Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen einige Änderungen bei der Besetzung von Gremien vorgenommen werden.
Die Fraktion der SPD teilt mit, dass der frühere Kollege Ernst Schwanhold aus dem Vermittlungsausschuss
als ordentliches Mitglied ausscheidet. Als Nachfolger
wird der Kollege Dr. Norbert Wieczorek vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist der Kollege Wieczorek als ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuss bestimmt.
Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass der frühere
Kollege Peter Jacoby aus dem Gemeinsamen Ausschuss gemäß Art. 53 a des Grundgesetzes als ordentliches Mitglied ausgeschieden ist. Als Nachfolger schlägt
die Fraktion den Kollegen Helmut Rauber vor. Sind
Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Rauber als ordentliches
Mitglied im Gemeinsamen Ausschuss bestimmt.
Der Kollege Michael von Schmude scheidet aus
dem Schuldenausschuss bei der Bundesschuldenverwaltung aus. Als Nachfolger schlägt die Fraktion der
CDU/CSU den Kollegen Hans Jochen Henke vor. Sind
Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Henke in den Bundesschuldenausschuss entsandt.
Des Weiteren teilt die Fraktion der CDU/CSU mit,
dass die Kollegin Dr. Maria Böhmer als stellvertretendes Mitglied aus der Parlamentarischen Versammlung
des Europarates ausscheidet. Nachfolger soll der Kollege Joachim Hörster werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der
Kollege Hörster als stellvertretendes Mitglied in die Parlamentarische Versammlung des Europarates gewählt.
Sodann teile ich mit, dass interfraktionell eine Erweiterung der verbundenen Tagesordnung vereinbart wurde.
Die entsprechenden Zusatzpunkte bitte ich der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste zu entnehmen:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
gemäß Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung GO-BT zu den Antworten der Bundesregierung auf die Fragen 7 und 8 in
Drucksache 14/2948 zur Rente und Rentenanpassung entsprechend der Inflationsrate
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Anke Hartnagel,
Ulrike Mehl, Petra Bierwirth, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Steffi Lemke,
Sylvia Voß, Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schutz der Wale
dauerhaft sicherstellen - Drucksache 14/2985 3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Marga Elser, Ulrike
Mehl, Petra Bierwirth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Sylvia Voß, Gila
Altmann, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbot des Elfenbeinhandels wieder herstellen - Drucksache 14/2986 4. Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren ({0})
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl Lamers, Peter
Weiß ({1}), Klaus-Jürgen Hedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Den Stabilitätspakt Südosteuropa mit Leben erfüllen - Drucksache
14/2768 - ({2})
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
5. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS Haltung der Bundesregierung zur Fusion von Deutscher Bank
und Dresdner Bank und zu den öffentlichen Diskussionen
über die Folgen dieser Fusion
6. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes
({4}) - Drucksache
14/2983 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
7. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zum Schutz der Stromerzeugung aus Kraft8734
Wärme-Kopplung ({6}) - Drucksache 14/2765 - ({7})
Beschlussempfehlung und Bericht des Anschlusses für
Wirtschaft und Technologie ({8}) - Drucksache 14/3007 Berichterstattung:
Abgeordneter Volker Jung ({9}) ({10})
8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Alfred Hartenbach,
Margot von Renesse, Wilhelm Schmidt ({11}), Dr. Peter
Struck und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Volker Beck ({12}), Kerstin Müller ({13}), Rezzo Schlauch
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rehabilitierung der im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen - Drucksache 14/2984 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({14})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit es bei einigen Tagesordnungspunkten erforderlich
ist - abgewichen werden.
Darüber hinaus wurde vereinbart, heute Morgen zuerst mit der Beratung der Großen Anfrage der CDU/
CSU-Fraktion zur Energiepolitik für das 21. Jahrhundert
zu beginnen. Die Regierungserklärung zum Washingtoner Artenschutzübereinkommen beginnt somit erst im
Anschluss daran. Auch sollen die Beratungen zu den
Tagesordnungspunkten 6 - Altschuldenhilfe - und 11 Doping im Spitzensport - getauscht werden und der Tagesordnungspunkt 7 a bis c - es handelt sich um Vorlagen zur Deregulierung im Umweltmanagement - soll
abgesetzt werden. Der Tagesordnungspunkt 14 - Nichtverbreitungsvertrag - soll ohne Debatte überwiesen
werden.
Im Übrigen mache ich darauf aufmerksam, dass die
von der Fraktion der F.D.P. verlangte Aktuelle Stunde
zur Hermes-Bürgschaft für eine neue Kernenergieanlage
in China am Freitag wegen der langen Dauer der Plenarsitzung zurückgezogen wurde.
({15})
Schließlich weise ich noch auf nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
hin:
Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Eine Steuerreform für mehr Wachstum und Beschäftigung - Drucksache 14/2688 überwiesen:
Finanzausschuss ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Otto
Solms, Hildebrecht Braun ({17}), Rainer
Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der F.D.P.: Unternehmensteuerreform - liberale Positionen gegen die Steuervorschläge der
Koalition - Drucksache 14/2706 überwiesen:
Finanzausschuss ({18})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Die in der 93. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesenen nachfolgenden Vorlagen sollen zusätzlich
dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur
Umsetzung einer Steuerreform für Wachstum
und Beschäftigung - Drucksache 14/2903 überwiesen:
Finanzausschuss ({19})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Rolf
Kutzmutz, Heidemarie Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Besteuerung
der Unternehmen nach deren Leistungsfähigkeit - Drucksache 14/2912 überwiesen:
Finanzausschuss ({20})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kurt-Dieter Grill, Gunnar Uldall, Dr. Klaus W.
