doch an die Redezeit denken.

Albrecht Papenroth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002748, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. Ich bin gleich fertig. Unsere Bundeswehrangehörigen brauchen ein persönliches Ziel, das sie anvisieren können. Ein weiteres aktuelles Problem betrifft insbesondere ostdeutsche Wehrdienstwillige. Es besteht darin, dass die Nichtgewährung einer befristeten Zurückstellung vom Wehrdienst wegen begonnener Lehrausbildung zum Verlust des Ausbildungsplatzes führt. Nach dem Ende des Wehrdienstes ist die Ausbildungsfortführung infolge der oftmals schwierigen Wirtschaftslage der Unternehmen und der bestehenden Lehrstellenknappheit leider nur theoretisch einklagbar. Hier ist eine flexible Herangehensweise notwendig, damit Wehrdienstwillige nicht zu Wehrdienstunwilligen werden. Danke schön. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Sie können einen Augenblick stehen bleiben, Herr Kollege. Der Kollege Nolting möchte jetzt eine Kurzintervention machen, auf die Sie noch antworten können. Herr Kollege Nolting.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Papenroth, ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie hier Missstände wie die Unterschiede zwischen West und Ost in der Besoldung beklagen, wie es auch der Minister getan hat, dass Sie sich aber in der Realität ganz anders verhalten. Sie haben die Mehrheit. Sie haben zum Beispiel einem Antrag der Freien Demokratischen Partei im Verteidigungsausschuss nicht zugestimmt. Wir hatten einen Stufenplan aufgezeigt, um die Unterschiede in der Besoldung zwischen Ost und West auszugleichen. ({0}) Dem haben Sie nicht zugestimmt, obwohl Sie die Möglichkeit und die Mehrheit dazu gehabt hätten. Sie verfahren heute nach dem Motto: Alles versprechen, aber nichts halten. Daran müssen Sie sich auch in Zukunft messen lassen. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege Papenroth, wollen Sie antworten? - Bitte.

Albrecht Papenroth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002748, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Nolting, Sie wissen ganz genau, dass nicht alles auf einmal geht, wie ich es schon beschrieben habe. ({0}) - Das ist richtig. Aber der Stufenplan war nicht realisierbar. Danke.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zu einer weiteren Zwischenbemerkung erteile ich dem Kollegen Göllner das Wort. Dann lasse ich aber keine mehr zu, weil wir uns sonst im Verlauf des Tages den Zorn des ganzen Hauses einhandeln. Herr Kollege, bitte.

Uwe Göllner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002943, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Die Kollegen Braun und Papenroth haben auf die 86,5-Prozent-Regelung hingewiesen, die niemand für gerecht hält. Ich möchte in diesem Zusammenhang aber darauf hinweisen, dass es die Kollegen Schäuble und Krause waren, die im Einigungsvertrag durch die Einfügung von zwei Wörtern „und Soldaten“ - die Soldaten mit dem öffentlichen Dienst gleichgestellt haben. Herr Nolting, dies geschah nicht unter unserer Verantwortung. Man hätte auf diese beiden Wörter verzichten können. Dann hätten wir heute eine Menge Ärger weniger. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Werner Siemann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Werner Siemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003236, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Papenroth, mit ein bisschen Verwunderung habe ich Ihre Ausführungen zu den Missständen zur Kenntnis nehmen müssen. ({0}) Ich war zumindest bei den letzten Haushaltsberatungen dabei und habe erleben müssen, dass vonseiten der Koalition im Verteidigungsausschuss mit seltener Einmütigkeit alle unsere Anträge für eine bessere Besoldung und zur Beseitigung dieser Missstände, die man auch erkannt hat, abgelehnt worden sind. ({1}) Eine sachliche Analyse der Wehrbeauftragtenberichte der letzten fünf Jahre anhand des Berichts für das Jahr 1999 lautet für mich: Noch nie war die Bundeswehr in einem besorgniserregenderen und dramatischeren Zustand als heute. Der innere Zustand der Bundeswehr entspricht längst nicht mehr den äußeren Anforderungen. Das bestätigt auch der Herr Verteidigungsminister bei jeder sich bietenden Gelegenheit, zuletzt am Dienstag auf einer Tagung vor 140 Brigade- und Regimentskommandeuren, wenn er der Bundeswehr - man höre und staune - die Bündnis- und Europafähigkeit abspricht. Die Wehrbeauftragte stellt in ihrem Bericht nachdrücklich fest, dass sich die Bundeswehr mit ihren derzeitigen Strukturen an den Grenzen ihrer materiellen und personellen Belastbarkeit befindet. ({2}) Mit ihren radikalen Einschnitten in den Verteidigungshaushalt hat die rot-grüne Bundesregierung maßgeblichen Anteil an der heutigen Situation. ({3}) Zwar hätte ich es - damals als Betrachter von außen als wünschenswert empfunden, wenn in den 90er-Jahren der Bundeswehr ein größerer Spielraum zugestanden worden wäre. Es ist jedoch irreführend und falsch, in diesem Zusammenhang gebetsmühlenartig allein von einem Investitionsstau von 15 Milliarden DM zu sprechen, ohne auch zu sagen, dass es die SPD und niemand anderes war, die in den Jahren 1990 bis 1996 zusätzliche Kürzungsanträge zum Verteidigungshaushalt in Höhe von rund 15 Milliarden DM eingebracht hat. ({4}) - Die Zahlen kann ich Ihnen geben, Herr Zumkley. ({5}) Heute ist die Regierung nicht nur nicht geneigt, die von ihr festgestellte Investitionslücke zu schließen, sondern sie will darüber hinaus in den nächsten Jahren bei der Bundeswehr zusätzlich 18,6 Milliarden DM kürzen. Es ist deshalb scheinheilig, nun der Union vorzuhalten, eine Investitionsruine hinterlassen zu haben. ({6}) Die unzureichende finanzielle Ausstattung der Bundeswehr - durchgesetzt im Rahmen eines Eichel’schen Spardiktats in Rasenmähermanier - ist Ursache vieler der im Bericht der Wehrbeauftragten aufgeführten Mängel und Defizite. Sie wirkt sich nachhaltig auf die Motivation und die Nachwuchsgewinnung aus. Besonders die Material- und Ersatzteillage hat sich in 1999 erheblich verschlechtert. So kommt die Wehrbeauftragte zu dem Ergebnis, dass der Dienstbetrieb im Berichtsjahr in den Teilstreitkräften durch Defizite in der Material- und Ersatzteillage geprägt wurde. In der von Bundesminister Scharping zu verantwortenden Stellungnahme des Ministeriums zum Wehrbeauftragtenbericht 1998 heißt es - und ich darf das einmal zitieren -: Durch die Verstärkung der Haushaltsmittel für die Materialerhaltung 1997/98 ist eine ausreichende Verfügbarkeit des Wehrmaterials zur Durchführung einer auftragsorientierten Ausbildung erreicht. Die Truppe wurde mit ausreichenden Haushaltsmitteln für die Materialerhaltung ausgestattet. Daher trägt die jetzige Bundesregierung und keine andere die volle Verantwortung für die konkrete, reale, an die Substanz gehende katastrophale Material- und Ersatzteillage. ({7}) Eineinhalb Jahre Regierungsverantwortung haben ausgereicht, um diese „katastrophale Situation“ - Originalton der Wehrbeauftragten - herbeizuführen. Konkret wirkt sich das wie folgt aus: Ein Bataillon konnte über einen Zeitraum von 18 Monaten drei Panzerfahrzeuge nicht nutzen, weil die erforderlichen Getriebe nicht lieferbar waren. In einem anderen Fall waren Fahrzeugreifen nicht zu beschaffen. Bei einem Lufttransportgeschwader waren von den 23 der Verfügungsbereitschaft zugeteilten Flugzeugen tatsächlich nur fünf nutzbar. Nur durch gesteuerten Ausbau, also das gezielte Ausschlachten funktionsfähiger Geräte, kann in vielen Einheiten der Bundeswehr der Dienst- und Ausbildungsbetrieb noch aufrechterhalten werden. Das ist Kannibalismus in Reinkultur. Die eigentlich sinnlose Tätigkeit bindet in steigendem Maße qualifiziertes Fachpersonal und wirkt sich verheerend auf die Motivation aus. ({8}) Einen weiteren Schwerpunkt des Berichts stellen die Auswirkungen der Auslandseinsätze auf den Ausbildungsbetrieb dar. Insbesondere das Heer wurde seit dem Frühjahr 1999 durch die Auslandseinsätze vor schwer zu bewältigende personelle und materielle Probleme gestellt. Zwar müssen unsere Soldaten im Einsatz selbstverständlich auf das beste Material der Bundeswehr zurückgreifen können, jedoch darf der Betrieb im Inland deshalb nicht zum Erliegen kommen. Der gestern im Verteidigungsausschuss beratene Bericht des Inspekteurs des Heeres „Auswirkungen der Auslandseinsätze auf den Betrieb der Bundeswehr im Inland“ spricht Bände. Ich rate jedem, diesen zur Kenntnis zu nehmen. Hinzu kommt: Zwei Drittel der sich zurzeit im Einsatz befindlichen KFOR- und SFOR-Kontingente gehören HVK-Einheiten an, ohne dass erfreulicherweise die Qualität der Einsatzkräfte darunter gelitten hätte. Folgerichtig hat die Union in ihrer Konzeption „Sicherheit 2010 Werner Siemann Zukunft der Bundeswehr“ die Beendigung dieser faktischen Zweiklassenarmee gefordert. Diese Vermischung von HVK- und KRK-Einheiten führte aber auch dazu, dass bei den HVK-Einheiten Führer abgezogen wurden, die Auftragslage und die Ausbildungsaufträge jedoch unverändert weiter erfüllt werden mussten. Gerade bei den Berufs- und Zeitsoldaten musste erhebliche Mehrarbeit auf wenige Schultern verteilt werden. An dieser Stelle möchte ich deshalb ausdrücklich den Soldaten danken, die den Auslandseinsatz ihrer Kameraden von Deutschland aus überhaupt ermöglichen und die entstehenden Mehrbelastungen bei allen Unzuträglichkeiten mit Bravour schultern. ({9}) Als äußerst problematisch hat sich die Verlängerung der Einsatzdauer von vier Monaten auf sechs Monate erwiesen. Die Wehrbeauftragte hat immer wieder darauf hingewiesen. Diese Verlängerung stößt bei den Soldaten und ihren Angehörigen überwiegend auf Ablehnung, zumal oftmals auch die anvisierte zweijährige Verweildauer im Inland nicht wird eingehalten werden können. Der in der Truppe von der Regierungspolitik in unverantwortlicher Weise hervorgerufene „Virus der Unsicherheit“ - so von der Wehrbeauftragten bezeichnet - kann nur bekämpft werden, wenn den Soldaten Planungssicherheit und Verlässlichkeit zurückgegeben werden. Die leidige Debatte um die noch ausstehende Strukturreform der Bundeswehr hat bereits mehr als genug Schaden angerichtet. Sichtbarer Ausdruck dieses Schadens ist das besorgniserregend hohe Niveau der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung. Neben persönlichen Nützlichkeitserwägungen macht die Wehrbeauftragte zu Recht die Diskussion um den Bestand der allgemeinen Wehrpflicht dafür verantwortlich. Durch die Einsetzung der Wehrstrukturkommission wurden die außen- und sicherheitspolitischen Gegensätze und Widersprüche der rot-grünen Koalition bislang notdürftig kaschiert. ({10}) Auf Kosten der Soldaten wurde so der Koalitionsfrieden hergestellt bzw. gewahrt. Nun, kurz bevor die Kommission ihre Ergebnisse vorstellt, treten diese Gegensätze und Widersprüche offen und in atemberaubender Geschwindigkeit hervor. Während sich der Verteidigungsminister und die Justizministerin für die Beibehaltung der Wehrpflicht einsetzen, fordert der Außenminister - anscheinend kenntnisfrei - eine Berufsarmee, um diese freudig weltweit für internationale Aktionen einsetzen zu können. Während der Minister der Verteidigung eine Entscheidung über die zukünftige Wehrstruktur noch vor der Sommerpause nachdrücklich ankündigt, sollen nach dem Willen des SPDFraktionsvorsitzenden Struck die Eckpunkte der Wehrstrukturkommission erst für das Jahr 2002 oder sogar erst 2003 Berücksichtigung finden. Dies wäre gleichbedeutend mit der Manifestierung des Stillstandes. Weitere kostbare Jahre gingen verloren. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt; bekanntlich wird 2002 gewählt. Während der Verteidigungsminister wiederholt zugesagt hat, sich für eine Angleichung des Soldes ostdeutscher Soldaten an westdeutsches Niveau zu verwenden, wiegelt sein Kabinettskollege Eichel kategorisch ab. Hier bleibt die Regierung nach wie vor aufgefordert, ein Konzept vorzulegen, das die kurzfristige Nivellierung der Dienstbezüge zum Inhalt hat. Es gilt - auch diese Meinung muss man vertreten -, eine bestehende Gerechtigkeitslücke zu schließen. All diese Widersprüche innerhalb der Koalition belegen deren fortgesetzte Konzeptionslosigkeit in Sachen Bundeswehr. Die - noch dazu hoffnungsvolle - Erwartung des Verteidigungsministers, dass nach kontroverser Diskussion alles auf seine Linie einschwenke und der Wehretat nun erhöht werde, nehme ich - durchaus im Interesse unserer Bundeswehr - zur Kenntnis. Allein, mir fehlt der Glaube, wenn ich mir die Äußerungen der Verantwortlichen auf Koalitionsseite anhöre. Festzuhalten ist, Herr Minister - bei all den aufgeführten Differenzen im Regierungslager -, dass sich Ihre eigenen Vorstellungen in großen Teilbereichen unseren Vorstellungen nähern bzw. sie sich mit diesen decken. Mit anderen Worten: Sie erheben Forderungen, welche unserer Konzeption „Sicherheit 2010“ entsprechen. Konsensmöglichkeiten mit Ihnen bestehen also, man muss sie nur nutzen, man muss sie nur wollen. Die Begründung des Außenministers, die Einführung einer Berufsarmee in Frankreich müsse als Präjudiz auch für Deutschland verstanden werden, ist im Übrigen abwegig und absurd. Die französischen Erfahrungen zeigen, dass mit dem Übergang zu einer Berufsarmee die Verkleinerung der Armee um 25 Prozent mit einer Erhöhung der Kosten um 30 Prozent einher geht. ({11}) Darüber hinaus scheinen die Gegner der Wehrpflicht und Befürworter der Berufsarmee - damit komme ich noch einmal zur Wehrpflicht - zu vergessen, dass die sicherheitspolitische Lage unseres Erachtens auch in Zukunft die Wehrpflicht bedingt, dass nur eine Wehrpflichtarmee die Möglichkeit der Aufwuchsfähigkeit bietet, dass rund 50 Prozent der Berufs- und Zeitsoldaten aus Grundwehrdienstleistenden rekrutiert werden, dass die USA allein 1999 1,8 Milliarden Dollar für die Rekrutierung von Freiwilligen ausgeben mussten, dass in Spanien der zur Aufnahme in die Berufsarmee notwendige Intelligenzquotient abgesenkt werden musste, um genügend Nachwuchs zu bekommen, und dass in Großbritannien straffälligen jungen Männern angeboten wird, statt ins Gefängnis zur Armee zu gehen. Diese Liste ließe sich ohne weiteres fortsetzen. Ich empfehle insoweit die Kenntnisnahme des Berichts des Ministeriums über die Situation der Nachwuchswerbung und Nachwuchsgewinnung vom 3. April 2000. In diesem Zusammenhang hat die Hardthöhe darauf hingewiesen, dass sich mehr als zwei Drittel aller Grundwehrdienstleistenden zwischen dem sechsten und dem neunten Monat entscheiden, ihren Dienst freiwillig zu verlängern. Das ist ein Umstand, der dafür sorgen sollte, die Wehrdienstzeit nicht auf eine unzumutbare Kürze zu verringern. In diesem Zusammenhang sollte ich auch noch darauf hinweisen, dass Paul Breuer in dem angesprochenen Interview selbstverständlich nicht gesagt hat, dass er für eine obligatorische Wehrdienstzeit von sechs Monaten sei. Eine Erhöhung des Wehretats - das wurde heute auch schon angesprochen - löst zwar nicht alle im Bericht der Wehrbeauftragten enthaltenen Probleme, jedoch hilft eine bessere finanzielle Ausstattung der Bundeswehr bei der Verbesserung dreier Problemfelder: Die adäquate materielle Ausstattung verbessert die Motivation der Soldaten. Eine gut motivierte Truppe hat keine Nachwuchsprobleme. Sie, Frau Marienfeld, haben mit Ihrem letzten Bericht dem Deutschen Bundestag mit aller Eindringlichkeit klargemacht, wie es tatsächlich um unsere Bundeswehr steht und welche drohenden negativen Folgen vermieden werden müssen. Ihnen wurde bereits mehrfach zu Recht gedankt. In meiner Eigenschaft als Berichterstatter für Ihren Bereich möchte auch ich es nicht unterlassen, mich bei Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die außerordentlich konstruktive und gute Zusammenarbeit zu bedanken. ({12}) Die Bundeswehr der Zukunft - so Verteidigungsminister Scharping Anfang des Jahres - wird für Männer und Frauen ein attraktiver Arbeitsplatz sein. Sollten sich seine Kritiker mit ihren finanzpolitischen Vorstellungen durchsetzen, werden wir diese Perspektiven verspielen. Lassen Sie es nicht so weit kommen! ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte, auch ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken. Die Debatte geht in der Tat ein Stück an Ihrem Bericht vorbei. Ich erinnere aber daran, dass Sie heute von der Politik auch eingefordert haben, unserer Bundeswehr eine klare Perspektive zu geben. Ich erinnere mich an Ihre letzte Rede, in der Sie begründeten, warum Sie für eine zweite Amtszeit nicht zur Verfügung stehen, was ich persönlich bedauere. Ich finde, eine Frau hat diesen Platz gut ausgefüllt. Sie haben Ihre Entscheidung damit begründet, dass Sie die zukünftige Strukturreform der Bundeswehr nicht verantworten können. Insofern ist ganz klar, dass sich die heutige Debatte auch mit dieser Frage auseinander zu setzen hat. Ich möchte insbesondere auf die CDU eingehen, und zwar im ersten Teil auf den Kollegen Breuer, den Sprecher der AG Sicherheit, und im zweiten Teil auf die Partei selbst. Herr Kollege Breuer, Sie haben hier behauptet, die Bundeswehr sei in einer tiefen Krise der Irritation und der Desorientierung, ({0}) und Rot-Grün habe diese Krise herbeigeführt. Ihr Kollege Volker Rühe hat als Verteidigungsminister einmal in einer sehr wichtigen Debatte gesagt: Wir müssen Garant dafür sein, dass wir nicht Teil des Problems werden; wir müssen vielmehr immer Teil der Lösung sein. Ich kann nur sagen: Solange Sie Debatten führen wie heute, sind Sie Teil des Problems und nicht Bestandteil der Lösung. ({1}) Ich will gern erläutern, wie ich zu diesem Schluss komme: Herr Kollege Breuer, Sie haben zunächst kritisiert, dass diskutiert wird, haben aber dann in diesem Jahr ein Papier vorgelegt und darin eine Scheinreform skizziert: 300 000 Mann, neun Monate Wehrpflicht und ansonsten ein paar Milliarden drauf. ({2}) Sie haben das Verbleiben in den Denkkategorien des Kalten Krieges und den Weg des damaligen Verteidigungsministers Rühe skizziert, ({3}) der die Debatte über unsere Bundeswehr, über die Einsätze und die innere Situation gefürchtet hat wie der Teufel das Weihwasser. Sie haben das in diesem Jahr noch einmal festgeschrieben. Das ist ein schlechter Start ins Jahr 2000 und auch schlecht für die Jahre darüber hinaus. ({4}) Was ich ganz spannend finde: Es gibt ein zweites Papier von der CDU/CSU, allerdings von der Partei selbst, vorgestellt von Frau Angelika Merkel. Ich möchte hier einen Satz zitieren, Herr Kollege Breuer, und ich empfehle Ihnen, auch den Rest des Papiers irgendwann zu lesen - es kommt ja von Ihrer Partei. Dort steht: Angesichts der veränderten Sicherheitslage zählen aber traditionelle Vorteile der Bundeswehr - wie hohe personelle Aufwuchsfähigkeit, Luftverteidigung auf eigenem Boden oder große Panzerkräfte - im Bündniskontext immer weniger. Demgegenüber fehlt es an ausreichender strategischer Mobilität und Flexibilität - die derzeitige mehrjährige Entsendung von etwa 10 000 Soldaten auf den Balkan führt die Bundeswehr an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit. Ich halte dies für eine reale Einschätzung. ({5}) Ich zitiere noch einen weiteren Satz: Die langjährige Unterfinanzierung der Bundeswehr ({6}) hat einen Investitions- und Modernisierungsstau auflaufen lassen, der auf etwa 30 Milliarden DM geschätzt wird. Ich will mich jetzt nicht über die Zahl streiten, aber Ihre Partei, die offensichtlich im Wandel begriffen ist zumindest die Partei, nicht Sie -, ist bereit, sich endlich von der sicherheitspolitischen Blockade, die über Jahre ihr Denken eingegrenzt hat, zu verabschieden und sich positiv in eine Diskussion über die Zukunft der Sicherheit Deutschlands und der Reform der Bundeswehr einzulassen. Das finde ich durchaus begrüßenswert. Ich möchte zum Schluss noch darauf hinweisen, dass wir es für notwendig halten, die Unabhängigkeit der Wehrstrukturkommission immer wieder in den Vordergrund zu stellen, sie zu unterstützen und auf das Ergebnis zu warten. Genauso notwendig ist es aber auch, dass nicht nur Parteien auf Grundlage unterschiedlicher Parteipositionen diskutieren, sondern dass auch die Gesellschaft diskutiert. Insofern treten wir als Grüne - das ist kein Koalitionskonflikt, sondern eine Debatte, die auch in der Gesellschaft und bei den Jugendlichen geführt wird - nicht nur für eine drastische, klare Reform, sondern auch für die Abschaffung der Wehrpflicht ein. Ich glaube, dass die Jugend ein Recht hat - nachdem Frauen das Recht bekommen haben, in allen Laufbahnen der Bundeswehr ihren Dienst zu tun -, zu diskutieren oder auch zu verlangen, dass diese Freiwilligkeit zukünftig auch für sie gilt. Ich glaube, dass wir auch verpflichtet sind, sicherheitspolitische Rahmenbedingungen zu diskutieren - wie die CDU/CSU oder auch Teile der F.D.P. es hier vormachen -, wobei man zu dem Schluss kommen kann, dass die Wehrpflicht als Zwangsdienst sicherheitspolitisch nicht mehr legitimiert ist. ({7}) Wie auch immer dann ein möglichst breiter Konsens für die Zukunft der Bundeswehr aussehen wird - er muss möglichst breit sein, das ist keine Frage von Parteien und von Koalitionen, das ist eine gesellschaftliche und gesamtpolitische Aufgabe -, Sie brauchen angesichts des gesellschaftlichen und sicherheitspolitischen Wandels gute, sehr gute Argumente, um zu begründen, womit ein Zwangsdienst für Jugendliche noch gerechtfertigt werden kann. Die Argumente haben wir vorher auszutauschen und dürfen nicht hinterher im Hauruckverfahren beschließen. ({8}) - Nein, das ist der Mut zur Diskussion.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Hans Raidel, CDU/CSU-Fraktion.

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bericht der Wehrbeauftragten zeigt wie gewohnt ganz präzise und im Detail auf, was Sache ist, woran es fehlt, wie der Truppenalltag ausschaut, wie die Auslandseinsätze zu bewerten sind und wie es an der so genannten Heimatfront zugeht. Was mir an diesem Bericht imponiert, ist, dass er schonungslos, ohne Polemik und ohne falsches Pathos objektiv darstellt, was wirklich Sache ist, wo Plus und Minus liegen, und dass dieser Bericht nicht nur Kritik enthält, sondern dass er sich auch bemüht, Wege zur Beseitigung von Mängeln aufzuzeigen, dass er Defizite klarstellt, aber auch Perspektiven andeutet und teilweise eröffnet. Das macht diesen Bericht für mich persönlich wertvoll. Wir als Abgeordnete sollten meiner Auffassung nach darauf achten, dass dieser Bericht eben nicht wie so vieles einfach verschwindet, sondern dass er eine ständige Arbeitsgrundlage auch für uns im Ausschuss darstellt. Wir müssen nun gemeinsam versuchen, das zu beseitigen, was in diesem Bericht bemängelt wird. Unsere Soldaten müssen spüren, dass es unser Anliegen ist, für sie da zu sein, dass wir sie ernst nehmen, dass das Petitionsrecht, das sie haben, und die Fürsorge bei uns gut aufgehoben sind. Es sind verschiedene Punkte genannt worden, die wichtig für die Akzeptanz sind, zum Beispiel die Betreuung im Ausland, die damit einhergehende Familienfürsorge und die Militärseelsorge. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann ergeben sich daraus für die Zukunft folgende Fragen: Haben wir im Betreuungsbereich genug Fachleute? Haben wir genügend Sprachenvermittler? Neben all dem Streit, den wir hier sachlich führen Polemik würzt manchmal die Debatte -, müssen wir als Parlament gemeinsam bereit sein, für die Akzeptanz dieser Bundeswehr in der Gesellschaft auf allen Ebenen zu werben. Sie, Frau Marienfeld, haben sich mit diesem Bericht viel Lob, auch Kritik, aber vor allem Respekt von allen Seiten verschafft. Sie werden häufig als „Mutter Courage“ bezeichnet, weil Sie ohne Scheu und ohne Angst vor irgendwelchen Königsthronen Ihr aufgetragenes Wächteramt voll ausschöpfen. Sie waren und sind eben kein Feigenblatt für irgendeine Regierung. Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Arbeit. Wir von der CSU danken Ihnen ganz besonders, weil Sie ursprünglich aus den Reihen der CSU kamen, dann aber zur CDU wechseln mussten. Sie haben sich bei uns aber immer gut aufgehoben gefühlt. ({0}) - Das wollte ich gerade sagen: Sie wurden von uns, vom Parlament, gewählt; und wir als Parlament sind auf Ihre Arbeit stolz, weil sie ein Stück auch unsere Arbeit ist und unsere Arbeit entsprechend dokumentiert. ({1}) Dieser Bericht ist ein Alarmsignal. Das wurde in den einzelnen Redebeiträgen schon besonders herausgestellt, weswegen ich das alles nicht wiederholen werde. Ich möchte nur noch einmal den Mut von Ihnen, Frau Wehrbeauftragte, betonen, dass Sie sich bewusst in einen offenen Widerspruch zum Bundesminister der Verteidigung gesetzt haben: Sie haben festgestellt, dass die Motivation in der Truppe in einem gefährlichen Maße sinkt, dass der Dienst in der Bundeswehr nicht mehr als attraktiv angesehen wird und dass die Soldaten zwar bereit sind, vieles zu ertragen, dass sie aber unter dem Virus der Unsicherheit leiden. Meine Damen und Herren, Sie sind seit eineinhalb Jahren an der Regierung. Sie können das drehen und wenden, wie Sie wollen: Es ist Ihr Baby. Für all das, was in der Bundeswehr passiert bzw. nicht passiert, ist diese Regierung direkt verantwortlich. Wer denn sonst? Umgekehrt würden Sie das doch auch in unseren Verantwortungsbereich schieben, wenn wir noch regieren würden. Wir beklagen, dass es anders gekommen ist. So hat auch dieses Jahr zu Schäden bei der Bundeswehr geführt. ({2}) Wenn sich der Herr Minister nun aufregt, dass er in der Öffentlichkeit angegangen wird, dann muss er immer daran denken: Wer in der Öffentlichkeit steht, der hat kein Recht auf Rücksichtnahme. Er darf ein solches Recht auch nicht fordern. Er hat sich der Verantwortung zu stellen. Er ist es, der Problemlösungen vorzuschlagen hat und der sie zusammen mit seiner Koalition dann auch zu verantworten hat. Ich will eine von der öffentlichen Meinung zum Ausdruck gebrachte Kritik zitieren, also eine Kritik, die nicht von uns kommt. „Die Woche“ berichtet: Scharping sitzt zwischen allen Stühlen. Er bekommt seinen Job nicht in den Griff. Aber wie sollte er auch? Er ist zunächst einmal Opfer eines gravierenden Defizits dieser Bundesregierung. Sie hat kein zusammenhängendes Konzept zur Außen- und Sicherheitspolitik. Jeder wurstelt irgendwie vor sich hin. ({3}) - Natürlich, Herr Kollege Zumkley: Immer dann, wenn es unangenehm wird und man die Wahrheit nicht hören will, bezeichnet man es als „alten Hut“. ({4}) Das kennen wir. Dies ist das Übliche und ich bin überhaupt nichts anderes gewöhnt. ({5}) Selbstverständlich kann es nicht wie bisher weitergehen. Die Bundeswehr muss sofort an Haupt und Gliedern reformiert werden. Wir müssen - darüber sind wir uns alle einig - von einer Ausbildungs- zu einer Einsatzarmee auf der Grundlage der Wehrpflicht und eines guten Reservistenkonzeptes, das daraus abgeleitet werden muss, kommen. Dabei wäre ich dankbar, wenn sich auch die jetzige Koalition darüber klar würde, was sie eigentlich will. Ich möchte nicht auf Konzeptionelles eingehen, sondern nur wiederholen, was schon gesagt worden ist. Lesen Sie einmal die Parteiprogramme der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen. Dann werden Sie sehr viel Widersprüchliches und Gegensätzliches zu dem Positiven finden, das hier gesagt wird. In den beiden Parteien ist eine völlig andere Stimmung und eine andere Erwartungshaltung anzutreffen. Korrigieren Sie einmal diese Dinge, dann werden Sie auch hier im Parlament in Ihren Aussagen glaubwürdiger. Von der PDS möchte ich in diesem Zusammenhang nicht reden, da sie nach meiner Auffassung in diesen Fragen sowieso eine indiskutable Meinung hat. Natürlich geht es immer ums Geld. Der Auftrag der Bundeswehr muss mit den Finanzen in Einklang gebracht werden. Dafür stellen die anstehenden Haushaltsberatungen eine Nagelprobe dar, in denen Sie über Wohl und Wehe einer ernsthaften Außen- und Sicherheitspolitik dieser Bundesregierung Auskunft geben müssen. Sie behaupten immer, die Vergangenheit habe diese Defizite gebracht. Aber wer hat Sie zu dem Zeitpunkt Ihrer Regierungsübernahme daran gehindert, sofort zu Gunsten der Bundeswehr nachzulegen? Sie haben immer gesagt, es sei alles unterfinanziert. Sie hätten das bereits für das vergangene Jahr, spätestens aber für 2000 ändern und der Bundeswehr einen zukunftsorientierten Finanzrahmen geben können, damit diese ihre internationalen Verpflichtungen in der UN, NATO, EU, WEU und OSZE einhalten kann. Sie haben überall Versprechungen gemacht. Beenden Sie doch endlich die bestehende Verunsicherung in der Truppe mit einer neuen Haushaltsdarstellung, die eine feste und zukunftsorientierte Planung ermöglicht. Schaffen Sie diesen Finanzrahmen! Wer hindert Sie denn daran? ({6}) Sie haben die Mehrheit. Der Gegensatz zwischen Eichel und Scharping ist nicht künstlich konstruiert, sondern tatsächlich vorhanden. ({7}) Ich gehe so weit zu sagen: „Die Geister, die ich rief, werd ich jetzt nicht los.“ Scharping würde nie mehr eine solche Kommission einsetzen, die sich - Gott sei Dank - nicht von ihm beeinflussen und in irgendeine Richtung drängen lässt, und deren Ergebnisse man jetzt am liebsten nicht hätte.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist überschritten.

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hätten Sie sich damals an unsere Finanzplanung gehalten, würde sich Scharping heute als Krösus fühlen, der viele der bestehenden Probleme nicht hätte. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, darf ich Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum letzten Satz. Wir müssen jetzt den Kanzler entscheiden lassen. Er hat gesagt: Wir machen vieles nicht anders, aber vieles besser. Für die Bundeswehr ist er den Nachweis noch schuldig geblieben. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile der Kollegin Ulrike Merten, SPD-Fraktion, das Wort.

