Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Bevor wir zu Fragen
zu diesem Themenbereich kommen, möchte ich in unseren Reihen die Kollegin Grietje Bettin herzlich begrüßen.
({0})
Sie leistet nicht nur einen Beitrag zur Erhöhung des Frauenanteils, sondern trägt erheblich zur Verjüngung des Parlaments bei. - Herzlich willkommen in unserer Runde.
Nun zu den Fragen zum Themenbereich von Frau
Wieczorek-Zeul. - Herr Kollege, bitte schön.
Frau Ministerin, Sie haben den Anteil der Bundesrepublik Deutschland am Gesamtvolumen der während dieser Geberkonferenz avisierten Mittel genannt. Sind Sie in der Lage, die
Anteile der anderen großen EU-Geberstaaten zu nennen
und darüber hinaus den Anteil, den die Europäischen Union als Ganzes zu leisten bereit ist und zugesagt hat? Könnten Sie ferner einen Satz dazu verlieren, wie die Finanzierung aus dem Haushalt der Europäischen Union - ich
nenne das Stichwort „Zuckermarktordnung“ bzw. Überlegungen, aus dem Agrarhaushalt Mittel zweckzuentfremden - seitens der Bundesregierung bewertet wird?
Frau Ministerin, bitte.
Zu
den Anteilen der anderen Geberländer: Die EU-Kommission kommt auf einen Anteil von 37,4 Prozent. Bei den
EU-Ländern sind nach der Bundesrepublik die Niederlande mit einem Anteil von 5,8 Prozent und Italien mit einem von 4,2 Prozent vertreten. Der Anteil Frankreichs
liegt bei 2,2 Prozent und der Großbritanniens bei 1,9 Prozent.
Zu der Frage nach dem Einsatz von Haushaltsmitteln
der Europäischen Union. Dieses Thema war nicht Teil der
Diskussion auf der entsprechenden Geberkonferenz. Ich
gehe davon aus, dass eine Diskussion über die Frage, wie
ein Teil der Finanzierung vonseiten der EU geleistet wird,
in den Gremien der EU noch weiter stattfinden wird.
Die nächste Frage
stellt der Kollege Peter Weiß.
Frau Bundesministerin, Sie haben freundlicherweise die prozentualen Anteile der EU-Mitgliedstaaten vorgelesen, die an
der Spitze der Geberliste stehen. Besteht nach Ihrer Auffassung nicht ein Missverhältnis zwischen dem, was die
Bundesrepublik Deutschland und die Niederlande einbringen, und dem, was Frankreich und Großbritannien einbringen? Ist dieses Missverhältnis seitens der Bundesregierung entweder in europäischen Gremien oder auf der
Geberkonferenz thematisiert worden? Ich will daran erinnern, dass bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem
zerfallenen Ex-Jugoslawien Deutschland eines der Hauptaufnahmeländer war und bis zum heutigen Tag die Hauptlasten trägt.
Ich
habe selbstverständlich in meiner Rede auf der Geberkonferenz an alle appelliert, sich noch stärker zu engagieren. Das gilt natürlich im Übrigen für alle Beteiligten.
Auf der Konferenz selbst haben in der Tat eine Reihe von
Mitgliedsländern, unter anderem Frankreich, die bisher
zugesagten Beiträge aufgestockt.
Deshalb, Herr Kollege, möchte ich gewissermaßen gegenüber den anderen Regierungen eine Grundposition
einnehmen, die eine positive Erwartung ausdrückt und
nicht nur kritisiert, dass sie sich zu wenig festgelegt hätten, und zwar aus folgendem Grund: Die Projekte, die diskutiert worden sind, besonders die Quick-Start-Projekte,
aber auch alle anderen, sind noch für Beteiligungen offen.
Wir werben zum Beispiel dafür, dass andere mit uns den
Wiederaufbau der Brücke von Novi Sad - wir können das
nicht alleine schaffen - mitfinanzieren. Infolgedessen
möchte ich andere zu einer Beteiligung ermutigen. Das ist
vielleicht der richtige Ausdruck.
Herr Kollege Rauen,
bitte sehr.
Frau Ministerin, Sie haben
die aktuellen Zahlen für die Beteiligung der einzelnen
Länder am Stabilitätspakt genannt. Können Sie etwas dazu sagen, wie hoch die Beiträge der einzelnen Länder in
der Vergangenheit auch hinsichtlich bilateraler Abkommen waren?
Frau Ministerin,
bitte.
Dazu
kann man natürlich keine Zahlen angeben, und zwar deshalb nicht, weil es bisher im Rahmen des Stabilitätspaktes Zusagen gab, die bereits aufgestockt worden sind und
jetzt möglicherweise weiter aufgestockt werden. Insofern
Bundesministerin Heidemarie Wiczorek-Zeul
ist das, was ich Ihnen hier sagen kann, der aktuelle Stand
nach der Konferenz, der möglicherweise noch ausgeweitet wird.
Als nächstes gebe ich
das Wort dem Herrn Kollegen Hedrich.
Frau Ministerin,
Sie haben dankenswerterweise angesprochen, dass sich
Deutschland am Wiederaufbau der Brücke in Novi Sad beteiligen will. Haben Sie sich in diesem Zusammenhang
einmal die Frage gestellt, ob es überhaupt sinnvoll war, die
Brücke zu zerstören?
Frau Ministerin,
bitte.
Herr
Kollege Hedrich, ich glaube, dass die jetzige Regierungsbefragung über die Ergebnisse der Geberkonferenz
nicht der richtige Anlass ist, eine Diskussion über diese
Frage zu führen. Wenn Sie das möchten, kann die Diskussion im Rahmen der nachmittäglichen Debatte geführt
werden, in welche sie thematisch auch gehört.
({0})
Ich möchte ausdrücklich feststellen, dass die serbische
demokratische Opposition von uns - von der internationalen Gemeinschaft und dem deutschen Bundestag sowie
der Bundesregierung - statt eines langen innenpolitischen
Streites einen Beitrag zum Wiederaufbau dieser Brücke
erwartet. Der Wiederaufbau der Brücke ist die wichtigste
Voraussetzung dafür, dass nach der Räumung der Donau
der regionale Schiffsverkehr wieder möglich wird.
({1})
Dies ist ein Wunsch der ganzen Region. Wir wollen, dass
die regionale Kooperation entsprechend gesichert wird.
Nun hat Herr Kollege Weiß das Wort.
Frau Bundesministerin, können Sie uns einige nähere Angaben darüber machen, wie die von der Bundesrepublik Deutschland ausweislich unseres Haushaltsplanes jedes Jahr zur
Verfügung gestellte Summe von 300 Millionen DM für die
Südosteuropahilfe aufgeteilt wird. Da Sie alle Beteiligten,
auch nicht staatliche Organisationen aufgefordert haben,
entsprechende Projektvorschläge einzureichen, würde
mich insbesondere interessieren: Welcher Anteil von den
184,2 Millionen DM, die das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bewirtschaftet, wird auf den staatlichen EZ-Sektor und welcher
Anteil auf den nicht staatlichen Bereich, also Kirchen,
Nichtregierungsorganisationen und politische Stiftungen,
entfallen? Weiter würde mich interessieren, wie es sich mit
den 87,8 Millionen DM, die das Auswärtige Amt bewirtschaftet, verhält.
Frau Ministerin.
Wir
haben das aufgelistet, und zwar nach den Komplexen für
die einzelnen Tische. Daraus ergibt sich ein gewisser
Anhaltspunkt.
Knapp 20 Prozent der im Haushalt des Entwicklungsministeriums eingestellten Mittel für den Stabilitätspakt
sind für die Bereiche Demokratie und Menschenrechte sowie Unterstützung freier Journalisten und Medien vorgesehen. Unter anderem unterstützen und finanzieren wir mit
die Balkan Media Academy, um dazu beizutragen, dass es
in dieser Region eine unabhängige Berichterstattung gibt.
Dazu gehört ein Netzwerk der Versöhnung, das wir zur
Überwindung der Konflikte in der Region durch die verschiedenen Länder in Verbindung mit Flüchtlingen und
mit Nichtregierungsorganisationen verwirklichen wollen.
Bei dem gesamten Komplex des Arbeitstisches „Wirtschaftlicher Wiederaufbau, Entwicklung und Zusammenarbeit“, der einen Anteil von 78 Prozent hat, geht es um
Straßen, um Energiesysteme, um Wirtschaftsförderung,
um Berufsbildung und Gesundheit. Im Bereich Arbeitstisch „Sicherheit“ - das ist ein Bereich, der uns wenig
berührt - haben wir einen Anteil von rund 3,5 Prozent.
Daraus ersehen Sie, dass ein ganz hoher Anteil politischen Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen und damit der Zivilgesellschaft zur Verfügung steht. Damit leisten wir einen Beitrag in den Sektoren, die bisher in den betroffenen Ländern nicht existierten und gefördert werden
müssen.
Herr Kollege Weiß
möchte replizieren. Bitte sehr.
Frau Bundesministerin, darf ich Ihre Antwort so deuten, dass bisher nur eine allgemeine Aufteilung der Mittel feststeht, die
Sie dem Haushaltsausschuss vor einigen Wochen anlässlich der Mittelfreigabe vorgelegt haben, dass jedoch noch
nicht über Anträge bestimmter Zuwendungsempfänger
für Maßnahmen im Rahmen des Südosteuropapaktes entschieden worden ist, sodass Sie das hier noch nicht vortragen konnten?
Natürlich liegen die Anträge vor. Wir haben, wie wir im
Haushaltsausschuss gesagt haben, erst einmal die Geberkonferenz abgewartet, um das Einfädeln in die jeweiligen
Bereiche mitorganisieren zu können. Durch unsere bilaterale Entwicklungszusammenarbeit über die GTZ, die
KfW, über Stiftungen und andere können wir die Projekte nahtlos umsetzen und in Gang setzen. Infolgedessen
können wir auch mit der Arbeit beginnen, bzw. wir
Bundesministerin Heidemarie Wiczorek-Zeul
können das, was wir in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit schon leisten, mit zusätzlichen Finanzmitteln unterfüttern.
Nun eine Frage des
Kollegen Brecht. Bitte sehr.
Frau Ministerin, wir alle sind sehr erfreut darüber, dass bei der Geberkonferenz
mehr herausgekommen ist, als man zunächst erwarten
durfte. Mich hat sehr optimistisch gestimmt, dass der
Sonderkoordinator Hombach in seiner Rede gesagt hat:
Wir müssen darauf achten, dass wir die Planung der Donaubrücke nicht länger hinziehen, als ihr Aufbau wirklich
dauert. Darf ich in diesem Zusammenhang fragen, ob die
Europäische Kommission aus den Erfahrungen gelernt
hat, die wir in Bosnien gemacht haben, wo es nämlich bei
der Auszahlung der Mittel im Bereich Menschenrechte
und Demokratie erhebliche Verzögerungen gegeben hat?
Gibt es Anlass zur Hoffnung, dass wir diesmal hier nicht
mit bürokratischen Abläufen, sondern mit einem sehr zügigen Prüfungs- und Auszahlungsverfahren rechnen können?
Bitte sehr.
Herr
Kollege Brecht, was wir dazu tun können, tun wir. Wir haben während unserer Ratspräsidentschaft den Versuch unternommen, durch die Organisation zügigerer Abläufe im
Bereich der EU-Entwicklungszusammenarbeit und der
humanitären Hilfe entsprechende Verbesserungen zu
schaffen.
Gestatten Sie mir die Bemerkung, dass die wichtigste
Schlussfolgerung, die wir aus den Schwierigkeiten bei Finanzierungsvorhaben in Bosnien-Herzegowina ziehen
konnten, ist, jetzt einen Sonderkoordinator damit zu beauftragen. Damit stellt eine Person die Koordination der
Arbeit der verschiedenen internationalen Institutionen
und Geberländer und den Fluss der Geldmittel sicher. Er
kann im Zweifelsfalle auch Druck ausüben bzw. mit
Nachdruck die verschiedenen Länder einbeziehen. Wann
auch immer es notwendig ist, werden auch wir vonseiten
der Bundesregierung entsprechenden Druck ausüben. Das
wollte ich nach unseren Erfahrungen noch einmal sagen.
Ich persönlich meine, dass wir jetzt keine weiteren
Konferenzen mehr benötigen, sondern dass die geplanten
Projekte zu Baustellen mutieren müssen, wenn ich es einmal so ausdrücken darf, und dass die entsprechenden
Schlussfolgerungen für das praktische Leben der Menschen in der Region gezogen werden müssen.
({0})
Eine Frage des Kollegen Dr. Lippelt. Bitte sehr.
Frau Ministerin, da wir einerseits keine Kontakte mit der
offiziellen Regierung in Belgrad haben, die Regierung
Milosevic aber andererseits die Trümmer in der Donau zu
Erpressungsversuchen benutzt - wie ich es vor einem
Vierteljahr erfahren konnte -, möchte ich Sie fragen: Wer
wird auf serbischer Seite die Verträge zur Räumung der
Donau unterschreiben? Wird es der tapfere Oberbürgermeister sein? Wie sollen überhaupt vertragliche Regelungen gefunden und wie soll anschließend der Brückenbau
in Gang gesetzt werden?
Das ist eine Frage
nach dem Motto: Können Sie mich nicht etwas Leichteres fragen?
({0})
Ich
danke Ihnen für die Vorlage, Frau Präsidentin.
Bevor ich jetzt laut über diese Frage nachdenke, möchte ich sagen, dass mir daran liegt, eine breite Beteiligung
bei der Finanzierung sicherzustellen. Sie wissen ja, dass
sich etwa die USAsehr zurückhaltend gegenüber dem Bau
der Brücke in Novi Sad verhalten, um es einmal höflich
auszudrücken. Das Allerwichtigste ist deshalb, erst einmal
dafür zu sorgen, dass es genügend Finanzgeber gibt, um
die Räumung sicherzustellen - hierfür wird wohl die EUKommission geradestehen - und außerdem den Brückenbau zu finanzieren. Wenn wir das erreicht haben, dann da bin ich ganz sicher - werden wir auch die vertraglichen
Regelungen hinbekommen.
Herr Dr. SchwarzSchilling, bitte sehr.
Frau
Ministerin, meines Wissens bekommt Bosnien-Herzegowina von den Beträgen, die jetzt hier für den Stabilitätspakt genannt werden, nichts oder die Hilfen machen weniger als 1 Prozent der Gesamtsumme aus. Ich möchte gerne wissen, ob und, wenn ja, wie viel Geld nach
Bosnien-Herzegowina fließt und wie es sich aufteilt. Wird
Bosnien-Herzegowina nicht in eine sehr schwierige Situation kommen, da die verschiedenen internationalen
Organisationen bereits in diesem Jahr die laufenden Etats
weit zurückgefahren haben, sodass zum Beispiel rückkehrwillige Flüchtlinge nicht mehr die Möglichkeit haben,
vom UNHCR Hilfen für entsprechende Behausungen zu
bekommen? - Das wäre meine erste Frage.
Meine zweite Frage lautet: Wie schnell rechnen Sie mit
der Umsetzung im laufenden Jahr, ausgehend von dem
300-Millionen-Etat? Mich interessiert nicht nur das, was
Deutschland gibt, sondern das Verhalten aller Geber. Wir
haben ja die schlimme Erfahrung gemacht, dass in Bosnien-Herzegowina vom Beschließen der Finanzierungshilfen bis zur Umsetzung teilweise ein bis anderthalb Jahre verflossen sind. Welche Maßnahmen wurden getroffen,
um dieses jetzt zu verhindern?
Bundesministerin Heidemarie Wiczorek-Zeul
Bitte sehr, Frau Ministerin.
Es
gibt eine Auflistung über die Hilfen unseres Geschäftsbereichs für die einzelnen Länder. Diese besagt, dass in diesem Haushaltsjahr rund 13 Millionen DM für BosnienHerzegowina vorgesehen sind. Hinzu kommen aber insgesamt noch Länder übergreifende Projekte in einem
großen Umfang. Dies müsste man noch zusätzlich hineinrechnen.
Was die Geschwindigkeit angeht, so ist es das Anliegen auch der Geberkonferenz gewesen, dafür zu sorgen,
dass die ersten Projekte, die so genannten Quick-Start-Projekte, in diesem Jahr tatsächlich implementiert werden
können. Das hängt im wahrsten Sinne des Wortes vom
Nachdruck ab. Ich jedenfalls werde mir, bezogen auf die
Region, in den einzelnen Ländern den Fortgang immer
selbst anschauen, weil man die Zeit zwischen Beschluss
und Verwirklichung vor Ort so kurz wie irgend möglich
halten muss; denn die Menschen in der Region werden auf
Frieden und gewaltfreie Lösungen nur in dem Maße setzen, in dem sie spüren, dass sich für sie die Lebensverhältnisse tatsächlich verändern und dass die internationale Gemeinschaft beim Wiederaufbau schnelle Konsequenzen zieht.
Herr SchwarzSchilling, Sie wollen ergänzen? Bitte sehr.
Ich
kann Ihre Antwort so verstehen, dass Sie bereit wären, eine solche Herausrechnung für das laufende Jahr vorzunehmen, was jetzt wirklich spezifiziert auf Bosnien-Herzegowina sowohl in der bilateralen als auch nachher in der
multilateralen, durch die Geberkonferenz ermöglichte Finanzierung vorgesehen ist und für welche der Tische die
jeweiligen Projekte sind?
Herr
Kollege Schwarz-Schilling, ich bin gern bereit, Ihnen das
noch einmal im Einzelnen herausrechnen zu lassen und Ihnen das persönlich oder in anderer Form zu übergeben.
Nun hat der Kollege
Dzembritzki eine Frage.
Frau Ministerin, die Grundidee des Stabilitätspaktes ist, präventiv konfliktmindernd und friedensstiftend zu wirken. Wie ist denn nach
der Konferenz, die von der materiellen Seite her erfolgreich war, Ihr Eindruck? Haben Sie den Eindruck, dass nationalstaatliches Denken überwunden wird, dass mit dem
Stabilitätspakt überregionale Projekte initiiert und umgesetzt werden können? Können Sie uns davon einen Eindruck vermitteln?
Bitte sehr, Frau Ministerin.
Ich
hatte vorhin schon einen Punkt genannt, den ich für einen
der wichtigsten halte, nämlich die Ausführungen des
kroatischen Außenministers, was die Rückkehr von
Flüchtlingen in sein Land betrifft. Das ist, glaube ich, ein
Zeichen der Veränderung, auch mit Blick auf Konflikte in
der Region. Das ist ein Punkt.
Zweitens. Sie haben es vielleicht verfolgt. Es hat bereits
im Vorfeld die Unterzeichnung einer Vereinbarung für
den Bau einer gemeinsamen Brücke zwischen Bulgarien
und Rumänien gegeben. Das ist eine Situation, die bis vor
kurzem schwer vorstellbar gewesen wäre.
Bei allen Gesprächen, die ich auf der Konferenz geführt
habe, ist ersichtlich geworden, dass die südosteuropäischen Länder die Botschaft des Stabilitätspaktes verstanden haben, dass Kooperation und Integration Frieden sichern und auch die Tatsache, dass diejenigen, die miteinander kooperieren, nicht aufeinander schießen. Dieser
Punkt war auf der Konferenz durchaus zu spüren. Das gibt
uns allen Hoffnung; denn das ist es, worum es geht: eine
Region mit der EU in Verbindung zu bringen, die über
Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg und auch noch bis
vor kurzem von Krieg und gewalttätigen Auseinandersetzungen heimgesucht worden ist.
({0})
Es verbleiben noch einige Minuten für die Regierungsbefragung.
Eine weitere Frage an die Bundesregierung zu einem
anderen Thema hat die Kollegin Ina Lenke.
Ich hatte eigentlich Frau Ministerin Bergmann erwartet; sie war uns angekündigt worden.
Aber die Staatssekretärin wird mir sicher ebenfalls Auskunft geben können. Es geht um die Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes. Dazu habe ich folgende Fragen:
Meine erste Frage. In die Neuregelung soll ein
Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit aufgenommen werden.
Die Regierung fordert von den Betrieben ab einer Grenze von 15 Mitarbeitern, dass sie diesen Rechtsanspruch auf
Teilzeitarbeit erfüllen müssen. Ich möchte von der Regierung wissen, nach welchen Kriterien diese Grenze festgelegt worden ist und ob sie mit anderen Gesetzen kompatibel ist. Wir sollten nicht zu viele Regelungen für die
Betriebe schaffen.
Meine zweite Frage. Die Bundesregierung hat sehr von
ihrem eigenen Gesetzentwurf geschwärmt, was die Flexibilisierung des Erziehungsurlaubes anbelangt. Daher
frage ich die Regierung, warum sie im Rahmen der vorgeschlagenen gesetzlichen Bestimmungen - sie beinhalten
ja nicht eine weitreichende Flexibilisierung, sondern sie
setzen ihr ganz enge Grenzen - den Arbeitgebern und
Arbeitgeberinnen und den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen nicht eine größere Flexibilisierung eingeräumt hat.
Frau Staatssekretärin,
bitte sehr.
Frau Lenke, zu Ihrer ersten Frage, die sich mit der Grenze von 15 Arbeitnehmern befasste. Wir haben uns in diesem Zusammenhang nicht an vorhandenen Gesetzen, sondern an wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten orientiert.
Wir haben mit dem Wirtschaftsminister diskutiert, ab welcher Größe Unternehmen diese Art von Flexibilisierung,
auf die ich nachher noch eingehe, verkraften können. Wir
sind mit dem Wirtschaftsminister einer Meinung, dass es
für Betriebe ab 15 Mitarbeitern keine Probleme gibt.
Zu Ihrer zweiten Frage hinsichtlich der Flexibilisierung. Ich habe es nicht richtig verstanden. Wenn Sie die
betreffende Stelle im Gesetzentwurf nachlesen, können
Sie erkennen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
während des dreijährigen Erziehungsurlaubes entscheiden
können, ob sie zwischen 15 bis zu 30 Stunden arbeiten
wollen oder ob sie - wie bisher - zu Hause bleiben wollen. Den Entscheidungsspielraum von 15 bis zu 30 Stunden Arbeitszeit pro Woche halte ich für sehr flexibel. Er
wird sicherlich vielen Familien gerecht.
Frau Lenke.
Ich möchte präzisieren und nachfragen. Man kann nur das dritte Erziehungsjahr - das geht
bis zum achten Lebensjahr des Kindes - flexibel gestalten. Darauf zielte meine Frage ab. Es ging mir nicht um
die Wochenstunden, die man arbeiten kann, sondern um
den geringen Grad der Flexibilisierung, die die Regierung
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit diesem
Gesetz einräumen will. Ich bin der Meinung, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selber entscheiden
sollten. Jetzt ist es wieder so, dass ein Bundesgesetz in diese Entscheidungsfreiheit sehr stark eingreift.
Frau Staatssekretärin.
Die Flexibilisierung, von der ich gesprochen habe, bezieht
sich in der Tat auf die Wochenarbeitszeit. Das dritte Jahr
kann man bis zum achten Lebensjahr des Kindes mit Zustimmung des Arbeitgebers als Erziehungsurlaub nehmen. Wenn ich Sie richtig verstanden haben, wäre die Flexibilisierung, die Sie ansprechen, eine Art Zeitkonto, sodass man irgendwann innerhalb der ersten acht
Lebensjahre des Kindes Erziehungsurlaub nehmen kann.
Wir wollten den Unternehmen - wir reden ja von einem
Rechtsanspruch und nicht davon, ob man darf oder will
oder man sich auf eine Regelung einigt - diese unberechenbare Situation hinsichtlich des Erziehungsurlaubs in
einem Zeitraum von acht Jahren nicht zumuten.
Auf der anderen Seite hat für uns eine Rolle gespielt,
dass wir die Arbeitsmarktchancen von jungen Vätern und
Müttern nicht verschlechtern wollen. Wir haben es uns
aufgrund der Arbeitsmarktsituation noch nicht zugetraut,
eine Regelung zu verabschieden, aufgrund derer man sich
aussuchen kann, ob man Erziehungsurlaub im ersten,
fünften oder achten Lebensjahr des Kindes nimmt. Ich
denke, die jetzt angestrebte Flexibilisierung ist richtig.
Nun die letzte Frage
der Kollegin Lenke.
Frau Niehuis, ich komme zu einem
anderen Thema, nämlich zu dem Thema, welche Stellen
in den Bundesländern das Erziehungsgeld auszahlen. Ich
habe von vielen jungen Müttern die Verärgerung wahrgenommen, dass es kaum möglich ist, herauszufinden,
welche Stelle in dem jeweiligen Bundesland das Erziehungsgeld auszahlt. Was unternimmt diesbezüglich die
Bundesregierung?WasbesprechenSiemitdenBundesländern? Wie wirkt die Bundesregierung auf die Bundesländer ein, um dort eine klare und einfachere Regelung hinzubekommen?
Denn Sie wissen: Auch wir als Politiker erwarten berufliche Mobilität. Wir bleiben nicht dort wohnen, wo wir
aufgewachsen sind, wo wir unsere Behördengänge kennen, sondern man kann beispielsweise von München nach
Hamburg und umgekehrt ziehen. In diesem Bereich besteht wirklich eine große Unsicherheit. Ich habe das auch
nicht glauben wollen, aber praktische Beispiele belegen
dies. Was wollen Sie hier an Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger bringen?
Mir ist die Klage neu. Ich nehme sie einfach einmal auf.
Aber ich denke, die Broschüre zum Erziehungsgeld, die
im Moment noch in der Fassung der alten Bundesregierung vorliegt und in der das jetzige System dargestellt
wird, weist eigentlich sehr genau darauf hin, wie und wo
man Anträge auf Erziehungsgeld stellen kann. Darin stehen auch die Stellen, die in den einzelnen Ländern zuständig sind. Aber ich nehme das gerne zur Kenntnis und
wir können noch einmal überlegen, ob die Information
nicht besser vermittelt werden muss.
Nun hat im Rahmen
der Befragung der Bundesregierung noch der Kollege von
Klaeden eine Frage. Bitte sehr.
Frau Präsidentin,
ich frage die Bundesregierung, ob der Konflikt zwischen
den beiden Bundesbeauftragten, dem für den Datenschutz
und dem für die Stasi-Unterlagen, am Rande oder in der
Kabinettssitzung eine Rolle gespielt hat. Es geht darum,
dass der Bundesbeauftragte für den Datenschutz in zutreffender Interpretation des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
und der ständigen Rechtsprechung in der Bundesrepublik
Deutschland die Praxis und die Rechtsansicht des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen als rechtswidrig
bezeichnet hat. Ich frage, ob und in welcher Weise der
Bundesinnenminister seine Rechtsaufsicht wahrnehmen
wird, sodass auch in der aktuellen Debatte das Stasi-Unterlagen-Gesetz Anwendung findet und es, wie es dort in
mehreren Paragraphen, die ich jetzt nicht zu zitieren brauche, festgelegt ist, gegenüber Betroffenen und Dritten
natürlich nicht zu einer entsprechenden Veröffentlichung
von Stasi-Unterlagen, sei es als Wortprotokoll oder als Zusammenfassung, weiter kommt, muss man ja leider sagen.
Wer von der Bundesregierung möchte antworten? - Herr Staatssekretär
Körper, bitte.
Herr Kollege von Klaeden, ich
kann Ihnen nur mitteilen, dass der Sachverhalt, den Sie
hier angefragt haben, nicht Gegenstand der Kabinettssitzung gewesen ist. Es gibt Erklärungen des Datenschutzbeauftragten, die nach meinem Dafürhalten sehr differenziert betrachtet werden müssen. Es gibt Erklärungen
des Bundesbeauftragten, Herrn Gauck, die ebenso differenziert betrachtet werden müssen. Wir haben am heutigen Tag noch ein klärendes Gespräch mit beiden.
Das Wort zur letzten
Frage bekommt jetzt Herr Kollege Koppelin. Dann ist die
Befragung der Bundesregierung zu Ende. Bitte sehr, Herr
Kollege.
Darf ich in diesem Zusammenhang fragen, ob der Bundesregierung bekannt ist,
dass 1995 beim so genannten Schubladen-Untersuchungsausschuss im Schleswig-Holsteinischen Landtag
Abhörprotokolle der Stasi verwertet werden sollten und
dass daraufhin auf Betreiben des früheren SPD-Bundesvorsitzenden und früheren Ministerpräsidenten Engholm
sowohl das Amtsgericht als auch das Landgericht in Kiel
zweimal Entscheidungen in dieser Sache getroffen haben,
nämlich dass der Untersuchungsausschuss die Abhörprotokolle nicht verwerten kann?
Ist der Bundesregierung weiter bekannt, dass der
Wunsch des Untersuchungsausschusses damals, Personen zu befragen, die diese Protokolle erstellt haben,
ebenfalls nicht zulässig war, und kann das bei der Entscheidung und Bewertung der Bundesregierung berücksichtigt werden?
Herr Kollege Koppelin, dieser
Vorgang aus dem Jahre 1995 ist der Bundesregierung in
Gänze bekannt. Wer beispielsweise die Presseerklärung
des Bundesdatenschutzbeauftragten kennt, weiß, dass er
sich auf diesen Vorgang bezieht und seine Argumentation
auch darauf aufbaut.
Damit beende ich die
Befragung der Bundesregierung.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 2:
Fragestunde
- Drucksache 14/3082 Zunächst rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
auf. Frage 1 der Kollegin Flach wird schriftlich beantwortet.
Damit komme ich zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Zur Beantwortung steht Frau Parlamentarische Staatssekretärin
Ulrike Mascher zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 2 des Kollegen Fuchtel auf:
Welcher finanzielle Schaden entsteht bei der Bundesanstalt für
Arbeit dadurch, dass die zur Realisierung des Konzeptes „Arbeitsamt 2000“ notwendigen Maßnahmen auf dem Gebiet der Kommunikationstechnologie zu dem vereinbarten Zeitpunkt nicht einsatzfähig gewesen sind?
Ulrike Mascher, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Meine Antwort ist: Die nicht fristgemäße Lieferung einer ersten Stufe des neuen IT-Konzeptes hat nach Mitteilung der Bundesanstalt für Arbeit nach dem derzeitigen
Sachstand weder zu einem finanziellen Schaden noch zu
einer Verzögerung bei der Modellerprobung für das neue
Organisationskonzept „Arbeitsamt 2000“ geführt.
Im Rahmen der Organisationsreform „Arbeitsamt
2000“ hat sich die Bundesanstalt für Arbeit zum Ziel gesetzt, die Informationsverarbeitung der Arbeitsämter zu
verbessern. Das Konzept ist in mehrere Stufen gegliedert.
In der ersten Stufe ist vorgesehen, die bestehenden IT-Verfahren, Leistungserbringung und - vermittlung, durch
neue Software zu ersetzen. Diese hochkomplexe und anspruchsvolle Aufgabe wurde im Wege einer Ausschreibung an ein Unternehmen vergeben und zu Beginn des
Jahres 1998 in Angriff genommen. Das Tempo der Softwareentwicklung hat bisher nicht ausgereicht, um der Dynamik der gesetzlichen Änderungen und der notwendigen
fachlichen Fortentwicklung gerecht zu werden. Die bisherigen Datenverarbeitungsverfahren werden daher länger
als geplant benötigt. Auf die Modell-erprobung des neuen Organisationskonzeptes „Arbeitsamt 2000“, die derzeit
in 23 Arbeitsämtern läuft, hat die Verzögerung bei der
Softwareentwicklung keine gravierende Auswirkung.
Erste Zusatzfrage des
Kollegen Fuchtel.
Frau Staatssekretärin, wie bewerten Sie Ihre gerade getroffene Aussage vor dem Hintergrund der Tatsache, dass zur Anwendung des vorgesehenen Kommunikationssystems bei der
Bundesanstalt für Arbeit ganz enorme Vorleistungen notwendig waren, die nach Untersuchungen des Bundesrechnungshofes nun zu hohen Zinsverlusten führen, weil
die Investitionen viel früher getätigt wurden, als sie hätten getätigt werden müssen, und nun nicht genutzt werden
können? Es geht dabei immerhin um 80 Millionen DM.
Können Sie vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehen,
dass Ihre soeben getätigte Aussage sachlich nicht zutreffend ist?
Frau Staatssekretärin.
Herr Fuchtel, ich
habe Ihnen in meiner Antwort dargelegt, wie sich diese
Verzögerung auf die Organisationsreform „Arbeitsamt
2000“ auswirkt. Sie haben jetzt nach Zinsverlusten gefragt. In diesem Punkt muss die Bundesanstalt für Arbeit
mit dem Auftragnehmer klären, wie Nachteile bzw. Zinsverluste für die Bundesanstalt für Arbeit, die durch den
Verzug des Auftragnehmers entstanden sind, ausgeglichen werden können.
Nun kommt die zweite Zusatzfrage. Bitte sehr.
Frau Staatssekretärin, meine Frage beginnt mit den Worten: „Welcher
finanzielle Schaden entsteht ...?“ Hätten Sie die Güte,
diese Frage jetzt in einem erneuten Anlauf zu beantworten? Unter Schaden verstehen der Jurist und ebenso der
Normalbürger auch Zinsverluste; denn diese belasten den
Beitragszahler genauso.
Herr Fuchtel, zu
den Zinsverlusten kann ich Ihnen keine Auskunft geben.
Ich kann Ihnen nur sagen, dass sich der Auftragnehmer mit
der Lieferung der vollständigen Stufe eins im Verzug befindet und die Bundesanstalt für Arbeit die an den Auftragnehmer im Rahmen des Erstellungsvertrages bereits
gezahlten 13,5 Millionen DM sowie weitere 4,4 Millionen DM für bisher erworbene Nutzungsrechte für Entwicklung, Pflege und Betrieb der Anwendungssoftware
zurückfordern will.
Nun rufe ich die Frage 3 des Kollegen Fuchtel auf:
Auf welche Weise und mit welchem Zeitplan soll nun das Konzept „Arbeitsamt 2000“ bezüglich der Kommunikationstechnologie einsatzfähig gemacht werden?
Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege
Fuchtel, es ist vorgesehen, die Softwareentwicklung für
die Stufe eins in einzelne Entwicklungsschritte aufzuteilen. Damit wird es möglich, die zeitliche Verzögerung gering zu halten und die neue Funktionalität Schritt für
Schritt in die Arbeitsämter zu bringen. Ein erster Entwicklungsschritt soll noch in diesem Jahr vor Ort umgesetzt
werden können. Damit ist dann der Grundstein für die Unterstützung der Arbeitsabläufe in den auf die neue Organisationsform umgestellten Arbeitsämtern gelegt. Nach
den derzeitigen Plänen können der Zeitverlust weitgehend wieder aufgeholt und die für das Arbeitsamt erforderliche IT-Unterstützung schrittweise ausgebaut werden.
Eine Zusatzfrage,
Herr Kollege Fuchtel?
Frau Staatssekretärin, kann es nicht auch sein, dass die Bundesregierung
über die Verzögerung des Konzeptes deswegen hinwegzusehen bereit ist, weil von gewerkschaftlicher Seite massive Proteste gegen die durch dieses neue System möglichen Personaleinsparungen erhoben werden, und sie dies
deswegen etwas milder beurteilt?
Herr Fuchtel, davon können Sie nicht ausgehen.
Eine weitere Frage des
Kollegen von Klaeden.Bitte sehr.
Frau Staatssekretärin, ist Ihnen bekannt, dass im Zusammenhang mit
den Zinsverlusten, von denen Kollege Fuchtel gesprochen hat, eine Zahl von 80 Millionen DM im Raume steht,
und wären Sie bereit, uns die tatsächliche Höhe der Zinsverluste, wenn Sie sie geprüft haben, schriftlich mitzuteilen?
Sobald mir seitens
der Bundesanstalt für Arbeit entsprechende Informationen
zugänglich gemacht werden, werde ich Ihnen dies gerne
mitteilen.
Nun kommt die zweite Zusatzfrage des Kollegen Fuchtel.
Frau Staatssekretärin, würden Sie uns dann auch schriftlich mitteilen,
seit wann Ihrem Hause Informationen vorliegen, die Sie
sehr wohl in Kenntnis über den tatsächlichen Schaden gesetzt haben? Dabei handelt es sich um Informationen, die
dem Rechnungsprüfungsausschuss des Bundestages anlässlich einer Sitzung, an der Vertreter Ihres Hauses teilgenommen haben, bereits vorgelegen haben. Würden Sie
dies noch einmal aufarbeiten und uns entsprechende Ergebnisse mitteilen?
Herr Fuchtel, das
lege ich Ihnen gerne vor. Ich finde es immer wunderbar,
wenn hier Fragen gestellt werden, die der Fragesteller am
besten selber - zum Beispiel, weil er Mitglied des
Rechnungsprüfungsausschusses ist - beantworten kann.
({0})
Damit ist der Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und
Sozialordnung abgeschlossen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf. Zur Beantwortung steht Frau Parlamentarische Staatssekretärin
Dr. Edith Niehuis zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 4 der Kollegin Maria Eichhorn auf:
Rechnet die Bundesregierung insgesamt mit einer Zu- oder
Abnahme der Erziehungsgeldempfänger, falls der am 29. März
2000 im Kabinett beschlossene Entwurf einer Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes in Kraft treten würde, im Vergleich zu
der Situation, die ohne die Gesetzesänderung bestehen würde?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Frau Präsidentin, ich würde gerne, wenn Sie das genehmigen, die Frage 5 der Kollegin Eichhorn gleich mitbeantworten. Denn die beiden Fragen gehören inhaltlich zusammen.
Frau Kollegin Eichhorn, sind Sie einverstanden? - Dann sind wir beide damit einverstanden.
Ich rufe also auch die Frage 5 der Kollegin Eichhorn
auf:
Gibt es Erziehungsgeldempfänger, die durch die geplante Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes in Bezug auf die Höhe
des Erziehungsgeldanspruchs schlechter gestellt wurden als durch
das bestehende Gesetz, und, wenn ja, für welche Einkommensgruppen gilt dies bei Antragstellern mit Partner und bei Alleinerziehenden ({0})?
Bitte sehr.
Frau Kollegin Eichhorn, die Bundesregierung rechnet
aufgrund der Novellierung mit einer Zunahme des Anteils
der Familien, die Erziehungsgeld erhalten.
Nach dem geltenden Recht und ebenso nach der Novellierung wird das Erziehungsgeld ab dem siebten Lebensmonat des Kindes schrittweise bis auf null gekürzt,
soweit das Einkommen die maßgebliche Einkommensgrenze übersteigt. Schon die Tatsache, dass die Leistungsverbesserungen, die die Bundesregierung in ihrem
Entwurf vorsieht, zu Mehrausgaben in der Größenordnung von 400 Millionen DM führen, zeigt, dass sich
junge Eltern in der großen Mehrheit finanziell besser stehen werden. Das gilt wegen des Kinderzuschlages, der
sich von heute 4 200 DM in den Jahren 2001 bis 2003
stufenweise auf 6 140 DM erhöht, besonders für Familien mit zwei und mehr Kindern.
Bei den in der Frage 5 angesprochenen Eltern bzw. Alleinerziehenden mit einem Kind könnten sich im Jahre
2001 von den circa 690 000 Erziehungsgeldempfängern
und -empfängerinnen im ersten Lebensjahr des Kindes circa 220 000 Erziehungsgeldempfänger und -empfängerinnen besser stehen und 10 000 - das sind etwa 1,5 Prozent schlechter.
Bei einem jährlichen Nettoeinkommen zwischen
43 000 DM und 46 200 DM für Eltern mit einem Kind verringert sich durch die Novellierung - im Vergleich zum
geltenden Recht - ab dem siebten Lebensmonat des Kindes das gekürzte monatliche Erziehungsgeld geringfügig.
Geringfügig bedeutet zum Beispiel bei einem Jahresnettoeinkommen von 43 000 DM im Jahre 2001: Diese Eltern mit einem Kind erhalten nach geltendem Recht ein Erziehungsgeld von 147 DM und nach dem vorliegenden
Entwurf 146 DM. Für die Alleinerziehenden mit einem
Kind trifft bei einem jährlichen Nettoeinkommen zwischen 37 000 und 40 500 DM dasselbe zu.
Ihre erste Zusatzfrage, bitte sehr.
Frau Präsidentin, ich
nehme an, dass ich vier Zusatzfragen stellen kann, weil ja
zwei Fragen zusammen beantwortet wurden.
Sie können, aber Sie
müssen sie nicht stellen.
Zunächst einmal meine erste Zusatzfrage zu meiner ersten Frage: Da die Minderungsquote von 40 auf 50 Prozent erhöht wird, wird in
Zukunft - im Vergleich zu bisher bereits bei Erreichen eines niedrigeren Einkommens - kein Erziehungsgeld mehr
gezahlt werden. Wo liegt diese Einkommensgrenze in Zukunft? Um wie viel niedriger ist sie und wie viele Erziehungsgeldempfänger erhalten deswegen in Zukunft
kein Erziehungsgeld mehr?
Ihre letzte Frage habe ich bereits beantwortet:
10 000 werden schlechter dastehen. Wir gehen ja in diesem Zusammenhang immer von Personen mit einem Kind
aus; bei denen mit mehreren Kindern entsteht aufgrund
des steigenden Kinderzuschlages eine sehr viel bessere Situation. Es sind also etwa 10 000.
({0})
Ich hatte Ihnen ebenfalls gesagt, dass sich 220 000 Familien finanziell besser stehen werden.
Wenn ich es richtig verstanden habe, haben Sie auch danach gefragt, ab welchem Nettoeinkommen kein Erziehungsgeld mehr gewährt wird. Nach meinen Berechnungen müsste die Grenze dafür - bei einem Kind - bei
Verheirateten bei 46 050 DM, bei Alleinerziehenden bei
40 250 DM liegen.
Zweite Zusatzfrage.
Nach unseren Berechnungen wird die Einkommensgrenze, ab der kein Erziehungsgeld mehr gewährt wird, um über 3 000 DM höher
liegen. Welche Gründe gibt es für die Schlechterstellung
der Bezieher geringer Einkommen, der bisherigen Erziehungsgeldbezieher? Sie argumentieren doch immer, Sie
würden insbesondere Familien mit niedrigeren Einkommen helfen. Wie rechtfertigen Sie diese Schlechterstellung
unter dem Gesichtspunkt - das haben Sie auch im Rahmen
der Kindergelderhöhung immer angeführt -, dass Sie insbesondere Familien mit niedrigen Einkommen unterstützen wollen. Denn in diesem Punkt benachteiligen Sie diese Familien.
Frau Eichhorn, ich glaube, es verhält sich genau umgekehrt: Mit dem Gesetzentwurf begünstigen wir aufgrund
der Erhöhung der Einkommensgrenzen die Empfänger
niedriger und mittlerer Einkommen - bis zum Durchschnittseinkommen. Es ist also genau andersherum, als Sie
gerade dargestellt haben: Die Einkommensgrenzen werden erhöht. Insofern bekommen mehr Eltern, auch Alleinerziehende, Erziehungsgeld. Auch der Kindergeldzuschlag wird erhöht. Wenn noch mehr Kinder vorhanden
sind, erhöhen sich die Bezüge entsprechend.
Wir zielen auf die Verbesserung der Situation der Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen ab. Bei der
Kürzung durch die Minderungsquote werden die Bezieher höherer Einkommen einbezogen.
Dritte Zusatzfrage.
Wie viele Erziehungsgeldempfänger werden nach Ihren Berechnungen in Zukunft die Budgetregelung, also ein Erziehungsgeld in
Höhe von 900 DM, in Anspruch nehmen und damit insgesamt weniger Erziehungsgeld erhalten, als wenn sie
zwei Jahre lang Erziehungsgeld in Höhe von jeweils
600 DM monatlich beziehen würden?
Sie sprechen die erstmalig vorgesehen Möglichkeit an,
dass Eltern, die nur ein Jahr Erziehungsgeld empfangen
wollen, zukünftig nicht mehr 600 DM im Monat bekommen, sondern 900 DM. Wie sich dies entwickeln wird,
kann ich Ihnen nun wirklich nicht sagen. Ich kann nur davon ausgehen, wie viele Erziehungsgeldempfänger im
Jahr 1998 Erziehungsgeld bekommen haben. 1998 waren
es 732 000 Erziehungsgeldempfänger, die im ersten Lebensjahr des Kindes Erziehungsgeld bezogen haben. Im
zweiten Lebensjahr des Kindes haben nur noch
553 000 Personen Erziehungsgeld in Anspruch genommen. Sie sehen also: Schon heute erhalten viele Eltern das
Erziehungsgeld nur ein Jahr lang.
Wenn man davon ausgeht, ist unsere Budgetierung für
die Eltern, die das Erziehungsgeld nur ein Jahr in Anspruch nehmen, ein Vorteil: Nach der jetzigen Regelung
bekommen sie 600 DM im Monat, nach unserer Regelung
zukünftig 900 DM. Insofern glaube ich, dass die Budgetierung in keinem Fall zur Schlechterstellung von Eltern
führt, sondern günstig für die Planung der jungen Familien ist.
({0})
Nun zur letzten Zusatzfrage der Kollegin Eichhorn.
Wie beurteilen Sie die
Möglichkeit der Erziehungsgeldempfänger, sich für die
Budgetregelung oder eine längerfristige Gewährung des
Erziehungsgeldes zu entscheiden, angesichts der Tatsache,
dass manche Eltern zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich entscheiden müssen, die weitere Entwicklung noch gar nicht
abschätzen können und dadurch gegebenenfalls zwangsläufig Benachteiligungen die Folge sein würden, obwohl
sie damit gerechnet haben, dass die Regelung, die sie gewählt haben, für sie eine Besserstellung bedeutet? Wie beurteilen Sie also die Tatsache, dass in der Folge etwas anderes eintritt, als durch das Gesetz erreicht werden soll?
Ich halte das für einen sehr konstruierten Fall, da beim Arbeitgeber ein Antrag auf Erziehungsurlaub gestellt werden
muss, in dem auch die Dauer des Erziehungsurlaubs festgelegt ist. Natürlich kann bezüglich der Überlegungen im
privaten Haushalt, wie lange wie viel Erziehungsgeld bezogen werden soll, im Laufe der Zeit ein Wandel stattfinden. Das kommt sicher hin und wieder vor, ist aber nicht
die Regel. Wenn man kleine Kinder hat, muss man sein
Leben planen und kann seine Einstellung eigentlich nicht
von dem einen auf den anderen Tag ändern.
({0})
Nun hat die Kollegin
Hanna Wolf eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin,
Sie haben gerade dargelegt, dass sich die Zahl der Bezieher vergrößern wird. Ich habe eine andere Frage. Erstmalig gibt es ja die Möglichkeit des Rechtsanspruchs auf Teilzeitarbeit für beide Partner, Vater wie Mutter. Erstmalig
kann sich also auch der Vater von Anfang an in die Erziehung seines Kindes einbringen. Bisher ist die Zahl der Fälle, in denen die Väter ihr Recht in Anspruch nehmen, sehr
gering. Wie wird sich die neue Regelung mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit nach Ihrer Einschätzung darauf auswirken?
Frau Kollegin Wolf, ich bin überzeugt, dass wir mit diesem Rechtsanspruch auf reduzierte Arbeitszeit, also auf
Teilzeitarbeit, so etwas wie eine Revolution für die jungen Familien geschaffen haben. Wenn Sie die Ergebnisse
der Befragungen von jungen Männern und jungen Frauen betrachten, dann werden Sie feststellen, dass die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie - das heißt, erwerbstätig bleiben und sich um die Familie kümmern - von zunehmender Wichtigkeit ist. Nun haben wir den Männern,
die von ihrem Selbstverständnis her - das zeigt die Statistik von heute: Im Moment bleiben nur 1,6 Prozent der Väter zu Hause - wohl Schwierigkeiten haben, für die Familie ganz zu Hause zu bleiben, eine Brücke gebaut. Bald
haben sie die Möglichkeit zu sagen: Ich verzichte auf
zehn Stunden Erwerbstätigkeit in der Woche und verbringe zum Beispiel den Freitag mit der Familie.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir jetzt Rahmenbedingungen schaffen, die von den jungen Familien, ob
Väter oder Mütter, auch genutzt werden. Alle Umfragen
zeigen, dass 80 Prozent der Männer und Frauen in
Deutschland möchten, dass man den Erziehungsurlaub
auch in dieser Teilzeitform nehmen kann. Deshalb bin ich
überzeugt, dass diese Möglichkeit auch genutzt werden
wird.
Nun hat die Kollegin
Ulla Schmidt eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin,
gehen Sie darüber hinaus davon aus, dass sich durch die
Möglichkeit der Teilzeitarbeit von bis zu 30 Stunden für
jeden Elternteil auch die finanzielle Situation von Familien so verändern wird, dass es leichter fallen wird, die
Entscheidung zu treffen, dass der Vater einige Stunden zu
Hause bleibt? Denn bisher war es so, dass allein die Einkommenssituation die Familien - da Frauen in der Regel
weniger als die Männer verdienen - zu der Entscheidung
gezwungen hat, dass die Frau zu Hause bleibt, weil man
auf das Einkommen des Haupternährers angewiesen war.
Frau Kollegin Schmidt, ich glaube, dass wir für die Väter,
die in der Regel mehr als die Mütter verdienen, wirklich
eine gangbare Brücke bauen. Denn unser Gesetz ermöglicht erstmalig, dass Väter und Mütter gemeinsam Erziehungsurlaub nehmen. Bisher gab es das nicht; bisher gab
es ein Entweder-Oder. Jetzt können sie gemeinsam Erziehungsurlaub nehmen. Wenn beide ihre Arbeitszeit reduzieren, dann wird für den Familienhaushalt mehr übrig
bleiben, als wenn der besser verdienende Mann zu Hause
bleibt. Unter dem Strich rechnet sich die Regelung mit
dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit für den Erziehungsurlaub auch finanziell sehr gut für die Familien.
Damit ist der Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend abgeschlossen. Wir ermuntern
die jungen Männer und Väter, die „Revolution“ anzunehmen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Zur Beantwortung steht Frau
Parlamentarische Staatssekretärin Christa Nickels zur
Verfügung.
Ich rufe die Frage 6 des Kollegen Detlef Parr auf:
Welche biomedizinisch und bioethisch relevanten Gesetzgebungsvorhaben beabsichtigt die Bundesregierung in der laufenden
Wahlperiode des Deutschen Bundestages vorzulegen, die zu den
Themenkreisen der am 24. März 2000 von ihm eingesetzten Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“
gehören?
Frau Präsidentin, das Bundesministerium für Gesundheit hat im September des letzten Jahres eine Ressortarbeitsgruppe zur Vorbereitung eines Fortpflanzungsmedizingesetzes einberufen, an der
auch Vertreter der Bundesministerien der Justiz, für Bildung und Forschung sowie für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend teilnehmen. Bevor allerdings mit der Erarbeitung eines konkreten Referentenentwurfs begonnen
wird, plant das Bundesministerium für Gesundheit, ein
Symposion zu den aktuellen medizinischen, ethischen,
rechtlichen und gesellschaftlichen Fragen der Fortpflanzungsmedizin und der damit in Zusammenhang stehenden
Fragen des Embryonenschutzgesetzes im Zeitraum vom
24. bis 26. Mai dieses Jahres in Berlin durchzuführen.
Diese Veranstaltung soll der Vorbereitung der Erarbeitung
rechtlicher Regelungen in diesem Bereich dienen. Der
Bund hat ja seit 1994 die Gesetzgebungskompetenz zur
Regelung auf dem Gebiet der Fortpflanzungsmedizin. Zuständig für den Bereich des Embryonenschutzes und der
Fortpflanzungsmedizin ist das Bundesministerium für
Gesundheit.
Außerdem sind in dem Zusammenhang auch Themenbereiche zu erwähnen, bei denen sich möglicherweise ein
Gesetzgebungs- oder sonstiger Regelungsbedarf ergeben
könnte. Ich möchte nur einmal enumerativ aufzählen die
Transplantation fötalen Gewebes, die Xenotransplantantation und prädiktive genetische Tests.
Zu dem Übereinkommen über Menschenrechte und
Biomedizin des Europarats - das wird auch hier im Parlament seit der letzten Legislaturperiode intensiv diskutiert - gibt es in der Bundesregierung bisher keine Festlegung, das Übereinkommen zu unterzeichnen. Eine Unterzeichnung wäre aber die Voraussetzung für eine
Gesetzesinitiative zur Ratifizierung des Übereinkommens. Eine solche Gesetzesinitiative ist vonseiten der
Bundesregierung nicht geplant.
Eine Zusatzfrage,
Herr Kollege, bitte sehr.
Frau Staatssekretärin, Sie haben
jetzt auf das Symposium hingewiesen. Die Gesundheitsministerkonferenz der Länder hat vor neun Monaten in
Trier das Bundesministerium für Gesundheit aufgefordert, die Arbeiten an einem Fortpflanzungsmedizingesetz
unverzüglich wieder aufzunehmen. Ist das die einzige Aktivität, die Sie in der Richtung entwickelt haben?
Herr Kollege Parr, das
sind sehr wesentliche und wichtige Bereiche, die hier
gesetzlich zu regeln sind. Ich habe nicht umsonst auf die
Diskussion im Bundestag über die so genannte Bioethikkonvention hingewiesen. Es treibt über alle Fraktionsgrenzen hinweg alle engagierten Abgeordneten hier um,
über mehrere Ressorts. Diese Forderung ist ja auch in der
Vergangenheit schon erhoben worden. Ich habe darauf
hingewiesen, dass seit 1994 der Bund die Gesetzgebungskompetenz hat. Es ist nicht verschlampt worden,
auch nicht von der Vorgängerregierung, sondern hier ist
der intensiven notwendigen Debatte der Damen und Herren des Parlaments Raum eingeräumt worden.
Wir haben Anfang September des letzten Jahres, wie
ich schon ausgeführt habe, eine ressortübergreifende
Facharbeitsgruppe eingerichtet, die alle damit im Zusammenhang stehenden Fragen vorstrukturiert. Es wird hier
keine inhaltliche Festlegung getroffen; denn die Abgeordneten des Deutschen Bundestages - das hat der Koalitionsvertrag auch vorgesehen - legen Wert darauf, dass sie
in solche existenziellen Fragen einbezogen werden. Dazu wird unter anderem auch die Enquete-Kommission
eingerichtet. Wir gehen aber davon aus, dass wir durch das
große öffentliche Symposium und die damit verbundene
Debatte Grundlagen für mögliche Regelungen schaffen,
die vielleicht schon in Zusammenarbeit mit der EnqueteKommission zügig erarbeitet werden können.
Zweite Zusatzfrage,
bitte sehr.
Frau Staatssekretärin, es gibt
Länder, die da mutiger gewesen sind. Zum Beispiel hat die
Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz in
ihrem vom Landesjustizminister herausgegebenen Bericht „Präimplantationsdiagnostik - Thesen zu den medizinisch-rechtlichen und ethischen Problemstellungen“ im
Juni 1999, also auch vor neun Monaten, ausgeführt und
sich dafür ausgesprochen, dass wegen der zahlreichen Argumente gegen die Untersuchungsmethoden der Präimplantationsdiagnostik deren Anwendung gesetzlich auf
Sonderfälle eines nachgewiesenen hohen genetischen Risikos für betroffene Nachkommen zu beschränken ist, ohne einen Katalog indizierter Erkrankungen festzulegen.
Hat sich zu diesem Problemkreis die Bundesregierung
schon eine Meinung gebildet?
Ich sagte, dass der Bundesregierung alle diesbezüglichen Aktivitäten bekannt
sind. Selbstverständlich sind uns auch die Diskussionen
und die Ergebnisse von Rheinland-Pfalz bekannt; sie sind
bereits im Haus intensiv geprüft worden. Das ist auch eine Aufgabe der von mir schon genannten ressortübergreifenden Facharbeitsgruppe. Wir sind allerdings ein föderaler Bundesstaat, in dem selbstverständlich die Länder eigene Rechte haben. Der Bund will das, was er seit 1994
regeln kann - das konnte er vorher nicht - jetzt auch regeln.
Wir sind seit eineinhalb Jahren im Amt. Diese Bundesregierung plant nicht Schnellschüsse am Parlament
vorbei, sondern wir wollen hier einen möglichst zügigen,
aber auch sorgsamen Prozess, der die Abgeordneten einbezieht, initiieren und selber maßgeblich vorantreiben, um
möglichst bald gesetzliche Regelungen treffen zu können.
Bevor ich die Frage 7
des Kollegen Detlef Parr aufrufe, hat Frau Lenke noch eine Zusatzfrage. Bitte sehr.
Frau Staatssekretärin, wird die
Bundesregierung eine Gesetzesinitiative ergreifen, um
das Defizit, das im Klonbericht vom Juni 1998 offen gelegt wurde, zu beseitigen? Es geht ja hierbei um das strafrechtliche Verbot des Klonens menschlicher Individuen,
um die Zellkerntransplantation.
Dann hätte ich noch eine zweite Frage.
Nein, Sie können nur
eine Zusatzfrage stellen.
Dies alles sind Regelungsgegenstände, die wir im Rahmen der von mir genannten
Themenbereiche und Ressorts angehen. Das ist eine Angelegenheit, die nicht nur unser Haus betrifft, sondern mit
der sich auch die von mir genannten Ressorts, die in der
Arbeitsgruppe versammelt sind, befassen müssen. Dort
wird die Diskussion und Weiterarbeit im Grunde genommen vorstrukturiert. Dieser Aspekt ist Bestandteil der
Agenda. Daran wird intensiv gearbeitet. Aber es wird nur
vorstrukturiert. Das Parlament soll einbezogen werden.
Ein weiterer Fragesteller findet sich nicht, sodass ich nun die Frage 7 des
Kollegen Parr aufrufe:
Wann und auf welche Art und Weise wird die Bundesregierung
zu dem von der Bundesärztekammer am 24. Februar dieses Jahres der Öffentlichkeit vorgestellten Diskussionsentwurf einer
Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik Stellung nehmen?
Frau Staatssekretärin, bitte.
Herr Kollege Parr, die Bundesärztekammer hat im Rahmen der ärztlichen Selbstverwaltung und mit der ihr von den Landesärztekammern
übertragenen Befugnis, Vorschläge für berufsrechtliche
Regelungen zu erarbeiten, jetzt gehandelt. Sie bezweckt
mit dieser Vorlage die Diskussion möglicher berufsrechtlicher Regelungen innerhalb der Ärzteschaft und der Öffentlichkeit. Die Bundesregierung sieht zurzeit keinen
Anlass für eine derartige Stellungnahme.
Das Bundesministerium für Gesundheit hat die Frage
der Zulässigkeit der Präimplantationsdiagnostik zu einer
der zu diskutierenden Leitfragen des eben schon von mir
genannten Symposions im Mai dieses Jahres gemacht. Die
Ergebnisse der dort stattfindenden Diskussion, an der ja
hochrangige Wissenschaftler und gesellschaftliche Organisationen teilnehmen, sollen zunächst abgewartet und
ausgewertet werden.