Lippold ({21}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU: Energiepolitik für
das 21. Jahrhundert - Energiekonzept der
Bundesregierung für den Ausstieg aus der
Kernenergie - Drucksachen 14/676, 14/2656 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute den Kernenergieausstieg und
die Frage: Liegt diesem Kernenergieausstieg auch ein
energiepolitisches Konzept der Bundesregierung und der
sie tragenden Parteien zugrunde?
Lassen Sie mich zunächst einmal eine grundsätzliche
Frage stellen: Wie muss die Energiepolitik im 21. JahrPräsident Wolfgang Thierse
hundert gestaltet sein? Es sollte eine Energiepolitik sein,
die die Umwelt schont, die in unserem Land die Grundlage für eine effiziente Energieversorgung zu international wettbewerbsfähigen Preisen schafft und die auf
Dauer so ausgerichtet ist, dass auch zukünftige Generationen auf dem aufbauen können, was wir politisch vorentschieden haben.
Es muss eine Antwort für eine nationale Energiepolitik sein, die sich an den internationalen Herausforderungen orientiert und sich nicht aus dem europäischen und
internationalen Rahmen verabschiedet.
({0})
Auch wenn die derzeit entspannte Situation der Weltenergiemärkte den einen oder anderen darüber hinwegtäuscht, müssen wir uns auch darüber im Klaren sein,
dass sowohl die nationale wie auch die internationale
Energiepolitik vor gewaltigen Zukunftsproblemen steht.
Der Weltenergiebedarf hat sich in den letzten drei
Jahrzehnten verdoppelt. Bis zum Jahre 2020 wird eine
weitere Steigerung von 40 Prozent erwartet. Andere
Prognosen sprechen von 75 Prozent. Der damit verbundene weltweite Anstieg der CO2-Emissionen liegt auf
der Hand. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von
globalen Umweltkatastrophen - Stichwort: Klimakatastrophe.
Jede Energienutzung muss deshalb mit dem globalen
Klimaschutz im Einklang stehen. Das heißt nun wieder,
dass die Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre langfristig auf einem Niveau stabilisiert werden
muss, das eine gefährliche anthropogene Störung des
Klimasystems vermeidet. Das würde bedeuten, dass wir
bis 2050 einen Beitrag zur Emissionsreduktion in unserem Land in der Höhe von 70 bis 80 Prozent leisten
müssten. Was das bedeutet, brauche ich nicht im Einzelnen auszuführen.
Um das zu bewältigen, benötigen wir aber ein klares
Konzept, klare Aussagen, konkrete, in sich schlüssige
Handlungsstrategien und die Setzung und Umsetzung
von Rahmendaten. Das erwarteten wir eigentlich von
der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage. Der Wirtschaftsminister hat noch im Februar gesagt:
Wir führen Deutschland in eine sichere Zukunft.
Der Wirtschaftsminister sagt:
Wir werden ein Energiekonzept vorlegen.
Wir werden Eckpunkte vorlegen.
Die Frage ist nur, meine Damen und Herren: wann? Das
ist der Punkt. Im Grunde hätten wir erwarten müssen,
dass ein solches Energiekonzept vorliegt, bevor über
den Ausstieg aus der Kernenergie entschieden wird.
({1})
Deshalb wollten wir auch deutliche, klare und konkrete
Antworten auf unsere Fragen. Das Ergebnis ist, wenn
ich es vorsichtig formuliere, Herr Minister, schwammig,
unklar, unpräzise, ausweichend. Auf viele Fragen verweigern Sie die Antworten.
({2})
Ich will deutlich machen, wie unterschiedlich das
aussieht. Das muss man sich einmal klarmachen. Da
wird zum einen formuliert:
... werden durch den Ausstiegsbeschluss der Bundesregierung weder zusätzliche Kosten noch zusätzliche Emissionen verursacht.
Man freut sich darüber, da es eine klare Formulierung
ist. Aber einen Absatz weiter lesen wir:
Ob und inwieweit per Saldo volkswirtschaftliche
Kosten entstehen, wird sich erst zeigen, wenn konkrete Daten über den Vollzug des Ausstiegs aus der
Nutzung der Kernenergie und über den Umbau des
Energieversorgungssystems einschließlich des Aufbaus von Ersatzkapazitäten vorliegen. Dies gilt in
gleicher Weise für eventuell zusätzliche Emissionen.
Das heißt, Herr Wirtschaftsminister, die klare Aussage
hält nur einige wenige Zeilen an. Dann stellen Sie sie
selbst infrage und beantworten die Fragen somit nicht.
Vorher hätten Sie sie beantworten müssen. Hier wird der
Widerspruch in ganz wenigen Zeilen deutlich. So können wir keine Politik machen. Das ist nicht zukunftsorientiert.
({3})
Die entscheidende Frage der Zukunftsorientierung
bleibt offen. Damit stellt sich die Grundsatzfrage der
Klimapolitik in Deutschland - wir hatten bislang eine
Führungsrolle, leider haben wir sie nicht mehr; darauf
komme ich noch - und auch für Europa und international.