Ulrike Merten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003192, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Frau Marienfeld, Sie haben einmal mehr einen sehr detaillierten Bericht vorgelegt. Das können Sie tun, ({0}) weil Sie die Sorgen und Nöte der Bundeswehrangehörigen nur zu gut kennen. Sie haben sich in den vergangenen Jahren besonders für sie eingesetzt. Dafür danke ich Ihnen ganz herzlich. ({1}) Sie haben die Mängel auch in den Berichten der zurückliegenden Jahre immer wieder benannt. Deshalb, Herr Kollege Breuer und Herr Kollege Siemann, finde ich es schon ärgerlich, wenn Sie heute so tun, als sei die derzeitige Situation der Bundeswehr gleich einer Naturkatastrophe innerhalb weniger Tage über uns gekommen. Sie verschweigen, dass dies auch ein Ausfluss Ihres Regierungshandelns war. ({2}) Und, Herr Kollege Raidel, es geht hier nicht um Rücksichtnahme, die der Minister einfordert. Es geht hier aber um Tatsachen und Seriosität. Das, was Sie eben gemacht haben, ist alles andere als seriös, und es ist auch nicht wahr. ({3}) Ich finde es daher bemerkenswert, dass die Bundeswehr bei allen Problemen, die sie hat und die wir gar nicht verschweigen wollen, ihre Aufgabe bei Auslandseinsätzen wahrnimmt. Das gilt insbesondere für die noch immer schwierige Situation im Kosovo. Unsere Soldaten genießen dort hohes Ansehen. Hoch motiviert, engagiert und gut ausgebildet, leisten sie Beachtliches. Wir verlangen ihnen ja auch einiges ab, nämlich ein hohes Maß an Flexibilität und Einsatzbereitschaft. Dazu kommen erhebliche Anforderungen an ihre soziale Kompetenz, die sie jeden Tag im Einsatz aufs Neue unter Beweis stellen müssen. Während meiner Reise in den Kosovo hatte ich Gelegenheit, mit den jungen Männern und Frauen vor Ort zu sprechen. Ich muss Ihnen sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ich war tief beeindruckt von ihrer Haltung, mit den Widrigkeiten, die unvermeidbar sind, umzugehen. Ich hatte auch den Eindruck, dass die jungen Männer und Frauen sehr wohl die Verlängerung der Einsatzzeit von vier auf sechs Monate als notwendig anerkennen. ({4}) Kurzfristig - das gehört zur Ehrlichkeit dazu - werden wir die Einsatzdauer nicht verkürzen können. Wir sollten deshalb die Ergebnisse der anstehenden Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Institutes der Bundeswehr abwarten, um dann noch einmal darüber zu reden, ob es bei den sechs Monaten wirklich bleiben muss. Bis dahin - das finde ich wichtig - sollten wir im Hinblick auf die Häufigkeit der Einsätze sehr wohl auf Verlässlichkeit achten. Ich sage aber auch ganz deutlich: Wir werden nicht immer gewährleisten können, dass in allen Verwendungen eine erneute Heranziehung erst nach zweijähriger Verweildauer im Inland erfolgt. Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen verstärken, in diesen Bereichen zusätzliche Soldaten auszubilden. Ich glaube, wir sind uns darin einig. Wenn wir, wie wohl zu Recht, unterstellen, dass das Engagement der Bundeswehr in dieser Balkanregion noch auf Jahre hin notwendig sein wird, dann müssen wir die Bedingungen so ausgestalten, dass wir unserer Verantwortung, die wir übernommen haben, indem wir die Soldaten der Bundeswehr in solche Einsätze schicken, auch an jeder Stelle gerecht werden. Wenn wir von Verantwortung reden, dann gehört es auch dazu, wie wir mit Äußerungen in der Öffentlichkeit umgehen. Im Nachhinein den Einsatz der Bundeswehr in einer unglaublichen Weise in Frage zu stellen, ist alles andere als verantwortlich. Dies ist in höchstem Maße unverantwortlich. ({5}) Wenn wir über Verantwortung reden, dann gehört auch dazu, dass wir nicht nachlassen dürfen, die einsatzorientierte Ausbildung für friedenssichernde und friedenschaffende Missionen so optimal wie möglich zu gestalten. Wir wissen: Dies ist der beste Schutz der Soldaten im Einsatz. Aber ebenso gehört zum Reden über Verantwortung, dass wir den jungen Leuten die Möglichkeit geben, ihre Freizeit wirklich sinnvoll zu gestalten. Als ich Ende letzten Jahres in Prizren war, durften die jungen Männer und Frauen das Kasernengelände nur zu dienstlichen Zwecken verlassen, weil die Sicherheitslage noch so instabil war. Das heißt, sie waren in ihrer Freizeit darauf angewiesen, ausschließlich die Möglichkeiten innerhalb des Geländes zu nutzen. Was das für junge Leute bedeutet, die häufig nicht älter als 22 oder 23 Jahre sind, kann sich wohl jeder vorstellen. Umso wichtiger ist es, dass sie unkompliziert regelmäßigen Kontakt mit ihren Familien halten können. Ich bin sehr froh, dass die Anlaufschwierigkeiten im Bereich des Postaustausches überwunden sind. Ich habe immer wieder erlebt, dass mir die jungen Soldaten in Gesprächen sagten: Wir können diesen Dienst nur verantwortlich und konzentriert tun, wenn wir uns keine Sorgen über das machen müssen, was zu Hause abläuft. Eine Erkenntnis ist mir dabei noch einmal deutlich geworden: Die Trennung von den Angehörigen belastet die jungen Leute sehr, vor allem - das ist ja nicht selten wenn sie selbst schon Verantwortung für eine Familie tragen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Ulrike Merten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003192, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich komme zum Ende. Ich finde, eine Menge an Sorgen können wir ihnen abnehmen, wenn sie sicher sein können, dass ihre Familien in den Betreuungszentren der Bundeswehr, auf die wir gar nicht genügend Wert legen können, ein offenes Ohr finden und dort mit ihren Alltagssorgen nicht allein bleiben. Wir müssen in den kommenden Jahren noch einmal hierauf das Gewicht legen und dafür ausreichend Mittel und Fachpersonal zur Verfügung stellen. Insofern ist mir die betreffende Passage im Bericht der Wehrbeauftragten das sage ich ganz ehrlich, auch wenn ich mich an der Stelle noch einmal ausdrücklich bei ihr bedanken möchte ein wenig kurz geraten. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Als letztem Redner in dieser Aussprache erteile ich das Wort dem Kollegen Rainer Arnold, SPD-Fraktion.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte! Es ist natürlich eine Binsenweisheit, dass Zeiten großen Wandels immer beides in sich bergen, Chancen und Risiken. Die Bundeswehr steht vor der größten Reform seit ihrem Bestehen. Insofern verwundert es natürlich nicht, wenn die Wehrbeauftragte in ihrem Bericht feststellt, dass sie unter den Soldaten auch Unsicherheit und Frustration angesichts neuer Herausforderungen ausgemacht hat. Wer aber wie die CDU, vor allen Dingen Sie, Herr Breuer, und heute auch Herr Siemann, dies seit Wochen wie auch heute zum Anlass nimmt, die Zukunftsängste, die natürlich in jeder Firma vorhanden sind, in der Umbrüche anstehen, weiter zu schüren, statt unsere Soldaten für ihre Zukunftsaufgaben zu motivieren, der handelt wirklich ganz grob fahrlässig. ({0}) Wer unserer Truppe generell mangelnde Motivation einzureden versucht, verspielt zum Schluss das unglaublich große Potenzial an Kreativität und Leistungswillen vieler hochmotivierter Soldaten und Soldatinnen, die wir für diesen Wandel ganz dringend brauchen. Der Bericht der Wehrbeauftragten ist naturgemäß ein Mängelbericht. Zweifelsohne spürt die Bundeswehr die erheblichen Mängel insbesondere bei der Ausrüstung und beim Material. Dass die Wehrbeauftragte dies in allen Berichten der letzten Jahre immer wieder anmahnen musste, hat doch seinen Grund - das müssen wir immer wieder sagen - in einer seit Jahren verfehlten Investitionspolitik. Diese ist die Folge Ihrer Halbherzigkeit, meine Damen und Herren von der Opposition, ({1}) mit der Sie in den letzten Jahren an den Missständen in der Bundeswehr herumgedoktert haben, anstatt sie zu beseitigen. ({2}) Jetzt gibt es etwas Neues: Seitdem der Verteidigungsminister Scharping heißt, werden die vorhandenen Defizite zum ersten Mal offen benannt. Dies ist die entscheidende Voraussetzung dafür, überhaupt etwas zu verbessern. ({3}) Vor dem Hintergrund dieses offenen Benennens haben wir natürlich das Anliegen, dass Zahlen korrekt wiedergegeben werden. Herr Siemann - der Minister hat es ja heute wiederholt gesagt -, es ist nicht wahr, dass radikale Einschnitte in den Haushalt vorgenommen wurden. Ich will die genannten Zahlen nicht wiederholen, aber eine andere, die nicht stimmt, noch einmal korrigieren. Sie haben zwischen 1994 und 1998 im Verteidigungsetat 5,6 Milliarden DM gestrichen und einfach weggenommen, ohne über eine neue Struktur nachzudenken. Sie haben vorhin behauptet, die SPD habe einen viel höheren Antrag zur Streichung gestellt. ({4}) - Dies ist falsch. Kaufen Sie sich einen Rechenschieber oder einen Taschenrechner und rechnen Sie nach. ({5}) Die Zahlen, die die damalige Opposition beantragt hat, lauten in diesem genannten Zeitraum 1,88 Milliarden DM an Kürzung. ({6}) Wären Sie dem gefolgt, stünden wir heute an einem ganz anderen Punkt. ({7}) Eines ist schon interessant: Sie färben jahrelang schön und jetzt sitzen Sie in der Opposition und machen eine radikale Kehrtwende. Ohne Differenzierung malen Sie jetzt tiefschwarz. ({8}) Die moderne, den neuen Aufgaben gerecht werdende Bundeswehr der Zukunft hat erst unter Rudolf Scharping an Kontur gewonnen. Es ist schon ein bisschen verwunderlich, Herr Raidel, wenn Sie sagen, wir wüssten nicht, dass wir jetzt Verantwortung tragen. Wir stehen mitten in diesem Prozess. Haben Sie doch noch ein paar Wochen Geduld! Es ist eine Leistung, wenn in weniger als zwei Jahren neue wichtige Eckpunkte offen und breit diskutiert werden, und zwar in unseren Reihen, und wir diese Diskussion auch nach außen mit der Gesellschaft haben wollen. Das ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass die Gesellschaft diesen Wandel in den Streitkräften mitträgt. Insofern, Herr Raidel, brauchen wir keine Belehrungen, wenn es um interne Diskussionen geht. Schauen Sie erst einmal in Ihren eigenen Reihen nach, was war, als Sie Ihr Papier „Zukunft 2010“ vorgelegt haben. Fragen Sie einmal bei CDU und CSU nach, ob das überhaupt abgestimmt ist. Wenn Sie das geschafft haben, sind Sie vielleicht in der Lage, mit uns seriös und gründlich über die Zukunft zu debattieren. ({9}) Der Verteidigungsminister hat viel in Gang gebracht. Ich nenne von diesen vielen Dingen nur ein Beispiel, den Rahmenvertrag mit der Wirtschaft. Frau Marienfeld sagt zu Recht, dass dies zu den großen Zukunftsaufgaben der Bundeswehr gehören wird. Die Soldatinnen und Soldaten draußen haben nicht Ängste, sondern setzen Hoffnung in diesen Rahmenvertrag und in diesen Modernisierungsprozess. ({10}) Ich bin sicher, diese Hoffnungen sind begründet. Sie erwarten sich davon nämlich schnellere Entscheidungen, mehr Flexibilität und besseren, effizienteren Einsatz des Geldes. Ich hoffe sehr, dass das Beharrungsvermögen von manchen in Ihren Reihen, vielleicht auch auf der Hardthöhe und in Koblenz, zum Schluss nicht größer als die Motivation und der Wille zur Veränderung ist auf den ich bei den Soldaten in der Truppe, nämlich jeden Tag, wenn ich sie besuche, in dieser Frage treffe.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. Durch dieses Projekt - das war nur ein Beispiel; es gibt viele - würde der Wehrdienst in der Tat attraktiver. Es eröffnen sich neue Perspektiven für Soldatinnen und Soldaten. Der entscheidende Punkt ist: Sie haben es nicht geschafft, neue, andere berufliche Perspektiven bei veränderten Herausforderungen zu öffnen und aufzuzeigen. Ich bin sicher, dass auch der oder die Wehrbeauftragte der Zukunft noch wichtiger sein wird, um diesen Reformprozess in den nächsten Monaten und Jahren zu begleiten. ({0}) Er ist für die Soldaten nach innen wichtig. Er ist aber auch für uns als Parlament wichtig. Er wird erst dann eine richtige Grundlage sein, wenn die Opposition der Versuchung widersteht, den Bericht, in dem vieles steht, von dem wir lernen können, parteipolitisch zu instrumentalisieren. Die Soldatinnen und Soldaten haben es verdient, dass wir uns ernsthaft und seriös mit den Problemen in den Streitkräften auseinander setzen. Herzlichen Dank. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich danke noch einmal im Namen des Deutschen Bundestages der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Frau Marienfeld, für ihre geleistete Arbeit. ({0}) Ich kann die Aussprache noch nicht schließen, denn ich gebe hiermit dem Kollegen Rauber das Wort zu einer Kurzintervention.

Helmut Rauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002755, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sechs Punkte zur Klarstellung: Erstens. Richtig ist - wenn man die 2 Milliarden DM aus dem Einzelplan 60 dazu zählt -, dass der Verteidigungshaushalt 2000 nominal höher liegt als 1998. Aber Umsatz ist nicht gleich Gewinn. 1998 standen auf dem Balkan 2 700 Soldaten. Zwischenzeitlich wurde dort ein Krieg geführt. Ende 1999 waren es 9 000 Soldaten. Zweitens. Es ist schlicht und einfach falsch, zu behaupten, dass sich in den letzten Jahren innerhalb der Bundeswehr nichts verändert hätte. Wir hatten 1995 unter der Regierung Kohl die Wehrstrukturreform eingeleitet, nicht aus Lust an der Veränderung, sondern weil die sicherheitspolitische Lage es erforderte. Sie waren es, die höhere Friedensdividenden eingefordert haben. Wir haben sie ermöglicht. Es muss die Tatsache beachtet werden, dass es den Warschauer Pakt nicht mehr gibt, dass die deutsche Einheit in Frieden und Freiheit realisiert wurde und dass wir nicht mehr an der Grenze, sondern in der Mitte des Bündnisses liegen. Drittens. Richtig ist, dass die Bundeswehr zu unserer Zeit unterfinanziert war. Richtig ist aber auch, dass Sie in der Vergangenheit Anträge nicht auf Erhöhung, sondern auf Senkung des Haushaltes gestellt haben. Viertens. Wer die Zeitungsberichte über den Bericht der Wehrbeauftragten gelesen hat, der konnte die Schlagzeile „Zwischen Zynismus und Resignation“ lesen. Wir müssen diese Feststellung ernst nehmen. Wer verdrängt, löst keine Probleme. Auch gegenseitige Schuldzuweisungen führen nicht zum Ziel. Fünftens. Frau Kollegin Lippmann, ich weise mit aller Entschiedenheit Ihre Vorwürfe zurück, dass die Reservisten nationalistisch eingestellt seien. Wir haben in unserem Verband 138 000 Mitglieder. Wir gehen jedem Vorwurf nach. Wann immer es ein Fehlverhalten gegeben hat, wird es abgestellt. Ich weise Ihre Vorwürfe zurück, die Sie in schändlicher Form verallgemeinert vorgetragen haben. ({0}) Sechstens. Wir als CDU/CSU-Fraktion sind für ein konstruktives Miteinander. Es geht um unser aller Sicherheit. Es mag für den einen oder anderen wie eine Phrase klingen, wenn gesagt wird: Frieden und Freiheit ist nicht alles, aber ohne Frieden und Freiheit ist alles nichts. Wir als CDU/CSU-Fraktion sind für einen konstruktiven Dialog, was wir im Zusammenhang mit der Diskussion über den Bericht der Wehrstrukturkommission unter Beweis stellen werden. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe nunmehr die Aussprache und danke Frau Marienfeld noch einmal sehr herzlich. Es ist sicherlich richtig, dass man sie gar nicht genug loben kann. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2900 an den in der Tagesordnung aufge- führten Ausschuss vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über- weisung so beschlossen. Wir kommen zu den Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Ich rufe zunächst die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung ({0}) - Drucksache 14/3074 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Vierten Änderung des Übereinkommens über den Internationalen Währungsfonds ({2}) -Drucksachen 14/3075 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen jetzt zu Beschlussfassungen über weitere Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 a auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll von 1996 zur Änderung des Übereinkommens von 1976 über die Beschränkung der Haftung für Seeforderungen - Drucksache 14/2696 ({4}) Zweite Beratung und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungesetzes zu dem Protokoll von 1996 zur Änderung des Übereinkommens von 1976 über die Beschränkung der Haftung für Seeforderungen - Drucksache 14/2697 ({5}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({6}) - Drucksache 14/3051Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Stünker Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Volker Beck ({7}) Rainer Funke Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Übereinkommens von 1976 über die Beschränkung der Haftung für Seeforderungen auf Drucksache 14/2696. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/3051 unter Buchstabe a, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Wer dem zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ausführungsgesetzes zur Änderung des Übereinkommens von 1976 über die Beschränkung der Haftung für Seeforderungen auf Drucksache 14/2697. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/3051 unter Buchstabe b, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur, dritten Beratung und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer dagegen stimmen möchte, darf sich jetzt erheben. - Wer enthält sich? - Auch dieser Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 14 b: Beratung und Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates über nationale Emissionshöchstgrenzen für bestimmte Luftschadstoffe Vorschlag für eine Richtlinie des europäischen Parlamentes und des Rates über den Ozongehalt der Luft - Drucksachen 14/1936 Nr. 1.4, 14/2987 Berichterstattung: Abgeordnete Rainer Brinkmann ({9}) Dr. Paul Laufs Ulrike Flach Eva-Maria Bulling-Schröter Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, die Vorschläge der genannten EURichtlinien zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 14 c: Beratung und Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10}) zu der Verordnung der Bundesregierung Erste Verordnung zur Änderung der Verpackungsverordnung - Drucksachen 14/2810, 14/2947 Nr. 2.1, 14/3064 Berichterstattung: Abgeordnete Marion Caspers-Merk Werner Wittlich Birgit Homburger Eva-Maria Bulling-Schröter Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! -Enthaltungen? - Bei Enthaltung der PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Tagesordnungspunkt 14 d: Beratung und Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11}) Sammelübersicht 140 zu Petitionen - Drucksachen 14/2998 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung der PDS ist Sammelübersicht 140 angenommen. Tagesordnungspunkt 14 e: Beratung und Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12}) Sammelübersicht 141 zu Petitionen - Drucksachen 14/2999 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung der PDS ist Sammelübersicht 141 angenommen. Tagesordnungspunkt 14 f: Beratung und Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13}) Sammelübersicht 142 zu Petitionen - Drucksachen 14/3000 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Sammelübersicht 142 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 14 g: Beratung und Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14}) Sammelübersicht 143 zu Petitionen - Drucksachen 14/3001 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Gegen die Stimmen der PDS ist Sammelübersicht 143 angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 29. November 1996 aufgrund von Artikel K.3 des Vertrages über die Europäische Union betreffend die Auslegung des Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Wege der Vorabentscheidung ({15}) Vizepräsidentin Anke Fuchs - Drucksachen 14/2120 ({16}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({17}) Berichterstattung: Abgeordnete Winfried Mante Dr. Susanne Tiemann Hans-Christian Ströbele Rainer Funke Was immer das auch sein mag, der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/3092, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. ({18}) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig in zweiter Lesung angenommen. Wir kommen zur Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Auch dieser Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden. Ich habe Sie vorhin bei Tagesordnungspunkt 14 b vergessen zu fragen, ob Sie der Ausschussempfehlung unter Nr. 2 zustimmen wollen. Wer mir darin folgen mag, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich glaube, das können wir so machen. Damit habe ich das berichtigt. Ich bitte um Entschuldigung. Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Ergebnisse der Verhandlungen zum Biosicherheits-Protokoll - Drucksachen 14/3071 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({19}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ForstenAusschuss für Umweltschutz, Naturschutz und Reaktorsicherheit Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Das ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Andrea Fischer das Wort.

Andrea Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11002652

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Titel dieses Protokolls ist nicht ganz so schwierig wie das Gesetz, das wir gerade verabschiedet haben; gleichwohl hat es bislang nicht ganz die Aufmerksamkeit gefunden, die ich ihm wünschen würde. ({0}) Wir haben in Montreal das Ende eines acht Jahre währenden Prozesses erlebt und endlich die Verständigung auf das Protokoll über die biologische Vielfalt erreicht, was ich nicht nur für einen Meilenstein in der internationalen Politik in Sachen Gen- und Biotechnologie halte, sondern auch für einen Meilenstein in der internationalen Politik, über Mindeststandards eine Verallgemeinerung von Verbraucherschutz und Gesundheitsschutz herzustellen. Das war ein großer Erfolg, der viele Väter und Mütter hat und der auf jeden Fall eine entsprechende Würdigung verdient. ({1}) Apropos Väter und Mütter: Es war sehr bedeutsam, dass der kolumbianische Umweltminister engagiert dafür gearbeitet hat. Aber es war auch ein wesentliches Moment des Erfolges, dass die EU-Minister, die dort waren, also die Umweltminister bzw. im Fall der Bundesrepublik Deutschland die Gesundheitsministerin, sehr stark zusammengearbeitet haben und damit eine starke Verhandlungsposition hatten. Ich habe das als eine praktizierte Form der gemeinsamen europäischen Politik erlebt und das war eine sehr gute Erfahrung. Das Protokoll - ich habe es gerade gesagt - hat eine lange Vorgeschichte, die 1992 in Rio begonnen und sich dann in vielen einzelnen Konferenzen fortgesetzt hat. Ich glaube, es war, auch mit Blick auf die Diskussionen, die es im Vorfeld zur Seattle-Konferenz gegeben hat, eine ermutigende Entwicklung, die gezeigt hat, dass wir miteinander sprechen können und gemeinsame Verabredungen treffen können. Ich will kurz auf den Gegenstand dieses Protokolls zu sprechen kommen. Einerseits besteht die Verabredung, dass der Export gentechnisch veränderter Organismen, mit Ausnahme von Humanarzneimitteln, einer vorherigen Ankündigung und der Zustimmung des Importlandes bedarf. Das heißt, dass diese gentechnisch veränderten Organismen nicht ohne Wissen des Landes, in das sie exportiert werden sollen, bewegt werden können. Es müssen eine Information und eine Prüfung erfolgen und es wird die aktive Zustimmung benötigt. Andererseits haben wir für gentechnisch hergestellte Organismen, die als Lebensmittel, Futtermittel oder für die Weiterverarbeitung bestimmt sind, eine von dem Erfordernis der aktiven Zustimmung abweichende Regelung. Die Vorschriften sind weicher. Wir haben eine Kennzeichnungsregelung verabredet. Das war das, was in den nicht ganz einfachen Verhandlungen, vor allem mit der Miami-Gruppe, USA und Kanada, machbar war. Ich will ausdrücklich noch einmal sagen: Die EU-Standards in Sachen Kennzeichnung sind höher und von diesem Protokoll unberührt. Wir haben dafür gekämpft, unsere hohen Standards allgemein durchzusetzen, aber das haben wir nicht ganz erreicht. Wir müssen jetzt innerhalb von zwei Jahren eine Entscheidung über die Vizepräsidentin Anke Fuchs detaillierten Kennzeichnungsanforderungen treffen. Deutschland wird dabei eine ausgesprochen verbraucherschutzfreundliche Position einnehmen. ({2}) Ich habe eben schon auf Seattle verwiesen. Ein zentraler Punkt neben dem nicht einfach zu verhandelnden Punkt, das Vorsorgeprinzip zum Gegenstand dieser internationalen Vereinbarung zu machen, ist die Verabredung, dass dieses Protokoll gleichrangig mit anderen internationalen Vereinbarungen betreffend den Welthandel ist. Das war ein echter Durchbruch, der hart erkämpft werden musste. Damit haben wir verhindert, dass das Protokoll nur eine sehr begrenzte Wirkung entfaltet, was der Fall gewesen wäre, wenn es nachrangig zum Beispiel gegenüber den WTO-Bestimmungen gewesen wäre. Ich bin sehr froh, dass dieser Durchbruch gelungen ist. ({3}) Wir werden weiter daran arbeiten müssen, das Protokoll umzusetzen. Es muss erstens ratifiziert werden, wofür sich die Bundesregierung einsetzen wird. Das heißt, sie wird es nicht nur selbst ratifizieren, sondern auch bei anderen Staaten für die Ratifizierung werben. Zum Zweiten muss darüber nachgedacht werden, wie die Umsetzung in die Realität des internationalen Handels gelingen kann. Das bedeutet vor allen Dingen eine Unterstützung der betreffenden Länder bei der Kennzeichnung, Überprüfung, Information und Wissensgewinnung. Wir haben hier eine internationale Vereinbarung über den Handel mit gentechnisch veränderten Organismen und damit über eine Materie, die nicht zuletzt in unserem Land häufig Gegenstand sehr kontroverser Debatten ist, was man, wie ich meine, auch an den zu einer späteren Debatte vorliegenden Entschließungsanträgen sehen kann. Ich glaube, das Protokoll sollte uns auch in dieser Hinsicht Vorbild und Aufforderung sein.Ich denke, es ist trotz der Kontroverse, die wir in diesem Bereich haben, möglich, die Biotechnik und Gentechnik sowohl als eine Schlüsseltechnologie als auch eine Risikotechnologie zu betrachten. Bei einer Verfolgung neuer Technologien ist es notwendig - dies entspricht dem modernen Standard auch in anderen Industriezweigen -, eine Technologiefolgenabschätzung vorzunehmen. Vor allem in diesem Bereich müssen wir weiterkommen. ({4}) Wenn man die öffentliche Diskussion in diesem Bereich betrachtet, stellt man fest, dass es in der öffentlichen Wahrnehmung einen deutlichen Unterschied zwischen der so genannten roten und der grünen Gentechnik gibt. Wenn es zum Beispiel um die Entwicklung von Medikamenten geht, gibt es in der Bevölkerung eine sehr große Akzeptanz, weil ein Nutzen gesehen wird. Das ist für uns aber kein Freifahrtschein, nicht auch die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen schwierigen ethischen Fragen und die Problematik, welche langfristigen Folgen diese Eingriffe, die wir am menschlichen Erbgut vornehmen, haben werden, zu berücksichtigen. Diese Fragen müssen immer wieder auf die Agenda gesetzt werden. ({5}) Ich halte es für einen gewaltigen Fehler, wenn diese kritischen Fragen und auch Überlegungen über die Grenzen dessen, was wir tun dürfen, einfach als wirtschafts- bzw. technologiefeindlich abgetan werden. Ich halte es vielmehr für geboten, dass sie berücksichtigt werden. Das sind wir übrigens auch den Menschen schuldig, die, wie ich meine zu Recht, mit einer gewissen Skepsis fragen: Wie weit gehen wir da eigentlich? Wollen wir überhaupt so weit gehen? ({6}) Ich glaube übrigens auch, dass diejenigen, die die Chancen dieser neuen Technologien in den Vordergrund stellen, sich selber einen Bärendienst erweisen. Das kann man vor allen Dingen bei der grünen Gentechnik sehen. Dort steht die Frage, was uns das nützt, ganz oben auf der Tagesordnung. Für die Verfechter dieser Technologien ist es nicht immer einfach, eine entsprechende Antwort zu geben. Wenn man den Wettbewerb und die Vorstellung von souveränen Verbraucherinnen und Verbrauchern ernst nimmt, dann muss man auf diese Fragen gute Antworten finden. Diese Antworten werden weitergehen müssen, als nur abstrakt auf die Möglichkeit, damit den Hunger in der so genannten Dritten Welt bekämpfen zu wollen, zu verweisen, wenn es in Wirklichkeit darum geht, dass diese Technologie für die Lebensmittelindustrie ein einfacheres und günstigeres Produktionsverfahren darstellt. So einfach wird eine Akzeptanz dieser Technologie nicht zu haben sein. Dafür fragen die Verbraucherinnen und Verbraucher zu genau nach und ich halte es für richtig, dass sie so genau nachfragen. ({7}) Gerade auch die Freunde des Wettbewerbs werden sich der inzwischen neu entstandenen Dimension stellen müssen, dass wir es mit sehr kritischen Verbraucherinnen und Verbrauchern zu tun haben und dass sie von uns verlangen, Bedingungen zu schaffen, damit sie die Informationen, die sie haben wollen, einholen können, um, auf diese Weise aufgeklärt, eine angemessene Entscheidung treffen zu können. Deshalb halte ich es weder für geboten, diese Technologie in Bausch und Bogen abzulehnen, noch für richtig, zu glauben, jeder, der kritische Nachfragen nicht nur unterstützt, sondern sie geradezu herausfordert, sei ein Ewiggestriger. In diesem Sinne werden wir seitens der Bundesregierung unsere Politik, die auf informierte und aufgeklärte Verbraucherinnen und Verbraucher setzt, fortsetzen. Ich meine, dass wir - neben den verhältnismäßig strengen EU-Standards - in dem Bio-Safety-Protocol, in das diese kritische Debatte über die Gentechnologie eingeflossen ist, die Länder der so genannten Dritten Welt, in denen es um Fragen der Entwicklung geht, sehr stark unterstützt haben. Das ist - so groß der Erfolg auch ist, dass wir das Bio-Safety-Protocol verabredet haben - eine Arbeit, die jetzt erst so richtig beginnt. Es geht dabei um die Durchführung und die Etablierung der erforderlichen Institutionen, damit dieses Protokoll mit Leben erfüllt werden kann. Wir als eine Regierung, die sich gerade einer kritischen Unterstützung dieser Technologien verpflichtet fühlt, wollen dies tun. Wir werden auch in den Ländern dafür werben, die dem Biosicherheits-Protokoll bislang ausgesprochen distanziert gegenüberstehen. Ich glaube, das sollte uns ein Beispiel geben, wie man auch in Deutschland über diese heiß umstrittenen Technologien debattieren kann. Es ist möglich, in diesem Bereich Verbraucherstandards festzuschreiben, und zwar sogar in internationalem Maßstab. Dies wiederum weist über die Debatte um die Gentechnik hinaus. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Paziorek.

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bio- und Gentechnologie ist neben der Informationstechnologie eine der Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts. Deutschland, das bei der Entwicklung und Erforschung in diesem Bereich bislang zurücklag, hat eine bemerkenswerte Aufholjagd gestartet und zu den Biotechnologienationen USA und Großbritannien aufgeschlossen. Nach dem Bericht von Frau Ministerin Fischer sage ich ganz deutlich: Wir, die CDU/CSU-Fraktion, begrüßen den Bericht der Bundesregierung über die Ergebnisse der Verhandlungen zum Biosicherheits-Protokoll. ({0}) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist der Ansicht, dass dieses Sicherheitsprotokoll eine hervorragende Grundlage abgeben kann, weltweite Rahmenbedingungen und Standards für den Umgang mit der Bio- und Gentechnologie zu setzen. Für die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union ändert sich aufgrund der europarechtlichen Situation konkret nichts; das haben Sie schon ausgeführt. Zum ersten Mal aber wird durch dieses internationale Abkommen der Ex- und Import solcher Produkte verbindlich geregelt. Damit wird eine wesentliche Lücke des internationalen Rechts geschlossen. Das Biosicherheits-Protokoll soll Menschen und Umwelt in den Unterzeichnerländern - die Unterzeichnung muss noch erfolgen - vor Schäden durch Lebensmittel, Saatgut, Tiere und Tierfutter sowie Bakterien, die gentechnisch manipuliert sind, schützen. Das Abkommen erlaubt allen Ländern, den Import gentechnologischer Produkte im begründeten Zweifelsfall abzulehnen. Es schreibt den Exportländern vor, die Informationen über die Produkte offen zu legen und die Produkte entsprechend zu kennzeichnen. Diese Zielsetzung unterstützen wir ausdrücklich. Dies sage ich ganz deutlich, weil ich heute meine erste Rede als neuer umweltpolitischer Sprecher unserer Fraktion halte: Es ist nicht unser Anliegen, bei solch wichtigen Fragen, die unsere Zukunft und eine Zukunftstechnologie berühren, reflexhaft Oppositionspolitik zu betreiben nach dem Motto: Wir müssen immer eine andere Position vertreten als die Bundesregierung. ({1}) Eine kleine Spitze muss ich dem aber aufsetzen. ({2}) Wir haben natürlich aus den Problemen, die Sie gerade in der internationalen Umweltpolitik haben, gelernt. Sie haben über Jahre hinweg die Politik von Professor Töpfer und Frau Merkel in Sachen internationaler Klimaschutz im Bundestag massiv bekämpft und gesagt, das sei zu wenig, es müsse mehr unternommen werden. Nun rühmen Sie sich in internationalen Konferenzen damit, den eingeschlagenen Kurs fortzusetzen, und haben Schwierigkeiten, sich von Ihrer damaligen Oppositionsrhetorik zu entfernen. Aus diesem Fehler haben wir gelernt. Wenn wir im Jahr 2002 an die Regierung kommen, wollen wir eine saubere Oppositionspolitik nachweisen können. Ich sage dies aber auch in tiefer Überzeugung von der Sache, Frau Ministerin Fischer. ({3}) Dieser Aspekt ist wichtig, weil er über den Gesundheits- und Umweltaspekt hinausgeht; er berührt die gesamte deutsche Forschungslandschaft. Deshalb muss dieses Thema im Diskurs mit allen Beteiligten und allen gesellschaftlichen Gruppen erörtert werden. Wir begrüßen auch ausdrücklich - Sie haben es gerade dargestellt, Frau Ministerin - die Verankerung des Vorsorgeprinzips im Protokoll. Dies spiegelt ein gutes Stück deutscher Umwelt- und Gesundheitspolitik wider, die wir seit Jahrzehnten gepflegt haben. Aus diesem Grunde besteht unsererseits kein Anlass, uns von einer Politik, die dies niederlegt, abzuwenden. Gleichwohl erfüllt es uns mit Sorge, wenn die Bundesregierung dann in der nationalen Politik die Freisetzung von Genmais ver- oder behindert. Ich denke dabei an die Entscheidung, die Sie Mitte Februar vor Eröffnung des Landtagswahlkampfes in Schleswig-Holstein getroffen haben. Dieses Handeln nährt auf nationaler Ebene die Befürchtung, dass die positiven Einzelerklärungen der Bundesregierung - ich denke auch an Äußerungen von Bundeslandwirtschaftsminister Funke - bloße Rhetorik sind. Das Vorsorgeprinzip darf aber nicht missbraucht werden; das sage ich sehr deutlich. Leider wird bezüglich Ihrer Entscheidung im Februar dieses Jahres, den Anbau von BT-Mais im Freilandversuch auszusetzen, angesichts des Wahlkampfes in Schleswig-Holstein gemutmaßt, es könne hier ein Missbrauch des Vorsorgegedankens vorliegen. Wir müssen aufpassen, dass solch wichtige Prinzipien auf nationaler Ebene im konkreten Einzelfall nicht so eingesetzt werden, dass eine sinnvolle Prüfung der Gentechnologie verhindert wird. Wir werden also immer wieder prüfen, ob Reden und Handeln seitens der Regierung übereinstimmen, und die Öffentlichkeit darüber informieren, wenn wir der Meinung sind, dass sich Ihr Handeln anders darstellt, als Sie es politisch formuliert haben. Deshalb sage ich für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ganz deutlich: Die Biotechnologie muss sich kritischen Fragen stellen. Sie muss sich auch der Forschung stellen. Sie muss sich den Einwänden stellen. Sie darf aber nicht dem parteipolitischen Kalkül geopfert werden. Wir müssen darauf achten, dass ein sorgfältiger, wissenschaftlicher Prozess durchgeführt wird, der belastbare Entscheidungsgrundlagen abgibt. In der Medizin, in der Pharmazie und im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe, aber insbesondere auch bei der Ernährung wird - da unterscheiden wir uns in Nuancen bei der Beurteilung, Frau Ministerin Fischer - aus unserer Sicht die Bio- und Gentechnologie in den nächsten Jahrzehnten eine bedeutende Rolle spielen - nicht nur in Teilbereichen, wie Sie es angesprochen haben. Der Hunger in der Welt kennt heute viele Ursachen. Bei einem von vielen Experten vorausgesagten Bevölkerungswachstum und der weiteren Reduzierung der landwirtschaftlichen Nutzfläche könnte jedoch der Tag kommen, an dem die Menschheit ohne den Einsatz der modernen Gen- und Biotechnologie nicht mehr ernährt werden kann. Deshalb wird daran gearbeitet, durch die Entwicklung hitze-, kälte- und salzresistenter Pflanzen auch Problemzonen wie zum Beispiel die Sahelzone wieder nutzbar zu machen. Darüber hinaus kann die Bio- und Gentechnologie wertvolle Hilfe im Umweltschutz leisten. Der Einsatz gentechnisch veränderter Pflanzen kann zum Beispiel den Einsatz umweltbelastender chemischer Pflanzenschutzmittel, also den Einsatz der Herbizide, reduzieren und eines Tages vielleicht sogar ganz entbehrlich machen. Während die Anwendung der Gen- und Biotechnologie bei der Herstellung von Medikamenten heute weitgehend akzeptiert ist, gibt es im Bereich der Pflanzen, insbesondere im Bereich der Lebensmitteltechnologie, weltweit das ist zu Recht gesagt worden - eine Akzeptanzkrise. Zum Teil ist diese Akzeptanzkrise durch - auch das sage ich deutlich - übertriebene Panikmache verschiedener Organisationen hervorgerufen worden. Zum Teil trägt die betreffende Industrie - da stimme ich Ihnen, Frau Ministerin, ausdrücklich zu - einen Teil der Verantwortung, da sie zunächst, gerade aus dem amerikanischen Bereich kommend, versucht hat, diese Technologie ohne gründliche Information des Verbrauchers einzuführen. Das musste scheitern, und das war auch kein richtiger Weg. Mittlerweile haben sich auch in den USA die Einstellungen gewandelt. Die Industrie hat erkannt, dass sie die Biotechnologie den Verbrauchern nicht aufzwingen kann. Den Gegnern der neuen Technologie ist andererseits klar geworden, dass auch ein Verbot und damit die Ablehnung einer solchen Technologie einer belastbaren und nachweisbaren Begründung bedarf. Die Tatsache, dass die amerikanischen Farmer die Entscheidung für oder gegen den Anbau genetisch veränderter Getreidesorten von der Akzeptanz ihrer Produkte auf dem Weltmarkt abhängig machen - sie wollen ihre Produkte verkaufen; das ist nachvollziehbar -, hat für eine Sensibilisierung der amerikanischen Agrarindustrie gesorgt. Ich glaube, das sind gemeinsame Erfahrungen, die wir, mehrere Abgeordnete, im Herbst des vergangenen Jahres gemacht haben, als wir uns bei einem USA-Aufenthalt mit dieser Thematik befasst haben. Diese veränderten Einstellungen können die Grundlage eines konstruktiven Dialogs zwischen den Beteiligten werden. Befürworter wie Gegner der grünen Gentechnologie haben jeweils im Einzelfall gute Argumente für ihre Positionen. Je nach Art und Richtung des Technologieeinsatzes können erwünschte und unerwünschte Folgen auftreten. Die Vorteile zu maximieren und die Nachteile zu minimieren, das ist die Aufgabe der Forschung, der Politik des Bundestages und natürlich der Gesellschaft. Schwarzweißmalerei, wie sie bis vor einigen Jahren noch hier bei uns vorkam, ist völlig fehl am Platze. Benötigt wird ein konstruktiver Dialog zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Nichtregierungsorganisationen und Politik mit der Bereitschaft zu Zugeständnissen bei allen Beteiligten. Dass Risiken nicht gänzlich auszuschließen sind, liegt auf der Hand. Von Pflanze zu Pflanze, von Anwendung zu Anwendung können sich die angeführten Risiken durchaus unterschiedlich darstellen. Über die meisten vermuteten Risiken liegen zurzeit noch keine gesicherten Erkenntnisse vor. Es wird der Bereich der Allergien angesprochen. Deshalb ist es richtig, dass die EU sagt, dass immer auf Allergenität getestet werden muss. „Antibiotikaresistenzen“ ist ein Reizwort. Aber es muss gefragt werden, ob nicht auch in anderen Bereichen Antibiotika zu stark eingesetzt werden und ob das Problem tatsächlich in diesem Bereich liegt. Wir müssen die Möglichkeit sehen, dass gentechnisch veränderte Pflanzen andere Lebewesen in der Natur beeinträchtigen. Die Diskussion über den Schmetterling „Monarch“, der - so sagt eine Studie - geschädigt worden ist, ist uns allen bestens bekannt. Aber es muss untersucht werden, ob diese Studie belastbar ist und ob die Probleme, die dieser Schmetterling beim Überleben in einem Freilandfeld hat, auf diesen Mais zurückzuführen sind oder ob andere biologische Rahmendaten zu diesem Problem geführt haben. Ich sage das mit aller Vorsicht, weil das Problem bekannt ist. Wir müssen dieser Problematik nachgehen. Bei all diesen Problemen im mehr biologisch-umweltpolitischen Bereich muss ein Gesichtspunkt ganz deutlich angesprochen werden: das Leitbild des selbstverantwortlichen Verbrauchers. Der Verbraucher muss in die Lage versetzt werden, eine Einzelfallentscheidung treffen zu können. Das heißt, es muss eine saubere Kennzeichnung verlangt werden. Jeder von uns, der sich mit dem Thema befasst, weiß, dass die Kennzeichnung im 1Prozent-Bereich problematisch sein kann. Die Frage ist also, ab wann und in welcher Größenordnung muss etwas vorliegen, damit auch gekennzeichnet werden muss. Der Grundsatz muss aber klar sein. Wir haben das Leitbild des selbstverantwortlichen Verbrauchers. Der Verbraucher muss alle Informationen bekommen, um eine selbstverantwortliche Entscheidung treffen zu können. All die Überlegungen, die es einmal in ausländischen Industriezweigen gab - es gibt kein gesundheitliches Problem, der Verbraucher braucht keine Entscheidung zu treffen und deshalb brauchen wir das nicht zu kennzeichnen -, halten wir für falsch. Die Kennzeichnungspflicht bedeutet größtmögliche Transparenz, deshalb sprechen wir uns auch für eine solche Politik aus. Wir brauchen natürlich die Freisetzung, also den Freilandversuch. Damit korrespondierend brauchen wir auch die kritische Begleitung von Freisetzungen, das ist ganz klar. Aber ich warne davor, hier mit verhärteten Fronten, wie wir sie in der Umweltpolitik zum Beispiel in Sachen Gorleben haben, zu diskutieren. Man weiß heute schon, obwohl die Versuche noch gar nicht zuende sind, dass der Salzstock in Gorleben nicht geeignet ist - so sagt es eine Richtung. Wir sind aber der Ansicht, die Versuche sind noch gar nicht zuende gefahren. Genau den Fehler darf man hier nicht machen. ({4}) - Ja, Herr Hirche. Da haben Sie Recht. Es kann aber auch nicht angehen, dass man - weil zum Beispiel ein Institut Bedenken in einem Gutachten geäußert hat - sagt: Die ganze Entwicklung in diesem Bereich kann nicht stattfinden und wir verzichten auf Freilandversuche. Die Konsequenz muss sein, dass gerade diese Freilandversuche sehr sauber und mit einem strengen Monitoring begleitet werden. Man muss aber auch den Mut haben zu sagen, wir probieren es aus, weil wir nicht wissen, ob die Risiken tatsächlich vorhanden sind. Wir machen die Freilandversuche ja gerade deshalb, um Ergebnisse für eine Risikobeurteilung zu bekommen. Deshalb halte ich es manchmal für bedenklich, so einfach von vornherein Freilandversuche zu bekämpfen. Das bedeutet also, das Biosicherheits-Protokoll stellt eine hervorragende Grundlage zur Weiterentwicklung dieses technologischen Bereichs dar. Es wird aber darauf ankommen, ob wir in der praktischen Umsetzung tatsächlich all die Chancen nutzen, die gegeben sind. Wenn wir einerseits international ein solches Protokoll loben und in der praktischen Umsetzung hier in Deutschland andererseits Barrikaden, Barrieren und Hindernisse aufbauen, dann ist das hohle Rhetorik. Ich sage deshalb noch einmal, wir hatten die Vermutung, dass es hier zu einer Doppelstrategie kommt: Die Regierung lobt die internationalen Aktivitäten und vor der schleswig-holsteinischen Landtagswahl wird die Freisetzung von BT-Mais hier in Deutschland gestoppt, nur um vielleicht eine parteipolitische Klientel zufrieden zu stellen. Es gibt Informationen darüber, Frau Ministerin, dass sich seit dem letzten Wochenende ihre Stopp-Politik etwas aufgeweicht hat und dass in Sachen BT-Mais eine neue Situation eingetreten ist. Es wäre interessant, gleich zu hören, ob tatsächlich eine neue Situation eingetreten ist und ob Sie Ihre Reserviertheit vom Februar dieses Jahres aufgegeben haben. Die interessierte Öffentlichkeit wird sehr gespannt darauf sein, diese Informationen zu erhalten. Ich bin auch der Ansicht - das ist auch die Forderung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion -, dass die Europäische Union von einem überzogenen Moratorium bei der Zulassung von gentechnisch veränderten Organismen Abstand nehmen sollte. Aus politischen Gründen ist gerade ein breites Zulassungsverfahren auf der europäischen Ebene gestoppt worden. Die fachlichen Zweifel, die da sind, rechtfertigen nicht den derzeitigen Zustand, den totalen Stopp bei Freisetzungsverfahren auf europäischer Ebene. Hier muss einiges geschehen, damit wir auch wissenschaftlich im Vergleich mit den Konkurrenten in Japan und Nordamerika nicht verlieren. Hier bleibt die Bundesregierung aufgefordert zu handeln, um nicht ein Stück deutscher Zukunft zu verspielen. Die CDU/CSU-Fraktion plädiert für eine ideologiefreie, aber kritisch begleitete Förderung der Bio- und Gentechnik. Das Biosicherheits-Protokoll muss als Chance für die Schaffung wirksamer Rahmenbedingung zur Erforschung und Entwicklung der Gentechnologie genutzt werden. Eine verantwortliche Technologiepolitik aus der Sicht der CDU/CSU muss daher für folgende Punkte eintreten: erstens für die umfassende Aufklärung der Bevölkerung und der Verbraucher, zweitens für eine strenge Kennzeichnung der gentechnisch veränderten Lebensmittel, drittens für eine umfassende Prüfung von Freisetzung und deren kritische Begleitung, viertens für eine Aufhebung des bestehenden De-facto-Moratoriums der EU, fünftens für die Schaffung von Investitionssicherheit bei Verfahren, die nur befristet zugelassen sind und sechstens sollte man den Mut haben zu prüfen, ob nicht in Teilbereichen verkürzte und vereinfachte Verfahren eingeführt werden können. Zusammenfassend möchte ich für meine Fraktion erklären: Die Bio- und Gentechnik ist eine der wichtigsten Zukunftsentwicklungen. Sie eröffnet zahlreiche Chancen, das Leben menschenwürdiger zu gestalten, aber insbesondere auch Ansätze im Bereich Gesundheit, Ernährung und Umweltschutz. Wer diese Technik pauschal ablehnt, verweigert sich der Verpflichtung, Krankheiten zu lindern, Hunger zu bekämpfen und Umweltzerstörung entgegenzuwirken. Weltweit leiden 800 Millionen Menschen an Mangelernährung, und jedes Jahr sterben 7 Millionen Kinder den Hungertod. Hier kann die Biotechnologie wesentlich helfen. Diese Chance gilt es zu nutzen. Hier gilt es für alle Fraktionen, eine gemeinsame positive Position zu formulieren und sie in Deutschland auch umzusetzen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält die Abgeordnete Andrea Fischer das Wort.