Ihre erste Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, ich habe
nach der Meinung der Bundesregierung gefragt, bislang
aber keine Antwort bekommen. Es gibt aber eine Äußerung der Bundesministerin Andrea Fischer in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 18. März 2000, in der
sie das Recht, mit einer Krankheit geboren zu werden, herausstellt. Handelt es sich bei dieser eindeutig ablehnenden
Stellungnahme zur Präimplantationsdiagnostik um eine
innerhalb der Bundesregierung und insbesondere mit dem
Bundesministerium der Justiz abgestimmte Auffassung?
Auch für eine Bundesministerin bzw. einen Bundesminister gilt das Recht auf freie
Meinungsäußerung. Ich denke, alle hier vertretenen Kollegen und Kolleginnen können sich auf diese Aussage,
nämlich auf das Recht, mit einer Behinderung geboren zu
werden, einigen.
Was aber den Gesetzgebungsprozess angeht - dies habe ich schon vorweg ausgeführt -, haben wir die von mir
beschriebenen Erarbeitungsverfahren in Gang gesetzt. Es
ist so, dass man, wenn man Verfahren in Gang setzt, nicht
schon vorweg das Ergebnis sagen kann. Dann würde man
sich selbst und auch den Prozess nicht ernst nehmen.
Ihre zweite Zusatzfrage.
Ich möchte noch einmal etwas
präziser im Hinblick auf die Bundesärztekammer fragen:
Was gedenkt die Bundesregierung, da sie ja dieses gendiagnostische Verfahren nach dem geltenden Embryonenschutzgesetz für unzulässig hält, dagegen zu unternehmen, wenn die Bundesärztekammer nach Abschluss
der von ihr im Februar dieses Jahres eingeleiteten Diskussionsphase eine berufsrechtliche Musterrichtlinie zur
Präimplantationsdiagnostik verabschieden sollte?
Herr Kollege Parr, die Bundesregierung ist nicht dazu da, im Kaffeesatz zu lesen. Wir
warten den Diskussionsprozess ab. Das sind Entwürfe der
Bundesärztekammer, die sie ausdrücklich zur Diskussion
in den Raum gestellt hat. Als Kollege im Gesundheitsausschuss wissen Sie auch, dass diese Richtlinien, selbst
wenn der Diskussionsprozess bei der Bundesärztekammer
abgeschlossen ist, erst dann berufsrechtlich verbindlich
werden, wenn sie von der Landesärztekammer beschlossen wurden und nach Maßgabe des Landesrechts wirksam
geworden sind. Dazwischen liegt noch einige Zeit. Ich
glaube, mit unserem Symposion liegen wir gut, um auch
in diesem Rahmen die Meinungsbildung voranzutreiben.
Eine Zusatzfrage der
Kollegin Ina Lenke.
Frau Staatssekretärin, sieht die
Bundesregierung gesetzlichen Handlungsbedarf in Bezug auf die Forschung mit so genannten humanembryonalen Stammzellen, um eine nachhaltige Verbesserung
der Therapie bestimmter Krankheiten des Menschen zu erreichen?
Sie haben meines Erachtens sehr undifferenziert auf
meine erste Frage geantwortet. Deshalb möchte ich noch
einmal darauf hinweisen, dass meine Frage lautet, ob die
Bundesregierung in diesem Bereich gesetzlichen Handlungsbedarf sieht. Denn Sie haben in der Antwort auf
meine letzte Frage gesagt, dass Sie das Parlament beteiligen werden. Dies bedeutet aber nicht, dass ein Gesetz verabschiedet wird.
Frau Kollegin, ich habe
darauf hingewiesen, dass wir Wert darauf legen, das Parlament zu beteiligen, weil ich weiß, dass dieses Thema die
Kolleginnen und Kollegen umtreibt. Wenn dies für Sie
nicht wichtig ist, dann legen wir es ad acta.
In Bezug auf Ihre Frage nach dem gesetzlichen Handlungsbedarf habe ich auf die Arbeitsgruppe, die diese Bereiche im Augenblick zwischen den entsprechenden Ressorts bearbeitet, und auf das Symposion verwiesen. Es besteht ja auch eine Ethik-Kommission beim BMA, die im
letzten Jahr neu einberufen worden ist, die jetzt speziell
zu diesen auch ethisch schwierigen Fragen Stellungnahmen erarbeitet, die uns, wenn sie vorliegen,
eventuelle Handlungsanleitungen für gesetzgeberischen Regelungsbedarf geben. Aber wir müssen da die
Stellungnahme der Ethik-Kommission und die Ergebnisse der Arbeitsgruppe abwarten. Die Ergebnisse werden zusammengetragen, sorgfältig ausgewertet und gegebenenfalls dann im Parlament diskutiert.
({0})
Damit ist der Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit erledigt.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes. Die Frage 8 wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen auf. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks zur
Verfügung.
Ich rufe die Fragen 9 und 10 des Kollegen Barthle auf,
der nicht anwesend ist.
({0})
- Gut, dann werden die Fragen schriftlich beantwortet.
Dann rufe ich die Frage 11 des Kollegen Ramsauer auf:
Mit welchen Gründen hält die Bundesregierung es für gerecht,
dass nach ihren Gesetzentwürfen zum Steuerrecht ein Risikokapitalfonds, der beispielsweise mit einer Beteiligung von 2 Millionen DM in einem Unternehmen einer Zukunftsbranche eingestiegen ist und bei Veräußerung der Beteiligung 50 Millionen DM erlösen kann, dafür keine Körperschaftsteuer zu zahlen hat,
wogegen der Existenzgründer, der mit seinen Ideen und seinem
Einsatz sein Unternehmen zum Erfolg führt und bei einer Veräußerung ebenfalls einen Gewinn von 48 Millionen DM realisiert,
10,8 Millionen DM Steuer zahlt, während nach geltendem Recht
der Fonds bei Ausschüttung der Erlöse 14,4 Millionen DM Steuern gezahlt hätte?
Bitte sehr, Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Ramsauer,
mit dieser Frage werden zwei unterschiedliche Problemkreise angesprochen, einerseits die Steuerfreistellung von
Veräußerungsgewinnen bei Beteiligungsveräußerungen,
andererseits die Frage nach einer Steuerbefreiung von
Veräußerungsgewinnen bei Personenunternehmen.
Zunächst zu den Veräußerungsgewinnen bei Beteiligungsveräußerungen: Die Steuerfreiheit der Gewinne aus
Beteiligungsveräußerungen ist aufgrund der Systemumstellung bei der Körperschaftsteuer sachlich gerechtfertigt.
Im neuen Halbeinkünfteverfahren, das an die Stelle des
komplizierten und missbrauchsanfälligen Vollanrechnungsverfahrens tritt, wird die körperschaftsteuerliche
Vorbelastung ausgeschütteter Gewinne durch die Einbeziehung der halben Nettodividende in die Bemessungsgrundlage der persönlichen Einkommensteuer der Anteilseigner berücksichtigt.
Ausschüttungen einer Kapitalgesellschaft, also einer
Tochtergesellschaft, an eine andere Kapitalgesellschaft,
also an eine Muttergesellschaft, werden aber nicht mit einer Körperschaftsteuer belastet. Diese Dividendenfreistellung vermeidet eine mehrfache Steuerbelastung desselben Gewinns innerhalb einer Beteiligungskette.
Die Veräußerung einer Beteiligung ist wirtschaftlich
wie eine Totalausschüttung anzusehen, die sich aus den offenen Rücklagen und stillen Reserven des Unternehmens
zusammensetzt. Da die offenen Rücklagen bereits der
Körperschaftsteuer in Höhe von 25 Prozent unterlegen haben, müssen sie zur Vermeidung einer Doppelbelastung
steuerfrei bleiben. Die stillen Reserven sind ertragsteuerlich zwar noch nicht vorbelastet, sind aber steuerlich verhaftet und werden spätestens bei der Liquidation des Unternehmens aufgedeckt. Würden sie schon bei der Veräußerung der Beteiligung versteuert, ergäbe sich eine
Doppelbelastung. Durch die Steuerfreistellung des Veräußerungsgewinns wird sie vermieden. Der steuerfreie
Veräußerungsgewinn steht im Übrigen dem Unternehmen
zur Binnenfinanzierung, für Investitionen zur Verfügung.
Jetzt zu den Veräußerungsgewinnen bei Personenunternehmen: Im Unterschied zur Behandlung der Kapitalgesellschaften ist der Veräußerungsgewinn, den ein Einzelunternehmer aus der Veräußerung seines Betriebes erzielt, bei der persönlichen Einkommensteuer zu erfassen.
Anders als bei der Veräußerung einer Beteiligung ist dieser Gewinn noch nicht ertragsteuerlich vorbelastet. Daher
stellt die Besteuerung des Veräußerungsgewinns die Einmalbelastung sicher.
Würde der Veräußerungsgewinn dagegen wie bei der
Beteiligungsveräußerung steuerfrei gestellt, entstünde eine Besteuerungslücke. Der Erwerber des Betriebs, der
dann auch den Betrieb fortführt, schreibt die Anschaffungskosten der erworbenen Wirtschaftsgüter ab und mindert so seine Steuerbelastung. Bei einer Steuerfreistellung wäre im Ergebnis sonst niemand steuerlich belastet.
Der Gewinn fällt im Übrigen in der Privatsphäre an. Seine Verwendung für Investitionen ist zumindest fraglich.
Für eine steuerliche Verschonung besteht daher kein Anlass.
Eine Besteuerungslücke entsteht demgegenüber trotz
der Steuerfreiheit des Gewinns aus der Veräußerung einer
Beteiligung bei der Kapitalgesellschaft nicht. Würde in
dem von Ihnen genannten Beispielsfall das Beteiligungsunternehmen die stillen Reserven in Höhe von
48 Millionen DM zum Beispiel durch den Verkauf von Patenten realisieren, würde die Beteiligungsgesellschaft den
Gewinn in Höhe von 48 Millionen DM mit 25 Prozent
Körperschaftsteuer zuzüglich der jeweiligen Gewerbesteuer versteuern müssen. Bei Ausschüttung des Gewinns
unterläge dieser beim Erwerber der Anteile, also bei der
natürlichen Person, der Halbeinkünftebesteuerung mit
dem persönlichen Grenzsteuersatz des Erwerbers.
Ich will das Publikum darauf hinweisen, dass die Antwort so kompliziert
war, weil auch die Frage kompliziert war.
Herr Kollege, bitte Ihre erste Zusatzfrage.
Frau Präsidentin,
ich bedanke mich bei Ihnen für diesen Hinweis. Aber ich
habe erwartet, dass Ihre Antwort, Frau Staatssekretärin, so
oder ähnlich ausfallen würde. Weil die Antwort sehr kompliziert war, möchte ich versuchen, es anhand einer Zusatzfrage mit einem Beispiel zu vereinfachen.
Ich beziehe mich hier auf Presseveröffentlichungen
aus jüngster Zeit, die nicht dementiert wurden und die
besagen, dass die Wirtschafts- und Medienbeteiligungen
der Deutschen Druck- und Verlagsgesellschaft mbH, also des Medienimperiums der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, einen Verkehrswert von 500 Millionen DM haben, allerdings nur einen Buchwert von rund
18 Millionen DM. Falls diese Medienbeteiligungen allesamt veräußert würden - angeblich laufen darüber schon
Gespräche -, fiele ein Veräußerungsgewinn von 500 Millionen DM minus rund 18 Millionen DM, also von
482 Millionen DM, an. Bisher wären hierfür 30 Prozent
Steuern fällig gewesen, also etwa 144 Millionen DM.
Würden die Steuerpläne der Bundesregierung Wirklichkeit und blieben solche Beteiligungsveräußerungen künftig steuerfrei, dann führte dies doch dazu, dass die SPD
bzw. ihre Medienholding rund 144 Millionen DM an
Steuern sparte.
Herr Kollege Ramsauer,
wenn Sie mit Ihrer Fragestellung insinuieren wollen, dass
die Bundesregierung ein Steuergesetz zugunsten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands macht, so weise
ich dies zurück. Im Übrigen sind mir Verkaufsabsichten
der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands nicht bekannt.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Zweite Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, ich wollte natürlich absolut nichts unterstellen.
Ich wollte nur versuchen, den komplizierten Sachverhalt
anhand eines Beispiels deutlich zu machen. Sie können
jetzt statt der Deutschen Druck- und Verlagsgesellschaft
der SPD die Mustermann AG nehmen. Wie wäre es denn
in diesem Falle?
Wenn die Mustermann AG
einen Anteilsbesitz veräußert, den Veräußerungserlös allerdings in der Muttergesellschaft belässt, dann ist dieser
Erlös so lange nicht steuerpflichtig, als der unternehmerische Bereich nicht verlassen wird. Das habe ich Ihnen
eben bereits erläutert. Würde aber Anteilsbesitz der Muttergesellschaft in das Privatvermögen der Aktionäre veräußert, würde der Erlös nach dem Halbeinkünfteverfahren steuerpflichtig. Hier sehen Sie die Gleichbehandlung
der Besteuerung von Veräußerungsgewinnen an verbundenen Unternehmen bei Kapitalgesellschaften einerseits sobald in das Privatvermögen veräußert wird, fällt die Besteuerung an - und bei Personenunternehmen oder Einzelunternehmen andererseits in das Privatvermögen.
Im Übrigen weise ich darauf hin - ich hatte das vorhin schon erläutert -, dass in Aktiengesellschaften oder
GmbHs der Gewinn schon mit der definitiven Besteuerung von 25 Prozent Körperschaftsteuer zuzüglich Gewerbesteuer vorbelastet ist, während bei der Veräußerung
durch einen Personenunternehmer die stille Reserve mobilisiert wird, die bisher noch niemals der Besteuerung unterlegen hat. Auf der anderen Seite hat derjenige, der den
Betrieb erworben hat und ihn fortführen will, das Recht,
die Erwerbungskosten abzuschreiben und folglich seine
Steuerschuld zu mindern. Die Besteuerung des Verkaufserlöses bei demjenigen, der den Betrieb aufgibt und
mit dem Ziel und Zweck in sein Privatvermögen veräußert, nicht mehr Unternehmer sein zu wollen, ist aber
Voraussetzung dafür, dass demjenigen, der mit dem Ziel
und Zweck Unternehmer wird, den Betrieb aufrechtzuerhalten und die Arbeitsplätze zu sichern, die steuerliche Begünstigung in Form von Abschreibungen gewährt werden
kann.
({0})
Dieser Zuruf tritt an
die Stelle einer nicht mehr zugelassenen Zusatzfrage.
Die Frage 12 des Abgeordneten Michelbach wird
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 13 des Kollegen Max Straubinger
auf:
Ist die Bundesregierung bereit, einer Erhöhung von Pauschalbeträgen ({0}) für steuerfreie Aufwandsentschädigungen laut § 3
Nr. 12 Satz 2 Einkommensteuergesetz auf mindestens 300 DM pro
Monat für ehrenamtliche Tätigkeiten ({1}) zuzustimmen?
Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Straubinger,
die Bundesregierung ist nicht bereit, einer Erhöhung der
betreffenden Pauschalbeträge zuzustimmen, denn eine
verfassungskonforme Auslegung von § 3 Nr. 12 Satz 2
Einkommensteuergesetz lässt dies nicht zu. Von Verfassungs wegen dürfen Erwerbseinkünfte, das heißt Beträge,
die die abziehbaren Erwerbsaufwendungen übersteigen,
nicht als Aufwandsentschädigungen deklariert werden.
Dies ergibt sich aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 1998 zur Aufwandsentschädigung für eine Tätigkeit im Beitrittsgebiet, die so genannte Buschzulage. Danach dürfen Aufwandsentschädigungen nicht steuerfrei sein, soweit sie für Verdienstausfall oder Zeitverlust gewährt werden oder die als Betriebsausgaben oder Werbungskosten abziehbaren Aufwendungen des Empfängers offenbar übersteigen.
Das Einkommensteuergesetz stellt bei der Besteuerung
des Einkommens auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen ab, die sich in erster Linie nach
dem Einkommen richtet, das Grundlage für die Einkommensteuer ist. Der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der
Besteuerung gebietet es, Einkommen aus einer ehrenamtlichen Tätigkeit ebenso zu besteuern wie aus einer
hauptberuflichen Tätigkeit. Eine Aufgabe im öffentlichen
Interesse rechtfertigt für sich allein nicht die Steuerfreiheit der bezogenen Vergütung.
Im öffentlichen Interesse wahrgenommene ehrenamtliche Tätigkeiten werden steuerlich bereits gewürdigt.
Nach § 3 Nr. 12 Satz 2 Einkommensteuergesetz in Verbindung mit Nr. 13 der Lohnsteuer-Richtlinien bleiben die
aus öffentlichen Kassen gezahlten Aufwandsentschädigungen regelmäßig zu einem Drittel, mindestens aber mit
50 DM und höchstens mit 300 DM monatlich steuerfrei.
Das ist die so genannte Drittelregelung. Sollten die steuerfreien Beträge für die Ausübung des Ehrenamtes im
Einzelfall zu gering sein, können die tatsächlichen Aufwendungen nachgewiesen und steuerlich berücksichtigt
werden.
Ihre erste Zusatzfrage, bitte sehr.
Frau Staatssekretärin,
besten Dank für die Beantwortung der Frage.
Sie haben verneint, den pauschalen Freibetrag auf
300 DM anheben zu wollen. Wie beurteilen Sie in diesem
Zusammenhang die Mitteilung des Bundesministers für
Arbeit und Sozialordnung, Herrn Riester, der bei den Ländern anregt, bezüglich der Feuerwehren landesrechtliche
Möglichkeiten in der Erhöhung von Freibeträgen auszuschöpfen? Ich zitiere hierzu aus einem Schreiben vom
1. März 2000 an den bayerischen Innenminister Dr.
Günther Beckstein:
Nach § 3 Nr. 12 Satz 1 Einkommensteuergesetz sind
Bezüge, die aus der Landeskasse gezahlt werden,
nach Landesgesetz als Aufwandsentschädigung
festgesetzt sind und im Landeshaushaltsplan entsprechend ausgewiesen werden, generell steuerfrei.
Deshalb dürfte sich eine Prüfung durch das Bayerische Staatsministerium der Finanzen anbieten, ob im
Wege einer landesrechtlichen Regelung Lösungsmöglichkeiten geschaffen werden können, um höhere Aufwandsentschädigungen im Interesse der Freiwilligen Feuerwehr in Bayern vollständig steuerfrei
zu stellen.
Das empfinde ich als eine Anregung, die steuerlichen
Freibeträge zu erhöhen.
Herr Kollege Straubinger,
wenn ich Ihr Zitat richtig verstanden habe, bezieht sich der
Bundesarbeitsminister auf den Paragraphen, den auch ich
gerade angesprochen habe. Aufwandsentschädigungen
sind allerdings nicht generell steuerfrei - ich bin nicht sicher, ob das vom Bundesarbeitsministerium so geschrieben worden ist -, sondern nur in Höhe von mindestens
50 DM und höchstens 300 DM im Monat; das ist die so
genannte Drittelregelung. Das hatte ich eben ausgeführt.
Da es sich aber um Aufwandsentschädigungen handelt
und eben nicht um Arbeitslohn, kann man im Einzelfall
prüfen, ob die tatsächlichen Aufwendungen höher gewesen sind.
Ihre zweite Frage.
Bitte sehr.
Frau Staatssekretärin,
in diesem Schreiben wird auch angeregt, dass
§ 3 Nr. 12 Satz 2 Einkommensteuergesetz für Aufwandsentschädigungen durch die Finanzbehörden der Länder
ausgelegt werden kann. Ich nehme an, dass das nur im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen geschehen kann. In diesem Schreiben wird weiter dargelegt,
dass um Erhöhungen dieser pauschalen Freibeträge gerungen werden kann. Wie werten Sie diese Aussage des
Bundesministers?
Die Auslegung und die Anwendung der Steuergesetze obliegt selbstverständlich den
Landesfinanzbehörden. Das ist unstrittig. Aber natürlich
haben sich auch die Landesfinanzbehörden an Recht und
Gesetz zu halten. Ich hatte Ihnen eben auch die Nr. 13 der
Lohnsteuer-Richtlinien erläutert, in der die so genannte
Drittelungsregelung, das heißt die Anerkennung von
50 DM, höchstens aber 300 DM niedergelegt ist. Sollten
die Länder ein Interesse daran haben, die LohnsteuerRichtlinie hinsichtlich Nr. 13 zu ändern, könnten sie
selbstverständlich initiativ werden. Ich sehe allerdings
nicht, dass die Länder das tun wollen.
Damit ist die Frage 13
beantwortet. Die Fragen 14, 15, 16, 17 und 18 werden
schriftlich beantwortet. Somit ist der Bereich von Frau
Staatssekretärin Hendricks abgearbeitet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Siegmar
Mosdorf zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 19 des Kollegen Dirk Niebel auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung eine Initiative zu ergreifen,
dass bei öffentlichen Auftragsausschreibungen nicht tariftreue
Unternehmen von der Auftragsvergabe ausgeschlossen werden,
und, wenn ja, wird beabsichtigt, diese Regelung auf innerbetriebliche Sanierungsverträge auszudehnen, die von den Tarifvertragsparteien noch nicht anerkannt wurden, wie zum Beispiel im
Fall Philipp Holzmann AG?
Herr Staatssekretär Mosdorf, bitte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Niebel, die
Bundesregierung prüft derzeit, inwieweit bei öffentlichen
Auftragsvergaben Unternehmen zur Tariftreue verpflichtet werden können.
Nach den geltenden Regelungen über die Vergabe von
Liefer-, Bau- und Dienstleistungen hat sich der öffentliche Auftraggeber in jedem Fall unter anderem von der Zuverlässigkeit des Bewerbers zu überzeugen. Bei Bauaufträgen ist seit 1997 vom Bundesbauministerium im Erlasswege verfügt, dass auch die Zahlung der gesetzlichen
Tariflöhne nachgewiesen werden muss. Unternehmen, die
diesen Nachweis nicht erbringen können, sind unzuverlässig und werden von der weiteren Teilnahme am Wettbewerb um öffentliche Aufträge ausgeschlossen. Das ist
seit 1997 bekannt.
Zu der von Ihnen gestellten Frage zu den Tarifvertragsparteien hinsichtlich der Philipp Holzmann AG
möchte ich Ihnen mitteilen, dass man auch nach den Vereinbarungen, die die Philipp Holzmann AG in diesen Tagen mit der IG BAU und dem Arbeitgeberverband trifft ich sage „trifft“, weil der Text fertig ist, aber noch eine
Frist bis kommenden Montag besteht -, von Tariftreue
ausgehen kann.
Herr Kollege Niebel,
Ihre erste Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben zu
Recht gesagt, dass noch eine Frist besteht. Das Verfahren
ist also noch nicht abgeschlossen. Wir haben bei dem bisher von der Firma Holzmann angewendeten Sanierungstarifvertrag das Problem, dass die Tarifvertragsparteien
den Vertrag nicht unterzeichnet haben. Es bestünde also
bei einer Neuregelung die Möglichkeit, dass eine der Tarifvertragsparteien diesem Vertrag nicht beitreten wird.
Das lässt sich nicht ganz ausschließen.
Gesetzt den Fall, dass ein Sanierungstarifvertrag von
mindestens einer Tarifvertragspartei nicht unterzeichnet,
aber dennoch von der Firma Holzmann angewandt wird:
Würde dies den Tatbestand der Tarifuntreue im Sinne der
Ausschreibungsrichtlinen erfüllen?
Herr
Niebel, ich gehe davon aus, dass beide Tarifvertragsparteien unterschreiben werden. Sie haben Verständnis dafür,
dass ich keine hypothetischen Fragen - schon gar nicht in
diesem sensiblen Bereich - spekulativ beantworte.
Die zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Niebel.
Ist es Tariftreue, wenn eine Tarifvertragspartei den Tarifvertrag nicht unterzeichnet und
ein Unternehmen einen nicht unterzeichneten Tarifvertrag
anwendet?
Ich sehe Kollegen aus dem Wirtschaftsausschuss. Ich habe dort heute die
Ehre gehabt, dies ausdrücklich darzulegen. Mir liegt der
Sanierungstarifvertrag vor. Wir haben ihn genau angesehen. Die beabsichtigte Regelung sieht vor, dass sich auch
die Arbeitnehmer an dem Sanierungsprojekt beteiligen.
Dies ist schwer genug und man kann froh sein, dass dies
auch geschieht.
Dies soll auf einem Extrakonto mit entsprechenden
Aktienvergütungen später stattfinden, sodass bei Ausschreibungen keine Wettbewerbsverzerrungen eintreten
werden. Dies ist ein wichtiger Punkt, um den es Ihnen ging
und der auch im Wirtschaftsausschuss eine wichtige Rolle gespielt hat.
Die Fragen 20, 21, 22
und 23 werden schriftlich beantwortet.
Damit ist der Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie abgearbeitet. Herr
Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung der
Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung auf. Zur Beantwortung stehen sowohl der Herr Verteidigungsminister als auch die Frau
Staatssekretärin Brigitte Schulte zur Verfügung. Wie ich
sehe, wird der Herr Verteidigungsminister die Fragen beantworten.
Die Fragen 24 und 25 werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 26 der Abgeordneten Heidi Lippmann auf:
Belegen nach Auffassung der Bundesregierung die Originaldokumente der „Operation Hufeisen“ die Ende 1998/Anfang 1999
angeblich vorhandene Absicht der politischen und militärischen
Führung Jugoslawiens und/oder Serbiens einer systematischen
und vollständigen Vertreibung der albanischen Bevölkerung des
Kosovo, und/oder belegen sie die damalige Absicht, die militärischen Verbände der UCK im Kosovo zu zerschlagen?
Herr Minister, bitte sehr.
Frau Kollegin, in dem uns vorliegenden Quellenmaterial
wurden als Ziele der Operation die Zerschlagung bzw. die
Neutralisierung der UCK genannt. Vertreibung der kosovo-albanischen Bevölkerung mit dem Ziel gewaltsamer
regionaler und demographischer Veränderungen im Kosovo war ebenfalls Bestandteil der jugoslawischen Planungen und wurde durch die tatsächlichen Ereignisse bestätigt.
Ich will Sie darauf aufmerksam machen, dass es zum
Zeitpunkt des Holbrooke-Milosevic-Abkommens innerhalb des Kosovo 200 000 Vertriebene, außerhalb des Kosovo 98 000 Vertriebene gab. Zum Zeitpunkt der Verhandlungen in Rambouillet gab es innerhalb des Kosovo
210 000, außerhalb des Kosovo 50 000 Vertriebene. Zum
Zeitpunkt der Verhandlungen in Paris stieg die Zahl der
außerhalb des Kosovo Vertriebenen auf 60 000. Am
24. März 1999 betrug die Zahl der im Kosovo Vertriebenen 250 000, außerhalb des Kosovo 100 000. Insofern
bestätigen die tatsächlichen Ereignisse das, was uns als
Quellenmaterial vorliegt.
Zusatzfrage eins.
Herr Minister, können Sie
uns sagen, in welcher Sprache der Plan „Operation Hufeisen“ abgefasst ist und wie es zu dem Titel Potkova gekommen ist? In serbischer Sprache müsste es eigentlich
Potkovica heißen.
Den zweiten Teil Ihrer Frage, Frau Kollegin, kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich kann Sie aber darauf aufmerksam machen, dass in der „Times“ vom 8. April 1999,
also zu einem Zeitpunkt vor der Veröffentlichung der Erkenntnisse des Bundesministeriums der Verteidigung, aus
der Auswertung des vorliegenden Quellenmaterials und
aus dem Abgleich mit dem im Übrigen vorhandenen Material, zum Beispiel des abgehörten Funkverkehrs, der
Name „Hufeisen“ schon verwendet worden ist, und zwar
mit dem Hinweis darauf, dass dem amerikanischen Geheimdienst seit Herbst 1998 entsprechende Informationen
über einen Plan vorliegen. In dem englischsprachigen
Text heißt es: „Code named operation horseshoe“, also
„Codename Operation Hufeisen“. Das deckt sich mit vielen anderen Hinweisen. Da ich Ihnen nicht sagen kann,
wie zum Beispiel der von dem damaligen österreichischen Außenminister beschriebene Beitrag des
österreichischen Nachrichtendiensts in diesem Zusammenhang aussieht, kann ich Ihnen die Frage hinsichtlich
der Titulatur und der Verwendung eines offenbar kroatischen und eines serbischen Wortes nicht erläutern.
Zusatzfrage zwei.
Herr Minister, wie beurteilen
Sie die folgende Darstellung aus der Zeitung „Die Woche“
vom 24. März dieses Jahres, worin es heißt:
Denn das Papier, so ein Kenner des Originaltextes zur
„Woche“, bot dem von Milosevics Reaktion verwirrten Westen lediglich eine Interpretation der Strategie der Serben an. Weder sei darin ein Operationsplan enthüllt noch die Behauptung aufgestellt worden, Belgrad habe den Plan zur Vertreibung der Albaner bereits im Herbst 1998 gefasst. Auch stammten die Zeichnungen, die zur Illustration ... beigefügt
wurden, nicht etwa aus Milosevics Giftküche, sondern aus dem Bundesverteidigungsministerium.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage, Frau Kollegin, will ich Ihnen sagen, dass wir die Auswertung des Planes einschließlich der Zeichnungen, die Bestandteil der Auswertung des Planes sind, unmittelbar nach der Auswertung,
nämlich am 8. April 1999, veröffentlicht, übrigens auch
in das Internet gestellt haben und auf anderen Informationswegen der Öffentlichkeit, aber selbstverständlich auch
den Partnernationen innerhalb der NATO zur Verfügung
gestellt haben.
Zum ersten Teil Ihrer Frage kann ich Ihnen sagen, dass
die Information mindestens unvollständig ist, soweit Sie
sich auf die Zeitung „Die Woche“ beziehen. Denn wir haben die nachrichtendienstlichen Quellen sehr sorgfältig
verglichen mit dem, was wir an Erkenntnissen über das tatsächliche Vorgehen hatten: belegt durch die Ereignisse im
Kosovo, belegt durch den abgehörten Funkverkehr, belegt
durch ein Gespräch, das ich am 31. März 1999 mit den Beobachtern hatte, die im Rahmen der OSZE-Verifikationsmission bis unmittelbar vor Beginn des NATO-Luftangriffs im Kosovo waren. Dies wurde mit anderen Erkenntnissen abgeglichen.
Im Übrigen übersieht diese Darstellung, dass im späten Herbst 1998 der jugoslawische Generalstabschef
Perisic ganz offenkundig deshalb in seinem Amt abgelöst
worden ist, weil er sich gegen den Einsatz jugoslawischer
Landstreitkräfte gegen die Zivilbevölkerung gewandt hatte. Er wurde durch Herrn Ojdanic ersetzt, der diese Skrupel offenbar nicht hatte.
Insofern sprechen alle Informationen dafür, dass es
diesen Operationsplan schon im späten Herbst 1998 gegeben hat. Das deckt sich übrigens wiederum mit den
nachrichtendienstlichen Erkenntnissen.
Jetzt kommt eine Zusatzfrage des Kollegen Hübner.
Herr Verteidigungsminister,
wie bewerten Sie vor dem Hintergrund des eben Gesagten einen Beitrag, der in der heutigen Ausgabe des „Hamburger Abendblattes“ erschienen ist? Ich zitiere:
Die Papiere, die Scharping seinen Mitarbeitern Anfang April 1999 übergeben hat, seien keinesfalls „ein
serbischer Operationsplan mit dem Decknamen Hufeisen gewesen“. Auch habe das Material keine Beweise dafür enthalten, fährt ein Kenner des Materials fort, dass bereits im Herbst 1998 in Belgrad ein
Plan verfasst worden sei, der die Vertreibung der Albaner zum Ziel gehabt habe. Weil einfach zu viel zu
vage war, haben Scharpings Nachrichtenoffiziere nie
behauptet, einen serbischen Operationsplan mit Namen Hufeisen in den Händen zu halten. Das tat nur
Rudolf Scharping.
Laut „Hamburger Abendblatt“ stammen die Informationen von drei Offizieren, offenbar aus dem Führungsstab
des Verteidigungsministeriums.
Herr Minister.
Erstens kann ich Ihnen sagen, dass sich auf dem Deckblatt,
mit dem uns die nachrichtendienstlichen Informationen
übermittelt worden sind, der Name „Hufeisen“ befindet,
und zwar sowohl in Form des kroatischen Wortes „Potkova“ wie auch in Form des deutschen Wortes „Hufeisen“.
Zweitens habe ich nicht die Absicht, Bemerkungen von
Menschen zu kommentieren, die sich anonym äußern und
nicht mit ihrem Namen für die Kenntnisse, die sie von sich
geben, geradestehen wollen.
Nun rufe ich die Frage 27 der Kollegin Heidi Lippmann auf:
Wird die Bundesregierung die Dokumente der „Operation
Hufeisen“ der Öffentlichkeit zugänglich machen, um ihre jugoslawische bzw. serbische Herkunft zweifelsfrei nachvollziehbar zu
machen und den tatsächlichen Gegenstand der damaligen Planungen zu beweisen, oder wird die Bundesregierung diesbezügliche Beweise auf andere Weise erbringen?
Herr Minister, bitte.
Frau Kollegin, das der Bundesregierung vorliegende Material unterliegt dem Quellenschutz, kann der Öffentlichkeit also nicht zugänglich gemacht werden. Die Informationen, die sich aus diesem Material ergeben, machen wir
umfangreich und vollständig der Öffentlichkeit zugänglich.
Zusatzfrage eins,
bitte sehr.
Herr Minister, ausgehend
von der Beantwortung der vorherigen Fragen möchte ich
angesichts des Geheimhaltungsschutzes, den Sie für die
Dokumente in Anspruch nehmen, ergänzend fragen, wie
Sie es sich erklären, dass Sie am 19. April letzten Jahres
in einer Sendung der BBC geäußert haben, das klare Ziel
sei die ethnische Säuberung des Kosovo und die Vertreibung der Zivilbevölkerung, in der gleichen Sendung der
NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark gesagt hat, von einem solchen Plan wisse er nichts.
Ich kann Ihnen dazu keine andere Erklärung geben als die,
dass der NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark kürzlich
in der BBC geäußert hat, er sei „certainly familiar“ mit
dem Operationsplan, also darüber informiert gewesen.
Ich kann die Äußerungen in der Sendung vom April 1999
nicht kommentieren, ich weiß aber, was Wesley Clark in
der eben angeführten Sendung gesagt hat.
Ergänzend möchte ich Sie darauf hinweisen, dass sich
wie andere Verteidigungsminister zum Beispiel auch der
amerikanische Verteidigungsminister in einem entsprechenden Hearing des Senat Armed Services Committee im
amerikanischen Senat entsprechend geäußert hat. Das
deckt sich übrigens mit den Informationen, die Sie sowohl
in der „Times“ wie in der „Washington Post“ und beispielsweise auch im österreichischen Nachrichtenmagazin „Profil“ oder in der „Berliner Zeitung“ schon im April
1999 nachlesen konnten.
Zweite Zusatzfrage.
Können Sie Ihre Angaben
zum Geheimschutz der Quelle bitte dahin gehend erläutern, inwieweit Abgeordnete dieses Hauses zum Beispiel
über den Verteidigungsausschuss, der auch unter geheim
oder streng geheim tagen kann, oder über den Bundessicherheitsrat Kenntnis von dem authentischen Material erhalten könnten?
In den dafür befugten Gremien gibt die Bundesregierung
so weit Auskunft, wie der Quellenschutz gewährleistet ist.
Dabei muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass dabei noch eine andere Tatsache zu berücksichtigen ist: Ein
Teil der uns zur Verfügung stehenden Informationen bezieht sich auf Menschen, die noch in Serbien leben. Ich habe nicht die Absicht, sie Milosevic ans Messer zu liefern.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Lippelt.
Herr Minister, können Sie mir bestätigen, dass der Abschlussbericht der OSZE-Mission nach ihrem Rückzug,
der von dem stellvertretenden Leiter der OSZE-Mission
in vielen Vorträgen in Deutschland dargelegt worden
ist - mein Kollege Nachtwei zeigt diesen Bericht gerade -,
allgemein zugänglich war, dass sich jeder, der sich mit diesem Thema beschäftigen wollte, damit beschäftigen
konnte und dass darin unter anderem festgehalten ist, dass
am Wochenende des 19. März 1999 schon 20 000 Flüchtlinge die Grenzen überschritten, dass also ganz klar eine
Säuberung im Gange war, dass weiterhin die abziehenden
OSZE-Beobachter sehr deutlich beschrieben, wie die einrückenden Milizen mit höhnischem Lachen Häuser in
Brand steckten? Können Sie mir bestätigen, dass all dies
zugänglich war und dass sich derjenige, der sich ernsthaft
damit beschäftigen wollte, nicht auf parteiische Darstellungen hereinfallen musste?
Herr Kollege Lippelt, ich kann Ihnen das bestätigen und
darüber hinaus die Tatsache in Erinnerung rufen, dass am
Osterwochenende 1999, wenn ich es recht erinnere, also
vor der Veröffentlichung unserer Informationen über die
„Operation Hufeisen“, schon Züge zur Grenze fuhren, in
denen Tausende von Kosovo-Albanern zusammengepfercht wurden, dass in Pristina Häuser und Geschäfte mit
dem Hinweis darauf markiert wurden, dass sie in kosovoalbanischem Besitz seien. Das hat entsprechende Folgen
gehabt.
Ich kann Ihnen bestätigen, dass zu diesem Zeitpunkt an
der Grenze in Blace zwischen Mazedonien und dem Kosovo Tausende von Menschen in einem Tal ohne jede Versorgung mit Wasser oder Lebensmitteln festgehalten wurden. Ich kann Ihnen bestätigen, dass an der Grenze schon
Tausende von Autos standen, deren Besitzern man nicht
nur die Autos, sondern auch die Nummernschilder, die
Wagenpapiere, die Geburtsurkunden, die Personalausweise und anderes genommen hatte.
Ich kann daraus nur einen einzigen Schluss ziehen:
Wer glaubt, dass eine Operation, die mit dem Ergebnis von
1,4 Millionen Vertriebenen endet, keine Planung erfordert,
der ist entweder naiv oder dumm.
Jetzt hat der Kollege
Hübner eine Zusatzfrage.
Um zum eigentlichen Thema
zurückzukehren, hätte ich noch eine Frage bezüglich des
Quellenschutzes und der Geheimhaltung - ich beziehe
mich dabei auf die Antwort, die Sie mir eben gegeben haben -: Wenn diese Offiziere mit ihrem Namen ihre Kenntnisse, die sie möglicherweise aus dienstlichen Prozessen
erworben haben, namentlich kenntlich gemacht hätten,
wären sie dann aus Ihrer Sicht disziplinarrechtlich zu belangen oder nicht?
Herr Kollege Hübner, bei allem Verständnis: Wenn jemand
von seiner Sache überzeugt ist und glaubt, dass er eine belastbare Information hat, sollte es ihm nicht schwer fallen,
dafür mit seinem Namen geradezustehen. Im Übrigen habe ich nicht die Absicht herumzutheoretisieren.
Nun rufe ich die Frage 28 der Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
auf:
Wie stellt sich die Bundesregierung zu dem öffentlich erhobenen Vorwurf, dass der zur Rechtfertigung des NATO-Bombardements Jugoslawiens herangezogene so genannte Hufeisenplan
möglicherweise gar nicht existiert habe?
Herr Minister, bitte.
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, wie eben
schon erläutert, belegt das uns vorliegende Material die
Durchführung einer „Operation Hufeisen“. Es unterliegt
dem Quellenschutz. Es macht im Übrigen deutlich, dass
diese Operation der Zerschlagung und Neutralisierung
der UCK und zugleich der Vertreibung der kosovo-albanischen Bevölkerung mit dem Ziel gewaltsamer regionaler und demographischer Veränderungen als Bestandteil
dieses Planes diente. Sie wurden durch die tatsächlichen
Ereignisse bestätigt.
Erste Zusatzfrage der
Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger.
Herr Minister, ich habe auf dem Weg ins Plenum Ihre Antworten auf die Zusatzfragen hören können. Vor diesem
Hintergrund frage ich Sie: Welche Rolle spielte nach Ihrer Einschätzung der Hufeisenplan insgesamt für das Vorgehen der NATO? Wieweit wurden Unterlagen, die dem
Quellenschutz unterliegen, der NATO zur Verfügung gestellt? Ich habe Ihre Antwort auf die Frage gehört, inwieweit Herr Clark informiert gewesen sei.
Wir haben das Material allen Bündnispartnern zur Verfügung gestellt. Im Übrigen haben wir nach einem längeren
Gespräch mit der damaligen Chefanklägerin des Den
Haager Tribunals, Louise Arbour, sämtliches dem Bundesministerium der Verteidigung zugängliche Material
zur Verfügung gestellt. Das betrifft die Unterlagen über die
„Operation Hufeisen“ genauso wie die Auswertung der
Befragung der OSZE-Beobachter und die Auswertung der
Befragung aller Flüchtlinge, mit denen wir sprechen
konnten.
Zusatzfrage zwei.
Herr Minister, in der Anklageschrift gegen Herrn
Milosevic und andere wird in den Anklagegründen auf den
Hufeisenplan nicht Bezug genommen bzw. er wird nicht
so genannt. Tatbestände werden vielmehr abstrakt beschrieben. Führen Sie das ausschließlich auf den Quellenschutz zurück?
Das führe ich darauf zurück, dass bestimmte Anklageschriften oder Teile von Anklageschriften des Den Haager Tribunals bis zur Verhaftung des Angeklagten
grundsätzlich geheim gehalten werden. Das kann man
unschwer an der jüngst erfolgten Verhaftung eines Vertrauten von Herrn Karadzic erkennen. Das gilt auch in anderen Fällen.
Im Übrigen, Frau Kollegin, hätte ich es für einen Mangel an Sorgfalt gehalten, wenn wir die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse - wie eben schon geschildert - nicht
mit allen anderen Informationen abgeglichen hätten, die
wir zu diesem Zeitpunkt hatten. Das begründet die Bemerkung in der Antwort auf Ihre Frage, dass die tatsächlichen Ereignisse das systematische Vorgehen gemäß dieses Planes eindeutig bestätigt haben.
Nun rufe ich die Frage 29 des Kollegen Hofbauer auf:
Aufgrund welcher Planungen und Vorgaben wurde entschieden, in Standortschießanlagen eingesetzte, zum Austausch fällige
Gummigranulatkugelfänger nicht auszutauschen, obwohl deren
Ersatz im Rahmen der Bauunterhaltung zum Erhalt der Sicherheit
beim Ausbildungsbetrieb in Standortschießanlagen unabdingbar
ist?
Auch diese Frage wird der Herr Verteidigungsminister
beantworten. Bitte, Herr Minister.
Herr Kollege Hofbauer, aufgrund der Überarbeitung des
Schießausbildungskonzeptes des Heeres ist im Frühjahr
1998 entschieden worden, sämtliche Infrastrukturvorhaben für Standortschießanlagen aus der mittelfristigen
Durchführungsplanung herauszunehmen, um Fehlinvestitionen zu vermeiden. Die Herausgabe des fortgeschriebenen Konzeptes vom Frühjahr 1999 plante erstmals wieder investive Baumaßnahmen ein. Es war generelles Ziel, den Infrastrukturbedarf zu reduzieren und
große Teile der Ausbildung aus Simulatoren zu verlagern.
Aufgrund neuerer Erkenntnisse des Umweltschutzes
und der Arbeitsmedizin müssen nun vorhandene Sandgeschossfänge in Standortschießanlagen grundsätzlich
durch Gummigranulatgeschossfänge ersetzt werden. Die
notwendige Priorisierung der Haushaltsmittel hat die erforderliche Modernisierung der Standortschießanlagen
verzögert. Zudem kann eine Modernisierung der Standortschießanlagen aufgrund der Höhe der Kosten nicht mit
Mitteln des Bauunterhalts finanziert werden, sondern
muss als kleine Baumaßnahme erfolgen. Dafür sind zurzeit alle Mittel verplant. Über einen notwendigen Austausch der bereits eingesetzten Gummigranulatkugelfänger ist dem Bundesministerium der Verteidigung zurzeit
nichts bekannt.
Dazu wollen wir noch
mehr wissen. Der Herr Kollege Hofbauer hat eine Zusatzfrage.
Herr Minister, wie
kann es vorkommen, dass bei einigen Anlagen die Auftragsvergabe bzw. die Ausschreibung bereits erfolgt ist
und jetzt plötzlich - anscheinend auf Weisung Ihres Hauses - die Maßnahme gestoppt wurde?
Offenbar haben Sie, verehrter Herr Kollege, einen oder
mehrere konkrete Fälle im Hinterkopf. Ich will Ihnen ausdrücklich anbieten, zur Aufklärung der konkreten Fälle
beizutragen. Ein entsprechendes Gespräch führen wir am
besten außerhalb der Fragestunde.
Zusatzfrage zwei.
Herr Minister, könnten
Sie mir vielleicht die Sachlage zu dem konkreten Fall
Pfreimd in den nächsten Tagen übermitteln bzw. einen Situationsbericht abgeben?
Sehr gerne.
Danke.
Nun kommt die Frage 30 des Kollegen Hofbauer:
Auf welche Weise soll nach daraus resultierenden kurzfristig
zu erwartenden Stilllegungen von Schießanlagen der Ausbildungsbetrieb in den die Standortschießanlagen nutzenden Einheiten sichergestellt werden?
Herr Minister, bitte.
Wenn ich es richtig sehe, betrifft das denselben Sachverhalt, nämlich die Stilllegung von Schießanlagen auch für
den Ausbildungsbetrieb. Für eine Übergangsphase bis
zum Abschluss der Modernisierung aller noch zu betreibenden Standortschießanlagen wird durch organisatorische Maßnahmen und durch nochmaligen Austausch des
Geschossfangsandes von einer noch festzulegenden Mindestzahl von Schießständen der Schießausbildungsbetrieb
sichergestellt, Herr Kollege.
Zusatzfrage eins.
Herr Minister, darf ich
etwas provokativ fragen: Es sind keine Entscheidungen
zurückgestellt worden, um hier irgendwelche Vorentscheidungen hinsichtlich der Standorte zu treffen?
Herr Kollege, ich empfinde das nicht als Provokation. Ich
habe trotz entsprechender Hinweise des Bundesrechnungshofs und trotz deutlicher Hinweise aus dem
Rechnungsprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages zum Beispiel eine Entscheidung über Standortverwaltungen, deren Schließung oder Zusammenlegung mit
anderen der Bundesrechnungshof für sinnvoll hielt,
zurückgestellt, weil ich nicht glaube, dass solche zum Teil
schwergewichtigen Einzelentscheidungen getroffen werden sollten, ohne dass man eine Gesamtkonzeption der
Bundeswehr vorliegen hat, in die sich solche Einzelentscheidungen sinnvoll einordnen lassen.
Daraus zu schließen, dass eine einzelne Anlage, ein einzelner Standort, eine einzelne Standortverwaltung
grundsätzlich hinterfragt würde, wäre falsch.
Zusatzfrage zwei. Wird nicht gewünscht. Ich rufe die Frage 31 des Kollegen
Werner Siemann auf:
Teilt die Bundesregierung die Äußerung des Bundesministers
der Verteidigung, Rudolf Scharping, die Bundeswehr sei nicht
mehr in vollem Umfang bündnisfähig - Interview im Deutschlandfunk am 26. März 2000 - und wenn ja, welche Konsequenzen wird sie bis zum Vorliegen des Berichtes der Kommission „Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“ ergreifen, um
diesen Zustand abzumildern?
Herr Minister, bitte.
Herr Kollege Siemann, die Aufgabe der Friedenssicherung
ist für die Bundeswehr in den letzten Jahren nicht einfacher geworden, denn trotz der Überwindung der Teilung
Europas ist die sicherheitspolitische Lage durch eine Vielzahl von Risiken im euro-atlantischen Raum geprägt. Deren Bewältigung erfordert erhöhte Leistungsfähigkeit der
Streitkräfte und eine vertiefte Kooperation mit Verbündeten und Partnern.
Gemeinsame Sicherheit erfordert gemeinsame Fähigkeiten im Rahmen der NATO wie auch der Europäischen
Union. Wir brauchen also Streitkräfte, die über bestimmte Kernfähigkeiten verfügen, wie beispielsweise
strategische und operative Aufklärung, hohe Mobilität,
Durchhaltefähigkeit, Überlebensfähigkeit, Führungsund Kommunikationsfähigkeit, als Grundlagen für
Interoperabilität zwischen den Streitkräften, also die
Fähigkeit zur Zusammenarbeit.
Im Mai 1999 wurde eine Bestandsaufnahme vorgelegt.
Sie wurde mit den konkreten Erfahrungen der Balkaneinsätze ergänzt. Sie macht auf beträchtliche Ausrüstungsmängel der Bundeswehr aufmerksam - Ausrüstungsmängel, die unsere Bündnisfähigkeit beeinträchtigen. Dieser Zustand, Herr Kollege, wird sich
verschärfen, wenn Deutschland nicht wie die anderen
Bündnispartner aus der im Rahmen der NATO-Strategie
und auf dem NATO-Gipfel beschlossenen Initiative zur
Verbesserung der Verteidigungsfähigkeiten die notwendigen Konsequenzen für die eigenen Streitkräfte zieht.
Zur Behebung der einsatzrelevanten Defizite sind eine
Reihe von kurzfristig wirksamen Maßnahmen getroffen
worden. Dazu zählt die Erhöhung der Investitionsquote im
Haushalt 1999, die mit 24,3 Prozent einen beachtlichen
Fortschritt darstellt. Das ist die höchste Investitionsquote
seit 1991. Dazu zählt die Verstärkung der Krisenreaktionskräfte des Heeres um ein Drittel. Dazu zählen weit reichende Vereinbarungen mit zurzeit über 420 Unternehmen
und Verbänden, Verträge, die geschlossen worden sind, um
Wirtschaftlichkeit, Effizienz und Modernisierung der
Streitkräfte gleichermaßen zu gewährleisten.
Die ebenfalls systematische Erarbeitung von Entscheidungsgrundlagen über die Zukunft der Bundeswehr
wird im Mai 2000 abgeschlossen sein. Es ist die Absicht
der Bundesregierung, die Eckpfeiler dieser Entscheidung
vor Beginn der Sommerferien dieses Jahres zu sichern.
Zusatzfrage eins.
Herr Minister, wird
die Bundesregierung bis zur Sommerpause auch hier im
Plenum eine Entscheidung herbeiführen, ob wir die Wehrform der Wehrpflicht beibehalten oder nicht?
Herr Kollege, wir werden darüber nach Vorlage aller Entscheidungsgrundlagen innerhalb der Bundesregierung zu
sprechen haben. Sollte sich aus den Entscheidungen der
Bundesregierung gesetzgeberischer Änderungsbedarf ergeben, wird er dem Deutschen Bundestag vorgeschlagen
werden. Meine persönliche Auffassung zur Wehrpflicht
kennen Sie.
Zusatzfrage zwei.
Herr Minister, hält die
Bundesregierung die Beratungszeit - wenn es so läuft,
wie Sie es jetzt angedeutet haben - zwischen dem Vorliegen der Ergebnisse der Kommission und dem von Ihnen angekündigten Zeitpunkt für ausreichend, um eine
Vizepräsidentin Anke Fuchs
vernünftige, sachgerechte Entscheidung über die zukünftige Struktur der Bundeswehr zu treffen? Das sind, wenn
ich mir das vor Augen führe, immerhin nur drei Sitzungswochen bis zur Sommerpause.
Zunächst, Herr Kollege Siemann, geht es um die Eckpfeiler, an denen sich eine Fülle von Einzelentscheidungen orientieren muss. Das kann aber nicht geschehen,
wenn es diese Eckpfeiler nicht gibt. Eckpfeiler meint:
Wehrform, Umfang, Beseitigung von Besoldungs- und
Personalstrukturmängeln sowie eine klare Perspektive für
die Beseitigung erheblicher Ausrüstungsmängel innerhalb der Bundeswehr. Diese Entscheidungen dulden angesichts des sich in den letzten zehn Jahren immer mehr
verschlechternden Zustandes keinen Aufschub. Vor diesem Hintergrund wird das Parlament, wird die Öffentlichkeit noch monatelang Zeit haben, über einzelne Fragen zu reden. Ein weiteres Jahr Verunsicherung der Betroffenen, die eine notwendige Begleiterscheinung jeder
demokratischen Debatte ist, wäre auch für die Leistung
und die Motivation innerhalb der Bundeswehr schädlich.
Das sollten wir vermeiden.
Wenn Sie mir die etwas ironische Bemerkung gestatten: Dass manchmal Kolleginnen und Kollegen aus den
Reihen der Opposition zu dieser Entwicklung beitragen,
ist in Grenzen verständlich.
({0})
Nun kommt die Frage 32 des Kollegen Siemann:
Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über Beteiligungen deutscher Firmen an Ausschreibungen der Vereinigten
Arabischen Emirate hinsichtlich der Modernisierung ihrer Streitkräfte vor?
Herr Kollege Siemann, Ausschreibungen der Vereinigten
Arabischen Emirate zur Modernisierung ihrer Streitkräfte werden nach Kenntnis der Bundesregierung üblicherweise nicht bekannt gegeben. Vielmehr werden einzelne
Firmen direkt kontaktiert, um herauszufinden, ob ein Interesse an einer Belieferung besteht. Sie werden dann gebeten, entsprechende Angebote zu unterbreiten.
Zusatzfrage? - Erledigt.
Damit haben wir den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung abgearbeitet und danken dem
Herrn Minister für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär
Kurt Bodewig zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 33 des Kollegen Straubinger auf:
Unter welchen Bedingungen hat die Bundesregierung einer
Vorfinanzierung der A 31 durch das Land Niedersachsen, die
Landkreise und private Unternehmer, wie im Interview mit dem
Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Reinhard
Klimmt, in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 10. März 2000 von
diesem dargelegt, zugestimmt, und bringen die Landkreise und die
Unternehmer den Finanzanteil von 135 Millionen DM aus Eigenmitteln auf?
Herr Staatssekretär, bitte.
Herr Kollege Straubinger, die Bundesregierung und das Land Niedersachsen haben sich nach den folgenden Maßgaben
über die Finanzierung und Fertigstellung der A 31 zwischen der Anschlussstelle Geest und der Landesgrenze
Niedersachsen/Nordrhein-Westfalen bis zum Jahr 2005
verständigt:
Erstens. Die Region beteiligt sich an den Gesamtkosten
von 420 Millionen DM zu einem Drittel durch einen Interessenbeitrag in Höhe von 135 Millionen DM, den das
Land Niedersachsen zur Verfügung stellt.
Zweitens. Der Bund trägt die weiteren Kosten von
285 Millionen DM, die das Land Niedersachsen zunächst
bis zum Jahr 2010 vorfinanziert.
Drittens. Nach Fertigstellung der Maßnahmen werden
Baukosten in Höhe von 112 Millionen DM aus dem
Hauptbautitelanteil Niedersachsens refinanziert. Ab dem
Jahr 2010 erfolgt dann die Rückzahlung der Baukosten
durch den Bund in fünf Jahresraten in Höhe von insgesamt
173 Millionen DM aus dem Hauptbautitelanteil Niedersachsens.
Die Aufbringung des Finanzanteils der Region von
135 Millionen DM ist deren Angelegenheit.
Zusatzfrage eins.
Herr Staatssekretär,
wie verträgt sich das mit der Auffassung der Bundesregierung, die von Herrn Staatssekretär Lothar Ibrügger auf
die Frage von Herrn Josef Hollerith, veröffentlicht in der
Drucksache 14/2325, wie folgt kundgetan wurde:
Eine Vorfinanzierung von in der Baulast des Bundes
stehenden Maßnahmen an Bundesfernstraßen durch
die Länder ist aus finanzverfassungsrechtlichen
Gründen nicht möglich.
({0})
In einem späteren Absatz heißt es:
Eine Vorfinanzierung von Maßnahmen an Bundesfernstraßen durch die Länder würde nicht nur künftige Bundeshaushalte hinsichtlich der Refinanzierung präjudizieren, sondern könnte auch dazu
führen, dass die Länder ihnen verfassungsrechtlich
nicht zukommende Mitspracherechte einfordern, mit
der Folge, dass Abhängigkeiten und Zwänge im Verhältnis zwischen Bund und Land geschaffen würden,
die mit der Verfassung und der hierzu ergangenen
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
nicht vereinbar sind, vergleiche Entscheidung 3996
({1}) des Bundesverfassungsgerichts.
Herr
Staatssekretär, bitte schön.
Wir müssen hier zwischen einer Vorfinanzierung bzw. einer Privatfinanzierung und dem unterscheiden, was das Land
Niedersachsen nach einer sehr strengen Prüfung im Einvernehmen mit dem Bund entschieden hat, nämlich eine
Mitfinanzierung und eine Vorfinanzierung, sodass keine
Refinanzierungskosten auf den Bund zukommen. Das ist
der deutliche Unterschied im Hinblick auf die vom Kollegen Hollerith gestellte Frage. Das wird auch aus den von
mir vorgetragenen Fakten deutlich.
Eine weitere Zusatzfrage? - Bitte, Herr Straubinger.
Herr Staatssekretär,
Sie haben vorhin in Ihrer Antwort kundgetan, dass der
Bund an das Land Niedersachsen Rückerstattungen von
vorfinanzierten Teilen leistet. Ist das richtig?
Der Bauanteil wird ohne die Refinanzierungskosten aus dem
Haupttitelanteil Niedersachsens finanziert. Sie kennen die
entsprechenden Länderquoten und wissen, dass Niedersachsen in einem bestimmten Anteil Mittel erhält. Es erfolgen keine Zinsbelastungen zulasten des Bundes. - Das
ist der entscheidende Unterschied.
Eine weitere Zusatzfrage? - Herr Hollerith, bitte schön.
Herr Staatssekretär, Sie
hatten die 135 Millionen DM, die als verlorener Zuschuss
in das Projekt der A 31 einfließen, als Landesbeitrag tituliert. Bin ich richtig informiert, dass es sich dabei nicht um
Landesmittel handelt, sondern um Gelder Dritter?
Ich kann Ihre Frage 34 gleich mitbeantworten, wenn Sie das wünschen.
({0})
- Gut, dann beantworte ich diese Frage nachher.
Dazu stelle ich fest: Ich habe ausdrücklich von einem
Interessenbeitrag der Region gesprochen. Das Land Niedersachsen finanziert dies. Das ist ein Unterschied.
Dann
kommen wir zur Frage 34 des Kollegen Hollerith:
Welche Landkreise und Unternehmer haben die Finanzmittel
in Höhe von 135 Millionen DM für die Vorfinanzierung der
A 31 aufgebracht, und wie ergeben sich die Einzelbeträge?