Wir kommen zu einem entscheidenden Punkt. Hält
die Regierung das Ziel ein, die CO2-Emissionen bis
2005 um 25 Prozent zu reduzieren? Daran hängt übrigens auch die Glaubwürdigkeit unserer Klimapolitik im
internationalen Kontext. Lassen Sie in diesem Zusammenhang zur Beantwortung der Frage nicht mich sprechen, sondern den Sachverständigenrat für Umweltfragen.
({4})
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen formuliert:
Der Umweltrat nimmt zur Kenntnis, dass eine vollständige Zielerreichung bis zum Jahr 2005 inzwischen nur noch durch einschneidende Maßnahmen
zu erreichen ist. Das Klimaschutzziel wird also aller Voraussicht nach verfehlt werden. Absolute Priorität räumt er deshalb der Entwicklung einer Klimaschutzstrategie ein, die gesellschaftlich und ökonomisch verträglich ist und eine langfristige Reduktion der Treibhausgasemissionen über das Jahr
2005 hinaus gewährleistet.
Dr. Klaus W. Lippold ({5})
Der Sachverständigenrat formuliert sehr vornehm. Ich
drücke das in meiner Sprache viel einfacher und deutlich
aus: Von dieser Regierung erwartet der Sachverständigenrat nicht mehr, dass sie ein Handlungsprogramm vorlegt, das die Zielerreichung bis 2005 gewährleistet. Von
dieser Regierung erwartet er keine konkreten Maßnahmen mehr. Von dieser Regierung erwartet er allenfalls,
dass sie sich jetzt schon Gedanken über ihr Versagen
macht, das sie irgendwann eingestehen muss. Das ist der
Klartext in dieser Frage. Das heißt, der Sachverständigenrat für Umweltfragen attestiert Ihnen, dass Sie in dieser Frage versagen.
({6})
Er hat den Glauben an die Bundesregierung aufgegeben.
Jetzt könnte man natürlich sagen: Sozialdemokraten
machen immer nur Sprüche. Aber das muss ja nicht so
sein. Schauen wir einmal in den internationalen Kontext.
Der britische Premier Blair hat jetzt ein Sofortprogramm vorgelegt und durch Herrn Prescott vorstellen
lassen. Meine Frage ist: Warum kann das der Premier
Blair, warum können Sie das nicht? Warum können die
Briten konkret werden, warum können Sie das nicht?
Warum bekommen wir von Ihnen nur Ankündigungen
und keine Maßnahmen, wie sie in diesem Fall von den
Briten vorexerziert werden?
Es ist doch ein Punkt, der uns zu denken geben muss,
dass mittlerweile die Schwerpunkte in der Umweltpolitik sich von Deutschland wegbewegen - damit komme
ich zum internationalen Kontext - und von anderen
Ländern gesetzt werden. Wir haben keine Vorreiterrolle
mehr. Herr Trittin hat auf den letzten internationalen
Konferenzen schon keine Rolle mehr gespielt und, wie
zu erwarten ist, wird er es auch künftig nicht tun. Aber
selbst in den Punkten, in denen wir bislang national immer deutlich machen konnten, dass wir Vorreiter sind,
versagen Sie. Da läuft nichts mehr. Wenn das so weitergeht, stellt das natürlich auch die europäische Zusage im
internationalen Kontext in Frage. Wenn wir hier in
Deutschland unser Ziel nicht erreichen, wird die EU ihr
Ziel verfehlen, weil das Ziel der EU zur Klimareduktion
davon abhängig ist, dass wir unsere Vorgaben erreichen.
Das ist ein ganz wesentlicher Punkt.
Die Frage ist: Wie können wir denn Kernenergie ersetzen? Solarenergie kann es nicht sein. Wir wollen Solarenergie fördern, aber sie kann ganz einfach die Kernenergie nicht ersetzen. Wie sagt Minister Müller?
Wir werden die Masse des deutschen Kernenergiestroms nicht aus dem heutigen europäischen
Kraftwerksbestand ergänzen können. Aber es gibt
Tendenzen, den grenzüberschreitenden Stromhandel an sich, aber auch durch deutsche Neubauten im
Ausland zu verstärken. Das halte ich für bedauerlich, weil dann Stoibers Argument von der Arbeitsplatzvernichtung doch noch tragen könnte.
Es sind die Konsequenzen Ihrer Politik, die Sie selbst
vorzeichnen. Gelegentlich negieren Sie das hier im Parlament. Aber ich sage: Dass Standorte zukünftig auch in
Deutschland möglich sind, stellen Sie doch selbst in
Frage. Sie sagen selbst: Dann, wenn wir aussteigen, wird
meine erste Überzeugungsarbeit dem gelten müssen,
dass ein neues Kraftwerk kommen muss. Und das Zweite wird sein, dass dieses Kraftwerk auch in Deutschland
und nicht jenseits der Grenzen gebaut wird.
Wir können nicht - so sagen Sie, Herr Müller - gegen
den Bau von Kernkraftwerken oder gegen jeden Bau
von Kraftwerken sein; sonst verlieren wir den größten
Einzelinvestor im Land.
Was sagt Ihr Kollege Müller, der Umweltpolitiker,
von der SPD? - Er sagt schlicht und ergreifend Nein zu
dem Kraftwerksbau, wie Sie ihn vorschlagen. Die Widersprüche, die wir seit gut einem Jahr in dieser Frage
aufzeigen, sind völlig ungeklärt. Sie sprachen weiterhin
von Kraftwerksbauten in großem Umfang, dort wird von
einer völlig anderen Strategie geredet und Sie haben bislang nichts anderes vorgelegt.