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, weil Sie gerade diese Frage aufgeDr. Peter Paziorek worfen haben, würde ich gern klarstellen: Das Verbot der Inverkehrbringung von BT-Mais bezog sich auf eine unbegrenzte Inverkehrbringung. Die Mengen wären überhaupt nicht mehr kontrollierbar gewesen - dafür gibt es in der Tat viele Indizien -, sodass es außerordentlich gefährlich wäre. Sie haben selber auf die diversen kritischen Studien verwiesen. Der Änderungsbescheid, auf den Sie, wenn ich Sie richtig verstanden habe, vorhin angespielt haben, ({0}) erfolgte zu Zwecken der Sicherheitsforschung. Man kann das auch anders nennen. Es geht genau um die Frage: Welche Wirkungen gehen davon aus, dass wir für 12 Tonnen BT-Mais eine Genehmigung zur Inverkehrbringung gegeben haben? Da diese Menge so gering ist, können wir davon ausgehen, dass die befürchteten Sicherheitsrisiken, die damals zum Verbot geführt haben, nicht eintreten werden. Gerade angesichts der Tatsache, dass seit Jahren zwar von der Industrie gesagt wurde, sie unterstütze uns bei der Forderung nach Sicherheitsforschung, sie dann de facto aber wenig gemacht hat, ist es richtig, dass jetzt nicht wir diejenigen sind, die sagen, die Sicherheitsforschung solle nicht stattfinden. Wir wollen sie, um die Debatte über die Risiken der Gentechnik auf eine solidere Grundlage zu stellen. Vor diesem Hintergrund haben wir uns nach längeren Verhandlungen - auch mit dem Hersteller - für diesen Änderungsbescheid entschieden. Ich glaube, dass das auch dem gerecht wird, was ich vorhin sagte. Wir müssen die Risiken kennen, wir brauchen mehr wissenschaftliche Grundlagen für die Beurteilung dieser Risiken. Das ist der Sinn dieser Änderungsmitteilung.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Paziorek, bitte.

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, Ihre Entscheidung, die Sie jetzt gerade genannt haben, ist zu begrüßen. Ich glaube, dass sie ein Schritt in die richtige Richtung ist. Ich will jetzt auch nicht nachkarten, wenn ich sage: Ich persönlich hätte mir sehr gewünscht, dass Sie eine solche Entscheidung sofort im Januar oder Februar getroffen hätten, ohne diesen großen propagandistischen Auftritt. Ich hätte mir gewünscht, dass in Deutschland solche Entwicklungen nicht zunächst gestoppt werden und es dann nach einer Landtagswahl in die richtige Richtung weitergeht. Das soll kein Nachkarten sein, nur noch ein Hinweis auf eine gewisse zeitliche Abfolge. Von der Sache her ist das sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Ich hoffe, dass Sie so weitermachen ({0}) und dass Sie tatsächlich auch den Mut haben, in diesen Fragen den Anschluss an die internationale Entwicklung nicht zu verlieren. Ich wäre froh, wenn diese Erkenntnis auch in Ihrem Regierungslager immer stärker Platz greifen würde. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Marga Elser.

Marga Elser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003113, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Paziorek, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Sprecherrolle. Aber denken Sie doch bitte über die Zeitschiene noch einmal nach. ({0}) Nach der Enttäuschung von Cartagena im Februar 1999 haben wir nun einen guten Grund zur Freude. Nach tageund nächtelangen Verhandlungen haben sich 133 Staaten in Montreal auf den Text zu einem Bio-Safety-Protocol geeinigt. Die Verabschiedung des Protokolls geht nicht zuletzt auf die geschickte Verhandlungsführung des kolumbianischen Umweltministers zurück - aber auch die Einigkeit der anwesenden EU-Minister ist hier zu nennen. Wir bedanken uns ausdrücklich bei der deutschen Delegation, angeführt von unserer Gesundheitsministerin, Andrea Fischer, aber ebenso bei den NGOs und allen, die durch jahrelanges Bemühen und Aufklärungsarbeit zum Zustandekommen dieses Protokolls beigetragen haben. ({1}) Der positive Ausgang ist eine Kompromisslösung, weil natürlich jede Seite gern ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen untergebracht hätte. Dennoch haben sich Regierungsvertreter, Umweltschutzverbände und Industrieverbände ebenso wie UNEP-Direktor Töpfer zufrieden geäußert. Wir leben in einer Zeit, in der sich viele Menschen um die Zukunft der biologischen Vielfalt sorgen. Viele machen sich Sorgen um die Auswirkungen der Gentechnik. Die ungeheure Geschwindigkeit, mit der sie sich seit den 70er-Jahren entwickelt hat, hat nicht nur Blütenträume - manchmal kann man sich fragen, ob das vielleicht auch Albträume sein können - von optimierten Menschen aus der Retorte und vom Sattwerden der Welt durch „grüne Gentechnik“ reifen lassen. Nein, sie macht den Menschen auch Angst, Angst um ihre Gesundheit, weil man eben nicht weiß, inwieweit Nahrungsmittel aus gentechnischer Produktion Allergien hervorrufen können. Ebenso gibt es ernst zu nehmende Warnungen vor der Ausbreitung von Antibiotikaresistenzgenen. Bei transgenen Pflanzen könnten Antibiotika, die in der Humanund Tiermedizin verwendet werden, ihre Wirkung verlieren. Beispielsweise gibt es - das haben sich nicht irgendwelche altmodischen Gentechnikgegner ausgedacht, sondern das steht im Umweltgutachten 1998 des Sachverständigenrates - Resistenzgene in transgenen Pflanzen gegen das Antibiotikum Kanamycin, das in der Augenheilkunde eine wichtige Rolle spielt. Ebenso bewirkt das Ampicillinresistenzgen neben der Resistenz gegen Ampicillin auch eine Resistenz gegen andere Penicillinderivate. Bei der Entwicklung von gentechnisch erzeugten Virusresistenzen werden inzwischen eine Reihe von Andrea Fischer ({2}) Risikofaktoren für unerwünschte Konsequenzen diskutiert. Sicher, Laien schätzen Risikofaktoren anders ein als Experten. Dennoch hat beispielsweise die Reaktion der Verbraucher auf die „Butterfinger“ ein hohes Verbraucherbewusstsein gezeigt. Dies gilt ebenso mit Blick auf die massiven Absatzschwierigkeiten der amerikanischen Farmer im vergangenen Jahr hinsichtlich ihrer sehr teuer erzeugten - gesamten Jahresernte Genmais. Wir müssen auch die Sorgen der Entwicklungsländer ernst nehmen. Sie haben die Furcht, von einigen wenigen Lieferanten für Saatgut abhängig zu werden, das sich die Kleinbauern dort dann gar nicht mehr leisten könnten. Hier haben die Hochtechnologieländer eine sehr große Verantwortung den armen Ländern gegenüber. ({3}) Im Weltagrarhandel besteht die Gefahr, dass sich die Wettbewerbssituation durch die Gentechnik zuungunsten der Entwicklungsländer verschiebt. Wenn gentechnologische Fortschritte die landwirtschaftliche Produktivität stark steigen lassen, darf den Ländern des Südens die Technologie nicht aus Kostengründen verschlossen bleiben. Die Unterzeichnung des Biosicherheits-Protokolls ist deshalb ein wichtiger Schritt in Richtung internationaler Verbraucherschutz, Gesundheitsschutz und Schutz unserer natürlichen Ressourcen, eben ein Schritt zur Biosicherheit. Erstmals wird das Vorsorgeprinzip als Leitgedanke für den Handel mit gentechnisch veränderten Organismen verankert. Eine Gefahr, dass wichtige Entwicklungen in der Humanmedizin behindert werden, besteht nicht. Humanarzneimittel sind vom Anwendungsbereich des BiosafetyProtokolls grundsätzlich ausgenommen. Vor dem erstmaligen Verbringen eines gentechnisch veränderten Organismus in ein anderes Land wird es ein Genehmigungsverfahren geben. Dabei geht es vor allem darum, durch die Etablierung von Verfahren sicherzustellen, dass der Schutz der biologischen Vielfalt, aber auch und vor allem der Schutz der menschlichen Gesundheit gewährleistet ist. Für Lebensmittel und Futtermittel ist die Weiterverarbeitung von gentechnisch veränderten Organismen klar geregelt. Es gibt eine Kennzeichnungspflicht, die allerdings durch ein „may contain“ - also „kann beinhalten“ verwässert worden ist. Die Vertragsstaatenkonferenz muss deshalb innerhalb von zwei Jahren nach In-KraftTreten detaillierte Anforderungen festlegen. Unsere Aufgabe wird es nun sein, zusammen mit der Bundesregierung eine verbraucherfreundliche und eindeutige Kennzeichnung im Rahmen der Ausführungsvorschriften zu formulieren. Wir brauchen weltweit die Einrichtung von Institutionen, Kontrollinstrumenten und Informationsstrukturen. Wir werben dafür und unterstützen die Bundesregierung in ihrem Bestreben, möglichst viele Staaten für die Zeichnung des Protokolls zu gewinnen. ({4}) Ebenso begrüßen wir das Angebot, zur Unterstützung der Entwicklungsländer eine Liste von Fachleuten zu erstellen. Ich bitte Sie, unserem Entschließungsantrag, der unsere Forderungen zusammenfasst, zuzustimmen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Fischer, Sie haben zu Recht angeführt: Die F.D.P. steht zur Gentechnik als Schlüsseltechnologie dieses Jahrtausends - und zwar ohne Wahlkampfgeplänkel -, unter Abwägung der Risiken, aber selbstverständlich auch mit Blick auf die Chancen dieser Technologie. Wir reden heute erst um 17 Uhr im Detail über dieses Thema; insofern möchte ich mich auf das beschränken, was hier jetzt ansteht, auf das Protokoll über die biologische Sicherheit. Dieses soll durch Kontrolle und Kennzeichnungsvorschriften beim grenzüberschreitenden Handel gentechnisch veränderter Organismen dazu beitragen, die biologische Vielfalt zu schützen. Wenn ein Staat oder ein Unternehmen zukünftig gentechnisch veränderte Organismen in ein anderes Land exportieren will, muss das Zielland über den beabsichtigten Transport informiert und die Zustimmung beantragt werden. Für Organismen, die direkt zur Weiterverarbeitung, zum Beispiel in der Lebensmittelproduktion vorgesehen sind, gelten vereinfachte Vorschriften. Die F.D.P. findet das selbstverständlich gut. Aber Ihre Begeisterung, Frau Fischer, die Sie eben erneut geäußert haben, können wir nicht teilen. Sie haben die Verabschiedung des BiosafetyProtokolls offiziell zu einem „wichtigen umweltpolitischen und umweltrechtlichen Schritt“ erklärt und es als ein „global gültiges, rechtsverbindliches Instrument zum sicheren Umgang mit dieser wichtigen neuen Technologie“ bezeichnet. Das sehen wir schon deutlich kritischer. Sie mussten nach dem Misserfolg von Cartagena in Montreal ein greifbares Ergebnis hervorbringen. Da kam nun die eben von Frau Elser schon erwähnte Kompromisslösung zur Kennzeichnung zustande. In den Begleitdokumenten werden wir zukünftig den Begriff „may contain“ lesen können. Das heißt: Die Ware - das kann sich jeder vorstellen, der täglich einkauft - könnte gentechnisch veränderte Organismen enthalten. Und da fangen die Probleme doch an: Für den Verbraucher entsteht die Unsicherheit, ob - und wenn ja, in welchem Anteil - zum Beispiel gentechnisch veränderter Mais oder Soja enthalten ist; denn die Begleitdokumente sind ja auch Grundlage für eine spätere Kennzeichnung des weiterverarbeiteten Produkts im Geschäft. Das dient definitiv nicht der Transparenz. ({0}) Ab welchem Anteil soll eine Kennzeichnung verpflichtend sein: ab 1 Prozent, ab 0,1 Prozent oder ab der Nachweisgrenze? Eine Ausführungsbestimmung soll innerhalb von zwei Jahren nach In-Kraft-Treten des Protokolls nachgeliefert werden. Das Protokoll soll 90 Tage nach der 50. Ratifizierung in Kraft treten. Das heißt - für die, die sich damit nicht auskennen -: 50 Länder müssen unterzeichnen und 50 Parlamente müssen ratifizieren. Sie wissen ebenso wie ich, wie lange das dauern kann, Frau Fischer. Das heißt, wir werden jahrelang auf eine Präzisierung warten müssen. Die Bundesregierung sollte den Mut haben, zu erklären, dass das Protokoll für den Verbraucher sehr wichtige Fragen offen lässt. ({1}) Wir wollen den Verbrauchern eine klare Entscheidung für oder gegen gentechnisch veränderte Produkte ermöglichen. Ich füge hinzu: Wir sehen die Chancen der Gentechnik, gerade auch ihre guten Marktchancen. Ein weiterer Schwachpunkt, Frau Fischer, ist die unklare Stellung des Biosafety-Protokolls gegenüber den WTO-Regeln. Die Bundesregierung betont in ihrer Stellungnahme die Gleichrangigkeit beider völkerrechtlicher Abkommen. Diese Gleichrangigkeit soll zum Beispiel durch eine Anlehnung an Formulierungen in der Präambel der PIC-Konvention über gefährliche Chemikalien und Pestizide sichergestellt werden. Aber auch hier bleiben Fragen offen: Nach welchen Streitschlichtungsmechanismen soll zum Beispiel entschieden werden, wenn es zu Konflikten kommt? Trifft es zu, dass dem Wirtschaftsministerium inzwischen ein Papier der EU-Kommission vorliegt, in dem die Widersprüche zwischen Biosafety-Protokoll, WTO und EU-Recht thematisiert werden? Das geltende europäische Recht ist - das haben Sie eben angeführt - schärfer als das Biosafety-Protokoll. Was folgt daraus für unsere europäischen Standards? Hier muss - um ein geflügeltes Wort der Regierung Schröder zu gebrauchen - wirklich nachgebessert werden. ({2}) Die Unterrichtung der Bundesregierung enthält den schönen Satz: „Allerdings steht die Bewährung der gefundenen Regelungen in der Praxis noch aus.“ ({3}) - Sehr wahr, Herr Kollege Niebel. - Der Teufel steckt im Detail. Besondere Freude an der Detailarbeit haben wir aber bei der Regierung Schröder bisher nicht entdecken können. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Angela Marquardt.

Angela Marquardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003191, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Einigung auf den Text eines Biosafety-Protokolls bei der Vertragsstaatenkonferenz in Montreal hat hierzulande eine Euphorie ausgelöst, die ich, Frau Fischer, nicht teilen kann, obwohl man zugeben muss, dass die völkerrechtliche Verankerung des Vorsorgeprinzips, der Genehmigungsverpflichtung bei Importen und die abgewendete Unterstellung des Protokolls unter die WTO-Bestimmungen natürlich Verhandlungserfolge sind, die Anerkennung verdienen. Doch lange Verhandlungen über Vertragstexte führen schnell zu einer Überschätzung des eigenen Verhandlungserfolges. Schließlich war es Ziel der Verhandlungen, Regelungen für die sichere Weitergabe und Handhabung von gentechnisch veränderten Organismen zu finden, die nachhaltige Auswirkungen auf die Erhaltung der biologischen Vielfalt haben können. Ich frage mich, ob der gefundene Kompromiss in der Präambel, der die Gleichstellung des Protokolls mit dem Abkommen der WTO sichern soll, angesichts massiver ökonomischer Interessen lange tragen wird. Widersinnig ist meines Erachtens auch der Ausschluss von Humanarzneimitteln aus der Geltung des Protokolls, wenn auf der anderen Seite gerade der Schutz der menschlichen Gesundheit gefordert wird. Die Entwicklungen im Bereich der Gentechnologie werden zudem für die Definition dessen, was ein Arzneimittel ist, immer mehr Interpretationsmöglichkeiten eröffnen. Da hätte man, so glaube ich, genauer sein sollen. Es ist darüber hinaus inakzeptabel, dass gentechnisch veränderte Organismen für den Gebrauch im so genannten geschlossenen System keiner Einfuhrgenehmigung unterliegen. Nehmen wir hier das deutsche Gentechnikgesetz als Maßstab, so bleibt der unkontrollierte Austritt von DNA mit nicht abschätzbaren Folgen in den unteren Sicherheitsstufen möglich. Dabei bin ich noch nicht einmal davon überzeugt, dass der Begriff „contained use“ tatsächlich nur die Verwendung im „geschlossenen System“ bezeichnet. Diese Bestimmung könnte auch auf experimentelle Freisetzungen mit Barrieren ausgeweitet werden. Dieses Biosicherheits-Protokoll ist nicht nur ein Regelwerk für den Schutz und für den Erhalt der biologischen Vielfalt, sondern auch ein Regelwerk für den weltweiten Umgang mit den Entwicklungen der Gentechnologie. Das Protokoll ignoriert dabei sozioökonomische Kriterien für den Handel mit gentechnisch veränderten Organismen als tatsächliche Grundlage der Risikobewertung. Dabei ist gerade die wirtschaftliche und technologische Macht monopolisierter Unternehmen der „grünen Gentechnologie“ eine der größten Gefahren für die biologische Vielfalt. Gerade für diese sind kleinräumige, dezentrale, tendenziell arbeitsintensivere Strukturen wichtig und keineswegs ausschließlich die Weltmarktorientierung. ({0}) Zur Stützung dieser Strukturen sind noch ganz andere Entscheidungen notwendig - zum Beispiel das Verbot der Biopiraterie und der Patentierung von Genen. Der politische Druck von Umwelt- und Entwicklungsgruppen und der Unwille vieler, die Kreationen der Gentechnikindustrie anzubauen und zu essen, haben zu den kleinen Erfolgen in den internationalen Verhandlungen zum Biosafety-Protokoll geführt. Der Widerspruch bleibt dennoch bestehen: Wenn es denn negative Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und auf die biologische Vielfalt durch Gentechnik gibt, dann werden diese durch Einfuhrgenehmigungen und Kennzeichnungen nicht verhindert, egal welchen Kennzeichnungsgrad man wählt. Fakt ist, dass es negative Auswirkungen geben kann. Die Position der Bundesregierung ist meines Erachtens inkonsequent: Denn will man den Vorsorgegedanken ernst nehmen, muss man eine Freisetzung unterbinden, die massive Förderung der „grünen Gentechnik“ beenden und Risikoforschung betreiben. ({1}) Andernfalls dienen Kennzeichnung und Risikoabschätzung in erster Linie einer Akzeptanzschaffung für den unter massivem Druck stehenden Markt der „grünen Gentechnik“. Es sind die Verbraucherinnen und Verbraucher selber, die in diesem Fall dem Vorsorgegedanken in einer Weise Rechnung tragen, wie dies kein Protokoll und kein Abkommen leisten könnte. Auch wenn ich mit diesem Standpunkt alleine bin: ({2}) Der Boykott der „grünen Gentechnik“ ist nach wie vor die beste Vorsorge. Danke.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heino Wiese.

Heino Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003262, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch die Beiträge von Frau Marquardt und Frau Flach ist gerade wieder deutlich geworden, dass man bei diesem Thema über Chancen und Risiken sprechen und beides berücksichtigen muss. Ich denke, man muss sich eingestehen: Nachbessern ist immer gut! Ich halte das nicht für schändlich, sondern für ein Bemühen um Qualität. ({0}) In der Tat, das ist ein Zeichen von Intelligenz und Lernfähigkeit. Auch nach dem Abkommen zwischen vielen Staaten hat jeder Staat sicherlich noch einen Wunsch, den er gerne berücksichtigt hätte. Wir haben mit diesem Abkommen einen Erfolg erzielt, den wir vorher nicht erwartet hatten. ({1}) Durch den erfolgreichen Abschluss des BiosicherheitsProtokolls können Umwelt und Verbraucher nun umfassend vor den möglichen Risiken des internationalen Handels mit gentechnisch veränderten Organismen geschützt werden. Das Protokoll regelt den grenzüberschreitenden Verkehr im Hinblick auf den Schutz der biologischen Vielfalt und unter Beachtung der möglichen Risiken für Mensch und Umwelt. Der Erfolg ist ein historischer Schritt auf dem Weg zu weltweit gültigen Sicherheitsbestimmungen. Deshalb möchte ich noch einmal ausdrücklich allen Beteiligten danken: den Mitgliedern der EU-Verhandlungsdelegation und insbesondere den Vertretern der Bundesregierung. Dank gebührt aber auch allen Nichtregierungsorganisationen und den Ehrenamtlichen für ihr langjähriges Engagement beim Zustandekommen des Biosicherheits-Protokolls. Hervorheben möchte ich den Einsatz der kirchlichen Organisationen, des Verbandes „Die Naturfreunde“, des Naturschutzbundes Deutschland, des WWF, des Öko-Instituts Freiburg und der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft. Wegen seiner völkerrechtlichen Verbindlichkeit hat das Protokoll nach seiner Ratifizierung eine Vorrangstellung gegenüber der Welthandelsorganisation, WTO. Damit erlaubt es der EU, eigene Gesetze, zum Beispiel die verbindliche Kennzeichnung von Nahrungsmitteln aus gentechnisch veränderten Organismen, im Falle einer WTO-Klage der USA wirkungsvoll zu verteidigen. Durch den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen ist die Voraussetzung für sichere und klare Rahmenbedingungen im internationalen Handel geschaffen worden. Dies liegt gleichermaßen im Interesse der Verbraucher, der Produzenten, des Handels und des Schutzes der Umwelt. Lassen Sie mich deshalb zum Abschluss noch einmal die wesentlichen Inhalte des Protokolls zusammenfassen: Erstens. Es wird sichergestellt, dass der im Protokoll verwirklichte Gesundheits- und Umweltschutz nicht Handelsgesichtspunkten untergeordnet wird. Zweitens. Der Vorsorgegrundsatz wird als Leitgedanke auch für die auf der Grundlage des Protokolls zu treffende Einzelfallentscheidung fest verankert. Drittens. Grundsätzlich dürfen gentechnisch veränderte Organismen nur dann von einem Land in ein anderes verbracht werden, wenn das Importland - auf der Grundlage umfassender Informationen über den Organismus seine Zustimmung dazu gegeben hat. Das gilt grundsätzlich auch für landwirtschaftliche Massengüter, die nicht dazu bestimmt sind, in die Umwelt freigesetzt zu werden, sondern zum Beispiel als Futtermittel verwendet oder weiter verarbeitet werden sollen. Zu diesem wichtigen Aspekt möchte ich noch ein Beispiel bringen: Die großen Agrarexporteure wollten ein Biosafety-Protokoll, in dem nur der Handel mit Saatgut, nicht aber der Handel mit gentechnisch veränderten Rohstoffen geregelt wird. Das hätte bedeutet, eine Tüte Saatgut könnte kontrolliert werden, ein Frachter mit gentechnisch verändertem Futtermais aber nicht. ({2}) - Ich sehe bei dir nach. Ein und dasselbe Maiskorn wäre, nur abhängig von seiner Deklaration als Saatgut oder als Futtermittel vom Biosafety-Protokoll einbezogen oder ausgeschlossen. Maiskörner, die als Futtermittel oder als Lebensmittel eingeführt werden, könnten unabsichtlich oder beabsichtigt in den Boden geraten, heranwachsen und schließlich manipuliertes Erbgut verbreiten. Innerhalb der EU verbieten wir den Import nicht zugelassener, gentechnisch veränderter Sorten unabhängig davon, ob es sich um Saatgut oder um Futtermittel handelt. Wären Futtermittel nicht in das Biosafety-Protokoll aufgenommen worden, könnte die entsprechende EU-Freisetzungsrichtlinie bei der WTO als Handelshemmnis angezeigt werden. Ich hoffe deshalb, dass die beteiligten Staaten schnellstmöglich die Voraussetzungen für die Unterzeichnung des Abkommens schaffen und durch ihre baldige Unterschrift das Biosicherheits-Protokoll in Kraft treten kann. Vielen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete René Röspel.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einen wunderschönen guten Tag, Frau Präsidentin! Schönen guten Tag, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir heute eine relativ harmonische, gute und fundierte Debatte zu diesem Thema geführt haben. Das verdient es sicherlich. Ich freue mich auch, dass wir Einigkeit über die Bewertung des Verhandlungsergebnisses erzielen können, das Frau Fischer präsentiert hat. Ich freue mich besonders, dass wir eine gemeinsame Auffassung gefunden haben, was den Regelungsbereich des Biosicherheits-Protokolls angeht, nämlich den grenzüberschreitenden Handel mit gentechnisch veränderten Organismen, also Lebensmitteln, Nahrungsmitteln und Futtermitteln. Ich will auf ein paar Beiträge eingehen. Frau Flach, es hätte Sie sicher gewundert, wenn ich mich jetzt nicht Ihnen, die Sie die Probleme der Kennzeichnung angesprochen haben, zugewandt hätte. Ich verweise hier auf die Möglichkeit, im noch über die Novel-Food-Richtlinie in Europa zu diskutieren, um in nächster Zeit im europäischen Bereich entsprechende Regelungen zu treffen. Sie haben, Frau Flach, auch auf das Nachbessern angesprochen. Hier muss ich sagen: Wenn man sich die Historie des Biosicherheits-Protokolls anschaut - der Prozess begann nicht erst unter unserer Regierung, dann stellt man fest, dass unter der Regierung, die Sie mitgetragen haben, die Verhandlungen von über 130 Staaten völlig ins Stocken geraten waren. Das lag nicht zuletzt daran, dass sich Deutschland in Europa mit einer Meinung isoliert hatte, die eher die Meinung der USA war, die möglichst wenig Handelshemmnisse und Beschränkungen wollen. Erst mit dem Wechsel zur rot-grünen Regierung hat sich dies geändert. Wir sind auf eine europäische Linie eingeschwenkt. Infolge der nachgiebigen Verhandlungen in Cartagena und Montreal ist es zu diesem Erfolg, über den wir uns heute einig sind, gekommen. ({0}) Ich habe mich sehr über den differenzierten Beitrag des Herrn Kollegen Paziorek gefreut. Ich gratuliere ihm zur Wahl zum umweltpolitischen Sprecher seiner Fraktion. ({1}) Wir sollten weiterhin auf diesem Niveau diskutieren, auch wenn ich nicht alles teile, was Sie gesagt haben. Ich möchte der Sorge über die Entscheidung zum Genmaismissbrauch entgegentreten und eine Bemerkung zum Vorsorgeprinzip machen. Wir haben darüber schon einmal im Umweltausschuss diskutiert. Vorsorge heißt, man muss auch in die Zukunft schauen. Man muss bewerten, welche Probleme und Kritiken es gibt. Wir haben im Bereich des Genmaises, der selbsttätig ein Insektizid gegen einen bestimmten Schädling produziert, seit 1997 eine Menge neuer wissenschaftlicher Entwicklungen, die darauf hinweisen, dass nicht nur der Monarchfalter, sondern auch Nützlinge wie Florfliegen geschädigt werden. Es gibt Hinweise, dass wir durch das ständige Produzieren des Giftes, das in den Blättern verbleibt, eine dauerhafte Exposition des Schädlings mit dem Gift haben, sodass wir Resistenzen zu erwarten haben. Das ist sicherlich ein großer Nachteil. Wenn der Schädling Resistenzen entwickelt hat, führt das dazu, dass dieses Gift im ökologischen Landbau, wo es in etwas veränderter Form zugelassen ist und gezielt eingesetzt wird, nicht mehr verwendet werden könnte. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse und Hinweise hat Frau Fischer ebenso wie wir im Beschluss des Umweltausschusses ernst genommen, in dem wir festgelegt haben, dass man, bevor das nicht geklärt ist, mit dem Freisetzen dieses Maises sehr sorgfältig und sehr behutsam umgehen muss. Wenn ein Automobilhändler Hinweise darauf bekommt, dass irgendwelche Kabel brüchig werden können, kann er eine Rückrufaktion starten. Wenn er diese durchführt, wird ihm sicherlich keine Technikfeindlichkeit vorgeworfen. Diese Rückrufaktion ist nämlich eine sinnvolle Aktion. Ihm gelingt es in der Regel, alle Autos zurück zu bekommen. Bei der Freisetzung eines gentechnisch veränderten Organismus oder einer Pflanze ist das nicht mehr gewährleistet. Man muss davon ausgehen, dass das, was einmal freigesetzt wurde, nicht mehr rückholbar ist. Deshalb macht das Vorsorgeprinzip Sinn. Ich denke, wir haben damit eine vernünftige Entscheidung getroffen. ({2}) Zum Inhalt des Biosicherheits-Protokolls wurde letztlich alles gesagt. Es wurde auch schon sehr vielen gedankt. Trotzdem möchte ich stellvertretend für die vielen ehrenamtlich engagierten Einzelpersonen, die zum Gelingen der Unterzeichnung beigetragen haben, hier noch einmal Hartmut Meyer und Christine von Weizsäcker nennen. Sie sind sicherlich ein gutes Beispiel dafür, dass bürgerschaftliches Engagement auch außerhalb politischer Parteien wichtig ist und Erfolg hat. Ich kann die Bundesregierung nur zu weiteren Schritten ermutigen und die Zuständigen auffordern: Sehen Sie zu, dass möglichst viele Staaten in möglichst kurzer Zeit unterzeichnen! Dann gehen wir, wie ich glaube, einen guten Weg. Vielen Dank. ({3}) Heino Wiese ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3071 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 14/3098 soll an die gleichen Ausschüsse, jedoch nicht an den Rechtssausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 sowie Zusatzpunkt 5 auf: 8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Nooke, Dr. Michael Luther, Dr. Angela Merkel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Exportchancen im Ausland nutzen - Absatzförderung Ost intensivieren - Drucksache 14/2911 Überweisungsvorschlag: Ausschuss fürAngelegenheiten der neuen Länder ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss ZP 5 Beratung des Antrags Dr. Mathias Schubert, Christian Müller ({1}), Dr. Ditmar Staffelt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Margareta Wolf ({2}), Kerstin Müller ({3}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stärkung von Absatz und Export der ostdeutschen Wirtschaft - Drucksache 14/3094 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Interfraktionell ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Dr. Paul Krüger.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße, dass wir hier heute zwei Anträge zum Thema „Absatzförderung Ost“ vorliegen haben. Der Antrag von der CDU/CSU-Fraktion ist schon einige Wochen alt. In dieser Woche ist nun noch ein Antrag von der Koalition dazu gekommen. ({0}) - Etwas spät, aber er ist inhaltlich Gott sei Dank ziemlich identisch mit unserem Antrag; man könnte fast meinen, er wäre abgeschrieben worden. Ich finde es gut, dass wir in dieser Situation die Probleme offensichtlich ähnlich beurteilen. Ich finde es auch gut, dass dadurch, dass wir einen ähnlichen Antrag eingebracht haben, in der Tat die Aussicht besteht, für das angesprochene Problem eine Lösung zu finden und diese dann auch durchzusetzen. ({1}) Wenn wir uns die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern anschauen, sehen wir, dass deren Wachstumsrate in den letzten Jahren hinter der Wachstumsrate des Westens zurückgeblieben ist. Die Arbeitslosigkeit im Westen ist jüngst gegenüber dem Vorjahr gesunken, in den neuen Bundesländern ist sie leicht gestiegen. Es gibt keinen Grund zur Entwarnung. Im Gegenteil: Der „Tagesspiegel“ titelt heute „Der Aufschwung geht am Osten vorbei“, die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt: „Der Osten geht beim Aufschwung leer aus“. Das Wachstum in Ostdeutschland bleibt - ich sagte es schon - deutlich hinter dem in Westdeutschland zurück. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass der Strukturwandel noch Jahre dauern wird. Das Wachstum ist - das ist besonders im Zusammenhang mit der Debatte, die wir heute führen, wichtig - nicht allein im ostdeutschen Binnenmarkt zu erzielen. Deshalb sind Wachstumsimpulse auf Außenmärkten zur Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze notwendig. Diese sind nur zu erwarten, wenn es uns gelingt, zunächst einmal Wachstum aus Intelligenz zu induzieren, das heißt, neue Produkte und Verfahren durch Innovation zu entwickeln. Dies sind die wichtigsten Voraussetzungen für Entwicklung in Ostdeutschland. Aber gleichermaßen ist es wichtig, durch überregionale, möglichst weltweite Präsenz der Firmen auf den Märkten - das heißt, die Ausweitung der Aktivitäten auf Weltmärkten - eine Steigerung des Absatzes zu erzielen. Im Übrigen ist diese weltweite Präsenz nicht nur zur Absatzsteigerung erforderlich, sondern genauso aus dem Blickwinkel wichtig, dass man eine Rückkopplung von den Märkten auf die Produktentwicklung braucht. Die Innovationsprozesse in den neuen Bundesländern - das wissen wir alle - sind nach wie vor unzureichend. Wir müssen uns hier weiter darum kümmern. Aber das ist nicht der Gegenstand der heutigen Debatte. Wir debattieren heute über die gegenwärtige Exportsituation. Wenn wir uns diese vor Augen führen, stellen wir fest, dass sich die anziehende Weltkonjunktur und der niedrige Außenwert des Euro im Moment positiv auf die Exportchancen in Bezug auf deutsche Produkte insgesamt auswirken. Leider werden ostdeutsche Firmen an diesem Exportwachstum kaum teilhaben. ({2}) Die Absatzförderung Ost und die damit verbundenen Hilfen sind zwar von den Unternehmen in den letzten Jahren sehr gut angenommen worden und die Exporte sind gestiegen. Es ist also ein Exportwachstum erzielt worden. Viele, auch mittelständische Unternehmen in den neuen Ländern konnten beim Absatz ihrer Produkte in den Vorjahren wesentliche Fortschritte erreichen. 1998 erhöhte sich die Ausfuhr gegenüber dem Vorjahr um insgesamt knapp 10 Prozent auf über 56 Milliarden DM. Gleichwohl ist der Anteil der neuen Länder am gesamtdeutschen Außenhandelsumsatz mit zirka 6 Prozent enorm niedrig. Wenn man Berlin herausrechnet, haben wir ganze 4 Prozent Exportanteil. Wenn wir das in Relation zum Bevölkerungsanteil setzen, der etwa 20 Prozent beträgt, dann ist das nach wie vor bedenklich. Der Export aus den neuen Ländern wird vor allem von wenigen größeren Firmen getragen. Viele kleine und mittlere Unternehmen weisen dagegen im Auslandsgeschäft gravierende Schwächen auf. Das liegt zum Teil an der fehlenden Exportorientierung und Marktpräsenz dieser Firmen. Zum Teil sind auch fehlende Marktkenntnisse die Ursache. Es gibt Probleme bei der Vorfinanzierung von Auslandsgeschäften und teilweise auch eine unzureichende Pflege von Firmenkontakten. All das erschwert eine Steigerung des Exportes. Unternehmen aus den neuen Ländern profitieren also insgesamt ganz wenig von diesen aktuellen Exportentwicklungen. Die ostdeutsche Wirtschaft läuft gegenwärtig sogar Gefahr, auf Dauer abgehängt zu werden. Besorgniserregend ist in diesem Zusammenhang, dass der Export der ostdeutschen Flächenländer im letzten Jahr erstmalig zurückging, nämlich um 6,5 Prozent während er im gleichen Zeitraum im Westen um 3,5 Prozent anstieg. Ein Fakt, der das besonders gravierend deutlich macht, ist, dass allein das Exportwachstum in Westdeutschland im letzten Jahr genau so hoch wie der Gesamtexport aller ostdeutschen Flächenländer zusammen war. Somit ist festzustellen, dass die Exportentwicklung als eine der wichtigsten Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Aufholprozess in Ostdeutschland unter der neuen Bundesregierung nicht nur stagniert, sondern sogar rückläufig ist. Negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind vorprogrammiert und - ich sagte es bereits - eingetreten. Umso mehr haben wir die Frage zu beantworten, was Politik und Staat in diesem Zusammenhang leisten können. Der Staat kann und soll nicht die Arbeit der Wirtschaft leisten. Darüber müssen wir uns im Klaren sein. Aber angesichts der prekären Situation sind wir aufgefordert, darüber nachzudenken, wie wir durch die Gestaltung von Rahmenbedingungen, durch finanzielle Hilfen und Anreize, durch die Schaffung von Infrastrukturen und auch durch geeignete Ausbildungsprogramme dieser fatalen Entwicklung entgegenwirken können. Der Bund darf deshalb nicht nachlassen, die neuen Länder im Rahmen seiner allgemeinen, gesamtdeutschen Absatzfördermaßnahmen, beispielsweise bei der Auslandsmesseförderung oder bei Hermes-Ausfuhrgewährleistungen und auch bei der Kooperationsförderung, weiter zu unterstützen. ({3}) Wir müssen endlich durchsetzen, dass in diesem Zusammenhang die vorgegebene Quotierung, etwa bei Hermes-Bürgschaften, tatsächlich eingehalten wird und nicht nur ein Lippenbekenntnis bleibt, und dass die Bundesregierung tatsächlich überprüft, inwieweit hier die Möglichkeiten ausgenutzt werden. ({4}) Daneben bedarf auch das befristete Sonderprogramm „Förderung des Absatzes ostdeutscher Produkte“ im Haushalt des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie weiterer Aufmerksamkeit. Das relativ niedrige Niveau darf nicht beibehalten werden. Im Gegenteil: Wir müssen dieses Programm über das Jahr 2000 hinaus verlängern und müssen es qualitativ ausweiten. ({5}) Ich schlage sogar vor, dass wir es drastisch aufstocken. ({6}) Wir müssen uns klar machen, dass wir mit wenigen Millionen DM viele Milliarden DM Absatz induzieren können. Damit können wir zum Erfolg der ostdeutschen Wirtschaft und letztlich zum Wachstum des Arbeitsmarktes durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze beitragen. Gleichzeitig gilt es, neue Schwerpunkte und Wege bei der Absatzförderung zu prüfen und umzusetzen. Ich denke hier insbesondere an die Fortsetzung der Inlandsmesseförderung - als Sprungbrett für internationale Märkte hat sich dieses Instrument bewährt - und an den Ausbau von Vertriebskooperationen vieler Firmen, die regional, branchen- und länderbezogen durchgeführt werden können. Ich denke weiterhin an den verstärkten Einsatz der Mittel für Vermarktungsprojekte im Ausland hinsichtlich ausgewählter Auslandsmärkte und an die Projektzertifizierungen, die wir gelegentlich als Eintrittskarte in den Markt bezeichnet haben. Ferner denke ich an eine verstärkte Einbindung der Auslandskammern in eine Koordinierung von Absatzaktivitäten. Wir müssen über die Förderung der Erstellung von Katalogen und Werbematerialien, die vielen jungen Firmen nicht ganz leicht fällt, bis hin zur Förderung von Sprachübersetzungen nachdenken. Besondere Bedeutung wird in diesem Zusammenhang den neuen Medien zukommen. Das „business-tobusiness“ im elektronischen Geschäftsverkehr nimmt rasant zu. Das können wir an der aktuellen Entwicklung im Multimediabereich erkennen. Die Nutzung der neuen Informations- und Kommunikationstechniken zur Präsentation, zur Kommunikation und zur Vertragsabwicklung - auch im Ausland - wird langfristig über den Geschäftserfolg vieler Unternehmen entscheiden. Der Einsatz dieser neuen Medien muss besonders gefördert werden. Hier fordere ich die Bundesregierung auf, tatsächlich neue Akzente zu setzen. Wir brauchen jedoch auch eine inhaltliche Öffnung von den klassischen industriellen Produkten hin zu immateriellen Produkten, die in immer stärkerem Maße die Entwicklung in Ostdeutschland beeinflussen werden. Mit Blick auf den Wandel in eine Medien- und Dienstleistungsgesellschaft ist es notwendig, Impulse für Generierung und Handel mit immateriellen Gütern zu geben. Hierbei geht es um Projektierungsleistungen, aber auch um Ingenieurdienstleistungen genauso wie um Erfindungen und Software, also all das, was wir unter dem Oberbegriff Engineering subsumieren können. Die Vielfalt der hier vorgeschlagenen Instrumente und Maßnahmen macht bereits deutlich, dass es keine einfache Lösung des Problems gibt. Die Erschließung neuer internationaler Märkte ist von vielfältigen Bedingungen abhängig. Wichtigste Voraussetzung ist zunächst die Entwicklung wettbewerbsfähiger, innovativer Produkte bzw. Dienstleistungen. Auch darf nicht verkannt werden, dass für die Markteinführung neuer Produkte in der Regel beträchtliche Aufwendungen notwendig sind, die häufig nur über Fremdkapital finanzierbar sein werden. Wenn wir uns vor Augen führen, dass die Relation der Kostenanteile von der Idee über die Entwicklung bis hin zur Markteinführung eins 1 : 10 : 100 : beträgt, wobei von diesen 100 Anteilen heute mehr als 50 Prozent für Marketing, Service und Vertriebsnetze eingesetzt werden, dann können wir ahnen, welche Dimensionen hier erforderlich sind. Das kann der Staat meiner Meinung nach nicht leisten. Wegen dieser gewaltigen Summen, die notwendig sind, sind dem staatlichen Handeln enge Grenzen gesetzt. Gleichwohl dürfen wir nichts unversucht lassen, um neue Ansätze für die Exportsteigerung zu finden. Wir sollten deshalb im Rahmen der parlamentarischen Beratung konstruktiv nach solchen Lösungen suchen. Dazu will ich Sie herzlich einladen. Es gibt gute Gründe für die Zusammenarbeit. Herzlichen Dank. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Barbara Wittig, SPD-Fraktion.