Bitte, Herr Staatssekretär Bodewig.
Der Bundesregierung ist nicht bekannt, welche Landkreise und
Unternehmer sich mit welchen Beiträgen an der Vorfinanzierung der A 31 beteiligen.
Eine Zusatzfrage? - Herr Hollerith, bitte.
Herr Staatssekretär, ist
der Bundesregierung bekannt, dass die Landkreise dem
Land Niedersachsen diesen Interessenbeitrag finanziell
ersetzen, und ist der Bundesregierung bekannt, dass auch
aus dem benachbarten Land Holland ein erklecklicher
Betrag als verlorener Zuschuss in dieses Projekt fließt?
Den ersten
Teil Ihrer Frage hatte ich soeben schon beantwortet: Das
ist nicht bekannt. Zum zweiten Teil Ihrer Frage ist zu sagen: Das ist ebenfalls nicht bekannt.
Herr Staatsekretär, es ist
bemerkenswert, dass in Ihrem Hause dazu Aktenvorgänge existieren und Sie sich hier hinstellen und erklären, dies
sei nicht bekannt. Die Art, wie Sie mit dem Parlament umgehen, kann ich nicht akzeptieren.
Herr Präsident, es gibt im Hause des Bundesverkehrsministeriums Aktenvorgänge, die in diesem Zusammenhang einiges aussagen. Der zuständige Staatssekretär aber
stellt sich hier hin und sagt, er wisse davon nichts. Die
Bundesregierung kann nicht auf diese Art und Weise das
Fragerecht des Parlamentariers missachten. Ich lege hier
nachhaltigen Protest ein und stelle anheim, dass die Fragen, wie es parlamentarisch üblich ist, ordnungsgemäß beantwortet werden.
({0})
Herr Kollege, es steht dem amtierenden Präsidenten nicht zu, eine
Antwort der Bundesregierung zu qualifizieren. Es ist Sache der Bundesregierung, wie sie antwortet.
Ich habe allerdings anlässlich der letzten Sitzung des
Ältestenrates den Vertreter der Bundesregierung gebeten,
dass die Kollegen des Kabinetts bzw. die Staatssekretäre
den Sinn einer Frage richtig aufnehmen und die Frage entsprechend beantworten sollten. Mehr als eine Bitte können wir aber in diesem Zusammenhang nicht äußern.
Herr Staatssekretär Bodewig, bitte schön.
Ich möchte
noch einmal deutlich machen: Unser Ansprechpartner war
in diesen Verhandlungen das Land Niedersachsen.
({0})
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen von Schorlemer. Bitte
schön.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, noch in dieser Woche
von den Abgeordneten Seiters und Kues zur Kenntnis zu
nehmen, welche Summen vom kommunalen Bereich, das
heißt von den Landkreisen, zur Mitfinanzierung dieses
Projektes zur Verfügung gestellt worden sind?
Gern.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Straubinger.
Herr Staatssekretär, es
heißt, dass auch Unternehmer Beiträge leisten. Sie haben
in Ihrer Antwort dargelegt, Sie wüssten nicht, welche Unternehmer dies betrifft und in welchem Umfang sie sich
einbringen. Ich hätte gerne eine Antwort auf die Frage: Ist
es sinnvoll, dass steuerzahlende Unternehmen Beiträge
zum Bundesfernstraßenausbau erbringen?
Ich glaube, dass in der Region ein breiter Konsens entstanden ist.
Es gibt positive Bemühungen, die wir auch durch Ihre Frage nicht infrage stellen sollten.
Wir kommen dann zu den Fragen 35 bis 43, die vom Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Siegfried Scheffler beantwortet werden sollen.
Ich rufe zunächst die Frage 35 des Kollegen Dr. HansPeter Uhl auf:
Ist die Bundesregierung bereit, dem Beginn von Vorwegmaßnahmen zum Weiterbau der Autobahn A 99 zuzustimmen, nachdem die Landeshauptstadt München hierfür 13 Millionen DM zur
Verfügung stellt und die Bundesregierung in ihrem „Anti-StauProgramm“ den eigentlichen Baubeginn für das Jahr 2003 ohnehin
in Aussicht gestellt hat?
Lieber Kollege Uhl, zunächst einmal ein klares Ja. Die Bundesregierung ist, ausgehend von der Zusage der Landeshauptstadt München, ihren Finanzbeitrag für die A 99
bereits ab diesem Jahr zu leisten, bereit dem Beginn bauvorbereitender Arbeiten zuzustimmen.
Bundesminister Klimmt hat mit Schreiben vom
28. März dieses Jahres dem entsprechenden Antrag des
bayerischen Innenministers zugestimmt und festgestellt,
dass aufgrund dieser Vorleistung ab dem Jahr 2003 der
Bau des Westrings konzentriert erfolgen kann.
Zusatzfrage, Herr Kollege Uhl? - Bitte schön.
Herr Staatssekretär,
die Antwort ist erfreulich; sie hat sich mit meiner Fragestellung gekreuzt.
Zu meiner Zusatzfrage. Wenn der Bund diese 13 Millionen DM Zuschuss von Stadt und Land entgegennimmt
und für den Baubeginn verwendet, wird es im Jahre 2002
vor dem offiziellen finanziellen Anschub vonseiten des
Bundes eine Finanzierungslücke geben. Haben Sie sich
schon Gedanken gemacht, wie Sie diese Finanzierungslücke des Jahres 2002 überbrücken? Sehen Sie eine Möglichkeit, den Bau dann nicht einzustellen zu müssen? 2002
ist schließlich nicht irgendein Jahr, sondern das Jahr der
nächsten Bundestagswahl. Haben Sie schon eine Strategie entwickelt?
Vielleicht haben Sie in Ihren Regierungsperioden solche Erfahrungen gemacht. Die Verkehrspolitik der gegenwärtigen Regierung, der Regierung von Rot-Grün, wird jedoch
nicht an Wahlperioden oder eventuell an Strategien des
Wahlkampfes ausgerichtet, sondern an den Menschen.
({0})
Das ist vielleicht ein Unterschied zwischen uns.
Sie haben von der Finanzierungslücke gesprochen. Sie
wissen, dass sich die Maßnahmen, die in das „Investitionsprogramm 1999 bis 2002“ eingestellt wurden, an bestimmten Kriterien orientieren. Nicht nur die jetzige
Bundesregierung weiß, sondern auch die alte wusste
schon, dass gerade im süddeutschen Raum, in BadenWürttemberg und Bayern, ein Bedarf mit planfestgestellten Vorhaben in fünffacher Höhe in den Schubladen liegt;
aber das Geld reicht nicht aus. Auch nach den Plänen der
alten Bundesregierung fehlten bis zum 31. Dezember
1999 circa 25 Milliarden DM. Aufgrund der Kriterien war
es nicht möglich, diese Maßnahme in den Investitionsplan
aufzunehmen.
Der Minister hat aber im vorigen Jahr bei der Verkehrsministerkonferenz zugesagt, nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten zu suchen. Er hat erst im Februar dieses Jahres das Anti-Stau-Programm mit einem Mittelansatz in Höhe von 7,4 Milliarden DM vorgestellt; davon
entfallen 3,7 Milliarden DM auf die Bundesautobahnen.
Ab dem Jahr 2003 wird der Weiterbau der A 99 mit
272 Millionen DM durch dieses Programm mit einer
Laufzeit von fünf Jahren finanziert.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte schön.
Gestatten Sie mir,
dass ich meine Frage noch einmal stelle, weil sie nicht
beantwortet worden ist. Das ist doch gerade das Problem:
Sie haben nach Ihren Vorstellungen Finanzierungsmöglichkeiten ab 2003, verwenden die 13 Millionen DM aber
für die Jahre 2000 und 2001. Meine Frage lautet daher:
Was tun Sie in Sachen Finanzierung im Jahre 2002?
Die
Finanzierungslücke ist - ich sagte das bereits - aufgrund
des hohen Bedarfs entstanden. Die gegenwärtigen Projekte - das vergessen Sie vielleicht - ziehen ja eine Investitionsschleppe von mehreren Milliarden DM nach sich,
sodass die angesprochene Maßnahme für Bayern im Finanzrahmen nicht gesichert war. Das gilt vor dem Hintergrund der Haushaltskonsolidierung, aber auch vor dem
Hintergrund der Unterfinanzierung des Bundesverkehrswegeplans. Sie wissen natürlich von den jährlich 560 Millionen DM im süddeutschen Raum. Der Haushalt wird
durch die privat vorfinanzierten Projekte belastet, weil
damals nicht genug Geld zur Verfügung gestellt wurde.
Wir haben die mit höchster Priorität weitergeführten Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ und andere Maßnahmen, die bereits begonnen waren, in das IP aufgenommen.
Auf Bayern entfallen allein im Zeitrahmen des Investitionsprogramms rund 2,03 Milliarden DM, sodass diese
konkrete Maßnahme mit einem Volumen von 300 Millionen DM nicht auch noch in das Investitionsprogramm aufgenommen werden kann. Aber es gibt die Zustimmung zu
den bauvorbereitenden Arbeiten, damit ab dem Jahr 2003
zügig weiter gebaut werden kann.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Schauerte.
Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie vor dem Hintergrund Ihres Anti-Stau-Programms, über das Sie ja gerade ausführlich berichtet haben, die gänzlich andere Einstellung des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen zu Staus, die in
der Aussage „Wo kein Stau ist, ist auch nichts los!“ gipfelt?
({0})
Unabhängig davon, dass sich die Zusatzfrage nicht auf die
A 99 mit dem Westring München bezieht,
({0})
möchte ich keine Zitate kommentieren, die ich persönlich
nicht kenne.
({1})
Wir kommen nun zur Frage 36 des Kollegen Heiderich - und gegebenenfalls auch zur Frage 37, Herr Staatssekretär?
Herr
Kollege Heiderich, Herr Präsident, da die Fragen im Zusammenhang stehen, möchte ich sie auch zusammenhängend beantworten.
Einverstanden, dann rufe ich beide Fragen auf:
Kann die Bundesregierung bestätigen, dass Straßenbauprojekte
des „Vordringlichen Bedarfs“ aus dem Bundesverkehrswegeplan
1992 sofort in die Finanzierung des Investitionsprogramms der
Bundesregierung aufgenommen werden, sobald der Planfeststellungsbeschluss und damit die Baureife für diese Projekte vorliegt?
Beabsichtigt die Bundesregierung die Maßnahmen des „Investitionsprogramms 1999 bis 2002“ ab dem Jahr 2003 planmäßig
weiter abzufinanzieren, und ist es richtig, dass sich dies bei dem
gegebenen Finanzumfang bis circa zum Jahr 2020 erstrecken
wird?
Zu
Frage 36: Maßnahmen, die nicht im Investitionsprogramm 1999 bis 2002 enthalten sind, können - auch wenn
für sie zwischenzeitlich ein Planfeststellungsbeschluss erlassen worden ist - nachträglich nur in besonderen Einzelfällen im Austausch einbezogen werden. Zudem ist die
vorherige Zustimmung des BMVBW, der gegebenenfalls
das BMU vorab informiert, erforderlich. Diese Flexibilisierung entspricht grundsätzlich der Handhabung bei den
Fünfjahresplänen.
Nun zur Frage 37: Für das nach 2002 zu finanzierende
Finanzvolumen aus dem Investitionsprogramm 1999 bis
2002 - den so genannten Überhang - ergibt sich nach dem
derzeit angenommenen fortgeschriebenen Finanzplan ein
Zeitbedarf von rund fünf Jahren. Im Übrigen gilt auch hier
die Jährlichkeit der Haushalte. Nur für die privat vorfinanzierten Maßnahmen des Investitionsprogramm 1999
bis 2002 ist entsprechend den vertraglichen Vereinbarungen ein Refinanzierungszeitraum von 15 Jahren nach
Fertigstellung vorgesehen.
Zusatzfrage des Kollegen Heiderich, bitte sehr.
Herr Staatssekretär,
wie viele Projekte mit gegebener Baureife sind bisher
nicht im Investitionsprogramm 1999 bis 2002 enthalten?
Und welche Investitions- und Bausumme umfassen diese
nicht enthaltenen Projekte?
Herr
Kollege Heiderich, wir haben ein Investitionsprogramm
von rund 900 Maßnahmen und mit einem Gesamtvolumen
von 67,4 Milliarden DM. Insofern ist nicht entscheidend,
was darin nicht enthalten ist; vielmehr sind es die Kriterien, die wir in Verbindung mit dem uns zur Verfügung stehenden Finanzrahmen festgelegt haben.
Sie wissen natürlich, dass die Aufnahmekriterien waren: Maßnahmen der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“, bereits im Bau befindliche weitere Maßnahmen,
weitere Maßnahmen mit Baubeginn 2002 und daneben was auch immer vergessen wird - die Restfinanzierung für
bereits unter Verkehr befindliche Projekte sowie die Refinanzierung privat vorfinanzierter Maßnahmen - ich sagte das bereits bei der Beantwortung der vorhergehenden
Frage - von circa 560 Millionen DM jährlich, Maßnahmen
mit einer Anschubfinanzierung des Bundes für Privatfinanzierung nach dem Betreibermodell, Maßnahmen der
straßenseitigen Flughafenanbindung Berlin Brandenburg
International und natürlich hier auch die Investitionsschleppe mit circa 21 Milliarden DM. Wenn Sie jetzt noch
einmal konkret nach der Zahl der Maßnahmen fragen, welche wir nicht berücksichtigt haben, so kann ich Ihnen das
gerne schriftlich nachreichen.
Eine weitere Zusatzfrage, bitte sehr.
Herr Staatssekretär,
im Gegensatz zu Ihrer Ausführung eben halte ich es für die
betroffenen Regionen schon für sehr wichtig, ob sie eine
Chance haben, mit ihren Projekten in Ihre Investitionsplanung aufgenommen zu werden oder nicht. Deswegen
möchte ich an der Stelle noch einmal nachfragen, welche
Möglichkeiten die Bundesregierung sieht, schon baureife oder in Kürze baureif werdende Projekte zusätzlich zu
diesem schon ausgewiesenen Investitionsprogramm
schnell zu verwirklichen und welche Zeiträume Sie für die
Verwirklichung dieser zusätzlichen Projekte sehen.
Die
Zeiträume sind natürlich spekulativ, weil, wie Sie wissen,
der gegenwärtige Bundesverkehrswegeplan zu überarbeiten ist - er hat auch nur eine Laufzeit bis 2012 - bzw.
der Bundesfernstraßenbedarfsplan hätte überarbeitet werden müssen. Insofern sind wir an bestimmte Kriterien, die
uns das Parlament vorgegeben hat, gebunden.
Aber ich möchte noch einmal zur Flexibilisierung
zurückkommen. Die in den Listen dargestellte Auswahl
der Maßnahmen im Investitionsprogramm entspricht
natürlich dem jetzigen Planungsstand und Änderungen
sind vom Grundsatz her entsprechend dem Planungsfortschritt möglich. Das bedeutet, dass bei Planungsverzögerungen Maßnahmen, die trotz Erfüllung der Aufnahmekriterien aus finanziellen Gründen zurückgestellt oder
nicht aufgenommen wurden, im Austausch in das Investitionsprogramm einbezogen werden können, wenn die
anderen Maßnahmen, die darin enthalten sind, nicht den
entsprechenden Planungsstand oder Planungsfortschritt
aufweisen.
Weitere
Zusatzfrage, bitte schön.
Darf ich, Herr
Staatssekretär, an dieser Stelle direkt zurückfragen: Gibt
es, bereits erkennbar im Investitionsprogramm, solche
Maßnahmen, von denen Sie gesprochen haben, die nicht
verwirklicht werden können, weil die Baureife nicht erreicht ist? Bei welchen Maßnahmen ist das Nichterreichen
in der Laufzeit dieses Investitionsprogramms bis 2002 absehbar?
Da
die Länder nicht nur über die zuständigen Ministerien,
sondern auch über ihre Straßenbauverwaltungen permanent auf der Fachebene mit uns im Gespräch sind - das
Thema wurde von den Länderverkehrsministern auch
während der Verkehrsministerkonferenz an den letzten
zwei Tagen angesprochen -, ist das ein laufender Prozess,
sodass ich gegenwärtig nicht in der Lage bin, Ihnen hier
konkrete Projekte zu nennen. Wir befinden uns da noch im
Abstimmungsprozess.
Eine weitere Nachfrage? - Bitte schön.
Herr Staatssekretär,
darf ich noch einmal auf Ihre Antwort von eben zurückkommen: Habe ich es richtig verstanden, dass die Bundesregierung alle Maßnahmen aus dem Bundesverkehrswegeplan 1992, die noch nicht in ihrem Investitionsprogramm enthalten sind, noch einmal daraufhin überprüfen
will, ob sie nach wie vor Maßnahmen der höchsten Prioritätsstufe sind? Oder habe ich Sie da falsch verstanden?
Herr
Kollege Heiderich, es wäre natürlich sehr schön, wenn die
neue Bundesregierung dazu in der Lage gewesen wäre und
das von der alten Bundesregierung vorgefunden hätte,
beispielsweise die Finanzierungsmöglichkeiten und nicht
nur das, was bisher so ungefähr nach dem Stichwort
„Wunsch und Wolke“ mit der Spatenstichpolitik seitens
der alten Bundesregierung vorangetrieben wurde. Fakt
ist, dass wir circa 21,8 Milliarden DM an Investitionsschleppe zur Realisierung mit uns umherziehen. Deshalb
ist das Bauprogramm hier eingeschränkt. Hier bestand das sagte ich auch bei der Beantwortung der ersten Frage - eine Unterfinanzierung in Höhe von circa 25 bis
35 Milliarden DM allein bis zum 31. Dezember 1999, sodass sicherlich nicht alle Maßnahmen, die im Bundesverkehrswegeplan enthalten sind, durchgeführt werden können. Aber der Bundesverkehrswegeplan ist nicht das Entscheidende, sondern letztendlich ist es der Bedarfsplan,
der auch hier vom Parlament verabschiedet wird.
Insofern wird bei der Überarbeitung des Bundesverkehrswegeplans in Abstimmung mit den Ländern noch zu
entscheiden sein, welche Maßnahmen neu aufgenommen
bzw. welche von den vorhandenen im Vordringlichen Bedarf zurückgestellt werden.
Vielen
Dank.
Wir kommen jetzt zu den Fragen 38 und 39 des Kollegen Dr. Heinrich Kolb:
Ist es zutreffend, dass die Bundesregierung einen Haushaltstitel zur Globalfinanzierung für die Instandhaltung von Schienenwegen bisher noch nicht freigegeben hat, und falls ja, welche konkreten Bauprojekte sind hiervon betroffen?
Sind zum Beispiel durch Einwendungen seitens des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen oder der
Deutschen Bahn AG einzelne Projekte, die über diesen Haushaltstitel abgewickelt werden, blockiert, und um welche Projekte
handelt es sich hierbei?
Herr
Präsident, lieber Kollege Kolb, im Rahmen der Bahnreform ist die Deutsche Bahn AG - inzwischen sind es die
DB Netz AG und die DB Station & Service AG - Eigentümer der Schieneninfrastruktur geworden. Im neuen
Art. 87 e des Grundgesetzes ist verankert, dass der Bund
für den Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahn des Bundes die Verantwortung trägt.
Diese Verantwortung des Bundes wird durch das Bundesschienenwegeausbaugesetz in § 8 konkretisiert. Nach
diesem Gesetz finanziert der Bund Investitionen in die
Schienenwege der Eisenbahnen des Bundes. Dies betrifft
sowohl Ersatz- als auch Neu- und Ausbauinvestitionen.
Der DB Netz AG und der DB Station & Service AG obliegen dagegen die sich aus der Eigentümerfunktion ergebenden Rechte und Pflichten, insbesondere die Kostentragung des Aufwandes der Instandhaltung und der Unterhaltung der Schieneninfrastruktur nach § 8 Abs. 4 des
Bundesschienenwegeausbaugesetzes.
Folgerichtig sind im Bundeshaushalt 2000 keine Bundesmittel zum Ausgleich des Aufwandes für die Instandhaltung von Schienenwegen veranschlagt. Jedoch
schließt der Bund jährlich mit der DB Netz AG und der
DB Station & Service AG so genannte Globalvereinbarungen für Bestandsinvestitionen. Mittels der Globalvereinbarungen werden Investitionen finanziert, die nicht
Bestandteil von Vorhaben des Bedarfsplans Schiene, Anlage zu § 1 des Bundesschienenwegeausbaugesetzes, sowie vereinbarten Sonderfinanzierungsfällen sind.
Auf der Grundlage der bereits abgeschlossenen Globalvereinbarungen für das Jahr 2000 können Bundesmittel von bis zu 1,46 Milliarden DM für Investitionen in die
Schienenwege durch die DB Netz AG und die DB Station & Service AG in Anspruch genommen werden. Die
vorgenannten investiven Bundesmittel sind komplett verfügbar. Darüber hinaus stehen für andere Projekte, insbesondere für Vorhaben des Bedarfsplans, weitere rund
5,3 Milliarden DM im Haushalt bereit. Bis auf rund
200 Millionen DM sind alle im Haushalt ausgewiesenen
Bundesmittel für Investitionen in die Schienenwege bereits entsperrt und damit verfügbar.
Nun komme ich zu Frage 39: Nein, weder durch den
Bund noch durch die DB Netz AG und die DB Station &
Service AG werden auf der Grundlage der Globalvereinbarungen finanzierte Bestandsnetzinvestitionen blockiert.
Eine Zusatzfrage? - Herr Kollege Kolb.
Darf bzw. muss ich Ihre Antworten so verstehen, dass die Bundesregierung
nicht daran denkt, sich zukünftig an Maßnahmen der Instandhaltung im Schienennetz zu beteiligen, sondern sich
nur dann in der Pflicht sieht, wenn es um investive Maßnahmen geht?
Lieber Kollege, wir haben hier parteiübergreifend die Bahnreform und die entsprechenden Gesetze, auch das Bundesschienenwegeausbaugesetz, vereinbart. Da ich selbst
in den Jahren 1993 und 1994 daran beteiligt war, weiß ich,
dass die F.D.P.-Fraktion der Privatisierung geschlossen zugestimmt hat.
Auf dieser Grundlage wird auch der Bund seinen
Verpflichtungen gerecht. Sie wissen, dass der Bund der
DB AG auch darüber hinaus - ich denke hier nur an die investiven Altlasten in den neuen Bundesländern - Mittel
zur Verfügung stellt.
Weitere
Zusatzfrage, Kollege Kolb.
Herr Staatssekretär, ich
hatte nicht danach gefragt, welche Position die F.D.P.
seinerzeit in den Verhandlungen eingenommen hat, sondern danach, wie die Bundesregierung zukünftig zu verfahren gedenkt. Sie haben davon gesprochen, dass
200 Millionen DM aus Ihrem Haushalt noch nicht entsperrt sind und mithin zur Verfügung stehen würden, um
zumindest die dringendsten Unterhaltungsmaßnahmen im
Schienennetz, mit denen teilweise erhebliche Beeinträchtigungen bei der Abwicklung des Verkehrs beseitigt würden, vorzunehmen. Vielleicht können Sie mir noch einmal
erläutern, ob es aus Ihrer Sicht diese Möglichkeit gibt.
Der
Bund kommt seinen gesetzlichen Verpflichtungen nach
und diese Möglichkeit ergibt sich aus dem Gesetz nicht.
Das ist der entscheidende Punkt.
Weitere
Zusatzfrage, Kollege Kolb.
Dann möchte ich Sie,
Herr Staatssekretär - das soll meine letzte Zusatzfrage
sein -, fragen, ob der Bundesregierung bekannt ist, dass
es diese erheblichen Beeinträchtigungen schon jetzt, also
nach relativ kurzer Zeit, gibt, nämlich dass es auf vielen
Teilabschnitten des Streckennetzes mittlerweile
Langsamfahrabschnitte mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 50 oder 30 oder teilweise sogar nur 10 km/h
gibt. Teilen Sie meine Auffassung, dass dies zu einer Verminderung der Attraktivität des Schienenverkehrs gerade
auch bei der Abwicklung des Berufsverkehrs führt, weil
Anschlusszüge nicht erreicht werden? Wie würden Sie vor
diesem Hintergrund die zukünftige Wettbewerbsposition
der Bahn im Vergleich zu anderen Verkehrsträgern, zum
Beispiel zum Verkehr mit dem PKW, beurteilen?
Es wäre ganz toll gewesen, wenn wir - das betrifft aber
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
insbesondere die alte Bundesregierung - gemeinsam mit
der DB AG mit der Bahnreform das erreicht hätten, was
Sie hier einfordern.
Ich komme damit zurück zum Anti-Stau-Programm.
Dort werden neben der Finanzierung von Bundesfernstraßen bzw. des Lückenschlusses im Autobahnnetz zusätzliche 3,7 Milliarden DM für die Schieneninfrastruktur und die Bundeswasserstraßen zur Verfügung gestellt.
Darüber hinaus darf ich Ihnen sagen: Der Eigenanteil der
Bahn bei den Investitionen in das Bestandsnetz nach der
Globalvereinbarung, der 1998 - also in dem Jahr, in dem
zumindest bis Oktober noch eine andere Bundesregierung in der Verantwortung war - ursprünglich noch 50
Prozent betrug, ist unter der neuen Bundesregierung kontinuierlich zurückgegangen. Die Bundesregierung hat zusätzliche Verpflichtungen übernommen. Der Eigenanteil
lag 1999 bei 37 Prozent und liegt jetzt, im Jahr 2000, nur
noch bei 30 Prozent. Ich denke, auch hier hat die neue
Bundesregierung politisch bewiesen, dass sie in Zukunft
mehr für die Schiene zu tun gedenkt.
Herr Kollege Kolb, letzte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär,
nun muss ich entgegen meinem ursprünglichen Vorhaben
mit einer letzten Nachfrage versuchen, es auf den Punkt
zu bringen: Sind Sie der Auffassung, dass sich die Bahn
vor dem von mir in meinen Fragen geschilderten Hintergrund zukünftig im Wettbewerb behaupten kann, oder sehen Sie nicht auch, dass es gerade wegen des Anti-StauProgramms, das ich grundsätzlich befürworte, mittelfristig, wenn nicht gleichzeitig Investitionen in den Ausbau
und auch in die Instandhaltung des Schienennetzes erfolgen, zu einer Verschlechterung der Wettbewerbsposition
der Bahn kommen wird?
Ich
denke, dies führt zu keiner Schlechterstellung. Die Aufteilung nach der gesetzlichen Lage habe ich in der
Beantwortung Ihrer Frage dargestellt. Aber Sie sprachen
insbesondere die Langsamfahrstrecken im Nahverkehrsbzw. Regionetz der DB AG an, die in den neuen Ländern
ein Problem darstellen. Dazu darf ich Ihnen sagen, dass
die Bundesregierung die Mittel zur Beseitigung der investiven Altlast über 2002 hinaus zur Verfügung stellt. Gestern war die erste Runde mit Herrn Mehdorn, den Ländervertretern und Bundesminister Klimmt. So wird der
DB AG zum Beispiel nach dem Regionalisierungsgesetz
wesentlich mehr Geld zur Verfügung gestellt. Der Beitrag
aus der Mineralölsteuer, der im Jahre 1996 8,7 Milliarden DM betrug, wurde ab 1998 auf 12 Milliarden DM erhöht, damit die Länder höhere Verkehrsleistungen bestellen können, aber auch damit beim regionalen Netz mehr
geschieht. Auch das ist eine Stärkung der Schiene.
Weitere
Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall.
Die Fragen 40 bis 43 werden wunschgemäß schriftlich
beantwortet.
Ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Staatssekretär
Scheffler.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär
Wolf-Michael Catenhusen zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 44 des Kollegen Norbert Hauser:
Wie sieht das inhaltliche Konzept der Bundesregierung für die
Ansiedlung einer Ausbildungseinrichtung für Studenten bei der
Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung ({0}) Forschungszentrum Informationstechnik GmbH - in Schloss
Birlinghoven in Sankt Augustin aus und welche Partner sollen sich
nach der Vorstellung der Bundesregierung an der Finanzierung dieses Projekts beteiligen?
Herr
Kollege Hauser, wenn Sie einverstanden sind, beantworte ich Ihre beiden Fragen im Zusammenhang.
Dann rufe ich auch die Frage 45 auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Umsetzungsmöglichkeit
für die Ansiedlung einer Ausbildungseinrichtung für Studenten bei
der GMD und wie sind solche Pläne mit der beabsichtigten Fusion der GMD mit der Fraunhofer-Gesellschaft e.V. ({0}) in Einklang zu bringen?
Meine
Antwort auf Ihre beiden Fragen ist kurz und knapp. Sie
wissen, dass der Weg von einer Idee zu einem Produkt
nicht ganz einfach ist. Deshalb ist zur Erörterung eines inhaltlichen Konzeptes vom Ministerium für Schule und
Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes
NRW und vom BMBF eine Arbeitsgruppe eingesetzt worden, deren Arbeit begonnen hat und über deren Ergebnisse die Öffentlichkeit zu angemessener Zeit unterrichtet
wird.
Eine Zusatzfrage, Kollege Hauser.
Herr Staatssekretär, würden Sie so freundlich sein, den Begriff „zu angemessener Zeit“ ein wenig stärker einzugrenzen?
Es geht
um die Zeit, die dafür erforderlich ist, zu prüfen, wie weit
in dem Netzwerk der bestehenden Hochschulen in der Region und unter Nutzung der bei der GMD vorhandenen
Kompetenz innovative Strukturen für neue Ausbildungsgänge im Bereich der Informationstechnik geschaffen
werden können. Wer die Realitäten kennt, weiß, dass sich
Strukturreformen nicht in Wochen und auch nicht in einem
oder zwei Monaten erarbeiten lassen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Muss ich angesichts dieser Antwort davon ausgehen, dass diese Einrichtung in den nächsten zwei oder drei Jahren nicht dazu beitragen wird, den gegenwärtigen Fachkräftemangel
zu begrenzen?
Sie
kann dazu beitragen, die Zahl der Studienanfänger zu erhöhen. Herr Hauser, Sie wissen besser oder mindestens genauso gut wie ich - ich hoffe es wenigstens -, dass Entscheidungen in der letzten Legislaturperiode erforderlich
gewesen wären; denn die Absolventen, die wir im Fachbereich Informationstechnik in den nächsten zwei Jahren
bekommen werden, haben ihr Studium in der Regel in den
Jahren 1996 und 1997 begonnen. Wenn Sie hier also mit
dem Zeigefinger auf mögliche Fehler unserer Regierung
hinweisen, dann zeigen drei Finger auf die Fehler der
Vorgängerregierung. Sie wissen, dass der frühere Forschungsminister Rüttgers keinerlei Initiativen zur Behebung des Fachkräftemangels in seiner Zuständigkeit ergriffen hat.
({0})
Eine weitere Zusatzfrage.
Dahin zielte
meine Frage überhaupt nicht.
({0})
- Warten Sie es ab, auf Ihre Leistungen komme ich noch.
Mir ist nämlich klar - das weiß ich nun wirklich mindestens genauso gut wie Sie -, dass 1996 an der Fachhochschule in Hildesheim der Informatikstudiengang
geschlossen worden ist. Der damalige Ministerpräsident
von Niedersachsen ist der heutige Bundeskanzler. Mir ist
auch klar, dass die Länder im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland für Bildung und Kultur verantwortlich sind. Diese Erkenntnisse haben wir gemeinsam.
Aber das war nicht meine Frage, sondern ich war einfach darauf erpicht, von Ihnen eine etwas griffigere Zeitbestimmung als die zu bekommen, die Sie uns gegeben haben. Des Weiteren möchte ich wissen, ob Sie planen, für
diese Einrichtung zusätzliche Mittel bereitzustellen, oder
ob die Mittel, die dafür verwendet werden sollen, aus den
laufenden Haushalten der dann beteiligten Einrichtungen
genommen werden sollen.
Ich als
Parlamentarier kann nachvollziehen, dass Sie, Herr
Hauser, als Abgeordneter aus dieser Region Interesse daran haben, möglichst schnell möglichst präzise Angaben
über bevorstehende Planungen zu bekommen.
Ich möchte aber darauf hinweisen, dass eine Regierung,
die versucht, eine ganz neue Idee anzudenken, nämlich
Ausbildung im IT-Bereich an der Schnittstelle zwischen
Universität und außeruniversitärer Forschung zu etablieren, Neuland betritt. Wenn man Neuland betritt, ist man
gut beraten, die strukturellen Fragen sorgfältig zu prüfen
und nicht nach der Devise zu handeln: Geht es nicht eine
Woche schneller?
Deshalb, Herr Hauser, kann ich meine Antwort nur
wiederholen: Die Sache wird mit allen Konsequenzen in
struktureller und juristischer Hinsicht sehr sorgfältig geprüft wie auch die Frage von Prüfungsabnahmen, die Frage nach finanziellen Konsequenzen für die beteiligten Institutionen und die Frage, inwieweit der Berlin-BonnAusgleich in diesem Bereich zum Zuge kommt. An dieser
Stelle macht es, so glaube ich, keinen Sinn zu spekulieren. Die Abgeordneten haben vielmehr einen Anspruch
darauf, nicht nur über Spekulationen zu diskutieren, sondern zu erfahren, was aus heutiger Sicht auf Ihre Frage zu
antworten ist.
Ihre letzte Zusatzfrage, bitte schön.
Herr Staatssekretär, Sie wissen genauso gut wie ich oder vielleicht noch besser als ich - um mit Ihren Worten zu
sprechen -, dass eine solche Einrichtung durchaus Einfluss auf die von Ihrem Hause geplante Fusion zwischen
der GMD und der FhG nehmen würde. Insofern spielt der
Zeitrahmen der Durchführung dieser Maßnahme durchaus
eine Rolle, da die Fusion nicht ohne die Einrichtung einer
solchen Akademie einhergehen kann. Und die Fusion planen Sie - bisher jedenfalls noch - zum 1. Januar 2001.
Auch
hier, Herr Hauser, gibt es Gespräche, die unter anderem
die Frage zum Gegenstand haben, ob diese Fusion zum
1. Januar 2001 oder zu einem späteren Zeitpunkt vollzogen werden soll. Die Arbeitsgruppe, bestehend aus Vertretern des Landes Nordrhein-Westfalen und unseres Hauses - beide sind ja Gesellschafter des GMD -, wird die sich
daraus ergebenden Zusammenhänge natürlich sehr sorgfältig überprüfen. Aber es wird kein Nacheinander geben:
Wir werden nicht erst die Hochschule eröffnen und danach
die Frage bezüglich GMD und FhG lösen. Es muss eine
integrierte Betrachtung geben. Das ist durch die Beteiligung beider Gesellschafter an dem Verfahren sichergestellt.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Schauerte.
Herr Staatssekretär, ich will nicht auf die Zeitschiene hinaus, sondern
auf den Grundsatz. Können Sie für den Fall, dass es zu einer Fusion zwischen der GMD und der Fraunhofer-Gesellschaft kommt, ausschließen, dass diese Bildungseinrichtung in Sankt Augustin gebaut wird?
Ich
kann auf Ihre Frage heute nichts Konkretes antworten. Ich
kann das weder ausschließen noch bestätigen.
Jedem ist klar, dass die Diskussion, die wir mit dem
Land Nordrhein-Westfalen über eine solche Institution
führen, an einem möglichen Standort im Umfeld der
GMD orientiert ist. Ich möchte nochmals sagen: Für
IT-Studiengänge gilt es, die Möglichkeiten zu prüfen, in
einem neuartigen Verbund die Ressourcen außeruniversitärer Forschung und der Hochschule in der Region zu
nutzen und zusammenzubringen. Damit ist klar, um welchen Standort es möglicherweise geht. Wenn die Überlegungen zu einem praktikablen und umsetzbaren und finanzierbaren Konzept führen, dann geht es auch um den
Standort Bonn Sankt Augustin. Ich kann und will Ihnen
heute nichts dazu sagen, auf welchem Grundstück, in welcher Größe und in welchem Umfang wie viele Gebäude
dort errichtet werden. Ich bitte Sie um Geduld. Die Dinge werden bei uns der Sache gemäß nacheinander abgearbeitet.
Vielen
Dank, Herr Staatssekretär Catenhusen.
Die Zeit für die Fragestunde ist abgelaufen. Die verbliebenen Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Frage 52 des Abgeordneten Christian Schmidt ({0}) wurde
zurückgezogen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3a und 3b sowie den
Zusatzpunkt 1 auf:
3 a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu
Kosovo - Herausforderung auf dem Weg des
Balkan nach Europa
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1})
- zu dem Antrag der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unterstützung des Stabilitätspakts Südosteuropa
- zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu der Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Der Stabilitätspakt Südosteuropa Stand und Perspektiven
- zu dem Antrag der Abgeordneten Karl Lamers,
Peter Weiß ({2}), Klaus-Jürgen
Hedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Den Stabilitätspakt Südosteuropa mit Leben
erfüllen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Ulrich Irmer, Hildebrecht Braun
({3}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Für eine zügige Umsetzung und Vertiefung
des Stabilitätspaktes Südosteuropa
- Drucksachen 14/2569, 14/2575, 14/2768
({4}), 14/2584, 14/3100 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eberhard Brecht
Dr. Helmut Lippelt
Ulrich Irmer
Wolfgang Gehrcke
ZP 1 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Kosovo-Politik überprüfen und weiterentwickeln
- Drucksache 14/3093 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wo stehen wir
heute, zehn Monate nach der Verabschiedung der Sicherheitsratsresolution 1244, im Kosovo? Seit der humanitären Katastrophe des letzten Frühjahrs ist viel geleistet
und erreicht worden:
Fast alle Vertriebenen sind in ihre Häuser zurückgekehrt. Mit vereinten Kräften ist es gelungen, die Bevölkerung während des Winters zu versorgen. Es gibt wieder
Polizisten, die für Sicherheit und Ordnung sorgen und
nicht, wie in den letzten Jahren, für Angst und Unterdrückung. Die Zahl der ethnisch motivierten Gewalttaten
ist erheblich zurückgegangen. Heute können kosovo-albanische Kinder wieder reguläre Schulen besuchen, nachdem sie jahrelang auf ein inoffizielles, „paralleles“ Schulsystem ausweichen mussten.
Internationale Experten bauen gemeinsam mit lokalen
Vertretern von der regionalen bis zur kommunalen Ebene
neue, funktionierende Verwaltungsstrukturen auf. Es ist
ein Zeichen der Hoffnung, dass Vertreter des Serbischen
Nationalrats nach langem Zögern bereit sind, in der gemeinsamen Übergangsverwaltung mitzuarbeiten. Die
Bundesregierung begrüßt dies.
Auf der anderen Seite stehen eine Reihe drängender
Probleme, die nach wie vor unsere ganze Aufmerksamkeit
fordern und an denen es nichts zu beschönigen gibt. Niemand konnte sich ernsthaft der Illusion hingeben, dass der
Kosovo innerhalb eines Jahres zu einer friedlichen und
prosperierenden Region wird. Wie viel Zeit und Energie
notwendig sind, haben wir gemeinsam in Bosnien-Herzegowina gesehen.
An erster Stelle der Aufgaben steht die Beendigung der
gewaltsamen Übergriffe auf Serben, Roma und andere
ethnische Minderheiten. Deshalb sind die internationalen
Kräfte in Mitrovica verstärkt worden und deshalb werden
wir auch keine Destabilisierung im Presevotal akzeptieren.
({0})
Die internationale Gemeinschaft muss sicherstellen, dass
alle Vertriebenen - alle! - zurückkehren und im Kosovo in
Sicherheit und Freiheit leben können.
({1})
Die angesichts der schwierigen Sicherheitslage allzu
schnell gezogenen Parallelen zur Lage der Kosovo-Albaner vor einem Jahr verbieten sich aber. Als diese aus ihrer
Heimat vertrieben wurden, ging die Gewalt von staatlicher
Seite aus. Heute sind es die Soldaten und die Polizisten,
die die Minderheiten schützen. Die Mission der Vereinten
Nationen UNMIK steht für Rechtsstaat, Demokratie und
Pluralismus. Es geht heute nicht mehr um den Schutz vor
staatlicher Repression, sondern um die Verbesserung des
Schutzes durch UNMIK und KFOR. Dies ist ein wichtiger Unterschied. Die internationale Gemeinschaft braucht
im Kosovo demokratisch legitimierte Ansprechpartner.
Deshalb ist die Durchführung von Kommunalwahlen im
Herbst so wichtig.
Neben den bemerkenswerten Leistungen bei der Umsetzung der Resolution 1244 sind auch Defizite unübersehbar. Insbesondere muss UNMIK finanziell und personell besser in die Lage versetzt werden, ihr Mandat zu erfüllen. So sind von den zugesagten 4 800 internationalen
Polizisten bis heute erst knapp 3 000 vor Ort im Einsatz.
Umso mehr, Herr Präsident, zählt, dass Deutschland mit
bislang 265 Polizisten - wir hoffen, dass es bis zum Sommer 420 sein werden - das zweitgrößte Kontingent stellt
und die deutschen Polizisten aus Bund und Ländern wegen ihrer Professionalität und ihres Engagements zu
Recht hohes Ansehen genießen.
({2})
Gleiches gilt für die deutschen KFOR-Soldaten, die
zurzeit noch weit über ihre militärischen Aufgaben hinaus im Minderheitenschutz, bei der Wiederaufbauhilfe
und der Gefängnisverwaltung engagiert sind. General
Reinhardt, der Kommandeur der KFOR-Truppen, wird
in wenigen Tagen Pristina verlassen. Seine Leistung hat
international höchste Anerkennung gefunden und verdient. Ihm gilt wie Tom Koenigs und allen anderen, die
im Kosovo unter schwierigen Bedingungen an der Seite
unserer Verbündeten, anderer Partner und auch russischer
Einheiten ihren Dienst tun und getan haben, unser aufrichtiger Dank.
({3})
Meine Damen und Herren, statt über die Zukunft des
Kosovo und der Region zu debattieren, erleben wir in diesen Tagen den erneuten Versuch der Mythenbildung in politisch verfälschender Absicht.
({4})
Diesen Versuchen ist eines gemeinsam, nämlich die Unterstellung, der Westen und vor allem die Bundesregierung
habe den Militäreinsatz vor einem Jahr mutwillig herbeigeführt und dazu Fakten manipuliert. Diese Unterstellung war und ist absurd und sie wird durch Wiederholungen nicht wahrer - weder im Fall Racak noch beim so
genannten „Annex B“ der Verhandlungsdokumente von
Rambouillet, noch beim so genannten „Hufeisenplan“.
In Racak sind im Januar 1999 45 Leichen gefunden
worden. Ich erinnere mich noch an die Betroffenheit aller
im Hause. Die Mission der OSZE war unmittelbar vor Ort.
Böse Erinnerungen an Bosnien wurden wach. Die Bundesregierung hat damals als EU-Präsidentschaft umgehend die Untersuchung durch ein finnisches Expertenteam veranlasst und den damaligen Bericht der Vorsitzenden veröffentlicht. Danach sind die Opfer alle etwa zur
gleichen Zeit getötet worden. Es gab keine Hinweise, dass
es sich nicht um unbewaffnete Zivilpersonen handelte. Sie
hat umgehend den zuständigen Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien eingeschaltet.
Es war die serbische Regierung, die der Chefanklägerin
Louise Arbour an der Grenze zum Kosovo die Einreise
verweigerte und damals Ermittlungen unmöglich gemacht hat, meine Damen und Herren. Wenn es hier um
Aufklärung geht, dann zuerst und vor allem um Aufklärung durch das dafür zuständige Tribunal,
({5})
das durch eine Kapitel-VII-Resolution der Vereinten Nationalen dafür eingesetzt wurde. Ich finde es symptomatisch, dass dieser Aspekt in der gegenwärtigen öffentlichen
Diskussion überhaupt keine Rolle gespielt hat.
Die Bundesregierung hat - drittens - ihre diplomatischen Friedensbemühungen als Konsequenz von Racak
verstärkt und ihre ganze Kraft auf die drei Wochen später
beginnenden Verhandlungen von Rambouillet konzentriert. Die Unterstellung würde nur Sinn machen, wenn
Racak in den Krieg geführt hätte. Die Konsequenz war
aber etwas völlig anderes, nämlich dass die Vereinbarung
zwischen Holbrooke und Milosevic ganz offensichtlich
nicht ausreichte und deswegen eine verstärkte Friedensinitiative durch Reaktivierung der Kontaktgruppe und
dem Weg nach Rambouillet beschritten werden sollte.
Mir muss man einmal erklären, wie dies eine Vorbereitung
zum Krieg gewesen sein soll. Die Fakten geben das
schlicht und einfach nicht her.
Der so genannte „Annex B“ der Rambouillet-Verhandlungen - eine andere Legende -, der nach der Legende der serbischen Seite eine politische Lösung unmöglich machte, hat bei den Verhandlungen nie die geringste Rolle gespielt. Seine Bestimmungen waren im
Wortlaut eng angelehnt an die von Milosevic bereits
früher für Jugoslawien akzeptierte Vereinbarung im
Zusammenhang mit dem VN-Blauhelmeinsatz in Bosnien. Er ist selbst von serbischer Seite zu keinem Zeitpunkt
gegen das geplante Abkommen ins Feld geführt worden,
auch nicht in meinen persönlichen Gesprächen mit
Milosevic und Milutinovic. Ich habe mit Milosevic eineinhalb Stunden diskutiert, davon ungefähr die Hälfte à
deux, zu zweit. Es kam nicht ein einziges Mal das Argument „Annex B“ vor. Mit Milutinovic habe ich noch länger geredet. Es hat niemals eine Rolle gespielt. Es hat erst
eine Rolle gespielt, als es zu einem bestimmten Zeitpunkt
gesetzt wurde. Man darf sich die Frage stellen, warum und
von wem es zu diesem Zeitpunkt gesetzt wurde.
({6})
Drittens: der „Hufeisenplan“. Auch da gibt es überhaupt nichts zu verbergen oder Ähnliches mehr. Wir lassen nur die Fakten sprechen. Ich persönlich wurde Anfang
April - der Krieg war bereits voll im Gange; wir hatten
eine Konferenz, um die Flüchtlingsfrage zu bewältigen -,
eine Woche nach Beginn der Luftangriffe, von einer befreundeten Regierung über vorhandenes Geheimdienstmaterial zum serbischen Vorgehen im Kosovo informiert.
Die zuständigen Nachrichtendienste haben sich anschließend um die Übermittlung dieser Erkenntnisse nach
Deutschland gekümmert. Das Auswärtige Amt hat sie
nach Erhalt an das Bundesverteidigungsministerium weitergeleitet. Die Auswertung ergab eine weitgehende Übereinstimmung mit den tatsächlichen Erkenntnissen, die
dem Bundesverteidigungsministerium vorlagen. Planvolle Vertreibung, die bereits vor dem Scheitern des Rambouilletprozesses begonnen hat, lässt sich anhand der
Fakten von niemandem bestreiten.
Weder Racak noch der „Hufeisenplan“ hatten für den
Krieg irgendeine auslösende oder verstärkende Funktion,
was die Daten des Ablaufs unmittelbar beweisen. Auch insofern, meine Damen und Herren, sind diese Vorwürfe
falsch und böswillig.
Tatsache ist: Bereits im Herbst 1998, als die NATO
Milosevic mit ihrem „ACTORD“ - Beschluss unter Druck
setzte, waren fast 100 000 Kosovo-Albaner außer Landes
getrieben, 200 000 im Kosovo auf der Flucht. Während der
Westen bei den Friedensverhandlungen von Rambouillet
im Februar 1999 noch auf ein Einlenken Belgrads und eine politische Lösung hinarbeitete, forcierten die serbischen Einheiten ihr brutales Vorgehen. Allein im Verlauf
des Wochenendes vom 20. auf den 21. März, dem Wochenende, das den NATO-Luftschlägen voranging, wurden fast 20 000 Menschen gewaltsam gezwungen, Haus
und Hof zu verlassen. Für die meisten Kosovo-Albaner
war der Krieg lange vor dem Eingreifen der NATO bittere, durch nichts zu manipulierende Realität. Als die
Flüchtlinge ankamen, konnte man feststellen - das Vertreibungsschicksal war im deutschen Fernsehen anhand
der Interviews sehr schön nachzuvollziehen -, dass genau
die Fakten, die ich Ihnen dargestellt habe, zutrafen und
nicht die Unterstellungen, die wir gegenwärtig hören.
Was wären die Folgen gewesen, wenn wir der Verschärfung dieser humanitären Katastrophe, die das Regime in Belgrad mit Mord und Vertreibung systematisch betrieb, tatenlos zugesehen hätten? Milosevic hätte sein Ziel
erreicht. In Albanien und Mazedonien gäbe es vermutlich
auch heute noch riesige Flüchtlingslager, die die internationale Gemeinschaft versorgen müsste. Bei Tatenlosigkeit hätten wir noch nicht einmal hoffen dürfen, dass uns
das alles weiter nichts angeht. Nicht nur neue Flüchtlingswellen, sondern auch Europas Ideale, Europas Sicherheit und die Zukunft des europäischen Integrationsprozesses standen in diesem Konflikt auf dem Spiel. Der
aggressive Nationalismus von Milosevic, aber nicht nur
von Milosevic, wäre in Europa wieder hoffähig geworden.
In Bosnien haben die Europäer die Lektion der unteilbaren Sicherheit Europas sehr spät gelernt. Das Ergebnis
waren fast 200 000 Tote und Hunderttausende Flüchtlinge und Vertriebene. Im Kosovo durfte sich dieser Fehler
nicht wiederholen. Kosovo bedeutete zudem im Gegensatz zu Bosnien die Internationalisierung des Konflikts auf
dem Balkan und damit ein wesentlich größeres Risiko für
Frieden und Stabilität in der gesamten Region. Die
Entscheidung war gewiss schwierig. Sie war angesichts
der Risiken und der Opfer, die damit verbunden waren,
auch bitter. Ich sage das ganz persönlich, aber selbst mit
dem Abstand von einem Jahr füge ich hinzu: Sie war die
einzig richtige.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat eine klare und eindeutige Lehre aus der Kosovokrise gezogen: Europa darf sich nicht länger nur von Krise zu Krise, von Krieg zu Krieg auf dem Balkan engagieren. Diese Region gehört zu Europa. Es geht deshalb darum, dem
gesamten Balkan eine europäische Perspektive aufzuzeigen. Dies ist das Ziel und die große Aufgabe des von der
Bundesregierung initiierten Stabilitätspaktes mit seinem
umfassenden Ansatz in Bezug auf Demokratisierung,
wirtschaftliche Entwicklung und regionale Sicherheitskooperation.
({7})
Vergangene Woche haben Vertreter von 47 Ländern und
36 internationalen Organisationen in Brüssel ihr Engagement für die Stabilisierung Südosteuropas eindrucksvoll
mit finanziellem Zusagen bekräftigt. Das sehr gute Ergebnis der Geberkonferenz bestätigt auch die hervorragende Arbeit des Stabilitätspaktkoordinators Bodo
Hombach, dem ich gerade angesichts der Angriffe, die er
immer wieder erfährt, hier ganz persönlich für die geleistete Arbeit danken möchte.
({8})
Ich weiß, wie schwer er es hatte und welche Hindernisse
zu überwinden waren.
({9})
Noch in diesem Jahr werden mehr als 150 Projekte auf
den Weg gebracht werden, die insbesondere die regionale Zusammenarbeit fördern. Darunter befindet sich der
Ausbau des Grenzübergangs Blace, des Nadelöhrs des
Handels, des Verkehrs und der Versorgung des Kosovo.
Wir werden darauf achten, dass die Hilfs- und Finanzierungszusagen auch tatsächlich von den zugesagten Reformschritten in den Ländern der Region begleitet werden.
Das ist eine wichtige Lektion, die wir aus der Verwendung
der nach Bosnien-Herzegowina geflossenen Mittel gelernt haben. Es ist nämlich wichtig, nicht nur Mittel
fließen zu lassen, sondern in der Tat auch die ordnungspolitischen Vorstellungen entsprechend durchzusetzen,
die Voraussetzung für einen effizienten Mitteleinsatz sind.
Deutschland beteiligt sich über die nächsten vier Jahre mit 1,2 Milliarden DM in herausragender Weise an dieser Anstrengung. Ich möchte mich hier für die tatkräftige
Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages, vor allen Dingen des HaushaltsausBundesminister Joseph Fischer
schusses, die die erste Tranche freigegeben haben, noch
einmal recht herzlich bedanken.
Dass zwischen Albanern und Serben im Kosovo noch
heute tiefe Abneigung und Hass herrschen, kann angesichts des Geschehenen und angesichts der Zerstörung
und Verwüstung niemanden verwundern. Eine wirkliche
Politik der Versöhnung gibt es noch nicht. Ein moralisches
Signal der serbischen Seite könnte sie gewiss befördern,
ebenso eine Wahrheitskommission nach südafrikanischem Vorbild. Aber es wäre wegen der gegenwärtigen
Feindschaft und Gewaltbereitschaft ein fataler Fehler,
bereits heute einem multiethnischen Kosovo eine Absage
zu erteilen oder gar einer schnellen Entscheidung über den
künftigen Status des Kosovo das Wort zu reden.
({10})
Die Idee einer Teilung des Kosovo entlang ethnischer
Linien oder eine Aufgabe der Grundaussagen der Resolution 1244, wie sie im Antrag der Unionsfraktionen
anklingt, ist meines Erachtens in jeder Hinsicht gefährlich
und von sehr großem politischem Risiko, wenn man die
Konsequenzen zu Ende denkt und die Dinge bis zum Ende
durchbuchstabiert. Das will ich jetzt einmal tun.
Erstens würde sie Milosevic politisch direkt in die
Hände spielen. Er hätte genau das, was er eigentlich will,
nämlich ein Feindbild, und zwar ein sehr bewährtes und
traditionelles Feindbild, das er innenpolitisch sehr gut
nutzen könnte.
Zweitens, Kollege Lamers, stünde Deutschland mit einer solchen Initiative der Bundesregierung, wenn wir Ihre
Position übernehmen würden, angesichts der Widerstände
im VN-Sicherheitsrat der eindeutig ablehnenden Haltung
Chinas und Russlands und der Bedenken auch vieler
europäischer Partner international ähnlich einsam wie
seinerzeit bei der Anerkennung Kroatiens da.
Drittens wäre ein geteilter Kosovo ein nicht lebensfähiges staatliches Gebilde von chronischer Instabilität.
Niemand im Kosovo denkt heute an einen Anschluss an
Albanien. Aber es gibt enge und vielfältige Verbindungen
zu Mazedonien, das von einer solchen Entwicklung mit
seiner prekären ethnischen Balance aufs Höchste gefährdet wäre. Damit wäre es mitten drin im Kern des internationalen Balkankonfliktes. Die Folge wäre eine drohende
neue Spirale der Gewalt zur Lösung der ethnischen Frage
auf dem Balkan.
Wir müssen aus der Geschichte lernen. Der Fehler im
Fall Kroatien war, die Substanzentscheidung vor der
Klärung des Verfahrens zu treffen. Das war der entscheidende Fehler.
({11})
Man kann über vieles diskutieren. Die entscheidende
Frage ist: Wie geschieht es? Geschieht es mit Gewalt? Löst
dies Gewalt aus? Geschieht es, in der Form und im Verfahren nach den Kriterien des internationalen Zusammenwirkens und Zusammenlebens: friedlich, unter Gewaltverzicht, unter Anerkennung der Grenzen und unter
Wahrung der Interessen der gesamten Region?
Der Fehler im Fall Kroatien - ich habe es schon gesagt war, die Substanzentscheidung vor der Klärung des Verfahrens zu treffen. Diesen Fehler dürfen wir nicht wiederholen. Oberste Prinzipien beim Umgang mit der Statusfrage müssen deshalb die Gewaltfreiheit, die Achtung der
Grenzen und der Menschen- und Minderheitenrechte sein.
Um eine Lösung auf Grundlage dieser Prinzipien zu
erreichen, sind vor allem zwei Dinge notwendig: Erstens
muss im Rahmen der Resolution 1244 schon bald ein
ernsthafter Dialog zwischen Kosovo-Albanern, Serben,
Roma und anderen Minderheiten über die Kernelemente
einer substanziellen inneren Autonomie entlang der detaillierten Entwürfe von Rambouillet beginnen. Diese
Dinge sind alle präzise bis ins Detail in wochen- und
monatelangen Verhandlungen übrigens unter Beteiligung
aller Konfliktparteien im Kosovo ausgearbeitet worden.
Dieser Dialog wird auch zur Versachlichung der Debatte
über den endgültigen Status führen.
Zweitens kann eine friedliche politische Lösung für den
zukünftigen Status des Kosovo nur im Einvernehmen mit
allen Nachbarstaaten erfolgen. Gerade wir Deutschen
wissen das. Die deutsche Frage war nie nur eine Angelegenheit der Deutschen allein. Die Zustimmung aller Nachbarstaaten war die Voraussetzung dafür, dass sie so positiv abgeschlossen werden konnte, dass die Deutschen in
Einheit und Freiheit zusammenfinden konnten. Dasselbe
gilt auch für diese Region. Alles andere bedeutet unmittelbar Kriegsgefahr, bedeutet letztendlich das Setzen auf
Gewalt.
Eine solche friedliche Lösung bedarf entschlossener
Initiativen. Dabei ist die zeitliche Perspektive und der
Prozess, in dem diese Entscheidung getroffen wird, von
herausragender Bedeutung. Dreh- und Angelpunkt für die
Chance einer friedlichen Entwicklung ist der Aufbau einer funktionierenden regionalen Sicherheitsstruktur.
Eine solche Struktur ist im Tisch 3 des Stabilitätspaktes
bereits im Kern angelegt. Sie kann sich die Erfahrung der
OSZE zunutze machen und mit der Zeit das Maß an gegenseitigem Vertrauen und Kontrolle aufbauen, das für eine
nachhaltige selbsttragende Stabilisierung der Region unabdingbar ist. Aber das erfordert Zeit. Diese Erfahrung
haben wir auch bei uns in der Region gemacht. Die Lösung
der Statusfrage in Bezug auf die deutsche Einheit in den
50er-Jahren hätte auf einen falschen Weg führen können.
Auch diese Tatsache dürfen wir nicht vergessen.
Im Zusammenhang mit der Frage nach Exit-Strategien muss ich sagen, dass man die Lage in Bosnien nicht
der jetzigen Bundesregierung anlasten kann.Worin besteht
die Exit-Strategie für Bosnien? Die Exit-Strategie be-steht darin, dass man entschlossen und mit langem Atem auf
Demokratisierung und damit letztendlich auf Frieden,
Gewaltverzicht sowie auf die Heranführung Bosniens an
das Europa der Integration setzt. Dies gilt für die gesamte
Balkanregion. Wer diesen langen Atem nicht hat oder wer
aus innenpolitischen Gründen meint - jetzt, da man in der
Opposition ist -, eine Exit-Strategie einklagen zu müssen,
ohne die gegebenen Bedingungen zu beachten, der handelt
meines Erachtens alles andere als seriös und trägt zur Lösung dieser Konflikte nicht bei.