Sie wollen sich in Deutschland aus der Kernenergie
verabschieden, weil deren Nutzung so gefährlich und
unverantwortlich ist. Aber wie ist es denn dann mit den
Hermes-Bürgschaften, meine Damen und Herren? Im
Grunde genommen ist es verlogen und menschenverachtend, wenn wir die Zusage von Hermes-Bürgschaften für
den Bau von Kernkraftwerken in China geben, aber
gleichzeitig die Nachrüstung in der Bundesrepublik
Deutschland, die sicherheitserhöhend ist, verhindern.
({7})
Wieso - frage ich Sie - stützen wir den Bau von Kernkraftwerken in anderen Regionen der Welt, aber die eigenen, sicheren schalten wir ab? Wie steht es mit der
weiteren Lieferung von spaltbarem Material? Gilt denn
das Nonproliferationsargument in China nicht? Haben
Sie in China jederzeitigen Zugang und Kontrolle? Warum schalten Sie bei anderen ab, aber in China liefern
Sie? Das sind doch die Fragen, die sich stellen. Sie
schaffen in anderen Ländern der Welt Arbeitsplätze,
aber in der Bundesrepublik Deutschland vernichten Sie
sie. Auf diesen Widerspruch geben Sie keine Antwort.
({8})
Da stellt sich doch die Frage: Welche Rolle spielt
Bundesaußenminister Fischer in diesem Zusammenhang? Ich habe gehört, er hat im Kabinett reichlich Anträge vorgelegt, über die abgestimmt worden ist. Jetzt
höre ich widersprüchliche Meldungen aus dem Haushaltsausschuss. Da soll es Formulierungen gegeben haben, die besagten, es müsse sich wohl um virtuelle Anträge gehandelt haben. Ich hätte gerne einmal Aufklärung in dieser Frage. Hat Herr Fischer auf dem Parteitag
gelogen oder hat er nicht gelogen?
({9})
Man kann es natürlich auch anders ausdrücken. Herr
Fischer hat überhaupt keine Schwierigkeiten, einen grünen Grundsatz nach dem anderen zu verraten. Er wechselt seine Grundsätze schneller als seine Hemden, wenn
er im internationalen Jetset-Kontext reist. Jetzt werfen
Sie mir nicht vor, dass ich ihm vorwerfen würde, er
würde seine Hemden schnell wechseln. Das ist schon in
Dr. Klaus W. Lippold ({10})
Ordnung. Aber der Sachverhalt, wie schnell er seine
Grundsätze ändert, zeigt doch, dass diese Politik nicht
glaubwürdig ist. Dieser Minister hängt die grünen
Grundsätze in den Kleiderschrank, vergisst sie und lässt
sie verstauben. Das haben Sie doch selbst schmerzlich
erfahren. Jetzt höre ich, dass es sich im Kabinett um virtuelle Anträge und nicht um reale Anträge handelt. Diesen Widerspruch hätte ich gerne aufgeklärt. Denn da
gibt es einen offensichtlichen Dissens zwischen den
Aussagen im Haushaltsausschuss und den Aussagen auf
dem Grünen-Parteitag. Das lassen wir nicht einfach so
durchgehen.
({11})
Ein ganz wesentlicher Punkt, der nur kurz angesprochen werden kann: Sie halten die Ökosteuer, die weitere Belastung der Bürger, für ein richtiges Konzept. Die
Ökosteuer ist, um das im Klartext zu sagen, die klare
Verneinung der Rio-Grundsätze.
({12})
Die Rio-Grundsätze heißen: ökologisches Vorgehen,
ökonomisches Vorgehen und soziales Vorgehen.
({13})
Der Bundesregierung selbst liegen die Gutachten vor,
die deutlich machen, dass die Ökosteuer in dieser Frage
überhaupt keine ökologische Lenkungskraft hat, dass sie
versagt, dass sie allenfalls zur Einnahmebeschaffung gut
ist. Das wissen Sie. Bei Ihrem Kollegen Trittin sind die
Überlegungen noch nicht abgeschlossen, eine zusätzliche Erhöhung der Ökosteuer vorzunehmen und davon
die Unternehmen auszunehmen, die ein Energie-Audit
durchführen. Bürokratie plus Bestrafung: Das kann es
doch wirklich nicht sein.
({14})
Zum Punkt Ökonomie. Sie belasten durch Ihre Vorgehensweise den Mittelstand und nicht die Großverschmutzer. Ich sage das einmal ganz deutlich. In erster
Linie werden die kleinen Betriebe belastet. Alles das,
was Sie zur Mittelstandspolitik sagen, ist in dieser Hinsicht Makulatur.
Dann noch zum Sozialen; das ist an und für sich das
Größte. Es gibt ja ebenfalls verschiedene andere Oppositionsparteien, die deutlich gemacht haben, dass die Ökosteuer nicht sozial ist. Es ist auch eine Diskussion innerhalb der Grünen und innerhalb der SPD. Aber der Sachverhalt ist doch: Dadurch werden Rentner zusätzlich
belastet. Rentner werden nicht entlastet. In diesem Zusammenhang muss ich doch Ihre Rentenlüge Nummer
drei sehen. Ihr Kanzler hat zugesagt, dass die Renten,
wenn sie schon nicht wie bisher erhöht werden - unsere
Reformen haben Sie ja abgelehnt -, dann doch zumindest einen Kaufkraftausgleich beinhalten. Aber was
Sie jetzt vorhaben, bringt doch nicht einmal den Kaufkraftausgleich. So unsozial gehen Sie mit den Rentnern
um! Das hat mit der Rio-Formel überhaupt nichts mehr
zu tun.