Barbara Wittig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003267, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir zunächst - wie im Ausschuss - eine kurze Vorbemerkung, bevor ich zum eigentlichen Thema komme. Herr Dr. Krüger, das Thema „Wer schreibt von wem ab?“ bringt uns nicht sehr viel weiter. Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass wir ein Bündnis für Arbeit haben. Im Rahmen dieses Bündnisses gibt es sehr viele sehr fleißige Arbeitsgruppen. ({0}) - Da staunen Sie. In einer dieser Arbeitsgruppen sind bereits im Juni 1999 sehr konkrete Maßnahmen vorgelegt worden. Ich komme nachher noch einmal darauf zurück und ich vermute, dass auch meine Kollegen darauf eingehen werden. Nun aber zum Thema. Sie haben natürlich Recht: Der ostdeutsche Export ist äußerst schwach auf der Brust. Ich möchte nicht alle möglichen Zahlen hier vortragen, sondern einen kurzen statistischen Vergleich vornehmen, denn diese Zahlen sprechen Bände. Statistisch gesehen, entfallen nämlich auf jeden Westdeutschen immerhin 14 000 DM an Ausfuhren. Im Osten sind es dagegen nur 2 500 DM pro Einwohner. Das ist in der Tat ein Missverhältnis; Sie sind bereits ausführlich darauf eingegangen. Für diese leider immer noch gravierenden Unterschiede zwischen Ost und West gibt es natürlich unterschiedliche Erklärungen. An dieser Stelle möchte ich folgende nennen: Zum einen hat sich in der ostdeutschen Wirtschaft eine ganz andere Produktionsstruktur herausgebildet, die sich deutlich von der westdeutschen unterscheidet. Zum anderen sind die Staaten des ehemaligen Ostblocks als Absatzmarkt zum Teil verloren gegangen bzw. sie nehmen nicht mehr die dominierende Stellung ein, die sie zu DDR-Zeiten einmal hatten. Deshalb möchte ich an dieser Stelle als erfreulich bemerken, dass sich seit einiger Zeit der Handel mit Polen und Tschechien wieder ausgeweitet hat und dass das natürlich auch im Zuge der Osterweiterung von erheblicher Bedeutung ist. ({1}) - Da können Sie von der rechten Seite ruhig einmal klatschen, da Sie sonst eigentlich auch immer gerade für die Aufnahme von Polen und Tschechien in die Europäische Union eintreten. Aber das sind vielleicht nur Lippenbekenntnisse. ({2}) Mit diesem kurzen Abriss möchte ich es bewenden lassen. Wenn wir die Situation betrachten, heißt das, wir sind auf dem Wege. Aber wir brauchen natürlich noch Hilfen und Unterstützung, auch und gerade zur Stärkung des Absatzes und Exportes unserer ostdeutschen Produkte und unserer ostdeutschen Dienstleistungen. Deshalb war es, wie gesagt, nur logisch, dass sich das Bündnis für Arbeit in seiner Arbeitsgruppe für den Aufbau Ost mit diesem Thema beschäftigt hat. Ich möchte hier auch noch einmal sagen, dass die Partner in diesem Bündnis - das ist ja nicht die Bundesregierung alleine - sehr genau wissen, wo der Schuh drückt. Mehr noch: Es wurden, wie ich bereits sagte, Übereinkünfte getroffen. Insofern muss ich, Herr Dr. Krüger, betonen: Über die Frage, wie wir darüber denken, können wir lange diskutieren. Wir handeln lieber. ({3}) Ich möchte noch einmal erwähnen, dass es bereits eine Vereinbarung zur Förderung des überregionalen Absatzes für die ostdeutschen Produkte gibt. ({4}) Wir werden das entsprechend durchsetzen. Unser Antrag geht auch darauf ein. Ich kann deshalb nicht ganz verstehen, warum Sie mehrere Monate später, nämlich am 14. März, einen Antrag gestellt haben, der sich mit diesem Thema noch einmal ausführlich beschäftigt. ({5}) Alle Partner im Bündnis sind sich darin einig, dass die Förderung des überregionalen Absatzes für ostdeutsche Produkte und auch ostdeutsche Dienstleistungen ein wichtiger Beitrag ist für die Entwicklung unserer ostdeutschen Unternehmen und darüber hinaus auch die Sicherung von Arbeitsplätzen in den neuen Ländern ermöglichen wird. ({6}) Es ist erfreulich zu registrieren, dass sich im ostdeutschen Exportgeschäft in der letzten Zeit ein zarter statistischer Zuwachs abzeichnet. Es muss an dieser Stelle aber auch gesagt werden: Für die kleinen Unternehmen ist der Zugang zu internationalen Märkten besonders schwierig. Deshalb müssen hier die Hilfen ansetzen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch zu erwähnen, dass der zarte Zuwachs, von dem ich sprach, nur von ganz wenigen Unternehmen getragen wird. Es muss betont werden, dass dieser statistische Trend auf der einen Seite zwar erfreulich ist, dass er aber aus diesen Gründen nur die halbe Wahrheit ist. Das muss sich ändern. Die speziellen Maßnahmen zur Fortführung der Absatz- und Exportförderung in den neuen Ländern müssen fortgesetzt werden. Hier sehe ich sowohl den Bund als auch die Länder, aber auch die Wirtschaft in der Pflicht. Ein gut abgestimmtes Vorgehen bei den Export- und Absatzhilfen und somit bei einer verlässlichen Außenwirtschaftsförderung halte ich deshalb für unabdingbar. Unser Antrag zielt genau darauf ab. Ebenso werden die neuen Länder und die Wirtschaft aufgefordert, in ihren Anstrengungen hinsichtlich der Förderung des Exports und des Absatzes nicht nachzulassen. Was den Bund angeht, möchte ich hier mit aller Deutlichkeit sagen: Wir wollen die Verstetigung der Mittel des Bundes. So können wir die Außenwirtschaft stärken und so leisten wir unseren Beitrag zur Entwicklung unserer ostdeutschen Wirtschaft. Ich danke Ihnen. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort erhält jetzt der Kollege Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im CDU/CSU-Antrag steht leider nur die halbe Wahrheit. Die ostdeutschen Länder - wenn man Berlin nicht einbezieht - kommen bei ihren Ausfuhren nur auf 3,7 Prozent des Umsatzes des gesamtdeutschen Außenhandels. Unter dem Strich kann das nicht befriedigen, zumal Deutschland eigentlich Exportweltmeister ist, das heißt der Löwenanteil des Umsatzes durch den Export erzielt wird. Außerdem stagniert der innerdeutsche Handel. Es muss also wirklich etwas passieren. Es ist unbedingt notwendig, dass Ostdeutschland mehr vom „Exportkuchen“ abbekommt. Da sind wir uns einig. Das ist natürlich nach wie vor schwierig, weil weiterhin Defizite bestehen. Es ist schon gesagt worden: Wir haben in Ostdeutschland nur wenige Großbetriebe mit einem hohen Exportanteil und schlagkräftigen Marketingabteilungen. Die kleinen und mittleren Unternehmen können sich das nicht leisten. Was kann man gegen diese Nachteile tun? Ich denke, dass die kleinen und mittleren Unternehmen strategische Allianzen eingehen müssen. Das ist ein hochtrabendes Wort, aber nur so wird es funktionieren. Die Unternehmen müssen sich zusammentun und international, also grenzüberschreitend, kooperieren. Dabei denke ich auch an die lange EU-Außengrenze. In Brandenburg zum Beispiel gibt es so genannte Marktzugangsinitiativen. Dabei werden - was meiner Ansicht nach richtig ist - die Entwicklung, die Produktion und die Vermarktung von den Unternehmen teilweise gemeinsam durchgeführt. Immerhin hat das zu einer Steigerung der Warenausfuhr von 5,9 Prozent in 1995 auf 22,1 Prozent in 1998 geführt. Ich glaube, dass sich dieses Ergebnis sehen lassen kann. Auch wenn wir, Walter Hirche, nicht mehr dabei sind, muss man das fairnesshalber sagen. Der Bund sollte solche Allianzen, also Zweckbündnisse, fördern; denn hier ist ein hoher Wirkungsgrad zu erwarten. ({0}) Ein weiteres Defizit bei der Erschließung von Außenmärkten liegt in der Nutzung neuer Medien und des E-Commerce, wie man so schön sagt. Auch hier führe ich Brandenburg als Beispiel an: Nur 20 Prozent der kleinen und mittleren Betriebe sind jetzt am Netz. Das ist ein untragbarer Zustand, zumal wenn man bedenkt, dass der Trend eindeutig zur Warenbestellung über „www“ geht. Deshalb müssen alle Betriebe im Osten unbedingt ans Netz. Auch hier kann die Bundesregierung sinnvolle Unterstützung geben. ({1}) Ganz wichtig beim Ausgleich noch immer vorhandener struktureller Nachteile ist die Unterstützung der technischen Dienstleistungen und überhaupt der freien Berufe, weil diese eine Schlüsselfunktion haben werden und werden haben werden müssen. Veranstaltungen wie der 1. Europäische Ingenieurkammertag im Mai 1998 in Dresden, das Pilotprojekt „Ingenieur-Dialog in Großbritannien und Irland“ 1998 oder ein erster Dialog in Kanton, also in China, im April 1998 haben gute Ergebnisse gebracht. Dort waren übrigens auch ostdeutsche Planungsbüros vertreten; denn die Nachfrage nach Planungsleistungen für Infrastrukturprojekte ist in den mittel- und osteuropäischen Staaten sowie in China und anderswo groß. In dem Bewusstsein, dass solche technischen Dienstleistungen die Nachfrage nach Bauleistungen und Investitionsgütern nach sich ziehen, sollten wir unseren Schwerpunkt wirklich darauf legen. Genau dort muss man ansetzen sollte beispielsweise das Projekt einer privaten Initiative zur Markterschließung für die deutsche Baustoffwirtschaft in China ressortübergreifend gesehen werden und es sollten möglichst viele deutsche Kooperationspartner mit ins Boot geholt werden. ({2}) Der Initiator und Koordinator dieser technischen Dienstleistungen muss unterstützt werden. Das ist noch nicht so. Er bekommt keine Förderung. Er ist der WichBarbara Wittig tigste, der das Ganze anschiebt und koordiniert. Hier darf nicht gekleckert und an der falschen Stelle gespart werden, sondern hier muss geklotzt werden. ({3}) Herr Krüger hat ja die Relation der Kostenanteile genannt: Sie beträgt 1 : 10 bzw. 1 : 100. Dem sollte man endlich Rechnung tragen. Da die bisherigen Fördermaßnahmen nur begrenzt gegriffen haben, müssen wir insgesamt darüber nachdenken, wo neue Förderschwerpunkte gesetzt werden müssen. Wo sie aus meiner Sicht liegen sollten, habe ich dargelegt. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Krüger, das Bemühen der Union, in der personellen Erneuerung und möglicherweise auch in der Sachpolitik voranzukommen, ist allenthalben sichtbar. Insofern habe ich Verständnis dafür, dass Sie in der Sachpolitik wieder Tritt fassen wollen. Doch wenn man sich Ihren Antrag einmal genau anschaut, dann stellt man fest, dass Ihre so genannte neue Sachpolitik keinen wirklich neuen Aspekt enthält und dass Sie daher bei uns offene Türen eintreten. ({0}) Insofern ist es müßig, jetzt die beiden vorliegenden Anträge zu vergleichen und festzustellen, welcher eher vorlag. Entscheidend ist, welches der Originalantrag ist. ({1}) Ich habe weder Ihrer Rede und noch Ihrem Antrag einen neuen Aspekt, also Ansatzpunkte, die der Regierung bisher verborgen geblieben wären, oder Dinge, die sie nicht tut, entnommen. Ich habe von Ihrer Seite Zweifel dahin gehend gehört, ob die Regierung das in unserem Antrag Geforderte wirklich tun will und tun wird. Ich habe Skepsis gehört. Ich habe Aufstockungsvorschläge gehört. Natürlich könnten die Förderungen ein bisschen umfangreicher und ein bisschen intensiver sein. Komischerweise fällt Ihnen das erst in der Opposition auf; darauf muss man immer wieder einmal hinweisen. ({2}) In der Zeit, in der Sie am Ruder bzw. an der Schiffsschraube saßen, habe ich von Ihnen keine derartigen Vorschläge gehört. ({3}) Mit denen, die Sie gemacht haben, sind Sie regelmäßig gescheitert - falls Sie diese Zwischenfrage jetzt stellen wollen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das kommt jetzt. Herr Kollege, wollen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krüger zulassen? - Bitte sehr, Herr Kollege Krüger.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Schulz, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich in meinem Beitrag deutlich gemacht habe, dass es bis 1998 eine enorme Steigerung der Exportrate der ostdeutschen Wirtschaft gab - sie lag vor 1998 bei etwa 10 und 1998 präzise bei 10 Prozent -, dass es im Jahre 1999 einen Rückgang um 6,5 Prozent gab - die Quelle ist das Kölner Wirtschaftsinstitut - und dass es deshalb besonders wichtig ist, jetzt, da Sie regieren, noch einmal darüber nachzudenken, was man über das hinaus, was man in den vergangenen Jahren getan hat, unternehmen kann, um den Export in den neuen Bundesländern zu beflügeln?

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In der Ansicht, dass die Exportförderung in der Ära Kohl nicht den Erwartungen entsprochen hat, die wir alle hatten, stimme ich Ihnen sofort zu. ({0}) - Aber in gewisser Weise indirekt. Denn er hat gesagt wenn ich Ihnen das einmal übersetzen darf -, dass wir auf einem äußerst niedrigen Niveau - zweistellige Exportzuwachsraten hatten. ({1}) - Herr Kollege Hirche, wir müssten uns vielleicht einmal über die Ursachen dafür unterhalten, warum der Export überhaupt so zusammengebrochen ist, warum wir in Ostdeutschland eine derart einzigartige, gespenstische Deindustrialisierung hatten, ({2}) warum sich der Export nur auf wenige Großbetriebe, beispielsweise auf VW, Opel, Siemens usw., erstreckt und warum wir die vielen kleinen und mittleren Betriebe damals im Regen haben stehen lassen. Ich stimme also sofort mit Ihnen darin überein, dass die Förderungen in Ostdeutschland sowohl unter der Regierung Kohl als auch unter der jetzigen Regierung nicht ausreichend waren. ({3}) Ich weiß nicht, was Sie von einer Regierung, die erst eineinhalb Jahre im Amt ist, erwarten. Als Wirtschaftspolitiker, der Sie ja auch sind, muss ich Ihnen sagen: Das Jahr 1999 hatte, weltwirtschaftlich gesehen, ein paar Besonderheiten aufzuweisen. Das ist offensichtlich an Ostdeutschland nicht vorbeigegangen. Sie können der rot-grünen Regierung schlecht anlasten, dass es zu einer Weltwirtschaftskrise kam. ({4}) -Natürlich ist das erklärbar. Ich verweise beispielsweise auf die Krise in Osteuropa, die sich durch den Wegbruch der Märkte verstärkt hat. Sie wissen, dass es in Asien Einbrüche gegeben hat. Ich glaube nicht, dass es etwas mit der jetzigen Regierung zu tun hat, dass da etwas eingebrochen ist. Dennoch müssen die positiven Aspekte herausgestellt werden: Die Auftragslage ist optimistisch. Wir hoffen auf zweistellige Zuwachsraten. - Insofern hat die Bundesregierung diesen Einbruch abgefangen. Die Kollegin Wittig hat es deutlich gemacht - auch wenn Ihnen das nicht gefällt -: Das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit hat im Juni letzten Jahres eine Konzeption zur Absatzförderung für die ostdeutsche Wirtschaft beschlossen. Es mag ja sein, dass an dieses Bündnis die übertriebene Erwartung geknüpft wird, das Problem der Arbeitslosigkeit könne sofort, quasi im Hauruck-Verfahren, gelöst werden, und dass die vielen kleinen Schritte, die dort vereinbart wurden, um im Endeffekt zu helfen, dieses Problem zu lösen, von Ihnen gar nicht gesehen werden. Hier hat sich die Bundesregierung mit der Wirtschaft darauf verständigt, den Absatz und die Exportförderung auf ein neues Niveau zu bringen. Im Grunde genommen sind alle Akteure zusammengebracht worden: Bund, Länder, Wirtschaft und Gewerkschaften. Ich finde, Sie hatten jede Chance, dieses Bündnis zustande zu bringen, aber Sie haben es nicht geschafft. Tut mir Leid, Sie haben die Chance verpasst. ({5}) Ich möchte auf einige Probleme, die ich für wichtiger halte, und auf Ihren Antrag eingehen. Darin betonen Sie die Ausweitung der Förderung der Informations- und Kommunikationstechnologie. Sie weisen zu Recht darauf hin, dass im Bereich E-Commerce und im „business to business“ - Bereich Defizite bestehen, dass vor allen Dingen die kleinen und mittleren Unternehmen hinterherhinken, weil sie diese Technologie nicht nutzen können. An Ihnen ist aber offensichtlich die Initiative D 21, die von dieser Bundesregierung ins Leben gerufen worden ist, völlig vorbeigegangen. Sie stellt den Aufbruch in das Informationszeitalter dar. Ich frage Sie: Wie verträgt sich Ihre Erkenntnis, dass dies so wichtig ist, denn mit der töricht-dreisten Kampagne Ihres ehemaligen Zukunftsministers? ({6}) Das ist doch ein Widerspruch: Auf der einen Seite betonen Sie die Wichtigkeit dieser Förderung; auf der anderen Seite aber wollen Sie uns einreden, dass die Green Card Arbeitsplätze blockieren oder vernichten werde. Das Gegenteil ist der Fall: Wir brauchen ausgebildete Spezialisten zumindest für eine Übergangszeit, weil wir diese Arbeitsplätze im Moment gar nicht besetzen können. Zudem stellt die Einstellung von Spezialisten auch für Ostdeutschland die beste Exportförderung dar. ({7}) Diese Aspekte tauchen im Memorandum zur Initiative D 21 auf; aber darauf gehen Sie viel zu wenig ein. Die Bundesregierung befindet sich mit ihren Anstrengungen auf dem richtigen Weg; denn wir wollen nicht, dass es demnächst einen Know-how-Transfer bzw. grenzüberschreitende Dienstleistungen von Ost nach West gibt. Wir brauchen diese Experten hier, auch um die Basis für die ostdeutsche Wirtschaft zu verbessern. Ich will in diesem Zusammenhang auch auf die Messeförderung zu sprechen kommen. Damit helfen wir den kleinen und mittelständischen Unternehmen bei der Präsentation ihrer Produkte im In- und Ausland. In diesem Jahr wird es einen Absatzkongress geben. Das ist eine Initiative, die den Betrieben, die die Präsentation ihrer Produkte nicht aus eigener Kraft bewerkstelligen können, entgegenkommt. Sie dient beispielsweise dem Erfahrungsaustausch und dem Aufbau entsprechender Absatz- und Lieferbeziehungen. Wenn wir über die Rahmenbedingungen sprechen, müssen wir natürlich auch über die großen Projekte der Bundesregierung reden, zum Beispiel über das Zukunftsprogramm 2000 und die Steuerreform. ({8}) Ein konsolidierter Haushalt ist die Rahmenbedingung, um die entsprechenden Mittel bereitstellen zu können. Ich denke zum Beispiel an das große Programm, das wir in diesem und im nächsten Jahr zu bewältigen haben; wir müssen ein großes Paket schnüren. Ich bin sehr gespannt darauf, wie sich die großen Bundesländer, auch die von der Union regierten, verhalten werden, wenn wir darangehen, das Föderale Konsolidierungsprogramm neu aufzulegen. Das wird auf uns zukommen. Das wird die große, spannende Aufgabe. Das ist das große Thema, wenn wir den Aufbau Ost als eine komplexe Aufgabe betrachten und nicht in Scheibchen zerlegen. Mit dem - da stimme ich Ihnen zu - noch viel zu schmalen Segment der Absatzförderung und des Exports sind wir natürlich unzufrieden. Aber ich denke - Herr Kollege Krüger, da können Sie uns schwerlich widersprechen -, wir sind da auf einem guten Weg. ({9}) Kritik ist zwar gefragt, aber sie muss wirklich konstruktiv sein. Sie müssen mit Vorschlägen kommen, die wir aufgreifen können. ({10}) Ich sehe in Ihrem Antrag nichts Besonderes. Sie haben nach dem Motto „Mal schauen, was die Regierung macht, es umformulieren und dann damit hausieren gehen“ Werner Schulz ({11}) vorgetäuscht, etwas Eigenes auf den Weg gebracht zu haben. ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Gerhard Jüttemann, PDS-Fraktion, das Wort.

Gerhard Jüttemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002693, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den vorliegenden Antrag der CDU/CSU-Fraktion abzulehnen käme dem ökonomisch sinnlosen Aufruf gleich, Exportchancen nicht zu nutzen und damit wirtschaftliche Möglichkeiten zu vergeben. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass der Antrag allein nicht allzu viel wirtschaftlichen Aufschwung bewirken wird. Denn der mangelnde ostdeutsche Export, der 1999 um fast 7 Prozent geschrumpft ist, statt zu steigen, ist nicht Ursache, sondern Folge der Hauptprobleme der ostdeutschen Wirtschaft. Diese Hauptprobleme bestehen im niedrigen Produktivitäts- und Einkommensniveau, im geringen Industrialisierungsgrad und in einer weit überwiegend kleinbetrieblichen Unternehmensstruktur. Dazu kommen eine ungenügende Innovations-, Forschungs- und Entwicklungsintensität sowie eine auf hohem Niveau verfestigte Arbeitslosigkeit. Die in den neuen Bundesländern vorherrschenden Kleinunternehmen exportieren nicht sehr viel. Das wird sich auch nicht ändern, wenn die Absatzförderung intensiviert wird. Für Siemens und Opel und die wenigen anderen Großunternehmen, die im Osten ihre Filialen errichtet haben, mag das anders aussehen. Aber sehr viele sind das bekanntlich nicht. Was resultiert aus diesem Problem? Daraus resultiert, dass seit 1997 der Abstand zwischen Ost und West wieder größer wird statt kleiner, und zwar hinsichtlich der wichtigsten wirtschaftlichen Kennziffern und hinsichtlich der Lebensverhältnisse. Gerade hat uns die Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage zur Situation in Ostdeutschland mitgeteilt, dass die seit zehn Jahren versprochene Angleichung der Lebensverhältnisse den Zeitraum einer ganzen Generation brauchen wird. Leider hat sie uns immer noch nicht verraten, auf welchem Wege diese Angleichung erreicht werden soll. Die von der Regierung beschworene wirtschaftspolitische Gesamtstrategie, deren Kern das so genannte Zukunftsprogramm 2000 ist, ist dafür jedenfalls gänzlich ungeeignet. ({0}) Dieses Zukunftsprogramm hieß vor einem Jahr noch Sparpaket ({1}) und sieht die Einsparung von 30 Milliarden DM im Staatshaushalt vor, von denen allein Rentner und Arbeitslose 13 Milliarden DM aufzubringen haben. Berücksichtigt man in diesem Zusammenhang die für Großunternehmen vorgesehenen Steuererleichterungsmilliarden, wird klar, dass es sich um eine gigantische Umverteilung von unten nach oben handelt. ({2}) Auf diesem Wege aber wird es eine Angleichung der Lebensverhältnisse auch in Jahrzehnten nicht geben, es sei denn, die Lebensverhältnisse im Westen gleichen sich denen im Osten an. Ich vermute, eine solche Entwicklung würde weder hier noch dort bei der großen Mehrheit der Bevölkerung auf besonders große Gegenliebe stoßen. Wenn Sie das anstreben, wird es Zeit, dass Sie das den Menschen klar sagen. ({3}) Die PDS hat im vergangenen Jahr einen ausgewogenen und realistischen Fahrplan zur Angleichung der Lebensverhältnisse vorgelegt, der von Ihnen abgelehnt wurde. Das gleiche Schicksal haben Sie unserem Entschließungsantrag zu der erwähnten Großen Anfrage beschert. ({4}) So weit, so schlecht. Aber wo ist Ihre Alternative? Oder rechnen Sie damit, dass die Leute auf Dauer nicht merken, dass Sie etwas anderes tun, als Sie in Ihren Reden versprechen? ({5}) Noch ein Wort zur Förderung des Absatzes ostdeutscher Produkte, die uns wichtig erscheint, aber nur in einem Maßnahmenbündel Chancen hat, die gewünschten Wirkungen zu entfalten. Ein sehr wirksamer und außerdem noch ökologischer Beitrag für eine solche Absatzförderung wäre zum Beispiel, wenn die Regierung dafür sorgen würde, dass ostdeutsche Produkte von den großen Handelsketten auch gelistet würden. Damit würde in Ostdeutschland in sehr kurzer Zeit das völlig überflüssige Angebot bayerischer Joghurts, holländischer Tomaten, irischer Butter und einiges anderes mehr verschwinden, das im Osten ebenso gut oder besser hergestellt werden kann. ({6}) Vom Bischofferöder Kali in meiner Heimatgemeinde will ich in diesem Zusammenhang nur kurz reden. Die Grube hätte noch Jahrzehnte produzieren und zu auf dem Weltmarkt konkurrenzfähigen Preisen exportieren können - auch ohne Absatzförderung. Aber sie wurde ja zugunsten westdeutscher Konzerne platt gemacht. ({7}) Mir geht es um die Schaffung und Förderung regionaler Wirtschaftskreisläufe. Diese wären gleichbedeutend mit der Förderung des Absatzes von Ostprodukten auf höchstem Niveau. Auf diesem Gebiet gäbe es im Rahmen Ihrer - leider nur so genannten - Chefsache Ost eine Menge Erfolg versprechender Dinge zu tun. Meine KalikumWerner Schulz ({8}) pel zu Hause in Bischofferode warten bisher vergebens auf die ihnen versprochenen 700 bis 1 000 Arbeitsplätze. Viele verlassen resigniert ihre Heimatorte in Richtung alte Bundesländer. Das kann doch wohl nicht die Lösung sein. Allein in meinem Heimatort - wir waren einmal knapp 3 000 Einwohner - haben von 1994 an über 600 Einwohner den Ort verlassen. Über 100 Wohnungen stehen leer. Das sind die Probleme, die wir vor Ort zu lösen haben. Und hier wird darüber gestritten, wer das bessere Konzept hat. Machen Sie doch endlich etwas! ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Christian Müller von der SPD-Fraktion.