({12})
Aus unserer Sicht ist es der erfolgversprechendste Weg
zu einer Lösung der Statusfrage, die jetzt nicht lösbar ist.
Diese Lösung darf die Region nicht destabilisieren, sondern sie muss das Fundament für eine erfolgreiche Demokratisierung und für einen wirtschaftlichen Aufschwung
bilden. Die strategische Bedeutung Mazedoniens kann in
diesem Prozess kaum hoch genug eingeschätzt werden.
Ein weiteres Schlüsselproblem für eine friedliche
Entwicklung des Balkans ist nach wie vor ungelöst: die
Demokratisierung Serbiens. Solange Milosevic an der
Macht ist und sein Land immer tiefer in die politische
Sackgasse und in die wirtschaftliche Isolation führt, wird
Serbien ein Faktor der Instabilität bleiben.
Die aktuellen Spannungen zwischen dem Regime in
Belgrad und den Reformkräften in Montenegro machen
die Gefahr nur allzu deutlich. Die Bundesregierung bekennt sich zur territorialen Integrität und Souveränität der
Bundesrepublik Jugoslawien: Eine staatliche Unabhängigkeit Montenegros würde die Probleme nicht lösen,
sondern nur zusätzliche Probleme in der ganzen Region
schaffen. Aber ebenso gilt: Ein Scheitern der politischen
und wirtschaftlichen Reformen in Montenegro wäre ein
schwerer Rückschlag für den demokratischen Wandel
in der Bundesrepublik Jugoslawien. Ein Umsturz der
Verfassung dort würde den Beginn eines jugoslawischen
Bürgerkriegs bedeuten. Das gilt es zu verhindern.
Die Bundesregierung unterstützt daher mit allem
Nachdruck den Reformkurs, den Präsident Djukanovic
eingeschlagen hat. Die Zusage von Kreditgarantien in
Höhe von 40 Millionen DM bei seinem Besuch in Berlin
am 2. März hat hierfür ein notwendiges und deutliches
Zeichen gesetzt.
Wir wollen, dass das serbische Volk möglichst bald
den Weg nach Europa einschlägt und den ihm zukommenden, wichtigen Platz in der europäischen Völkerfamilie einnimmt. Die Voraussetzung dafür ist der Sieg der
Demokratie in Belgrad. Die Kernelemente unserer Politik sind deshalb auch in Zukunft: erstens die Isolierung des
Milosevic-Regimes durch differenzierte Sanktionen - ich
freue mich, dass es gelungen ist, die Sanktion bezüglich
des Luftverkehrs aufzuheben. Ich hoffe, dass wir auch andere Sanktionen, die das Volk betreffen, aufheben können,
dass wir aber gleichzeitig die Sanktionen, die die Nomenklatura betreffen, verstärken können, was wir meines
Erachtens tun müssen -; zweitens die Stärkung der Opposition und aller demokratischen Kräfte in einem trilateralen Dialog gemeinsam mit unseren Partnern jenseits
des Atlantiks, vor allem mit den USA. Dazu zählt auch die
Unterstützung der freien Städte, zu der die bislang 15 Partnerschaften deutscher Städte einen großen Beitrag leisten,
wofür ich mich recht herzlich bedanke, sowie die Förderung der unabhängigen Medien und der Zivilgesellschaft; drittens der gezielte Einsatz der Maßnahmen für
humanitäre Unterstützung.
Der demokratische Wandel in Kroatien ist ein herausragendes Signal der Hoffnung für die ganze Region - auch
für Serbien -, dass es in ganz Südosteuropa die Chance für
eine bessere, friedlichere, europäischere Entwicklung gibt.
({13})
Diese Bundesregierung hat sich die Entscheidung, zum
ersten Mal seit 1945 deutsche Soldaten in einen Kampfeinsatz zu schicken, weiß Gott nicht leicht gemacht. Dieser
Einsatz markiert gewiss einen tiefen Einschnitt für unser
Land. Er war aber nicht der Eintritt in eine Phase leichtfertigen Umgangs mit militärischen Mitteln - im Gegenteil.
Die Bundesregierung hat darüber hinaus die Chance zur
politischen Gestaltung ergriffen, die in dieser Krise und in
diesem Krieg lag. Eine entscheidende Lehre aus dem
Kosovo-Konflikt besteht gerade darin, das System der
Vereinten Nationen und die Mechanismen der Konfliktprävention zu stärken und ihnen künftig viel größere
Aufmerksamkeit zu widmen. Die Debatte über wirksame Eingriffe in staatliche Souveränität beim Vorliegen
schwerer systematischer Menschenrechtsverletzungen ist
eine der drängenden Zukunftsfragen der Vereinten Nationen. Die Bundesregierung ist entschlossen, sich an dieser
Debatte mit dem Ziel der Stärkung der Vereinten Nationen
und der Menschenrechte auch künftig aktiv zu beteiligen.
Der Stabilitätspakt ist ein Paradebeispiel für wirkliche
Konfliktprävention. Er weist in seinem Potenzial weit über
die Bewältigung des Kosovo-Konflikts hinaus. Mit der
großen Anziehungskraft des europäischen Integrationsmodells bietet er den Menschen in Südosteuropa einen
Ausweg aus dem Kreislauf der Gewalt, der den Balkan am
Beginn und am Ende des 20. Jahrhunderts geprägt hat.
Unsere klare Antwort auf alle Fragen nach dem Zeithorizont der internationalen Präsenz lautet deshalb: Die
Dauer des deutschen militärischen und zivilen Engagements wird bestimmt vom Verlauf des Stabilisierungs- und
Demokratisierungsprozesses. Das ist im Fall Bosnien so
und das ist im Fall Kosovo nicht anders. Um Südosteuropa
diesen Weg zu ebnen, braucht es Festigkeit und einen
langen Atem. Deshalb bitte ich den Deutschen Bundestag
auch in Zukunft um eine breite Unterstützung für diese
Politik.
({14})
Nach
dieser Regierungserklärung eröffne ich die Aussprache.
Als erster Redner hat Kollege Karl Lamers von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Ein Jahr nach Beginn des
Kosovokrieges, den wir mit viel Glück und zu einem hohen Preis gewonnen haben, drohen wir den Frieden zu verlieren. Unsere Entscheidung, uns an der humanitären AktionderNATOzubeteiligen,warrichtig.Siewarnotwendig
und daran ändern in der Tat etwa jene Behauptungen von
der Nichtexistenz des Hufeisenplanes nichts. Aber, Herr
Minister, das spielt doch nur deswegen eine so große
Rolle, weil Sie dies und Racak damals in einer überaus
emotionalisierten, moralisch überhöhten Form gebraucht
haben. Nur deswegen gibt es heute die Debatte über die
Bedeutung dieser Ereignisse.
Wir haben die humanitäre Katastrophe damals zwar
nicht unmittelbar verhindern können - im Gegenteil, die
Vertreibung wurde intensiviert, was uns außerordentlich
beschwert hat -, aber am Ende konnten wir die Rückkehr
der Flüchtlinge sicherstellen. Gleichzeitig konnten wir jedoch die Flucht von weit über 100 000 Serben, Roma und
anderen nicht verhindern. Das beschwert uns heute. Ebenso beschwert uns der Hass zwischen den Volksgruppen.
Fast jeder zweite KFOR-Soldat ist heute zum Schutz
der Serben abgestellt. Weil dies nur begrenzt gelingen
kann, obwohl unsere Soldaten ihre Arbeit vorzüglich tun
und wir ihnen alle zu tiefem Dank verpflichtet sind,
({0})
fühlen sich die Serben in ihrer Vorstellung, in ihrer
Überzeugung von der Feindschaft der NATO gegen die
Serben bestärkt. Gleichzeitig laufen wir Gefahr - ich bitte
darum, dies nicht zu übersehen -, uns auch zumindest die
Gegnerschaft, wenn nicht mehr, der Albaner zuzuziehen.
Ich will, verehrte Kolleginnen und Kollegen, von den
außenpolitischen Kosten unserer Aktion nicht viel reden,
aber wir wissen alle, dass sie hoch waren. Ich will auch
nicht davon reden, dass das Dilemma zwischen der Legitimität und der Legalität unserer Aktion ungelöst ist. Alles
das gilt es in Betracht zu ziehen.
Ohne jeden Zweifel: Es gibt auch positive Konsequenzen, die wir gezogen haben. Die Europäer haben endlich
begriffen, dass sie mehr tun müssen, um ihre fast totale Abhängigkeit von den USA auf militärischem Feld jedenfalls
zu reduzieren. Ich begrüße das uneingeschränkt und Sie
wissen, dass wir das uneingeschränkt unterstützen. Dennoch sage ich: Noch wichtiger, als darüber nachzudenken,
wie man den nächsten Krieg besser gewinnt, ist es, darüber
nachzudenken, wie man nach den Erfahrungen des letzten
Krieges den nächsten verhindert und wie man den Frieden
nach dem Krieg gewinnt; das ist noch viel wichtiger.
({1})
Ich weiß, das ist schwierig genug, sicher sehr viel
schwieriger, als es der militärische Sieg war, und zwar
nicht nur wegen der widerstreitenden Interessen der Ethnien auf dem Balkan, sondern auch wegen widerstreitender moralischer Prinzipien, auf die sie sich berufen. Dabei
billigen sie sich selber zu, was sie den anderen verweigern.
So nehmen die Kroaten für sich das Selbstbestimmungsrecht in Anspruch, verweigerten es aber, mit unserer Unterstützung, den Serben in der Krajina und beriefen
sich dabei auf das Prinzip der Integrität von Staaten. Auf
dieses Prinzip berufen sich nun die Serben gegenüber den
albanischen Kosovaren und verweigern ihnen das
Selbstbestimmungsrecht, das sie für ihre Landsleute in
Kroatien und in Bosnien in Anspruch genommen haben.
Auch andere Positionen erscheinen unvereinbar, etwa der
ethnische Anspruch der Albaner und der historische
Anspruch der Serben auf das Kosovo.
All diese widerstreitenden Interessen sind für sich verständlich und legitim. Aber ihre Verabsolutierung macht
einen Ausgleich sehr schwer. Wie könnte ein solcher Ausgleich aussehen? Ich will dazu einige grundsätzliche
Überlegungen anstellen, als Antwort auf Ihre Bemerkungen, Herr Minister.
Ethnische Konflikte wie die auf dem Balkan, Konflikte also um Macht und Territorium, lassen sich im Prinzip
auf zwei Weisen lösen: durch Teilung der Macht oder
durch Teilung von Territorien, was neue Grenzen bedeutet. Indem wir Kroatien, Slowenien und Bosnien das
Selbstbestimmungsrecht eingeräumt haben, haben wir
neue Grenzen gezogen bzw. den bestehenden innerstaatlichen Grenzen, einen grundsätzlich anderen Charakter gegeben.
Ich sagte schon: Den Serben in der Krajina und in
Bosnien haben wir das Selbstbestimmungsrecht unter
Berufung auf das Prinzip der Integrität von Staaten nicht
gegeben. In Bosnien haben wir das Prinzip der Teilung der
Macht - Föderalisierung - und das Prinzip der Teilung von
Territorien miteinander kombiniert. Ob das ausreicht, um
aus Bosnien ein lebensfähiges Gebilde zu machen, lasse
ich dahingestellt. Für das Kosovo jedenfalls schlagen wir
nur eine Teilung der Macht durch eine weitreichende Autonomie vor. Das aber reicht ganz offensichtlich den Kosovo-Albanern nicht. Ich weise darauf hin, dass alles, was
wir faktisch tun, etwa die Schaffung eines neuen Währungsgebiets, auf eine Unabhängigkeit und nicht auf eine
Autonomie hinausläuft.
Wie in Bosnien können wir eine ethnische Separierung nicht verhindern. Wir wissen alle, dass die Serben
im Kosovo, bis auf einige wenige, in einen bestimmten
Zipfel um Mitrovica geflohen sind, übrigens ein Gebiet,
das früher zu 90 Prozent von Serben besiedelt war und das
bis in die 50er-Jahre zu Serbien und nicht zum Kosovo
gehörte. Tito hat es dem Kosovo zugeschlagen, um die
sich schon damals anbahnende zahlenmäßige ethnische
Überlegenheit der Albaner zu relativieren.
Insgesamt, glaube ich, können und müssen wir feststellen, dass es auf dem Balkan eine weitgehende ethnische Entflechtung gibt, wozu nicht zuletzt 750 000 serbische Flüchtlinge gehören, die statt in Milosevics Großserbien nunmehr in Restserbien leben. Sie sind der Ausdruck
der serbischen Niederlage, werden deshalb vom Regime
ignoriert und haben doch zugleich der nationalen Frage
Serbiens eine neue, eine brisante Gestalt gegeben. Diese
Entwicklung geht weiter.
Wir, der Westen, können den dortigen Menschen
nicht die Art und Weise ihres Nebeneinanders oder Miteinanders diktieren. Wir werden dazu auch langfristig
nicht in der Lage sein. Es haben sich faktische Grenzen
entwickelt. Die historische Erfahrung ist nun einmal, dass
sich faktischen Veränderungen auf Dauer immer auch
politisch-rechtliche hinzugesellen. Es stellt sich nur die
Frage, ob und wie wir, der Westen, an diesem Prozess teilnehmen wollen und können.
Ich kenne alle Argumente, die dagegen sprechen ich bin mir dessen völlig bewusst -, sehr gut. Dennoch
will ich einmal - gewissermaßen in Frageform - im Folgenden einige Gedanken zu überlegen geben, und zwar
nicht zuletzt deswegen - das klang auch in Ihrer Rede,
Herr Minister, durch -, weil wir eines Tages sowieso an
einem Ausgleich der Interessen werden teilnehmen
müssen. Angesichts dessen ist es vielleicht besser,
rechtzeitig über das Wie nachzudenken bzw. zumindest
einige diesbezügliche Überlegungen anzustellen. So können wir vielleicht auch sicherstellen, dass ein dauerhafter,
stabiler Ausgleich in der Statusfrage zwar möglicherweise
erstritten, aber nicht erkämpft wird, also friedlicher verläuft.
Niemand kann bestreiten, dass eine politische Ordnung
nur dann stabil ist, dass Grenzen nur dann sicher sind,
wenn sie von den Betroffenen anerkannt werden. Nur auf
solche Weise sichere Grenzen können jenes Bedürfnis
nach Selbstfindung, nach Selbstvergewisserung und nach
Identität befriedigen, das die Balkanvölker auseinander
getrieben hat und weiter auseinander treibt. Daher scheint
in diesem Fall eine Separierung die Voraussetzung für Versöhnung zu sein. Dies ist eine Erfahrung, die übrigens
auch andere Völker - auch die Deutschen und ihre Nachbarn - in ihrer Geschichte gemacht haben.
({2})
Natürlich ist die Separierung nur eine Voraussetzung für
Versöhnung und nicht Versöhnung an sich. Das Elend auf
dem Balkan beruht weniger auf der dortigen Kleinstaaterei
als solcher als vielmehr auf dem nicht existierenden Willen
zur Zusammenarbeit, in der sich Versöhnung erst konkret
ausdrückt.
Wie aber kann die entscheidende Frage nach Kooperationswilligkeit und Kooperationsfähigkeit und damit auch
nach der Lebensfähigkeit dieser Gebilde, dieser Kleinstaaten beantwortet werden? Die Antwort kann meiner
Ansicht nach nur in der Schaffung einer übergreifenden
politischen Struktur liegen, die sowohl die Bedeutung der
Grenzen als auch die der politischen Macht deutlich relativiert; einer politischen Instanz, die Kooperation nicht
nur anreizt, sondern, wenn es sein muss, auch erzwingt,
die das Zusammenleben und Zusammenwirken der ethnisch separierten, politisch verfassten Einheiten institutionalisiert. Eine solche rechtlich verfasste politische
Struktur müsste - unter dem Mantel der Vereinten Nationen - in der Verantwortung der Europäischen Union liegen. Dies sollte eine Euroregion mit einem besonderen
Status in der Europäischen Union sein. Teilnehmer sollten keineswegs nur die unmittelbar Betroffenen sein, sondern zum Beispiel auch Griechenland und Ungarn, und
zwar nicht nur deswegen, weil letztere dort unmittelbar
eigene Interessen besitzen, sondern, weil damit auch
klargestellt würde, dass eine spätere Einzelmitgliedschaft
der jeweiligen Teilnehmer in der Europäischen Union
nicht ausgeschlossen ist. Allerdings müsste die Teilnahme
an dieser Euroregion neuerer Art die Voraussetzung für
eine spätere Einzelmitgliedschaft sein. Die Verantwortung
würden sich die Teilnehmer und die Europäische Union als
solche teilen, wobei letztere bei einem Stichentscheid
wahrscheinlich den Ausschlag geben müsste.
Mit anderen Worten: Ich schlage nichts anderes vor als
eine Institutionalisierung des Stabilitätspaktes hin zu
einer rechtlichen Struktur, mit der die Teilnehmer die europäische Integration quasi nachvollziehen und damit
sowohl die Bedeutung von Grenzen als auch von Macht ich wiederhole es - relativieren. Ich kann das hier nicht
weiter ausmalen; aber bevor Sie diesen Gedanken einfach
ablehnen, sollten Sie einmal darüber nachdenken, ob dies
nicht möglicherweise ein Weg ist, wie wir widerstreitende
Interessen auf dem Balkan zur Deckung bringen können.
Ich stimme Ihnen unbedingt zu, Herr Minister: Stabilität auf dem Balkan um Serbien herum, auf welchem
Weg auch immer, wird es nicht ohne Serbien geben. Daran
kann kein Zweifel bestehen.
({3})
Dass Milosevic für uns als Gesprächspartner nicht in Betracht kommt, wissen wir. Wie aber können wir die Opposition dort wirklich stärken? Ich glaube, dass all das, was
versucht wird, richtig ist. Aber tun wir genug? Isolierung
jedenfalls ist der falsche Weg; darin sind wir uns einig.
Müssen wir nicht auch versuchen, dem Land Serbien eine
Perspektive zu geben, die von jedem - wenn ich es so
sagen darf - recht und billig denkenden Serben vielleicht
nicht nur als akzeptabel, sondern auch als verheißungsvoll
empfunden wird? Selbstverständlich muss darin, aber
nicht allein, eine gerechte Lösung des Kosovo-Problems
enthalten sein.
Herr Kollege Lamers, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Brecht?
Bitte.
Herr Kollege Lamers,
ich kann nur sehr schlecht mein Entsetzen über das Aufbrechen des Konsenses, den wir bisher bezüglich der Bewertung der Situation auf dem Balkan hatten, zurückhalten. Sie haben hier einen Paradigmenwechsel vorgenommen, der, so glaube ich, sehr viel mehr Fragen aufwirft, als
er Antworten gibt. Da wir uns bisher einig waren, dass
einer der Schlüssel des Problems, wenn nicht sogar der
Schlüssel, in Belgrad selbst liegt, möchte ich Sie fragen:
Sind Sie sich bewusst, in welche Position Sie die serbische Opposition mit Ihrem Antrag bringen?
Dessen bin ich mir überhaupt nicht bewusst. Ich weiß auch nicht, warum ich die
Opposition in eine unmögliche Position bringe. Das müssen Sie mir schon erklären. Ich verstehe Ihre Frage nicht.
Eines ist doch klar: Mit unserer bisherigen Politik, mit der
Politik der NATO hat auch die Opposition - auch die, die
man als wirklich ernsthaft bezeichnen muss - ihre
Schwierigkeiten.
Was mich bewegt, ist die Sorge, dass wir uns
übernehmen könnten, wenn wir das Problem, in dem wir
stecken, nicht in einem überschaubaren Zeitraum lösbarer machen. Herr Minister, niemand von uns fordert:
Raus aus dem Kosovo! Raus aus Bosnien! Niemand
fordert, dass das morgen geschehen soll. Wir sollten aber
versuchen, alles daranzusetzen, dass der Zeitraum nicht
unüberschaubar wird. Sonst wird die Zustimmung nicht
nur in diesem Lande, sondern allenthalben in der NATO
sinken.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Gernot Erler von der SPDFraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten am 24. März einen
Jahrestag. Er hat Erinnerungen wachgerufen und uns
bilanzierende Rechenschaftsberichte abverlangt, er hat
aber auch in einem Teil der Öffentlichkeit eine emotionale,
eine partiell irrationale, ja gespenstische Debatte ausgelöst.
Ich will ausdrücklich betonen: Die Tatsache, dass
Deutschland im letzten Jahr zum ersten Mal nach 1945 an
einem Krieg beteiligt war, und die Tatsache der real
existierenden Situation im Kosovo ein Jahr danach rechtfertigen eine kritische, eine selbstkritische, eine nachdenkliche Reflexion. Diese Reflexion ist notwendig. Die
entscheidenden Fragen dabei müssten sein: Warum war
dieser Krieg nicht zu vermeiden? Wieso ist die Prävention
gescheitert? Wo müssen wir investieren, wo unsere
Fähigkeiten verbessern, um eine Wiederholung - da
spreche ich den Kollegen Lamers an - zu vermeiden? Wie
kommt es, dass wir zwölf Monate nach dem Ende der
Intervention noch nicht weiter sind? Wie können wir die
Arbeit vor Ort effektiver machen?
Diese Fragen sind zwar in diesen Tagen behandelt worden. Daneben aber werden wir Zeuge einer eigenartigen,
geradezu obsessiven Konzentration auf die Arbeit von
Verteidigungsminister Rudolf Scharping, der damals übrigens im In- und Ausland für seine Arbeit sehr großen
Respekt erfahren hat, einer Fokussierung auf den so
genannten Hufeisenplan, auf die Frage, ob es den überhaupt gegeben habe, auf die Frage, ob er Potkova oder
Potkovica heißen müsste, ja - und da fängt es meines Erachtens an, gespenstisch zu werden -, ob es denn überhaupt eine systematische Vertreibung durch die Serben
gegeben habe.
({0})
Meine Damen und Herren, ich will nur ein Beispiel für
die Blüten, die diese Diskussion hervorgebracht hat, herausgreifen. Gestern gab es einen Artikel im „Hamburger
Abendblatt“, in dem die Behauptung aufgestellt wird, ein
Oberst im deutschen Verteidigungsministerium habe den
Hufeisenplan „erfunden“. Dasselbe Blatt hat in den vergangenen Tagen die Information gegeben, dass das Verteidigungsministerium am 5. April des letzten Jahres Unterlagen über diesen Hufeisenplan bekommen habe. Die
deutsche Öffentlichkeit hat von ihm am 8. April des letzten Jahres erfahren. Interessant ist nun, dass genau an diesem Tag - also am 8.April - in der angesehenen Zeitschrift
„The Times“ ein Artikel erschienen ist, der von Beweisen
dafür spricht, dass die methodische Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo monatelang vorbereitet worden
war, und dann wörtlich folgenden Satz enthält:
Der CIA erfuhr bereits im Herbst
- gemeint ist der Herbst 1998 von einem Plan mit dem Codenamen „Operation
Hufeisen“ mit dem Ziel, massenweise über Monate
hinweg die Albaner zu töten und zu vertreiben.
Dieser deutsche Oberst müsste meines Erachtens sofort
befördert werden!
({1})
Denn er hätte es nicht nur geschafft, innerhalb von drei Tagen den Hufeisenplan zu erfinden, sondern auch geschafft, sogar in der „Times“ einen Artikel zu lancieren,
der behauptet, diese - seine! - Erfindung sei dem CIA
schon seit dem Herbst 1998 bekannt!
({2})
Dazu kann ich nur eins sagen: Einige Leute basteln in
einem Teil der Öffentlichkeit - in den Medien, aber auch
anderswo - auf der Grundlage einer miserablen und selektiven Recherche an einer Verschwörungstheorie.
({3})
Diese ist haltlos. Sie beantwortet keine der von mir und
offenbar von uns allen gemeinsam zu stellenden Fragen.
Sie schadet dem Ansehen der Bundeswehr, die - darauf
möchte ich hinweisen - immer noch in einer sehr schwierigen und sehr verantwortungsvollen Mission ist, die unser aller Unterstützung verdient. Letztlich schadet diese
Theorie auch dem Ansehen Deutschlands.
Es stellt sich die Frage, in welchem politischen und psychologischen Umfeld eine solche Debatte und eine solche
Bereitschaft, Verschwörungstheorien dieser Art Glauben
zu schenken, eigentlich entsteht. Ich denke, ein Kennzeichen dieses Umfeldes ist der Wunsch, die harten Realitäten des Jahres 1999, aber auch von heute zu verdrängen.
Es steckt der Wunsch dahinter, diese ganzen furchtbaren
Realitäten hinter dem Paravent eines Konstrukts verschwinden zu lassen - und damit auch unsere Mitverantwortung, die wir tragen.
Es gehört doch zu den unglaublichen und unleugbaren
Realitäten, dass es schon seit 1989 durch die serbische
Seite eine strukturelle Vertreibung - angeleitet von
Milosevic - der 1,8 Millionen Albaner, die im Kosovo leben, gegeben hat. 1998 hat es dann eine Eskalation gegeben: Kampfhandlungen zwischen serbischen Einheiten
und UCK-Verbänden, die damals bereits Massen von
Flucht und Vertreibung ausgelöst haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, um dies zu stoppen, hat der Westen im
Oktober 1998 dem Regime Milosevic Gewaltanwendung
angedroht. Diese Gewaltandrohung, der der Bundestag am
16. Oktober 1998 zugestimmt hat, war konstitutiv für die
deutsche Beteiligung an der Intervention - nicht irgendein Beschluss im Kontext mit dem Hufeisenplan oder irgendetwas anderes.
({4})
Es gehört zu den unleugbaren Realitäten, dass Kampf,
Vertreibung und Flucht in den ersten Monaten des Jahres 1999 weitergegangen sind - trotz der OSZE-Beobachter-Mission, trotz der Verhandlungen von Rambouillet und Paris und trotz der verzweifelten Bemühungen, in
letzter Minute den Krieg noch auf diplomatischem Weg
aufzuhalten und eine Lösung zu finden. Um der Legendenbildung entgegenzutreten: Zum Zeitpunkt des Beginns der Kampfhandlungen zählte der UNHCR, also das
Flüchtlingskomitee der Vereinten Nationen, bereits
250 000 Binnenflüchtlinge und 100 000, die über die
Grenze gejagt worden waren.
Zu den unleugbaren Realitäten gehört allerdings noch
etwas anderes - der Bundesaußenminister hat es betont -:
Das wichtigste Ziel, die Möglichkeit für 900 000 Menschen zur Rückkehr, ist erreicht worden. Aber der Krieg
ist in Wirklichkeit nicht vorbei. Er geht weiter in den
Köpfen und in den Herzen vieler Menschen vor Ort, und
wir müssen versuchen, das zu begreifen. Ich glaube, es
gibt Bilder, die man nicht vergisst; ich glaube, es gibt Erlebnisse, die einen das ganze Leben lang nicht mehr loslassen; und ich glaube, ein Jahr ist sehr kurz, um Wunden
heilen zu lassen.
Aber trotzdem: Der Krieg darf nicht weitergehen und
er darf vor allen Dingen nicht neu aufflammen. Diese Gefahr besteht im Kosovo. Aber - damit komme ich zu Ihnen, Herr Kollege Lamers - hier gibt es eine unheilige Allianz. Wir haben auf der einen Seite Milosevic, der vor Ort
immer noch genügend radikale Serben findet, die Unruhe stiften und provozieren, nur mit einem Ziel: die internationalen Kräfte, die KFOR, zu enervieren, und die damit versuchen, das Ergebnis der Intervention nachträglich
zu revidieren - und nebenbei übrigens seine eigene Macht
abzusichern. Es gibt auf der anderen Seite - das ist der andere Teil der unheiligen Allianz - auch genügend
extremistische Kräfte bei den Albanern, die Unruhe stiften, die nachts Häuser von Serben und Roma anzünden
und tagsüber Steine auf die KFOR werfen. Diese haben
ebenfalls nur ein einziges Ziel, nämlich das Ergebnis der
Intervention zu revidieren, die UN-Resolution 1244 zu revidieren und den Kosovo von dem abzutrennen, wozu er
völkerrechtlich gehört, nämlich vom jugoslawischen
Staatsverband.
Unser Problem ist - Herr Kollege Lamers, ich wende
mich besonders an Sie -, dass wir um den Preis unserer
Glaubwürdigkeit den schwierigsten Weg gehen müssen,
und der heißt: Weder die einen noch die anderen Provokateure dürfen Erfolg haben.
({5})
Nicht Separation darf prämiert werden, sondern allein
Kooperation.
Der Westen hat Krieg geführt. Das heißt, er hat den
höchsten denkbaren Einsatz mit all seinen zerstörerischen
Folgen gewählt, weil er die Lösung des Kosovo-Problems
durchGewaltundMassenvertreibung-das,wasMilosevic
wollte - nicht hinnehmen wollte. Er hat damit die Rückkehr der Flüchtlinge erzwungen. Daher kann man aber
jetzt nicht die Massenvertreibung von Serben, Roma und
anderen Minderheiten - man spricht davon, dass es schon
mehr als 250 000 sind - hinnehmen. Ich sage hier: Notfalls muss erzwungen werden, dass diese vertriebenen
Menschen wieder in ihre Heimat zurückkehren. Sonst ist
es schlecht bestellt um unsere Glaubwürdigkeit.
Herr Kollege Erler, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Fuchs von der PDS?
Gernot Erler [SPD]: Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Kollege
Erler, es tut mir Leid, ich stehe hier schon eine Weile und
Sie sind in Ihrer Rede schon ein Stückchen weiter. Ich habe eine Frage zu dem, was Sie vorhin gesagt haben bezüglich der Aussagen von Medien. Es ist ja nicht nur eine Zeitung, die Hamburger Zeitung, sondern es sind mehrere Medien. Ich gebe Ihnen Recht: Medien prägen ein
Öffentlichkeitsbild. Wenn Sie jetzt der Auffassung sind Sie haben ja sicherlich Ihre Kenntnisse und Ihr Wissen -,
dasshiereineArtVerschwörungstattfindetgegenPersonen,
gegen Regierungen, gegen Entscheidungen, die hier im
Bundestag mehrheitlich getroffen worden sind, und wenn
dasderUnwahrheitentspricht,müsstenSiedanngegendieseArt der Öffentlichkeitsarbeit nicht eigentlich klagen?
Frau Kollegin, ich denke immer,
die parlamentarische Antwort auf solche Herausforderungen ist besser als zu klagen.
({0})
Ich möchte kurz zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU kommen, mit dem sich auch der Außenminister hier beschäftigt hat: „Kosovo-Politik überprüfen und
weiterentwickeln“. Herr Kollege Lamers, Sie haben nachdenklicher als der Text des Antrages - eigentlich bestätigt, dass Sie in der Tat eine Revision der UN-Resolution 1244 anstreben. Sie wissen, das ist die Basis des
Friedens im Kosovo.
Jeder, der lesen kann, weiß, was Sie beabsichtigen: Sie
wollen die Dauerbelastung reduzieren. Aber ich sage Ihnen: Es ist eine Illusion - Sie kennen den Balkan ein wenig -, die Probleme dieser Region durch Separation lösen
zu wollen.
({1})
Wenn Sie dies heute im Kosovo versuchen, müssen Sie
morgen eine Antwort auf die Frage geben, wie Sie sich im
Sandschak, in der Vojwodina und an vielen anderen Plätzen verhalten wollen.
({2})
Ich sage Ihnen: Sie verrennen sich in ein illusionäres Ziel.
({3})
Ich unterschätze nicht die Schwierigkeit dessen, was
wir uns vorgenommen haben. Aber es gibt keine Alternative zu diesem enorm aufwendigen Lernprogramm, das
Kooperation und Integration statt Konfrontation und Separation zum Ziel hat. Die Gewaltanwender, die auf Ausgrenzung setzen, dürfen nicht durchkommen: weder Serben noch Albaner, noch andere. Sonst gibt es für Südosteuropa keine Zukunft.
Dies war und ist die Botschaft des Stabilitätspakts für
Südosteuropa, der letzte Woche einen sehr wichtigen
Schritt nach vorne gemacht hat. Hier wird grenzüberschreitende Kooperation und nicht partikularer Egoismus
prämiert.
({4})
Kooperative Projekte - und nur solche - haben eine Finanzierung gefunden. Dies war das Ergebnis der Arbeit
von Sonderkoordinator Bodo Hombach.
Herr Lamers, ich finde, Sie haben eine Chance verpasst. Nach aller Vorabkritik, die Sie, Ihre Fraktion und
auch Ihre Kolleginnen und Kollegen im Europaparlament
am deutschen Sonderkoordinator geübt haben, hätte es Ihnen gut angestanden, hier einmal zu sagen: Das war nicht
berechtigt; er hat es gut gemacht; das Ergebnis ist gut.
Vielleicht werden Kolleginnen und Kollegen von Ihnen
dies nachholen.
({5})
Andere Redner werden hier noch über Einzelheiten
dieses Programms sprechen. Ich möchte nur sagen: Die
lange, zum Teil quälende Zeit der Vorbereitung im Rahmen der Projektdefinition des Stabilitätspaktes war nicht
verloren. Denn sie ist zur Einübung von Kooperation genutzt worden. Im Vorfeld hat etwas stattgefunden, das
fast genauso wichtig ist wie das Ergebnis. Das war eine
richtige Strategie, die wir unterstützen.
Die SPD-Fraktion wird die weitere Arbeit und den weiteren Prozess des Stabilitätspaktes sehr aufmerksam und
sehr engagiert begleiten. Wir werden nicht nachlassen in
unserem Bemühen, eine parlamentarische Beteiligung bei
der Implementierung des Stabilitätspaktes zu erreichen.
Wir haben schon im Oktober letzten Jahres eine Parlamentarierkonferenz abgehalten. Am 23. und 24. Juni dieses Jahres werden wir in Dubrovnik eine Parlamentarierkonferenz mit allen Kolleginnen und Kollegen aus allen Teilnehmerländern des Stabilitätspaktes anschließen.
Ich sage: Der Stabilitätspakt ist und bleibt aus unserer
Sicht die wichtigste politische Antwort auf das, was wir
im letzten Jahr erlebt haben.
({6})
Darüber sind wir uns - das wird die Abstimmung über die
Anträge zeigen - zum Glück im Wesentlichen einig.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Werner Hoyer von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zwei
Themenkomplexe: den Stabilitätspakt und die Zwischenbilanz fast ein Jahr nach dem Kosovokrieg. Ich
möchte mich beiden Themen zuwenden und beginne mit
dem Stabilitätspakt, der ja jetzt, nach der Geberkonferenz,
zunächst einmal eine, wie es aussieht, stabile finanzielle
Grundlage hat.
Ich möchte jetzt nicht nachrechnen, wie viel zusätzliche Mittel zusammen gekommen sind oder wie viel in den
einzelnen nationalen Haushalten ohnehin schon dafür
vorgesehen war. Ich möchte auch nicht darüber sprechen,
woher dieser Euphemismus kommt, Projekte, die zum
Teil ein Jahr überfällig sind, als Schnellstartprojekte zu bezeichnen.
({0})
Aber eines können wir festhalten: Herr Hombach hat
nach Monaten des Parlierens, des Evaluierens und des
ziemlich konzeptlosen Hin- und Herreisens doch endlich
eine solide Finanzgrundlage für das, was er zu tun hat.
Jetzt muss er seine Vorhaben umsetzen. Jetzt wird es um
die Implementierung des Stabilitätspaktes in allen seinen
Teilen gehen. Er kann sich jedenfalls gewiss nicht mehr
hinter dem Argument vermeintlich mangelnder finanzieller Unterstützung verstecken.
({1})
Wenn wir das Thema wirtschaftlicher Aufbau betrachten, ist festzustellen: In der Tat ist noch nicht so
furchtbar viel geschehen. Ein hochrangiger rumänischer
Diplomat hat gesagt - so der „Tagesspiegel“ vom
30. März dieses Jahres -: „Bis heute hat der Stabilitätspakt
noch keinen einzigen Arbeitsplatz geschaffen.“
Das Blatt kommt in einem Kommentar zu dem
Schluss:
Tatsächlich rächt sich jetzt, dass der Bundeskanzler
einen außenpolitisch völlig unerfahrenen Mann nach
Brüssel geschickt hat, der nicht einmal mit den Strukturen und Entscheidungsmechanismen der EU-Institutionen vertraut war, sich in aller Eile ein elementares Grundwissen über den Balkan erwerben musste
und sich zumindest am Anfang auf dem fremden internationalen Parkett nicht zurecht fand.
Soweit der „Tagesspiegel“. Leider hat er Recht.
({2})
Mit den angekündigten Quick-Start-Projekten sind
große Erwartungen insbesondere im Hinblick auf den
Aufbau der Infrastruktur verbunden. Sie zu enttäuschen
würde auch die Bereitschaft der beteiligten Staaten reduzieren, die mit dem Stabilitätspakt ebenfalls angestrebte
verstärkte regionale Zusammenarbeit voranzutreiben.
Diese ist aber unverzichtbar, wenn es darum geht, Stabilität in dieser Region zu erreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe den Eindruck, dass bei vielen Verantwortlichen in der Region an
diesem Punkt ein Missverständnis beachtlicher Dimension vorliegt: Es werden zwar riesige Erwartungen in Richtung Europäische Union projiziert; aber die Voraussetzung
für die Schaffung von Stabilität und Wohlstand in
Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, nämlich regionale Zusammenarbeit und Integration bis dato verfeindeter Völker, wird sträflich unterschätzt.
Es wird darauf ankommen, die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Eliten der beteiligten Länder aufzufordern, ihren Landsleuten nicht nur die frohe Botschaft
von den Segnungen der europäischen Integration zu verkünden und die damit verbundenen Ansprüche in Brüssel
anzumelden. Sie werden vielmehr auch und vor allem
ihren eigenen Landsleuten erklären müssen, was das bedeutet und welche wirtschaftlichen wie politischen, vor allem aber auch mentalen Barrieren überwunden werden
müssen, bevor das alles gelingen kann. Wie soll eigentlich
jemals eine Einbindung in die politische wie wirtschaftliche Integration der Europäischen Union gelingen, wie
will man dem unmenschlich harten Wind des Wettbewerbs im Binnenmarkt und in der Weltwirtschaft standhalten, wenn noch nicht einmal die Bereitschaft zur
Zusammenarbeit in der Region besteht?
({3})
Deswegen muss das Thema regionale Zusammenarbeit ein ganz besonderes Gewicht bekommen. Ich denke,
dass wir insoweit, Herr Kollege Lamers, übereinstimmen.
Das mit der Frage der Unabhängigkeit des Kosovo zu verbinden halte ich für sehr gefährlich.
({4})
In einem stimme ich Ihnen, Herr Kollege Lamers, voll
zu: Sie haben das Wort „Groß-Albanien“ nie in den Mund
genommen. Hier sollte man Sie vor jedem Vorwurf bewahren. Den haben Sie nicht verdient. Die Frage ist aber,
ob nicht die logische Folge eine Kette von Instabilisierungshandlungen wäre, die genau dieses Thema „GroßAlbanien“ auf die Tagesordnung zurückbrächte.
({5})
Deshalb kann ich Ihrem Vorschlag nicht zustimmen.
Zurück zum Stabilitätspakt: Die Bundesregierung wird
jetzt sehr viel umsetzen müssen. Sie wird darauf achten
müssen, dass die Partnerländer ihren Verpflichtungen
auch nachkommen. Dabei geht es nicht nur um den raschen Abfluss der Mittel. Vor allem muss dafür gesorgt
werden, dass das heillose Kompetenzwirrwarr zwischen
den verschiedenen an der Durchführung beteiligten Institutionen aufgelöst wird.
({6})
Es wird auch darauf ankommen, die Voraussetzungen für
private Investitionen zu schaffen. Sonst wird die
enorme Anstrengung, die die europäischen Steuerzahler
mit ihrem Engagement auf dem Balkan auf sich nehmen,
leicht zum Strohfeuer werden. Das wiederum heißt: Es
geht um die richtigen wirtschaftlichen Weichenstellungen.
Ich denke hier zum Beispiel an die Verbesserung der Konditionen für Hermes-Deckungen.
Es geht auch um ein Mindestmaß an rechtlichen und
administrativen Rahmenbedingungen, denn nicht nur
Korruption und Kriminalität in jeglicher Form belasten die
Entwicklungschancen, auch die außerordentlich schwerfällige Bürokratie der Vereinten Nationen wie der Europäischen Union wird zunehmend zum Hemmschuh. Ich
bin übrigens der Auffassung, es wäre klug, von vornherein den Europäischen Rechnungshof und auch die
Betrugsbekämpfungsbehörde der Europäischen Union in
diese Bemühungen mit einzuschalten.
({7})
Es ist zu hoffen, dass Herr Hombach es mit seiner Aussage, die Geberkonferenz sei eine Kampfansage der politisch Denkenden an die Behäbigkeit der Bürokratie, ernst
meint. Hinweise von EU-Diplomaten der letzten Tage, er
habe die Absicht, zunächst einmal seinen eigenen Mitarbeiterstab erheblich auszudehnen, weisen allerdings in
die falsche Richtung.
({8})
Meine Damen und Herren, ich stimme all dem zu, was
über das Thema demokratischer Wechsel in Serbien gesagt
worden ist. Wir brauchen uns hier nicht gegenseitig zu bestätigen.
Ich möchte mich auf ein Thema, nämlich das Thema
Pressefreiheit konzentrieren. Das ist ein ganz entscheidender Punkt in der Region und eines der wenigen Mittel,
mit denen die Staatengemeinschaft die Demokratiebewegung in Südosteuropa wirkungsvoll unterstützen kann.
Das geht weit über Serbien hinaus. Auch in manch anderem Land steht es bei diesem Thema nicht zum Besten. Ich
halte es für erforderlich, der Medien-Task-Force, die im
Rahmen des Tisches „Demokratisierung und Menschenrechte“ eingerichtet worden ist, einen höheren Stellenwert
zu verschaffen. Wir sollten unseren ehemaligen Kollegen,
den OSZE-Beauftragten Freimut Duve, bitten, seine Kritik noch sehr viel lauter vorzutragen, wenn in vielen Ländern der Region insbesondere in staatlichen und halböffentlichen Medien mit der Pressefreiheit mehr als ruppig
umgegangen wird.
({9})
Dass eine besonders gefährliche Lunte am Pulverfass
Montenegro liegt, braucht nicht betont zu werden. Wir
sollten hier deutlich machen, dass wir über präventive
Konfliktlösungskonzepte im Rahmen der OSZE versuchen wollen, das Schlimmste zu verhindern. Aber wir
müssen auch allen Handelnden in der Region klar machen,
dass der Westen auf alle Optionen vorbereitet ist. Nach
Bosnien und dem Kosovo darf sich der Westen nicht abermals unvorbereitet mit einer massiven Eskalation von Gewalt und Gegengewalt konfrontieren lassen.
({10})
Das wäre nicht nur ein Rückschlag für den Stabilitätspakt,
sondern auch ein Rückschlag für die gesamte europäische
Sicherheitsarchitektur.
Wir müssen uns in der Tat dem Thema Bilanz zuwenden. Herr Minister, Sie haben das heute dankenswerterweise in einem ersten Schritt getan. Das sind wir auch unseren Soldaten, den Polizeibeamten, deren Arbeit ebenfalls außerordentlich hoch geschätzt wird, und den
Vertretern der verschiedenen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen und deren Angehörigen schuldig,
die Enormes leisten und dabei erhebliche persönliche Risiken tragen.
({11})
Das schließt dann aber auch eine nüchterne Bestandsaufnahme der Arbeit der Vereinten Nationen im Allgemeinen
und von UNMIK im Besonderen ein. Ich sage das als jemand, der der Stärkung der Rolle der Systeme kooperativer Sicherheit, also von UNO und OSZE, immer sehr das
Wort geredet hat.
Als Parlament haben wir zum Beispiel die Verpflichtung, den Einsatz unserer Polizisten, über den die Regierungen des Bundes und der Länder entscheiden, mit der
gleichen Sorgfalt wie den Einsatz der Bundeswehrsoldaten zu begleiten, die der Bundestag dorthin entsandt hat.
({12})
Bei dieser Analyse wird deutlich werden, dass es bei
UNMIK erhebliche Umsetzungs-, aber auch Konzeptionsprobleme und -defizite gibt. Ich weiß gar nicht, ob die
Herkulesarbeit, die wir den Polizeibeamten im Kosovo
übertragen haben, angesichts der Umstände und angesichts der Strukturen, bei denen von den taktischen Konzepten über die Führungsorganisationen bis hin zu Ausrüstung kaum etwas stimmt, überhaupt zu leisten ist. Die
Arbeit ist angesichts der Probleme mit der UCK und dem
so genannten „Kosovo Protection Corps“ schon schwer
genug. Letzteres scheint mir, wenn ich richtig zugehört habe, heute hier etwas zu gut weggekommen zu sein.
Wir brauchen also nicht nur höchst professionelle Polizisten, woran ich bei den deutschen Beamten überhaupt
keine Zweifel habe. Es müssen auch nicht nur alle an
UNMIK beteiligten Staaten ihre Verpflichtung zur Bereitstellung der von ihnen zugesagten Kontingente endlich
erfüllen. Nein, wir brauchen auch und vor allem die entsprechenden Strukturen, in denen die Polizeibeamten ihre Arbeit wirkungsvoll bewältigen können. Ansonsten
kämpfen sie gegen Windmühlenflügel; denn die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität auf dem Balkan
feiert bereits fröhliche Urständ und hat dabei längst die
klassischen Hassgrenzen ethnischer Unterschiede überwunden.
({13})
Die serbische, makedonische und albanische Mafia arbeiten längst in trauter Harmonie sehr effektiv zusammen.
({14})
Es wird also in verschiedener Hinsicht wichtig sein,
diese Zwischenbilanz ein Jahr nach dem Kosovokrieg zu
ziehen. Wir müssen nämlich Rechenschaft darüber ablegen, ob wir die moralisch hoch gesteckten Ziele des Kosovoengagements wie des Balkanengagements insgesamt
über die meines Erachtens unbestreitbare Notwendigkeit
hinaus erreicht haben, dem Völkermord, dem Gemetzel
und den ethnischen Säuberungen Einhalt zu gebieten,
Rechenschaft darüber, ob wir alles tun, um Soldaten wie
Polizisten, Richter und Staatsanwälte davor zu bewahren,
letztendlich eben doch vor allem das Resultat menschenverachtender ethnischer Säuberungen mit den Mitteln der
Repression abzusichern, und Rechenschaft darüber, ob wir
denen, denen wir jetzt das härteste Stück der Arbeit überlassen, auch alle Instrumente an die Hand geben, die sie
benötigen, um ihren Auftrag wirkungsvoll erfüllen zu
können, oder ob sie Geiseln der Unfähigkeit der Völkergemeinschaft und ihrer Organisationen werden, ihre
strukturellen Defizite zu überwinden.
({15})
Die Bundesregierung hat vor einem Jahr mit erheblicher moralisch-ethischer Aufrüstung - man hatte damals
den Eindruck, es hätte auch ein bisschen weniger dick aufgetragen werden können - von der Notwendigkeit der Entscheidung überzeugt, die fast alle im Deutschen Bundestag getragen haben. Jetzt ist die Zeit gekommen, mit erheblich mehr analytischer Schärfe, als heute in der
Regierungserklärung gezeigt wurde, die Zwischenbilanz
zu ziehen. Nur dann werden wir in der Lage sein, über die
nächsten Schritte verantwortlich zu entscheiden und damit der Realisierung unserer sehr anspruchsvollen Ziele
in der schwierigsten Region unseres Kontinents näher zu
kommen.
Danke schön.
({16})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Angelika Beer vom Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor einem
Jahr hat die überwiegende Mehrheit nicht nur des Deutschen Bundestages, sondern auch meiner Fraktion die
Luftangriffe gegen Serbien und damit den ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr mitgetragen. Das war für uns alle - ich glaube, das darf ich hier sagen - keine leichte Entscheidung. Heute, ein Jahr nach dieser Entscheidung,
möchte ich unterstreichen: Ich halte die Entscheidung
nach wie vor für richtig. Damals habe ich gesagt: Wir haben keine Alternative, als zwischen dem kleineren und
dem größeren Übel zu entscheiden. Wenn uns von den Kritikerinnen und Kritikern vorgehalten wurde, die Entscheidung sei unverantwortlich, so kann ich nur sagen: Ich
habe bis heute keine Antwort darauf bekommen, was denn
eine denkbare Alternative im letzten Jahr hätte sein können.
Wir haben mit der Zustimmung zu den Luftangriffen
Verantwortung übernommen, aber auch Schuld auf uns geladen - Schuld im Hinblick auf betroffene serbische Zivilisten und auf ökologischen Folgen. Wir haben mit dem
NATO-Einsatz zwar unser eigentliches Ziel, die Massenvertreibung zu verhindern, anfangs nicht erreicht; wir
haben aber erreicht, dass die meisten Flüchtlinge zurückkehren konnten, dass die Vertreibungen gestoppt worden
sind und dass mit dem Stabilitätspakt der gesamten Region tatsächlich eine Perspektive gegeben worden ist. Mit
der Arbeit von KFOR und UNMIK sollen nun Grundlagen geschaffen werden, den Kosovo in die Region zu integrieren.
Ich denke, es ist wichtig, an dieser Stelle die Arbeit der
Mitarbeiter der UNO, der UNMIK, der KFOR und auch
der Hilfsorganisationen zu würdigen, die sich nun dafür
einsetzen, neue Vertreibungen zu verhindern und Roma,
Sinti und andere Minderheiten zu schützen, und beim
Wiederaufbau mithelfen.
({0})
Zur aktuellen „Hufeisendiskussion“ nur so viel: Unser
Ja zu diesem militärischen Einsatz war auf Erkenntnisse
über gezielte und zunehmende Vertreibung sowie über die
ethnische Verfolgung der Kosovo-Albaner durch serbische Einheiten begründet. Während der Verhandlungen
von Rambouillet, also lange vor den Luftangriffen, zählte der UNHCR 210 000 Binnenflüchtlinge und 50 000 Vertriebene. Die Zuspitzung dieser Situation war Grundlage
für unsere Entscheidung.
Man darf die Regierung herbeizitieren, wenn sie nicht
präsent ist. Ich habe aber keine Möglichkeit, einen Abgeordneten herbeizuzitieren. Ich denke, es wäre Zeichen
von Anstand, es wäre das politische Gebot gewesen, wenn
sich der Kollege Wimmer von der CDU heute an dieser
Debatte beteiligt hätte. Wenn der CDU-Politiker dieser
Bundesregierung vorwirft - so geschehen am Mittwoch sie habe Informationen aufgefrischt und mundgerecht
präsentiert, um die Kriegsführung zu legitimieren, wenn
er unterstellt, wir hätten die Öffentlichkeit wie in einem
totalitären Land gewohnheitsmäßig belogen, dann muss er
einen Nachweis bringen. Es ist unglaublich, wie hier mit
einer Debatte Parteipolitik betrieben wird, die weder im
parlamentarischen noch im Interesse der CDU liegen
kann.
({1})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die kritischen Fragen zur Kriegsführung, die uns von Menschenrechts- und
Nichtregierungsorganisationen, aber auch aus der Friedensbewegung gestellt werden, sollten wir aufgreifen und
so den Dialog mit ihnen vertiefen.
Ich sage aber auch ganz klar: Jene Kriegsgegner, die
insbesondere meine Partei als „Kriegstreiber“ verunglimpfen und dabei eine notorische und zynische Relativierung des Menschen verachtenden Vorgehens des
Milosevic-Regimes gegen die Kosovo-Albaner vornehmen, müssen sich die Frage stellen lassen, was ihr Schulterschluss mit Milosevic und dessen Praktiken mit Friedenspolitik zu tun hat. Aus meiner Sicht gar nichts.
({2})
Ich habe vor einem Jahr unterstrichen, dass wir uns der
Verantwortung stellen werden - auch nach diesem Krieg.
Wir müssen, sowohl im Bündnis als auch bei uns, über die
Entscheidungsstrukturen in einer Kriegssituation diskutieren. Das Parlament, aber auch unsere Regierung sollte
sich kritische und selbstkritische Fragen stellen, auch
wenn auf diese unter Umständen unbequeme Antworten
zu geben sind: War es richtig, im Oktober 1998 den Luftangriffen zuzustimmen und somit einen Vorratsbeschluss
zu fassen? Ich glaube, der Bundestag hätte am 23. März
noch einmal diskutieren sollen. Haben wir alle Spielräume der parlamentarischen Verantwortung genutzt? Hätten
wir uns nicht vorher überlegen müssen, was geschehen
sollte, wenn Milosevic nicht - entgegen der Hoffnung nach wenigen Luftschlägen einlenkt? Hätten wir nicht
vorher fragen müssen, was geschehen sollte, wenn er auch
nach mehreren Wochen dauernden Luftangriffen den
Frieden weiter ablehnt? Hätten wir nicht danach fragen
müssen, wie es passieren konnte, dass die NATO die ursprüngliche Zielplanung veränderte und infolgedessen
auch zivile Ziele angriff? Wir müssen fragen, wie man dies
und die Gefahr eines militärischen Automatismus bis hin
zu einem Bodenkampfeinsatz künftig verhindern kann.
Wir stehen heute vor dem realen Problem, das anerkannt werden muss, dass trotz der Notwendigkeit eines
Militäreinsatzes ein solcher den Frieden in der Region
nicht bringen kann. Die UCK ist keineswegs die Friedensorganisation im Kosovo. Ihre Untergrundstrukturen
sind beteiligt an der Vertreibung der Minderheiten. Die
UCK ist beteiligt an Auseinandersetzungen in Südserbien. Sie kann Milosevic einen Vorwand bieten, erneut militärisch zu eskalieren.
Wir sind dem Minderheitenschutz verpflichtet. Wir
werden alles tun, um Minderheiten zu schützen und ihr
Recht auf Rückkehr durchzusetzen. Ich erteile dem Versuch der CDU, eine Trennung der Regionen vorzuschlagen und damit einen neuen Kriegsherd zu eröffnen, eine
klare Absage. Generalsekretär Robertson warnt davor, der
Friedensprozess stehe auf des Messers Schneide. Wir
werden uns in den nächsten Tagen und Wochen insbesondere mit den nächsten Eskalationsmöglichkeiten in Montenegro verantwortlich auseinander setzen und alles dafür
tun müssen, dass der Stabilitätspakt in einer Weise greift,
dass Hilfe und Gelder nicht nur versprochen, sondern sofort und unbürokratisch zur Verfügung gestellt werden.
Verantwortung übernehmen heißt auch, aus Versäumnissen der Vergangenheit zu lernen und Handlungs- und
Politikkonzepte zu entwickeln, die ihren Schwerpunkt in
der nicht militärischen Konfliktprävention haben. Die
Schere des Auseinanderklaffens muss geschlossen werden, weil wir sonst immer wieder in ähnliche Situationen
hinein rutschen werden.
Ein Appell an die Innenminister der Länder, aber auch
an Innenminister Schily, Verantwortung zu übernehmen
und Verantwortung zu tragen, bedeutet für uns heute, dass
wir nach der Teilnahme an einem Krieg, der zur Verteidigung der Menschenrechte stattgefunden hat, jene, die bei
uns Schutz vor den serbischen Einheiten gesucht haben
und denen wir Schutz gegeben haben, nicht zwangsweise in eine instabile Region im Kosovo oder nach Serbien
zurück schicken, sondern ihnen helfen. Wir müssen ihnen
auf freiwilliger Basis und unter stufenweiser Planung den
Geleitschutz nach Hause geben, sobald der Wiederaufbau
gesichert und das Leben dort möglich sein wird.
Die Abschiebung traumatisierter Flüchtlinge und die
Zwangsrückführung von Kosovo-Albanern in eine RegiAngelika Beer
on, bei welcher wir nicht wissen, ob wir den Frieden
tatsächlich halten können, passt mit der militärischen Verteidigung der Menschenrechte nicht zusammen.
({3})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Heidi Lippmann von der
PDS das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Stabilitätspakt möchte ich sagen:
Wir werden nur einem der vorliegenden Anträge zustimmen. Damit kein Missverständnis entsteht und eines klar
ist: Wir begrüßen den Gedanken, auch mit finanziellen
Mitteln einen Beitrag zur Stabilisierung der Balkanregion zu leisten, eine materielle Investition für den Frieden
auf dem Balkan zu tätigen. Ich denke, wir alle hätten uns
gewünscht, dass es eine solche Initiative schon vor zehn
Jahren gegeben hätte. Denn es hätte viel Leid ersparen
können. Genau gesehen ergibt sich die späte Einsicht, die
die Bundesregierung zu diesem Schritt veranlasst hat,
auch aus der Notwendigkeit der Schadensbegrenzung für
die Folgen ihrer eigenen Politik, der Politik der Bomben.
({0})
Meine Damen und Herren, der Kollege Lamers hat
deutlich gesagt: Frieden auf dem Balkan wird es ohne Serbien langfristig nicht geben. Frieden auf dem Balkan bedeutet deshalb auch: Jugoslawien muss als Ganzes in den
Stabilitätspakt einbezogen werden. Die nichtmilitärischen
Embargomaßnahmen müssen fallen, soweit sie die jugoslawische Bevölkerung betreffen.
({1})
Sanktionen sind kein geeignetes Mittel, sondern richten unendliches Leid in der Bevölkerung an. Dass diese
ebenso wenig Milosevic treffen wie die Bomben, ist klar.
Sie haben auch Saddam Hussein nicht getroffen, der nach
wie vor im Amt ist, sondern unzählige unschuldige Menschen im Irak, die aufgrund der mangelnden Grundversorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten mit ihrem
Leben bezahlt haben.
Der gezielte Einsatz humanitärer Unterstützungsmaßnahmen, Herr Außenminister, kann weitere Konflikte
nach sich ziehen. Wenn Sie nur Ihnen genehme Städte und
Gemeinden in Serbien unterstützen, kann dies zum Sozialneid und zu weiteren Fluchtbewegungen führen. Deswegen fordert meine Fraktion: Nehmen Sie die gesamte
Bundesrepublik Jugoslawien in den Stabilitätspakt auf,
wenn Sie tatsächlich an einer Heranführung des Balkan an
Europa und an Frieden und Stabilität in der Region interessiert sind!