({15})
Das ist glatter Wortbruch.
Wenn schon, dann müssen wir die Dinge im Zusammenhang sehen. Wir meinen, dass es für die Zukunft
besser ist, wenn wir nicht einen Weg der Belastung,
sondern einen Weg der Entlastung gehen. Wir wollen
den Weg der Selbstverpflichtung konsequent weitergehen. Wir kennen Steuern nicht nur als Belastung, sondern auch als Anreiz. Die Energieeinsparverordnung
müsste längst vorliegen. Legen Sie sie vor! Geben Sie
ihr zusätzliche Schubkraft, indem Sie sie mit steuerlichen Erleichterungen und Zinsbezuschussung verbinden.
Dann können wir ein Arbeitsbeschaffungsprogramm in
Gang setzen, das gleichzeitig dafür sorgt, dass die Energiepolitik vorangetrieben wird. Das sind die No-RegretMaßnahmen, die Sie zitieren, aber nicht umsetzen. Das
fordern wir ein.
Wenn es um diese konkrete Politik geht, bieten wir
Ihnen an zu kooperieren, bieten wir unsere Mitarbeit an,
aber nicht in der Form, dass wir im Ausschuss nicht
einmal erfahren, was beschlossen werden soll, und die
Vorlagen erst zum Plenumsbeginn eingereicht werden,
wie wir das in der Vergangenheit erlebt haben. In diesem Punkt wünschen wir uns einen besseren parlamentarischen Stil und konkrete Vorgaben, die wir beraten
können. Dann sind wir bereit, konstruktiv mit Ihnen zusammenzuarbeiten.
Herzlichen Dank.
({16})
Ich erteile das Wort
dem Bundesminister für Wirtschaft, Werner Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Gestatten Sie mir, dass ich mich bemühe, zu
dem Thema der Großen Anfrage zu sprechen. Die Union
hat eine Große Anfrage zur Energiepolitik gestellt. Wir
haben diese Anfrage im Kabinett beantwortet. Darin
geht es tatsächlich um Energiethemen. Insofern ist es
schon verwunderlich, wenn in der Einführungsrede Dinge wie Rentenlüge, Ökosteuer oder Verbürgung von
Exportkrediten für chinesische Kraftwerke zur Diskussion gestellt werden.
({0})
Von all den Punkten, zu denen Herr Lippold etwas
sagte, will ich einen Punkt herausgreifen. In der Tat haben wir für chinesische Kernkraftwerke den Export
deutscher ingenieurtechnischer Leistungen verbürgt. Wir
haben nichts verbürgt, was originär etwas mit einem
Kernkraftwerk zu tun hat,
({1})
Dr. Klaus W. Lippold ({2})
sondern wir haben Dinge verbürgt, die in jedes Kraftwerk eingebaut werden.
({3})
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Eines Ihrer Fraktionsmitglieder, das inzwischen eine führende Position
hat, hat mich inständig gebeten, dafür zu sorgen,
({4})
dass Batterien, die in seinem Wahlkreis in einer mittelständischen Firma gefertigt werden, im Wert von 9 Millionen DM Hermes-verbürgt werden, weil das für diesen
Wahlkreis eine bedeutende Sache sei.
({5})
- Das Problem haben Sie doch aufgeworfen.
({6})
Lassen Sie mich damit zu Ihrer Anfrage kommen und
feststellen: Sie ist insgesamt gut und erschöpfend beantwortet worden, sodass aus Ihrer Sicht wenig Sinn
darin besteht, über die einzelnen Antworten noch länger
mit uns zu sprechen. Statt dies zu tun, haben Sie gestern
in der Presse verkündet, die Antwort auf diese Große
Anfrage sei ein Beleg dafür, dass dieser Bundesregierung die energiepolitische Vision fehle.
({7})
Wenn man einige Dutzend Antworten erhält und das die
Zusammenfassung ist, dann bedeutet das aus meiner
Sicht, dass Sie ausweichen.
Man kann über energiepolitische Visionen streiten.
Aber dann muss auch wissen, wer die Forderung nach
einer energiepolitischen Vision stellt. Ich will Ihnen sagen, dass das schon merkwürdig ist, was die Union hier
tut. Als Sie zu regieren begonnen haben, hatten Sie ein
Energieprogramm, in dem der merkwürdige Satz stand,
dass es eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum
und Energieverbrauch niemals geben dürfe, weil sonst
das Wirtschaftswachstum abgewürgt werde. Wörtlich
heißt es in dem Programm: Wirtschaftswachstum ohne
Energiezuwachs ist unmöglich. - Das war eine Vision,
die Sie hatten. Dies ist mit ein Grund dafür, warum wir
in den 80er- und 90er-Jahren so viel Überkapazitäten auf
dem Energiemarkt aufgebaut haben. Sie hatten eine völlig falsche Vision von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch.
({8})
Was Ihre Vision zur Kernenergie angeht, so gab es
Ende 1980 eine erste Energie-Enquete, damals noch von
der sozialliberalen Regierung eingesetzt.