Christian Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! An Problembeschreibungen von allen Seiten des Hauses hat es nicht gemangelt. Sie sind nahezu komplett, dem muss nichts hinzugefügt werden. Auch Rundumschläge haben wir eben noch über uns ergehen lassen, sodass ich eher dazu kommen möchte, mich mit einigen der hier aufgeworfenen Probleme näher auseinander zu setzen. Zunächst zu dem Problem des Zu-spät-gekommenSeins. Da bin ich eher der Meinung von Herrn Schulz, der sagt: Neue Aspekte sind an dieser Stelle nicht zu erkennen. Ich habe mir im Vorfeld dieser heutigen ersten Debatte zu diesem Thema die Mühe gemacht, zusammenzustellen, was es dazu bisher gegeben hat. Ich kann sagen, es ist reichlich viel. Das meiste ist allerdings von der damaligen Opposition gekommen und nicht von Ihnen. Wir hatten 1992 eine Gemeinschaftsinitiative der neuen Länder, ({0}) bei der die Förderung des Absatzes ostdeutscher Produkte eine sehr wichtige Rolle spielte. ({1}) - Natürlich nicht! Wir haben 1995 eine Außenwirtschaftskonzeption vorgestellt. Wir haben eine interessante Debatte gehabt, die zu dem Punkt geführt hat - unser Kollege Siegmar Mosdorf hatte den herausgefunden -, dass nämlich die damalige Bundesregierung eine Vollblockade bei Hermes dadurch erzeugt hatte, dass 80 Prozent der Wertschöpfungen in Ostdeutschland stattfinden sollten, was nachgerade unmöglich war. Wir hatten eine Große Anfrage zur Globalisierung; wir haben in der 13. Legislaturperiode sogar den Versuch unternommen - offenbar sogar eine Zeit lang gemeinsam -, hier im Hause einen Antrag zustande zu bekommen, von dem die damalige Koalition dann aber wieder abgesprungen ist. Interessanterweise ist das heute in den Datenbanken noch immer falsch enthalten. Das Ganze steht also mindestens in dieser Tradition, insofern muss ich dem Thema „zu spät gekommen“ einfach nichts mehr hinzufügen. ({2}) Wir sind uns darüber einig, dass wir Wachstumsimpulse brauchen, die im Außenmarkt genauso wichtig sind wie im Inneren. Wir haben natürlich die Frage zu behandeln, ob das Exportwachstum uns letztendlich befriedigt oder nicht. Es wird uns nicht befriedigen, aber vielleicht haben auch Sie diese Woche festgestellt, dass die Frühindikatoren, die bisher immer das zunehmende Wachstum der westdeutschen Wirtschaft auswiesen, eine Wende erfahren haben, sodass es sich im Ifo-Geschäftsklimasaldo in Form einer Zunahme von 6 auf 12 Punkte auswirkt. Das heißt, das Klima verbessert sich. Nehmen Sie doch an, dass das ein Ergebnis vernünftiger Regierungspolitik ist. Ich hoffe, Sie können das akzeptieren. ({3}) Herr Krüger meint, wir müssten Rahmenbedingungen schaffen und der Bund dürfe nicht nachlassen. Der Bund lässt nicht nach, das weisen die für die Außenwirtschaftsförderung vorliegenden Bilanzen, die sehr akribisch erstellt werden, aus. Die Regierung Schröder hat die Mittel für die Exportwirtschaft und die Exportförderung verstetigt. Auch dieses Jahr stehen 20 Millionen DM zur Verfügung, und das wird fortgesetzt werden. Was damit angestellt wurde, wissen Sie doch hoffentlich auch: Inlandsmesseförderung als ein wesentliches Element, Besetzung der Leitmessen. Daran haben sich 2 221 ostdeutsche Mittelständler beteiligt. Es klangen hier schon die Vermarktungsprojekte im Ausland an, sowohl die Lieferantenforen als auch die Vermarktungsunterstützung. Als neues Element gibt es natürlich inzwischen auch die Internetpräsentation solcher Projekte. Das sind doch die entscheidenden und wichtigen Schritte, die in dieser Zeit nötig sind. Die Vergabe öffentlicher Aufträge sei erwähnt. 20 Prozent Bundesaufträge sind nach wie vor up to date. Neue Medien und E-Commerce sind im Aufschwung begriffen. Dass dort noch zugelegt werden muss, wissen wir alle. Vergessen Sie bitte nicht die Sonderkonditionen, die Ostdeutschland auch bei der gesamtdeutschen Absatzförderung der Wirtschaft erhält, beispielsweise die Auslandsmesseförderung - immerhin 16 bis 17 Prozent der teilnehmenden Unternehmen kommen aus dem Osten und die Kooperationsförderung. Ich habe nichts gegen die strategischen Allianzen einzuwenden. Dies alles ist sicherlich vernünftig. ({4}) Die Maßnahmen haben sich bewährt. Zunehmend werden die jungen Technologieunternehmen des Ostens - dies ist erkennbar - auf die Außenmärkte drängen. Damit sind wir beim Thema der Außenhandelskammern und der Kooperationen, die dort natürlich notwendig sind. Das spielt auch im Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen eine Rolle. Sie alle erinnern sich noch an unser altbekanntes Drei-Säulen-Konzept der Außenwirtschaftsförderung. Wir müssen bis zum heutigen Tage eine interessante Entwicklung konstatieren, nämlich eine Entwicklung hin zu konkreter Wirtschaftsförderung bei den deutschen Botschaften, hin zu konkreter Wirtschaftsförderung bei den Auslandshandelskammern und auch hin zu konkreter Wirtschaftsförderung durch Information seitens der BfAI. Das lässt erkennen, dass das damals für sich stehende Konzept dieser drei Säulen eigentlich überreif dafür ist, zu einem koordinierten Konzept zusammengeführt zu werden. Das setzt allerdings voraus, dass beim BfAI natürlich nach wie vor kundige Korrespondenten vor Ort unverzichtbar sind; denn die Sekundärinformationen, die man hierzulande aus dem Internet und sonst woher ziehen kann, werden nicht ausreichen. Dafür werden wir uns einsetzen. ({5}) Die Schlussfolgerung daraus ist, dass wir im Interesse der deutschen Wirtschaft und der deutschen Firmen unsere Bemühungen auf den Außenmärkten tatsächlich innerhalb dieser drei genannten Bereiche konzentrieren müssen. Wenn es möglich ist, sollten wir sie demnächst institutionell unter ein Dach bekommen. Wie Sie wissen, haben wir ja nun alle gelegentlich die Möglichkeit, uns die Erfahrungen auch von außen anzuschauen. Vielleicht kann man in diesem Zusammenhang auf die jüngste Reise des Bundestagsausschusses für Wirtschaft und Technologie nach Mexiko verweisen. ({6}) Die Mitglieder der dortigen Auslandshandelskammer haben bei dieser Gelegenheit unterstrichen, dass die deutschen Bemühungen zur Außenwirtschaftsförderung richtig sind und sich auf den Mittelstand konzentrieren sollen, insbesondere auf die ostdeutschen Unternehmen. In diesem Zusammenhang vielleicht noch ein Wort zu den bekannten deutschen Häusern. Sie erinnern immer noch an wirtschaftlich sehr ungleichgewichtige Situationen in den deutschen Bundesländern. Bayern, BadenWürttemberg und Nordrhein-Westfalen werden sicher mit Hilfe ihrer Landesbanken immer in der Lage sein, ({7}) die Interessen ihrer Firmen, vor allem der mittelständischen, durch die Installation derartiger Häuser zu unterstützen. Überall in der Welt gibt es drei oder vier Projekte. Es wachsen welche und in Mexiko kommt noch eines hinzu. Es lohnt sich vielleicht, einmal darüber zu diskutieren und darüber nachzudenken, wie es gelingen könnte, dass die schwachen Länder Deutschlands - das sind nicht nur die ostdeutschen - ihre Kräfte bündeln, um so ihren mittelständischen Firmen mehr Unterstützung zu geben, selbst wenn andere Bundesländer - natürlich auch ostdeutsche - Firmen aufnehmen. ({8}) Ich denke, das wäre ein Ansatz, über den Sie im Rahmen der Debatte über diesen Antrag nachdenken sollten. ({9}) Lassen Sie mich - um dem Ende etwas näher zu kommen - auf Folgendes verweisen. ({10}) - Es ist nicht mein persönliches Ende, sondern das meines Redebeitrags. - Die Debatte, die wir hier führen, würde auf jeden Fall zu kurz greifen, wenn wir sie auf die Instrumente der Außenwirtschaftsförderung verengen würden. Das liegt wohl auf der Hand. ({11}) Entscheidend wird sein, inwieweit es in den nächsten Jahren gelingt, in Ostdeutschland ein Netz innovativer Firmen zu installieren, die erst einmal stabil genug sein müssen, um in den Markt hineinzukommen, und die natürlich in einem nächsten Schritt den Weg auf die Weltmärkte suchen müssen, um voranzukommen. Die Sektoren, in denen dieses stattfinden kann, fallen uns allen sicherlich relativ schnell ein. Das ist entscheidend dafür, ob der Wirtschaftsstandort Ostdeutschland stärker oder schwächer werden wird. Jetzt sind wir bei dem entscheidenden Punkt: Schauen Sie sich bitte die Instrumentarien der Technologieförderung des Bundes an. Die Bundesregierung hat den Ansatz, technologisch interessante Unternehmen voranzubringen, einen Teil der Kosten für Forschungspersonal zu übernehmen. Die Bundesregierung hat auch den Ansatz, die Vernetzung solcher Firmen voranzubringen. In einer Welt, in der die Vernetzung von Tag zu Tag zunimmt, ist ein Überleben auf sich allein gestellter einzelner Unternehmen unmöglich. In diesem Zusammenhang darf ich sehr wohl an das erfolgreiche Projektgeschehen um Inno-Regio erinnern, das überall in Ostdeutschland zu einem Aufbruch geführt hat, der zu solchen Vernetzungsprojekten führt. Das ist die Grundlage, auf der die ostdeutsche moderne Wirtschaft in der nächsten Zeit vorwärts kommen wird. ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit. Es klang so hoffnungsvoll.

Christian Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann, verehrte Frau Präsidentin, komme ich zum Abschluss.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Sehr gut. ({0})

Christian Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich empfehle Ihnen dringend, sich in den Beratungen, die in den verschiedenen Ausschüssen stattfinden werden, zu überlegen, ob Sie sich nicht unserer Richtung anschließen, die - wie ich schon sagte - eine Tradition über die letzten zehn Jahre hinweg hat. Vielen Dank. Christian Müller ({0}) ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat der Kollege Ulrich Klinkert, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist eine der wichtigsten Exportnationen der Welt. ({0}) 1998 hatten wir einen Anteil von immerhin 10 Prozent am Welthandel oder - anders ausgedrückt - fast 30 Prozent des Bruttoinlandprodukts gehen in den Export. Produkte „Made in Germany“ sind weltweit begehrt. Durch die Globalisierung der Weltwirtschaft wird die Wirtschaft in der Bundesrepublik weiterhin gute Chancen zum Expandieren und Exportieren haben. ({1}) Der Export ist seit Jahrzehnten Voraussetzung für wirtschaftliche Stabilität, für Wachstum, für Wohlstand und für Beschäftigung. Leider klafft beim Export nach wie vor eine große Lücke zwischen Ost und West. Darauf haben auch meine Vorredner hingewiesen. Die alten Bundesländer exportieren pro Kopf fast sechsmal so viel wie die neuen Bundesländer. Hier liegt meines Erachtens eine der wichtigsten Aufgaben der Ost-West-Angleichung. Ich wage zu behaupten: Ohne Angleichung der Exportquote wird es keine Angleichung der Lebensverhältnisse geben. ({2}) Dies ist zum einen natürlich eine nationale Aufgabe, bei der die Bundesregierung nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden kann. Dies ist aber auch und nicht zuletzt eine Aufgabe der neuen Bundesländer selbst; denn bei genauem Hinsehen erkennt man, dass es extreme Unterschiede innerhalb der neuen Bundesländer gibt. Während zum Beispiel Sachsen im Jahre 1999 einen Export von immerhin 13,9 Milliarden DM realisieren konnte, exportierte Sachsen-Anhalt gerade einmal für 5,5 Milliarden DM und Mecklenburg-Vorpommern nur für 2,5 Milliarden DM. Anders ausgedrückt: Die Pro-KopfExportrate, die 1994 in allen neuen Bundesländern in etwa gleich war, ist in der Zwischenzeit in Sachsen 50 Prozent höher als in Sachsen-Anhalt und fast doppelt so hoch wie in Mecklenburg-Vorpommern. Sie entwickelte sich seit 1994 in Sachsen auf 234 Prozent und in SachsenAnhalt auf 146 Prozent, während Mecklenburg-Vorpommern überhaupt keine Steigerung vorweisen kann. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass Sachsen eben andere Wege beschreitet als andere Bundesländer. In Sachsen gilt: Erst investieren, dann konsumieren. ({3}) Das ist ein Weg, der in Sachsen erstens zu einer wesentlich geringeren Staatsverschuldung, zweitens zu mehr freien Investitionsmitteln führt. ({4}) - Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, Frau Wittig, dass die Verschuldung der Kommunen in Sachsen höher sei als beispielsweise in Brandenburg. Die Verschuldung der Kommunen in Brandenburg ist mindestens genauso hoch wie in Sachsen, weil es dort unter anderem zum Beispiel höhere Abwassergebühren als in Sachsen gibt. ({5}) Wir haben in Sachsen also mehr freie Investitionsmittel, wir haben auf Dauer eine größere Wirtschaftskraft. Das führt auch dazu, dass wir dort zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen können. Es ist kein Zufall, dass die Staatsschulden von Sachsen-Anhalt, von Mecklenburg-Vorpommern und von Brandenburg doppelt so hoch sind wie die Staatsschulden von Sachsen und dafür die Exportrate in diesen Ländern zum Teil weniger als 50 Prozent beträgt. ({6}) Wir alle kennen die schwierige Ausgangssituation: Nach der Wende ist der Export in den neuen Bundesländern fast völlig zusammengebrochen; denn die DDR war nicht wirklich exportfähig, weil sie eben nicht wettbewerbsfähig war. Mit der Einführung der D-Mark zeigte sich: Die DDR verschleuderte ihre Produkte zum Teil zu weniger als 20 Prozent ihres Herstellungswertes in den Westen - auf Kosten derer, die sie herstellten. Noch gravierender wirkte sich der wirtschaftliche Zusammenbruch der Haupthandelspartner im Osten aus. Diese hatten nach 1991/92 kaum noch Geld für Importe, und wenn sie Devisen hatten, haben sie diese Devisen lieber für einen VW als für einen Trabbi ausgegeben. Trotz dieser schwierigen Ausgangslage haben wir seit 1994 ein deutliches Anwachsen des Exportes von damals 17,2 Milliarden DM auf 36,7 Milliarden DM im Jahre 1998. Allerdings - Kollege Krüger hat darauf hingewiesen - ist der Export seit 1998 drastisch rückläufig, aber nur der Export aus den neuen Bundesländern heraus. Deswegen kann das, Herr Kollege Schulz, auch nicht mit der weltwirtschaftlichen Lage zusammenhängen, denn in den alten Bundesländern konnte der Exportanteil fast in gleicher Höhe gesteigert werden. ({7}) Dies zeigt erstens: Die Schere Ost-West geht seit 1998 wieder auseinander, nicht nur im Bereich des Exportes. Die letzten Arbeitslosenzahlen sind ein weiterer Beweis dafür. Zweitens: Die wirtschaftsfeindlichen Beschlüsse der rot-grünen Bundesregierung ({8}) wirken sich besonders negativ auf die empfindliche Wirtschaft der neuen Bundesländer und damit auch auf den Export aus. ({9}) Die Maßnahmen der Bundesregierung wie etwa das Steuerentlastungsgesetz, das eigentlich ein Steuerbelastungsgesetz ist, das Hin und Her bei der Steuerreform, das Chaos beim 630-Mark-Gesetz und bei der Scheinselbstständigkeit und besonders die so genannte Ökosteuer, zertrampeln die zarte Pflanze der wirtschaftlichen Entwicklung der neuen Bundesländer. ({10}) Sie lähmen die Exportfähigkeit und vergrößern die Arbeitslosigkeit. Da nützen auch noch so viele Runden von Bündnissen für Arbeit nichts. Sie haben bis heute eh zu keinem substanziellen Ergebnis geführt. Das hat die Bundesregierung bisher nicht erkannt oder will es nicht erkennen. Im Gegenteil: Durch finanzielle Kürzungen werden die neuen Bundesländer um Mittel für Investitionen und für Infrastruktur gebracht. Diese Mittel wären allerdings zwingend notwendig, um überhaupt exportfähige Produkte herzustellen. Dass seit Beginn der rot-grünen Regierung die Investitionsförderung in den neuen Bundesländern zurückgeht, ist ein Ausdruck dafür, was Gerhard Schröder darunter versteht, wenn er sagt, der Aufschwung Ost werde zur Chefsache erklärt. ({11}) - Die Abwesenheit der Bundesregierung hier ist ein weiterer Beweis dafür. Lassen Sie mich dies mit einigen Zahlen untermauern: Die Mittel des für die Wirtschaft so wichtigen Förderinstruments der Gemeinschaftsaufgabe Ost betrugen im Jahre 1998 2,75 Milliarden DM, wurden 1999 auf 2,58 Milliarden DM reduziert und werden in diesem Jahr nur noch 2,3 Milliarden DM betragen. Wir haben seit der Amtsübernahme der rot-grünen Bundesregierung also einen Rückgang von 20 Prozent zu beklagen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thalheim? - Bitte sehr.

Dr. Gerald Thalheim (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002311, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Klinkert, Sie haben die Entwicklung der Exportzahlen in Sachsen eindrucksvoll dargelegt. Mich würde interessieren, wie sich der Widerspruch erklärt, dass Sachsen trotz der nach Ihrer Darstellung so schlechten Politik der Bundesregierung für die Zukunft eine so positive Entwicklung der Exportzahlen sieht. Wenn man Ihren Ausführungen folgt, müsste das umgekehrt sein. Vielleicht können Sie diesen Widerspruch aufklären.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Thalheim, zunächst habe ich ganz nüchtern festgestellt, dass die Exportrate in Sachsen um einiges höher ist als in den anderen neuen Bundesländern. ({0}) Sie beträgt aber dennoch nur einen Bruchteil der Exportrate, die in den alten Bundesländern üblich ist und die normalerweise notwendig ist, um einen sich selbsttragenden Aufschwung herzustellen. Und wenn ich dann noch an Ihren Bereich denke, nämlich an die Landwirtschaft, die Sie zurzeit ruinieren, dann sollten Sie sich etwas zurückhalten, wenn es um den Aufschwung Ost geht. ({1}) Ich hatte Ihnen anhand von Zahlen belegt, dass die Infrastrukturförderung von der Bundesregierung zurückgeführt wird. So wichtige Verkehrsprojekte wie die Südumfahrung Leipzig, der Ausbau der A 72, eine ganze Reihe von Ortsumfahrungen und Autobahnzubringern wurden auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Das zeigt den Stellenwert des Aufbau Ost bei dieser Bundesregierung. Leider ist keine Besserung zu erwarten. ({2}) - Ich freue mich, dass Sie das aufregt; das zeigt, dass Sie zumindest darüber nachdenken. Vielleicht sind Sie ja auch noch in der Lage, daraus die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen. ({3}) Während der Bund die Ausgaben für das Bundesfernstraßennetz nach 2002 insgesamt zwar um 23,7 Prozent erhöhen wird, wird es in den neuen Bundesländern, die strukturell noch immer wesentlich schlechter ausgestattet sind, zu einer Kürzung von 26 Prozent kommen. Infrastruktur als Voraussetzung für Investitionen wird von RotGrün also extrem vernachlässigt. ({4}) Trotzdem wird der Export in den neuen Bundesländern wachsen. Es gibt hoffnungsvolle Zeichen wie die Inbetriebnahme des Interkontinentalflughafens in Leipzig, das in der Nähe im Aufbau befindliche Montagewerk von Porsche, die Erweiterung von Infineon in Dresden, die Inbetriebnahme von AMD und viele andere Beispiele mehr. Dadurch werden Arbeitsplätze geschaffen, die den Export sehr stark ankurbeln werden. ({5}) Ich sagte bereits: Die Wirtschaft und der Export in den neuen Bundesländern sind noch nicht selbsttragend. Deswegen sollte die Bundesregierung ihre Strategie der „Vernachlässigung Ost“ überdenken. ({6}) Für mehr Export und für mehr Arbeitsplätze, für die Angleichung der Lebensverhältnisse über die Angleichung der Exportrate brauchen wir erstens eine direkte Exportförderung, was in unserem und zum Teil auch in Ihrem Antrag zum Ausdruck kommt, zweitens brauchen wir eine verbesserte Infrastruktur und vor allen Dingen brauchen wir mehr Investitionen. Herzlichen Dank. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat der Staatsminister Rolf Schwanitz das Wort.

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Trotz allem Pulverdampf möchte ich zunächst einmal herzlichen Dank an alle Vorredner und an all diejenigen sagen, die Anträge eingebracht haben. ({0}) Eines eint offensichtlich alle Diskussionsteilnehmer. Die Förderung des Absatzes ostdeutscher Produkte, des Exportes ist ein zentraler Punkt, der nicht vernachlässigt werden darf. Das sieht die Bundesregierung genauso. Deshalb: Herzlichen Dank! ({1}) Trotzdem muss ich ein paar kritische Bemerkungen mit Blick auf einige polemische Äußerungen machen. Herr Klinkert, wir hatten gestern in Dresden zum zweiten Mal eine gemeinsame Kabinettssitzung mit der Sächsischen Staatsregierung. Wir haben solche Sitzungen mit allen Staats- und Landesregierungen im Osten durchgeführt. Ich habe noch keine solche Sitzung erlebt, in der wir als Bundesregierung für unsere Leistungen beim Aufbau Ost so gelobt worden sind wie in der gestrigen. Das war eine ordentliche Geschichte. ({2}) Wir wurden beispielsweise dafür gelobt, dass wir die A 17 - sie wissen, wie wichtig das für die Sächsische Staatsregierung war -, ({3}) deren Finanzierung völlig ungeklärt war, mit einer EFRE-Finanzierung abgesichert haben. Das Ganze steht. Das Gleiche gilt für den zweiten Bauabschnitt der Südumfahrung Leipzig, die im Anti-Stau-Programm enthalten ist. Wir sind mit der Staatsregierung in Verhandlungen, die gute Fortschritte machen, darüber, eine so genannte Pauschalvereinbarung über die Sanierung von ökologischen Altlasten abzuschließen. Wir verschließen uns - im Gegensatz zu der Vorgängerregierung, an der Ihre Partei, Herr Klinkert, beteiligt war - nicht der dringend notwendigen Sanierung der Wismut-Altstandorte, auch wenn wir dazu nicht verpflichtet sind. Das sind ordentliche Sachen. Ich würde Ihnen empfehlen, darüber einmal mit der Staatsregierung zu reden. ({4}) ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Staatsminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage? ({0})

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Gern. ({0})

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schwanitz, wenn Sie schon von so viel Lob seitens der Sächsischen Staatsregierung berichten können, möchte ich fragen: Sind Sie denn auch dafür gelobt worden, dass diese Bundesregierung das 1997 abgeschlossene Bund-LänderVerwaltungsabkommen für die Braunkohle vertragswidrig um jährlich 50 Millionen DM kürzt? ({0})

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Herr Kollege, das ist gestern von der Staatsregierung nicht angesprochen worden. ({0}) Auch zu Ihnen, Herr Krüger, möchte ich eine Bemerkung machen: Sie haben etwas gemacht, was im Ausschuss für die Angelegenheiten der neuen Länder schon eine Rolle gespielt hat und was ich nicht unkommentiert stehen lassen möchte. Sie haben in Ihrer Rede ausgeführt, der Osten würde konjunkturell abgekoppelt. Ich muss darum bitten, in diesen schwierigen Fragen in den Argumenten sachlich und in der Analyse tiefgründig zu bleiben. ({1}) Von den Instituten gibt es unterschiedliche Prognosen. Danach ist es nicht völlig sicher, ob wir im Jahr 2000 gesamtwirtschaftlich - wie in den letzten drei Jahren, für die wir nicht verantwortlich waren - in den neuen Bundesländern ein etwas schwächeres Wachstum als in den alten Bundesländern oder ein gleich großes Wachstum in den neuen und den alten Ländern haben werden. Letzteres hat uns der Sachverständigenrat im Herbstgutachten prognostiziert. Das Ergebnis ist völlig offen. Aber, Herr Krüger, das ist anders, als Sie es dargestellt haben. Ihre Ausführungen waren nostalgisch auf die Wachstumsrate Mitte der 90er-Jahre ausgerichtet, wo der Osten fast 10 Prozent gesamtwirtschaftliches Wachstum hatte. Die Bundesregierung sagte damals, es handle sich um die Wachstumsregion Nummer eins in Europa. Ich höre diese Worte heute noch. Die damalige Entwicklung war ausschließlich hochgezüchtet durch Investitionsförderungsmittel. Es hat - wie Sie wissen - große FehlallokaUlrich Klinkert tionen gegeben. Es handelte sich um ein aus der Bauwirtschaft gespeistes Wachstum. Die übrige Industrie lag danieder. Das hat sich grundlegend geändert. Darüber bin ich froh. Unser jetziges Wachstum in Ostdeutschland kommt aus der Industrie und dem industrienahen Dienstleistungsbereich. Dort haben wir seit ungefähr 3 Jahren ein doppelt so starkes Wachstum wie in den alten Bundesländern - seit Mitte 1998 ist das übrigens auch mit Arbeitsplatzzuwachs verbunden. Das ist die richtige Richtung und das darf man nicht verschweigen. ({2}) Auch zum Export möchte ich noch ein paar Zahlen nennen, wobei ich mich auch auf die von Ihnen in der Vergangenheit herangezogenen Zahlen beziehe, nämlich die des Statistischen Bundesamtes. Dabei ist für das Jahr 1999 völlig richtig zu konstatieren, dass wir im verarbeitenden Gewerbe eine Exportquote von knapp 19 Prozent hatten. Das ist, an der Ausgangsposition gemessen - viele haben angesprochen, dass wir 1994 eine Exportquote von etwas über 11 Prozent hatten -, eine positive Entwicklung, die uns aber keinesfalls zufrieden stellen kann. In den alten Bundesländern liegt der Wert bei über 35 Prozent. Das macht deutlich, welch weiter Weg noch vor uns liegt und dass wir in der Unterstützung der ostdeutschen Wirtschaft nicht nachlassen dürfen. ({3}) Beim Exportgeschäft haben wir in den neuen Bundesländern ein Wachstum von 10,5 Prozent. In den alten Bundesländern lag das Wachstum 1999 bei 5,9 Prozent. Wir haben also auch beim Exportumsatz eine Wachstumsquote, die in den neuen Bundesländern doppelt so groß ist wie in den alten Bundesländern. ({4}) Meine Damen und Herren, Ähnliches gilt auch für das Inlandsgeschäft. Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes betrug das Wachstum im Westen circa 1 Prozent, in den neuen Bundesländern 5 Prozent. Im verarbeitenden Gewerbe haben wir in den neuen Bundesländern einen wesentlich stärkeren Wachstumsimpuls. Das ist eine gute Entwicklung. Dass das Exportgeschäft um 10 Prozent wächst, während das Inlandsgeschäft im Osten um 5 Prozent wächst, dass also das Exportgeschäft doppelt so stark angestiegen ist, ist eine gute und Mut machende Entwicklung. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Schwanitz, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehnel? - Herr Dehnel, bitte schön.

Wolfgang Dehnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000366, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schwanitz, Sie haben gerade von Wachstum gesprochen. Erklären Sie mir bitte, wie es in Ihrem Wahlkreis, dem vogtländischen Wahlkreis, dazu kommen konnte, dass er bis 1998 hinsichtlich der Beschäftigungssituation in den neuen Bundesländern einen Spitzenplatz einnahm, nämlich an erster, zweiter oder dritter Stelle, noch vor Dresden, stand und jetzt auf einen Mittelplatz zurückgefallen ist. Da Sie von Wachstum sprechen: Wie konnte das passieren?

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Herr Dehnel, das liegt daran, dass im Vogtland zwei grundsätzliche Erscheinungen zu beobachten sind, zum einen eine hoch leistungsfähige und gute Arbeitsverwaltung, die mit vielen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten unterstützt, und zum anderen - das können wir in allen ehemaligen Grenzregionen beobachten - eine enorme Pendlerbewegung, die die Arbeitsmarktstatistik entsprechend schönt. Es pendelten in der Vergangenheit aus diesem Gebiet dreimal so viel Leute, als es in anderen Arbeitsamtsbezirken der Fall ist. Das sieht man natürlich nicht in der Statistik. Das gehört aber zur Realität. Auch für meinen Wahlkreis im Vogtland, Herr Dehnel, gilt - da stelle ich Ihnen gern noch einmal Informationen der Industrie- und Handelskammer zur Verfügung -, dass es einen Arbeitsplatzzuwachs in der Industrie und im verarbeitenden Gewerbe gibt. Das ist eine positive Sache. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schwanitz, Herr Dehnel möchte eine weitere Frage stellen, wenn Sie erlauben.

Not found (Gast)