({2})
Heute, ein gutes Jahr nach dem Beginn des Angriffskriegs der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien,
steht die Bundesregierung vor dem Scherbenhaufen ihrer
Balkanpolitik. Die NATO-Bomben haben nicht allein
Tausende von unschuldigen Menschen getötet, sondern
auch die Lebensgrundlagen der jugoslawischen Bevölkerung durch die Zerstörung der Infrastruktur und der Volkswirtschaft sowie durch die verursachten ökologischen
Schäden langfristig eingeschränkt. Die Luftangriffe haben
die internationale Rechtsordnung verletzt und nachhaltig
erschüttert. Sie haben - das wurde schon ausgeführt - die
vorgegebenen, angeblich humanitären Ziele nicht erreicht.HeutefindenimKosovounterdenAugenderNATO
und der UNMIK ethnische Vertreibungen, Mord und Totschlag, ungezügelte Kriminalität, Plünderungen und
Brandschatzungen statt. Täglich gibt es Terroraktionen albanischer Extremisten aus den früheren UCK-Strukturen
in Südserbien mit dem Ziel, dort eine neue Intervention der
internationalen Staatengemeinschaft zu bezwecken.
Multiethnischem Zusammenleben, Achtung der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist der
Kosovo kaum einen Schritt näher gekommen - und das gewiss auch nicht durch die NATO-Bomben. Sie haben das
Gegenteil bewirkt oder, wie der UN-Sonder-beauftragte
für Ex-Jugoslawien, Jiri Dienstbier, sagt: Sie haben die
Probleme nicht gelöst, sondern sie vermehrt. Er sagt weiter: Mord, Folter und das Niederbrennen von Häusern
dauern an. In diese Situation hinein, Herr Innenminister,
Flüchtlinge abschieben zu wollen ist nicht nur zynisch,
sondern unverantwortlich.
({3})
Herr Außenminister Fischer sagte am 15. April letzten
Jahres hier im Haus:
Es wird dort nur ... Frieden geben, wenn die Logik der
ethnischen Säuberung gebrochen wird, wenn das
Vertreiben, wenn der Nationalismus dort endgültig eine Niederlage erleidet.
Ich kann diesen Satz voll unterstreichen. Denn er trifft
heute genauso zu wie damals, wenn auch heute mit umgekehrten Vorzeichen - angesichts Hunderttausender vertriebener und geflüchteter Serben, Zigtausender Roma
und Aschkali, Jüdinnen und Juden. Dass dieses kein Frieden ist, liegt auf der Hand.
Meine Damen und Herren, ich habe ja viel Verständnis
dafür, dass Teile der Bundesregierung, wie zum Beispiel
der Herr Verteidigungsminister, versuchen, die aktuelle Situation im Kosovo schönzureden und weit und breit Erfolge zu verkünden. Immerhin hat man ja Krieg geführt,
um genau das zu verhindern, was jetzt im Kosovo Wirklichkeit ist. Da mag es schon angehen, dass man es mit der
Wahrheit manchmal nicht ganz so genau nimmt. Das bringen Kriege ja auch so mit sich. Doch das Gerede von den
Verschwörungstheorien, die Mythen und Legenden, die
aufgebaut werden, sprechen, wie ich denke, für sich. Ich
finde es interessant, dass eine gemeinsame Verschwörung
vom „Hamburger Abendblatt“ über die „Berliner Zeitung“, die „Welt“ bis hin zum „Spiegel“ stattfinden soll,
Kollege Erler. Ich denke, Sie sollten Ihre Wortwahl künftig einmal etwas genauer überdenken.
({4})
- Ich habe hier noch keine Behauptungen aufgestellt, verehrter Herr Kollege.
Reden wir doch jetzt einmal über die Mythen und Legenden, zum Beispiel beim Thema Menschenrechte. Die
jahrelang an den Kosovo-Albanern gegangenen Menschenrechtsverletzungen sind nicht umstritten, auch
nicht die Tatsache, dass es über Jahre hinweg eine zunehmende Vertreibungspolitik von der serbischen Seite gab.
Umstritten ist aber ihr vonseiten der NATO und insbesondere auch vonseiten der Bundesregierung behauptetes
Ausmaß. Bestritten werden kann auch, dass der Krieg die
einzig mögliche, legale, legitime, zweckmäßige und Erfolg versprechende Antwort auf diese Menschenrechtsverletzungen gewesen sein soll. Er war es nicht.
({5})
Wer wie die NATO und die Bundesregierung offenbar
bereit ist, durch Bomben unschuldige Zivilisten zu töten,
um andere unschuldige Opfer zu retten, für den sind die
Menschenrechte nicht unteilbar und nicht von gleicher allgemeiner Gültigkeit. Wer wie die Bundesregierung mit einer Beteiligung an den Luftangriffen auf Jugoslawien bewiesen hat, dass er bereit ist, Unschuldige im Namen der
Menschenrechte zu töten, der will den Preis für seine angeblich hehre Rettungsaktion nicht selbst bezahlen oder
durch die Täter bezahlen lassen, sondern durch Unschuldige. Wer so handelt, kann nicht glaubwürdig von der Verteidigung der Menschenrechte sprechen.
Ich möchte auch hier noch einmal an die verhaltenen
Reaktionen dieser Bundesregierung angesichts der Massaker und Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und angesichts der Menschenrechtsverletzungen in der
Türkei, die in der vergangenen Woche erst wieder mit
5 000 Soldaten in den Nordirak einmarschiert ist, erinnern.
Die Empörung, die Sie hier angesichts der Recherchen von
Medienvertretern zu Racak, zum Hufeisenplan etc. an den
Tag legen, und die Verschwörungstheorien, die Sie sich
zurechtstricken, sind doch ganz einfach nur ein Zeichen
dafür,
({6})
dass Sie relativ wortlos sind. Sie können nämlich heute
keine Beweise für die Authentizität der Dokumente, die
Sie uns vor und während des Krieges - das wurde ja schon
ausgeführt - bei jeder Gelegenheit vorgelegt haben und
aus denen die Bedeutung des Massakers von Racak und
die Bedeutung des Hufeisenplans hervorgehen sollen,
vorlegen.
Sie selbst haben eine enorme Propagandapolitik betrieben. Ich möchte nur daran erinnern, was der Herr Verteidigungsminister hier mehrfach zum Ausdruck gebracht
hat. In seiner Rede am 15. April letzten Jahres stellte er
die Frage:
Ist das alles nur Erfindung und Propaganda, was
Menschen uns erzählen: dass man die Leichen mit
Baseballschlägern zertrümmert, dass man ihnen die
Gliedmaßen abtrennt und die Köpfe abschlägt?
Heute fragen sich viele Vertreter unterschiedlicher Medien: Ist vieles nur Erfindung und Propaganda,
({7})
was Regierungsvertreter uns über Racak, über den Hufeisenplan, über die Massengräber, über die AuschwitzTheorie, über die Konzentrationslager
({8})
und auch über den Vertrag von Rambouillet erzählten, der
für keinen Regierungschef der Welt annehmbar war?
Frau Kollegin Lippmann, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss.
({0})
Wir fragen Sie: Warum haben Sie alle hier im Haus kein
Interesse an einer umfassenden Aufklärung der Geschehnisse des Winters und Frühjahrs 1999?
({1})
Warum hat die Bundesregierung immer noch keinen umfassenden Abschlussbericht vorgelegt?
({2})
Warten Sie vielleicht darauf, dass sich ein Untersuchungsausschuss mit der Sache beschäftigen wird, um
die Legenden und Lügen einmal aufzuklären?
Frau Kollegin Lippmann, ich muss Sie noch einmal ausdrücklich an die Redezeit erinnern.
Frau Präsidentin, ich komme
zum Schluss.
Ich betone noch einmal deutlich: Es geht nicht darum,
die Vertreibung der Kosovo-Albaner und die Menschenrechtsverletzungen der serbischen Seite infrage zu stellen.
({0})
- Sie hat es gegeben.
Frau Kollegin, ich bitte Sie, endgültig zum Schluss zu kommen.
Sie hat es gegeben. Sie sind
zu verurteilen.
Frau Kollegin Lippmann, es ist nicht fair, was Sie machen. Ich bitte Sie, zum
Schluss zu kommen.
Solange Sie sich zum Ankläger und Richter in einer Person machen und die Beweise
nicht vorlegen, so lange sind sie unglaubwürdig.
({0})
Ich erteile jetzt dem
Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping, das
Wort.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir Bilanz ziehen und uns fragen, welche Lehren aus den Ereignissen des letzten Jahres und den Erfahrungen seither zu ziehen sind, dann will ich zunächst sagen, dass 1,4 Millionen Vertriebene an ihre Wohnorte
zurückkehren konnten, dass eine Chance auf einen stabilen Balkan bei allen Risiken besteht, die hier heute angesprochen worden sind. Man könnte viele andere Elemente hinzufügen.
Es ist immerhin beachtlich, dass uns diese Chance - die
der Stabilitätspakt uns gibt - auf einen stabilen Balkan
nicht dazu verführen sollte, gewissermaßen ungeteilt stolz
zu sein. Dafür ist zu viel geschehen; zu viel menschliches
Leid ist damit verbunden gewesen. Ich bleibe bei meiner
Bemerkung, die ich nach Abschluss der militärischen
Maßnahmen im Deutschen Bundestag gemacht habe: Wir
haben Verantwortung übernommen, auch unbeteiligten
Menschen Leid zugefügt und haben insofern Schuld zu
tragen. Das ist mit solchen politischen Entscheidungen unabweisbar verbunden.
Zu den Leistungen gehört auch, dass diese 1,4 Millionen Menschen mittlerweile wieder eine halbwegs funktionierende Infrastruktur der Strom- und Wasserversorgung, der Krankenhäuser und der Versorgung mit gesundheitlichen Leistungen vorfinden.
Zu den Leistungen gehört, dass mittlerweile, wenn ich
den deutschen Verantwortungsbereich im Kosovo betrachte, alle Kinder wieder in die Schule gehen, was ich
für eine unverzichtbare Voraussetzung friedlicher Entwicklung halte.
({0})
Auch hier ist ein skeptischer Hinweis unverändert angebracht: Militärische Maßnahmen können Gewalt bannen. Sie reichen aber nicht aus, um Frieden zu schaffen.
Deshalb ist jetzt noch mehr zu tun. Das hat mit den Nichtregierungsorganisationen, mit dem Aufbau ziviler und demokratischer Strukturen, mit der Tätigkeit vieler anderer
und nicht zuletzt der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr zu tun. Ich glaube, dass wir bei einer solchen Debatte durchaus sagen sollten, dass die Leistungen der Angehörigen der Bundeswehr nicht alleine und noch nicht
einmal vorrangig militärische sind, sondern solche der zivilen und militärischen Zusammenarbeit und dass man
auf die Angehörigen der Bundeswehr und auf die Leistungen, die sie dort erbringen, durchaus stolz sein kann.
({1})
Im Übrigen drückt sich in der Zusammenarbeit mit
vielen anderen Nationen im deutschen Verantwortungsbereich auch ein anderer politischer und historischer Fortschritt aus. Die Tatsache beispielsweise, dass wir mit ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten eng zusammenarbeiten, sollte uns noch einmal vor Augen führen, welche
Fortschritte wir im Interesse gemeinsamer Sicherheit in
Europa machen. Wir arbeiten dort mit russischen und türkischen, österreichischen und schweizerischen, bulgarischen, georgischen, aserbaidschanischen und vielen anderen Soldaten verschiedenster Nationen zusammen. Ich
finde, es ist ein wirklich historischer Fortschritt, dass sich
im Interesse gemeinsamer Sicherheit und Stabilität in Europa Staaten von so unterschiedlicher Geschichte und Tradition jetzt gemeinsam bemühen, auch Südosteuropa eine Chance auf friedliche Entwicklung zu geben.
({2})
Ich will vor diesem Hintergrund nicht allzu viel zur
Entstehungsgeschichte sagen. Aber ich möchte doch ins
Gedächtnis zurückrufen, dass zum Zeitpunkt des Beginns
der militärischen Maßnahmen der NATO der Bundesaußenminister in Belgrad war und Erkenntnisse aus seinen
Gesprächen, die er hier geschildert hat, mitgebracht hat.
Niemand sollte vergessen, dass Milosevic auf die Uneinigkeit der NATO und auf einen Dissens zwischen Öffentlichkeit und Regierung in den einzelnen NATO-Mitgliedstaaten spekuliert hatte. Dies mündete in dem zynischen Satz: Wenn ich jeden Tag ein Dorf vernichte, wird
die NATO nicht eingreifen, sondern händeringend vor
dieser Situation stehen, ohne entschlossen zu handeln.
Es sollte auch im Gedächtnis bleiben, dass zum Zeitpunkt der NATO-Luftangriffe schon viele zehntausend
Menschen vertrieben worden waren; die Zahlen sind
schon genannt worden. Man sollte auch nicht vergessen,
dass der Generalsekretär der Vereinten Nationen anlässlich des 50-jährigen Bestehens der UN-Konvention gegen
den Völkermord davon gesprochen hatte, dass wir angesichts der Ereignisse im Kosovo unter der dunklen Wolke des Völkermordes leben.
Man kann daraus den Schluss ziehen - das ist berechtigt -, dass präventive Politik in der Zeit zwischen dem
Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens und diesen Ereignissen versagt hat. Wir hätten aus den drei vorhergehenden Kriegen auf dem Balkan lernen müssen, wie dringend
notwendig präventive Politik ist. Die Europäer ziehen
daraus ihre Lehren. Ich will einige nennen:
Die erste Lehre ist, dass die Europäer stärker, als man
das vor einem oder anderthalb Jahren - also etwa bei der
Ratifizierung des Amsterdamer Vertrages - vermuten
konnte, ihre gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
weiterentwickeln müssen. Dieser Prozess kommt mit
großer Konsequenz, beachtlicher Substanz und mit für europäische Verhältnisse erstaunlicher Geschwindigkeit
voran. Ich halte das für eine der richtigen Lehren aus den
Erfahrungen der letzten Jahre.
Die zweite Lehre ist, dass wir die präventiven Möglichkeiten der Politik verstärken müssen. Die Bundesregierung hat in der besonderen Verantwortung des Bundeskanzlers und des Bundesaußenministers von Anfang an
Wert darauf gelegt, dass die politischen Maßnahmen, die
humanitäre Hilfe und die militärisch notwendigen Maßnahmen in einem engen Zusammenhang stehen. Sie hat
nie allein auf ein einziges Instrument gesetzt. Das heißt für
die Zukunft, dass wir im Rahmen einer besseren, mehr
präventiv angelegten Politik politische Initiative, humanitäre Hilfe, ökonomische Zusammenarbeit und Aufbau
demokratischer und ziviler Strukturen ebenfalls miteinander in Verbindung setzen und das durchsetzen müssen.
Es ist übrigens klar, dass dies angesichts der Skrupellosigkeit und der Menschenverachtung bestimmter Diktaturen auf der Welt ohne sicherheitspolitische Rückversicherung nicht gelingen wird. Es ist auch eine Lehre aus
den Erfahrungen der letzten anderthalb Jahre, dass
präventive Politik ihre Grenze in der Menschenverachtung
und in der Skrupellosigkeit einer Diktatur finden kann.
Die dritte Lehre besteht darin, dass wir die Aufmerksamkeit für die geduldige, zähe und konsequente Friedensarbeit erhalten und fördern müssen, die jetzt auf
dem Balkan stattfindet. Ich will das an einem Beispiel
deutlich machen. Alle Welt schaut zu Recht besorgt auf
Montenegro, auf das Presevo-Tal in Südserbien sowie auf
Kosovska und Mitrovica. Das sollte uns aber nicht den
Blick darauf verstellen, dass es im Herbst des letzen Jahres um Orahovac - diese kleine Stadt liegt im deutschen
Verantwortungsbereich - Straßensperren und heftige
Konflikte zwischen der albanischen Mehrheit und einer
kleinen serbischen Minderheit gegeben hat. Die Tatsache,
dass die Straßensperren verschwunden sind, dass es gemeinsame Entwicklungsprojekte im Bildungswesen, in
der Wasser- und Elektrizitätsversorgung sowie in der
Gesundheitsversorgung dieser Stadt gibt und dass mithilfe von militärischen Mediatoren - ich will sie einmal so
nennen - beiden Seiten ein Prozess nahe gebracht worden
ist, in dem beide durch neues Aufflammen von Gewalttätigkeit etwas zu verlieren haben, wird offenbar nicht
mehr gesehen, obwohl hier ein sehr praktisches Beispiel
des Zusammenlebens unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen begonnen worden ist.
({3})
Ich könnte andere solcher Beispiele nennen.
Mit Blick auf manche Äußerung, die ich auch jetzt in
dieser Debatte gehört habe, möchte ich sagen: Unverändert geht es darum, Ziele zu erreichen, und nicht darum,
sich zum Sklaven von Zeittafeln zu machen. Wir als
Westeuropäer sollten etwas anderes nicht übersehen - ich
kleide es in eine Frage -: Wie lange hat es eigentlich nach
dem Ende des Zweiten Weltkrieges gedauert, bis der französische Staatspräsident Charles de Gaulle zum ersten Mal
Deutschland besucht hat? Wenn ich es recht erinnere, war
das 1962.
({4})
- Aber seine Vorgänger waren auch nicht so häufig in
Deutschland.
Ich will damit nur darauf aufmerksam machen, dass wir
in anderen zeitlichen Dimensionen denken sollten, wenn
diese Friedensarbeit Erfolg haben soll. Im Übrigen gehört
zu ihr der Dialog zwischen Kulturen und Religionen.
Nicht dazu gehört - um diesen Unterschied auch sehr
klar zu markieren - die Separation von Bevölkerungsgruppen.
({5})
Es ist, nebenbei gesagt, eine höchst eigenartige Beschreibung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, wenn man da
von Separation zu redet.
({6})
- Ja, dann nennen Sie es doch Vertreibung, Herr Kollege.
({7})
Es war ja Vertreibung, mit allen menschlichen Schäden,
die dabei auch eine Rolle gespielt haben und nicht vergessen werden sollten.
Aber wer der Separation das Wort redet und das Konzept verfolgt, Herr Kollege Lamers, der redet nicht nur einem staatlichen Flickenteppich auf dem Balkan das Wort,
sondern auch einer Unbeherrschbarkeit der Konflikte,
und er ermutigt in der gegenwärtigen Situation genau jene, die aus extremistischen und radikalen Positionen heraus auf Separation setzen und dabei andere vertreiben
wollen.
({8})
Ich wollte auch diesen Unterschied sehr deutlich machen, denn eine solche Debatte, die auf die Zukunft gerichtet sein soll, muss sich auf die Lehren konzentrieren,
die wir aus der Vergangenheit ziehen, und zwar möglichst
vollständig.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt Herr Kollege Christian Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vorneweg eine Bemerkung zu einem Thema, das in der Diskussion eine so
große Rolle gespielt hat, Herr Kollege Erler, dass Sie ihm
fast Ihre gesamte kostbare Redezeit widmen mussten.
Die Themen der Vergangenheit, die Themen des letzten Jahres und die genauen Umstände dessen, was sich an
Aggression im Kosovo entwickelt hat und was zu
bekämpfen war, sind das eine. Die Überhöhung, die stattfinden musste, um die linke Seite des Hauses davon zu
überzeugen, dass sie das notwendige Vorgehen unterstützt, ist das andere. Aber dass eine Fraktion, deren Vorsitzender Herrn Milosevic noch einen Höflichkeitsbesuch
abgestattet hat, das zum Thema machen will, sollten wir
nicht zulassen. Darüber reden wir und, wenn es etwas daBundesminister Rudolf Scharping
rüber zu reden gibt, wird das in geeigneter und angemessener Form getan werden.
({0})
Unser Antrag kommt auf jeden Fall zur rechten Zeit. Es
wird der Eindruck erweckt, als ob hier Störenfriede unterwegs wären, die die Harmonie stören wollten. Das ist
doch nicht die Realität. Die Realität, der wir uns alle gegenübersehen, ist doch, dass nach einem Jahr die Bilanz
mehr Schatten als Licht aufweist, dass nach einem Jahr
festzustellen ist, dass der Weg weitaus schwieriger ist, als
wir es uns vorgestellt haben, und dass es führende Vertreter der internationalen Gemeinschaft, die dort unten ihren
Dienst tun, gibt, die darauf hinweisen, dass die Frage des
Status nun auf die Tagesordnung gehört. Ich nenne Herrn
Kouchner, ich nenne Jiri Dienstbier, den UN-Sonderbeauftragten, die vielleicht unterschiedliche Perspektiven
haben, die aber die Feststellung getroffen haben, dass es
notwendig ist. Das Gleiche gilt für Paddy Ashdown, den
britischen Abgeordneten, von dem man hört, dass er sich
durchaus weiter im Kosovo engagieren will. Ich nenne den
amerikanischen Senator Biden, dem nicht nachgesagt
werden kann, dass er sich um die Frage des Balkans nicht
kümmern würde. Er hat kürzlich geäußert, dass er
Schwierigkeiten habe, gegenüber seinen Kollegen im USSenat zu begründen, dass sie weiter Geld für eine Angelegenheit geben sollten, der gegenwärtig wohl die Perspektive fehlt.
All diese Fragen sind auf dem Tisch, und nicht mehr
und nicht weniger steht in unserem Antrag. Dort steht, dass
wir die Bundesregierung auffordern,
die Vorstellungen von den Grundlagen einer politischen Ordnung im Kosovo und in der Region, wie sie
in der UN-Resolution 1244 niedergelegt sind, im
Lichte der Erfahrungen seit ihrer Verabschiedung
hinsichtlich des zukünftigen Status weiterzuentwickeln und damit verbunden ein Konzept einer
nachhaltigen, selbsttragenden Stabilisierung ... vorzulegen ...
Nicht mehr und nicht weniger fordern wir. Das ist eine
Aufforderung zum Nachdenken und eine Aufforderung
zum Gespräch.
Damit wird das nachvollzogen, was in der Resolution
1244 der Vereinten Nationen unter Ziffer 11 e und f steht.
Der Korrektheit und der Vollständigkeit halber zitiere ich
auch das: Unterstützung eines politischen Prozesses, um
den künftigen Status des Kosovo festzulegen, unter
Berücksichtigung der Rambouillet-Abkommen. Weiter
heißt es dort: In einem letzten Schritt soll der Übergang
der Autorität auf Institutionen überwacht werden, der in
einer politischen Lösung vereinbart wird.
Man muss über diese Fragen der politischen Lösung
sprechen. Man muss darüber sprechen, ob Rambouillet
ausreichend ist, ob das fortgeschrieben werden muss und
inwiefern unter dem Eindruck der ersten Effekte des Stabilitätspaktes Schwerpunktverlagerungen notwendig
sind.
Kollege Lamers hat eine Perspektive aufgezeigt, über
die man reden muss und reden kann. Ganz wichtig - auch
das hat er aufgezeigt - war die Notwendigkeit der regionalen Kooperation. Wir hatten die Befürchtung, dass es
sich der eine oder andere unserer Partner auf dem Balkan
etwas zu einfach macht, wenn er auf die Hoffnungen und
Perspektiven der Integration und die euro-atlantischen
Strukturen verweist. Das kann es nicht sein. Das ist ein
Verweis auf die ferne Zukunft. Die Zwischenschritte, die
regionalen Komponenten und die Selbstverantwortung
für die Gestaltung der politischen Zukunft in der eigenen
Region, müssen angemahnt werden.
Ein Wort zum Stabilitätspakt. Ich habe bei letzter Gelegenheit für unsere Fraktion deutlich gemacht, dass wir
diesen Pakt im Prinzip unterstützen. Auch unser zweiter,
unser großer Antrag zum Stabilitätspakt sagt in seinem ersten Satz: Wir fordern, „auf eine zügige Umsetzung und
Verwirklichung der Ziele ... hinzuwirken“. Schon damals
habe ich aber die Befürchtung geäußert, dass sich aus einem sehr losen Konzept heraus eine klare Strategie, eine
Perspektive noch nicht entwickelt haben, dass das aber
notwendig ist, um in überschaubarer und auch für uns vertretbarer Zeit zu Perspektiven zu gelangen. Das mahnen
wir an.
Was heißt das? Wir verlangen - Karl Lamers forderte
einen rechtlichen Rahmen für den Stabilitätspakt -, dass
man erkennt, dass Quick-Start-Projekte, wie schnell
oder langsam und von wem auch immer sie auf den Weg
gebracht werden, nicht ausreichen und dass aus der Brüsseler Konferenz, die - es sei allen gedankt - im Augenblick zu einem Erfolg geworden ist, noch keine Stabilität
für den Kosovo oder den Balkan erwächst.
Das heißt, dass wir beispielsweise auch Fragen hinsichtlich der Verteilung der Geldzusagen stellen müssen.
Mir fällt auf, dass führende Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit ihren Zusagen weitaus zurückhaltender
gewesen sind als wir. In Frankreich war es ein Drittel, in
Großbritannien noch weniger. Hoch achtenswert sind die
Holländer. Wenn das eine rein fiskalische, budgetäre Angelegenheit wäre, müsste man auch darüber reden. Wenn
sich dahinter aber politische Distanz zu einem nicht vorhandenen Konzept verbirgt, dann besteht die Notwendigkeit, zu handeln und zu sprechen. Nicht mehr und nicht
weniger mahnen wir an.
Ich empfehle denjenigen, die in der Verantwortung stehen, es sich nicht zu leicht zu machen und nicht so zu tun,
als ob ein bloßes Weiter-so reichen würde. Die Verdienste derer, die dort tätig sind, die der Beamten, der Polizisten, der Soldaten, der Politiker und der vielen Nichtregierungsorganisationen, werden sehr geschätzt. Nur, sie
allein werden keine Lösung für den Balkan schaffen.
Die Prozesshaftigkeit der dortigen Entwicklung könnte uns auf einen sehr langen Zeitraum verweisen, wenn wir
uns jetzt nicht hinsetzen, eine Zwischenbilanz ziehen und
versuchen, möglicherweise Remedur zu schaffen, damit
uns der Friedensprozess nicht aus den Händen gleitet und
von unserer Bevölkerung nicht mehr mitgetragen wird, bevor er ein wahrer Friedensprozess geworden ist.
Für diejenigen Menschen, die sich dort aufhalten, entstehen hohe Belastungen. Wir haben hohe Belastungen im
finanziellen Bereich und im politischen Bereich. Je länger diese Belastungen andauern, desto sorgfältiger müssen sie begründet werden und desto deutlicher muss
Christian Schmidt ({1})
gemacht werden, dass es kurzfristig keine Alternativen
gibt. Wir sind der Meinung, dass es mittelfristig Alternativen gibt. Über diese Fragen sollten wir sprechen. Das ist
unsere Forderung an die Regierung.
({2})
Es spricht jetzt der
Bundesminister des Inneren, Otto Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! An sich hatte ich nicht vor, mich an dieser Debatte zu beteiligen. Aber
die Kollegin Beer hat einige Sätze an mich gerichtet, die
eines Kommentars bedürfen.
Frau Kollegin Beer, ich möchte Sie darauf hinweisen,
dass ich mit dem Vertreter der UNMIK, mit Herrn
Bernard Kouchner, ein Memorandum of Understanding
abgeschlossen habe, in dem vorgesehen ist, dass wir
während der Wintermonate nur in sehr begrenztem Umfange Rückführungen vornehmen, dass aber ab dem
Frühjahr eine Rückführung in größerem Umfang
stattzufinden hat. Rückführung heißt, dass wir die Ausreisepflicht nicht in das Belieben des Einzelnen stellen.
Vielleicht sind Ihnen die entsprechenden Zahlen nicht
geläufig:
({0})
Frau Kollegin Beer, in den Wintermonaten sind - dies war
sogar für mich eine überraschende Zahl; ich habe sie anlässlich eines zusammen mit dem Kollegen Fischer in
Pristina gemachten Besuches erfahren - über 100 000
Kosovo-Albaner in den Kosovo zurückgekehrt. Wenn
jetzt einige 100 Menschen aus Deutschland zurückgeführt worden sind, dann kann man das, wie ich finde, nicht
auf Basis der humanitären Gesichtspunkte, die Sie meinten, in diese Debatte einführen zu müssen, einer Kritik unterziehen.
Die deutsche Bevölkerung hat die Bereitschaft unter
Beweis gestellt, in Krisensituationen in großzügiger Weise Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland aufzunehmen. Im Falle Bosniens haben wir 320 000 Flüchtlinge
aufgenommen. Aus dem Kosovo sind angesichts der Bedingungen, die dort geherrscht haben, wahrscheinlich wenn ich alle diesbezüglichen Zahlen zusammenrechne über 200 000 Menschen zu uns gekommen. Diese Bereitschaft kann nur aufrechterhalten werden, wenn der Aufenthalt dieser Flüchtlinge mit einer bestimmten Frist versehen ist, also auf Zeit gedacht ist. Angesichts dessen
kann es nicht im Belieben derjenigen, die hier Zuflucht erhalten haben, liegen, ob sie zurückkehren wollen oder
nicht.
Deshalbbitte ichSiewirklichumVerständnisdafür,dass
ich im Einvernehmen mit allen Länderinnenministern einschließlich der Länderinnenminister aus rot-grünen
Regierungen - bei dem Verfahren bleibe, auf eine Rückkehr zu setzen, die zwar in erster Linie auf Freiwilligkeit
beruht - wir haben deshalb ein Transitabkommen abgeschlossen, das den Landweg eröffnet -, die aber zur
Förderung der Heimkehr durchaus auch zwangsweise erfolgen kann und auch praktiziert wird. Ich bitte Sie also
wirklich um Verständnis. Ich glaube nicht, dass dieses
Vorgehen in irgendeiner Weise mit humanitären Prinzipien kollidiert.
Vielen Dank.
({1})
Herr Bundesminister,
Kollege Schwarz-Schilling wollte eine Zwischenfrage
stellen. Gestatten Sie die?
Bitte schön.
Ich
bedanke mich, dass Sie diese Frage noch entgegennehmen.
Soll ich diesen Ausführungen entnehmen, dass Sie die
in früheren Innenministerkonferenzen festgelegten Parameter, dass bei bestimmten Gruppen, bei Traumatisierten,
bei Lagerhäftlingen, bei Deserteuren, bei Ehepartnern,
die unterschiedlichen Ethnien angehören und nicht wissen, wo sie leben können, eine entsprechend sensible Behandlung und - so möchte ich formulieren - Beurteilung
des Einzelfalls vorgenommen werden, nicht mehr beachten?
Ich stelle mehr und mehr fest, dass über die Ausländerämter - in meinem Kreis, aber auch in anderen; ich habe ja die Unterlagen - ganz pauschal alle zur Ausreise aufgefordert werden und von einer sensiblen Behandlung
dieser Sondergruppen heute keine Rede mehr sein kann.
({0})
Da Sie dies gar nicht ansprechen, möchte ich Sie bitten,
dazu Stellung zu nehmen und zu sagen, ob das die Politik
der Länderminister und der Bundesregierung ist.
Herr Kollege Dr. Schwarz-Schilling, das trifft nicht zu. Wir haben
vereinbart, dass bei bestimmten Gruppen die Rückführung bzw. Rückkehr zurückgestellt wird. Das trifft für
die Serben und die Roma aus dem Kosovo, aber auch für
andere Kategorien zu. Für Kosovo-Albaner aber gilt das
nicht, zumindest nicht generell. Im Einzelfall gibt es, wie
Sie wissen, die Möglichkeit des Rechtsverfahrens und die
Entscheidungskriterien.
Ich wehre mich nur dagegen, wenn gesagt wird, die
Rückkehr müsse auf freiwilliger Grundlage stattfinden.
Das werden Sie sicher verstehen. Ich kenne Sie, Herr Kollege Dr. Schwarz-Schilling, aus Gesprächen, die wir über
einen langen Zeitraum geführt haben, gut genug, um zu
wissen, dass Sie das auch nicht infrage stellen.
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt der Kollegin Angelika Beer das
Wort.
Herr
Innenminister, es ist mir durchaus bekannt, welche Abkommen Sie abgeschlossen haben. Und Ihnen wird bekannt sein, dass ich an der Form, wie diese Abkommen
abgeschlossen wurden, Kritik geübt habe.
Ihre gerade vorgetragenen Ausführungen halte ich aufgrund der Begebenheiten in den Kommunen und den Verfahren seitens der Ausländerbehörden für äußerst widersprüchlich. Es wäre sicherlich angebracht, wenn Sie sich
auch mit den Landesinnenministern ins Benehmen setzen
würden.
Wenn Sie das, was Sie gesagt haben, wirklich ernst meinen - daran will ich grundsätzlich gar nicht zweifeln -, ist mir rätselhaft, warum Sie dem Vorschlag solch
einen Widerstand entgegenbringen, eine geordnete Rückkehr zu garantieren, indem das Amt eines Rückkehrbeauftragten eingerichtet wird, damit sich die Fehler, die im
Zusammenhang mit Bosnien gemacht worden sind, nicht
wiederholen. Ich setze mich für die Einsetzung eines Beauftragten für eine geordnete und freiwillige Rückkehr
ein, weil ich oft, wenn auch vielleicht nicht so häufig wie
Sie, im Kosovo war, und zwar nicht nur in Prizren und in
Pristina, und die Situation vor Ort kenne. Sollte es jetzt zu
einer ungeordneten Rückkehr der Menschen kommen,
bestünde eher die Gefahr einer Destabilisierung des Friedensprozesses. Dies ist für Sie vielleicht aus national verständlichen Gründen politisch vertretbar. Für mich aber ist
dies in Verbindung mit den Gründen für den Kriegseinsatz
im Kosovo, der Aufnahme der Flüchtlinge und der Verantwortung, sie vorsichtig zurückzubringen, unvereinbar.
Herr Bundesminister,
es besteht ein weiterer Wunsch nach einer Kurzintervention, und zwar von der Kollegin Marieluise Beck. Ich
schlage vor, dass Sie im Anschluss daran auf beide
Kurzinterventionen antworten.
Herr Minister, ich stimme Ihnen zu, dass die
großzügige Aufnahme sowohl der Bosnier als auch vieler
Kosovo-Albaner in Deutschland gerade durch die Bevölkerung ein wirklich gutes Kapitel unserer Geschichte ist
und dass klar sein muss, dass es sich dabei um einen temporären Schutz handelt. Das ist die Grundlage für die
Aufnahme von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen. Es
geht also nicht um die Frage, ob eine Rückkehr stattfindet, sondern darum, wie und unter welchen Bedingungen
zurückgekehrt wird. Und darüber müssen wir uns unterhalten.
Wir haben in Deutschland noch schätzungsweise
160 000 bis 180 000 Kosovo-Albaner, die seit 1990 eingereist sind. Die Caritas-Einrichtungen in Prizren haben
aufgrund ihrer Erfahrungen vor Ort vor einigen Tagen zur
Kenntnis gegeben, dass nach ihrer Einschätzung die Ressourcen und die Aufnahmekapazitäten im Kosovo im Augenblick fast erschöpft sind. Der UNHCR schätzt die Situation vor Ort ähnlich ein.
Es wird zwar aufgrund des Verhaltens und der Tradition der kosovo-albanischen Familien immer noch eine
Möglichkeit gesucht, die Zurückkehrenden in den Familienverbänden aufzunehmen, aber der Wiederaufbau der
Häuser geht sehr viel langsamer voran, als es erwartet
worden war. Wir müssen uns der Frage stellen, ob wir
Menschen in eine Region schicken wollen, wo sie kein
Dach über dem Kopf haben und wo die sowieso schon sehr
angespannte und belastete Situation noch verschärft wird.
Deswegen ist auch von meiner Seite der Vorschlag in die
Debatte gebracht worden, über eine stufenweise
Rückführung nachzudenken.
Nach meiner Beobachtung fehlt es den Ausländerbehörden an der Möglichkeit, zu überblicken, mit wem sie
es zu tun haben. Woher kommt der Mensch, dessen Duldung ausläuft? Kommt der aus einem Minderheitengebiet?
Ist er ein Aschkali? Ist er ein Roma? Hat er ein Zuhause
oder gibt es für ihn im Moment keine Rückkehrmöglichkeit? Deswegen möchte ich noch einmal nachdrücklich
den Vorschlag vortragen, darüber nachzudenken, ob wir
nicht eine Schaltstelle einrichten sollten, wo die Informationen, die aus dem Kosovo nach Deutschland gebracht
werden, gesammelt werden, damit sie von den Behörden,
die die Entscheidungen fällen, abgerufen werden können.
Wenn wir die Grundsatzentscheidung der Landesinnenminister, die im Augenblick noch besteht, nach der die
Rückführung im Jahr 2000 weitgehend abgeschlossen
sein soll, ohne Rücksicht auf die Verhältnisse vor Ort
tatsächlich umsetzen würden, so wäre das sehr problematisch. Der UNHCR und die Organisationen vor
Ort - übrigens auch KFOR - sollten diejenigen sein, an
deren Aussagen wir uns bei der Rückführung orientieren.
Zur Erwiderung Herr
Bundesminister Schily, bitte.
Frau Kollegin Beck, wenn Sie mir empfehlen, mich an den Aussagen der KFOR zu orientieren, dann will ich sagen, dass der
frühere Oberbefehlshaber der KFOR, General
Jackson, mir gegenüber noch zu seiner Amtszeit erklärt
hat, es seien 800 000 Menschen aus den benachbarten Gebieten, also aus Albanien und Mazedonien, gekommen. Er
sehe daher keine Schwierigkeiten, wenn noch weitere
100 000 zurückkehren würden.
Die Entwicklung hat ihm Recht gegeben. Ich will jetzt
niemanden zitieren, aber ich kann mich noch gut erinnern,
was im Herbst gesagt worden ist, nämlich dass keiner oder
so gut wie keiner zurückkehren könne. Das waren die gleichen Argumente, die Sie jetzt benutzen. Die Zahlen habe
ich Ihnen eben genannt: In den Wintermonaten sind über
100 000 Menschen - auch aus Westeuropa und übrigens
ein Teil auch aus Deutschland - zurückgekehrt.
Es ist auch nicht richtig, wenn Sie behaupten, dass der
UNHCR grundsätzlich dagegen sei. Es gab zwar Äußerungen, die in der Presse verbreitet worden sind. Herr Wetterwald, mit dem ich gerade heute gesprochen habe, hat
mir berichtet, dass sich der Sprecher des UNHCR für diese Äußerungen entschuldigt habe, er sei falsch zitiert worden. Herr McNamara, der in der UN-MIK-Verwaltung
tätig ist und vom UNHCR kommt, hat vor wenigen Tagen
bestätigt: Wenn aus Deutschland und aus der Schweiz in
diesem Jahr 100 000 Menschen zurückkehren würden, sei
das verkraftbar. Die Innenminister haben sich die Zahl von
180 000 Menschen zum Ziel gesetzt. Ob dieses Ziel ganz
erreicht wird, kann man infrage stellen. Das will ich auch
gar nicht dogmatisch diskutieren.
Sie haben den Vorschlag eines Rückkehrbeauftragten
gemacht. Diese Idee haben wir schon zu einem früheren
Zeitpunkt - als Sie den Vorschlag noch gar nicht gemacht
hatten - im Kreise der Innenminister erörtert. Ich habe dabei auch den Rat von Hans Koschnick gesucht, der über
Erfahrung auf dem Balkan verfügt. Sie werden verstehen,
dass ich seiner Sachkunde sehr vertraue. Als ich vor wenigen Tagen mit ihm zusammengetroffen bin, habe ich mir
von ihm noch einmal bestätigen lassen, dass er einen
Rückkehrbeauftragten für den Kosovo nicht empfiehlt.
Wir haben heute etwas über Institutionenwirrwarr
gehört. Wir haben ja eine Vertretung in Pristina. Ich habe
mit dem Kollegen Fischer vereinbart, dass wir auch vom
Innenministerium dort einen Mitarbeiter postieren können. An Informationen über das Gebiet fehlt es nun wahrlich nicht.
Wenn Sie irgendwo Beschwernisse haben - das biete
ich auch Herrn Dr. Schwarz-Schilling an -, dann kann man
das korrigieren. Ich kann natürlich nicht ganz ausschließen, dass an der einen oder anderen Stelle etwas falsch
gelaufen ist; dafür bin ich aber nicht unmittelbar verantwortlich.
Mir geht es nur um die grundsätzliche Frage, ob wir zu
dem gegenwärtigen Zeitpunkt sagen: Ab Frühjahr ist eine Rückkehr möglich und wir verleihen der auch Nachdruck. Wenn jemand dazu sagt, das sei eine Destabilisierung der Region, dann finde ich das einen ziemlich unglaublichen Vorwurf; das muss ich ganz deutlich zum
Ausdruck bringen. Ich jedenfalls halte diese Rückkehr für
notwendig, auch im Interesse des Aufbaus des Landes.
Daran sollten sich auch die Kosovo-Albaner, denen wir
lange genug hier Zuflucht gewährt haben, beteiligen.
Nächster Redner der
Debatte ist der Kollege Dr. Helmut Lippelt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Innenminister, wir überlassen das natürlich Ihrem Feingefühl; Sie werden das selber wissen. Ich möchte aber eines zu bedenken geben: Die Rückkehr dieser rund
800 000 Menschen ist eine Riesenleistung gewesen. Diese Rückkehrer wussten aber, wohin sie wollten, weil sie
ihre Häuser aufbauen wollten. Es ist eine Riesenleistung
gewesen, dass dazu aus Deutschland und aus dem Ausland
weitere 100 000 kamen. Die wussten aber alle, was sie aufbauen wollten. Es ist eine große Leistung gewesen, dass
die alle über den Winter gekommen sind; vorher haben wir
große Angst davor gehabt, dass sie es nicht schaffen würden.
Jetzt sind wir aber in einer Situation, die ich vor dem
Hintergrund dessen beschreiben möchte, was beispielsweise Herr Lamers anführt. Er sagt: Die können nicht miteinander leben, sie bringen sich um usw. Ich glaube, der
Mechanismus der Vertreibung ist zu wenig klar. Wenn man
die Berichte, die in den Lagern und von den OSZE-Beobachtern gesammelt worden sind, nachliest, stößt man
auf eines: Es war geradezu kennzeichnend, dass die Morde vor der ganzen Familie, vor den Kindern begangen wurden. 70 Prozent der kosovo-albanischen Jugendlichen
sind noch traumatisiert. Deshalb ist es schwierig, das Zusammenleben wieder möglich zu machen. Das ist der
Grund, weshalb wir für Zeit kämpfen.
Herr Lamers will schnell eine ethnische Separierung,
damit es dort friedlich wird, und auf der anderen Seite wollen wir die restlichen 100 000 Menschen wieder dorthin
zurückschicken. Ich bestreite das Recht überhaupt nicht.
Ich bitte nur, es so zu handhaben, dass es nicht auf Kosten
der letzten Serben geht, die noch da sind. Denn im Gegensatz zu den ersten 100 000 wollen diese 100 000 nicht
dringend nach Hause, weil sie noch gar nicht wissen, wo
das sein wird. Ich bitte darum, einfach vorsichtig zu sein.
Ich komme zurück zum Hauptthema. Wir haben als Bilanz vorhin festgestellt, dass jetzt Legenden blühen. Wir
alle haben uns unsere Entscheidung sehr schwer gemacht
haben, wir alle haben Unsicherheiten gehabt und mit diesen Unsicherheiten umgehen müssen, und jetzt kommen
Schnellschüsse, die methodisch nicht abgesichert sind.
Da über den Hufeisenplan heute in der Fragestunde und
auch sonst schon genug geredet worden ist, mache ich nur
eine Bemerkung: Racak. Wir alle konnten den Report des
finnischen Expertenteams, der Ärzte, der Gerichtsmediziner, sehr schnell lesen. Trotzdem gab es einen bekannten Herren, der ihn absolut nicht lesen konnte. Was stand
in dem Bericht? In dem Bericht stand - in fachtechnischer
Terminologie geschrieben -, mit welchen Methoden untersucht wurde, nämlich mit besseren als Parafintests; keine Schmauchspuren. Es handelte sich also nicht um Kombattanten. Die Kleidung ist untersucht worden: keine
Manipulation der Kleidung. Es wurde die bäuerliche
Bevölkerung, nicht etwa Kombattanten, umgebracht.
Dann enthält der Bericht folgende Bemerkung:
({0})
- Bitte, besorgen Sie sich doch das Gutachten; dann müssen Sie lesen lernen. - Ob es sich um Massenmord handelt, können wir als Mediziner nicht beurteilen. Dies ist
eine politische Bewertung. Alle, die sich jetzt auf diesen
Satz stürzen, bauen Legenden. Ich wollte mich nur zu diesem Detail äußern; alle anderen können wir überspringen.
Das Problem, vor dem wir stehen werden, ist ein ganz
anderes. Natürlich hat das militärische Vorgehen der
NATO im Kosovo, mit dem wir einer Massenvertreibung
in den Arm gefallen sind, die Gewaltschwelle noch einmal gesenkt. Das eigentliche Problem ist die Frage: Wie
bekommen wir die entfesselte Gewalt, die jetzt an anderen Orten explodiert, wieder in den Griff? Das Problem ist
nicht das Rechthaben-Wollen all derer, die zu keiner historischen Betrachtung in der Lage sind, die Pseudohistoriker sind und die sich aus lauter Rechthaberei daran
hochziehen.
Weil meine Redezeit abläuft, komme ich zu meiner
letzten Bemerkung: An einem Punkt hat Herr Lamers einen gravierenden Fehler gemacht, der mir sehr aufgefalBundesminister Otto Schily
len ist. Sie haben gesagt, Kroaten beispielsweise wollten
nicht mit Serben zusammenleben, und deshalb ließen sie
die Krajinaserben nicht zurückkommen. Hätte Herr Lamers - ich sehe ihn gerade nicht - doch die Ergebnisse der
verschiedenen Stabilitätsprojekte, die jetzt abgesegnet
sind, genau gelesen! Sie waren ein großer Erfolg. Auch der
deutsche Anteil daran war hervorragend. Hätte er sich diese Projekte angesehen, dann wüsste er, dass eine wesentliche Maßnahme ein Rückkehrprojekt für die kroatischen
Serben, also für die Krajinaserben, ist.
Wenn man den enormen Durchbruch in der Demokratie sieht, der mit den Wahlen in Kroatien geschehen ist,
und wenn man den kroatischen Ministerpräsidenten hier
erlebt hat, dann weiß man, dass ein Fortschritt zu einem
kooperativen Zusammengehen besteht.
Vor dem Hintergrund dessen, was ich einleitend gesagt
habe, nämlich einer Generation traumatisierter junger
Leute im Kosovo, brauchen wir Zeit. Zweifellos gibt es
weniger Morde. Trotzdem brauchen wir auch Führungspersönlichkeiten im Kosovo.
Vor drei Wochen in der Stadt Gilani ist ein sehr anerkannter serbischer Arzt von jungen Leuten ermordet worden. Dieser hatte immer auch Kosovo-Albaner behandelt
und war über alle Grenzen hinweg anerkannt. Das eigentlich Traurige ist, dass weder Herr Thaci noch Herr
Rugova zu seiner Beisetzung gekommen waren.
Meine Damen und Herren, ich möchte der letzten Rednerin nicht ihre Redezeit wegnehmen. Wir brauchen Zeit.
Wir müssen um diese Zeit kämpfen. Wir müssen gegen
falsche Vorstellungen ethnischer Separierung kämpfen,
weil sich vom Norden, von Kroatien her zeigt, dass es wieder geht. Wir müssen nun noch zehn Jahre durchhalten.
Wäre der Status Deutschlands im Jahre 1946 festgelegt
worden, hätte es nie eine Wiedervereinigung gegeben.
Auch dies muss gesehen werden.
({1})
Nächster Redner ist
der Kollege Peter Weiß für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Jahr nach dem militärischen Eingreifen im Kosovo besteht heute Gott sei
Dank nicht nur Anlass, zurückzuschauen und Legendenbildungen aufzuarbeiten, sondern auch das erfreuliche Ergebnis der internationalen Geberkonferenz der vergangenen Woche in den Blick zu nehmen. Der Stabilitätspakt
Südosteuropa nimmt endlich Gestalt an. Allerdings hat
es lange genug gedauert. Von Schnellstartprojekten zu
sprechen ist wirklich etwas übertrieben. Dieser Stabilitätspakt kommt mit erheblichen Ladehemmungen in
Gang. Aber er kommt in Gang. Umso mehr ist zu hoffen,
dass nun auch eine schnelle Umsetzung erfolgt.
({0})
Betrachtet man die Finanzbeiträge, muss man sich allerdings fragen: Ist der Stabilitätspakt eigentlich vorrangig eine Angelegenheit der Deutschen und vielleicht noch
der Holländer? Wo bleibt der angemessene Beitrag Frankreichs und Großbritanniens?
({1})
Der Kollege Schmidt hat schon gefragt: Wird hier eventuell auch noch politische Distanz zu dem Gesamtvorhaben des Stabilitätspakts deutlich?
Deutschland hat eine beachtliche und erfreuliche Leistung bei der Aufnahme von Flüchtlingen erbracht. Wir haben mit großem Interesse den koalitionsinternen Zwist,
der hier zum Thema „Rückkehr der Flüchtlinge“ ausgetragen wird, zur Kenntnis genommen. Aber gerade diese
großartige Leistung Deutschlands rechtfertigt, dass wir
nun auch von unseren europäischen Partnern erwarten,
dass sie zum Stabilitätspakt ebenso hohe Beiträge leisten
wie die Deutschen.
({2})
Pflichtgemäß hat der Herr Bundesaußenminister die
Arbeit des EU-Sonderkoordinators Bodo Hombach gelobt. Nun ist in der Tat das, was in der vergangenen Woche an finanziellen Zusagen zusammengekommen ist, beachtlich und lobenswert. Das wollen wir auch seitens der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstreichen. Aber
wenn man genau hinschaut, Herr Bundesaußenminister,
erkennt man, dass die Arbeit des Koordinators bisher offensichtlich vorwiegend aus dem Sammeln von Projekten
bestehender Organisationen, zum Beispiel der Europäischen Entwicklungsbank und der Südosteuropabank, sowie von Projekten einzelner staatlicher Geber bestand. So
etwas wie eigenständige Akzentsetzung sucht man vergebens. Deshalb frage ich mich: War es wirklich notwendig,
einen teuren EU-Sonderkoordinator hierfür einzusetzen?
Dass der für den Tisch 2 des Stabilitätspakts - wirtschaftlicher Wiederaufbau, Entwicklung und Zusammenarbeit - zuständige Mann den Stab von Bodo
Hombach just in dem Moment verlässt, in dem die Projekte gestartet werden sollen, ist auch kein besonders positives Zeichen.
Im Vordergrund der öffentlichen Berichterstattung stehen die großen grenzüberschreitenden Infrastrukturprojekte in Südosteuropa. Ich finde, das darf den Blick dafür
nicht trüben, was für eine nachhaltige und sich selbst tragende Entwicklung der Länder Südosteuropas wichtig ist,
nämlich der Aufbau einer eigenen Industrieproduktion,
der Landwirtschaft, die Verwirklichung der Prinzipien der
sozialen Marktwirtschaft, Rahmenbedingungen für eine
erfolgreiche Entwicklung: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte. Eine ganz besondere
Bedeutung haben Maßnahmen, die zum Aufbau demokratischer Strukturen und Verwaltungen beitragen.
Die Entwicklung der Länder Südosteuropas wird zudem vorangetrieben und unterstützt durch den Aufbau einer starken Zivilgesellschaft. Deswegen sind für uns die
vorliegenden Projektvorschläge der staatlichen technischen Zusammenarbeit, der politischen Stiftungen, der
Kirchen und der Nichtregierungsorganisationen sowie deren einheimischer Partner von besonderer Wichtigkeit
und Bedeutung. Deswegen erwarten wir, dass die
300 Millionen DM, die die Bundesrepublik nun jedes Jahr
für die Südosteuropahilfe zur Verfügung stellt, schwerpunktmäßig in diesem Bereich zum Einsatz kommen.
Die Mittel, die wir jetzt investieren, werden jedoch nur
dann eine erfolgreiche Entwicklung befördern, wenn auch
die politischen Rahmenbedingungen stimmen. Herr Bundesaußenminister, Sie haben schon mit Blick auf die Rede von Herrn Lamers hinsichtlich der Entwicklungen gewarnt. Aber ich muss feststellen, dass es zwei Fragen gibt,
die auch nach Ihrer Regierungserklärung noch offen sind,
so die Frage nach der Zukunft des Kosovo und die Frage
nach der Zukunft der Bundesrepublik Jugoslawien. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion will mit ihrem Initiativantrag nichts anderes erreichen, als dass sich die Bundesregierung zu diesen offenen Fragen positioniert. Denn offene Fragen bedeuten Unsicherheit, Instabilität und neues Konfliktpotenzial. Deshalb muss der Stabilitätspakt
schnell eine dauerhafte staatliche Ordnung befördern, auf
die sein Erfolg im Interesse der Menschen angewiesen ist.
Vielen Dank.
({3})
Es spricht jetzt die
Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der heutigen Diskussion habe ich bei vielen Rednern und Rednerinnen die Sorge über fortbestehende Konflikte, über weitere ethnische Spannungen und Auseinandersetzungen
gespürt. Dies ist sicherlich eine berechtigte Sorge. Aber
ich möchte an dieser Stelle auch eine Lanze für die Hoffnung brechen. Die Hoffnung ist bei der Geberkonferenz
zum Stabilitätspakt in der letzten Woche in Brüssel sehr
deutlich geworden.
({0})
Die Hoffnung ist berechtigt, dass die Länder in der Region Südosteuropa enger kooperieren. Dass sie dies tun, ist
bereits im Vorfeld dieser Konferenz erkennbar gewesen.
Auch die internationale Gemeinschaft beteiligt sich; das
gilt sowohl für die internationalen Finanzierungsorganisationen als auch für eine große Zahl der Mitgliedsländer
der EU. Viele Industrieländer haben sich zur Mitfinanzierung bereit erklärt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines ist natürlich
klar: Die Sicherung des Friedens ist ein sehr viel mühsamerer Prozess als der, der hinter uns liegt. Von daher müssen wir der Entwicklung, die jetzt ansteht, unsere volle Unterstützung geben. Dabei müssen wir auch die positiven
Elemente darstellen; denn die Länder der Region werden
sich der europäischen Erfahrung nicht verschließen können, dass, wer miteinander kooperiert, nicht aufeinander
schießt.
({1})
Diese gemeinsame europäische Erfahrung muss und wird
für die Zukunft die prägende Erfahrung sein. Deshalb
bitte ich darum, kleinliche Elemente beiseite zu lassen und
sich auf die positiven Aspekte zu konzentrieren. Die Geberkonferenz für den Stabilitätspakt war ein voller Erfolg,
was die Zukunft der Region angeht.
({2})
Insgesamt haben die bilateralen Geber und die EUKommission allein für das Jahr 2000 3,4 Milliarden Euro
für Südosteuropa zugesagt. Deutschland finanziert
6,4 Prozent dieser Summe und ist damit nach den USA,
deren Finanzierungsanteil 18,5 Prozent beträgt, zweitgrößter Geber. Dabei umfassen die Leistungen der Bundesrepublik für das Jahr 2000 Sondermittel für den Stabilitätspakt in Höhe von 300 Millionen DM, Mittel aus der
bilateralen Entwicklungszusammenarbeit in Höhe von
100 Millionen DM sowie einen ungebundenen Finanzkredit für Montenegro in Höhe von 40 Millionen DM.
Natürlich könnte der eine oder andere noch mehr tun Herr Kollege Weiß hat es heute Mittag schon angesprochen -; aber die Geberkonferenz allein hat schon dazu beigetragen, dass sich manche Länder, unter anderem Frankreich, stärker beteiligen. Ich appelliere an alle beteiligten
Staaten, ihre Finanzierung weiter aufzustocken und dadurch zu helfen, dass die Programme, die jetzt schnell umgesetzt werden müssen, auch ein Erfolg für die Menschen
in dieser Region werden.
({3})
Im Übrigen haben die südosteuropäischen Staaten auf
der Finanzierungskonferenz deutlich gemacht, dass sie
jetzt schon -das ist ein Erfolg des bereits laufenden Stabilitätspaktes - die Reformen im Bereich der Korruptionsbekämpfung, bei der Förderung der Privatwirtschaft,
beim Abbau von Handelshemmnissen, aber auch bei der
Verbesserung der Menschenrechte und beim Ausbau und
bei der Stützung freier Medien mit Nachdruck verfolgen.
Mit diesen Beispielen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
möchte ich denjenigen den Wind aus den Segeln nehmen,
die die Finanzierung des Stabilitätspaktes und das ernsthafte Engagement der südosteuropäischen Länder infrage gestellt haben.
In diesem Zusammenhang hebe ich ausdrücklich hervor - Herr Kollege Weiß hat es ebenfalls angesprochen -,
welche Arbeit der Sonderkoordinator Bodo Hombach
leistet. Ohne seine Arbeit und ohne sein Engagement wäre diese Konferenz nicht solch ein Erfolg gewesen. Deshalb an dieser Stelle ihm und seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen ein Dankeschön für das, was sie an Arbeit
geleistet haben und noch leisten werden.
({4})
Welche Projekte unterstützen wir und welche liegen
uns ganz besonders am Herzen? Es sind die länderübergreifenden Projekte, weil sie die regionale Kooperation
fördern: Hier geht es um den Bau einer Straße zwischen
Kosovo und Montenegro, um grenzübergreifende Energieversorgung, zum Beispiel zwischen Mazedonien und
Bulgarien. Das alles stärkt die Stabilität und den Zusammenhalt in der Region und ist ein Schritt in Richtung auf
diese europäische Entwicklung.
Peter Weis ({5})
Ein besonderes Anliegen ist mir der Bau der Donaubrücke bei Novi Sad; das habe ich auf der Geberkonferenz für die Bundesregierung deutlich gemacht. Wir stellen dazu von unserer Seite aus 4 Millionen DM zur Verfügung und bitten andere Partnerländer und internationale
Geber, sich daran zu beteiligen. Ich weiß, dass dies bei
dem einen oder anderen kontrovers gesehen wird. Es geht
aber um den Wiederaufbau der Infrastruktur, es geht um
ein Zeichen der Solidarität mit der demokratischen serbischen Opposition und mit der Stadt Novi Sad. Deshalb
sollten wir alles tun, was diese demokratische serbische
Opposition unterstützt.
({6})
Diese Unterstützung ist auch ein Wunsch der Region.
Die Länder der Region wissen, dass ohne die Räumung der
Donau die Verkehrsinfrastruktur nicht funktionieren
kann. Deshalb sind wir - auch wenn das ein anderes Land
anders sehen mag - der Überzeugung, dass dies ein wichtiger Test für unsere Solidarität ist.