({9})
In dieser Energie-Enquete haben Sie vehement für die
Verdoppelung des Kernenergieanteils an der Energieversorgung gekämpft. Sie haben dort mehrfach die Auffassung vertreten, dass die Kernenergie auf 50 Gigawatt ausgebaut und die Zahl der Kernkraftwerke verdoppelt werden müsse. Das ist Ihre Vision von der
Kernenergie gewesen. Ich will sie Ihnen nicht streitig
machen. Ich will Ihnen nur sagen, was eingetreten ist.
Seit 1980 ist kein einziges Kernkraftwerk bestellt
worden. Die Zahl ist also nicht verdoppelt worden. Sie
haben für einen Brüter gekämpft, den es nicht gibt. Sie
haben für eine Wiederaufarbeitungsanlage gekämpft, die
es nicht gibt. Das größte Problem aber ist - auch da ist
nichts geschehen und da haben Sie nicht gekämpft -:
Wir haben bei der Entsorgung immer noch einen Zustand, der zu denken gibt und im schlimmsten Fall das
baldige Ende des Kernkraftwerksbetriebes heraufbeschwören wird.
({10})
Ich will Ihnen eine weitere Vision nennen. Sie hatten
Anfang der 80er-Jahre die Vision, dass die Deutschen
im internationalen Öl- und Gasgeschäft eine nationale
Position haben müssten. Was ist erreicht worden? Nach
wie vor sind wir von Importen abhängig und haben keinerlei nationalen Einfluss bei den Förderquellen von Öl
und Erdgas. Man könnte auch über die Richtigkeit dieser
Vision streiten.
Jedenfalls ist keine von all diesen Visionen realisiert
worden.
Nun sagen Sie: Wir müssten Visionen entwickeln und
durchsetzen. Ich will Ihnen in aller Klarheit sagen: Solche Visionen, die völlig realitätsfern sind und die wir
gegen die Wirtschaft durchsetzen müssten, werden wir
nicht entwickeln. Unser Ziel ist, zusammen mit der
Wirtschaft das zu tun, was, an den Forderungen der Zukunft gemessen, vernünftig ist, und entsprechend die
Rahmendaten zu setzen, damit wir nicht etwa, wie Sie es
jahrelang vorgemacht haben, irgendeiner Fata Morgana
hinterherrennen.
({11})
Sie wollen im Grunde nicht verstehen, dass diese
Bundesregierung zur Kernenergie eine grundsätzlich
andere Position hat als Sie. Es ist immer gesagt worden - das ist ja auch nicht zu bestreiten -, dass die deutschen Kernkraftwerke aller Voraussicht nach sicher
sind, denn sonst würden sie abgestellt. Aber unabhängig
von der Tatsache, dass sie aller Voraussicht nach sicher
sind, ist völlig unstreitig, dass sie nicht hundertprozentig
sicher sind, sondern dass, auch wenn das noch so
unwahrscheinlich ist, doch ein Schadensfall eintreten
könnte, der dieses Land unbewohnbar machen würde.
({12})
Vor diesem Hintergrund ist es absolut konsequent,
dass alle Seiten - Sie, die Wirtschaft und auch RotGrün - sagen: Die Frage der Nutzung dieser Energie
kann nur die Politik entscheiden. Die Politik hat darüber
zu entscheiden, ob man eine Technik nutzt, die - sei es
noch so unwahrscheinlich - ein Land auf ewig unbewohnbar machen könnte.
({13})
Diese Bundesregierung hat die Entscheidung getroffen,
dass wir diese Technik nicht auf Dauer nutzen wollen.
({14})
Ich halte das für eine durchaus nachvollziehbare Entscheidung, die zu treffen niemand anders in der Lage
und berechtigt ist.
Wir haben einfach einmal zu überlegen, was damit
zusammenhängt. Sie tun so, als wäre der Streit um die
Kernenergie sozusagen ein Streit um irgendeine neue
Mode für Damenoberbekleidung.
({15})
Es geht hier um eine grundsätzliche und sehr ernsthafte
Auseinandersetzung und nicht darum - das unterstellen
Sie ja immer wieder -, dass wir von einem Tag auf den
anderen aus der Kernenergie aussteigen wollen. Vielmehr muss ein längerfristiger Übergangsprozess mit folgenden Prämissen organisiert werden: Erstens werden
an dessen Ende keine Kernkraftwerke mehr in diesem
Lande betrieben, zweitens müssen bei der Entsorgung
gleichwohl Fortschritte gemacht werden, drittens müssen die CO2-Ziele erreicht werden und viertens muss das
alles auch noch in einem für Bürger und Wirtschaft bezahlbaren Rahmen bleiben.
({16})
Wenn wir einmal ins Detail gehen und das eine oder andere Ihrer Anfrage beleuchten, werden Sie feststellen,
dass wir keineswegs energiepolitisch völlig untätig waren.
Ich will auch darauf hinweisen, dass Sie einiges gemacht haben, was ich grundsätzlich begrüße, es uns aber
in einem völlig ungeordneten Zustand hinterlassen haben:
Erstens. Ich habe immer gesagt, dass die von Ihnen
getroffenen kohlepolitischen Vereinbarungen vernünftig
sind. Das Problem, das diese Bundesregierung hatte, war
aber, dass wir, weil Sie für Ihre Kohlepolitik nicht die
richtigen Zahlen in den Haushalt eingesetzt hatten, diese
Kohlepolitik erst einmal in der Haushaltsplanung realisieren mussten.