Ich habe jetzt noch eine Redezeit von 1 Minute und 40 Sekunden. Ich möchte gern noch zwei grundsätzliche Bemerkungen machen. Sie können ja eine Kurzintervention machen. Dann stehe ich Ihnen zur Verfügung. ({0}) Die erste Bemerkung. Sie von der CDU/CSU-Fraktion haben in Ihrem Antrag geschrieben, die Dienstleistungsförderung müsse in die Absatzförderung integriert werden. Darüber sollten wir im Ausschuss noch einmal reden. Das ist aus meiner Sicht schon längst - übrigens zu Ihrer Zeit - erfolgt. Wir haben in den Vermarktungshilfen eine Öffnung vorgesehen. Selbst reine Dienstleistungen können im Vermarktungshilfeprogramm gefördert werden. Da kennen Sie offensichtlich das eigene Programm nicht mehr. Damit rennen Sie offene Türen ein. Wir stehen selbstverständlich für einen Dialog zur Verfügung. Ich möchte noch eine zweite Bemerkung machen. Es ist völlig richtig darauf hingewiesen worden, dass das keine Einzelleistung des Bundes ist, sondern ein Gemeinschaftswerk aller. Deswegen ist es ganz wichtig - ich bin froh darüber -, ({1}) dass sich im Bündnis für Arbeit die Bündnispartner, insbesondere die Vertreter der Wirtschaft, verpflichtet haben, ihr Engagement nicht zurückzunehmen, sondern die ganze Palette der Maßnahmen für die Unterstützung der ostdeutschen Wirtschaft und die Unterstützung des Absatzes einzusetzen. Auch das ist völlig richtig. Ich möchte zum Schluss noch einmal das aufgreifen, was Herr Müller sagte. Das gehört natürlich dazu. Das Problem, das wir haben, ist viel zu komplex, als dass wir es nur über Absatzförderungen im engeren Sinne lösen könnten. Es geht um Marktpositionen, es geht um Preisstrategien. Es geht um die Position in der Wertschöpfungskette, ob man vorne in der Kette ist und international mit den entsprechenden Wertvolumina Preise realisieren kann oder ob man Niedrigpreisstrategien einsetzen muss. Das sind die Dinge, die viel mit Innovation und Ähnlichem zu tun haben. Deswegen gehört in den Gesamtzusammenhang das hinein, was wir mit dem Programm „FUTOUR 2000“, mit dem Programm „Inno-Net“ zur Verknüpfung von Netzwerken oder beispielsweise mit „Inno-Regio“ getan haben. In dieser Komplexität gehen wir die Dinge an. Damit sind wir auf einem guten Weg. Schönen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2911 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung soll beim Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder liegen. Die Vorlage auf Drucksache 14/3094 soll an die gleichen Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Über- weisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkte 9 a bis c auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung ({1}) des Rates über die freiwillige Beteiligung von Organisationen an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung - Drucksachen 14/488 Nr. 2.58, 14/1131 Berichterstattung: Abgeordnete Marion Caspers-Merk Bernward Müller ({2}) Birgit Homburger b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Ulrike Flach, Hildebrecht Braun ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Erhöhung der Attraktivität des freiwilligen Umweltaudits durch Deregulierung - Drucksachen 14/570, 14/2030 Berichterstattung: Abgeordnete Marion Caspers-Merk Bernward Müller ({5}) Ulrike Flach c) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Umweltcontrolling und Umweltmanagement in Bundesbehörden und Liegenschaften - Drucksache 14/2907 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. - Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Marion Caspers-Merk von der SPD-Fraktion das Wort.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute von den Regierungsfraktionen vorgelegten Antrag zu Umweltcontrolling und Umweltmanagement wird das Ziel verfolgt, dass der Staat das, was er schon lange von seinen Bürgerinnen und Bürger verlangt, auch selber macht: Alle staatlichen Ebenen sollen in Zukunft nachhaltiger mit unseren Ressourcen umgehen. Durch ein konsequentes Umweltmanagement können nämlich die öffentlichen Verwaltungen die Umwelt und die knappen öffentlichen Kassen spürbar entlasten. Es gibt bereits eine ganze Reihe von Städten und Einrichtungen der Länder, die gezeigt haben, wie man die Umwelt erfolgreich schützt und dabei bares Geld spart, das an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt werden kann. Das Neue an diesem Umweltcontrolling-Instrument ist, dass es nicht nur in den eng mit dem Umweltministerium verbundenen Bereichen eingesetzt wird, sondern alle Ressorts und Bundesbehörden verpflichtet, das Ihrige zu tun, um einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen durchzusetzen. Das halten wir für einen Fortschritt im Hinblick auf eine Nachhaltigkeitsstrategie für Deutschland. ({0}) Wie groß die Potenziale für mehr Umweltschutz in den öffentlichen Verwaltungen noch sind und welche Erfolge bereits erzielt wurden, ist nachlesbar und nachprüfbar. So werden beispielsweise in den deutschen Städten jährlich pro Einwohner umgerechnet rund 60 DM für Energiekosten der kommunalen Liegenschaften ausgegeben. Allein durch ein effizientes Energiemanagement ließen sich von diesem Betrag 10 DM einsparen. Das macht bei einer Stadt mit 100 000 Einwohnern 1 Million DM pro Jahr aus. Auf die Stadt Heidelberg zum Beispiel trifft das genau zu; dort wird dieses Instrument auch schon angewendet. Aber auch beim Wasserverbrauch kann man die Kosten um bis zu 45 Prozent reduzieren, beim Abfall um bis zu 50 Prozent. Diese Beispiele zeigen, dass Umweltschutz, ökonomisch sinnvolles Wirtschaften und soziale Verantwortung durchaus zusammengehen können. Einerseits Einsparpotenziale zu schaffen und andererseits sinnvolle ökologische Investitionen zu tätigen ist das Ziel des gemeinsam von den Bundestagsfraktionen Bündnis 90/Die Grünen und SPD erarbeiteten Antrags. So halten wir es für wichtig zu prüfen, wie im Rahmen der Flexibilisierung der Haushaltsführung und auf der Basis der vorhandenen Personalkapazitäten ökonomische Anreize zu mehr Umweltschutz in den Bundesbehörden geschaffen werden können. So könnte die Einführung eines Umweltcontrolling im Rahmen der Bewilligung sowie Verteilung von Haushaltsmitteln berücksichtigt werden. Nachgewiesene Einsparungen könnten anteilig zur dezentralen Ressourcenbewirtschaftung zur Verfügung gestellt werden. Warum sollen, liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich immer nur Gratifikationen für die Erfindung des 99. Formblatts zur angeblichen Effizienzsteigerung gegeben werden, wo es doch so viel einfacher ist, konkrete Einsparziele mit Gratifikationen zu belohnen? ({1}) Es gibt ein erfolgreiches Instrument, das zum Beispiel schon in einigen Schulen und Städten praktiziert wird. Dieses Projekt heißt „fifty-fifty“. Ich glaube, es wurde von Hamburger Schulen erfunden. Dort bekommen die Schulen ihr eigenes Budget für Energie. Wenn sie dieses Budget unterschreiten, wird die eingesparte Summe zwischen der Schule und der Senatsverwaltung geteilt. Das ist ein ganz konkreter Beitrag, damit auch schon unsere Kinder lernen, sinnvoll mit Ressourcen umzugehen. Das spart natürlich auch Bewirtschaftungskosten, die normalerweise die Kommune zu zahlen hat. Wir alle wissen, dass wir mit öffentlichen Gütern nur dann sparsam umgehen, wenn wir finanziell dazu einen Anreiz haben. Das ist die Grundidee, die hinter dem Instrument Umweltmanagement und Umweltcontrolling steht. Ein systematisches Umweltmanagement in allen Bundesbehörden und Liegenschaften, das sich nicht nur auf die Beschaffung bezieht, wollen wir mit diesem Antrag erreichen. Dabei sollten die erzielten Einsparungen nicht in irgendwelchen Säcken verschwinden, sondern für ökologische Ziele wieder ausgegeben werden. So könnte beispielsweise ein Teil der eingesparten Ausgaben dafür verwendet werden, Strom aus erneuerbaren Energien zu beziehen. Auch sollte publiziert werden, wie groß die Einsparungen pro Jahr sind. ({2}) Erste Versuche in den Behörden gibt es bereits. Das Umweltbundesamt baut derzeit ein Umweltmanagement auf. Aber auch im Bereich des Wirtschafts-, des Forschungs- und des Sozialministeriums werden bereits entsprechende Projekte durchgeführt. Für mich war besonders interessant zu lernen, dass beispielsweise die Bundeswehr ein Energiemanagement in all ihren Standorten einführen will. Wir erinnern uns: Auch die Bundeswehr ist mit ihren 700 Standorten ein großer Energieverbraucher. ({3}) Wir wollen mit diesem Antrag unterstreichen, dass dies der richtige Weg ist. Entscheidende Hilfe, diese positiven Ansätze zu verstärken, werden wir durch das Handbuch „Umweltcontrolling im Bereich der öffentlichen Hand“ erhalten, das derzeit im Auftrag des Bundesumweltamtes erstellt wird. Wie ein Leitfaden wird es den öffentlichen Einrichtungen dabei helfen, ein Umweltcontrolling und, nach einer entsprechenden Novellierung der EMAS-Verordnung, ein Umweltmanagementsystem systematisch einzuführen. Damit haben wir einen weiteren wichtigen Baustein zur Integration des Umweltgedankens in allen Ressorts und eine hervorragende Möglichkeit zu zeigen, dass Umweltschutz zu mehr Effizienz beitragen kann und eben auch Kosten spart. Wir als Bund wollen deshalb ein Stück weit ein Vorbild sein. Wir wünschen uns - hierbei schaue ich in Richtung Opposition -, dass Sie vielleicht bei den von Ihnen geführten Ländern dafür sorgen, dass das, was der Bund macht, auch in den Landesverwaltungen umgesetzt wird. ({4}) Ich fände es zumindest sehr gut, wenn wir hier einen gemeinsamen Anlauf machten; denn ich halte es für wichtig, dass wir uns bei allem, was uns trennt, in Bezug auf die Notwendigkeit, Ressourcen zu schonen, doch immer einig waren. Deswegen ist dieser Antrag im Umweltausschuss von allen Fraktionen begrüßt worden. ({5}) Europaweite Unterstützung finden wir für unsere Idee in EMAS II; denn darin wird der Anwendungsbereich der EG-Verordnung über die freiwillige Beteiligung von Organisationen an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und das Umweltaudit auf gewerbliche Dienstleistungsunternehmen sowie auf die öffentliche Hand erweitert. Die Zahlen der in Deutschland zertifizierten Betriebe sprechen für sich. Allein 1 900 ÖkoauditStandorte gibt es in der Bundesrepublik. Das sind 75 Prozent aller Registrierungen in Europa. Damit nimmt Deutschland eine Vorreiterrolle und auch eine Vorbildfunktion beim Ökoaudit ein. Doch das bundesdeutsche und europäische Ökoaudit kann nur dann wirklich erfolgreich sein, wenn europaweit einheitliche Kriterien und Maßstäbe geschaffen werden und wenn das Instrument auch bei den europäischen Nachbarn mehr Akzeptanz erhält. Das soll nun mit EMAS II geschehen. Damit werden gleichzeitig mehrere Ziele verfolgt. Wir wollen zum Beispiel, dass das Verhältnis zwischen EMAS und den internationalen ISO-Normen endlich bereinigt wird. Wer zum Beispiel die höherwertige Anforderung erfüllt hat, erwirbt die ISO-Zertifizierung automatisch. Wir wollen, dass ein Logo eingeführt wird. Wir wollen mehr Öffentlichkeitswirksamkeit, mehr Transparenz, aber auch mehr Kohärenz bei der Umsetzung in den einzelnen Mitgliedstaaten. ({6}) In einer Beschlussempfehlung des Umweltausschusses haben wir uns dafür ausgesprochen, dass wir diese Elemente bei einer Novellierung auf der europäischen Ebene durchsetzen wollen. Es bestand in einigen Punkten Übereinstimmung. In anderen Punkten konnten wir uns nicht einigen. Frau Kollegin Homburger, es ist klar, dass der Antrag der F.D.P. natürlich noch weiter gehende Forderungen stellt, zum Beispiel bei der Absenkung der Standards bei Genehmigungen und bei der Kontrolle und Überwachung von Betrieben. Diese sind aber mit den Regelungen und Erfahrungen mit dem Ökoaudit nicht zu begründen und werden deshalb von uns abgelehnt. Wenn man sich einmal anschaut, was angesichts der gemeinsamen Beschlüsse im Umweltausschuss von Ihrem Antrag übrig bleibt, dann kann man nicht begreifen, warum Sie Ihren Antrag noch zur Abstimmung stellen; denn es handelt sich nur noch um wenige Forderungen, die eigentlich das Einbringen dieses Antrages nicht begründen. ({7}) Es wäre für uns wichtig gewesen, wenn wir hinsichtlich unserer gemeinsamen Forderungen bezüglich Europa enger zusammengearbeitet hätten; denn alle Parteien sind bestrebt, die Attraktivität des Ökoaudits zu erhöhen. Alle haben nämlich erkannt, dass dies eine neue Form des Public Managements sein wird. Es gilt, dieses neue Instrument voranzubringen und zu unterstützen. Zielführend ist dabei sicherlich die gemeinsame Beschlussempfehlung des Ausschusses und der Antrag der Regierungsfraktionen zum Umweltcontrolling. Dieses neue Instrument verbessert auch die Akzeptanz bei den Betrieben dadurch nämlich, dass die öffentliche Hand im besten Sinne das vormacht, was sie von allen anderen - Betrieben, Bürgerinnen und Bürgern - einfordert. Deswegen haben wir mit dem vorgelegten Antrag und mit unserer gemeinsamen Entschließung im Umweltausschuss dafür Sorge getragen, dass dieses moderne Managementinstrument endlich die Verbreitung erfährt, die es verdient. ({8}) Ich wünsche mir, dass im Zusammenhang mit dem Umweltcontrolling und Umweltmanagementsystem der sperrige Begriff Ökoaudit, über den viele Geschäftsführer, aber auch viele andere stolpern, in Deutschland durch einen besseren Begriff ersetzt wird, damit jedem klar ist, was damit gemeint ist. Lassen Sie mich noch eine kritische Bemerkung machen. Natürlich wendet sich der Antrag zunächst einmal an Ministerien und Bundesbehörden. Aber auch im Parlament und in der Verwaltung ist diesbezüglich einiges zu tun. Vielleicht haben wir dort einen Anstoß zur Veränderung gegeben. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Bernward Müller von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Bernward Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was lange währt, wird endlich gut, sagt jedenfalls der Volksmund. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass diese Weisheit auf unser jetziges Thema, das Ökoaudit, zutrifft. Vielmehr drängt die Zeit. Möglichst vielen Unternehmen die Möglichkeit zu geben, sich am Ökoaudit zu beteiligen, die Attraktivität dieses freiwilligen Umweltmanagements zu steigern, seine Effizienz zu erhöhen sind Ziele, die wir fraktionsübergreifend gemeinsam verfolgen. ({0}) Die Debatte, die wir heute endlich führen, hätte ich mir zu dem Zeitpunkt gewünscht, ({1}) als wir in diesem Hause die Umweltpolitik der Bundesregierung debattiert haben. Darf ich daher die Damen und Herren von der Regierungskoalition, auch wenn es Sie schmerzt, ({2}) noch einmal an die Aktuelle Stunde vom 16. März erinnern? Damals mussten Sie sich zu Recht den Vorwurf gefallen lassen, dass die Bilanz Ihrer bisherigen Umweltpolitik schlichtweg jämmerlich ist. ({3}) Der Umweltsachverständigenrat war in seinem neutralen Gutachten zu dem Schluss gekommen: „Unter einem bündnisgrünen Umweltminister bestehen erhebliche Mängel beim Naturschutz.“ Auch die jetzige Debatte um EMAS und den Antrag der F.D.P. zur Steigerung der Attraktivität des freiwilligen Umweltaudits ist ein passendes Beispiel für die Untätigkeit ebendieser rot-grünen Regierung. ({4}) Unstrittig ist: Das Ökoaudit ist ein wichtiges Instrument der freiwilligen betriebsinternen Selbststeuerung von Unternehmen. Folgt man dem aktuellen Umweltgutachten, so könnten wir uns in Deutschland auf die Schultern klopfen. Es wurde gerade schon gesagt: Etwa 75 ProMarion Caspers-Merk zent aller in der EU registrierten EMAS-Standorte befinden sich in Deutschland. Das sind rund 2 300 Unternehmen. Das ist ein Ergebnis, das größtenteils unter der alten Bundesregierung erreicht wurde. ({5}) Doch dieser Befund ist durchaus kein Anlass zum Schulterklopfen. Vielmehr zeigt er, dass sich EMAS in Europa - von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen - nicht etablieren konnte. Auch in Deutschland nimmt die Zahl der nach der weniger strengen Norm ISO 14001 registrierten Unternehmen immer weiter zu. Es ist höchste Zeit, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Darauf zielt der Antrag der F.D.P. Er wurde, meine Damen und Herren von Rot-Grün, schon im März des vergangenen Jahres in Druck gegeben. Was ist seitdem passiert? Im Juni, drei Monate später, wurde über den Antrag im Plenum debattiert. Im November wurde der Antrag im Umweltausschuss mit Mehrheit der Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der PDS abgelehnt. Nun, ein Jahr später, wird diese Beschlussempfehlung hier im Plenum behandelt. ({6}) Währenddessen sinken die Zertifizierungen nach EMASGrundsätzen und die weniger anspruchsvolle ISO 14001 setzt sich in Europa durch. Ich frage Sie: Entspricht das noch den hehren Zielen gerade der Umweltpolitik der Grünen? Lösen Sie damit Ihren Anspruch ein, die Umweltpolitik aufzuwerten? ({7}) Nein, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, bei Ihrer Orientierung auf Ökosteuer und vermeintlichen Atomausstieg, der irgendwie nicht so recht stattzufinden scheint, ({8}) haben Sie viele andere wichtige Aspekte der Umweltpolitik einfach verschlafen. ({9}) Ihr umweltpolitisches Handeln beschränkt sich auf Bestandsaufnahmen, Ankündigungen und Absichtserklärungen. Regieren heißt aber, Verantwortung zu übernehmen, heißt handeln und dazu fehlen Ihnen der Mut und gewiss auch die Kompetenz. ({10}) Nennen Sie mir zum Beispiel einen Grund, warum Sie entgegen Ihren Ankündigungen in der Beschlussempfehlung zum F.D.P.-Antrag - immer noch nicht die Umsetzung der IVU-Richtlinie in ein Artikelgesetz vorgenommen haben, und das, obwohl Sie wissen, dass die Frist mittlerweile schon abgelaufen ist. Sie haben auch das ganz einfach verschlafen. ({11}) - Sie haben es ja aufgenommen. Sie haben sich selbst festgelegt. Jetzt antworten Sie, man arbeite daran, einschlägige Fachgesetze seien „baldmöglichst“ zu erwarten. Aber ich frage Sie: Was ist „baldmöglichst“? Ich denke, in Anlehnung an Ihren „sofortigen“ Atomausstieg kann uns bei Ihrem „baldmöglichst“ vom Tempo her auf jeden Fall nicht schwindelig werden. ({12}) Übrigens: Auch die Umweltministerkonferenz hat im Oktober des letzten Jahres auf die Wichtigkeit einer solchen rechtlichen Klärung hingewiesen - die Länder handeln ja mittlerweile - und hat die Umsetzung der IVURichtlinie und die damit verbundene Privilegierungsverordnung zum Ökoaudit angemahnt. ({13}) Ich denke, dass es notwendig ist, auch das Umweltmanagementsystem weltweit einzuführen und zu unterstützen bzw. seine Einführung zu beschleunigen. Deregulierung ist ein entscheidender Schlüssel zur Steigerung der Attraktivität dieser Systeme. Deregulierung setzt aber Verantwortung und Vertrauen in das umweltgerechte Handeln der registrierten Unternehmen voraus. Dazu, meine Damen und Herren, sind Sie aus ideologischen Gründen nicht bereit und auch nicht fähig. Wenn wir an die großen Erfolge von Ökoaudit unter der letzten Bundesregierung anknüpfen wollen, können wir mit den notwendigen Veränderungen nicht warten, bis sich auch das letzte EU-Land am EMAS beteiligt. ({14}) Verfestigt sich die Stagnation, die wir schon heute bei der Zertifizierung von Unternehmen zu verzeichnen haben, wird das ganze Managementsystem gefährdet. Es besteht erheblicher Handlungsbedarf, und zwar muss das zügig geschehen. Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, stimmen dem Antrag der F.D.P. zu, weil er in die richtige Richtung weist. Ich nenne drei Punkte: Erstens. Vernetzung von ISO 14001 und Ökoaudit, sodass Aufwendungen für eine doppelte Bearbeitung durch die Unternehmen entfallen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Müller, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Paziorek?

Bernward Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Paziorek.

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Müller, stimmen Sie mir zu, dass es ein Zeichen für den geringen Einsatzwillen der Regierung ist, dass bei diesem wichtigen Umweltthema kein Vertreter der Bundesregierung anwesend ist, und dass es bedauerlich ist, dass die Bundesregierung hier dokumentiert, dass dieses Thema nicht gerade wichtig genommen wird? ({0})

Bernward Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Paziorek, ich stimme Ihnen selbstverständlich zu. Wir konnten in der letzten Woche bereits feststellen, dass Umweltminister Trittin eigentlich nur ein Thema verfolgt, nämlich den Ausstieg aus der Atomenergie. Bei anderen Debatten fehlt ihm das nötige Engagement und das merkt man auch heute hier. ({0}) Ich will den zweiten Punkt nennen, der notwendig ist - deshalb unterstützen wir den Antrag der F.D.P. -: Es sind das die Deregulierungsmaßnahmen, natürlich verbunden mit Entbürokratisierung. Ich kann mich an die Debatte mit Herrn Kollegen Hermann erinnern, der darauf hingewiesen hat, wie wichtig der Unterschied zwischen Deregulierung und Entbürokratisierung ist. Außerdem brauchen wir Erleichterungen bei den Genehmigungsverfahren. Es hat sich auch gezeigt, dass es sich aus umweltpolitischen Gründen empfiehlt, Ökoaudit-Betrieben Vollzugserleichterungen zu gewähren. Alles in allem müssen wir doch hier feststellen: Unsere Unternehmen brauchen mehr Anreize zur Teilnahme am Ökoaudit. Die erweiterten Forderungen der Regierungskoalition deswegen können wir Ihrem Antrag nicht ohne weiteres zustimmen - zum Beispiel an die Verfügbarkeit der Umwelterklärung oder die Überprüfungsverschärfung der registrierten Betriebe sind nicht teilnahmefördernd, sondern stellen den Unternehmen neue bürokratische Hürden in den Weg.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Müller, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Loske?

Bernward Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte Sie fragen, Herr Abgeordneter Müller, ob Sie mit mir der Meinung sind, dass die Anwesenheit der Staatssekretärin Altmann aus dem Umweltministerium ein deutlicher Ausdruck der Tatsache ist, dass sich das Umweltministerium sehr für dieses Thema interessiert. ({0})

Bernward Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Loske, ich muss feststellen: Als Herr Paziorek auf das Fehlen der Regierungsvertreter hingewiesen hat, war die Kollegin Altmann nicht anwesend. ({0}) Kommen wir zurück zum Thema. Unter den Verbesserungswünschen der Teilnehmer am Ökoaudit rangieren gerade ein verändertes Verhältnis zu den Behörden und die administrative Entlastung durch die Reduzierung von gesetzlichen Mess- und Berichtspflichten ganz vorn. Das sollte uns ein Alarmzeichen sein, hier endlich tätig zu werden. Denken Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, doch einmal über eine Begünstigung der auditierten Betriebe im Rahmen Ihres Lieblingsthemas, der Ökosteuer, nach. Denken Sie auch über die Behebung eines weiteren viel bemängelten Defizits nach: des geringen Bekanntheitsgrades dieser Zertifizierung in der Öffentlichkeit. Nach einer repräsentativen Umfrage des Umweltbundesamtes im letzten Herbst herrscht hier erheblicher Verbesserungsbedarf. Vielleicht eine Empfehlung: Noch besser wäre es, Sie denken nicht nur, sondern handeln bei dieser Gelegenheit auch einmal, am besten zügig und verantwortungsvoll für die Umwelt, wie Sie es Ihren Wählern versprochen haben. Noch etwas zum Schluss: Ich denke, mehr als in einem kurzen Schlusswort braucht man auf Ihren eingangs so ausführlich dargestellten Antrag nicht einzugehen. Wenn ich Ihnen auch Handlungsarmut und Untätigkeit vorgeworfen habe, so haben Sie es doch geschafft, noch kurz vor dieser Debatte im März einen Antrag zum Thema „Umweltcontrolling und Umweltmanagement in Bundesbehörden“ einzubringen. Wir unterstützen diesen Antrag. ({1}) Das haben Sie schon erwähnt und das haben wir auch im Ausschuss so besprochen. Unverständlich und - das sage ich ganz deutlich - nicht nachahmenswert ist aber, dass Sie die Wahl zwischen EMAS II und ISO 14001 offen lassen. Ich hätte mir da schon gewünscht, dass Sie EMAS aufgrund seiner Bedeutung definitiv für verbindlich erklärt hätten. ({2}) Dass Sie das nicht getan haben, kann ich mir nur so erklären, dass Sie von der europäischen Norm selber nicht mehr überzeugt sind. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Winfried Hermann vom Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Müller, ich bin immer wieder aufs Neue überrascht, mit welchem Engagement, mit welcher Begeisterung und mit welcher Ungeduld die CDU/CSU - zumindest ein kleiner Kreis - Umweltpolitik macht, seit Sie in der Opposition sind. Seit Sie nichts mehr tun können, wollen Sie immer etwas tun. ({0}) Sie zitieren immer mit großer Freude den Sachverständigenrat für Umweltfragen. Ich muss sagen: Sie haben Glück, dass sich der Sachverständigenrat für Umweltfragen nie mit der Umweltpolitik der Opposition beschäftigt hat, denn dann würden Sie ein sehr kritisches Urteil bekommen. ({1}) Aber nun zur Sache und zu den vorliegenden Anträgen. Lange Zeit hat man im Umweltschutzbereich davon gesprochen, dass die nachsorgende Technik extrem teuer ist. Das war oft ein betriebswirtschaftliches Argument gegen die Verbesserung. Seit einigen Jahren, seit es Umweltmanagementsysteme, seit es das Ökoaudit gibt, wird in den Betrieben und auch in den Verwaltungen umgedacht, weil man erkennt, dass durch ökologisch orientiertes Management gut gewirtschaftet, ja sogar gespart werden kann. Meine Kollegin Caspers-Merk hat darauf hingewiesen, dass zahlreiche Kommunen zum Beispiel im Rahmen von lokalen Agendaprozessen deutlich gemacht haben, wie man durch Investitionen im Energiebereich sparen kann, wie man aber auch dadurch, dass man untersucht, wie Materialströme bzw. Beschaffungsvorgänge aussehen, erheblich Geld sparen und zugleich ökologisch wirtschaften kann. ({2}) Privatwirtschaftliche Betriebe haben dadurch, dass sie ihre Betriebsprozesse analysiert haben, gezeigt, wo überall Material flöten geht, unnötig verbraucht oder vielleicht auch falsches Material eingesetzt wird. Nach einem solchen Ökoauditprozess kommen sie unter Umständen dazu, dass man in dem einen oder anderen Bereich Material, Energie oder Rohstoffe sparen kann. Alle diejenigen, die diese Zertifizierung durchlaufen, stellen fest: Wir können damit, betriebswirtschaftlich gesehen, Gewinn machen. Das ist gut so. Im Moment läuft ja auf EU-Ebene - Herr Müller, jetzt kommt ein Stück weit die Antwort auf Ihre Frage - der Prozess EMAS II, in den wir uns eingemischt und zu dem wir Vorschläge gemacht haben. Es ist überhaupt nicht so, wie Sie konstruiert haben, dass wir eher auf die ISONorm setzen und EMAS II beiseite lassen. Im Gegenteil: Wir haben schon immer die Position vertreten, dass das anspruchsvolle Verfahren der EU erhalten bleiben soll und das andere zwar dazu passen, aber eben nur ein Teilbaustein sein soll. Daran hat sich nichts geändert; dazu stehen wir. ({3}) Aber Sie wissen auch, dass dies ein komplexes Verfahren ist und es jetzt wieder an die EU zurückverwiesen worden ist. Wir müssen nun das endgültige Ergebnis abwarten. Jetzt zu unserem Antrag hinsichtlich eines Umweltcontrollings und Umweltmanagements in Gebäuden der Bundesregierung bzw. in Anlagen des Bundes: Ich meine, es ist höchst überfällig, dass wir in diesem Feld tätig werden. Herr Müller, jetzt muss ich doch noch einmal Sie und damit die CDU/CSU insgesamt und die F.D.P. ansprechen: Es ist nicht unser Problem, dass Sie es während Ihrer 16 Regierungsjahre nie geschafft haben, in den Liegenschaften des Bundes eine ordentliche Ökobilanz aufzustellen und ein ordentliches Umweltmanagement aufzubauen. Das hätten Sie doch 16 Jahre lang tun können. ({4}) Wir machen jetzt einen Vorschlag. Jammern Sie also nicht herum, sondern folgen Sie unserem Anschlag ({5}) - ich wollte sagen: Antrag - mit Begeisterung! ({6}) Nun zum Antrag der F.D.P. im Hinblick auf ein Ökoaudit. ({7}) - Dies ist in Teilen ein Anschlag auf die Umweltpolitik. Ich sehe das aber nicht so harmlos wie Frau CaspersMerk. Es gibt viele Punkte, in denen wir Ihnen von der F.D.P. zustimmen; das ist keine Frage. Aber es gibt auch hochproblematische Punkte: Sie schlagen zum Beispiel vor, dass ökoauditierte Betriebe vom Genehmigungsverfahren ausgenommen, also gesondert behandelt werden sollen. Aus meiner Sicht - andere Experten sehen das ähnlich - ist dies absolut unmöglich, weil es zum Kernbereich der IVU-Richtlinie gehört, dass gerade dies einheitlich geregelt wird und es keine Ausnahmeregelung gibt. Sie schlagen ausdrücklich vor, das zu tun. Das wäre ein katastrophaler juristischer Fehler. Sie schlagen ferner zahlreiche Möglichkeiten vor, wie man die Genehmigungsverfahren erleichtern kann. Wir stimmen Ihren Vorschlägen da zu, wo das Verfahren entBernward Müller bürokratisiert bzw. vereinfacht werden soll. Aber ich frage mich: Warum schlagen Sie eigentlich vor, ein ausgesprochen einfaches Verfahren, nämlich die elektronische Fernüberwachung, abzuschaffen? Das ist nun einmal eine unbürokratische Regelung, zu der ich sagen muss: Das ist die einfachste Form der hoheitlichen Überwachung von Betrieben und das ist doch nur recht und billig. ({8}) Hieran kann man erkennen: Es geht Ihnen offensichtlich nicht um eine Qualitätsverbesserung. Sie nehmen im Namen der Deregulierung sogar eine Verschlechterung in Kauf. ({9}) Deswegen sage ich es noch einmal: Unser Ziel im Umweltbereich ist nicht die Deregulierung, sondern die Entbürokratisierung vieler Punkte in diesem Bereich, die zu Ihrer Regierungszeit über Jahre hinweg aufgebaut worden sind. Ich sage Ihnen auch konkret, wo ich mir Erleichterungen vorstellen kann: zum Beispiel bei den Berichtsperioden. Die Abfassung von Berichten muss nicht immer innerhalb der bisherigen Fristen erfolgen. Ich glaube, auch die Vielzahl der Messungen ist zum Teil unangemessen. Ich glaube, dass die bestehenden Parameter oft viel zu kompliziert sind und dass es einfacher ginge. Ich glaube auch, dass man bei der Kalibrierung und der Art des Messens auf die Eigenverantwortung der Betriebe setzen sollte. Für uns - um es der F.D.P. einmal klar zu sagen - ist die Eigenverantwortung von Betrieben im Umweltschutzbereich kein Tabu. Ein Tabu besteht allerdings dann, wenn es um die Standards geht. Diese dürfen über Ökoaudit nicht unterlaufen werden, und die Steuerung und Kontrolle durch die öffentliche Verwaltung dürfen nicht über Ökoaudit quasi ausgehebelt werden. Das machen wir nicht mit. ({10}) Ich komme zum Schluss. Das Ziel sowohl unseres Antrags zum Umweltcontrolling und Umweltmanagement als auch unserer Initiativen zum Ökoaudit war, den Umweltschutz voranzutreiben und zugleich den Unternehmen betriebswirtschaftliche Möglichkeiten dafür zu eröffnen. Das Gleiche gilt für die Verwaltung, für die öffentliche Hand, im Bereich der Bundesliegenschaften. ({11}) Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zu diesem Hohen Haus sowie zu den Bürogebäuden der Abgeordneten und damit ein persönliches Wort an den Präsidenten, stellvertretend für unser Haus. Ich empfinde es als ausgesprochen peinlich, dass es inzwischen selbstverständlich ist, dass auf jedem Flughafen und jedem Bahnhof ein Abfalleimer steht, der die Möglichkeit bietet, den Abfall mindestens in vier Kategorien zu trennen, in den Bürogebäuden der Bundestagsabgeordneten aber noch Mülleimerzustände wie vor zehn Jahren herrschen. ({12}) - In den meisten Bürogebäuden ist es so, wie ich gesagt habe, auch hier im Reichstag. Die Abgeordneten sollten ein Vorbild sein. Sie müssen aber auch in die Lage versetzt werden, vorbildlich sein zu können. Dies ist ein Auftrag an die Bundestagsverwaltung und an die Bundesregierung, auch in diesem Bereich vorbildlich zu werden. ({13}) Vielen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollege Gila Altmann vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Gisela Altmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002618, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Müller, ich möchte mich zunächst dafür entschuldigen, dass ich ein dringendes Bedürfnis verspürt habe - wozu, muss ich, so glaube ich, nicht ausführen ({0}) und deshalb den Saal verlassen habe. Gleichzeitig möchte ich Sie, Herr Paziorek, dazu beglückwünschen, dass Sie so aufmerksam waren, dies auch festzustellen. Es ist allerdings nicht entschuldbar, dass Sie daraufhin unterstellt haben, dies ließe auf Desinteresse schließen. Der Bundesregierung, namentlich Herrn Trittin, haben Sie unterstellt, man habe neben der Atompolitik keine weiteren Interessen. ({1}) Ich möchte Ihnen nur zur Kenntnis geben, was Sie eigentlich hätten wissen können - aber Wissenslücken sind kein Vergehen schwerwiegender Art -, ({2}) nämlich dass sich Herr Minister Trittin zurzeit dienstlich er ist offiziell entschuldigt - in Japan aufhält. Er ist auf dem G-8-Treffen und kümmert sich um den Klimaschutz. Zudem ist er auch um den Artenschutz bemüht; denn in Nairobi hat gerade die Artenschutzkonferenz begonnen. ({3}) Das, so denke ich, ist Grund genug, ihn hier zu entschuldigen. Ich werde mich nun wieder auf die Regierungsbank begeben und möchte Sie bitten, mich im Blickfeld zu behalten. Danke schön. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgit Homburger von der F.D.P.Fraktion. ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Altmann, es wäre besser gewesen, der Herr Minister wäre nicht nur nach Japan gefahren, um an der Konferenz teilzunehmen, sondern auch, um einen Vorschlag zur Klimaschutzpolitik zu machen. Wir haben ihm einen Vorschlag unterbreitet, den er hätte mitnehmen können. Dies wäre natürlich viel erfreulicher gewesen als der Umstand, dass er nur dort hingefahren ist, um an der Konferenz teilzunehmen. Jetzt zu dem Thema, das wir heute im Plenum diskutieren, zum Ökoaudit: Liebe Frau Caspers-Merk, Sie haben 90 Prozent Ihrer Redezeit darauf verwendet, über einen Antrag zu reden, den Sie noch ganz kurz vor Toresschluss eingebracht haben, ({0}) nämlich den Antrag „Umweltcontrolling und Umweltmanagement in Bundesbehörden und Liegenschaften“. Ich kann nur sagen: Das hat recht lange gedauert. Wir vonseiten der F.D.P. haben schon im März letzten Jahres einen Antrag zum Kernpunkt eingebracht. Und der Kernpunkt ist die Frage: Wie können wir das absolut sinnvolle Instrument des Ökoaudits in die Lage versetzen, dass es wieder stärker genutzt wird, dass es wieder an Attraktivität gewinnt? Sie aber, Frau Caspers-Merk, haben 90 Prozent Ihrer Zeit daran vorbeigeredet. ({1}) Vor allen Dingen geärgert hat mich, dass Sie sich hier hingestellt und gesagt haben, der Antrag zum Umweltcontrolling und Umweltmanagement würde den Fortschritt in der Umweltpolitik in Deutschland bedeuten. Wir haben die Sache über die Ideologie gestellt und, da Sie gen Schluss keinen gemeinsamen Antrag wollten, dem Antrag von der SPD und den Grünen zugestimmt. ({2}) Wir sind schließlich in diesem Punkt mit Ihnen einer Meinung. Aber es nützt natürlich nichts, wenn wir bei Bundesbehörden im Umweltbereich etwas erreichen, aber gleichzeitig in Kauf nehmen, dass das Ökoaudit im Kernbereich, nämlich bei den Unternehmen, wo wir wirklich viel erreichen können, weniger genutzt wird, weil es überreguliert und mit zu viel Bürokratie verbunden ist. Deswegen ist unser Antrag in keiner Weise veraltet. Es geht auch nicht nur noch um ein paar übrig gebliebene Punkte. Nein, unser Antrag ist nach wie vor aktuell, weil die ISO-Norm 14001 mit ihren geringeren Umweltanforderungen sich im Augenblick hoher Beliebtheit erfreut und damit das Ökoaudit sozusagen aus dem Rennen schlägt. Das Ökoaudit steht immer mehr unter Konkurrenzdruck. Deswegen bedarf es neuer Impulse, um das Ökoaudit zu retten. Herr Kollege Hermann, nach vielen Gesprächen, die wir mit auditierten Betrieben geführt haben, muss ich Ihnen sagen: Deregulierung ist das einzige Mittel, um dem Umweltaudit Überlebenschancen zu bieten. Wir fordern nach wie vor die Erleichterung bei den Genehmigungsverfahren sowie Entlastungen bei Berichtspflichten, bei Nachweisverfahren und bei der Überwachung zertifizierter Betriebe. Jawohl, wir bleiben dabei. ({3}) Frau Caspers-Merk, es geht nicht nur um ein paar übrig gebliebene Punkte. Nein, dies ist der Kernbereich dessen, was überhaupt helfen könnte, um das Umweltaudit zu retten. ({4}) Das ist der Unterschied: Sie doktern wieder am Rande herum; wir haben Änderungen im Kernbereich beantragt. Herr Kollege Hermann, Sie sagen, das sei ein katastrophaler juristischer Fehler. Das sehen wir überhaupt nicht so. Das wäre organisierbar, wenn man das wollte. Es geht mitnichten darum, Standards zu senken. Die Betriebe, die ein Ökoaudit machen, tun dies, um die Umweltsituation zu verbessern, und nicht, um sie zu verschlechtern. ({5}) Wenn im Rahmen eines Ökoaudits nachgewiesen wird, dass gesetzliche Auflagen eingehalten werden, warum brauchen wir dann noch staatliche Überwachung? ({6}) Auch wenn eine staatliche Überwachung ausnahmsweise einmal einigermaßen effizient organisiert wird, ist sie doch überflüssig, wenn der Nachweis schon auf anderem Wege erbracht wurde. ({7}) Deswegen halten wir daran fest. Kurz und gut: Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch aus Ihren eigenen Reihen, beispielsweise von Niedersachsens Umweltminister Jüttner, werden Lockerungen für so genannte Ökoauditbetriebe verlangt. Wir können nicht auf EMAS II warten. Wenn wir darauf warten, ist das Instrument Ökoaudit kaputt. Deswegen fordere ich Sie auf, unseren Deregulierungsforderungen zuzustimmen. Wenn Sie das Instrument ernst nehmen, dann müssen Sie den Antrag der F.D.P. heute beschließen. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva-Maria Bulling-Schröter von der PDS-Fraktion.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der F.D.P. fordert umfangreiche Öffnungsklauseln für einzelne Bereiche des Umweltaudits - wir haben sie bereits gehört - unter dem Motto: Wer etwas leistet, soll belohnt werden. ({0}) Nun wäre erst einmal festzustellen, dass das Umweltaudit nun nicht gerade das Instrument ist, welches in den teilnehmenden Unternehmen die grüne Revolution ausbrechen lässt. Ich denke, da stimmen wir überein. Zum einen prüfen die Gutachter nicht, ob sich die Umweltverträglichkeit der Produktion, die durch die Installierung von Umweltmanagementsystemen und Umweltprogrammen verbessert werden soll, tatsächlich verbessert hat. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Sie kontrollieren nur, ob die Umwelterklärungen formal eingehalten werden und ob die Managementsysteme funktionieren. Das ist ein kleiner Unterschied. Dass die Beteiligung und Information der Öffentlichkeit in diesem Verfahren ausgeschlossen sind, versteht sich von selbst. Zum anderen geht es nicht darum, ob das Produkt wirklich ein ökologisches ist. So ist es möglich, dass sich zum Beispiel Großbetriebe mit tonnenschweren, Ressourcen schluckenden Produkten einen blitzsauberen Umweltauditengel ans Firmenschild pappen dürfen. Drittens sind die Gutachter wie die Gutachteraufsicht nicht wirklich unabhängig, sondern letztlich Produkt der Wirtschaft. ({1}) Im Rahmen des Ökoaudits versprachen sich die beteiligten Unternehmen eine Reihe von Erleichterungen beispielsweise in Genehmigungs- und Nachweisverfahren. Einige haben sie auch bekommen. Doch da durch die Beschleunigungsgesetze in diesem Bereich ohnehin viel dereguliert wurde und da das aufwendige Audit viel Papier produziert, hält sich der Anreiz, bei diesem System mitzumachen, nun in Grenzen. Deshalb soll jetzt richtig Butter an die Fische. Unter anderem sollen nach dem F.D.P.-Antrag Betriebe bestimmte obligatorische Messungen und Funktionsüberprüfungen selbst vornehmen können, die vorher durch die Behörden durchgeführt wurden. Sellafield lässt grüßen! ({2}) Auch Prüfungen von Abfallwirtschaftskonzepten und -bilanzen sollen durch die Verpflichteten selbst durchgeführt werden können. Die Müllmafia wird sich darüber nicht ärgern. Emissionsfernüberwachungen sollen bei registrierten Standorten entfallen. Das ist interessant, denn gerade die Emissionsfernüberwachung ist selbst im Musterland der Liberalisierung, in den USA, eines der wichtigsten Instrumente der Umweltinformation und Umweltkontrolle. Darüber hinaus ist sie tatsächlich effizient und unbürokratisch und - da oft über Internet für jeden zugänglich - ein Element der Bürgerbeteiligung. Insgesamt, so scheint es, wendet sich die Wirtschaft gegen wirksame Umweltkontrollen, zumindest legt dieser Antrag den Verdacht nahe. Das lehnen wir ab. So blauäugig wollen und können wir nicht sein. Und das meint im Übrigen auch der Umweltrat. Danke. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung zu einem Vorschlag für eine Verordnung ({0}) des Rates über die Beteiligung von Organisationen an einem Gemein- schaftssystem für das Umweltmanagement und die Um- weltbetriebsprüfung, Drucksache 14/1131. Der Aus- schuss empfiehlt die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. zur Erhöhung der At- traktivität des freiwilligen Umweltaudits durch Deregu- lierung, Drucksache 14/2030. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/570 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt da- gegen? - Wer enthält sich? - Dann ist diese Beschluss- empfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und den Stimmen der PDS-Fraktion gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zum Umweltcontrolling und Umweltmanagement in Bundes- behörden und -liegenschaften, Drucksache 14/2907. Wer stimmt für diesen Antrag? - Die Gegenprobe! - Enthal- tungen? - Dieser Antrag ist bei zwei Enthaltungen aus den Reihen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a) und 10 b) auf: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Ulrike Flach, Hildebrecht Braun ({1}), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der F.D.P. Chancen der Gentechnik als Schlüsseltechnolo- gie des 21. Jahrhunderts - Drucksachen 14/678, 14/2942 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über das vorläufige Verbot des Verkaufs von genetisch verändertem Mais ({3}) mit kombinierter Änderung der Insektizideigenschaften aufgrund des BT-Endotoxingens und erhöhter Toleranz gegenüber dem Herbizid Glufosinatammonium in Österreich - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Entscheidung des Rates über das vorübergehende Verbot der Verwendung und des Verkaufs von genetisch verändertem Mais ({4}) mit kombinierter Änderung der Insektizideigenschaften aufgrund des BT-Endotoxingens und erhöhter Toleranz gegenüber dem Herbizid Glufosinatammonium im Großherzogtum Luxemburg - Drucksachen 14/74 Nr. 2.7, 14/74 2.4, 14/838 Berichterstattung: Abgeordnete René Röspel Franz Obermeier Ulrike Flach Eva-Maria Bulling-Schröter Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. und der Fraktion der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die F.D.P. acht Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Ulrike Flach von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es hätte nicht viel gefehlt, und wir hätten die Antwort auf die Große Anfrage der F.D.P.-Fraktion zu Chancen der Gentechnik als Schlüsseltechnologie am ersten Jahrestag ihrer Einreichung besprechen müssen. Fast ein Jahr hat sich diese Regierung mit einer Antwort Zeit gelassen, die für diese wichtige Branche von großer Bedeutung ist, weil sich Unternehmen, Wissenschaft und Arbeitnehmer endlich Klarheit darüber erhoffen, wie diese Regierung zur Gentechnologie steht. Seit Jahren hören wir von SPD und Grünen in Bund und Ländern mal euphorische Aussagen, mal finstere Katastrophenprognosen. Meine Damen und Herren, es wurde Zeit, dass Sie sich endlich einmal festlegten. Die Antwort der Bundesregierung findet in vielen Einzelheiten unsere Zustimmung. Auch wir sehen in der Genund Biotechnologie Schlüsselbereiche für künftige Innovationen, ({0}) halten sie für wichtig für die deutsche Wettbewerbsfähigkeit, messen ihr einen großen Stellenwert für den Umweltschutz bei, freuen uns über die vielen neuen Arbeitsplätze gerade in kleinen und mittleren Unternehmen und stimmen zu, wenn Sie sagen, dass die Ausgaben für Forschung und Entwicklung unter einem Minister Rüttgers zu gering waren. ({1}) Meine Damen und Herren, Deutschland steht - auch das steht in der Antwort - erst am Anfang des Biotechnologie-Zeitalters. Wir hoffen mit Ihnen auf einen schnellen Abschluss der Novellierung der Freisetzungsrichtlinie 90/220 der EU und lehnen Kriterien, die nicht wissenschaftlich begründet sind, ab. Wir haben deshalb in unserem Antrag Aussagen der Bundesregierung verwendet und sind sehr gespannt darauf, ob auch die Koalitionsfraktionen diesen Aussagen zustimmen. Meine Damen und Herren, wir Liberalen wollen einen schnellen Ausbau des Bio- und Gentechnologiesektors. Wir müssen in der Bio- und Gentechnologie die begonnene Aufholjagd fortsetzen. ({2}) Es sind gerade kleine und mittlere Unternehmen, die in Deutschland in diesem Sektor tätig sind. ({3}) - Sie, Herr Matschie. ({4}) Wenn wir die Zulieferer und die circa 160 Anbieter von Beratungsleistungen hinzuzählen, kommen wir - so eine Studie der Biocom AG - auf 1 337 Biotechnologiefirmen. Der Gesamtumsatz betrug 4,4 Milliarden DM. Rund die Hälfte dieser Firmen sind weniger als fünf Jahre alt. Das ist ein junger, dynamischer Wachstumsmarkt und das Ergebnis der Arbeit der alten Bundesregierung. ({5}) Ich freue mich, dass die neue Bundesregierung die Potenziale ähnlich sieht. Sie - ich zitiere - „erhofft sich von der Bio- und Gentechnik neue zukunftssichere Arbeitsplätze und damit einen Beitrag zur Linderung der Arbeitslosigkeit“. Das erhoffen wir uns selbstverständlich auch, aber das Prinzip Hoffnung allein macht es eben noch nicht. Für die Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage gilt der berühmte Satz: Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Denn wenn es konkret wird, wenn Sie etwas für die Entwicklung der Bio- und Gentechnologie tun könnten, dann wird behindert, verzögert und geblockt. ({6}) In Ihrer Beschlussempfehlung zum BT-Mais, die wir natürlich ablehnen, wenden Sie sich nicht nur gegen den Kommissionsbeschluss, sondern fordern sogar noch eine Verschärfung, indem Sie generell von gentechnisch verändertem Saatgut sprechen und nicht nur von Mais. Sie behaupten, dass naturbelassene Nahrungsmittel qualitativ höherwertig seien. Das ist wissenschaftlich nicht haltbar. ({7}) Der Sachverständigenrat, der TAB-Bericht und andere Studien haben immer wieder betont, gentechnisch veränderte Nahrungsmittel seien nicht schlechter, zeigten keine negativen Auswirkungen auf die Biodiversität und seien als Tierfutter gut geeignet. Beim BT-Mais kann der Landwirt ein Ertragsplus von circa 5 Prozent erzielen, Kosten für Unkrautvernichtungsmittel sparen und damit auch ökonomisch natürlich erfolgreicher im Wettbewerb sein. Meine und Damen und Herren, Sie haben in den letzten Monaten der deutschen Landwirtschaft eigentlich schon genug zugemutet. Erst gestern zerschellte unser Antrag zum Agrodiesel erneut an Ihrer Entschlossenheit, diesen Berufszweig in Ihnen genehme Bahnen zu zwingen. Ich hätte mich gefreut, wenn Herr Grill anwesend gewesen wäre, dann wären wir nämlich durchgekommen. Hier beim Mais hätten Sie Gelegenheit, der deutschen Landwirtschaft unter die Arme zu greifen, statt in den alten Gräben der ideologischen Vorurteile zu bleiben. Natürlich sind auch wir nicht taub ({8}) im Hinblick auf mögliche Risiken. Kritiker befürchten eine Übertragung von Antibiotikaresistenzen und lehnen deshalb eine Verwendung von BT-Mais ab. Diese Befürchtung muss man ernst nehmen und selbstverständlich wissenschaftlich überprüfen. Die Kommission für biologische Sicherheit des Robert-Koch-Institutes hat dies getan. Ich zitiere: Eine zunehmende Verbreitung des AmpicillinResistenzgens in Mikroorganismen durch die Verwendung von gentechnisch veränderten Pflanzen ist nicht zu erwarten. Es ist keine Gefährdung der menschlichen Gesundheit, der von Tieren oder der Umwelt zu befürchten. Diese Einschätzung wurde im März erneut bestätigt. Womit rechtfertigen Sie wissenschaftlich die Ablehnung? Es liegen keine neuen Erkenntnisse vor. Die Vermutung ist - das ist einfach nicht von der Hand zu weisen -, dass es sich bei Ihnen nicht um rationale, sondern um rein emotional-ideologisch geprägte Entscheidungen handelt. ({9}) Wie ist es zum Beispiel mit der Kommission für Biologische Sicherheit? Sie hat die Entscheidung von Frau Fischer, die Genehmigung für den Anbau von BT-Mais zurückzunehmen, als in der Sache unbegründet kritisiert. Immer wenn es darum geht, Wahlkampfpunkte zu machen, sind Sie voll des Lobes für die Gentechnik. Ihr ExKollege Schwanhold hat hier im Hause wahrscheinlich anders gestimmt, aber derzeit marschiert er durch Nordrhein-Westfalen und schwärmt von den Erfolgen dieser neuen Technologie und von den Entwicklungspotenzialen der Gentechnik. ({10}) Meine Damen und Herren, immer, wenn es hier im Hause darum geht, die Weichen zu stellen, um genau diese Entwicklung zu fördern, stellen Sie die Signale auf Rot; und das aus offensichtlich ideologischen Gründen. Je öfter langfristige Planungssicherheit politischer Willkür zum Opfer fällt, umso mehr werden Investitionen in Forschung sowie weitere Unternehmenserfolge ausbleiben. ({11}) Es ist schon erstaunlich, dass heutzutage Unternehmen ihr Saatgut sogar auf Landwirtschaftsausstellungen nicht mehr einbringen können. Wir fangen schon an, darüber nachzudenken. Sie schaffen eine Atmosphäre, die ganz offensichtlich Innovationen in diesem Land behindert. Diese Schaukelstuhltaktik wird der Gentechnik als Schlüsseltechnologie nicht gerecht. Das mag gut für den Koalitionsfrieden sein. Das mag gut für Herrn Röspel sein. Gut für zukunftsfähige Arbeitsplätze und den Standort Deutschland ist es nicht. ({12}) Der Entschließungsantrag der F.D.P. ist eine Chance für die Gentechnik, aber auch eine Chance für Sie, für dieses Land gemeinsam etwas zu bewegen. Folgen Sie den Einsichten Ihrer zuständigen Ministerien! Unterstützen Sie unseren Antrag und verlassen Sie die alten Kampfesgräben. „Green Card“ allein ist etwas wenig für Innovationen in diesem Land. Hier können Sie einmal zeigen, was Ihnen Innovation wirklich wert ist. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich erteile jetzt der Kollegin Gudrun Schaich-Walch von der SPDFraktion das Wort.