Über folgenden Punkt ist heute viel diskutiert worden,
aber manchmal habe ich das Gefühl, dass manche von Ihnen davon sprechen wie der Blinde von der Farbe
({7})
- das ist so -: Im Rahmen des Stabilitätspaktes sind Programme verabschiedet worden und werden finanziert, die
an die Wurzeln der Konflikte gehen. Hierzu zählt das von
uns vorgeschlagene „Netzwerk der Versöhnung“ für die
Region, das die Arbeit mit verschiedenen ethnischen
Gruppen und Flüchtlingen beinhaltet. Insofern gibt es
Zeichen der Hoffnung und der Perspektive.
Weiter geht es darum, freie Journalisten, die sich nicht
bestimmten nationalistischen oder ethnischen Sichtweisen
unterordnen, zu unterstützen. Wir fördern zum Beispiel die
Ausbildung von unabhängigen Journalisten im Rahmen
der Balkan Media Academy und tragen insofern mit dazu bei, dass unabhängige Berichterstattung in der Region
möglich wird.
Wir haben es heute Nachmittag immer wieder angesprochen: Eine der großen Schwierigkeiten ist, dass Serbien aus der regionalen Kooperation herausfällt. Alle Teilnehmer an der Geberkonferenz haben deutlich gemacht:
Nur mit einem demokratischen Serbien, das Teil der auf
Frieden setzenden Staatengemeinschaft ist, das sich also
zu den Zielen des Stabilitätspaktes bekennt, wird es eine
wirkliche Chance geben, dass die Völker und Nationen in
der Region in Frieden miteinander leben. Wir müssen für
Serbien einen Stuhl freihalten, wenn es sich endlich zu einem demokratischen Kurswechsel durchringt. So lange
werden wir in Serbien nur dort mit humanitären Hilfsmaßnahmen und Projekten präsent sein, wo wir die demokratische Opposition stärken können.
({8})
Das gilt im Übrigen auch für Montenegro, das wir in diesem Jahr mit Barmitteln in Höhe von rund 5,4 Millionen DM unterstützen.
Da heute die Diskussion über Flüchtlingsfragen eine
Rolle gespielt hat, möchte ich auch hier eine Perspektive
der Hoffnung aufzeigen: Der kroatische Außenminister
hat auf der Geberkonferenz ausdrücklich deutlich gemacht, dass es im Interesse seiner Regierung liegt und dass
sie dazu bereit ist, serbisch-kroatische Flüchtlinge nach
Kroatien zurückkehren zu lassen. Damit wurde ein Signal
gesetzt, dass sich in Bezug auf die Situation der Flüchtlinge in der Region einiges ändern kann. Ich möchte deshalb daran erinnern: Die Rückkehr von Flüchtlingen ist
auch eine Frage der Versorgung mit Wohnungen und Arbeitsplätzen vor Ort. Die Rückkehr von Flüchtlingen ist
ein wichtiges Thema bei der Geberkonferenz. Im Rahmen
der Projekte sind viele dieser Zusagen für die Hilfe zur
Rückkehr von Flüchtlingen gemacht worden.
Inhaltlich geht es um den Aufbau der Zivilgesellschaft,
um die Förderung einer guten Regierungsführung, um
Hilfe für Flüchtlinge und Vertriebene, um die Aufarbeitung von Traumen, um Versöhnung sowie um den Aufbau
von Infrastruktur und Arbeitsplätzen. Am Anfang dieses
Jahrhunderts sollten die Länder in der Region und die
Teilnehmer an der Konferenz ein Zeichen dafür setzen,
dass die Kriege des letzten Jahrtausends hinter uns liegen.
In dieser Perspektive der friedlichen Versöhnung bin
ich dafür, dass wir die Probleme anpacken und uns nicht
in einen Streit untereinander verzetteln. Wir müssen das
unterstützen, was die Menschen vor Ort leisten müssen.
Das ist unsere Aufgabe. Auch uns haben in schwierigen
Situationen andere geholfen. Lassen Sie uns diesen Beitrag leisten, dann haben die Menschen in Südosteuropa eine Chance.
Ich danke Ihnen sehr.
({9})
Es spricht jetzt für die
Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Ursula Heinen.
Sehr geehrte Damen und
Herren! Wir wollen den Menschen auf dem Balkan helfen. Wir wollen ihnen in Bosnien, Kroatien, im Kosovo,
in Montenegro und selbstverständlich auch in Serbien
helfen. Aber wie sieht unsere Hilfe aus? Ist unsere Hilfe
wirklich effizient?
Die Entwicklungshilfeministerin hat gerade von einzelnen Projekten gesprochen. Die Kollegen aus dem
Haushaltsausschuss haben gerade gesagt, sie dankten es
ihr, endlich einmal ein bisschen darüber erfahren zu haben, was hinter den Hilfsprogrammen steckt.
Ich muss mich noch einmal fragen, ob die Mittel
tatsächlich effizient verwendet werden. Es sind viele Länder und viele internationale Organisationen vor Ort.
Doch manchmal - so erscheint es - sind ein bisschen zu
viele unterwegs. Insgesamt gibt es in der Region 300 private Einrichtungen und Nichtregierungsorganisationen.
Dazu kommen als offizielle Stellen die KFOR und SFOR
als militärische Institutionen, die UNMIK als zivile Institution, die OSZE, die EU, die Europäische Wiederaufbauagentur, die Amerikaner mit Sonderbeauftragten und
USAID, der Hohe Repräsentant, der Royaumant-Prozess
und viele andere.
Bundesministerin Heidemarie Wiczorek-Zeul
Allein in Bosnien sind zurzeit etwa 50 000 Internationale tätig - Soldaten und Zivilisten. Damit kommt auf 80
Einwohner ein Helfer. Wir können davon ausgehen, dass
alle eine großartige Arbeit leisten. Der Cap-AnamurGründer Rupert Neudeck, der gerade auch im Kosovo unbürokratische und schnelle Hilfe leistet, hat jüngst in einem Interview die tatsächliche Situation beschrieben:
Wenn wir uns an die Programme der UNO halten
würden, hätten wir den ganzen Tag nichts anderes zu
tun, als von einem Treffen zum anderen zu laufen: Es
gibt Food-Meetings für Ernährung, Non-Food-Meetings für Kleidung, Treffen für die Sicherheit usw.
Dann hat er noch etwas Vernichtendes gesagt:
Ich weiß nicht, was die OSZE im Kosovo tut. Ich sehe immer nur Wagenflotten hin und her fahren.
Wie hat die Europäische Union darauf reagiert? Sie hat
sich bemüht, diesen Dschungel zu lichten - aber mit der
Gründung einer weiteren Koordinationsrunde, nämlich
dem Stabilitätspakt. Dieser kann sicher spürbar zu einer
positiven Entwicklung in der Region beitragen. Er ist
präventiv angelegt und will über die neu entstandenen
Grenzen hinweg wieder einander näher bringen, was lange zusammengehörte. Ohne ein friedliches Zusammenleben in der Region wird es keine Stabilität geben.
({0})
Die Idee des Stabilitätspakts ist richtig. Sicher finden
auch die Ergebnisse der Geberkonferenz Anerkennung,
wenngleich es fast unerträglich lange gedauert hat, bis die
ersten Ergebnisse auf dem Tisch lagen. Zum Wort Quick
Start brauche ich nichts mehr zu sagen. Das haben meine
Vorredner schon getan.
Kann der Stabilitätspakt als zusätzliche Struktur wirklich das Durcheinander verringern? Muss wirklich jede
Organisation in jedem Land auf dem Balkan auf jedem
Gebiet präsent sein? Muss sich jeder um alles kümmern?
Ich meine: Nein. Wir müssen die Zahl der Akteure reduzieren, und wir müssen die Hilfe intensivieren. Das muss
unser Motto sein. Wir müssen zielgerichteter vorangehen.
300 Millionen DM stellen wir für den Stabilitätspakt
bereit - die Bundeswehr nicht eingerechnet. Das Geld
muss wirklich dorthin fließen, wo es benötigt wird: in die
Infrastruktur, in die Wirtschaft, in die Schulen, in die serbische Opposition und die noch freien serbischen Medien.
Vielleicht wäre es sinnvoll, Herr Außenminister, einen
Rückzug des Royaumant-Prozesses zu beschleunigen, der
noch nicht einmal in den Stabilitätspakt eingebunden ist,
aber dennoch beim EU-Ministerrat angesiedelt ist. Vielleicht gilt für die SECI, die South East Cooperative Initiative, das Gleiche. Es geht darüber hinaus darum, dass
die Außenvertretung der Europäischen Union wesentlich
wirksamer sein muss. Mittlerweile ist es so, dass permanent - selbst bei den Monitoren alle halbe Jahre - die
Kräfte ausgewechselt werden, dass wir keine Kontinuität
haben.
Mein Wunsch ist, um dem Stabilitätspakt zum Durchbruch zu verhelfen, um den Menschen in der Region wirklich zu helfen, dass wir effizienter arbeiten, dass die Bundesregierung - Sie haben immer gesagt, Sie hätten den
Stabilitätspakt ins Leben gerufen - darauf drängt, voranzukommen. Denn dann kann die Aufbauhilfe für den Balkan ein Erfolg werden: für die Menschen in der Region,
für Frieden und Freiheit bei uns mitten in Europa.
Danke.
({1})
Letzte Rednerin in der
Debatte ist die Kollegin Annelie Buntenbach, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Der Krieg im Kosovo und die deutsche Beteiligung an den
völkerrechtswidrigen NATO-Luftangriffen auf Jugoslawien waren eine Zäsur in der politischen Geschichte der
Bundesrepublik. Auch das Gesicht der Grünen hat dieser
Krieg nachhaltig verändert. Über ein solches Ereignis
kann man auch ein Jahr später nicht mit Distanz sprechen
und streiten. Trotzdem ist eine nüchterne und kritische Bilanz notwendig, die nicht die jahrelangen Menschenrechtsverletzungen im Kosovo, die ethnischen Diskriminierungen und Vertreibungen relativiert, die sich aber frei
macht von dem immensen Emotionalisierungsdruck, unter dem noch vor einem Jahr die Auseinandersetzung gestanden hat.
Wer sich jetzt darauf beruft, dass die Menschenrechtsverletzungen im Kosovo so grausam und augenscheinlich
gewesen sind, dass es nicht den Beleg eines Massakers von
Racak braucht, keinen Nachweis für die reale Existenz des
so genannten Hufeisenplans, muss sich schon fragen lassen, warum dies vor einem Jahr in der Öffentlichkeit an
so exponierter Stelle vorgebracht worden ist. Warum wird
einer Behauptung des UCK-Führers Thaci über 100 000
angeblich im Stadion von Pristina zusammengepferchte
Menschen nicht klar widersprochen, wenn auf den Aufklärungsfotos dortüberhaupt niemand zu sehen ist?
Mein Eindruck ist, dass all dies - hierzu gehört auch der
meines Erachtens illegitime Rückgriff auf Auschwitz und
Völkermordszenarien - damals in der Öffentlichkeit geradezu aufeinander gestapelt worden ist, um nur ja keinen
Zweifel aufkommen zu lassen, dass die Entscheidung für
das militärische Eingreifen der NATO ohne jede Alternative sei.
({0})
Dieses Pathos war kontraproduktiv für die Auseinandersetzung mit sachlichen Argumenten, mit den belegbaren Fakten über die erschreckende Situation vor Ort sowie die meines Erachtens durchaus existierenden
Handlungsalternativen. Deshalb gehört zu einer kritischen Bilanz auch die Aufarbeitung von Racak, die Aufklärung über die Bedeutung des so genannten Hufeisenplans und Ähnliches mehr, wie sie Kolleginnen und Kollegen aus meiner Fraktion bereits eingefordert haben.
Hier steht ohne Zweifel auch die Bundesregierung in der
Verantwortung, ihren Beitrag zu leisten.
({1})
Wir - hier spreche ich für eine Minderheit meiner Fraktion - haben damals wie heute die NATO-Luftangriffe
aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt, weil mit
Krieg kein Frieden zu machen ist, weil sie völkerrechtswidrig waren, ebenso wie auch die Kriegführung selbst da
völkerrechtswidrig war, wo sie gerade im serbischen Teil
besonders zivile Ziele und Infrastruktur ins Visier genommen hat.
Weder haben die Luftangriffe die so genannte humanitäre Katastrophe verhindert noch konnten sie die Region stabilisieren. Mit großer Sorge sehen wir, dass immer
wieder Gewalt aufflammt und die Ethnisierung in den
Köpfen auf allen Seiten unerträgliche Ausmaße erreicht
hat.
({2})
Inzwischen sind - nach der Rückkehr vieler KosovoAlbaner im Sommer letzten Jahres - laut UNHCR im Januar mehr als 200 000 Roma, Serben und andere aus dem
Kosovo geflüchtet. Die gewaltsame Vertreibungskampagne gegen nicht albanische Bevölkerungsgruppen, deren Fäden bei der UCK und ihren Nachfolgeorganisationen zusammenlaufen, hat ein ethnisch reines Kosovo und
die Loslösung von Jugoslawien zum Ziel. Dieser Politik,
die in krassem Gegensatz zur immer wieder betonten multiethnischen Ausrichtung des Kosovo steht, traten weder
die UNMIK noch irgendein NATO-Staat mit der erforderlichen Eindeutigkeit entgegen.
Die aktuellen Konzepte der NATO-Staaten zur Zukunft
der Kosovo-Region sind genauso unklar wie vor dem
Krieg. Für militärische Aktionen scheint es möglich, unterschiedliche Interessen zu bündeln, bei zivilen Perspektiven schwanken die Positionen dann zwischen einer Ermutigung der Separationsbestrebungen der UCK und dem
Versuch, deutliche Grenzen gegenüber der Vertreibungspraxis, neuen Menschenrechtsverletzungen und
Illusionen über die westliche Unterstützung für Autonomiebestrebungen jenseits des Rahmens der Bundesrepublik Jugoslawien zu ziehen. Solche widersprüchlichen
Signale tragen dazu bei, das Konfliktpotenzial in der Region noch zu verschärfen. Dies ist kein militärisches, sondern ein politisches Problem.
Ich teile nicht die Antwort des Kollegen Lamers, aber
ich teile die Frage bezüglich des politischen Problems. Der
Aufbau der Zivilgesellschaft hinkt hoffnungslos hinterher. Für die UNMIK - hier beziehe ich mich auf eine
Äußerung von Tom Koenigs - in einem Jahr nur so viel
Geld zur Verfügung zu stellen wie für einen halben Tag
Bombardierung, ist schlicht absurd.
({3})
Die Zivilgesellschaft muss uns höhere Investitionen wert
sein. Von der Geberkonferenz kommen durchaus positive
Signale.
Ich begrüße in diesem Zusammenhang ausdrücklich,
dass in dem Antrag, den das Parlament heute zum Stabilitätspakt verabschieden wird, von der Position Abschied
genommen wird, dass etwa mit Sanktionen gegen die
Zivilbevölkerung Jugoslawiens der Weg zur Demokratie
beschleunigt werden könnte. Diese Position, von der ich
hoffe, dass die Bundesregierung dafür die Unterstützung
der Staatengemeinschaft gewinnen kann, ist ein wichtiger
Beitrag zur Deeskalation.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem
Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Unterstützung des Stabilitätspaktes Südosteuropa auf der Drucksache 14/3100 unter Buchstabe a. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2569
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der
PDS-Fraktion bei Enthaltung der Fraktionen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Den Stabilitätspakt Südosteuropa mit Leben erfüllen“ auf Drucksache 14/3100 unter
Buchstabe b. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/2768 ({0}) anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. gegen die Stimmen
der PDS-Fraktion und bei Enthaltung der Mehrheit des
Hauses angenommen.
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der
F.D.P. zu einer zügigen Umsetzung und Vertiefung des
Stabilitätspaktes Südosteuropa auf Drucksache 14/3100
unter Buchstabe c. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 14/2584 anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
der CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion gegen die Stimmen
der PDS-Fraktion bei Enthaltung der Regierungskoalition angenommen.
Ich gebe zu, das ist ein etwas ungewöhnliches Abstimmungsverhalten, aber eindeutig.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zu der
Abgabe einer Regierungserklärung „Der Stabilitätspakt
Südosteuropa - Stand und Perspektiven“, Drucksache
14/3100 unter Buchstabe d. Der Ausschuss empfiehlt, den
Entschließungsantrag auf Drucksache 14/2575 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
bei Zustimmung der Regierungskoalition und der PDSFraktion bei Enthaltung von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/3093 zur federführenden Beratung an den
Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuss, den Ausschuss für Menschenrechte
und humanitäre Hilfe, den Ausschuss für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung, den Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union und den Haushaltsausschuss zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige
Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Norbert Lammert, Ulrich Adam, Ilse Aigner
sowie weiterer Abgeordneter
Kunstprojekt im nördlichen Lichthof des
Reichstagsgebäudes von Hans Haacke „Der Bevölkerung“
- Drucksache 14/2867 ({1}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion
der CDU/CSU hat der Kollege Dr. Norbert Lammert.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag führt heute eine Debatte, die vermutlich in keinem anderen Parlament der Welt stattfinden würde.
({0})
Weder der amerikanische Kongress noch das englische
Unterhaus und schon gar nicht die französische Nationalversammlung würde auch nur darüber diskutieren, was
hier heute ernsthaft zur Entscheidung ansteht: der Widmung des Reichstagsgebäudes „Dem Deutschen Volke“
eine künstlerisch politische Installation entgegenzusetzen, die „Der Bevölkerung“ gewidmet ist. Das Reichstagsgebäude ist dem deutschen Volke gewidmet und damit dem Souverän, den dieses Parlament vertritt und von
dem es seine Legitimation bezieht. Für diese Widmung 1916 nach jahrelangem Widerstand des Kaisers an diesem
Gebäude angebracht - muss sich niemand rechtfertigen.
Sie ist nicht überholt.
({1})
Es hat in den vergangenen Wochen der Auseinandersetzung manche goldenen Worte gegeben, die hoffnungslos richtig sind, aber alle messerscharf neben der Sache liegen, dass man nämlich über Kunst nicht mit der Mehrheit
entscheiden könne - ebenso wenig wie über Wahrheit. Das
ist sicher wahr.
Ob es sich bei dem Projekt von Hans Haacke um ein
bedeutendes Kunstwerk handelt oder nicht, mögen andere in Ruhe entscheiden. Es ist übrigens auch unter Experten hoch umstritten. Der Bundestag muss entscheiden, ob
er dieses Werk in diesem Gebäude in Auftrag geben will
oder nicht: nicht mehr und nicht weniger.
({2})
Es ist absurd, dem Bundestag die Legitimation für diese
Entscheidung bestreiten zu wollen. Bei aller Begeisterung
und Empörung über das künstlerisch-politische Projekt
Haackes ist offenkundig, dass der Deutsche Bundestag als
Auftraggeber und niemand sonst zu entscheiden hat, ob er
diesen Vorschlag realisieren will oder nicht. Er kann und
darf sich in dieser Verantwortung hinter niemandem verstecken.
Die Absicht, über die Empfehlung des Kunstbeirates
des Bundestages im Unterschied zu anderen Aufträgen ich bin sehr dafür, dass das die Ausnahme bleibt, damit wir
hier keine Missverständnisse bekommen - ({3})
Lassen Sie mich doch in Ruhe begründen, warum. Vielleicht haben Sie über den Unterschied dieses Projektes
noch gar nicht hinreichend nachgedacht.
({4})
Es gibt nicht nur vernünftige, sondern aus meiner Sicht
zwingende Gründe, warum diese Entscheidung im Plenum
des Deutschen Bundestages und nicht in irgendeinem anderen Gremium getroffen werden muss.
Erstens. Nach der Projektbeschreibung des Künstlers
kann die Installation nur durch Mitwirkung der Mitglieder des Parlamentes verwirklicht werden. Wenn die persönliche Mitwirkung von 669 Mitgliedern des Bundestages konstitutiver Bestandteil des Projektes ist, wird man
diese wohl fragen müssen, ob sie zur Mitwirkung bereit
sind.
({5})
Zweitens. In der Sache geht es Hans Haacke und den
Befürwortern seines Entwurfes um die Auseinandersetzung zwischen der historischen Widmung des Reichstagsgebäudes aus den schwierigen Anfangsjahren des
deutschen Parlamentarismus und dem heutigen Selbstverständnis eines von autoritärer Bevormundung emanzipierten Parlaments. Diese Auseinandersetzung ist gewiss
zulässig. Ob allerdings das vorgeschlagene Projekt für diese Auseinandersetzung innerhalb und außerhalb des Parlamentes geeignet ist, darüber darf und muss man streiten.
({6})
Der Streit ist übrigens von Hans Haacke offenkundig gewollt. Deswegen kann doch nicht ernsthaft beanstandet
werden, dass dieser Streit nun stattfindet; schon gar nicht
kann beanstandet werden, dass er im Parlament ausgetragen und entschieden wird.
({7})
Die im wörtlichen wie im übertragenen Sinne künstliche Gegenüberstellung von Volk und Bevölkerung
wird weder dem Volk noch der Bevölkerung gerecht,
Vizepräsidentin Petra Bläss
schon gar nicht der sinnvollen Auseinandersetzung mit
diesem sensiblen Sachverhalt. Die Volksvertreter, die in
diesem historisch gezeichneten Parlamentsgebäude ihr
Mandat wahrnehmen, verstehen sich längst - auch ohne
diese Aufforderung - als Vertreter aller Menschen in diesem Land,
({8})
dank einer Verfassung, in der sich „das Deutsche
Volk“ - ich zitiere und wiederhole: „das Deutsche Volk“ „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft,
des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ bekennt.
Dafür brauchen wir von niemandem Nachhilfeunterricht.
({9})
Wer wie Hans Haacke den Begriff „Volk“ unter nationalistischen, mindestens mythologischen Generalverdacht stellt, bleibt bewusst oder leichtfertig hinter dem
Selbstverständnis unserer Verfassung und dieser Volksvertretung zurück. Er darf nicht erwarten, in diesem Zusammenhang ausgerechnet mit einer Bodeninstallation
deutscher Erde aufklärerisch oder befreiend zu wirken.
({10})
Dass sich der Deutsche Bundestag diese atemberaubende
Verbindung von Volk und Erde, Boden und Bevölkerung zu eigen macht, ist geradezu abwegig.
Ich persönlich halte den Konzeptvorschlag Hans
Haackes politisch wie ästhetisch für misslungen.
({11})
Der Aufwand, mit dem er nach seiner Projektbeschreibung
„der Bevölkerung“ Gerechtigkeit; - jedenfalls Aufmerksamkeit widerfahren lassen will, ist monströs und, wie ich
finde, eine Verballhornung des Anliegens. Nachdem
Haacke in seiner Projektbeschreibung für den „Antransport der Erde“ jedem einzelnen Abgeordneten - ich zitiere aus der Projektbeschreibung - „zwei mit ihrer Bestimmung beschriftete Halbzentnersäcke“ zur Verfügung stellen will,
({12})
bei deren Übergabe die Abgeordneten - ich zitiere erneut - „urkundlich erklären, von welcher Stelle die Erde
stammt“
({13})
- es in der Tat immens schwach, Herr Kollege Heinrich;
wir müssen deshalb wissen, über was wir hier abstimmen -,
({14})
wird sich sicher auch für den Abtransport beim Ausscheiden aus dem Bundestag eine ähnlich überzeugende Lösung finden lassen.
({15})
Ein Leserbriefschreiber hat vor einigen Tagen angeregt,
der Künstler solle entsprechende Holztröge in die Wahlkreise schaffen, darüber die Neoninschrift „Den Bevölkerungsvertretern/ -vertreterinnen“.
Die Verwandlung von Konzeptkunst in eine skurrile
„Bundesgartenschau“ ist kein großer Wurf, sondern eine
große Albernheit, die der Ernsthaftigkeit nicht gerecht
wird, die dieses Thema verdient und beansprucht.
({16})
Das Bedürfnis des Künstlers nach Selbstinszenierung
ist legitim; es ist in diesem konkreten Fall offensichtlich
ausgeprägter als das Interesse an Aufklärung. Insofern
sieht das Konzept folgerichtig vor, dass auf allen Etagen
des Reichstagsgebäudes Tafeln anzubringen sind, auf denen die Abgeordneten mit ihrer Parteizugehörigkeit und
den Wahlkreisen oder Bundesländern und der Angabe des
Datums, an dem die Abgeordneten ihren Erdanteil beigesteuert haben, verzeichnet werden sollen.
({17})
- Das stammt alles aus der Projektbeschreibung.
Da in Zeiten der neuen Medien ein Kunstwerk ansonsten offensichtlich nicht komplett ist, hat es selbstverständlich auch eine Internet-Perspektive. Vorgesehen ist,
dass im Innenhof eine Videokamera angebracht wird, die
regelmäßig das Wachsen und Werden dieses Kunstwerks
begleitet, damit jeden Tag ab 12 Uhr mittags den Besuchern auf einer ständig aktualisierten Website die Entwicklung dieses Projekts nahe gebracht werden kann.
Welcher Aufwand für welche Einfalt!
({18})
Ich persönlich finde diese Inszenierung albern und unangemessen, und ich nehme für mein Urteil die gleiche
Freiheit in Anspruch, die ich dem Künstler selbstverständlich für sein Konzept zubillige.
({19})
Es ist ihm unbenommen, die Einwände seiner Kritiker,
insbesondere aus der Unionsfraktion des Bundestages,
für „blödsinnig“ zu erklären, wie Agenturen melden. Mir
bleibt es unbenommen, das vorgeschlagene Konzept als
Zumutung zu bezeichnen und meine Mitwirkung abzulehnen. Hier steht nicht die Freiheit der Kunst zur Debatte und hoffentlich auch nicht die Freiheit des Bundestages, den künstlerischen Gestaltungsvorschlag für sein
Parlamentsgebäude anzunehmen oder abzulehnen.
({20})
Diejenigen, die mich kennen, wissen, dass ich seit Jahren mit Leidenschaft für die Selbstverständlichkeit werbe, dass die Kunst sich mit Politik und die Politik sich mit
Kunst befassen muss.
({21})
Allerdings akzeptiere ich ausdrücklich nicht die Erwartung, dass die Kunst sich der Politik grundsätzlich in kritischer Auseinandersetzung, die Politik sich der Kunst
dagegen vorzugsweise mit andächtiger Bewunderung zu
nähern habe.
({22})
Zensur findet nicht statt. Aber ein ästhetisches Urteil
muss erlaubt sein, zumal bei einem Projekt, das auch unter den so genannten Sachverständigen allein unter ästhetischen Gesichtspunkten mindestens so viel Widerspruch
wie Zustimmung gefunden hat.
Die Einwände, das Plenum des Bundestages dürfe
nicht über Kunst in seinem Gebäude entscheiden, lassen
ein prinzipielles Misstrauen gegenüber der Politik im
Umgang mit Kunst erkennen.
({23})
Der Deutsche Bundestag verdient ein solches Misstrauen
nicht. Ich kenne kein anderes Parlament in der Welt, das
sein Gebäude statt mit einer Gemäldegalerie großer Köpfe und geschichtlicher Ereignisse demonstrativ mit
zeitgenössischen Kunstwerken ausstattet. Der Deutsche
Bundestag hat sich nicht für eine möglichst unauffällige,
unanstößige, dekorative künstlerische Gestaltung entschieden, sondern die von ihm selbst angesprochenen
Künstler aus Deutschland wie dem Ausland ausdrücklich
zu einer Auseinandersetzung mit dem Parlamentsgebäude und seiner Geschichte aufgefordert. Künstler
wie Gerhard Richter, Sigmar Polke, Günther Uecker,
Christian Boltanski, Bernhard Heisig, Jenny Holzer und
nicht zuletzt Norman Foster haben diese Herausforderung in einer Weise angenommen, die keineswegs unumstritten ist, aber jeden Streit lohnt.
In den letzten Jahren hat der Deutsche Bundestag zudem zwei denkwürdige Entscheidungen getroffen, die
seiner Souveränität auch im Umgang mit ästhetischen
Fragestellungen ein beachtliches Zeugnis ausstellen: Es
sind die weltweit bejubelte Verhüllung des Reichstages
durch Christo, die nach jahrzehntelangen vergeblichen
Anläufen schließlich vom Plenum des Deutschen Bundestages möglich gemacht worden ist,
({24})
und die Entscheidung für die Errichtung eines Denkmals
für die ermordeten Juden Europas, das über seine politische Bedeutung hinaus auch eine höchst anspruchsvolle
ästhetische Form durch das Stelenfeld von Peter Eisenman
finden soll, die ganz gewiss nicht am viel beschimpften
Publikumsgeschmack orientiert ist.
Ich persönlich habe übrigens für beide umstrittenen
Entscheidungen sehr engagiert gefochten;
({25})
und ich nehme mir nun ganz selbstverständlich das Recht,
meine Auffassung in dieser Angelegenheit ebenso engagiert zu vertreten.
({26})
Es gibt nicht nur eine Anmaßung der Politik gegenüber der Kunst, die nicht toleriert werden darf; es gibt gelegentlich auch eine Anmaßung ausgewiesener wie
selbsternannter Kunstsachverständiger gegenüber der Öffentlichkeit, mit der autoritären Gebärde von Hohepriestern das eigene ästhetische Urteil für das einzig mögliche zu halten.
({27})
Die anstehende Entscheidung des Bundestages über ein
ebenso diskussionswürdiges wie diskussionsbedürftiges
künstlerisches Projekt in seinem Hause ist ein Anwendungsfall nicht nur für die Freiheit der Kunst, sondern
auch für die Souveränität dieses Parlaments. Sie hat nicht
nur etwas mit der gelegentlich strapazierten Würde des
Hohen Hauses zu tun, sondern auch und vor allem mit der
Würde der Menschen, die wir in diesem Hause zu vertreten haben und die wir nicht als „Volk“ und „Bevölkerung“ gegeneinander in Stellung bringen lassen dürfen.
({28})
Ich habe heute in der Post die Zuschrift eines mir unbekannten Lehrers und Historikers gefunden, die wohl
auch an den Herrn Bundestagspräsidenten gegangen ist.
Er schreibt mir:
Die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte kann nicht so geschehen ..., dass die deutsche
Volksvertretung sich in ihrem eigenen Haus mit eigener Zustimmung lächerlich machen lässt ...
Wir haben Anlass, diese Besorgnis ernst zu nehmen, und
wir haben die Möglichkeit, sie mit unserem Votum gegenstandslos zu machen.
({29})
Es spricht jetzt der
Kollege Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hier werden
nicht die Widmungen „Dem Deutschen Volke“ und
„Der Bevölkerung“ als Feindbegriffe einander gegenübergestellt, sondern beide Begriffe werden zueinander
gestellt, um miteinander einen Dialog zu führen
({0})
über die Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir künftig leben? Das will uns der Künstler sagen.
({1})
Worauf beruht Demokratie? Gewiss zunächst auf der
Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger. Vor allem aber
steht auch vor dem Volk: „Die Würde des Menschen ist
unantastbar.“ Darum heißt es in der Verfassung: „Alle
Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, und darum heißt
es dort auch, dass die Kunst frei ist.
Vor allen Wahlen und Abstimmungen beruht Demokratie also zunächst darauf, anzuerkennen, dass es nicht
Abstimmbares gibt. Bislang galt bei uns die Überzeugung
und der Konsens, dass über Kunst nicht abgestimmt werden kann.
({2})
Dies und nichts anderes war auch der Grund, dass der
Bundestag sich einen Kunstbeirat geschaffen hat. Ich sehe voraus: Sollte es hier eine Mehrheit gegen die Entscheidung des Kunstbeirates geben, dann wird dieser
Kunstbeirat nicht mehr weiterleben können!
({3})
Dann werden Sie sich die Frage stellen müssen, ob in dem
Fall nicht der Bundestag, das Plenum, jede einzelne
Kunstentscheidung selbst vornehmen muss. Das hielte
ich für fatal. Wir brauchen diesen Kunstbeirat.
({4})
Wer entscheidet, kann irren; selbstverständlich. Das gilt
aber auch für den Bundestag. Es geht hier um etwas anderes. Es geht nicht darum, ob Mehrheiten irren, sondern
um die Chance, dass es ein Modell zwischen Kunstsachverständigen und dem Bundestag gibt und dass dieses
Modell leben kann. Wir haben Sachverständige, die hervorragendsten, die es in Deutschland gibt, die uns beraten
und die uns einstimmig gebeten haben, diesem Kunstwerk
hier im Lichthof einen Platz zu geben. Wir haben uns in
langen Diskussionen - fragen Sie Ihre Kolleginnen und
Kollegen, die im Kunstbeirat Mitglied sind - intensiv damit befasst und auseinander gesetzt und uns - zwar nicht
ohne Zweifel, aber dann nachher doch - mit einer deutlichen Mehrheit dazu durchgerungen.
Was sagt das uns? Es besagt, dass Kunst und Demokratie natürlich eine schwierige Beziehungskiste ist. Der
Künstler ist autonom. Sein Werk darf stören, ja es muss
sogar stören und Eingeschliffenes aufbrechen. Sein Werk
muss neues Sehen möglich machen. Er braucht nicht auf
Mehrheiten Rücksicht zu nehmen. Er braucht nicht auf
Sehweisen, die eingeschliffen sind, Rücksicht zu nehmen.
Wir müssen das. Das ist der Unterschied. Die Demokratie darf in der Sphäre des Abstimmbaren die Mehrheitsregeln und übrigens auch den Schutz von Minderheiten
nicht verletzen.
Kunst, so sagt Gadamer, die „sich nicht dekorativ dem
Lebenszusammenhange einschmiegt, sondern von eigener
Mitte her aus ihm heraussteht“, gefällt nicht bloß. Sie
muss und darf, so Gadamer, wirken wie eine Zumutung. - Ich finde, wir müssen solche Zumutungen ermöglichen und anerkennen.
({5})
Diese Debatte zeigt übrigens: Hans Haacke hat den
Nerv getroffen.
({6})
Er hat das getroffen, worum es geht. Manche fürchten um
das Selbstverständnis. Von wem? Vom Bundestag? Vom
deutschen Volk? Ist unser Selbstverständnis, unser Selbstbewusstsein nicht stark genug, dass wir hier im Deutschen
Bundestag auch kritischer Kunst einen Platz schaffen
können?
({7})
Was wäre das anderenfalls für ein Selbstverständnis?
Ich vertraue dem Selbstbewusstsein frei gewählter Abgeordneter, sich dem Dialog zwischen der sich am Giebel
befindenden Inschrift und dem Kunstwerk von Hans
Haacke - seien Sie hier herzlich gegrüßt - zu stellen. Ein
solches Selbstbewusstsein haben frei gewählte Abgeordnete.
({8})
Übrigens, das Zitat „Dem Deutschen Volke“ verweigerte der Kaiser so lange, bis er kurz vor Kriegsende bereit war, dem deutschen Volk überhaupt erst einen Wert zuzubilligen. Erst dann, kurze Zeit vor Ende des Ersten
Weltkrieges, wurde diese Inschrift angebracht.
({9})
Sie dürfen sich also nicht darauf beziehen, dass es etwa
das Volk gewesen ist, das dies gefordert hat.
({10})
Der Kaiser hat erst am Ende des Ersten Weltkrieges das
Volk als so wertvoll empfunden, dass es hier am Giebel
mit einer Inschrift seinen Platz gefunden hat.
Hans Haacke nimmt jenes Zitat auf. Er stellt das Zitat
in seinem Kunstwerk mit diesem Zitat zusammen. Das ist
kein Gegensatz; es gehört zusammen.
({11})
Er ergänzt es auf ebener Erde. Herr Lammert, das Behältnis ist 30 Zentimeter hoch. Blumen werden aus ihm wachsen. Frau Vollmer, was ist denn daran, bitte schön, Kitsch?
({12})
Willy Brandt würde gesagt haben: Haben Sie es nicht eine Nummer kleiner?
Sein Werk fragt uns: Wie weit fassen wir den Begriff
des Bürgers? Das halte ich für eine ganz spannende
Gert Weisskirchen ({13})
Debatte. Nehmen wir das transatlantische „ius soli“ auf
oder nicht? Welche Rechte und Pflichten haben Menschen
nicht deutscher Nationalität, die mit uns leben? Seit dem
Vertrag von Amsterdam gibt es zusätzlich zur nationalen
Staatsbürgerschaft die Unionsbürgerschaft. Wollen wir
denn länger leugnen, dass wir in einem Land leben, in dem
es eine wachsende Zahl von Menschen gibt, die nicht
Deutsche sind? Mit diesen wollen wir gemeinsam leben.
Genau das, genau dieses Erinnerungsmoment ständig für
uns wach zu halten, das will uns der Künstler sagen und
zeigen. Deswegen muss sein Kunstwerk hier seinen Platz
haben.
({14})
Die Spannungen - Herr Kollege Lammert, so würde ich
es bezeichnen - zwischen der Giebelinschrift und dem
Kunstwerk von Hans Haacke machen nichts anderes deutlich, als dass es in unserer Gesellschaft eine wachsende
Pluralität bzw. Vielfarbigkeit gibt. Ohne Pluralität ist
Modernität nicht zu gewinnen. Ohne Toleranz wird es nie
Solidarität geben. Dazu aber, zu jener Toleranz - entschuldigen Sie, dass ich das so sage -, gehört der Dialog
zwischen Kunst und Politik. Wer Kunst darauf reduziert,
dass sie anschmiegsam und dekorativ sein soll und nicht
kritisch sein darf, der hat einen Kunstbegriff, der nicht zu
unserer Gegenwart und zu unserer Auseinandersetzung
gehört.
({15})
Der Streit über Ästhetik - das kann doch gar nicht anders sein - wird immer offen bleiben. Politisch aber dürfen wir diesen Streit um die Freiheit der Kunst nicht verlieren. Wir dürfen nicht unsere Liberalität verlieren. Abgeordnete können durch Kunst auch herausgefordert
werden. Sie müssen ein Ja dazu sagen, dass Kunst in unseren Räumen Platz haben kann.
({16})
Die kritischen Künstler dürfen wir nicht verlieren. Beklagen wir nicht häufig die Distanz von Intellektuellen gegenüber der Politik? Wie ernst nehmen wir denn unseren
eigenen Aufruf zum Mittun? Wir brauchen die kritischen
Künstler, damit unsere Gesellschaft ständig wach und lebendig bleibt. Zu diesen Künstlern gehört auch Hans
Haacke.
({17})
Kunst - das ist ihre herausstechende Eigenart - durchbricht die Logik von Interessen. Die Gegenwart der Kunst
kann manchmal viel realer sein als die empirische Realität,
in der die Politik zu leben meint. Es ist manchmal sehr viel
wichtiger, einen Anstoß zum Nachdenken, zum Überdenken eigener Positionen zu bekommen, damit Demokratie
lebendig und entwicklungsfähig bleibt und sich weiterentwickeln kann. Das ist es, was Hans Haacke uns deutlich machen will. Deswegen wünsche ich mir, dass wir eine Mehrheit für Hans Haackes Projekt haben. Sagen Sie
Ja dazu, dass „Dem Deutschen Volke“ die „Bevölkerung“
zugesellt wird. Diese Begriffe sind nicht als Gegensatz,
sondern in Beziehung miteinander zu sehen. Es ist ein
ständiger Denkanstoß der Kunst, niemals zu vergessen:
Unsere Verantwortung gilt allen Menschen, die in
Deutschland miteinander leben, ob sie Deutsche sind oder
nicht.
In einer vergleichbaren Zeit widmete ein anderer Kaiser in Wien einem Haus der Kunst die Worte: „Der Zeit
die Kunst, der Kunst die Freiheit“. Sorgen Sie dafür, dass
die Kunst ihre Freiheit bekommt! Sorgen Sie dafür, dass
Hans Haacke seine Kunst hier im Deutschen Bundestag
als ständige Auseinandersetzung mit der Gegenwart zeigen kann.
({18})
Namens von 41 Abgeordneten beantrage ich namentliche Abstimmung.
({19})
Sie haben es gehört,
der Kollege Gert Weisskirchen hat namentliche Abstimmung beantragt. In der Zwischenzeit wurden die Unterschriften von mehr als den notwendigen 34 anwesenden
Mitgliedern des Bundestages zur Einforderung dieser Abstimmung vorgelegt. Deshalb möchte ich hiermit offiziell
bekannt geben, dass im Anschluss an diese Debatte eine
namentliche Abstimmung stattfindet.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Antje Vollmer,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden
hier ja nicht fraktionsmäßig, sondern frei pro und kontra.
Ich rede für diesen Antrag und damit gegen die Installation des Kunstwerkes.
({0})
Auch ich habe, je länger die Debatte über das
Haacke-Projekt dauert, den Eindruck, dass immer schwerere Geschütze aufgefahren werden, dass immer größere
Tabu-Zäune aufgerichtet werden. Ich plädiere ganz entschieden für Abrüstung in dieser Frage, auch für Abrüstung beim Pathos, und wenn möglich für nüchterne,
praktische Vernunft.
({1})
Zunächst möchte ich Hans Haacke, der auf der Zuschauertribüne sitzt, gratulieren. Ob ihm ein Kunstwerk
gelungen ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Darüber
sollen auch andere entscheiden. Ein Kunststück hat er allemal vollbracht: Er ist der Erste, dem es gelungen ist, über
sein Kunstwerk die Ehre zu haben, eine Debatte im Deutschen Bundestag erzeugt zu haben.
({2})
Er wollte eine Debatte über das Begriffspaar „Volk“
und „Bevölkerung“. Ich finde, wir sind ihm da nichts
schuldig geblieben. Für einen Prozesskünstler ist das
schon ein richtig schöner Erfolg, und dafür habe ich auch
Respekt.
Das, worüber wir heute diskutieren, ist aber ein ganz
praktisches Problem: Wie kann ein Kunstwerk realisiert
werden, das essenziell zu seiner Verwirklichung die Teilnahme von frei gewählten Abgeordneten dieses Bundestages an einem, wie auch ich finde, höchst merkwürdigen
und geradezu skurrilen Erdritual erfordert?
({3})
Ich gehöre zu denen, die sich einfach nicht vorstellen
können, dass zum Beispiel der Abgeordnete Jörg van
Essen, die Abgeordnete Angela Merkel, der Abgeordnete
Rezzo Schlauch, die Abgeordnete Elke Leonhard und der
Abgeordnete Gregor Gysi hier eines Tages mit einem Eimer oder einem Sack Erde ankommen
({4})
und darauf warten, dass sie diese im nördlichen Lichthof
auskippen dürfen, um sich so von nationalen Begriffen
und Überzeugungen quasi zu reinigen.
({5})
Frau Kollegin Vollmer,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Da
ich nur fünf Minuten Redezeit habe, möchte ich im Zusammenhang sprechen. Hinterher beantwortete ich gern
noch eine Frage.
Man kann für diesen Vorgang, der den Abgeordneten
indirekt aufgenötigt wird, dramatische Begriffe finden.
Man kann aber auch sagen: Es ist so skurril, dass es
schlichte, gute Gründe dafür gibt, wenn jemand sagt, daran wolle er nicht teilnehmen. Das ist genau der Punkt:
Was macht der Künstler Hans Haacke, wenn er es nicht
schafft, genügend Abgeordnete von der Sinnhaftigkeit
dieses Projekts zu überzeugen? Ich glaube, darin liegt ein
Bruch, ein Nichtgelingen der künstlerischen Konzeption.
Und weil das Kunstwerk eben diese konzeptionelle
Schwäche hat, wird, glaube ich, so massiv tabuisiert und
nachmoralisiert.
({0})
Ich möchte deutlich sagen: Ich finde, wir sollten uns
dieser Art „Gesinnungs-TÜV“ nicht unterziehen.
({1})
Wer gegen das Kunstwerk ist, signalisiert damit nicht, dass
er „rechts“ ist. Wer für das Kunstwerk und damit für die
Benutzung dieser eigenartig mythischen Substanz der Erde ist, signalisiert damit nicht, dass er der Kunstfreund
schlechthin ist.
({2})
Man wird sagen, es gehe um die Freiheit der Kunst. Richtig, sage ich, aber es geht auch um die Freiheit von Abgeordneten und darum, wofür sie sich selbst entscheiden,
wenn sie denn Teil dieses Kunstwerks sein sollen.
Ich wünschte mir, der Kunstbeirat, dem ich seit Beginn dieser Legislaturperiode angehöre, hätte in dieser
Frage etwas mehr Weisheit und Klugheit gehabt.
({3})
War es wirklich klug, den deutschen Parlamentariern keine Wahl zu lassen, keine Wahl, wie sie zum Beispiel die
französischen Kollegen hatten? Denn auch in Frankreich
hat Herr Haacke mit einem Projekt kandidiert. Er ist geehrt, aber nicht gewählt worden. Damit war die Sache auch
elegant erledigt.
({4})
Ich finde, das deutsche Parlament hat den Vorwurf, der
ihm von einigen Kunstpäpsten und Kunstkardinälen gemacht wird, wirklich nicht verdient. Ich bitte auch diese:
Geben Sie doch endlich Gedanken- und Entscheidungsfreiheit!
({5})
Übrigens: Auch Künstler sind Menschen. Man kann
sich mit Künstlern streiten. Man darf sich mit ihnen auseinander setzen. Man muss sie nicht auf ein unantastbares
Podest setzen. Dann täte man den Künstlern und auch ihrer Kunst Unrecht. Aus einer Debatte mit den Künstlern
heraus ist zum Beispiel die Kuppel auf diesem Reichstagsgebäude entstanden. Herr Foster wollte sie nicht; sie
ist aus der Debatte heraus entstanden.
({6})
Gönnen Sie doch dem Parlament und den Künstlern diese Form von Auseinandersetzung!
({7})
Wenn wir über Freiheit von Kunst reden, dann muss angesichts dessen, was wir gekauft haben - das sind im Wesentlichen dieselben Werke, wie Sie sie in jedem modernen Museum finden -, auch einmal über gewisse Mächte
im Kunstmarkt, über geschlossene Klubs und über Gruppen, die sich gegenseitig beraten und fördern, gesprochen
werden. Was mir am meisten Leid tut, ist, dass wir trotz
der 40 Millionen DM, die wir für die Gegenwartskunst
ausgeben - ein unglaubliches Signal -, fast keine unbekannten Künstler haben, dass die Künstler der letzten
Jahrzehnte keine Chance haben und dass die Künstler der
nächsten Jahrzehnte keine Chance haben, weil das Geld
ausgegeben ist.
({8})
Darüber sollten wir einmal eine Debatte führen. Das hat
ganz viel mit der Freiheit der Kunst zu tun, aber auch mit
der Freiheit des Wortes der Abgeordneten.
Danke.
({9})
Nächster Redner ist
der Kollege Ulrich Heinrich, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir sind uns alle einig: Professor Hans Haacke hat sich viel vorgenommen.
Wer ausgerechnet im deutschen Parlament den Begriff
Volk infrage stellt, darf sich über die kritischen Töne eigentlich nicht wundern.
Aber um es vorweg zu sagen: Ich finde die kritischen
Töne und Diskussionen ausgesprochen positiv. Dies geht
zugunsten unserer demokratischen Kultur und zugunsten
der Kunst im Allgemeinen, aber auch der Kunst im Deutschen Bundestag im Besonderen.
({0})
Trotzdem bleibt festzustellen: Die Töne sind umso kritischer, je weniger man sich mit dem Kunstwerk auseinander setzt oder davon weiß.
({1})
Deshalb war es eine sehr weise Entscheidung, dass ein
Kunstbeirat berufen wurde. In diesem Kunstbeirat sitzen
so ganz normale Abgeordnete wie ich. Sie werden von einer ganzen Reihe von Kunstsachverständigen, die ebenfalls dem Kunstbeirat angehören, unterstützt. Dieser
Beirat hat sich in zwei Sitzungen sehr intensiv mit dem
von ihm in Auftrag gegebenen Kunstwerk befasst und sich
jedes Mal mit großer Mehrheit dafür ausgesprochen.
Lieber Herr Kollege Lammert, Sie haben vorhin aus der
Beschreibung des Künstlers zitiert. Der Kunstbeirat hat
sich diese Beschreibung ausdrücklich nicht zu Eigen
gemacht, die hier mitgeliefert worden ist.
({2})
Ich gebe uns auch die Freiheit, nicht sklavisch an dem
festzuhalten, was der Künstler mit seinem eigenen Projekt
hier interpretiert, sondern unsere eigene Interpretation in
der Form zu geben, dass wir sie nicht lächerlich zu machen
haben.
({3})
Die Inschrift „Dem Deutschen Volke“ im Westgiebel
des Reichstags gab den Anstoß für Haackes Anliegen, in
einem Kunstwerk aufzuzeigen, wie stark der Begriff
„deutsches Volk“ missbraucht wurde, ganz im Gegenteil
zum damaligen demokratischen Verständnis und somit zur
positiven Botschaft, wie sie ursprünglich gedacht war.
Wenn der Vergleich zu Frankreich und Großbritannien
kommt, meine sehr verehrte Damen und Herren, liebe
Kolleginnen und Kollegen, dann darf ich doch darauf hinweisen, dass es in der deutschen Geschichte einen massiven Missbrauch des Wortes Volk gab und dass genau
dieser Missbrauch des Wortes Volk den Künstler veranlasst hat, hier einen Bogen zu spannen zu einer
„Bevölkerung“.
({4})
Diesen Bogen zu spannen finde ich im wahrsten Sinne
des Wortes eine spannende Sache. Er erinnert an die Säuberungen im völkischen Sinne, vorgenommen durch
die Nationalsozialisten - 113 Reichstagsabgeordneten
wurde ihre Zugehörigkeit zum deutschen Volk aberkannt,
75 davon kamen in Haft ums Leben und acht unserer ehemaligen Kollegen verübten Selbstmord -, erinnert aber
auch an den Missbrauch des Wortes Volk während der
kommunistischen Herrschaft im geteilten Deutschland.
Die Sprechchöre der 89er Demonstranten „Wir sind das
Volk“ stellen sich ebenfalls ganz bewusst gegen den Missbrauch des Volkes in der damaligen DDR.
({5})
Der Verweis auf Art. 3 des Grundgesetzes, „Niemand darf
wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner
Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines
Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“, ist hier ebenfalls ausgesprochen wichtig. Dieses Postulat wurde nicht
umsonst 1949 ins Grundgesetz geschrieben.
Wer heute aus „Volk“ „Bevölkerung“ macht, schafft das
deutsche Volk noch lange nicht ab, sondern erweitert den
Begriff in der Form, dass er auch unserem heutigen
demokratischen Verständnis entspricht, und macht deutlich, für wen dieses Parlament arbeitet.
({6})
Es leben in Deutschland derzeit etwa 10 Prozent Ausländer und es werden in Zukunft noch mehr werden. Die
Niederlassungsfreiheit in der EU und die geplante Osterweiterung werden diesen Trend fortsetzen, ob wir wollen
oder nicht. Wir werden als Parlament in immer stärkerem
Maße dieser Entwicklung Rechnung tragen müssen.
Der Bogen, der zwischen dem historischen Reichstagsgebäude und dem Deutschen Bundestag gespannt wird,
spiegelt sich in „Volk“ und „Bevölkerung“ meiner Meinung nach sehr gut wider.
({7})
Besonders beeindruckend, aber auch herausfordernd ist
für uns Abgeordnete ganz sicher das Heranschleppen von
Erde aus unseren verschiedenen Wahlkreisen. Diese Interaktion und Partizipation zeigt deutlich, dass es sich um
ein Kunstwerk handelt, welches man nicht überall aufstellen kann, sondern welches ausschließlich für den
Deutschen Bundestag geschaffen wurde.
Ich finde auch die Geste, dass die Erde aus den Wahlkreisen sozusagen als Partikularinteresse hierher gebracht
wird, die dann mit allen anderen Regionen in ein großes
Ganzes einmünden, sehr symbolträchtig.
Meine Damen und Herren, wir alle haben schon an
ersten Spatenstichen teilgenommen. Ich frage Sie: Wer hat
nicht auch damals sozusagen seinen Teil zur Symbolik
beigetragen? Das ist genau das Gleiche.
({8})
Hier wird das Zusammenwirken aller Abgeordneten deutlich unterstrichen. Es ist gerade kein Blut-und-BodenSymbol.
({9})
Kollege Heinrich, Sie
müssen zum Schluss kommen.
Frau Präsidentin, ja.
Um mit Hans Haackes Worten zu sprechen, wird mit
der „Bevölkerung“ gerade das Blut aus der Erde genommen. Hier geht man mehr in Richtung Jus soli. Überlegen
Sie sich dies genau, und Sie kommen zu dem gleichen
Schluss.
({0})
Frau Präsidentin, mein letzter Satz: Obwohl man
Zweifel haben kann, ob man über Kunst im ganzen Parlament abstimmen sollte, weil Kunst nicht per Mehrheit bestimmt werden kann, sondern auch die Freiheit der Kunst
eine tolerante Haltung aller verlangt, bitte ich Sie, Toleranz zu üben, dem Projekt zuzustimmen und den Antrag
deshalb abzulehnen.
Ich bedanke mich.
({1})
Nächste Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Hanna Wolf, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir stimmen
heute über Hans Haackes Kunstprojekt ab, weil er für seine Erdinstallation nicht etwa ein Gartencenter beauftragen
will, sondern alle 669 heutigen und auch alle zukünftigen
Abgeordneten zum Mitbringen eines Zentners Erde aus
ihrem Wahlkreis auffordert. Dadurch werde ich zur Mitgestalterin. Weil ich den Künstler ernst nehme, will ich
auch begründen, warum ich nicht mitmachen werde.
Die fürsorglich bevormundenden Briefe, die wir alle
bekommen haben, und die herablassenden Artikel in einigen Feuilletons über die Kompetenz von Politikern
({0})
veranlassen mich auch zum öffentlichen Widerspruch.
({1})
Der Kunstbeirat wird nicht desavouiert, wenn das
Plenum heute über diesen Vorschlag abstimmt. Allerdings
hätte ich mir gewünscht, dass der Kunstbeirat die Entscheidung von sich aus offen gehalten hätte,
({2})
da ja jede und jeder Abgeordnete sich aktiv beteiligen soll.
({3})
So begeistert ich von Anfang an über die Verhüllung
des Reichstages durch Christo und Jeanne-Claude war,
Haackes Installation kann ich nicht mitgestalten. Bevor
ich einige meiner Gründe nenne, distanziere ich mich aufs
Schärfste von zynischen, ausländerfeindlichen Sprüchen,
die ich leider auch von der Seite einiger gelesen habe, die
das Haacke-Konzept ablehnen.
({4})
Mit den Ansichten eines Herrn Glos zum Beispiel mache
ich mich nicht gemein.
({5})
Zu meinen Gründen. Erstens. Die Inschrift im Giebel des
Reichstagsgebäudes „Dem Deutschen Volke“ war in der
Entstehungszeit, wie Haacke selber schreibt, „eine Herausforderung für den Kaiser, der deshalb ihre Realisierung
lange zu verhindern wusste. Der Kaiser spürte wohl einen
Hauch der französischen Revolution.“ Dass die Nazis
diesen Begriff missbraucht haben, gehört zur Tragik unserer Geschichte. Aber 1989 riefen die Menschen in Leipzig:
„Wir sind das Volk!“ Es war eine Provokation für die DDRMachthaber,undniemandhateschauvinistischverstanden.
({6})
Diese revolutionäre Tradition des Begriffs Volk möchte
ich nicht begraben sehen.
({7})
Zweitens. 1999 ist der Deutsche Bundestag von Bonn
nach Berlin in das Reichstagsgebäude umgezogen. Bei
meiner Arbeit als Bundestagsabgeordnete gilt für mich
das Grundgesetz. In Art. 1 des Grundgesetzes heißt es:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen
Gewalt.
In Art. 3 Satz 1 des Grundgesetzes steht:
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
Hier wird ohne Einschränkung immer von den Menschen
gesprochen, das heißt, von allen, die in der Bundesrepublik Deutschland leben. Das Grundgesetz ist mir Auftrag
genug. Einer weiteren Erinnerung bedarf es nicht.
({8})
Drittens. Hans Haacke - das ist für mich der gravierendste Grund - hat sich immer wieder mit der Nazidiktatur
auseinandergesetzt. Umso irritierter bin ich, dass er eine
durch die Nazis besetzte Erdkultsymbolik seiner Installation zugrunde legt.
({9})
Hatten doch die Nazis aus allen deutschen Gauen - wie es
damals hieß - Erde zu den Olympischen Spielen nach
Berlin gekarrt. Einen Erdkult kann und will ich nicht mittragen. Ich halte ihn für peinlich und mystifizierend.
({10})
Hans Haacke versteht sich als politischer Künstler und
ich erwidere ihm ebenfalls politisch: Die Debatte über die
Inschriften „Volk“ oder „Bevölkerung“ hat meiner Meinung nach ihren Zweck bereits erfüllt. Die Erdsymbolik
halte ich für politisch falsch. Wenn viele Bundestagsabgeordnete die Mitgestaltung aus unterschiedlichen Gründen
ablehnen, sollte Haacke selber sein Konzept zurücknehmen.
({11})
Ich hätte mir auch gewünscht, er hätte wie Christo eine
neue Metapher gefunden, statt mit alter Symbolik zu
arbeiten.
({12})
Jetzt spricht der Kollege Dr. Heinrich Fink, PDS-Fraktion.
Liebe Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Als Peter Behrens von der
Berliner jüdischen Eisengießerei die Giebelinschrift für
den deutschen Reichstag gestaltete, verstand der deutsche
Kaiser dieses sein deutsches Volk durchaus noch als seine
Untertanen, die dann in demokratischen Gremien aktiv im
Parlament streiten durften. Vaterlandsliebe und Treue zum
Kaiser galten vielen als unaufgebbare Werte.
Die beiden Kunstschmiede, die sich damals, als sie die
Lettern „Dem Deutschen Volke“ in Metall setzten, noch
als Deutsche zählen und fühlen durften, wurden ab 1935
durch den Arierparagraphen zu Undeutschen degradiert.
Im Namen des nunmehr rassisch reinigenden deutschen
Volkes ist der eine der Eisengießer in Plötzensee hingerichtet und der andere der Eisengießer in Theresienstadt
ermordet worden.
1935 hat Bertolt Brecht in seinem im Exil verfassten
Aufsatz über die fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der
Wahrheit geschrieben
Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung sagt,
unterstützt schon viele Lügen nicht.
Diese Aussage - so Hans Haacke - habe ihn wesentlich
inspiriert.
({0})
Der hier eingebrachte Antrag, die Entscheidung des
Kunstbeirates beim Bundestagspräsidenten, der beauftragt
ist, mithilfe von Sachverständigen über die Kunst im
Reichstag zu befinden, rückgängig zu machen, gilt
meinem Eindruck nach nicht der künstlerischen Konzeption von Hans Haacke, sondern den beiden Worten „Der
Bevölkerung“. Sie sind das eigentliche Ziel des Protestes.
Das bestätigen mir auch die vielen Zuschriften von Bürgerinnen und Bürgern, übrigens - das ist für mich auch interessant - bis jetzt nur aus den alten Bundesländern, die
ihrer Empörung oft sogar mit Begriffen aus brauner Vergangenheit Luft gemacht haben.