({17})
Zweitens. Sie haben es versäumt, den notwendigen
europäischen Rahmen für Ihre Kohlepolitik zu organisieren. Auch dieses müssen wir in den nächsten Monaten erledigen.
({18})
Drittens. Bezüglich der Braunkohle haben Sie in
Ostdeutschland einen so ungeordneten Zustand hinterlassen, dass ich mich frage, ob es überhaupt gelingt diesen Zustand zu stabilisieren, ohne dass der Staat eingreift? Es kann doch von Ihnen nicht ernsthaft geplant
gewesen sein, auf der einen Seite den Wettbewerb auf
dem Strommarkt einzuführen, aber auf der anderen Seite
rund um Ostdeutschland einen Schutzzaun in der Hoffnung zu legen, dass die Bürger in der ehemaligen DDR
den Strompreiswettbewerb nur im Fernsehen verfolgen.
({19})
Das alles sind Kleinigkeiten, die Sie verschwiegen.
Stattdessen werfen Sie uns, nachdem Sie eine erschöpfende, umfangreiche Beantwortung von einem guten
Dutzend Fragen erhalten haben, vor, es fehle uns an Visionen und ansonsten dächten wir nur über China nach.
Das ist keine ernsthafte Diskussion.
Ich will Ihnen sagen, was wir machen werden. Ich
habe gesagt, die Nutzung der Kernenergie wird irgendwann beendet, aber nicht kurzfristig, sondern in einem
Übergangsprozess. Wir werden an die Stelle dessen einen Mix aus fossiler Energie, aus sehr sparsamer Energieverwendung setzen und und wir werden zunehmend
Anteile regenerativer Energien in den Energiemix einbauen. Da sind noch Potenziale zu erschließen. Beispielsweise werden wir demnächst eine Energieeinsparverordnung fertig haben. Wir werden im Straßenverkehr
deutlich Richtung Dreiliterauto vorwärts kommen. Rationelle Energie hat also durchaus noch Zukunftspotenziale.
1990 haben Sie vielleicht eine richtige Vision entwickelt, indem Sie das Stromeinspeisungsgesetz erfunden
haben. Das ist überparteilich gegangen und das ist gut
so. Wir haben es jetzt erneuert, renoviert und wir haben
Sorge dafür getragen, dass die Nutzung dieses Gesetzes
künftig zu deutlich höheren Raten der Sonnenenergienutzung in der Energiebilanz führt.
Die Energiewirtschaft ist nämlich jetzt auch berechtigt, Anlagen zu bauen und Einspeisevergütungen dafür
zu erhalten. Die Energiewirtschaft wird dies nutzen, wie
sie mehrfach versichert hat. Es ist übrigens für die Energiewirtschaft die einzige Form der Stromerzeugung, bei
der sie eine garantierte Rendite bekommt. So werden wir
erleben, dass sich der Anteil der regenerativen Energien
in wenigen Jahren deutlich erhöht. Das ist eine Vision,
die trägt. Man kann zur Kernenergie stehen, wie man
will, man kann zu den fossilen Anteilen stehen, wie
man will, eines ist sicher: In 50 Jahren - das ist für
Energiepolitik kein langer Zeitraum, sondern der Planungszeitraum - werden wir vor einer relativen Knappheit von
Öl- und Erdgas stehen. Beide machen 50 Prozent unserer Energiebilanz aus. Infolge dessen bleibt gar kein anderer Weg, als zunehmend regenerative Energien zu
verwenden.
Michael Müller hat schon vor langer Zeit einmal gesagt: Wir müssen die Brücke ins Solarzeitalter bauen.
Und ich sage Ihnen: Wir werden in 40, 50 Jahren mit
Ihnen zusammen im Konsens auf dieser Brücke viel
weiter gegangen sein, als Sie sich das heute vielleicht
vorstellen.
({20})
Insofern werden wir ein Energiekonzept vorlegen.
Ich weiß gar nicht, warum Sie den Zeitpunkt vermissen.
Sie müssen mich vollständig zitieren. Wir werden es im
Frühsommer vorlegen. Wir werden darin das einfließen
lassen, was wir mit den gesellschaftspolitisch relevanten
Gruppen an energiepolitischer Diskussion führen. Das
ist der Energiedialog, den der Vorsitzende des Forums
für Zukunftsenergien, Herr Breuer, und der Wirtschaftsminister zusammen ins Leben gerufen haben. Ich
bedanke mich ausdrücklich bei Ihnen von der Union und
von der F.D.P. dafür, wie Sie bisher in diesem Energiedialog mitarbeiten. Sie wissen, es sind vernünftige Gespräche.
Es besteht der Versuch, die Bausteine eines Energiekonzeptes in einem die gesellschaftlichen Gruppen umfassenden, konzeptionellen, konsensfähigen Ansatz zu
formulieren. Ansonsten werden wir weitermachen. Wir
haben das Einspeisungsgesetz erneuert. Wir werden eine
Hilfestellung für bestehende Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen geben. Wir haben ein Programm für
100 000 Solarenergiedächer. Wir haben - gegenüber den
Ansätzen bei Ihnen - die Mittel für Energieforschung
verzehnfacht. Energiepolitisch wird hier also auch weitergearbeitet. Ich habe die herzliche Bitte an Sie, nicht in
Erkenntnis der Tatsache, dass eine vernünftige Energiepolitik gemacht wird, in Allgemeinplätze zu verfallen,
sondern sich konkret mit den Antworten auf die Fragen,
die Sie gestellt haben, zu beschäftigen.