Gudrun Schaich-Walch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001939, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Vizepräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin von der FDP, Schnelligkeit allein ist kein Kriterium für Qualität. Auf keinem vergleichbaren Gebiet kommt es derzeit auf Qualität so sehr an wie auf diesem Sektor. Wenn wir dort durch Qualitätsmängel oder Nachlässigkeit Akzeptanz verspielen, wird es sehr lange und sehr viel länger dauern, als es Ihnen und anderen lieb ist, die Akzeptanz wieder herzustellen. ({0}) Sie erwarten von dieser Regierung - das nehme ich einfach an - eine umfassende Antwort. Sie konnten die Antwort gar nicht kritisieren. Das Einzige, was Sie kritisieren konnten, ist landespolitisches Handeln in einigen Bereichen, aber nicht das, was man Ihnen tatsächlich vorlegt. Sehen Sie sich die Arbeitsmarktzahlen an, die gerade veröffentlicht worden sind. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Wir haben nach einer Regierungszeit von etwas mehr als einem Jahr die niedrigsten Arbeitslosenzahlen des März seit vier Jahren. ({1}) Die haben wir aufgrund unserer Politik in diesem Bereich und das werde ich Ihnen auch belegen. Ich werde es Ihnen nicht anhand von Beispielen aus der Landwirtschaft belegen, sondern ich werde versuchen, es Ihnen anhand von Beispielen aus der Medizin zu belegen. Der medizinische Bereich hat eine hohe Akzeptanz durch die Bevölkerung. Dort hat es in den letzten Jahren einen gewaltigen Wissenszuwachs gegeben. Die Grundlagenforschung hat sich verbessert. Es gibt dort eine ganze Reihe von Firmengründungen. Auch im letzten Jahr waren neue Firmengründungen zu verzeichnen. Aber man muss natürlich wissen, dass dies kein arbeitsplatzintensiver Bereich ist, in dem wir immerzu neue Arbeitsplätze schaffen. Vielmehr werden wir dort aufgrund der neuen Technologie sehr viele Arbeitsplätze ersetzen. Auf diesem Weg sind wir. Wir haben eine hervorragende Entwicklung im Bereich der Arzneimittel. So ist die Gentechnik aus der Behandlung chronisch Kranker nicht mehr wegzudenken. Auch bei der somatischen Gentherapie sind wir trotz vieler Rückschläge an einen Punkt angelangt, an dem es durchaus berechtigte Hoffnungen auf neue Therapieformen gibt. Ich hatte schon gesagt, dass es in der Medizin eine hohe Akzeptanz der Gentechnik gibt; wir brauchen sie auch. Die Fortschritte in diesem Bereich zeigen sich unter anderem darin, dass etwa 350 Medikamente und Impfstoffe in der letzten Phase der klinischen Erprobung sind, wenn auch nicht alle in der Bundesrepublik. Aber es gibt bei uns keinen abgeschotteten Markt, sondern wir reden hier über einen globalen Markt. Dieser rasanten medizinischen Entwicklung liegt natürlich eine entsprechende wirtschaftliche Dynamik zugrunde. Über 80 Prozent der Gentechnikunternehmen arbeiten auf dem von mir eben skizzierten kleinen Sektor mit einer unheimlich großen Beweglichkeit. Ziel sozialdemokratischer Politik ist es, dort die Situation - auch mit weiteren begleitenden Gesetzen - zu verbessern. Dass wir diesem Ziel näher kommen, belegen die von mir genannten Zahlen. Aber wer wie wir an einer langfristigen Entwicklung der Gentechnik interessiert ist, muss letztendlich auch bereit sein, sich der Abwägung von Chancen und Risiken dieser Technik zu stellen. Für uns stehen nicht die wirtschaftlichen Momente an erster Stelle unserer Überlegungen, sondern das Vorsorgeprinzip und der Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Schaich-Walch, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert von der PDS?

Gudrun Schaich-Walch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001939, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Kollegin Schaich-Walch, macht es Ihnen nicht ein bisschen Angst, dass im Pharmabereich so viel gentechnisch verändertes Zeug unter die Leute kommt, bei dem man nicht weiß, ob es vielleicht in drei, fünf oder zehn Jahren oder vielleicht noch später Auswirkungen zeigen wird, von denen wir heute noch keine Ahnung haben, die dann aber nicht mehr zurückzunehmen sind, weil es sich eben um gentechnische Veränderungen handelt?

Gudrun Schaich-Walch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001939, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass ich da eher im Bereich der grünen Gentechnik Bedenken habe. Deshalb begrüße ich die Entscheidung sehr, die die Gesundheitsministerin Anfang des Jahres getroffen hat. Es gibt keinen vergleichbaren Sektor, auf dem wir so konsequent wie in der Arzneimittelherstellung gute klinische Prüfungen haben. Eine Bewertung der Arzneimittel, die heute zum Beispiel bei der Diabetikerversorgung zur Verfügung stehen, oder von bestimmten Produkten, für die wir eine andere Herstellungsform als die Verwendung von Blut finden können, führt zu dem Ergebnis, dass wir oftmals nicht nur wirkungsvollere, sondern auch durchaus sicherere Medikamente haben. Zugleich bin ich, wie gesagt, der Überzeugung, dass wir hier ganz dringend eine Risikobegleitforschung benötigen. Wir müssen das immer kritisch beurteilen. Bei Arzneimitteln tun wir das dadurch, dass sie nach fünf Jahren erneut auf den Prüfstand gestellt werden. Daher glaube ich, dass die Sicherheit auf diesem Sektor sehr groß ist. Wir benötigen aber eine Verbesserung der Kennzeichnungspflicht im grünen Bereich und im Lebensmittelbereich. Nur durch eine umfassende Kennzeichnung wird auch gewährleistet, dass sich der Verbraucher tatsächlich auf einer fundierten Basis frei entscheiden kann, ob er zu einem gentechnisch veränderten Produkt greifen will oder nicht. ({0}) Bei der Diagnostik sehe ich besondere Stärken dieser Technik; mit ihr sind aber auch untrennbar Risiken verbunden. Ich erinnere hier an das, was wir in der vorigen Woche der Presse entnehmen konnten und was bestätigt wurde: In Großbritannien möchte offenbar das Gesundheitsministerium zulassen, dass Gentests der Versicherungswirtschaft zur Verfügung gestellt werden. ({1}) Ich bin der Überzeugung, dass eine derartige Maßnahme letztendlich dazu führen wird, dass Menschen, bei denen vielleicht ein gesundheitliches Risiko besteht ({2}) - ich bin beim Thema Gesundheit -, aus der privaten Krankenversicherung ausgegliedert werden. Das bedeutete aber eine Risikoselektion zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung und damit einhergehend eine weitgehende Entsolidarisierung der Gesellschaft. ({3}) Diese Entwicklung müssen wir, so glaube ich, sehr kritisch und sehr wachsam betrachten und müssen an dieser Stelle der Gentechnik genau hinsehen. Wir haben dafür Sorge zu tragen, dass derartige Daten nicht zur Verfügung gestellt werden. Wir müssen europaweite Übereinkommen darüber erzielen, dass solche Dinge bei uns nicht vorkommen. ({4}) Über eine Technologie, die die Menschen so tief berührt, müssen wir eine offene Diskussion führen, die philosophische, ethische, medizinische und gesellschaftliche Fragen berücksichtigt und nicht nur, wie von der F.D.P. angesprochen, den reinen Wirtschaftsbereich. Ich glaube, wenn wir dieses Spektrum der Ansätze verfolgen, dann werden wir tatsächlich zu einer vernünftigen Bewertung von Risiken und Chancen kommen. Einen ganz wichtigen Beitrag dazu wird die Einsetzung der gebildeten Enquete-Kommission „Recht und Ethik in der modernen Medizin“ leisten. Wir müssen im Bereich der Gentechnik allerdings über den nationalstaatlichen Gesetzesrahmen hinaus zu europaweiten Vereinbarungen kommen. Ansonsten fürchte ich, dass der Wettbewerb dort Fakten schaffen wird, die wir gesundheitspolitisch nicht brauchen. Wer wie Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, gesetzliche Reglementierungen im Wesentlichen als Restriktion wirtschaftlicher Aktivitäten und als Bedrohung empfindet, der allerdings, so glaube ich, tut dieser Forschung keinen Gefallen und behindert den Fortschritt in dieser Richtung. Ich bin davon überzeugt, dass die Gesetze, die eine möglichst breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Fragen der Technikfolgenabschätzung widerspiegeln, Gesetze sind, die zur Akzeptanz und zur Sicherheit beitragen und damit die wirtschaftliche Entwicklung in diesem Bereich letztendlich befördern. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Vera Lengsfeld von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! „Grün ist der Wechsel“ teilte uns der Juniorpartner der Regierungskoalition in seinem Programm zur Bundestagswahl 1998 mit. Ich zitiere: „Das Festhalten an riskanten und unproduktiven Techniken muss beendet werden.“ Nach den Turbulenzen, die sich in den letzten Wochen aus dem kühnen Versuch von Frau Ministerin Fischer, diesen Programmpunkt in praktische Regierungsarbeit umzusetzen, ergeben haben, kommt man allerdings zu dem zwingenden Schluss, dass die riskante, unproduktive Kopflosigkeit dieser Regierung beendet werden muss. ({0}) Am 20. Februar verbot Frau Fischer wenige Stunden vor der endgültigen Zulassung des BT-Maises durch das Sortenamt den Versuchsanbau aufgrund angeblich neuester Erkenntnisse, die allerdings aus veralteter Literatur des Freiburger Ökoinstitutes stammten. Es stellte sich übrigens nach der Debatte am 24. Februar 2000, in der ich das Verbot von BT-Mais in diesem Hause erstmals angesprochen habe, sehr schnell heraus, dass diese Studie im Gesundheitsministerium gar nicht vorhanden war. Sie musste erst von Greenpeace in Hamburg beschafft werden. Auf Anfrage wurde dann von einem Mitarbeiter ihres Büros mitgeteilt, dass die Ministerin ihre Entscheidung doch nicht aufgrund dieser Literatur getroffen habe, sondern dass eine weitere Studie existiere, deren Ergebnisse aber erst noch geprüft werden müssten. Bis heute wissen wir nicht, welche neuen Erkenntnisse - von wem auch immer gewonnen - zum Schnellschuss der Ministerin gegen den Versuchsanbau von BT-Mais geführt haben. Das Robert-Koch-Institut hatte schon vor drei Jahren im Einklang mit EU-weiten Testverfahren eine Gefährdung von Mensch, Tier und Umwelt durch BT-Mais ausgeschlossen. Die Gründe der Ministerin liegen also im Dunkeln. So viel zur Glaubwürdigkeit der Grünen in Bezug auf Transparenz von Regierungsentscheidungen. Ich habe nun mit Erstaunen vernommen, dass Frau Schaich-Walch davon ausgeht, dass diese Entscheidung noch immer gültig ist. Diese obskure Entscheidung, Frau Kollegin, ist inzwischen allerdings stillschweigend revidiert worden. Im Büro der Ministerin wusste davon jedoch niemand etwas. Ebenso konnte niemand auf parlamentarische Anfrage hin darüber Auskunft erteilen. Zum Glück jedoch gibt es die Pressestelle des Gesundheitsministeriums, die zumindest auf Nachfrage von Nichtparlamentariern verrät, dass tatsächlich seit Freitag, dem 31. März, der Versuchsanbau von BT-Mais wieder gestattet ist. Dazu gibt es aber keine offizielle Verlautbarung, weder vonseiten der Regierung noch vonseiten des Robert-Koch-Instituts. Letzteres hat durch einen neuen Unbedenklichkeitsbescheid den Anbau von 12 Tonnen BT-Mais-Saatgut in Deutschland zu Testzwecken ermöglicht. Damit ist faktisch wieder alles beim Alten, wenn auch die juristische Grundlage eine andere ist. War bis Februar das Sortenrecht der limitierende Faktor, ist es nun das Gentechnikgesetz. Daneben bleibt die Entscheidung von Frau Ministerin Fischer unkorrigiert bestehen. So bleibt mir an dieser Stelle nur, Frau Ministerin Fischer zu wünschen, dass Sie den Mut findet, zu erkennen, dass die Korrektur von Irrtümern ein Zeichen von politischer Klugheit ist. Die Art von Verdunkelungspolitik, die sie betreibt, ist das genaue Gegenteil davon. ({1}) Im Zusammenhang mit dem BT-Mais war die grüne Kopflosigkeit relativ folgenlos. Der Anbau von BT-Mais war im Winter für einen Monat verboten, in dem er ohnehin nicht hätte gesät werden können. Für andere Fälle gilt das nicht in gleichem Maße. Die überraschend positive Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der F.D.P. und ihre Sorge um den Arbeitsplatzverlust in der Biotechnologie ändert nichts daran, dass die permanente Verteufelung der Gentechnologie heute junge Leute davon abhält, Berufe in dieser Branche anzustreben oder ein Studium der Biotechnologie aufzunehmen. ({2}) Aber vielleicht werden wir Weltmarktführer im Bereich der Risikobegleitforschung. In wenigen Jahren werden wir schätzungsweise 30 000 Biotechnologen brauchen, die wir dann aus Indien anwerben werden, um die selbst erzeugten Defizite abdecken zu können. Da bekommt das Wort Entwicklungshilfe eine ganz neue Bedeutung. Besser wäre allerdings Selbsthilfe, das heißt: die entschlossene Überwindung der offenen und latenten Technologiefeindlichkeit in Deutschland. Teil b unserer verbundenen Debatte zeigt, wie schwer sich Rot-Grün damit tut. Der Beschluss der Koalitionsmehrheit im Umweltausschuss widerspricht den Lippenbekenntnissen des Regierungsentwurfs auf die Anfrage der F.D.P. Waren eben noch energische Boykottmaßnahmen gegen Österreich gefragt, ideologische Demonstrationen gegen unsere Nachbarn als der dernier cri der political correctness, so ist nun die ökologische Unterstützung für Österreich gefordert, damit dort ein antiquiertes Verbot von Genprodukten aufrechterhalten werden kann. Welch eine Zwickmühle!Wie hält es in Zukunft der aufrechte Rot-Grüne mit Ferienfahrten nach Kärnten: nein wegen Haider oder doch lieber ja, weil es sich um eine der letzten gentechnologiefreien Zonen handelt? ({3}) Buridans Esel hat sich in einer ähnlichen Situation entschlossen, die Welt von seiner Anwesenheit zu erlösen, weil er nicht in der Lage war, eine Entscheidung zu treffen. Seine philosophische Eselei erscheint geradezu weise im Vergleich zu dem ideologisch-ökologischen Schlingerkurs dieser Koalition. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Christa Nickels das Wort.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Schönen Dank, Herr Präsident. - Ich bin, liebe Frau Kollegin Lengsfeld, auch kirchenpolitische Sprecherin meiner Fraktion. Die Art und Weise, wie Sie geredet haben, kennt man sonst bei Konvertiten. Es gibt auch ein Sprichwort: Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche. Daran fühlte ich mich bei Ihrer Rede sehr stark erinnert. ({0}) Zum Ersten agiert man in einem solchen Bereich immer in einem Spannungsfeld von Chancen und Risiken. Das war und ist den Grünen sowohl in der Opposition als auch jetzt klar. Wir haben einen Koalitionsvertrag, auf dessen Grundlage wir mit unserem großen Koalitionspartner einen vernünftigen Kurs fahren können. Wir sind froh, hier in der von Frau Schaich-Walch vorgetragenen sorgfältigen Art und Weise ohne Schnellschüsse ein Stück weiter zu kommen. Zum Zweiten haben Sie als eine Überbringerin geheimer neuer Nachrichten agiert. Wären Sie heute Mittag bei der Debatte, die sich auch mit diesem Thema befasst hat, im Plenum gewesen, hätten Sie erleben können, dass Frau Fischer exakt die Informationen, die Sie als große und sensationelle neue Nachrichten verkünden wollen, in aller Ruhe bereits vorgetragen hat. Somit sind Ihre Aussagen kalter Kaffee. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Röspel von der SPD-Fraktion das Wort.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Weil ich vorhin von Frau Flach namentlich angesprochen worden bin und Frau Lengsfeld mir nicht die Möglichkeit gab, etwas zu korrigieren, will ich das jetzt tun. Die einzigen, die in der gesamten Diskussion das Wort Ideologie benutzen, aber keine wissenschaftlichen Fakten bringen, sind Sie von der F.D.P. und der CDU. ({0}) Frau Lengsfeld, wenn Sie uns sagen, wir würden veraltete wissenschaftliche Arbeiten heranziehen, so haben Sie die Anfrage und die Antwort nicht gelesen. In der Antwort der Bundesregierung auf Frage 34 werden unter anderem erwähnt: Hilbeck 1998, Losey 1999 und Saxena 1999 in „Nature“. Wenn Sie jemals versucht haben, in „Nature“ etwas zu veröffentlichen, dann wissen Sie, wie schwer es ist und welche wissenschaftlichen Fakten dies dann sind. Diese berücksichtigen wir in unserer Beurteilung. Wenn Sie anderer Meinung sind, dann sind Sie verpflichtet, auch einmal wissenschaftliche Publikationen oder Belege anzubringen und nicht immer das Gespenst der Ideologie oder der Verteufelung, dass niemand etwas macht, zu beschwören. So können wir hier nicht diskutieren. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Lengsfeld, Sie haben das Wort zur Erwiderung. Bitte schön.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe hier nur dargestellt, was ich mit der Koalition erlebt habe. Wenn das Büro von Frau Ministerin Fischer heute Mittag nicht in der Lage war, Auskunft zu geben, dann spricht das gegen das Büro und nicht für ihre Arbeit. Das tut mir Leid. Ich habe mich auch nur darauf bezogen, dass Frau Schaich-Walch das offensichtlich nicht gewusst hat. ({0}) - Es wird mir wohl gestattet sein, auf das Bezug zu nehmen, was ich im Plenum höre. Herr Kollege, ich habe erwartet, dass Sie diese Studien anführen. Die sind in der Tat wirklich widerlegt. Das können Sie im „New Scientist“ nachlesen. Ich gebe Ihnen gern die Verweise und danach können wir diskutieren. Diese Studien - das habe ich gesagt - stammen aus dem Jahr 1998. Das sind wahrlich keine neuesten Erkenntnisse. Im Übrigen sind sie längst widerlegt. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich erteile der Kollegin Ulrike Höfken vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wort.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Dem Publikum zur Erklärung: Die aufgeregte Dame war früher bei der Fraktion der Grünen und hat dort das Gegenteil vertreten. Insofern gibt es entsprechende Diskussionen. ({0}) Ich plädiere für eine größere Anwesenheit bei gentechnischen Diskussionen. Dann wäre man nämlich auch als Mitglied Ihrer Fraktion zum Beispiel beim VCI, beim parlamentarischen Abend anwesend, wo eine Message ganz eindeutig war, und zwar die, dass, seitdem es die rotgrüne Regierung gibt, die Bio- und Gentechnologie einen verlässlichen Partner hat. ({1}) Hier gibt es einen sehr wesentlichen Punkt, auf den Frau Schaich-Walch auch schon hingewiesen hat. Nachdem Sie eine blind technikgläubige Politik betrieben haben, die nach hinten losgegangen ist, die eine Verhinderung der Entwicklung gewesen ist, geht es jetzt in eine andere Richtung. Da haben wir einen ganz bestimmten Part. Als Fraktion der Grünen treten wir dafür ein, die Risiken und die Probleme der Gentechnik offen zu diskutieren. Nur eine solche Art und Weise der Diskussion kann eine Entwicklung wirklich nach vorn bringen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Höfken, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lengsfeld? - Bitte schön, Frau Lengsfeld.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Höfken, wenn es mit der Gentechnologie unter der rot-grünen Koalition so aufwärts geht: Wie erklären Sie sich dann das Abfallen der Zuwachsraten seit 1998? ({0})

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Man müsste noch fragen: Das Abfallen der Zuwachsraten in was und in wem? Was ist gemeint? ({0}) Arbeitsplätze oder Firmen? Die Entwicklung eines Neuzuwachses gibt es schon seit 1997. Hier liegen Daten vor. ({1}) Es gibt eine Entwicklung, die man ganz deutlich an den neuen Firmenentwicklungen beobachten kann. Darum sind alle Arbeitsplatzmeldungen sehr wohl zu hinterfragen. Man hat zum Beispiel bei einer Untersuchung im Bereich der Wissenschaft jetzt festgestellt, dass aufgrund verschiedener Fragestellungen die Arbeitsplätze im Bereich der Gentechnik sehr unterschiedlich bewertet werden. Biocom-Experten kommen in ihrem „Bio-Technologie Jahr- und Adressbuch 2000“ auf eine Anzahl von 543 Firmen; Schitag, Ernst & Young kommt hingegen auf lediglich 222 Firmen, die der Kategorie 1 zuzuordnen sind. Das Informationssekretariat Biotechnologie ISB kommt wiederum auf knapp 400 Unternehmen. Das hängt damit zusammen, dass die Fragestellungen in Bezug auf die Arbeitsplätze sehr unterschiedlich ausfallen. Es spielt aber auch eine andere Entwicklung hinein, die wir durchaus sehr kritisch betrachten, nämlich zum einen das Outsourcing und zum anderen die immer wieder vorkommende Übernahme dieser neuen Firmen nach einer projektorientierten Arbeit. Vor dem Hintergrund dieser Diskussion muss man die Arbeitsplatzangaben in der Gentechnologie insgesamt je nach den entsprechenden Fragestellungen vorsichtig hinterfragen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Höfken, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Flach?

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, jetzt nicht, aber gleich. Die Bundesregierung verfolgt im Hinblick auf die Nutzung der Bio- und Gentechnologie einen ausgewogenen Kurs, der es zulässt, dass sich die verantwortbaren Innovationspotenziale gerade in der Forschung entwickeln, der gleichzeitig aber dem Aspekt der Risikovorsorge und der notwendigen Sicherheit von Menschen und Umwelt Rechnung trägt. Wir lesen in der Antwort auf die Große Anfrage, dass es hier auf der einen Seite neue Möglichkeiten gibt, die es zu nutzen und zu prüfen gilt. Auf der anderen Seite steht unsere klare Festlegung, dass der Schutz der menschlichen Gesundheit und die Bewahrung des ökologischen Gleichgewichtes oberste Priorität haben müssen. ({0}) Darin unterscheidet sich diese rot-grüne Bundesregierung ganz klar von ihrer Vorgängerin, bei der das berechtigte Interesse von Verbrauchern und Ökologie in erster Linie als Fortschrittsfeindlichkeit abgetan wurde. Das hat im Ergebnis die Entwicklung insgesamt behindert. Genau diesen alten Geist hält auch der F.D.P.-Entschließungsantrag hoch. Aus dem Gesamtzusammenhang einer 50-seitigen Antwort auf eine Anfrage werden ein paar genehme gentechnikfreundliche Sätze herauskopiert, und fertig ist der Antrag. Ich weiß nicht, ob man das als Entschließungsantrag bezeichnen kann. ({1}) Richtig ist: Die Bundesregierung wird zur Entwicklung konkreter Anwendungsbereiche der Bio- und Gentechnologie erhebliche Ressourcen einsetzen und Wissenschaft und Wirtschaft aus öffentlichen Mitteln fördern. Die Bundesregierung hat erklärt, auf diesem Niveau die Innovationsstrategien weiter auszubauen; dabei ist es ihr Ziel, die wirtschaftlichen Chancen der Bio- und Gentechnologie auch stärker auf ökologische Lösungsansätze auszurichten. Hier möchte ich einen Exkurs machen. Die ganze Diskussion auf der europäischen Ebene und in den USA scheint ja an Ihnen, den Kollegen von der Opposition, ein Stück weit vorbei gegangen zu sein. Herr Paziorek ist ja heute Morgen sehr viel differenzierter auf das BiosafetyAbkommen eingegangen. Ich möchte Ihnen etwas vortragen, was das USDA, das amerikanische Landwirtschaftsministerium, im letzten Jahr eruiert hat: 400 US-Farmer, die knapp 200 000 Hektar Ackerfläche bewirtschaften, wurden befragt. Ihre Planungen für dieses Jahr sehen folgendermaßen aus: Roundup-Ready Soja minus 15 Prozent, BT-Mais minus 22 Prozent und BT-Baumwolle minus 26 Prozent, RR-Baumwolle hingegen plus 5 Prozent. Das heißt, die Entwicklung des Anbaus gentechnischer Pflanzen ist rückläufig. Sie sagen, Grund dafür sei die mangelnde Akzeptanz. ({2}) Ich sage dazu ganz klar, dass die USA eine ökonomische Lehre ziehen mussten, die darin bestand, dass sich der Markt nicht allein nach wissenschaftlichen Daten ausrichtet, sondern an Nachfrage und Akzeptanz orientiert. Ich möchte Ihnen auch noch etwas zur Insektenresistenz von BT-Mais sagen: USDA hat festgestellt, dass es keine Unterschiede in den Pestizidaufwandmengen gibt. Ich unterstütze zwar den Anspruch, ökologische Komponenten in der Gentechnik weiterzuentwickeln; das ist in Ordnung, aber es sind reale Schwierigkeiten vorhanden. Wer ein wenig Kenntnis von Züchtung und Anbautechnik hat, dem erklärt sich das ganz leicht. Das heißt, unter dem Strich gibt es bei Mais keine Unterschiede in den Pestizidaufwandmengen. Es gab bei zwei Regionen Ertragszuwächse und bei einer Region keinen Ertragszuwachs. Ich komme zur Baumwolle. Sie ist ebenfalls insektenresistent. Im Mississippidelta gab es 53 Prozent mehr Spritzmitteleinsatz. Alle anderen Regionen waren im Vergleich genauso hoch. Bei zwei Regionen gab es Ertragszuwächse, bei einer keinen Ertragszuwachs. Das geht so weiter. Bei allen anderen gibt es Resistenzen. Das ist natürlich zu erklären. Man muss daraus einfach den Schluss ziehen: Dort, wo es einen entsprechend hohen Befall gibt, lohnt sich der Einsatz. Ansonsten ist es wie bei anderen Pflanzenschutzaufwendungen ganz normal. Es hängt eben von der aktuellen Situation ab. Das heißt, auch hier gibt es eine Relativierung. Beim Einsatz ist eine Differenzierung nötig und unumgänglich, um hier nicht in Wolkenkuckucksheime zu verfallen. Ich will noch einen anderen Punkt aufgreifen: Die Umweltbehörde in den USA hat die Auflagen für die Aussaat für BT-Mais verschärft. Eine staatliche Anbauplanung ist damit verbunden. Ich meine, die Liebe zur alten DDR mag bei manchen noch etwas größer sein, aber man muss doch ganz klar sagen: Resistenzmanagementplanungen schränken die unternehmerische Freiheit in einem erheblichen Ausmaß ein, sind aber unumgänglich. Das heißt auch hier: Gentechnischer Anbau kann nur dann in Frage kommen, wenn es eine bestimmte Problemlage gibt. Dann muss man noch sehr darüber nachdenken, wie man denn diese Anbauplanung überhaupt gestaltet. Ein Herangehen in dieser Naivität, was Sie hier vortragen, kann und darf es einfach nicht geben. ({3}) Hunger in der Dritten Welt: Auch hierzu noch eine kleine Anmerkung, obwohl heute Morgen vonseiten der PDS schon einiges gesagt wurde. Der Hunger in der Dritten Welt mag immer erwähnt werden, aber das Lösungspotenzial ist nicht vorhanden. Man wartet immer auf die Nutzpflanzen, die jetzt noch kommen, die dem Verbraucher und den armen Menschen in der Dritten Welt Nutzen bringen. Man wartet auf die neue Generation. Aber bislang haben wir das noch nicht. Zweitens. Die Resistenzprobleme - ich habe gerade auf die USA verwiesen - ergeben sich in den Ländern der Dritten Welt natürlich noch sehr viel verschärfter. Es gibt ein enormes Risiko, dass hier Ernteausfälle auftreten könnten. Drittens. Die Millionen von Entwicklungskosten müssen natürlich irgendwo wieder hereinkommen. Das heißt, die Kaufkraft muss vorhanden sein, um diese Technik anzuwenden. Auch hier gibt es ein großes Fragezeichen. Zu der Patentierung brauche ich ihnen nichts weiter zu sagen. Auch hier gibt es erhebliche Probleme im Bereich des Nutzens für die Dritte Welt. Dies bedeutet eher eine Gefahr. Ich will noch einen Aspekt, der wichtig ist, einbeziehen. Wir haben in Deutschland einen hohen Standard bei der biologischen Sicherheit und hohe Anforderungen an die Risiko- und Begleitforschung. Hohe Sicherheitsstandards und größtmögliche Transparenz sind wesentliche Voraussetzungen für die Herstellung des Vertrauens und für die Tragfähigkeit von Forschung und Anwendung. Die hohen Sicherheitsstandards bei der Anwendung von gentechnischen Verfahren sind daher notwendigerweise beizubehalten. Die heutigen abgestuften Verfahren haben sich bewährt. Das ist etwas, was ich Ihnen zugute kommen lasse. Aber unter dem Gesichtspunkt des vorbeugenden Gesundheits- und Verbraucherschutzes ist es unverzichtbar, dass alle gentechnischen Verfahren und gentechnisch veränderten Organismen dem Gentechnikrecht oder einem gleichwertigen Recht unterliegen. Ich plädiere sehr dafür, dass es so bleibt. ({4}) Ich habe über die Arbeitsplätze schon einiges gesagt. Ich will das nicht wiederholen. Ich will nur sagen: Es gibt hier Möglichkeiten, Arbeitsplätze in neuen Industrien zu verankern und zu unterstützen. Nur noch eines: Im Biotechnologiebereich gibt es drei Mal so viele Patentanwendungen wie im reinen Bereich der Gentechnik. Auch hier gibt es noch Nachholbedarf. Ich bin sicher, diese Bundesregierung wird sich auch diesem Bereich der Biotechnologie verstärkt zuwenden. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Kersten Naumann von der PDSFraktion.