„Der Bevölkerung“ ist keine Umwidmung dieses
geschichtsträchtigen Hauses, sondern bringt für das
deutsche Volk 82 Jahre Ringen um demokratische Veränderungen künstlerisch gestaltet ins Wort
({1})
und bringt damit Politiker, Gäste und Besucher hoffentlich
dauerhaft in die Diskussion. Deshalb finde ich dieses
Kunstwerk notwendig und deshalb gefällt es mir.
({2})
Hans Haacke lebt seit den 60er-Jahren in den USA und
äußert sich seit Jahrzehnten als kritischer Demokrat in immer aufs Neue überraschenden Formen zur Demokratie
und zu aktuellen, dringlichen Fragen des Lebens. Wurde
Hanna Wolf ({3})
Haacke nicht gerade deshalb um die Ausgestaltung des
Lichthofes gebeten, weil man von ihm erwarten konnte, in
die preußische Strenge Ungewöhnliches zu komponieren?
({4})
Kolleginnen und Kollegen, jeder, der den Namen Haacke
im Zusammenhang mit Kunst im Reichstag hörte, wusste
doch, dass dies eine Provokation wird, und die Debatte
zeigt es.
Ich verstehe nicht, warum wir in unserem in politischen
Kontroversen wahrlich erfahrenen Bundestag per Abstimmung diese ernsthafte demokratische Herausforderung
eines namhaften Künstlers ausschlagen sollen. Alles, was
wir im Bundestag entscheiden und als Gesetze festschreiben, ist doch für alle in Deutschland lebenden Menschen und nicht nur die Deutschen verbindlich. Für alle
heißt: für die Bevölkerung.
({5})
Ich finde es ermutigend, dass Haacke der Bevölkerung
Verständnis für dieses Projekt zutraut.
Museumsdirektoren und Museumspädagogen vieler
Städte, der Präsident der Bundesarchitektenkammer, Galeristen, Direktoren von Kunsthochschulen, Kunstvereine
und auch Künstler haben in einem offenen Brief ihre Bitte
an den Bundestag gerichtet, in Haackes Modell doch einen
komplementären Bogenschlag und nicht etwa die Absage
an die Giebelwidmung zu entdecken.
({6})
Sie jedenfalls sehen einen produktiven Widerspruch, der
die Tradition hellwach vor dem Erstarren in Konventionen
bewahren hilft. Ich sehe in Haackes Werk eine in eine
interessante Form gebrachte wichtige Äußerung, ein monumentales Epigramm, das kein Anschlag auf die Verfassung, sondern ein Glücksfall für die Demokratie ist,
({7})
damit die möglicherweise sonst auch weiterhin verdrängte
Auseinandersetzung über das deutsche Volk in der
Bevölkerung in Gang gebracht wird.
Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, dem vorliegenden Antrag nicht zuzustimmen, sondern es bei der
Entscheidung des Kunstbeirates und seiner Sachverständigen zu belassen, um uns nicht dem Verdacht
auszusetzen, dass Kunst in Zukunft parlamentarisch zensiert wird.
({8})
Ich bitte Sie, uns diese Blamage zu ersparen.
({9})
Nächster Redner ist
der Kollege Hans-Joachim Otto, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es vorweg zu
sagen: Hans Haackes Projekt überzeugt mich nicht in seiner Ästhetik und schon gar nicht in seiner politischen Symbolik und deswegen möchte ich es nicht in unserem Hause
haben.
In den Erläuterungen zu seinem Projekt bezeichnet
Hans Haacke die Giebelaufschrift „Dem Deutschen
Volke“ als eine nationalistische, exklusive Parole. Das ist
nichts weniger als eine Geschichtsklitterung. In Wahrheit
wurde die Widmung in einem Akt republikanischer
Emanzipation 1915 gegen den Widerstand des Kaisers
durchgesetzt und hat deswegen einen verfassungspatriotischen, geradezu partizipatorischen Ursprung.
({0})
Meine Damen und Herren, wenn Hans Haacke den Begriff des deutschen Volkes noch immer für durch die Propaganda sowohl der NSDAP als auch der SED belastet
hält, so übersieht er, dass zumindest die mutigen DDRBürger 1989 mit ihrem Freiheitsruf „Wir sind ein Volk“ ein deutsches Volk - diesen Begriff rehabilitiert und ihm
seinen demokratischen Klang zurückerobert haben.
({1})
Mein schwerster Vorwurf: Haackes Projekt leidet unter
einer höchst widersprüchlichen Symbolik. Wenn er den
Volksbegriff durch Hitler als dauerhaft besudelt ansieht,
dann gilt dies mindestens in gleichem Maße für das von
ihm beabsichtigte Ritual der Erdbeschaffung.
({2})
Man muss dieses nicht mit den Olympischen Spielen 1936
und nicht mit der NS-Weihestätte in der Quedlinburger
Stiftskirche vergleichen, in der 1940 Urnen mit Erde aus
allen deutschen Gauen deponiert worden sind und die dort
heute noch stehen. Jedenfalls belastet die Blut- und
Boden-Mythologie der Nazis diese von ihm gewünschte
Symbolik einer Beschaffung von Heimaterde.
Einen weiteren Widerspruch in Haackes Projekt sehe
ich darin, dass die von ihm ausdrücklich angestrebte Provokation die gleichzeitig geforderte Partizipation
möglichst aller Abgeordneten verhindert: Wie viele von
uns, frage ich Sie, werden wohl ihr Eimerchen Heimaterde herschaffen, wenn wir hiermit zu einer Umwidmung
des Parlaments beitragen sollen, die zwar dem Wunschbild
des Künstlers, nicht aber unserem Grundgesetz entspricht?
Hier liegt der entscheidende Unterschied zu Christos Projekt der Reichstagsverhüllung, dem ich seinerzeit mit
großer Begeisterung zugestimmt habe: Christo hatte ein
überzeugendes, ein tragfähiges, ästhetisches Konzept
entwickelt.
({3})
Er hatte es nicht nötig, die Mitglieder des Bundestages für
seine politischen Überzeugungen zu instrumentalisieren.
Er hat mit Ästhetik geworben und nicht mit politischen
Hintergedanken.
Es ist wahr: Kunst hat durchaus das Recht und vielleicht auch die Pflicht, sich in Politik einzumischen. Wir
Politiker haben aber doch nicht die Pflicht, über jedes uns
von Künstlern hingehaltene Stöckchen zu springen.
({4})
Bei dieser Abstimmung geht es - da hat der Kollege Dr.
Lammert völlig Recht - um ein Stück Selbstachtung dieses
Parlaments auch gegenüber seiner eigenen Geschichte.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle erkennen die
Freiheit der Kunst an; wir erkennen aber nicht ein
ästhetisches Monopol für Kunstsachverständige und des
Kunstbeirates an.
({6})
Haben Sie daher Mut zu einer eigenen, zu einer persönlichen, zu einer souveränen Entscheidung! Stimmen Sie
für den Gruppenantrag!
Vielen Dank.
({7})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Dr. Rita Süssmuth, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir entscheiden heute im Bundestag über das künstlerische Projekt von Hans Haacke. Ich habe keine Probleme damit, dass diese Entscheidung in den Bundestag
getragen wird; denn wann immer eine Gruppe von Abgeordneten dies wünscht, geschieht es. Wir im Kunstbeirat
maßen uns nicht mehr Souveränität an als im Deutschen
Bundestag. Diese Frage steht für mich nicht im Streit.
({0})
Wenn heute erklärt wird, es stehe nicht die Freiheit der
Kunst in Rede, dann kann ich dem auch noch zustimmen.
Hier aber es geht um eine höchst politische Entscheidung, die heute getroffen wird.
({1})
Dass das Projekt Haackes so im Streit ist, hat seine
Gründe; die Erde ist dabei nur ein nachgeordnetes Problem. Es geht im Kern um die Frage, ob wir wirklich bereit sind, dem Spruch „Dem Deutschen Volke“ die
Ergänzung „Der Bevölkerung“ folgen zu lassen.
({2})
Hier meinen einige, dass das selbstverständlich sei, da
Art. 3 des Grundgesetzes doch gelte. Ich frage: Wenn das
so selbstverständlich ist, warum dann dieser Aufruhr?
({3})
Offenbar ist es überhaupt nicht selbstverständlich. Die
Vielzahl der eingegangenen Briefe zeigt, wie sehr es sich
um ein Politikum handelt. Glauben Sie mir, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist das gute Recht jedes und jeder Einzelnen, zu entscheiden, ob er oder sie mitmachen
will oder nicht. Aber in Hunderten von Briefen - von
wenigen Ausnahmen abgesehen - gibt es nur einen Tenor,
nämlich dass das, was wir hier zulassen würden, all denjenigen, die es wollen, den Vorwurf einbringt, Verbrecher,
Mörder und Verräter des Vaterlands zu sein.
({4})
Nun kann man sagen, diese Minderheit kümmert uns
nicht. Aber diese Minderheit hebt kräftig an und wirft den
noch Mächtigen vor, sie seien für die Milliardenbeträge an
Sozialhilfe, die wir für Ausländer und Asyl Suchende, die
hier nicht hingehören, zahlen müssen, verantwortlich. Ich
muss dies beim Namen nennen, weil es Grundtenor nicht
nur einzelner Briefe, sondern Hunderter von Briefen ist.
({5})
Weiter wird gefragt, ob diejenigen, die zugestimmt hätten,
nicht sowieso geisteskrank oder von allen guten Geistern
verlassen seien. Es wird gefragt: Sollen die Gelben, die
Schwarzen, die Türken und die Zigeuner etwa auch dazu
gehören? Das wäre der Verrat am Vaterland. - Dies muss
man mit im Hinterkopf haben.
({6})
Es wäre gut, wenn all die Briefe, die viele von uns
bekommen haben, bei einer Ablehnung des Projekts als
Dokumentation an den leeren Platz des nördlichen
Lichthofes gelegt würden.
({7})
Man kann über Gras, Steine und Erde trefflich streiten. Ich
verwehre es auch niemandem - dazu habe ich auch gar
kein Recht -, zu erklären, der Erde würde ein bestimmter
Mythos anhaften. All denjenigen, die sonst mit hohem
Pathos so viel von Heimaterde sprechen, widerspricht
Haacke ganz schlicht,
({8})
indem er sagt, es gehe ihm um ein Stück demokratischer
Territorialität. Das muss nicht jeder begrüßen. Ich finde,
das ist vielleicht der schwächste Teil an seinem Projekt.
({9})
Hans-Joachim Otto ({10})
Ich möchte denjenigen, die hier so laut tönen und von
„Blut und Boden“ sprechen, sagen: Ich habe hohen
Respekt vor der Heimaterde.
({11})
- Ja, ich habe das. Ich habe in meiner Familie selbst Vertriebene, die Tausende von Kilometern gefahren sind, um
ein Stückchen Heimaterde zu holen, ohne dass sie revanchistisch oder mit negativen Ressentiments belegt gewesen wären.
({12})
Ich füge hinzu:Andere Völker bringen Steine an bestimmte Orte.
Wir tun heute so, als hätten wir alle damals Christo mit
großem Herzen zugestimmt.
({13})
Ich erinnere mich noch sehr gut, dass ich in der Nacht vor
der damaligen Entscheidung glaubte, wir fänden im
Deutschen Bundestag keine Mehrheit. Es ist anders ausgegangen.
Wir reden so oft von unserer Selbstachtung und
Würde. In diesem Zusammenhang möchte ich
abschließend zu bedenken geben: Wenn wir ein Häufchen
Erde ungesehen in den Trog werfen, wird das unserer
Würde weniger schaden als manche Debatte, die im
Deutschen Bundestag abläuft.
Ich danke Ihnen.
({14})
Es spricht jetzt die
Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will versuchen, ein bisschen zur Abrüstung
beizutragen, die Antje Vollmer zwar gefordert, aber meiner Meinung nach nicht geleistet hat.
({0})
Ich möchte auch ein bisschen zu der kritischen Auseinandersetzung beitragen, die Norbert Lammert eingefordert
hat. Ich glaube nicht, dass die, die sich für das Projekt und damit gegen den Antrag, den Sie gestellt haben aussprechen, dies in demütiger Bewunderung, sondern
sehr wohl überlegt und durchdacht tun.
Noch einmal zur Vorgeschichte: Als der Kunstbeirat in
der letzten Legislaturperiode beschloss - ich glaube, einstimmig, Herr Kauder war dabei; wir haben es intensiv besprochen -, Hans Haacke zu beauftragen, wussten wir
fraktionsübergreifend, was wir taten. Wir wussten, dass
wir einen Künstler beauftragen, der die Politik durchaus
provoziert und zur Auseinandersetzung mit der Kunst herausfordert, einen Künstler, der Politik und Kunst in eine
spannungsvolle, untrennbar miteinander verwobene
Wechselbeziehung setzen möchte. Wenn wir heute
entscheiden, dass dieses Projekt nicht verwirklicht wird,
dann entscheiden wir auch, dass diese Hand wieder zurückgezogen wird. Ich glaube, dies ist eine Dimension, die
wir bedenken sollten.
Meiner Meinung nach ist das Spezielle an diesem Projekt, über das wir diskutieren, dass es ein Denkwerk und
nicht nur ein Kunstwerk ist.
({1})
Wir sind es gewohnt, dass Kunstwerke primär an unsere
Gefühle, an unser unterbewusstes Assoziationsvermögen
appellieren. Demgegenüber schafft Haacke die Herausforderung zur Aufklärung, zum Denken. Er zwingt uns
regelrecht zur Selbstreflexion unseres Handelns. Meiner Meinung nach stellt er gerade uns Parlamentariern
zwei Fragen und wirkt damit - ich habe damit keine Probleme, Herr Kollege Lammert - sehr wohl aufklärend. Er
fragt uns: Für wen macht ihr Politik? Ausschließlich für
deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger oder für alle
Menschen, die auf deutschem Boden leben?
Die zweite Frage, die er uns stellt, die schon Gegenstand der Diskussion war, ist: Könnt ihr eigentlich mit dem
Boden, der uns alle trägt und nährt, natürlich und unverkrampft umgehen oder steht ihr immer noch im Banne
der Blut-und-Boden-Mythen des Nationalsozialismus?
Ich muss sagen, dass ich nicht alle Antworten teile, die
Haacke selbst mit seiner Projektinterpretation gegeben
hat.
Zunächst einmal - das möchte ich hier deutlich sagen,
gerade auch in Richtung Antragsbefürworter - bin ich
nicht der Ansicht, dass die Inschrift „Dem Deutschen
Volke“ durch den Faschismus so dauerhaft entwürdigt
worden ist, dass man das Wort „deutsches Volk“ nicht
mehr aussprechen darf. Ich glaube schon, dass wir zu einer so engagierten demokratischen Politikkultur gefunden
haben, dass es uns wieder erlaubt ist, auch selbstbewusst
zu unserer deutschen Identität zu stehen.
({2})
Wenn das so ist - das sollten wir gemeinsam so sehen,
egal, wie wir zu dem Projekt stehen -, bin ich der Meinung, dass wir diesen Denkanstoß, den uns Haackes Projekt
gibt, wirklich nutzen sollten; er ist richtig und wichtig.
Denn die Diskussion der letzten Wochen zeigt, wie viele
Menschen immer noch Identitätsschwierigkeiten haben.
Deswegen müssen wir über Begriffe wie „deutsches Volk“
und „deutsche Bevölkerung“ weiterhin einen Dialog
führen.
({3})
Auch die zweite Frage, die uns Haacke stellt, kann unterschiedlich beantwortet werden. Ich selbst habe mit dem
Erdritual auch so meine Probleme. Ich werde hier kein
Säckchen Erde hinschleppen. Aber ich habe mit vielen
jüngeren Kollegen gesprochen, die mich fragen: Welche
Schwierigkeiten hast du mit der Heimaterde? Die sind
durchaus bereit, Heimaterde - nicht nur Wahlkreiserde,
Herr Haacke - mitzubringen. Sie sagen, gerade unsere
Grünen: Das wollen wir mit Hanfsamen und Sonnenblumen bepflanzen, da soll optimistisch und fröhlich etwas
wachsen.
({4})
Es ist durchaus legitim, den Denkanstoß in Sachen Erde
mythisch, problematisch, nationalsozialistisch beschwert
oder auch fröhlich und optimistisch zu sehen. Denn wir
müssen nicht dieselben Antworten im Kopf und im Herzen
haben, wenn wir dieses Projekt befürworten. Ich wünsche
mir aber, dass wir den Mut haben, die Fragen, die Haacke
aufwirft, und das Denken, das er uns abverlangt, auch
wirklich zuzulassen: nicht nur mit Blick auf uns hier und
heute in dieser Diskussion, sondern auch mit Blick auf die
kommenden Parlamentarier- und Besuchergenerationen,
die diese Inschrift lesen und dadurch selber zum Denken
angeregt werden.
Ich werbe dafür, den vorliegenden Antrag abzulehnen.
({5})
Nächster Redner in der
Debatte ist der Kollege Volker Kauder von der CDU/CSUFraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da der Saal jetzt
schon sehr voll und auch der Lärmpegel sehr hoch ist,
möchte ich ausdrücklich darum bitten, auch den letzten
beiden Rednern in dieser Debatte die entsprechende
Aufmerksamkeit zu zollen.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wir entscheiden heute
darüber, ob das Haacke-Kunstwerk „Der Bevölkerung“ im
Reichstag installiert werden soll. Wir entscheiden aber
nicht über Kunst, sondern führen eine politische Debatte.
Es geht nicht um ästhetische Begriffe und schon gar nicht
um die Frage von Kunstfreiheit. Die Kunst in Deutschland
ist frei und auch durch diese Diskussion findet keine Zensur von Kunst statt.
({0})
Was mussten wir im Vorfeld nicht alles lesen! Die Freiheit der Kunst sei in Gefahr, wenn wir es heute wagen
sollten, Nein zu diesem Kunstwerk zu sagen. Wie soll
denn die Freiheit der Kunst gefährdet werden, wenn es nur
darum geht, zu entscheiden, wo dieses Werk aufgestellt
wird? Hans Haacke kann es überall in Berlin aufstellen,
nur nicht im Reichstag.
({1})
Ein sicherlich genauso abwegiges Argument, um uns
hier einzuschüchtern, ist es zu sagen, es handle sich um das
Werk eines renommierten Künstlers, das von renommierten deutschen Kunstsachverständigen für gut befunden worden sei.
Schließlich der Beitrag von Hans Haacke selbst. Er will
ein Kunstwerk in das Reichstagsgebäude stellen mit der
Überschrift „Der Bevölkerung“. Wenn sich aber einer aus
dem Volk wie Michael Glos äußert, wird ihm von Hans
Haacke beschieden, ein Müllermeister könne über sein
Kunstwerk nicht urteilen. Welche Arroganz gegenüber
einem Mann aus dem Volk, der über dieses Kunstwerk
diskutieren will!
({2})
Meine Damen und Herren, wir alle können die Interpretation von Hans Haacke lesen und uns unsere eigene
Meinung zu seinem Kunstwerk bilden. Ich sage Nein zur
Aufstellung dieses Werkes im Deutschen Bundestag. Die
zahlreichen Zuschriften von Deutschen, die dieses Kunstwerk ebenfalls ablehnen, haben mich in meiner Ansicht
bestärkt.
({3})
Ich lehne es ab, wie es hier gemacht wurde, allen
Zuschriften nationalsozialistisches Gedankengut zu unterstellen. Es ist unglaublich, so etwas zu tun.
({4})
- 80 Prozent, wird da gesagt. - Sehr viele Menschen haben
mir geschrieben, dass sie dieses Kunstwerk ablehnen und
sich dadurch beleidigt fühlen.
Das einzige Ziel des Werkes von Hans Haacke ist die
Provokation. Das ist Haackes „Kunstwerk“. Das ist nichts
besonders Originelles! „Publikumsbeschimpfungen“ gab
es auch schon früher.
({5})
Gerade in diesen Tagen müssen jüdische Menschen in
New York unter Haackes ähnlich gestricktem Kunstwerk
„Sanitation“ leiden. Sie haben geschrieben, sie fühlten
sich durch dieses Kunstwerk beleidigt. Das können Sie in
den Zeitungen nachlesen.
Es hat einen wirklich faden Beigeschmack, wenn
einige Haacke-Anhänger die beleidigenden Aussagen
angeblich nicht erkennen können und stattdessen von
überzeugender Ausdruckskraft sprechen. Ist schon der
konzeptionelle Rahmen des Kunstwerkes recht abgegriffen, so ist es vor allen Dingen die politische Grundaussage. Haacke geht dabei nach dem folgenden simplen
Rezept vor: Man reduziere Deutschland, seine Geschichte
und sein Volk auf die schrecklichen zwölf Jahre Nationalsozialismus, mische darunter dunkle Begriffe wie
Volkssturm oder Volksgerichtshof; dann verzerre man
alles bis ins abgrundtief Böse, Schlechte und Negative.
Schließlich definiere man einen Gegenbegriff wie
Bevölkerung, den man den Deutschen rasch als reinigende
Lösung anbietet, und alles ist wieder gut.
({6})
Haacke sieht die Inschrift „Dem Deutschen Volke“ am
Reichstag und gibt sich erschrocken, wie er formuliert.
Dann fabuliert er über die unheilvolle Rolle des deutschen
Volkes im 20. Jahrhundert, wobei die positiven Entwicklungen der letzten 55 Jahre und all das, was sich in
diesem Land bewegt hat, bei ihm erkennbar nicht
angekommen sind.
({7})
Er kommt zu einem unglaublichen Schluss, der schon vor
dem Hintergrund unserer Verfassung unglaublich klingt:
Für ihre Entscheidungen sind die Bundestagsabgeordneten nicht gegenüber einem mythischen Volke, sondern
gegenüber der Bevölkerung verantwortlich. Ein Blick ins
Grundgesetz hätte ihm gezeigt, dass alle Gewalt „vom
Volke“ - vom deutschen Volke - ausgeht und die Abgeordneten in diesem Reichstag
({8})
in erster Linie die Interessen des deutschen Volkes zu
vertreten haben.
({9})
Dies hat der selbst erklärte Verfassungspatriot, wie eine
Pressemitteilung vom 13. Februar 2000 zeigt, offenbar
nicht verstanden. In dieser Presseerklärung versteigt sich
Haacke zu folgender Formulierung: „Die rassistische
Definition, wer zum deutschen Volk gehört, fordert auch
heute noch Menschenopfer.“ Dies ist seine Erklärung für
sein Kunstwerk. Eine solche Erklärung zu einem Kunstwerk will ich im Deutschen Bundestag nicht haben.
({10})
Es geht also um Politik, nicht um Ästhetik. Daher wäre
die Angelegenheit im Kunstbeirat letztlich auch nicht
vom richtigen Gremium beraten worden. Es ist richtig
dass wir hier im Deutschen Bundestag der Bevölkerung
klarmachen, ob wir uns von einer ideologischen Begründung Haackes an der Nase herumführen lassen wollen.
Herr Thierse, noch vor wenigen Tagen haben Sie hier
in diesem Gebäude als einer der Hauptredner der Feierstunde zur ersten freien Volkskammerwahl das Volk als
politischen Souverän gefeiert. Sie haben Ihre Freude
darüber ausgedrückt, dass in der DDR die Zeit vorbei war,
in der eine politische Kluft zwischen dem Volk auf der
einen und den Abgeordneten der Nationalen Front der
DDR auf der anderen Seite bestand.
Am 18. März 1990 ist in der DDR etwas zusammengewachsen, was zusammengehört, nämlich das souveräne Volk und seine Volksvertretung. Soll durch die
Agitation eines Künstlers nur zehn Jahre später eine neue
Kluft aufgerissen werden?
({11})
Dies wollen wir nicht!
({12})
Wann, liebe Kolleginnen und Kollegen, lernen wir
Deutschen endlich, uns normal zu benehmen,
({13})
so normal wie die Franzosen und die Briten? Sie haben
eine freiheitliche Lebensform für das souveräne Staatsvolk geschaffen und behandeln die nicht zum Volk
gehörenden fremden Bewohner des Landes dennoch
würdig. Hier in Deutschland glauben aber immer noch
einige, dass man das deutsche Volk in einem negativen
Licht darstellen muss, um ein guter Mensch zu sein. Dies
ist nicht meine Auffassung.
({14})
Ich sage deshalb - und dies sage ich für die überwiegende Zahl der Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion - Nein zu diesem simplen
und für unser Haus unwürdigen Kunstwerk. Ich sage Nein
dazu, dass der Versuch unternommen wird, das deutsche
Volk verächtlich zu machen, auf eine kurze Zeit seiner
Geschichte zu reduzieren.
({15})
Ich sage Nein zu dem Versuch der Distanzierung des
Deutschen Bundestages von seinem eigenen Volk.
Ich bitte Sie, dem Gruppenantrag zuzustimmen.
({16})
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Abgeordnete Wolfgang Thierse,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Kunst ist Freiheit. Das
ist ihr inneres Wesen.
({0})
Sie lässt Unterschiede zu, lädt ein zu Streit, zur Diskussion, zur Subjektivität und zur Artikulation unseres je eigenen Geschmacks, Empfindens, Fühlens und Denkens.
Deshalb ist unterschiedliches ästhetisches Urteil legitim,
sind gegensätzliche Meinungsäußerungen selbstverständlich, auch von Politikern und natürlich auch von Parlamentariern. Aber, lieber Kollege Lammert, lieber Kollege Kauder, warum müssen sie mit dieser schneidenden
Schärfe ausgetragen werden?
({1})
Frau Kollegin Vollmer, wenn Sie die Aufrüstung beklagen - wer hat sie betrieben? Unterschiede, Meinungsverschiedenheiten in Kunstfragen sind also normal und
angemessen, gerade auch dann, wenn Sie, wenn wir vom
Künstler ausdrücklich zum Mittun eingeladen sind. Es ist
also durchaus legitim, wenn sich das Plenum des
Deutschen Bundestages mit diesem Projekt befasst, zumal
der Bundestag als Auftraggeber fungiert.
Was aber soll nach welchen Kriterien heute entschieden
werden? Das ist die eigentliche Frage. Wir entscheiden
darüber, ob ein Kunstprojekt verwirklicht wird oder nicht.
Ich will Ihnen gestehen, dass auch ich zwiespältige
Empfindungen bei diesem Projekt habe, viele Argumente
dafür und dagegen nachvollziehbar finde. Die
Erdemetaphorik halte ich für problematisch. Darüber
habe ich mit Hans Haacke gestritten. „Wir sind das Volk“
haben wir Ostdeutschen 1990 gerufen und nicht „Wir sind
die Bevölkerung“. Auch das habe ich dem Künstler im
Kunstbeirat entgegengehalten.
({2})
Was für eine Entscheidung treffen wir heute? Eine
ästhetische Entscheidung? Ja, selbstverständlich. Auch
diejenigen, die betonen, dass sie eine politische Entscheidung treffen, werden doch nicht bestreiten, dass sie über
das Schicksal eines Kunstprojektes entscheiden und dass
damit ein politisches Gremium, wie es das Plenum des
Bundestages nun einmal ist, über ein Kunstprojekt
entscheidet. Vor dieser Entscheidung dürfen sie sich nicht
drücken.
({3})
Nun gehört es aber zu den kostbaren Vorzügen unserer
Demokratie - das möchte ich Ihnen zu bedenken geben -,
dass in ihr eine beträchtliche Sensibilität gegenüber den
misslichen, den inkommensurablen politischen Entscheidungen über Kunst gewachsen ist. Wie sähe die
Kunstgeschichte aus, hätte das Entstehen von Kunstwerken jeweils von mehr oder minder politischen
Mehrheitsentscheidungen von Gremien abgehangen?
({4})
Stellen Sie sich bitte diese Kunstgeschichte einmal vor!
({5})
Wenn Sie mir erlauben, möchte ich noch eine Bemerkung hinsichtlich meiner DDR-Erfahrung machen.
Dort haben politische Gremien ständig über Kunst entschieden. Ich will nichts gleichsetzen - wahrlich nicht.
Aber diese Erfahrung hat mich überempfindlich gemacht.
({6})
Weil der Bundestag ein Empfinden für die Unangemessenheit politischer Entscheidungen über Kunst hatte, hat er sich ein eigenes Gremium, den Kunstbeirat,
geschaffen, in dem Abgeordnete und Kunstsachverständige intensiv miteinander und mit den Künstlern diskutieren
und dann entscheiden. Über das Haacke-Projekt hat der
Kunstbeirat dreimal ausführlich debattiert und dann
zweimal positiv entschieden.
Um die Revision oder um die Bestätigung dieser
Entscheidung geht es. Es ist eine Entscheidung über ein
Kunstprojekt mit intellektuellem, politischem Anspruch.
Es ist gewiss kein Kunstwerk der Dekoration, der Verschönerung, der Harmonie, sondern ein Kunstwerk der
Verfremdung. Verfremdung ist eine fundamentale Funktion von Kunst.
({7})
Das Kunstwerk beinhaltet nicht die Tilgung, nicht die
Umwidmung der Inschrift „Dem Deutschen Volke“, sondern einen Kommentar, eine Anstiftung zum Nachdenken,
zum Bewusstmachen unserer demokratischen Verpflichtung, wie wir gemeinsam die Widmung unseres Parlamentsgebäudes „Dem Deutschen Volke“ verstehen. Es
geht darum, uns durch Verfremdung erneut bewusst zu
machen, in welcher Verantwortung wir stehen.
({8})
Wenn man sich, wie hier geschehen, einen Dialog zwischen Parlamentariern und Künstlern wünscht - liebe
Kollegin Vollmer, Sie haben Recht -, dann sollte man den
Dialog gerade nicht durch ein Nein abbrechen oder verhindern.
({9})
Kunst ist Freiheit. Das gilt gerade auch für Ihr Mitwirken an diesem Projekt. Es ist selbstverständlich absolut freiwillig. Das hat Haacke ausdrücklich betont. Sie
werden zu nichts gezwungen, auch nicht zum Herbeitragen von Heimaterde.
({10})
Der erklärende Text des Künstlers ist nicht Teil des
Kunstwerkes. Wo kämen wir in der Kunstgeschichte hin,
wenn wir uns auf Künstlertexte und nicht auf die wirklichen Kunstwerke einlassen müssten?
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kunst ist Freiheit.
Lassen wir sie frei! Beweisen wir jene Souveränität, die
dem Bundestag im 51. Jahr seines erfolgreichen Bestehens
angemessen ist! Reagieren wir nicht mit angstvoller oder
heftiger Abwehr, sondern stellen wir uns dem Anspruch
und Widerspruch des Kunstprojektes von Hans Haacke!
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Präsident Wolfgang Thierse
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte darauf
verweisen, dass es bereits jetzt eine Fülle von Erklärungen
gemäß § 31 der Geschäftsordnung gibt, die zu Protokoll
gegeben werden.* Der Kollege Albert Schmidt hat darum
gebeten, seine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung
jetzt kurz mündlich vortragen zu dürfen. Dieser Bitte habe
ich stattgegeben. Das wird aber die einzige mündliche
Erklärung vor der namentlichen Abstimmung sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, bis zur
namentlichen Abstimmung auf Ihren Plätzen zu bleiben.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich den Antrag des Kollegen Lammert und
weiterer Kolleginnen und Kollegen in der Abstimmung
ablehnen werde, übrigens genauso wie sehr viele aus
meiner Fraktion, dann nicht deshalb, weil ich damit ein
Urteil über dieses Kunstwerk abgeben möchte. Ich möchte
mich nur nicht von Herrn Lammert oder von sonst jemandem in einen Bekenntnisrummel hineintreiben lassen,
hier per Mehrheit über die Qualität eines Kunstwerkes
entscheiden zu müssen.
({0})
Kunst, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist für mich
ihrem Wesen nach
({1})
nicht beauftragt, Wahrheit auszudrücken. Über Kunst ist
auch nicht per Mehrheit zu entscheiden.
({2})
Herr Kollege Schmidt,
ich bitte Sie, Ihr Abstimmungsverhalten zu begründen.
Ich bin beim letzten Satz. - Kunst hat für mich
zu tun mit Schönheit, mit Ästhetik. Wenn ich diesen
Antrag ablehne, mache ich deutlich, dass das dafür berufene Gremium, der Kunstbeirat, in höchst subjektiver
Weise eine Entscheidung getroffen hat. Diese Entscheidung will ich unterstützen, ob mir das Kunstwerk gefällt
oder nicht.
({0})
Liebe Kolleginnen und
Kollegen, wir kommen zur Abstimmung über den Antrag
zu dem Kunstprojekt im nördlichen Lichthof des Reichstagsgebäudes von Hans Haacke „Der Bevölkerung“ auf
Drucksache 14/2867 ({0}).
Es ist namentliche Abstimmung verlangt worden. Nach
§ 52 Satz 1 unserer Geschäftsordnung sind für dieses Verlangen 34 anwesende Mitglieder des Bundestages erforderlich. Ich bitte diejenigen, die das Verlangen nach
namentlicher Abstimmung unterstützen, um das Handzeichen. - Das Verlangen hat die erforderliche Unterstützung
erhalten. Wir stimmen deshalb namentlich ab.
Ich bitte, vor der Stimmabgabe darauf zu achten, dass
die von Ihnen verwendete Stimmkarte Ihren Namen trägt.
Die Schriftführerinnen und Schriftführer bitte ich, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall.
Ich eröffne die Abstimmung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein Mitglied
des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben
hat? - Es scheinen alle Kolleginnen und Kollegen abgestimmt zu haben.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Ich unterbreche die Sitzung, bis das Ergebnis der namentlichen Abstimmung vorliegt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({1})
Die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe jetzt das von
den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
vorläufige Ergebnis der namentlichen Abstimmung über
den Antrag der Abgeordneten Dr. Norbert Lammert,
Ulrich Adam, Ilse Aigner und weiterer Abgeordneter zur
Realisierung des Kunstwerkes „Der Bevölkerung“ von
Hans Haacke auf Drucksache 14/2867 ({0}) bekannt - ich
habe absichtlich „vorläufig“ gesagt, weil es sich um
ein äußerst knappes Ergebnis handelt und noch einmal,
wie das normalerweise üblich ist, nachgezählt wird -:
Abgegebene Stimmen 549. Mit Ja haben gestimmt 258,
mit Nein haben gestimmt 260, Enthaltungen 31.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 549
ja: 258
nein: 260
enthalten: 31
Ja
SPD
Dr. Peter Eckardt
Iris Follak
Werner Labsch
Gudrun Roos
Dr. Emil Schnell
Richard Schuhmann ({1})
Jörg-Otto Spiller
Gunter Weißgerber
Jürgen Wieczorek ({2})
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Hans-Dirk Bierling
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({3})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Monika Brudlewsky
Georg Brunnhuber
Hartmut Büttner ({4})
Cajus Caesar
*) Anlagen 4 bis 7
Vizepräsidentin Petra Bläss
Manfred Carstens ({5})
Peter H. Carstensen
({6})
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Albert Deß
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({7})
Axel E. Fischer
({8})
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
({9})
Dr. Hans-Peter Friedrich ({10})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Georg Girisch
Michael Glos
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Horst Günther ({11})
Gottfried Haschke
({12})
Gerda Hasselfeldt
Norbert Hauser ({13})
Hansgeorg Hauser
({14})
Helmut Heiderich
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Peter Hintze
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Dr. Karl-Heinz Hornhues
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Irmgard Karwatzki
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Thomas Kossendey
Dr. Martina Krogmann
Dr.-Ing. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({15})
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({16})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({17})
Dr. Manfred Lischewski
Wolfgang Lohmann
({18})
Julius Louven
Dr. Michael Luther
Erwin Marschewski
({19})
({20})
Wolfgang Meckelburg
Friedrich Merz
Hans Michelbach
Dr. Gerd Müller
Bernward Müller ({21})
Elmar Müller ({22})
Bernd Neumann ({23})
Claudia Nolte
Günter Nooke
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Norbert Otto ({24})
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Thomas Rachel
Hans Raidel
Helmut Rauber
Christa Reichard ({25})
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Franz Romer
Hannelore Rönsch
({26})
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Adolf Roth ({27})
Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Karl-Heinz Scherhag
Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Dietmar Schlee
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({28})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({29})
Andreas Schmidt ({30})
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr
von Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt
Wolfgang Schulhoff
Diethard Schütze ({31})
Clemens Schwalbe
Wilhelm-Josef Sebastian
Horst Seehofer
Heinz Seiffert
Rudolf Seiters
Johannes Singhammer
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Carl-Dieter Spranger
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Matthäus Strebl
Thomas Strobl
Michael Stübgen
Gunnar Uldall
Arnold Vaatz
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Dr. Theodor Waigel
Peter Weiß ({32})
Gerald Weiß ({33})
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({34})
Hans-Otto Wilhelm ({35})
Klaus-Peter Willsch
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Aribert Wolf
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Matthias Berninger
Andrea Fischer ({36})
Rita Grießhaber
Werner Schulz ({37})
Margareta Wolf ({38})
F.D.P.
Hildebrecht Braun
({39})
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Horst Friedrich ({40})
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther ({41})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Walter Hirche
Birgit Homburger
Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Gudrun Kopp
Ina Lenke
Günther Friedrich Nolting
({42})
Cornelia Pieper
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Marita Sehn
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Dr. Guido Westerwelle
Nein
SPD
Brigitte Adler
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({43})
Klaus Barthel ({44})
Ingrid Becker-Inglau
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Lothar Binding ({45})
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Rainer Brinkmann ({46})
Bernhard Brinkmann
({47})
Hans-Günter Bruckmann
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({48})
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Rudolf Dreßler
Dieter Dzewas
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Annette Faße
Vizepräsidentin Petra Bläss
Gabriele Fograscher
Norbert Formanski
Hans Forster
Lilo Friedrich ({49})
Harald Friese
Anke Fuchs ({50})
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({51})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({52})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Walter Hoffmann
({53})
Frank Hofmann ({54})
Ingrid Holzhüter
Christel Humme
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Walter Kolbow
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({55})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Klaus Lennartz
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Erika Lotz
Dieter Maaß ({56})
Tobias Marhold
Lothar Mark
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer ({57})
Ursula Mogg
Michael Müller ({58})
Jutta Müller ({59})
Andrea Nahles
Volker Neumann ({60})
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann
Renate Rennebach
Bernd Reuter
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({61})
Birgit Roth ({62})
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer
({63})
Ulla Schmidt ({64})
Silvia Schmidt ({65})
Dagmar Schmidt ({66})
Wilhelm Schmidt ({67})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({68})
Carsten Schneider
Walter Schöler
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Brigitte Schulte ({69})
Reinhard Schultz
({70})
Volkmar Schultz ({71})
Ewald Schurer
Dr. R. Werner Schuster
Dietmar Schütz ({72})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Cornelie
Sonntag-Wolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({73})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({74})
Matthias Weisheit
({75})
Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Helmut Wieczorek
({76})
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese ({77})
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer ({78})
Engelbert Wistuba
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff ({79})
Uta Zapf
Peter Zumkley
CDU/CSU
Dr. Rita Süssmuth
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Gila Altmann ({80})
Marieluise Beck ({81})
Volker Beck ({82})
Annelie Buntenbach
Winfried Hermann
Kristin Heyne
Monika Knoche
Dr. Angelika Köster-Loßack
Steffi Lemke
Dr. Reinhard Loske
Kerstin Müller ({83})
Winfried Nachtwei
Claudia Roth ({84})
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({85})
Christian Sterzing
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Dr. Ludger Volmer
Sylvia Voß
F.D.P.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
PDS
Monika Balt
Maritta Böttcher
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Heidemarie Ehlert
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Klaus Grehn
Dr. Barbara Höll
Dr. Evelyn Kenzler
Dr. Heidi Knake-Werner
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Dr. Uwe-Jens Rössel
Gustav-Adolf Schur
Dr. Ilja Seifert
Enthalten
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Grietje Bettin
Dr. Thea Dückert
Hans-Josef Fell
Katrin Dagmar
Göring-Eckardt
Ulrike Höfken
Dr. Helmut Lippelt
Helmut Wilhelm ({86})
PDS
Sabine Jünger
Dr. Christa Luft
Christina Schenk
SPD
Marion Caspers-Merk
Rainer Fornahl
Günter Graf ({87})
Hans-Joachim Hacker
Manfred Hampel
Frank Hempel
Iris Hoffmann ({88})
Johannes Kahrs
Dirk Manzewski
Christian Müller ({89})
Dr. Rolf Niese
Albrecht Papenroth
Margot von Renesse
Reinhold Robbe
Gerhard Rübenkönig
Horst Schild
Dr. Gerald Thalheim
Dr. Konstanze Wegner
Hildegard Wester
Hanna Wolf Entschuldigt
Der Antrag ist abgelehnt.
({90})
Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 2 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Anweisung des Bundesministers Müller, die
Höhe des Briefportos bis Ende 2002 beizubehalten, obwohl die Regulierungsbehörde für
Telekommunikation und Post eine 15-prozentige Absenkung wollte
({91})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wenn diejenigen, die dem spannenden Thema, das jetzt kommt, unbedingt nicht folgen wollen, ihre
Gespräche draußen fortsetzen, können wir anfangen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Elmar Müller von der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr
Minister, jedermann weiß um Ihr Problem, dass Sie als
Quereinsteiger in der Politik keinerlei Hausmacht haben.
Ein Minister wie Herr Müller, der sich in den vergangenen
Tagen von den Gewerkschaften, von SPD-Abgeordneten
und von einigen in seinem Kabinett sozusagen vor sich
hertreiben ließ, hat, wie ich denke, jeden Anspruch verspielt, ein Wettbewerbsminister zu sein.
({0})
Viel schlimmer noch: Dieser Minister führt einen regelrechten Vernichtungsfeldzug gegen den Mittelstand und
gegen Wettbewerb in diesem Bereich der liberalisierten
Post.
({1})
Ein Minister, der ganz offensichtlich nicht einmal mit
den zuständigen Fachkollegen aus den Regierungsfraktionen spricht, bevor er seine Entscheidungen trifft, muss in
einer solchen Aktuellen Stunde auf das zurückgeführt werden, was er darf und was er soll. Ich denke, die Sprecherin
der Grünen, Frau Kollegin Michaele Hustedt, hat sich
richtig zu dieser Entscheidung geäußert, wenn sie sagt:
Wer will schon die Aktien von einem Unternehmen
kaufen, das scheinbar nicht alleine im Wettbewerb
bestehen kann und immer noch auf politische Einflussnahme setzt?
Recht hat sie, die Kollegin der Grünen. Dem ist im Grunde
genommen nichts hinzuzufügen.
Herr Minister, wenn Sie bei Ihrer Weisung gegen
niedrigere Verbraucherpreise, die Sie nach Gutsherrenart
getroffen haben, davon ausgehen, Abgeordnete in diesem
Hause hätten ihren Kopf nur zum Haareschneiden, dann
sollten Sie das bei denen vermuten, die heute in dieser Aktuellen Stunde Ihre Weisung kritiklos durch Nicken absegnen werden.
In den 60er-Jahren gab es einen Sponti-Spruch, der da
lautete: „Wo wir sind, herrscht Chaos, leider können wir
nicht überall sein.“ Ich glaube, was Sie in den letzten
Tagen an Schaden angerichtet haben, dämmert Ihnen, Herr
Minister, allmählich.
({2})
Ich will das an einigen Fakten aufzeigen.
Zunächst der Vorgang: Im April 1996 hat die Post neue
Tarife verlangt, über die wir uns im damaligen Regulierungsrat eineinhalb Jahre unterhalten haben, bis der
Minister vor Verabschiedung des Postgesetzes die GenehVizepräsidentin Petra Bläss
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen
des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU.
Adam, Ulrich Behrendt, Wolfgang Bühler ({3}), Klaus
CDU/CSU SPD CDU/CSU
Buwitt, Dankward Freitag, Dagmar Haack ({4}), Karl-Hermann
CDU/CSU SPD SPD
Hempelmann, Rolf Hornung, Siegfried Jäger, Renate
SPD CDU/CSU SPD
Dr. Kolb, Heinrich Leonhard Dr. Lucyga, Christine Maaß ({5}), Erich
F.D.P. SPD CDU/CSU
Michels, Meinolf Müller ({6}), Manfred Walter Neumann ({7}), Gerhard
CDU/CSU PDS SPD
Dr. Scheer, Hermann Schmitz ({8}), Hans Peter von Schmude, Michael
SPD CDU/CSU CDU/CSU
Siebert, Bernd Dr. Wodarg, Wolfgang Zierer, Benno
CDU/CSU SPD CDU/CSU
migung erteilt hat. Die Genehmigung der Portoerhöhung
wurde bis zum 30. August dieses Jahres befristet und mit
dem ausdrücklichen Hinweis darauf erteilt, dass die Post
in diesem begrenzten Zeitraum mehr Geld für Rationalisierungsmaßnahmen benötige.
Herr Minister, Sie haben im Juli des vergangenen Jahres
die Regulierungsbehörde aufgefordert, ein Entgeltüberprüfungsverfahren einzuleiten und Ermessensspielräume
auszuschöpfen, was wohl nichts anderes heißt, als sich um
Tarifsenkungen zu bemühen. Aber jetzt, wenige Tage,
bevor die Regulierungsbehörde ihre Untersuchung vorlegen wollte, haben Sie das Verfahren gestoppt, möglicherweise weil Sie glaubten, dass die Regulierungsbehörde zu der Empfehlung kommt, die Preise zu senken.
Anders kann man sich das nicht erklären.
Die Antwort haben Sie, Herr Minister, in dieser Woche
in einem Interview mit dem „Focus“ selbst gegeben: Jedes
Unternehmen, auch die Post, müsse für einen Börsengang
mit einem Mindestgewinn ausgestattet sein.
({9})
Das heißt: Es geht hier um noch höhere Gewinne; der Verbraucher spielt überhaupt keine Rolle. Ich denke, das ist
eines Ministers, der eigentlich die Interessen der Verbraucher im Auge haben sollte, wirklich unwürdig.
({10})
Das Chaos, das Sie, Herr Minister, innerhalb weniger
Tage durch diese Weisung und zwei Interviews angerichtet
haben, kann ich nur in Stichworten nachzeichnen.
Wenn Sie, wie behauptet, eine allgemeine Weisung und
keine Einzelweisung zum Briefporto gegeben haben, dann
haben wir ab dem 1. September ein nicht genehmigtes Porto. Dann hat jeder Postkunde ab dem 1. September das
Recht, das verlangte Porto vor dem Landgericht auf effiziente Leistungserbringung überprüfen zu lassen. Sollte
es aber doch eine Einzelweisung gewesen sein, was Sie
bisher bestreiten, dann haben Sie eindeutig rechtswidrig
gehandelt.
Auf alle Fälle haben Sie ein riesiges Haftungsproblem
auf die Bundesregierung und auf die Deutsche Post AG
geladen. Sie werden nicht umhin kommen, auf dieses Haftungsproblem im Börsenprospekt der Post AG hinzuweisen.
({11})
Herr Kollege, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit! Wir sind in der Aktuellen
Stunde.
Ja.
Herr Minister, diese Tatbestände haben dazu geführt,
dass das Beihilfeverfahren in Brüssel verlängert wird. Es
geht um unrechtmäßige Staatshilfen. Sie werden kaum
Gelegenheit haben, diesen Verdacht jetzt noch zu entkräften.
Wenn dies aber nur - was vermutet werden darf - das
Vorspiel zu einer Monopolverlängerung sein sollte, die Sie
ebenfalls bereits angekündigt haben, dann werden Sie,
Herr Minister, auf den geschlossenen Widerstand der
Unionsfraktion in Bundestag und Bundesrat treffen.
Herr Minister, nehmen Sie diese Weisung zurück und
lassen Sie die Regulierungsbehörde ihre Untersuchung zu
Ende führen! Dann reden wir über eine vernünftige
Entscheidung.
Vielen Dank.
({0})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich möchte noch einmal darauf hinweisen,
dass wir in der Aktuellen Stunde sind. Da beträgt die Redezeit fünf Minuten.
Jetzt hat die Kollegin Petra Bierwirth, SPD-Fraktion,
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU verspricht den Postkunden öffentlich eine gewaltige Entlastung beim Porto. Beim heutigen Zusatzpunkt der Tagesordnung reden Sie sogar von einer 15-prozentigen
Senkung des Entgeltes. Für Ihre Vertreter im Beirat der
Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post
darf es auch noch ein bisschen mehr sein.
Keine Frage: Damit ist Ihnen der öffentliche Applaus
sicher. Aber, verehrter Herr Kollege Müller, ich kann Ihnen hundertprozentig versichern, dass ich meinen Kopf
nicht nur zum Haareschneiden habe. Ich gestatte mir die
Frage an Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen, ob Sie
sich Schützenhilfe für den nordrhein-westfälischen Wahlkampf davon versprechen, dass Sie sich intellektuell an
Frau Feldbusch anlehnen,
({0})
nach dem Motto: Hier werden Sie geholfen.
({1})
Ihre ehemalige Regierung und Sie haben doch das Postgesetz verabschiedet, das der Deutschen PostAG politisch
gewollte Sonderlasten aufbürdet. Es kann doch wohl
schwerlich sein, dass die Post dann nicht auch die
notwendige Gegenleistung erhält, die sie zur Wahrnehmung dieser Aufgaben befähigt. Wenn Sie dem Postkunden Milliardenbeträge gutschreiben wollen, dann erklären
Sie uns bitte einmal, wie die Post ihre Sonderlasten finanzieren soll. Während Ihrer Regierungszeit haben Sie sich
doch für die Planungssicherheit der Post eingesetzt.
Ihre Kritik, die Weisung des Bundeswirtschaftsministers sei unzulässig, finde ich zudem schon arg bemüht. Sie waren doch diejenigen, die in der letzten Legislaturperiode dem Wirtschaftsminister dieses Weisungsrecht zugestanden haben.
Elmar Müller ({2})
({3})
Wenn Sie jetzt dagegen wettern, dass Minister Müller von
diesem Recht Gebrauch macht, ist dies eine sehr leicht zu
durchschauende Kampagne. Ganz offensichtlich ist Ihnen
in Ihrem Populismus der Gesamtzusammenhang etwas
aus dem Blickfeld geraten.
({4})
Deshalb möchte ich Ihnen gerne die Aspekte, die in die
Gestaltung des Briefportos der Deutschen Post AG einfließen müssen, noch einmal kurz in Erinnerung rufen: Die
Deutsche Post AG muss die Aufgaben ihrer Exklusivlizenz erfüllen. Dazu zählt unter anderem, ein Netz von
12 000 Filialen zu erhalten, und dazu zählen auch schnelle
Laufzeiten. Völlig unberücksichtigt bleibt bei Ihnen
Art. 87 f des Grundgesetzes, der die Deutsche Post AG zur
flächendeckenden Versorgung von der Hallig Hooge bis
auf die Zugspitze verpflichtet. Sie lassen den Erhalt
sozialer Standards, Sie lassen tariflich abgesicherte Arbeitsbedingungen, die Erwirtschaftung von Pensionsgeldern und die Versorgung des ländlichen Raumes völlig
außer Acht. Ich kann bei Ihrer Diskussion nicht erkennen,
wo die Mittel für den sozialverträglichen Personalabbau,
den die Vorbereitung auf den Wettbewerb fordert, vorkommen sollen. Weiterhin sind wir in der Pflicht, für eine
Übergangszeit den ehemaligen Monopolbetrieb in die
Lage zu versetzen, sich dem Wettbewerb mit reellen Chancen stellen zu können. Einem Wettbewerb nach der Rosinenpickereimethode zulasten der Post müssen wir vorbeugen.
Ich darf Sie zudem darauf hinweisen, dass der Postmarkt bis dato noch ein regulierter Markt ist. Somit ist es
auch legitim, wenn die Politik für Übergangszeiten klare
Rahmen setzt. Das ist aus meiner Sicht vor allem unter
dem Gesichtspunkt der derzeitigen unsicheren Entwicklung in Europa angebracht. In den EU-Staaten sind die
Märkte noch weitgehend geschlossen. Es ist somit nicht
nachvollziehbar, wenn nun einige Kräfte hier in Deutschland mit fadenscheinigen Argumenten einseitige Marktöffnungen zulasten der Deutschen Post AG betreiben
wollen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn
Sie öffentlich fordern, das Briefporto zu senken, dann erklären Sie bitte genauso öffentlich, welche Leistungseinbußen damit verknüpft sind, vor allem auch, wen es treffen wird.
({5})
Ich jedenfalls wüsste nicht, wie ich es begründen sollte,
wenn Briefe und Postkarten zwar etwas billiger würden,
aber ältere Menschen auf dem Land ihre Post nur noch einmal wöchentlich im Supermarkt empfangen könnten.
({6})
Das Wort hat nun die
Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Opposition hat ihre neoliberalen Backen mal wieder
ordentlich aufgeblasen.
({0})
Ich finde aber, dass wir diese Diskussion nicht so schwarzweiß führen sollten, wie wir sie begonnen haben und wie
Sie sie - wie ich es erwarte - auch weiter führen wollen.
({1})
- Wenn „neoliberal“ so platt verstanden wird, dass der
Markt das Ziel und nicht ein Instrument ist, dann ist es für
mich ein Schimpfwort.
({2})
- Das gehört auch nicht in den Deutschen Bundestag.
Herr Kollege, wir
wollen uns auch am späten Abend an die parlamentarischen Gepflogenheiten halten. Ich weiß nicht genau,
was man unter „gaga“ versteht; da müsste ich meine Enkelin fragen. Aber ich glaube, es gehört nicht zu unserem
Sprachgebrauch.
Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
Also: Wir sollten die Diskussion nicht so platt, sondern ein
bisschen differenzierter führen.
Der erste Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft den
Börsengang. Der Bund als Haupteigentümer der Post
steht in der Verantwortung, diesen Börsengang aufmerksam zu begleiten. Wir wollen, dass die Post einen ebenso
erfolgreichen Börsengang erlebt, wie es schon im Bereich
der Telekommunikation gelungen ist.
({0})
Nun ist der Bereich der Telekommunikation hipp; aus
meiner laienhaften Sicht sind die Aktien hier eher überbewertet.
({1})
Der Börsengang der Telekom war zwar schwer, weil es ein
neues Feld war, aber im Vergleich zum Börsengang der
Post wesentlich einfacher. Die Post wird es schwerer
haben, weil sie nicht in diesem modernen Bereich tätig ist.
Deswegen ist der Börsengang, für den wir und der
Wirtschaftsminister eine Mitverantwortung tragen, sehr
aufmerksam zu begleiten. Die Post ist zu stärken und nicht
zu schwächen.
({2})
Ich habe gesagt - dazu stehe ich auch -, dass zu einem
gelungenen Börsengang gehört, dass die Post so schnell
wie möglich nachweisen muss, dass sie tatsächlich fit für
den Wettbewerb ist.
({3})
Dies ist die eine Seite. Auf der anderen Seite aber ist es für
den Börsengang auch nicht ganz unwichtig, ob 1,5 Milliarden DM mehr oder weniger im Säckel sind. Dies gehört
zu einer differenzierten Beurteilung, wenn man über die
Börsenfähigkeit spricht.
Der zweite Punkt. Ich kann Ihrer Schwarz-WeißMalerei im Hinblick auf die Verbraucherfreundlichkeit
nicht folgen. Sicher ist es für die Verbraucher schöner,
wenn das Briefporto sinkt. Aber für die Verbraucher ist es
auch nicht schön, wenn sie zur nächsten Postdienststelle
bis in die nächste Stadt fahren müssen bzw. wenn der
nächste Briefkasten gerade für eher unbewegliche Leute
quasi nicht mehr erreichbar ist.
({4})
Das heißt, wir müssen hier eine Abwägung treffen. Es
darf nicht sein, dass die Liberalisierung in diesem Bereich
dazu führt, dass nur noch in Städten eine funktionierende
Post vorhanden ist und dass die Menschen auf dem Land
ohne Postdienstleistungen leben müssen.
({5})
Gerade für diejenigen, die nicht mithilfe der modernen
Medien kommunizieren können und die sich noch nicht
auf das Internet eingestellt haben, ist die Post nach wie vor
ein sehr wichtiges Medium. Darauf müssen wir bei der
Liberalisierung achten.
({6})
Ein dritter Bereich, bei dem ich ebenfalls der Meinung
bin, dass wir nicht schwarz-weiß diskutieren sollten, betrifft die Frage der Liberalisierung und die parallele Entwicklung zur EU. Bei der Liberalisierung im Bereich des
Strommarktes in Deutschland - ich habe sie immer begrüßt, und ich möchte sie auch für die Post so schnell wie
möglich - ist folgender Effekt eingetreten: Frankreich hat
seinen Strommarkt nicht liberalisiert. Die ehemalige
Regierung hat auf europäischer Ebene nicht durchgesetzt,
dass der französische Strommarkt ähnlich schnell liberalisiert wird wie der deutsche. Deshalb wurde zum Schutz
vor einer ungleichen Öffnung der Märkte eine Reziprozitätsklausel eingearbeitet. Das Ergebnis war, dass sich die
EDF vor dem Hintergrund von Monopolgewinnen in
deutsche Unternehmen eingekauft und damit jede Reziprozitätsklausel unterlaufen hat.
({7})
EDF selbst wird von den französischen Steuerzahlern
hoch subventioniert und kann daher auf dem deutschen
Markt mit Dumpingpreisen agieren.
Dies ist nicht der richtige Weg; so sollten wir in Europa
nicht miteinander umgehen. Ich kann nur sagen: Ich unterstütze Wirtschaftsminister Müller mit aller Kraft, damit
wir den Fehler, den Sie bezüglich der Liberalisierung des
Strommarktes gemacht haben, nicht bei der Liberalisierung des Postmarktes wiederholen.
({8})
Vielmehr muss in Europa eine gleichmäßige Liberalisierung erfolgen. Die anderen Länder sollen gefälligst
mitziehen, damit nicht wir die Lasten der anderen Länder
zu tragen haben.
({9})
Kehren Sie von der platten Polemik zu einer differenzierten Auseinandersetzung zurück! Ich kann nur sagen:
Wer die Geister ruft, kann sie manchmal nicht mehr einfangen. Am Beispiel Ihres Fraktionsvorsitzenden konnten
Sie dies sehen. Als er versucht hat, die Rentendebatte etwas differenzierter zu führen,
({10})
ist ihm genau diese platte Polemik entgegengeschallt. Sie
haben sich in der Opposition, sei es in den Debatten zur
Ökosteuer, sei es in Debatten zu anderen Bereichen, relativ stark eingenistet. Die dümmsten Sprüche waren Ihnen
gut genug.
({11})
- Die Gaga-Sprüche waren Ihnen gut genug. - Ich hoffe,
dass Sie diesen Kurs verlassen und dass wir in diesem Parlament nicht nur in der Postdebatte, sondern insgesamt zu
einer sachlichen und differenzierteren Auseinandersetzung zurückkehren.
Vielen Dank.
({12}) - Zurufe von
der CDU/CSU: Das würden wir uns auch wün-
schen!)
Jetzt hat der Kollege
Rainer Funke, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Anweisung von Bundeswirtschaftsminister Müller an die Regulierungsbehörde für
Telekommunikation und Post ist in meinen Augen aus
vielerlei Gründen weder zweckmäßig noch durchdacht.
({0})
Man kann sicherlich darüber streiten, ob überhaupt eine
Anweisung rechtlich zulässig ist; denn nach unserem
Postgesetz ist zumindest eine Einzelanweisung an die Behörde nicht zulässig.
({1})
Auch eine Allgemeinverfügung oder eine allgemeine Anweisung zur Auslegung des Postgesetzes - wie Sie das
verstanden haben - ist dann unzulässig, wenn sie in der
Rechtsform der allgemeinen Anweisung erfolgt, aber dem
Inhalt nach eine Einzelanweisung ist. Dies ist hier
geschehen.
({2})
Wenn man einmal von der Rechtsfrage absieht, handelt
es sich bei dieser Anweisung um einen ordnungspolitischen Sündenfall.
({3})
Es ist nicht nur so, dass bei der Abfassung des Postgesetzes alle Parteien der Regulierungsbehörde einen großen
Bewegungsspielraum für die Ordnung des Wettbewerbs
einräumen wollten und eben nicht die politische Entscheidung des Bundeswirtschaftsministers zur Regulierung des
Marktes angestrebt haben. Die Anweisung ist auch in
sonstiger wettbewerbsrechtlicher oder - besser gesagt kartellrechtlicher Hinsicht bedenklich; denn jetzt kann
sich im Grunde jedes Unternehmen, das vom GWB bzw.
vom Kartellamt betroffen ist, darauf berufen, dass der
Minister schon bei der Frage einer schlichten Portoerhöhung von seiner politischen Weisung Gebrauch gemacht hat. Das kann von uns ordnungspolitisch weder
nach dem Postgesetz noch nach dem Kartellrecht gewollt
sein.
({4})
Die Entscheidung des Wirtschaftsministers ist aber
auch unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten falsch.
Zu Recht hat der Bundespostminister 1997 die Befristung
der Portoerhöhung vorgesehen; die Kostenstruktur der
Briefpost und auch der Paketpost sollte nach gut vier
Jahren überprüft werden. Ich darf in Erinnerung rufen,
dass die Zahlen, die die Post 1996 zur Begründung der
Portoerhöhung vorgelegt hatte, schlicht nicht der Wahrheit
entsprachen oder so wenig schlüssig waren, dass man
damit nichts anfangen konnte. Deswegen hat das Bundeskartellamt diese Zahlen gerügt. Das hat übrigens auch
der Bundespostminister getan.
({5})
Wir haben die Post AG damals über 17 Monate hinweg
vertrösten müssen, weil sie keine ordnungsgemäßen
Zahlen vorgelegt hat. Und jetzt verhindert der Bundeswirtschaftsminister eine Überprüfung dieser Kostenstruktur zulasten der Verbraucher. Dies halte ich für den
eigentlichen Skandal.
({6})
Statt auf eine Wettbewerbsfähigkeit der Post hinzuarbeiten, wird unter vordergründigen Gesichtspunkten Frau Hustedt hat es erwähnt -, nämlich die Post für den
Börsengang herauszuschmücken, die Post zumindest
langfristig nicht wettbewerbsfähiger; die Post AG kann im
alten Trott weitermachen. Das ist aber für den Wettbewerb
gefährlich.
Wir haben der Post AG das Briefpostmonopol bis zum
31. Dezember 2002 gegen vielerlei Bedenken - auch
unsererseits - gewährt. Mit der Beibehaltung der hohen
Briefgebühren wird die Post nicht wettbewerbsfähiger.
Schon heute liegt sie mit dem Entgelt für diese Dienstleistung weltweit an der Spitze.
({7})
Es wird Zeit, dass auch hier Wettbewerb herrscht, um diese
überhöhten Gebühren zu beseitigen. Dann hilft auch kein
Wort des Ministers mehr, dann entscheidet der Markt über
den Preis. Das ist nicht neoliberal, sondern das ist das, was
wir unter sozialer Marktwirtschaft verstehen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({8})
Ich erteile jetzt dem
Kollegen Gerhard Jüttemann, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Scheinheiligkeit dieser Briefportodebatte lässt sich kaum überbieten. Ausgerechnet die
CDU/CSU versucht hier, unter der Fahne der Interessenvertretung der Bevölkerung eine Lanze für die Senkung
von Verbraucherpreisen zu brechen.
({0})
Aber Sie haben doch die Privatisierung der Post gewollt
und vorangetrieben, die 1998 zur Portoerhöhung geführt
hat,
({1})
und zwar deshalb, weil die Deutsche Post AG nun unter
Konkurrenzbedingungen Profit zu erwirtschaften hat.
({2})
Warum diese Portoerhöhung stattgefunden hat und
jetzt eine Absenkung nicht mehr möglich sein soll, hat
Herr Bundeswirtschaftsminister Müller plausibel im
„Tagesspiegel“ erklärt: Der Börsengang der Deutschen
Post AG darf nicht gefährdet werden.
Vor der Privatisierung, als die Post noch eine Behörde
war, ging es darum, flächendeckend Postdienstleistungen
zur Verfügung zu stellen. Das taten über 360 000 in tarifvertraglichen Beschäftigungsverhältnissen arbeitende
staatliche Postler denn auch und es gab dafür fast 30 000
Postfilialen. Heute geht es darum schon lange nicht mehr;
heute geht es um die Verwertung des Wertes. Nicht profitable Dienstleistungen werden einfach nicht mehr erbracht, und zwar unabhängig von der Nachfrage. Deshalb
ist über die Hälfte der damaligen 30 000 Postfilialen
geschlossen worden.
Aus den gleichen Gründen wird ein immer größer werdender Anteil an Postdienstleistungen nicht mehr von tarifvertraglich abgesicherten Postlern, sondern von „Turnschuhbrigaden“, wie der Vorsitzende der Deutschen Postgewerkschaft, Kurt van Haaren, die Leute in prekären
Beschäftigungsverhältnissen einmal genannt hat, erbracht.
Wie weit dieser Prozess des Niveauabbaus in den
Normalarbeitsverhältnissen schon vorangeschritten ist,
weiß die Bundesregierung nicht. In ihrer mit kabarettistischem Talent formulierten Antwort auf eine diesbezügliche Kleine Anfrage teilte sie mit, Informationen und
Beschwerden von Betroffenen über sich verschlechternde
soziale Standards lägen der Bundesregierung nicht vor.
Gute Pointe! Aber vielleicht unterhalten Sie sich einmal
mit der Deutschen Postgewerkschaft.
({3})
Nach einer Untersuchung der Bezirksverwaltung
Berlin-Brandenburg sind allein im ersten Quartal 1999 in
den Postniederlassungen Berlin-Zentrum, Berlin-Südwest, Berlin-Südost, Berlin-Nord und Cottbus sowie in
den Frachtpostniederlassungen Börnicke und Rüdersdorf
insgesamt 14 701 Abrufkräfte in den Bereichen der Briefund Frachtverteilung als Kraftfahrer oder als Brief- und
Frachtzusteller eingesetzt worden. Das ist Tagelöhnerarbeit.
In den Konkurrenzbetrieben wird sowieso überwiegend
in prekären Beschäftigungsverhältnissen gearbeitet, obwohl die Bundesregierung merkwürdigerweise auch
darüber nichts weiß. Die Antwort auf die Kleine Anfrage
nach der Zahl der bei den Postkonkurrenten tätigen
Beschäftigten, die über einen tarifgebundenen Arbeitsplatz verfügen, lautet: Darüber liegen der Bundesregierung keine Informationen vor. - Vielleicht verschaffen Sie sich einmal die nötigen Informationen, damit Sie
wissen, welche Folgen die Postliberalisierung eigentlich
hat und damit Sie solche negativen Folgen endlich verhindern können - es sei denn, Sie wollen sie gar nicht verhindern.
Eine andere dieser negativen Folgen hat Herr Bundesminister Müller dem „Tagesspiegel“ auch verraten: dass
nämlich das Ende des Briefmonopols zu Preisunterschieden bei der Briefbeförderung im ländlichen Raum
und in Ballungsgebieten führen wird. Seit 1995 wurde
diese logische Folge von den jeweiligen Regierungsparteien im Ausschuss für Post und Telekommunikation
standhaft geleugnet, jetzt aber, da wir kurz vor dieser
Entwicklung stehen, plötzlich nicht mehr. Interessanterweise wird sie auch gar nicht mehr negativ bewertet.
Negativ finden Sie nur, dass die Post die Portopreise
nicht absenkt - aber nicht wegen der Belastung der
Bevölkerung - damit haben Sie auch sonst keine Probleme -, sondern weil der ganze Prozess der Liberalisierung mit einer solchen Portoabsenkung wegen des
höheren Konkurrenzdruckes auf die Deutsche Post AG
beschleunigt werden könnte. Ziel bleibt, das Profitprinzip
im Postbereich konsequent mit allen eben beschriebenen
katastrophalen Folgen für Beschäftigte und Kleinkunden
durchzusetzen. Das will die eine Seite wie die andere des
Hauses und deshalb nenne ich diese Debatte scheinheilig.
Herr Müller, wenn Sie die Entwicklung in Europa
betrachten, werden Sie mit Sicherheit feststellen, dass die
Franzosen diesen Weg nicht gehen. Ich war selbst bei
Gesprächen dabei, in denen man wegen der Erfahrungen
in Deutschland gesagt hat, man könne dies bei einem in der
Fläche tätigen und Arbeitsplätze sichernden Unternehmen
nicht mitmachen. Daher sollten Sie Ihre Entscheidungen
noch einmal überdenken. Den ersten Schritt hierzu haben
Sie in diesen Tagen getan.
Ich danke vielmals.
({4})
Jetzt hat der Bundesminister Werner Müller das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Gestatten Sie zunächst einige wenige Worte zur Gestaltung des postpolitischen Rahmens, so wie ich mir das vorstelle. Damit kein Zweifel aufkommt: Grundsätzlich
wollen wir Ende 2002 die Post und diesen Markt vollständig liberalisieren. - Dies aus guten Gründen:
({0})
Wir wollen Preiswettbewerb, wir wollen Unternehmensgründungen und wir wollen das Innovationspotenzial im
Logistikbereich heben.
({1})
Allerdings habe ich bei diesem grundsätzlichen „Wollen“
dann Bauchschmerzen, wenn wir von den wichtigen
EU-Ländern ziemlich die einzigen sind, die diesen Schritt
gehen. Deswegen sage ich in aller Deutlichkeit: Wir werden - aus guten Gründen - sehr darauf achten, im
EU-Geleitzug vorwärts zu gehen.
({2})
Damit es kein Vertun gibt: Wir streben die Liberalisierung unverändert an. Nur muss man wissen, was Liberalisierung überhaupt ist. Ich kann Ihnen die Unkenntnis darüber an einem Negativbeispiel - an der Reaktion
einer Ihrer Sprecherinnen, Frau Wöhrl, in diesen Tagen in
einer Presseerklärung - deutlich machen: Sie fordert mich
auf, dafür zu sorgen, dass der Postmarkt umgehend liberalisiert wird, dass aber gleichzeitig der ländliche Raum
nicht vernachlässigt wird und dass im ländlichen Raum
dieselben Tarife gelten wie im städtischen Raum.
({3})
Diese Äußerung ist ein klassisches Eigentor. Daran sieht
man: Sie wissen nicht, was Liberalisierung heißt. Denn
Liberalisierung heißt nun einmal, dass sich Preise gemäß
der Kosten gestalten und Filialen nur dort unterhalten werden, wo sie sich rechnen.
({4})
Unter der Annahme, dass Filialen nur dort erhalten
bleiben, wo sie sich rechnen, habe ich im letzten Sommer
mit der Post Gespräche begonnen. Dort habe ich deutlich
gemacht, dass ich nicht möchte, dass das Filialnetz ausgedünnt wird und dass die Zahl der Briefkästen reduziert
wird. Wir haben - ich glaube, sogar mit Ihrer Zustimmung - in einer Verordnung festgelegt, dass die Post bis
zum Ende des Monopols 12 000 Filialen unterhalten muss
und dass sie weiterhin garantiert, dass jeder in einem gut
bebauten Gebiet zum nächsten Briefkasten nicht mehr als
1 000 Meter gehen muss. Das kostet nun einmal etwas. Die
Zusicherung der Politik, der Post diese Kosten zu erstatten, steht seit Juni letzten Jahres im Raum.
Ich komme nun zum Ausgangspunkt der heutigen Aktuellen Stunde. Der ehemalige Postminister hat das derzeit
geltende Briefporto bis zum 31. August 2000 genehmigt.
Wir führen heute eine Debatte um den Weiterbestand
dieser Genehmigung. Ich darf daran erinnern: Herr Bötsch
hatte das geltende Briefporto zu einem Zeitpunkt
genehmigt, als das neue Postgesetz, das den gesamten
Sektor auf eine neue ordnungspolitische Grundlage
gestellt hat, noch heftig umstritten war. Diesen zeitlichen
Zusammenhang herauszustellen ist wichtig; denn es besteht eine innere Verbindung zwischen der Geltungsdauer
der Exklusivlizenz der Deutschen Post AG und der
Laufzeit bestehender Genehmigungen, auf die im Postgesetz ausdrücklich Bezug genommen wird.
Sie sehen: Entgegen Ihren Einlassungen hier und in
Gazetten haben wir die Zulässigkeit und Begründbarkeit
der vor einigen Tagen erteilten allgemeinen Weisung
rechtlich sehr wohl geprüft und für zulässig befunden. Zu
diesem Ergebnis kommen übrigens auch namhafte Verwaltungsjuristen.
({5})
Weil ich Herrn Bötsch hier sitzen sehe, will ich Folgendes ergänzen. Unlängst, nämlich am 4. Februar 2000,
also vor rund zwei Monaten, hat Herr Bötsch auf dem Petersberg bei Bonn im Rahmen der Vorstellung eines Kommentars zum Postgesetz öffentlich geäußert, dass er die
Genehmigung für das Briefporto damals schon bis Ende
2002, also bis zum Ende der Exklusivlizenz, erteilt hätte,
wenn zu diesem Zeitpunkt deren Laufzeit schon festgestanden hätte. Ich habe also nichts anderes gemacht als
das, was Herr Bötsch dieser Tage öffentlich als den
vernünftigsten Schritt bezeichnet hat.
({6})
Sicherlich ist es wünschenswert, für die Verbraucher
Tarifsenkungen durchzusetzen. Zumindest ist es populär,
was sich letzten Montag gezeigt hat, als der Beirat bei der
Regulierungsbehörde diese Forderung erhoben hat. Die
Bundesregierung steht jedoch auch in der Verantwortung,
den begonnenen Privatisierungsprozess der Deutschen
Post AG erfolgreich fortzuführen. Wenn dies auch in
einem möglicherweise labileren Börsenumfeld gelingt,
kann der Bund die mit der Privatisierung der ehemaligen
Deutschen Bundespost übernommenen Lasten fiskalisch
besser schultern. Ich sage Ihnen vor diesem Hintergrund:
Ich folge ausdrücklich nicht Ihrer hier geäußerten
Empfehlung, wir sollten die Post erst gewinnlos machen
und dann an die Börse bringen.
({7})
Zwischen allen maßgeblichen Fraktionen des Deutschen Bundestages bestand in den letzten zehn Jahren
grundsätzlich Einigkeit in Bezug auf den Kurs der Privatisierung und Liberalisierung in den Bereichen Post und
Telekommunikation.
({8})
Auf diesem Weg wollen wir einen weiteren Schritt gehen.
Die letzte Phase des Privatisierungsprozesses der
Deutschen Post AG beginnt mit ihrem Börsengang im
kommenden Herbst.
Vor diesem Hintergrund brachte die Deutsche Post AG
eine Portoerhöhung ins Gespräch.
({9})
Die Bundesregierung hat eine Anhebung der Tarife abgelehnt, um eine zusätzliche Belastung von Bürgern und
Wirtschaft zu vermeiden. Ich habe stattdessen von einem
gesetzlichen eindeutig formulierten Weisungsrecht Gebrauch gemacht und klargestellt, dass bereits erteilte
Genehmigungen bis Ende 2002 wirksam sind. Damit habe
ich nicht, wie der Beirat bei der Regulierungsbehörde
meint, in unzulässiger Weise in die alleinige Zuständigkeit
der Regulierungsbehörde eingegriffen. Insoweit geht im
Übrigen die Forderung des Beirates nach Rücknahme der
Weisung völlig ins Leere.
Mit dieser Weisung wurden weder die Verfahren zur
Entgeltregulierung außer Kraft gesetzt noch die Unabhängigkeit der Behörde bei Beschlusskammerverfahren
infrage gestellt,
({10})
da das unabhängig durchzuführende Beschlusskammerverfahren erst mit der Vorlage eines Tarifantrages beginnt. Ein solcher Tarifantrag liegt aber überhaupt nicht
vor. Die vorgetragenen Behauptungen sind deshalb nur
reine Unterstellungen.
({11})
Ich muss mich deshalb auch fragen, woher Sie wissen,
dass eine 15-prozentige Portosenkung überhaupt zur
Diskussion gestanden hätte. Warum haben Sie nicht
30 Prozent genannt bzw. eine 10-prozentige Erhöhung ins
Spiel gebracht?
({12})
Das weiß kein Mensch, weil ja noch kein Antrag zur Bearbeitung vorliegt. Nach geltendem Postgesetz laufen die
bestehenden Genehmigungen Ende 2002 endgültig aus,
sodass die Regulierungsbehörde für Telekommunikation
und Post dann einen neuen Tarifantrag der Deutschen Post
AG förmlich nach dem im Postgesetz vorgesehenen Verfahren der Entgeltregulierung zu genehmigen hat.
Wenn ich Ihnen nun für Ihre Aufmerksamkeit danke,
danke ich Ihnen insbesondere für Ihre Sorge, ich hätte
keine Hausmacht. Ich darf Ihnen wirklich sagen: Diese
Sorge um meine Hausmacht ist ebenso unbegründet wie
Ihre Sorge, ich hätte in irgendeiner Weise falsch gehandelt.
({13})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dr. Martin Mayer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte, Herr
Bundesminister Müller, von all dem, was Sie gesagt
haben, nur ein Argument in besonderer Weise herausgreifen. Die Kollegen werden auf die rechtlichen Aspekte
noch eingehen.
Sie haben hier gesagt, dass die Liberalisierung in der
Europäischen Union im Gleichschritt erfolgen müsse und
dass man keinen Schritt voraus machen dürfe. Sie haben
dabei als Beispiel den Strommarkt angeführt. Ich empfehle
Ihnen, sich einmal den Telekommunikationsmarkt anzuschauen. Diejenigen, die in der Liberalisierung etwas
schneller waren, haben letztlich diese Märkte erobert und
etwas für ihr Land getan. Ich glaube, das muss in diesem
Zusammenhang gesehen werden.
({0})
Ich möchte an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grüne sagen: Wenn Sie hier davon
sprechen, dass man Sonderlasten der Post berücksichtigen
müsse, dann begrüße ich das. Aber Sie unterstellen mit
Ihrer Argumentation, die Regulierungsbehörde hätte diese
Sonderlasten nicht objektiv einbezogen, sodass es notwendig sei, dieser Regulierungsbehörde eine Weisung zu
erteilen, um sie auf den rechten Weg zu führen. Das ist das
Falsche an dieser Weisung.
({1})
Die Weisung des Bundeswirtschaftsministers, die Höhe
des Briefportos für weitere zwei Jahre und vier Monate zu
zementieren, ist rechtlich fragwürdig und schadet dem
Verbraucher. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass
das Briefporto um 15 Prozent überhöht ist. Die Belastung
des Verbrauchers ergibt sich nicht nur aus dem Wert der
Briefmarken, die er auf seine Briefe klebt, sondern auch
daraus, dass ihm die Bank bei der Zusendung eines Kontoauszuges die Portokosten anrechnet und dass er in vielen Bereichen als Kunde das Porto für die Zusendung etwa im Dienstleistungsbereich - bezahlen muss.
({2})
Wenn man das alles zusammenrechnet, kommen bei
einem Vierpersonenhaushalt in Deutschland jährliche Portokosten in einer Höhe von rund 700 DM heraus.
({3})
Wenn diese um 15 Prozent erhöht werden, sind das
rund 100 DM. Das ist für eine vierköpfige Familie ein nennenswerter Betrag. Das spürt man im Geldbeutel.
Unabhängig davon ist die Weigerung zur Senkung der
Portokosten ein völlig falsches Signal. Es macht deutlich,
dass der parteilose Minister Müller dem sozialistischen
Prinzip erlegen ist, im Zweifelsfall dem Bürger mehr Geld
aus der Tasche zu ziehen.
({4})
Es wird auch insofern ein falsches Signal gesetzt, dass
die Anweisung des Ministers das Monopol festigt statt abbaut, was dringend erforderlich wäre. Ich will noch einmal
sagen: Die Entwicklung im Postbereich verläuft ähnlich
wie im Telekommunikationsbereich. Durch Liberalisierung und Abbau von Monopolen werden Wettbewerb
und Entwicklungen mit vielen neuen Diensten und Arbeitsplätzen ermöglicht. Deshalb ist es notwendig, dass die
Monopolstellung planmäßig abgebaut wird. Die Bundesregierung tut es aber nicht.
Beim Abbau des Telekom-Monopols im Ortsnetz hat
sich die Bundesregierung bisher immer geweigert, einzugreifen. Sie hat formale Gründe vorgeschoben. Jetzt, wo
es darum geht, das Monopol im Postbereich zu verfestigen, schiebt sie alle Bedenken beiseite und kommt mit
dem Hammer einer ministeriellen Weisung. Ich finde diese
Haltung der Bundesregierung sehr zwiespältig.
Die Erfolge, die die Liberalisierung im Telekommunikationsbereich gebracht hat, werden auch im Postbereich eintreten. Deswegen, Herr Minister, fordere ich Sie
im Interesse der Nation, im Interesse der Verbraucher auf:
Nehmen Sie diese missglückte Weisung zurück.
({5})
Sie nehmen damit auch den Schaden zurück, den Sie
dem Ansehen der Regulierungsbehörde zugefügt haben.
Nehmen Sie diese missglückte Weisung zurück.
({6})
Bevor ich der Kollegin Antje Hermenau das Wort erteile, möchte ich darauf
hinweisen, dass es um die Anweisung des Bundesministers Müller geht, die Höhe des Briefportos bis 2002
beizubehalten, obwohl die Regulierungsbehörde für
Telekommunikation und Post eine 15-prozentige Absenkung wollte. Darüber diskutieren wir hier. Das ist Ihnen allen bewusst.
({0})
Als Nächste hat die Kollegin Antje Hermenau das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Frage
ist: Wer scharrt im Wettbewerb eigentlich mit den Hufen?
Sie haben das so schön ausgeschmückt und mit der
Telekommunikation verglichen. Wenn wir uns einmal in
der deutschen Landschaft umschauen, so stellen wir fest,
dass 0,2 Prozent private Postanbieter mit den Hufen scharren. Das kann man wohl vernachlässigen. Wenn wir uns
einmal an das europäische Ausland wenden, so stellen wir
fest, dass dort große Unternehmen schon darauf warten,
die Briefbeförderung in Deutschland zu übernehmen. Ich
erlaube mir dann allerdings die Frage, ob das im Moment
unser Wünschen und Wollen sein kann. Das müssen Sie
zulassen.
Sie führen die Rede vom Wettbewerb, sie führen die
Rede von der Kundenfreundlichkeit. Es kann kundenfreundlich sein, den Brief einen Groschen billiger zu
machen. Es kann sogar kundenfreundlich sein, ihn
15 Pfennig billiger zu machen. Es kann allerdings auch
kundenfreundlich sein, ein dichtes Filialnetz zu erhalten.
Wer ist heute noch der typische Briefschreiber? Ich zum
Beispiel faxe die meisten Briefe. Die ältere Dame beispielsweise hätte gerne noch in der Nähe eine Postfiliale,
weil sie das Faxgerät nicht bedient. Ich aber nehme gern
das Faxgerät. Noch jüngere Leute machen das inzwischen
von Handy zu Handy, wie Sie wissen. Wenn wir das so besprechen, glaube ich, dass es der älteren Dame lieber wäre,
einen Groschen mehr zu bezahlen, dafür aber die postalische Infrastruktur in der Nähe zu haben.
({0})
Wenn ich mir einmal vor Augen führe, was in den
letzten Tagen passiert ist - wir haben am Montag im Beirat
der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und
Post zusammengesessen -, dann komme ich zu dem
Schluss, dass es ein Kompetenzgerangel gibt.
Der eine fühlt sich vom anderen auf den Schlips getreten.
Das gilt inzwischen für beide Seiten, wie ich den Redebeiträgen entnehmen konnte.
Vielleicht war es ein ungünstiger Zeitpunkt und nicht
ganz klug, sich bereits im Januar einzumischen, als die
Regulierungsbehörde darüber nachdachte, noch einmal
ein Price-cut-Verfahren durchzuführen. Andererseits
haben Sie mit dem Chef der Regulierungsbehörde
gesprochen - das muss man auch dazu sagen. Deshalb
finde ich, dass die Empörung über die Entscheidung des
Ministers, die jetzt von der Mehrheit in der Regulierungsbehörde an den Tag gelegt wurde, nicht dem entspricht,
was wir erlebt haben: Der Minister hat nämlich ein ihm
zustehendes Recht wahrgenommen.
({1})
Dass wir uns natürlich auf den Schlips getreten fühlen,
weil wir alle einmal im Monat dafür einen Montag opfern,
ist eine andere Geschichte. Dieses hat aber nichts mit
Recht und Ordnung in diesem Lande zu tun.
Vor diesem Hintergrund denke ich, dass die ganze
Debatte ein wenig zu sehr aufgebauscht wurde. Das ist mit
vielen Aktuellen Stunden so und wird von vielen Fraktionen gerne so gemacht. Ich persönlich halte das Ganze für
Wahlkampfgeplänkel.
Schönen Dank.
({2})
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Renate Blank, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Minister, ich betrachte Ihre
Anweisung an die Behörde als einen Eingriff in eine unabhängige - ich betone: unabhängige - Regulierungsbehörde. Wir haben ja damals im Postgesetz parteiübergreifend festgelegt, dass eine unabhängige Regulierungsbehörde gegründet wird, die selbstständig Entscheidungen
treffen kann. Wir haben dieses parteiübergreifend so
gewollt. Man kann vielleicht die Meinung vertreten, dass
das ein Grenzfall ist. Ich bin nicht dieser Meinung, Herr
Minister. Ich bin vielmehr der Meinung, dass Sie mit Ihrer
Anweisung an die Regulierungsbehörde dem Ansehen
ihrer Unabhängigkeit Schaden zugefügt haben.
({0})
Schaden ist auch für die Postpolitik entstanden. Ich
hoffe nicht, dass Sie mit Ihrer Anweisung die Grundsätze
unserer bis 1998 im Einvernehmen betriebenen Postpolitik unter anderem in Bezug auf Wettbewerbssituation,
Universaldienstleistung und Börsengang verlassen bzw.
die Liberalisierung verzögern wollen.
Was ist eigentlich mit dem ganzen Theater erreicht
worden?
Die Post hat erreicht, was sie wollte, nämlich keine
Senkung der Portogebühren. Die Post hat weiterhin viel
Geld, um ihre Position auf dem Weltmarkt zu behaupten.
Ihre Werbung als Global Player ist ja recht attraktiv; sie
stellt sich als ein sehr großes Unternehmen dar.
Der Verbraucher ist der Dumme, weil er auf niedrigere
Portogebühren verzichten muss und ihm sogar suggeriert
wird, dass er zufrieden sein kann, dass keine Portoerhöhung kommt. Er soll sogar begeistert sein, dass der
Minister eingegriffen hat.
Alle Firmen, die hohe Portokosten haben, sind die Verlierer;
({1})
denn sie müssen im internationalen Wettbewerb, dem die
meisten ausgesetzt sind, einen weiteren gravierenden
Nachteil hinnehmen.
Herr Minister, Sie haben in den Wettbewerb zulasten
der Verbraucher eingegriffen. Sie haben aus meiner Sicht
zwar einen leichten politischen Sieg erzielt, dem Wettbewerb und den Verbrauchern, insbesondere dem Mittelstand, aber sehr schwer geschadet.
({2})
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Eike Hovermann, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ohne auf das außerordentlich wichtige Argument von Herrn Müller einzugeAntje Hermenau
hen, dass manche Abgeordnete ihren Kopf nur zum
Haareschneiden haben, was uns beide aufgrund unserer
Frisur außerordentlich betreffen würde, will ich versuchen, ohne Emotionen auf zwei klar umschreibbaren
Ebenen auf die Fragen, die sich damit verbinden, einzugehen:
Erstens. Die juristische Ebene betrifft die Frage, ob der
Bundesminister für Wirtschaft mit seiner Weisung an die
Regulierungsbehörde in unzulässiger Weise in deren
Zuständigkeit für die Genehmigung von Entgelten eingegriffen hat. Das wurde von Ihnen thematisiert.
Zweitens ging es unabhängig von dieser juristischen
Betrachtung um die Frage, ob die Deutsche Post AG aufgrund ihrer Ertragslage zu veranlassen ist, ihre Entgelte
kundenfreundlich zu senken. Dies muss natürlich unter
Berücksichtigung des anstehenden Börsengangs und etwa
der Frage geschehen, ob durch das Beibehalten der Porti
nicht ein unangemessener Wettbewerbsvorteil gegenüber
den neu eintretenden Mitbewerbern zu konstatieren sei.
({0})
- Effiziente Leistungsbereitstellung, so ist es.
Im Rahmen der Diskussion dieser Fragen warfen Sie
dann dem Bundeswirtschaftsminister eine Inszenierung
mit fadenscheinigen rechtlichen Argumenten vor und
sprachen von diesem berühmten Schlag - auch Frau Blank
erwähnte es, glaube ich, - gegen die Selbstständigkeit
dieser Behörde. Hierauf wird meine Kollegin Ute Vogt
noch näher eingehen.
Ich möchte allerdings daran erinnern dürfen, dass das
Postgesetz aus der 13. Legislaturperiode stammt, also aus
einer Zeit, da CDU/CSU und F.D.P. die Regierung stellten.
Es war gerade diese alte Bundesregierung mit Herrn
Bötsch - Bundeswirtschaftsminister Müller steht offensichtlich in seltener und makelloser Kontinuität zu Herrn
Bötsch, auch was den Petersberg angeht -, die dafür
sorgte, dass der Wirtschaftsminister ein klares Weisungsrecht bekam. Warum geschah dies in der damaligen
Diskussion? Damit er Wettbewerb und Liberalisierung das sollte aber mit gleichen Wettbewerbschancen verbunden sein - förderte. Das sollte mit sozialer Gerechtigkeit
unterfüttert sein. Das war unser Ziel.
Wenn der Minister nun meint, dass durch die Anstrengungen des Regulierungsrates, des Beirates und der Behörde dieses Ziel nicht auf allen Ebenen erreicht wird,
dann ist es sein gutes Recht, dagegen einzuschreiten. Ich
bin völlig sicher, dass weder Herr Posch aus Hessen noch
Sie, Herr Müller, eine Klage gegen diese Weisung anstrengen werden. Sie haben es ja in der Zeitung angekündigt. Doch Sie wissen genau, dass dies erfolglos bleiben wird.
({1})
Deshalb haben Sie sehr schnell die juristische Diskussionsebene verlassen und sind im Grunde auf inhaltliche
Fragen eingegangen, wie etwa: Muss der Postbenutzer
nicht leiden, weil er mehr bezahlen muss? Werden nicht
Wettbewerb und Liberalisierung der Postmärkte auf EUEbene widerrechtlich von Herrn Bundesminister Müller
unterlaufen? Schadet der Minister mit seiner Weisung gar
dem Börsengang der DP AG?
Ihre Antworten waren selten einfach und schlicht: Dem
Postbenutzer wird geschadet, der Minister unterläuft den
Wettbewerb, der Minister schadet per Weisung dem
Börsengang. Aber ich darf Sie daran erinnern, dass wir in
den vergangenen Jahren beim Postgesetz nicht nur um die
Frage des Entgelts für den Kunden innerhalb der Exklusivlizenz gestritten haben, sondern dass es darum ging, der
Deutschen Post AG im einsetzenden Wettbewerb mit
neuen Mitbewerbern nicht alleine Lasten aufzubürden,
wie etwa - das ist schon erwähnt worden - die Bezahlung
von Pensionen, die flächendeckende Versorgung in qualitativ hochwertiger Form und anderes mehr.
Es ging zusätzlich um den Erhalt von sozialen Standards. Sie erinnern sich an die Diskussion um den Erhalt
humaner Arbeitsbedingungen versus Turnschuhbrigaden.
({2})
Es ging um den Erhalt des flächendeckenden Filialnetzes
mit neuen Angeboten und Vertriebsformen. Auch das sind
Leistungen für die Kunden, die in der Phase der Umstellung vom Monopol in den Wettbewerb Kosten mit sich
brachten.
({3})
Das Ziel bei der Diskussion um das Postgesetz war
1998 noch einvernehmlich, nämlich mit Hilfe der Einnahmen über die Exklusivlizenz gleiche Ausgangsbedingungen im Wettbewerb zu ermöglichen. Im Zuge der Umstellung vom Monopol zum Wettbewerb ging es auch um den
sozialverträglichen Abbau von Stellen bei der Deutschen
Post AG. Mit all diesen schwierigen Aufgaben und Problemen hatten und haben die Neueinsteiger fast nichts am
Hut. Insofern musste und muss der Gesetzgeber für gleiche Wettbewerbsbedingungen weiterhin sorgen.
Aus diesem Grund hat der Minister seine Weisung,
meinen wir, zu Recht erlassen. Damit wollte er die Planungssicherheit der DPAG in Bezug auf den Aufbau neuer
Strukturen im - zugegeben - beinhart werdenden Wettbewerb auf EU-Ebene festigen und auch Planungssicherheit
für die Lebensperspektive und die Arbeitsmotivation der
Mitarbeiter der DP AG schaffen. Dies ist ein nicht zu unterschätzendes, wertvolles Gut in Bezug auf den Wert und
die Qualität des Unternehmens Deutsche Post AG, auch in
Bezug auf einen erfolgreichen, demnächst stattfindenden
Börsengang.
All dies waren aus unserer Sicht sinnvolle Gedanken zu
dem gesamten Themenkomplex Wettbewerb, Portoerhöhung, Planungssicherheit und anderes mehr. Deshalb ist
1998 auch mit Zustimmung der Länder die Dauer der Exklusivlizenz bis zum 31. Dezember 2002 festgelegt worden. Zur Erledigung dieser genannten Aufgaben braucht
die Deutsche Post AG aus unserer Sicht noch das gegenwärtig geltende Porto.
Herr Kollege, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit. Sie ist abgelaufen.
Sehr wohl, verehrte
Frau Präsidentin.
Wer diese Planungssicherheit antastet, schadet aus unserer Sicht einem erfolgreichen Börsengang der CDU.
({0})
- Ich weiß nicht, woher der Versprecher kommt, Herr
Müller. Ich glaube aber, die Aktien wären im Moment
nicht so hoch bewertet, dass jemand sie kaufen würde.
({1})
Wir wollen - das ist im Zuge der Diskussionen um die
Weisung deutlich geworden - Wettbewerb und Liberalisierung, aber unterfüttert mit sozialer Gerechtigkeit und
Planungssicherheit für alle Betroffenen und Handelnden
auf Dauer.
Schönen Dank.
({2})
Am heutigen Tage
wollte jemand schon den SPD-Medienkonzern verscherbeln. Herr Kollege, auch das konnten wir heute im Bundestag hören.
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr.
Michael Meister, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sprechen
über die Weisung von Herrn Minister Müller, deren
rechtliche Grundlage - das ist schon ausgeführt worden sehr zweifelhaft ist. Sie ist ein klarer Schlag gegen den
Verbraucher und ein Angriff auf den Geldbeutel der
Postkunden.
({0})
Erster Punkt. Herr Minister Müller hätte diese Weisung
nicht erlassen müssen, um eine Portoerhöhung zu verhindern; denn die Post-Universaldienstleistungsverordnung
gibt klar vor, dass bis zum Ende der Exklusivlizenz eine
Portoerhöhung ohne Änderung dieser Verordnung nicht
möglich ist. Deshalb war diese Weisung überhaupt nicht
notwendig.
Zweiter Punkt. Die Zielrichtung von Herrn Müller ist
eine ganz andere. Sie dient nicht dazu, wie es öffentlich
dargestellt wird, eine Gebührenerhöhung zu verhindern,
sondern es gilt das Gegenteil: Die Bundesregierung verhindert eine Gebührensenkung, die angebracht und zeitgemäß wäre.
({1})
Frau Hermenau, an dieser Stelle muss ich eine Frage zu
Ihrem Selbstverständnis stellen. Wie Sie schon gesagt
haben, saßen wir am 31. Januar in dem Beirat der
Regulierungsbehörde. Dort wurde fraktionsübergreifend
und einstimmig das Price-Cap-Verfahren favorisiert. Angesichts der Weisung des Ministers knicken Sie aber ein
und stimmen auf der nächsten Sitzung anders ab. Was ist
das für ein Selbstverständnis hinsichtlich Ihrer Politik? Wo
ist an dieser Stelle Ihre eigene Auffassung?
({2})
Dritter Punkt. Die Bundesregierung düpiert die Regulierungsbehörde. Dies geht weit über den Bereich des
Postmonopols hinaus. Das ist ein schwerer Eingriff in die
Unabhängigkeit dieser Behörde. Ich möchte hier klar und
deutlich sagen - auch dieser Punkt war umstritten -: Wir
waren immer für eine unabhängige und starke Regulierungsbehörde. Wir sind es nach wie vor.
({3})
Wir wehren uns deshalb energisch dagegen, dass diese
Unabhängigkeit untergraben wird.
({4})
Erstmals in der Gesichte der Regulierungsbehörde ist
durch die Weisung von Herrn Müller die Entscheidungskompetenz der Regulierungsbehörde untergraben
worden. Damit wird ja nicht nur die Regulierungsbehörde
desavouiert, sondern auch das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Unabhängigkeit dieser Behörde geschädigt.
Das ist sehr schlimm sowohl für den Telekommunikationsbereich, in dem wir schon einen liberalisierten Markt
haben, wie auch für den Postbereich, in dem wir einen
solchen Markt schaffen wollen.
Vierter Punkt. Die Planungssicherheit für die Post AG
wird als zentrales Argument für die Notwendigkeit der
Weisung ins Feld geführt. Wenn man das ernst nimmt, was
Herr Minister Müller vorhin gesagt hat, dass er nämlich
zum 31. Dezember 2002 den Markt öffnen will, dann muss
man sagen, dass es dringend notwendig gewesen wäre,
dem Unternehmen zu erlauben, sich auf diesen Markt
vorzubereiten. Das ist der entscheidende Punkt.
Planungssicherheit hätte bedeutet, ein Price-Cap-Verfahren durchzuführen, das dann wettbewerbsfähige Preise
und einen Transfer vom Monopol zum liberalisierten
Markt erlaubt hätte, das aber nicht Kunstpreise erzeugt
hätte, die politisch verordnet sind. Diese Kunstpreise sorgen dafür, dass genau diese sicheren Rahmenbedingungen
nicht vorhanden sind, und sie erwecken den Eindruck,
dass hier ein Monopol künstlich geschützt werden soll.
({5})
Herr Müller, diese Entscheidung ist nicht im Interesse des
Unternehmens und seiner Mitarbeiter, weil sie verhindert,
dass sich das Unternehmen auf seine Zukunft in geeigneter
Weise vorbereiten kann.
Fünfter Punkt. Wir müssen auch über das Thema Exklusivlizenz sprechen, wenn wir an den Übergang, den ich
eben erwähnt habe, vom Monopol zum Markt denken. Es
wird oft über die Sonderlasten im Zusammenhang mit den
Pensionsleistungen und dem Infrastrukturauftrag gesprochen. Ich darf daran erinnern, dass sich ab 1. Januar
dieses Jahres gewaltige Veränderungen in Bezug auf die
Pensionslasten ergeben haben. Der Bund trägt jetzt aus
dem Haushalt einen großen Anteil, nämlich all das, was
über ein Drittel der aktiven Bezüge hinausgeht.
({6})
Das hat sich ab 1. Januar geändert und muss in dieser
Debatte zur Kenntnis genommen werden.
Beim Thema Infrastrukturauftrag halten Sie uns vor,
wir wären gegen eine flächendeckende Versorgung. Das
ist mitnichten der Fall. Auch wir haben dafür gestimmt das steht ja im Grundgesetz und in den Ausführungsbestimmungen -, dass die flächendeckende Grundversorgung mit postalischen Leistungen sichergestellt ist. Wir
sind bisher in allen Debatten und bei allen Entscheidungen
dafür eingetreten.
({7})
Herr Barthel, wir sind allerdings nicht für ein Kartell
mit den Postgewerkschaften und mit den Unternehmen,
bei dem es nicht um eine flächendeckende Grundversorgung auf dem Land geht, wie Sie es so schön verbrämen, sondern darum, historisch gewachsene Strukturen
und alte Besitzstände zu bewahren.
Das hat nichts mit einer flächendeckenden Grundversorgung zu tun, hat nichts mit einer Versorgung des flachen
Landes zu tun, sondern bei Ihnen kommt schlicht und ergreifend Klienteldenken zum Schutz der Postgewerkschaft und ihrer Mitglieder zum Ausdruck. Das hat Sie
auch umgetrieben, die entsprechenden Verordnungen an
dieser Stelle zu erlassen. Dies tragen wir nicht mit.
({8})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Briefund Postkartenporto in Deutschland liegt wesentlich
über den europäischen Vergleichspreisen. Sehr gespannt
bin ich beim Thema Quersubventionierung; es steht ja
noch die Entscheidung der Europäischen Union dazu aus.
Auch dieses Damoklesschwert schwebt über dem Börsenprospekt der Post AG. Ich weiß nicht, Herr Müller, wie
lange Ihre Weisung tatsächlich substanziell Bestand hat,
wenn die EU-Kommission zu dem Ergebnis kommen
sollte, dass hier eine Quersubventionierung stattfindet.
Was würden Sie dann tun? Nehmen Sie dann Ihre Weisung
zurück und lassen das Price-Cap-Verfahren laufen? Das
wird Sie nach meiner Einschätzung in wenigen Wochen
einholen. Ich bin sehr gespannt, wie Sie mit diesem Punkt
umgehen wollen.
Herr Kollege, bitte
denken Sie an die Redezeit.
Zum Abschluss,
Frau Präsidentin, möchte ich sagen: Es handelt sich hier
um einen ordnungspolitischen Sündenfall ersten Ranges.
Es geht um eine Attacke auf den Geldbeutel des Verbrauchers. Es geht um Quersubventionierung, die weiter
aufrechterhalten werden soll, damit die Post AG mit dem
Porto, das die deutschen Verbraucher zahlen, international Unternehmen aufkaufen kann. Dies werden wir nicht
hinnehmen. Dagegen werden wir uns wehren. Wir würden
uns freuen, wenn auch im Bundeswirtschaftsministerium
die Einsicht dafür wachsen würde und wenn wir in Herrn
Minister Müller einen Mitstreiter für die Liberalisierung
bekommen, nicht im Geleitzug, sondern als Vorreiter, weil
Deutschland der entscheidende Markt in Europa ist.
Vielen Dank.
({0})
Jetzt hat die Kollegin
Ute Vogt, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Meister, es hat
eine große Dreistigkeit und ist ein starkes Stück, wenn Sie
uns hier vorwerfen, dass Gelder für Pensionszahlungen
fehlen - Gelder, die Sie in Ihrer Regierungszeit verprasst
haben und die in der Tat heute nicht da sind.
({0})
Aber wenn aus Ihrer Regierungszeit solche Lücken stammen, gehört ein großes Stück Frechheit dazu, sich hierher
zu stellen und zu beklagen, dass genau dieses Geld fehlt.
({1})
Ein großes Stück Frechheit liegt auch schon im Titel
dieser Aktuellen Stunde. Wenn am Ende dieses langen
Titels steht „obwohl die Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post eine 15-prozentige Absenkung
wollte“, dann ist das schlichtweg nicht wahr. Sie ziehen
das Ganze sehr böswillig von einer einzigen Sichtweise
her auf. Das macht man in der Opposition so,
({2})
aber das ist auch ein Signal dafür, dass man in gewisser
Weise einen immer unredlicheren Politikstil hier einführt.
({3})
Es gab konkrete Äußerungen und es gab direkte Anhaltspunkte, auch aus der Post AG, das Porto für Standardbriefe von 1,10 DM auf 1,20 DM und für Postkarten
von 1 DM auf 1,10 DM zu erhöhen. Ich bitte Sie, auch das
zur Kenntnis zu nehmen und nicht nur zu sagen, es gehe
darum, heroisch zu kämpfen und zu verhindern, dass das
Briefporto teurer wird.
({4})
- Hören Sie einmal ein bisschen zu! Wenn Sie reden, verstehen Sie ja gar nichts.
Es geht umgekehrt darum, dass wir mit einer solchen
Regelung auch verhindern können, dass das Porto in der
Zukunft erhöht wird. Es geht nicht nur darum, dass Sie den
Vorkämpfer spielen, um alles preiswerter zu machen. Sie
hatten auch lange genug Zeit, in diese Richtung Weichen
zu stellen, wenn Ihnen der Verbraucher und die Verbraucherin so wichtig gewesen sind.
({5})
Sie haben selbst - das ist ein weiteres Beispiel, das
zeigt, wie unredlich Sie hier argumentieren - dieses Postgesetz beschlossen. Sie haben selbst § 44 mit beschlossen,
in dem ausdrücklich ein Weisungsrecht verankert ist. Sie
wissen sehr wohl - darauf haben Sie auch hingewiesen -,
dass es sich um eine Behörde handelt. Eine Behörde untersteht der Rechts- und Fachaufsicht. Es ist überhaupt
kein Problem, auch juristisch deutlich zu machen, dass
eine allgemeine Weisung auf diesem Wege auf jeden Fall
möglich ist.
({6})
Diese Möglichkeit hat man ausgenutzt.
Es war eine Weisung, die deutlich gemacht hat, wie das
Gesetz auszulegen ist. Genau darum ging es. Da finde ich
es ziemlich scheinheilig, wenn Sie jetzt sagen, wir kämpfen gegen solche Weisungen, weil Sie selbst dafür gesorgt
haben, dass diese möglich sind.
({7})
Wenn Sie bemängeln, dass die Telekom und die Post
jetzt unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen erhalten,
dann haben Sie auch überhaupt nicht verstanden, welche
unterschiedlichen Rahmenbedingungen in diesen Märkten
vorhanden sind.
Schauen Sie sich einmal an, wie der Telekom-Markt
funktioniert, welch dynamisches Wachstum dort stattfindet und wie das auch ein Markt ist, bei dem es europäisch
und sogar weltweit Konkurrenz bei den Anbietern gibt!
Aber er hat keine Hemmnisse im Bereich einer personalintensiven Arbeit. Er hat nicht die Verpflichtung, die
Struktur in der Form aufrechtzuerhalten. Vieles dort kann
man auch über Funk machen.
Einen Brief kann ich nicht über Funk quer durchs Land
verteilen. Das ist der entscheidende Unterschied: Man
muss bei der Post viel mehr Menschen einsetzen und hat
insofern ganz andere Wettbewerbsbedingungen.
({8})
Herr Meister, Sie haben so großartig darauf hingewiesen, dass Sie in der Lage waren, diese Politik bisher
sachgerecht zu begleiten, und dass man in sehr vielem
übereingestimmt hat. Ich weiß, dass in vielen Dingen
Oppositionsverhalten dazugehört, weil man auch eine bestimmte Show abziehen muss. Aber es gibt Themen, bei
denen das unredlich und unehrlich ist; da täuscht man die
Menschen. Gerade im Postbereich gab es das in der Vergangenheit nicht. Als wir in der Opposition waren, haben
wir uns fair verhalten.
({9})
Ich erwarte, dass Sie das entsprechend machen, dass Sie
dem Wirtschaftsminister Müller seine Arbeit nicht unnötig
erschweren, sondern zu einer sachlichen Zusammenarbeit
zurückkehren.
({10})
Jetzt hat das Wort der
Kollege Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU-Fraktion.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir macht
es Spaß, einmal wieder im Kreise der alten Postkollegen
zu sein - wenn nur der Anlass besser wäre. Dann würde es
richtig Spaß machen.
Zunächst die Tatbestände. Tatbestand eins: Im Genehmigungsbescheid der Monopollizenz für die Briefe wurde
die Geltungsdauer bis zum 31. August festgelegt.
Tatbestand zwei: Die Regulierungsbehörde war gerade
dabei, in präziser Befolgung des Postgesetzes vom
22. Dezember 1997 die maßgeblichen Entscheidungsgrundlagen und Parameter für die Zeit nach dem 31. August und die damit zusammenhängende Gebührenpolitik
der Deutschen Post AG zu untersuchen.
Dritter Tatbestand: Was tut Minister Werner Müller?
Ohne das Verfahren der Regulierungsbehörde und die auf
diesem Verfahren beruhenden Vorschläge abzuwarten,
erteilt er der Regulierungsbehörde eine Weisung, welche
die gesetzlich vorgeschriebene Aufgabe der Regulierungsbehörde beendet. Er hat die Entscheidungen gleich
selbst getroffen. Künftig braucht man nur noch zum Minister zu gehen, um vonseiten des Marktes entsprechende
Dinge durchzudrücken. Wozu noch eine Regulierungsbehörde?
({0})
Er begründet dies mit dem bevorstehenden Börsengang
der Post AG und nennt dies eine „notwendige historische
Auslegung des Postgesetzes“. Herr Minister, wahrlich historisch! Kein Minister vor Ihnen hat sich bisher erlaubt, in
ein laufendes Verfahren des Kartellamtes einzugreifen.
Sie haben die im Postgesetz im Konsens der Regierungsund Oppositionsparteien mühsam errungene Balance
zwischen Monopol und Wettbewerb einfach aufgehoben.
({1})
Ute Vogt ({2})
Sie haben sich zum Handlanger des Shareholders Bund
gemacht, der den Wert des Unternehmens Post AG durch
Manipulation der Ordnungsprinzipien der Regulierungsbehörde vor dem Börsengang nach oben treibt.
({3})
Sie sind allenfalls dem Finanzminister Eichel zu Diensten, der gar nicht genug Milliarden für die Aktien des Bundes bekommen kann - übrigens ausgerechnet ein Minister
der rot-grünen Koalition, die sich seinerzeit mit
Vehemenz gegen die Umwandlung der Post in eine AG
gewehrt hat
({4})
und die den Tod der Post vorausgesagt hat für den Fall,
dass die damals üblichen Quersubventionierungen von der
Telekom zur Post beendet würden.
({5})
Das Gegenteil ist der Fall. Die Post AG macht einen
tollen Job. Sie macht Riesenumsätze, steigert die Gewinne, ist längst ein Global Player. Dazu betreibt sie beste
Lobbyarbeit. Daraus ist ihr überhaupt kein Vorwurf zu
machen; das ist ihr gutes Recht. Aber Sie, Herr Minister,
haben sich über den Tisch ziehen lassen und als Wirtschaftsminister Ihr Wächteramt für einen geordneten
Wettbewerb verraten. Sie haben geradezu eine Steilvorlage für Brüssel geliefert. Wir werden sehen, was dabei
herauskommt.
({6})
Wir dachten an Ludwig Erhard, an Karl Schiller, an
Graf Lambsdorff, als wir die Regulierungsbehörde dem
Wirtschaftsminister unterstellt haben. Jetzt müssen wir
erkennen, dass wir den Bock zum Gärtner gemacht haben.
({7})
Gut, dass sich wenigstens die Mitglieder des Regulierungsrates ihrer Verantwortung bewusst waren, indem
sie mit einer Mehrheit von 11 : 7 den Minister aufgefordert
haben, seine Weisung zurückzunehmen.
Tun Sie es, Herr Minister! Aber auch dann sollten Sie
künftig davon absehen, sich selbst in ziemlich peinlicher
Form zu loben und König Salomon für die Weisheit Ihrer
Entscheidungen zu bemühen.
Ich danke Ihnen.
({8})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Klaus Barthel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wenn es noch eines Beweises
bedurft hätte, wie notwendig die Entscheidung und der
Eingriff des Ministers waren, dann hat dies die heutige
Debatte bewiesen.
({0})
Es musste ein Spiel beendet werden: zum einen das Spiel
des Vorstandes der Deutschen Post AG im Hinblick auf
eine Portoerhöhung. Dieses Spiel war schädlich für das
Unternehmen und völlig überflüssig. Deswegen musste
der Minister handeln. Zum anderen musste das Spiel beendet werden, das die F.D.P. und die CDU/CSU seit Monaten mit großer Inbrunst betrieben haben und auch heute
hier betreiben. Sie spielen mit öffentlichem Eigentum, mit
einem Dienstangebot für die ganze Bevölkerung und mit
Arbeitsplätzen von Zigtausenden von Menschen. Auch
deswegen musste der Minister handeln.
({1})
Als Erstes kam der Vorwurf, wir wollten den Börsenwert der Post erhöhen. Pfui Teufel! Sie haben den Termin
für den diesjährigen Börsengang gesetzt, wohl wissend,
dass dieser zu einer Zeit stattfindet, in der es noch ein restliches Monopol gibt. Auch Sie wissen, dass für Börsengänge gewisse Gewinnmargen erforderlich sind. Sie wissen auch, dass für Börsengänge harte ökonomische Zahlen
und Perspektiven erforderlich sind. Sie wissen auch, dass
der Postmarkt nicht der Telekommunikationsmarkt ist,
und Sie wissen, dass wir politische Klarheit brauchen. Aus
diesem Grund war es notwendig, dass ein Rahmen gesetzt wird.
Jetzt sagen Sie - das kommt ja hier immer wieder zum
Tragen -, Wettbewerb pur sei der beste Rahmen. Aber die
Debatte hier über die Portofrage geht im Hinblick auf
Wettbewerb völlig ins Leere. Wieso bedeutet eine Portosenkung mehr Wettbewerb? Es ist doch eher umgekehrt,
wie die reale Entwicklung zeigt. Die Wettbewerber im
Bereich der Ortslizenzen, als deren Schirmherren sich insbesondere Herr Funke von der F.D.P. und die Herren von
der Union verstehen, nutzen die hohen Preise der
Deutschen Post AG aus, um in den Markt zu kommen. Bei
einer Portosenkung wären sie sofort weg vom Markt.
Wenn Sie also mehr Wettbewerb fordern, sind Sie beim
Porto auf der falschen Baustelle. Wir versuchen ein Haus
zu renovieren, das jetzt aufgrund Ihrer Planungen verkauft
werden muss, und es wetterfest zu machen. Sie aber kommen mit der Planierraupe.
({2})
Sie haben ein Wettbewerbsbild, das es nicht gibt. Wir
befinden uns auf einem regulierten Markt. Sie wissen,
dass es sich um einen regulierten Markt handelt; sonst
würden Sie nicht ständig versuchen, die Regulierungsbehörde zu einem Spielball Ihrer vordergründigen Interessen
zu machen. Mit dem Titel der heutigen Aktuellen Stunde
sind Sie doch sich selber auf den Leim gegangen. Sie behaupten, die Regulierungsbehörde befürworte Portosenkungen. Eben dies bestreitet die Regulierungsbehörde.
Sie hatte nämlich, wie sie selber sagt, bisher keinen Anlass, sich zu dieser Frage zu äußern, weil kein Antrag vorlag.
Jetzt gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder hat sich
die Regulierungsbehörde tatsächlich geäußert und damit
ihre Kompetenzen überschritten, weil sie keine Beweise
vorgelegt hat. Dann hat sie ihre Unabhängigkeit selber
beschädigt. Oder - wenn sie das nicht getan hat, wie das
die Regulierungsbehörde behauptet - es war Folgendes
der Fall: Der Minister hat sie nicht beschädigt, sondern sie
nur vor Ihrem miesen Spiel in Schutz genommen.
WemwollenSiedennmit IhremTreibennutzen?Ichwill
jetzt nicht auch noch mit Blick auf die Verbraucher auf das
Beispiel der Oma zurückgreifen; das ist heute schon strapaziert worden. Aber was nutzt denn zum Beispiel einer
Firma als Verbraucher ein Porto wie in Spanien, das Sie
hier propagieren, wenn die Zustellung eines Briefes genauso lange dauert wie die Zustellung einer Postkarte aus Mallorca?Wem soll dieses Spiel nützen? DenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern? Wo entsteht aufgrund eines
niedrigeren Portos ein einziger Arbeitsplatz? Zigtausende
würden vernichtet.
Elmar Müller sagte in der Presse, im Rahmen seines
Vorschlages zur Portosenkung würden die Verbraucher um
1,5 Milliarden DM entlastet. Das, was Herr Meister dazu
gesagt hat, würde zu einer Entlastung von 20 Milliarden
DM führen.
({3})
Ich halte es für völlig utopisch, zu sagen, jeder Haushalt
würde um 700 DM entlastet. Das würde 1,5 Milliarden DM
weniger für Löhne bedeuten. Das bedeutet eine brutale
Einkommenssenkung, wahrscheinlich auf spanisches Niveau,und/odereinenmassivenPersonalabbauoder1,5Milliarden DM weniger für die Modernisierung von Filialen.
Dazu sage ich ganz klar: Wir wollen die mindestens
12 000 Filialen in dem Zustand, in dem Sie sie uns hinterlassen haben - bei der Bahn ist das ähnlich -, nicht nur
erhalten. Wir wollen vielmehr ein modernes Filialnetz
schaffen und wir wollen, dass die Post AG diese Milliarde
in diese Filialen investieren kann.
Wir haben auch überhaupt kein Problem damit, zu
sagen, dass wir die Post AG geradeaus und stolz an die
Börse bringen wollen, weil wir sie nicht unter dem Ladentisch verramschen wollen. Wir wollen einen erfolgreichen
Börsengang für ein Unternehmen, für das wir die politische Verantwortung tragen. Dass das möglich ist, zeigt ein
schlichter Blick ins Gesetz - § 44 und § 75 Postgesetz.
Dass es nötig ist, sagen die wirtschaftliche Vernunft und
jeder Funke Verantwortungsbewusstsein.
({4})
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestag auf morgen, Donnerstag, den 6. April, 9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Abend. Die
Sitzung ist geschlossen.