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Antworten zur Großen Anfrage und der Entschließungsantrag der F.D.P. propagieren eine Gentechnik, die angeblich Vorteile für den Verbraucher, für die Umwelt, für die Lösung des Welthungerproblems und zur Arbeitsplatzschaffung mit sich bringt. Genau das hat Kollegin Flach vorhin noch einmal ausdrücklich betont. Tatsächlich geht es aber um Profite durch die Sicherung von Technologievorsprüngen, die Ankurbelung der Wachstumsspirale und die nachhaltige Sicherung von Märkten. Die Landwirtschaft und die Verbraucher sollen zu Werkzeugen multinationaler Konzerne werden und an deren Risikoprodukten gesunden. Die kritische Auseinandersetzung mit den ökologischen und gesundheitlichen Risiken der Gentechnik ist denen ein Dorn im Auge, die dabei das große Geld verdienen wollen. Wechselwirkungen in und zwischen Mikroorganismen, Pflanze, Tier und Mensch sind noch gar nicht hinreichend identifiziert und erforscht, aber Transgene bereits freigesetzt. Noch vor zwei Jahren haben die Grünen eine sehr kritische Haltung zu diesen Prozessen vertreten. Ich habe dies auch den Äußerungen von Kollegin Höfken entnommen. Doch sehr viel von dieser Kritik ist nicht übrig geblieben. Die F.D.P. befindet sich in einem besonderen Dilemma; denn sie ist nicht ehrlich genug, das Kind beim Namen zu nennen. ({0}) Sie muss schon noch erklären, warum sie einerseits heuchlerisch unter dem Titel „Wahnsinn für den Verbraucher“ im Falle BSE auf Verbraucherschutz setzt und andererseits im Falle von BT-Mais nicht. ({1}) Weder das eine noch das andere ist hinreichend wissenschaftlich erklärt. Aber die F.D.P. meint, für „die Verbraucher besteht kein Grund zur Sorge“. Sie schlüpft mit ihrem Entschließungsantrag in die Rolle eines Übervaters, der die biologische Welt neu erschaffen will. ({2}) Doch dieses Vorhaben wird in einer Katastrophe enden. Alle kritischen Sichten und Bewertungen - selbst vom Umweltbundesamt - werden unter den Teppich gekehrt. Die seit der Zulassung des BT-Maises neuen wissenschaftlichen Befunde und die langsam durchsickernden Erfahrungen der amerikanischen Bauern, die von Monsanto & Co. mit den schillerndsten Versprechungen über den Tisch gezogen wurden, werden ignoriert. Die PDSFraktion wird ein Gespräch mit dem US-Anwalt Steven Druker in der nächsten Woche nutzen, um sich über die Täuschungen der amerikanischen Zulassungsbehörden für Gennahrung informieren zu lassen. Ich kann allen Fraktionen das Gleiche nur empfehlen. ({3}) Die Landwirtschaft könnte sich weltweit nach dem Willen der Gentechnikbefürworter schon bald in einem tief greifenden Strukturwandel wiederfinden, ({4}) an dessen Ende mehr und mehr Nahrungsmittel und Rohstoffe in Gewebekulturen, in riesigen Bakterientanks gewonnen werden - zu einem Bruchteil der Kosten, die der Freilandanbau erfordert. Bei Aromen, Zucker und einer Vielzahl von Zusatzstoffen sind wir schon fast so weit. Die Herstellung von Fleisch-, Zitrus- und anderen Pflanzenersatzstoffen ist nur noch eine Frage der Großtechnik und der Zeit. Ich sage Ihnen: Nicht die Landwirtschaft wird profitieren, sondern sie wird die wirtschaftlichen Risiken tragen müssen. Die millionenschweren Profite der Agro- und Pharmariesen - einst nicht unerheblich mit Steuergeldern gefördert - werden nicht der Landwirtschaft oder dem ländlichen Raum, dem Gemeinoder Gesundheitswesen zur Verfügung gestellt, sondern fließen in Privattaschen. Trotz der vielen Fehlschläge, Misserfolge und neuen Erkenntnisse der möglichen ökologischen und gesundUlrike Höfken heitlichen Risiken sind die führenden Köpfe der wissenschaftlichen Gemeinschaft, ein Großteil der Medien, die Bundesregierung sowie - mit wenigen Ausnahmen - die Wirtschaft nicht bereit, „sich an einer breiten öffentlichen Diskussion über das zu beteiligen, was sich mit großer Wahrscheinlichkeit als das radikalste Experiment erweisen wird, das die Menschheit jemals an der Natur vorgenommen hat“. So schätzt es nicht nur der amerikanische Trendforscher Jeremy Rifkin ein. Die PDS fordert mit ihrem Entschließungsantrag dazu auf, die Verantwortung für die Menschen und die Erhaltung von Natur und Umwelt für die zukünftigen Generationen wahrzunehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Hilfe für ihre weiteren Überlegungen möchte ich Ihnen noch folgenden Ausspruch von Adorno mit auf den Weg geben: „Nichtig ist das Denken, welches Gedachtes mit Wirklichem verwechselt.“ Danke schön. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Albert Deß von der CDU/CSU-Fraktion.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gentechnik ist eine Zukunftstechnologie. In der Industrie spielt die Gentechnik heute eine bedeutende Rolle; sie ist Hoffnungsträger für viele Menschen. Unbestritten ist ihr Einsatz in der Medizin. In der Tier- und Pflanzenzüchtung müssen wir die Chancen der Gentechnik erkennen und nutzen. ({0}) Die Chancen, die die Gentechnik bietet, müssen im Vordergrund stehen, ohne die Risiken außer Acht zu lassen. Veränderungen an Pflanzen und Tieren werden schon seit vielen Generationen vorgenommen, um damit die Versorgung mit qualitativ hochwertiger Nahrung sicherzustellen. Um ein Beispiel zu nennen: Weizen ist keine Urpflanze, sondern ein Produkt der Pflanzenzüchtung und damit ein Nahrungsmittel, das in seinen Genen verändert ist. Wäre Weizen nicht im Wege der konventionellen Züchtung entstanden, sondern durch moderne Gen- und Biotechnik, stünde er heute auf der roten Liste fanatischer Gegner der Gen- und Biotechnologie. ({1}) Vielleicht wäre er bereits im Freilandversuch zerstört worden, bevor er seinen weltweiten Siegeszug als eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel angetreten hätte. Im Gegensatz zur Züchtung eröffnet die Gentechnologie, aufbauend auf der Biotechnologie, zahlreiche neue Möglichkeiten. Bei der konventionellen Züchtung, die nicht gezielt vorgenommen werden kann, benötigt man oft Jahrzehnte, um einen Erfolg zu erreichen. Durch den gezielten Eingriff in die Erbsubstanz mithilfe der Gentechnik kann ein Erfolg in wesentlich kürzerer Zeit erreicht werden. Ein Ziel der Gentechnik ist es, die Lebensgrundlagen der Menschen auch in Bezug auf ihre Gesundheit zu sichern. Wir müssen unsere Verantwortung wahrnehmen, für eine rasant wachsende Weltbevölkerung ausreichend Nahrungsmittel zur Verfügung zu haben. Zur Ernährungssicherung müssen die jetzigen Erträge in den nächsten 20 Jahren um mindestens 60 Prozent erhöht werden. Auch wenn wir zurzeit über Agrarüberschüsse diskutieren, ist trotzdem dieser Anstieg notwendig, damit die Bevölkerung in 20 Jahren ernährt werden kann. ({2}) Unumstritten ist der Einsatz der Gentechnik im Bereich der Medizin. Über 40 gentechnisch hergestellte Medikamente sind derzeit in Deutschland zugelassen. Dass davon nur sechs in Deutschland hergestellt werden, zeigt, dass diese Schlüsseltechnologie bei uns nur schwer Fuß fassen kann. Die Anwendung der Gentechnik in der Landwirtschaft ist zur Lösung der Zukunftsprobleme unerlässlich. Pflanzenzüchter haben mir berichtet, dass es mithilfe der Genund Biotechnologie möglich sein wird, bei nachwachsenden Rohstoffen wesentlich wirtschaftlicher zu werden. Die Pflanzenzüchtung der Vergangenheit war fast ausschließlich auf die Weiterentwicklung von Pflanzen für die Ernährung ausgerichtet. Wer die Ziele der Agenda 21 ernst nimmt, muss auch im Rohstoff- und Energiebereich auf Nachhaltigkeit setzen. Nachwachsende Rohstoffe bzw. Energien können dazu einen wertvollen Beitrag leisten. Bei nachwachsenden Rohstoffen, meine sehr verehrten Damen und Herren, steckt die Pflanzenzüchtung noch in den Kinderschuhen. Ohne Gen- und Biotechnologie würde es Jahrzehnte dauern, um optimale Pflanzen zur Verfügung zu haben. Gen- und Biotechnologie können mithelfen, den Züchtungszeitraum stark zu verkürzen, damit die Wirtschaftlichkeit bei nachwachsenden Rohstoffen und Energien wesentlich schneller zu erreichen und auch unseren jungen Landwirten damit wieder eine Perspektive für die Zukunft zu geben. Mögliche Risiken und Gefahren, die mit der Anwendung von gentechnologischen Methoden zusammenhängen, dürfen dabei nicht außer Acht gelassen werden. Wie jede andere Technologie bietet die Gentechnik nicht nur neue Chancen, sondern auch Risiken. Diese sind wissenschaftlich erfassbar und durch geeignete Maßnahmen, die das Gentechnikgesetz vorschreibt, beherrschbar. Durch angemessene gesetzliche Regelungen muss der Missbrauch verhindert werden. Die großen Chancen, die in der Gentechnik liegen, dürfen aber nicht durch überzogene Vorgaben behindert oder unnötig eingeschränkt werden. Mit der Gentechnik verbunden ist eine Vielzahl von hoch qualifizierten Arbeitsplätzen. Europaweit erwartet man circa 2 Millionen neue Arbeitsplätze durch die Genund Biotechnologie. In den USA rechnet man mit einer Versechzehnfachung der Arbeitsplätze in diesem Bereich. ({3}) Sie wird damit ein wichtiges Standbein der Beschäftigung in der Zukunft darstellen. Durch politische Rahmenbedingungen haben wir dafür zu sorgen, dass dieser Industriezweig nicht in das Ausland getrieben wird. ({4}) Wer Freilandversuche bei uns zerstört, zerstört auch die Arbeitsplätze. ({5}) Rot-Grün hat in der Vergangenheit mit seiner technikfeindlichen Einstellung viel zum Verlust von Arbeitsplätzen in unserem Land beigetragen. ({6}) Die Gen- und Biotechnologie führt ihre Forschung eben dort durch, wo weniger bürokratische Auflagen zu erfüllen sind. ({7}) Es war das Verdienst von Horst Seehofer und der CDU/CSU/F.D.P.-Mehrheit, dass ein Gentechnikgesetz die Rahmenbedingungen für die Gen- und Biotechnologieforschung in Deutschland verbessert hat. ({8}) Wer jetzt beim so genannten BT-Mais nur wieder Ängste schürt, wird seiner Verantwortung nicht gerecht. Bei den Grünen soll es vor vielen Jahren einen Parteitagsbeschluss gegeben haben, bei dem man sich gegen die Einführung der EDV-Technik ausgesprochen hat. Dieser Beschluss hat wenig genützt; die Entwicklung hat den Beschluss der Grünen überholt. Genauso geht es mit Beschlüssen gegen die Gentechnik. Wenn Rot-Grün bei der Gen- und Biotechnologie die rote Karte in den Vordergrund stellt, braucht man sich nicht zu wundern, wenn in einigen Jahren auch in dieser Schlüsseltechnologie Green Cards benötigt werden. Damit wir in Zukunft weniger Green Cards benötigen, brauchen wir möglichst viele rote Karten gegen die rot-grüne Bundesregierung. ({9}) Die CDU/CSU-Fraktion setzt sich dafür ein, dass die Chancen der Gen- und Biotechnologie genutzt werden, ohne dass dabei die Risiken außer Acht gelassen werden. Nur so können wir in unserem Land Arbeitsplätze schaffen und erhalten. Deshalb werden wir, die CDU/CSU, dem Antrag der F.D.P. zustimmen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär WolfMichael Catenhusen.

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Meine Damen und Herren! Ich höre in einigen Beiträgen der Redner und Rednerinnen der Oppositionsfraktionen, vor allem von der rechten Seite des Hauses, ein leichtes Bedauern darüber, dass es heute nicht so einfach ist, wie Sie sich das vielleicht erhofft haben, die große Abrechnung mit der Gentechnikpolitik der rot-grünen Koalition zu vollziehen. ({0}) Ich glaube, dass sich die gründliche Arbeit zur Beantwortung der Großen Anfrage der F.D.P. zu den Perspektiven der Bio- und Gentechnik am Standort Deutschland gelohnt hat. Wir haben in Ausfüllung der Linie, die wir in der gemeinsamen Koalitionsvereinbarung festgelegt haben, dokumentiert, dass nicht das Schwarz-Weiß-Malen, nicht das Beschwören von Utopien oder Horrorszenarien den angemessenen gesellschaftlichen Umgang mit der Bio- und Gentechnik darstellt. Wir haben in unserer Antwort einige Gesichtspunkte in den Vordergrund gestellt. Wir lassen uns in den verschiedenen Ressorts in unserer Politik auf diesem Gebiet von dem Gesichtspunkt leiten, die Chancen für gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt zu nutzen, dabei allerdings auch unsere Verantwortung für den Schutz von Mensch und Umwelt durch effektive rechtliche Rahmenbedingungen wahrzunehmen. Wir werden weiter daran arbeiten, auch angesichts neuer Entwicklungen, die ethisch gebotenen Grenzen in Deutschland so zu ziehen, dass dadurch Beispiele für internationale Regelungen geschaffen werden. Es gilt nüchtern festzuhalten, dass die Bio- und Gentechnologie ihren Erfolg in vielen Bereichen unserer Gesellschaft nur dann feiern wird, wenn der Verbraucher die von ihr angebotenen und entwickelten Produkte akzeptiert. ({1}) Es ist nicht Aufgabe der Politik, Akzeptanzkrisen, die gentechnisch erzeugte Lebensmittel heute aus guten Gründen am Markt erleben, sozusagen durch verstärkte Propaganda zu ersetzen. ({2}) Ich denke, wir tun viel, auch in diesem zweiten Jahr unserer Regierung, um die Chancen der Gentechnik für unsere Entwicklung zu nutzen. Ich will das an zwei Beispielen verdeutlichen. Wir erhöhen die Ausgaben im Bereich der Bio- und Gentechnologie in diesem Jahr um etwa 10 Prozent. Wir haben sie bereits 1999 um 10 Prozent gesteigert. Sie waren Weltmeister im Sprücheklopfen auf diesem Gebiet, aber man muss auch einmal die Akzente Ihrer Politik in den letzten Jahren überprüfen. Heute hat Craig Venter zumindest eine erste Version des menschlichen Genoms der Öffentlichkeit vorgestellt. Dabei wird doch die Frage aufgeworfen, die Sie sich vielleicht einmal stellen müssten: Wie war denn eigentlich die Haltung der Vorgängerregierung zu dem Thema Genomforschung? Es dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass in Deutschland sieben Jahre später als in allen anderen Industrieländern, im Jahre 1996, die ersten Projektmittel des BMBF in den Bereich Genomforschung geflossen sind. ({3}) Das spricht Bände. Deshalb können Sie sich Ihre Sprüche sparen, dass Sie auf diesem Gebiete eine erfolgreiche Politik gemacht hätten. Wer so ein wichtiges Forschungsfeld vernachlässigt, ({4}) hat meiner Ansicht nach kein Recht, der rot-grünen Koalition belehrende Worte über richtige Politik im Bereich der Bio- und Gentechnik zu sagen. ({5}) Es geht zu Recht darum, angesichts der Entwicklung der grünen Gentechnik den Schutz von Mensch und Umwelt zu sichern. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass es mittlerweile einen Konsens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union in zweierlei Hinsicht gibt: Erstens. Wir brauchen auf der Basis einer novellierten Freisetzungsrichtlinie eine neue rechtliche Basis, um mit erhöhten Sicherheitsanforderungen einen sicheren Umgang mit durch die Bio- und Gentechnik verändertem Saatgut und veränderten Lebensmitteln garantieren zu können. Die Bundesregierung hat es im letzten Jahr geschafft, in diesem Bereich einen gemeinsamen Standpunkt des Umweltministerrates zustande zu bringen, der übrigens sowohl von der Europäischen Vereinigung der Biotechnologieorganisationen als auch von Umweltverbänden als Fortschritt begrüßt worden ist. Zweitens. Es gibt in fast allen EU-Mitgliedstaaten einen Konsens darüber, dass wir gegenwärtig den Schwerpunkt darauf setzen müssen, durch eine Risiko- und Begleitforschung ein vermehrtes Wissen über ökologische Fragen zu gewinnen, auf die noch keine endgültigen Antworten gefunden worden sind und im Rahmen derer es Hinweise auf Gefährdungspotenziale gibt, die der sorgfältigen Prüfung bedürfen. Wir in der Bundesrepublik tun also im Endeffekt nichts anderes als die Labourregierung in Großbritannien, wo allerdings mit Zustimmung der Industrie; das hätten auch wir uns gewünscht - eine Vereinbarung besteht, über zwei oder drei Jahre hinweg keinen großflächigen kommerziellen Anbau gentechnisch veränderten Saatguts vorzunehmen, diese Jahre aber für intensive Risiko- und Begleitforschungsprojekte zu nutzen. Das macht auch die jetzige Regierung in diesem und im nächsten Jahr hier in Deutschland. Lassen Sie mich noch einen letzten Gesichtspunkt anschneiden. Zwei Themen kommen bei dem Versuch der F.D.P., aus einem differenzierten Dokument rot-grüner Bio- und Gentechnikpolitik das ihr Genehme herauszusortieren, nicht vor: Das ist zum einen die Bedeutung von Risiko- und Begleitforschung in ökologischen Fragen und zum anderen die sich vermehrt stellende Notwendigkeit, wissenschaftliche, ethische, soziale und rechtliche Fragen der Bio- und Gentechnik vor allem bei der Anwendung am Menschen aufzuarbeiten. Ich denke, es ist ein gutes Zeichen, dass nicht zuletzt durch Entscheidungen des Haushaltsausschusses im vergangenen November die Mittel für die Risiko- und die Begleitforschung deutlich gesteigert worden sind, um bessere Antworten auf ökologische Risiken zu finden. Letztendlich waren wir es, die ein anständiges Programm zur Bearbeitung ethischer, sozialer und rechtlicher Fragen in der Bio- und Gentechnologie aufgelegt haben. Die alte Regierung hat den einen oder anderen Kongress gefördert. Das ist zwar nett, hat aber eher symbolische Bedeutung. Wir starten gerade in diesen Wochen ein eigenes Forschungsprogramm zur Bearbeitung dieser ethischen, sozialen und rechtlichen Fragen. Wir werden damit sicherlich einige Vorarbeiten für die Arbeit der soeben beschlossenen Enquete-Kommission „Recht und Ethik für eine moderne Medizin“ leisten. Bei dem Versuch der polemischen Zuspitzung auf die Frage des Nachwuchsmangels sollten Sie vorsichtig sein. Sie wissen, dass die Entscheidung junger Menschen Mitte der 90er-Jahre, welcher Ausbildung sie sich unterziehen, eine Grundlage dafür ist, wie viele Absolventen wir in diesem Bereich haben. Wenn sich im nächsten oder übernächsten Jahr ein Problem ergeben sollte, dann muss man Sie genauso wie für den Bereich IT fragen: Was haben Sie eigentlich in den letzten Jahren unternommen, um gezielt dafür zu werben, dass junge Menschen einen Beruf auf diesem Gebiet ergreifen? Das sollte natürlich nicht in der platten Weise erfolgen, dass gesagt wird, hier sei ein Goldgräberland. Dass in diesem Bereich 2 Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden können, glaubt Ihnen in Europa keiner mehr. Aus guten Gründen haben Sie ja auch vermieden zu sagen, ob diese in 15, 20 oder 30 Jahren entstehen. Sich hinzustellen und von 2 Millionen Arbeitsplätzen zu sprechen ist sehr wohlfeil. Wir brauchen junge Menschen, die in diesem Bereich als Wissenschaftler oder in der Industrie arbeiten, die aber gleichzeitig wissen, welche Verantwortung sie mit ihrer Tätigkeit übernehmen. Ich denke, es geht nicht darum, für oder gegen die Gentechnik zu sein, sondern darum, in einem verantwortbaren Rahmen die Chancen dieser Technik zu nutzen und ihr dort, wo es notwendig ist, Grenzen zu setzen. Von dieser Politik wird sich die rot-grüne Koalition weiter leiten lassen. ({6}) - Lieber Herr Kollege aus Bayern, die grobschlächtige Politik, wie Sie sie im Bayerischen Landtag pflegen, ist hier im Bundestag bei diesem Thema fehl am Platz. Parlamentarischer Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen ({7}) Schönen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Heinrich-Wilhelm Ronsöhr von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Catenhusen, so einfach ist das nicht. ({0}) Wenn Sie mit vielen jungen Wissenschaftlern in dieser Republik sprechen, dann vertreten diese häufig die Auffassung, dass viele in Ihrer Koalition - nicht Sie persönlich - den Wind säen und sie dann gegen die Windmühlenflügel kämpfen müssen. Dies ist im Grunde genommen die Frage, die wir hinsichtlich der Gentechnik als die herausfordernde zu beschreiben haben. ({1}) Viele möchten zwar keine Entwicklung verschlafen, aber sie träumen nach wie vor - zumindest im Bereich der grünen Gentechnik - von einer gentechnikfreien Zeit. Es gibt ja sogar rot-grüne Mehrheiten in Stadträten, die gentechnikfreie Bezirke beschließen, obwohl sie genau wissen, was in den Apotheken geschieht, ({2}) dass nämlich dort gentechnisch veränderte Medikamente verkauft und verschrieben werden. ({3}) Ich möchte Ihnen etwas zur grünen Gentechnik sagen. Ich habe meine grundsätzlich positive Haltung zur Gentechnik schon mehrfach deutlich gemacht. Die Gentechnik bietet in Kombination mit traditionellen Züchtungsmethoden die Möglichkeit, höhere Erträge sowie bessere Qualitäts- und Anbaueigenschaften der Pflanzen gezielter und schneller zu erreichen. Damit kann sie auch einen Beitrag zur Ressourcen schonenden und umweltverträglichen Landwirtschaft leisten. ({4}) Wir sollten auch aus einem anderen Grund nicht leichtfertig auf die Gentechnik verzichten. Ich meine die Überwindung des Hungers in der Welt. Jetzt wundere ich mich, dass Sie von der Regierungskoalition nicht klatschen. Ich habe nämlich eben verlesen, was der Bundeslandwirtschaftsminister beim Bundessortenamt in Hannover verkündet hat. ({5}) Er hat dies beim Bundessortenamt verkündet, weil er wusste, dass er dort vor Befürwortern der Gentechnik sitzt. Ich glaube, dass Herr Funke, wenn er vor Kritikern der Gentechnik sprechen würde, etwas anderes verkünden würde. So aber gibt jeder jedem Recht. ({6}) Nur findet der kritische Dialog, der über die Gentechnik geführt werden müsste, nicht statt, ({7}) wenn man immer zu denen spricht, die man vor sich hat und im Grunde genommen deren Akzeptanz möchte und keine Akzeptanz für die andere Seite verbreitet. Dies ist das eigentliche Problem, das in Bezug auf die Gentechnik besteht. Natürlich gibt es bei der Gentechnik Risiken, die wir abzuschätzen haben. Aber, meine Damen und Herren, werden denn diese Risiken in Europa wirklich nicht abgeschätzt? Hat zum Beispiel in der Frage des gentechnisch veränderten Mais - Frau Flach hat darauf aufmerksam gemacht - keine Risikoabschätzung stattgefunden? Sie hat doch stattgefunden, und zwar beim Robert-Koch-Institut sowie beim Bundessortenamt. Vor dem Bundessortenamt hat ein Mitglied der Bundesregierung gerade dessen Kompetenz herausgestellt. Aber dann, als sich das Bundessortenamt für die Zulassung dieses Maises entscheiden wollte, hat die Bundesregierung genau diese Kompetenz wieder bestritten. ({8}) Denn man wollte aus politischen Gründen nicht, dass dieser Mais zugelassen wird. Meine Damen und Herren, wozu wenden Sie dann diese Anstrengungen auf? Wozu dient das umfassende Regelwerk, das es dort gibt, wenn nachher nicht nach dessen Regeln entschieden werden darf? Dies ist doch das eigentliche Problem.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Ronsöhr, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bei Uli Heinrich immer.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Ronsöhr, würden Sie mir Recht geben, dass die Bundesregierung genau entgegengesetzt zu dem gehandelt hat, was der Herr Staatssekretär an diesem Pult gerade verkündet hat?

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Natürlich. Der Staatssekretär hat sich damit herausgeredet, dass dieses Regelwerk jetzt verändert werden muss. So redet man sich immer heraus. Erst schafft man gemeinsam ein Regelwerk und bekennt sich dazu. Wenn dieses Regelwerk Konsequenzen haben soll, dann zieht man sich zurück. Denn im Grunde genommen muss man auf die Grünen und Parlamentarischer Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen einige Rot-Grüne Rücksicht nehmen, die die Parteiproblematik der Grünen verinnerlicht haben. ({0}) Das ist doch das eigentliche Problem in unserem Lande, nicht nur in diesem Bereich. ({1}) Hier wäre es vernünftig, Rahmenbedingungen zu beschreiben. Sie sind heute im Zusammenhang mit der Biosicherheit in diesem Hause diskutiert worden. Wir haben nichts dagegen, solche Rahmenbedingungen zu beschreiben. Aber wenn nach den Rahmenbedingungen entschieden wird, dann muss man diese Entscheidungen akzeptieren und darf sie nicht sofort rückgängig machen oder schon vorher infrage stellen. Wenn man das doch tut, wird das viele nicht ermutigen, die sich gerade im Bereich der Gentechnik einsetzen. Nachher ist es dann wieder so, wie Albert Deß es beschrieben hat: Erst wollen wir Entwicklungen in Deutschland nicht, dann müssen wir sie aus dem Ausland nach Deutschland zurückholen. Das ist zu kritisieren und zu verändern. Wenn Sie hier nach der Devise, die der Bundeslandwirtschaftsminister - an dieser Stelle will ich ihn in der Tat loben - ausgegeben hat, handeln würden, dann hätten Sie den gentechnisch veränderten Mais in Deutschland zugelassen. Aber das können Sie nicht, weil dann wieder RotGrüne kommen und diesen Mais zertreten. Damit zertreten sie auch Entwicklungen, die wir in Deutschland unbedingt benötigen. ({2}) Vielen Dank, dass auch Sie von der sozialdemokratischen Seite mir so ruhig zugehört haben. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aus- sprache. Wir stimmen über die Entschließungsanträge zur Großen Anfrage der Fraktion der F.D.P. zu den Chancen der Gentechnik als Schlüsseltechnologie des 21. Jahr- hunderts ab, und zwar zunächst über den Entschließungs- antrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/3103. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs- antrag ist mit den Stimmen der SPD, der Bündnisgrünen und der PDS gegen die Stimmen von F.D.P. und CDU/CSU abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Druck- sache 14/3104. Wer stimmt für diesen Entschließungsan- trag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ent- schließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt worden. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu den Unterrichtun- gen der Bundesregierung zu Vorschlägen für Entschei- dungen des Rates zum vorläufigen Verbot von genetisch verändertem Mais in Österreich und Luxemburg, Druck- sache 14/838. Der Ausschuss empfiehlt die Annahme ei- ner Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussemp- fehlung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD, von Bündnis 90/Die Grünen und der PDS-Fraktion ange- nommen worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b sowie Zusatzpunkt 6 auf: 11. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausJürgen Hedrich, Dr. Christian Ruck, Dr. Norbert Blüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Bemühungen um Agrarreformen in Entwicklungsländern verstärken - Drucksache 14/1663 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold Hemker, Adelheid Tröscher, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({1}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Agrarreform in der Entwicklungszusammenarbeit einen höheren Stellenwert geben - Drucksache 14/1194 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Joachim Günther ({3}), Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der F.D.P. Agrarpolitische Entwicklungszusammenarbeit fördern - Drucksache 14/3102 - Interfraktionell ist vereinbart, dass die Reden zu Pro- tokoll gegeben werden*). Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann wird so verfahren. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/1194 und 14/1663 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 14/3102 soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 14/1663 überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Monika Balt, Dr. Dietmar Bartsch, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes - Drucksache 14/841 ({4}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5}) - Drucksache 14/2618 - Berichterstattung: Abgeordnete Horst Kubatschka Kurt-Dieter Grill Michaele Hustedt Eva-Maria Bulling-Schröter Mit Ausnahme des Redebeitrags der PDS sollen alle Reden zu Protokoll gegeben werden**). Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihnen liegt heute unser Gesetzentwurf vor, der die Bundesregierung und die Fraktionen der SPD und des Bündnis 90/Die Grünen an ein Versprechen erinnern soll: Die rot-grüne Bundesregierung wollte binnen 100 Tagen nach Amtsantritt das Atomgesetz ändern. Das ist jedoch nicht erfolgt. Stattdessen hat die Bundesregierung Gespräche mit den Atomkraftwerksbetreibern aufgenommen. Wenn ich den Verlauf dieser Gespräche richtig interpretiere, hat sich die Bundesregierung so weit über den Tisch ziehen lassen, dass von einem Ausstieg nicht mehr die Rede sein kann. Die Bundesregierung verfolgt nicht mehr den Ausstieg, sie plant ein Atomkraftverstromungsgesetz. Wenn ich den jüngsten Parteitagsbeschluss der Grünen richtig lese, dann soll den Atomkraftwerken eine 30jährige Laufzeit auf Basis einer durchschnittlich während dieses Zeitraums erzeugten Strommenge zugestanden werden. Wie ist diese Strategie zu bewerten? Erstens ist die Laufzeit indiskutabel lang. ({0}) Sie liegt weit über den jeweiligen Amortisationszeiträumen dieser Kraftwerke. ({1}) - Richtig, das ist ein schwieriges Wort. Das zweite Problem betrifft das flexible Entgegenkommen der Bundesregierung bezüglich einer Restlaufzeit, die auf der Grundlage einer Gesamtmenge Atomstrom ermittelt werden soll. Denn - erstens -: Werden ein oder zwei Atomkraftwerke früher vom Netz genommen, sollen andere dafür länger betrieben werden dürfen. Zweitens - und noch schlimmer -: Stillstandszeiten, die sich aus Auflagen der Atomaufsicht ergeben, würden das zeitliche Betriebsende verlängern. Die Betreiber erhoffen sich von einer solchen Atomkraftverstromungsgarantie einen gewissen Schutz gegen eine „Politik der Nadelstiche“. Angesichts dieser Aussichten fordere ich Sie auf, die Gespräche über Restlaufzeiten ergebnislos abzubrechen. ({2}) - Richtig, das entscheiden Sie, aber ich kann Sie dazu auffordern! - Denn das von Ihnen favorisierte Atomkraftverstromungsgesetz ist ein Schritt zurück statt nach vorn. ({3}) Statt weiterhin einen Ausstieg im Konsens zu verfolgen, sollte die Zweckbestimmung des Atomgesetzes schlicht und einfach geändert werden und zwar mit dem Ziel eines „schnellstmöglichen Ausstiegs“. Unser Entwurf fordert dies. Die Zweckänderung müsste von den Gerichten in allen zukünftigen Entscheidungen als unmissverständlicher Auftrag des Gesetzgebers berücksichtigt werden. Im zweiten Punkt unseres Entwurfes fordern wir ein umgehendes Verbot der Wiederaufarbeitung. ({4}) Die Wiederaufarbeitung geht nachweislich mit einer unzumutbaren radioaktiven Belastung einher. Ich erinnere Sie an die radioaktiven Tauben, an die erheblichen Einleitungen radioaktiver Abfälle in die Irische See und in den Atlantik. Ich erinnere an das Problem, das keine hinreichende Vorsorge gegen das Abzweigen von waffentauglichem Material getroffen werden kann. Auch Sellafield sollte genug Gründe für ein sofortiges Verbot der Wiederaufbereitung geben. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD und der Grünen, ({5}) wenn noch in dieser Legislaturperiode Castor-Transporte mit verglasten Abfällen aus La Hague nach Gorleben stattfinden sollten, dann können Sie damit rechnen, dass der innenpolitische Frieden nachhaltig gestört wird. ({6}) Sie wissen, glaube ich, sehr gut, was da auf Sie zukommt. Zum dritten und letzten Punkt unserer Initiative: Der Konflikt mit der Bevölkerung an den Endlagerstand- orten Gorleben und Salzgitter dauert nun schon viele Jahre an, ohne dass ein Ende in Aussicht steht. Wir be- grüßen daher alle Initiativen der Bundesregierung, mittels eines belastbaren Kriterienkatalogs einen neuen Standort für alle radioaktiven Abfälle zu suchen. Der Bericht des Rates der Sachverständigen für Um- weltfragen legt dar, dass es aufgrund von Gasbildungs- prozessen niemals ein vollständig dichtes und sicheres Präsident Wolfgang Thierse *) Anlage 2 **)Anlage 3 Endlager geben kann. Er kann lediglich relative Sicherheit vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen versprechen. Diese Einsicht sollte von allen Beteiligten geteilt werden, da ansonsten keine sachliche Auseinandersetzung möglich wird. Wir brauchen zur Lösung des Endlagerproblems ein politisch faires und von sachlichen Erwägungen getragenes Verfahren zur Auswahl eines neuen Standortes. Um das Vertrauen wiederzugewinnen, muss den Betroffenen deshalb bereits sehr frühzeitig die Gelegenheit gegeben werden, ihre Rechte wahrzunehmen. Die Atomgesetzänderung der vorherigen Bundesregierung beinhaltete dagegen eine Verkürzung dieser Rechte. Die Aufnahme umfassender Vorrechte für den Bau des Endlagers Gorleben im Atomgesetz anstelle einer alternativen Nutzung des Grundes und des Bodens durch den Eigentümer Bernsdorf hat dem Konflikt um ein faires Auswahlverfahren nur eine neue Spitze gegeben. Es ist daher an der Zeit, ein Zeichen des guten Willens zu setzen und die Änderungen des Atomgesetzes von 1998 in Form der umfassenden Veränderungssperren des § 9 zurückzunehmen. Danke. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS zur Änderung des Atomgesetzes auf Drucksache 14/841. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/2618, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse jetzt über den Gesetzentwurf der PDS auf Drucksache 14/841 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung angelangt. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Donnerstag, den 13. April 2000, 9 Uhr ein. Ich wünsche einen heiteren Abend. Die Sitzung ist geschlossen.