Vielen Dank.
({21})
Das Wort zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Steffen
Kampeter, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Ich
beziehe mich auf die Äußerungen des Herrn Bundeswirtschaftsministers am Anfang seiner Rede zu den
Hermes-Bürgschaften. Herr Bundeswirtschaftsminister, gestern im Haushaltsausschuss waren Sie zu diesem
Thema erheblich auskunftsfreudiger und haben auf
Nachfragen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erläutert,
dass die Hermes-Anträge, von denen Vizekanzler
Fischer behauptet, dass sie abgelehnt worden seien, gar
nicht gestellt worden sind.
Das heißt, dass der Vizekanzler Fischer von der Ablehnung virtueller Anträge ausgeht.
Der Kollege Lippold hat noch einmal ausdrücklich
angemahnt, auch dem Plenum des Deutschen Bundestages mitzuteilen, welche Anträge tatsächlich gestellt und
welche abgelehnt worden sind. So könnten Sie den Bundesaußenminister von dem zwangsläufigen Vorwurf der
Falschinformation der Öffentlichkeit und des GrünenParteitages befreien und die deutsche Öffentlichkeit über
die Vorgänge im Kabinett, die Sie bisher offensichtlich
nicht offen legen wollen, informieren. Bisher scheint es
mir so zu sein, dass die Behauptung, das Bundeskabinett
habe Anträge abgelehnt und damit die Hermes-Bürgschaft für das chinesische Kernkraftwerk legitimiert,
falsch ist. Sie haben leider nichts dazu getan, dass diese
Fehlinformation der Öffentlichkeit von Ihnen heute korrigiert wird.
({0})
Herr Minister, Sie
haben Gelegenheit, auf die Intervention zu antworten.
Gestatten Sie, darauf hinzuweisen,
dass ich die Tagesordnung, die Sie sich setzen, ernst
nehme. Ich habe nicht so furchtbar viel Erfahrung mit
Parlamenten. Aber wenn Sie eine Anfrage an die Bundesregierung stellen und eine Debatte über die Antworten verlangen, dann möchte ich mich in meiner Rede
auch auf diese Antworten beziehen.
({0})
Ich weiche aber Ihrer Frage nicht aus. Ich habe - vielleicht haben Sie vorher abgelenkt - gesagt, dass wir für
Kraftwerksbauten in China, die von anderen, nicht von
Deutschen verantwortet werden, Zulieferungen verbürgen. Dies gilt beispielsweise für die Leittechnik, die in
jedes Kraftwerk - Kohle-, Öl- und Gaskraftwerke; sie
alle bekommen Leittechnik, meistens der Firma Siemens - eingebaut wird. Oder: Weil es für eine kleine
Fabrik im Sauerland enorm wichtig ist, verbürgen wir
auch den Export von Batterien für das besagte Kraftwerk in Höhe von 9 Millionen DM.
({1})
- Das ist kein Ablenkungsmanöver. Sie wollen doch
wissen, was verbürgt worden ist. Das sage ich Ihnen
jetzt.
({2})
Nun zu der anderen Frage: Es ist gesagt worden, soundso viele Kernkraftwerke würden nicht mit HermesBundesminister Dr. Werner Müller
Bürgschaften versehen. Ich habe an der Aussage an sich
nichts auszusetzen. Ich habe nur gesagt: Es handelt sich
dabei auch um Kernkraftwerke, zu denen nach Aussage
der Bundesregierung kein Antrag auf Hermes-Bürgschaft vorliegt. Wenn jemals ein Antrag vorliegen würde, den Export eines gesamten Kernkraftwerkes zu verbürgen, dann würden wir das nicht machen. Das ist eine
klare Aussage.
({3})
Das habe ich gestern im Wirtschaftsausschuss gesagt;
ich habe es gleich lautend im Haushaltsausschuss gesagt. Das ist alles nachlesbar.
Eines möchte ich als der für Hermes zuständige Minister nicht. Ich möchte nicht, dass das Instrument Hermes in der öffentlichen Diskussion von irgendjemandem - insbesondere auch nicht von Ihnen, die Sie dieses
Instrument jahrelang mitgetragen haben - der Beliebigkeit anheim gestellt wird. Das hat das Instrument nicht
verdient.
({4})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Walter Hirche, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Antwort des Wirtschaftsministers eben war ein Beleg für die Virtualität dieser Bundesregierung. Es werden keine Anträge gestellt. und
über diese wird dann öffentlich debattiert. Herr Minister,
allein der Fürsorgepflicht gegenüber dem GrünenParteitag hätte es bedurft, deutlich zu machen, dass es
gar keine Anträge gab. Worüber haben die denn eigentlich stundenlang diskutiert?
({0})
Der Ausdruck „Luftnummer“ trifft offenbar nicht nur
auf Nordrhein-Westfalen und die Ereignisse dort zu,
sondern auch auf das, was hier vor sich gegangen ist.
Herr Minister, mich hat schon erstaunt, dass Sie in
der Vorbemerkung zu Ihrer Rede gesagt haben, die Ökosteuer habe nichts - wie die CDU das in die Debatte geworfen hat - mit Energiepolitik zu tun. Das haben wir
zwar immer gesagt; aber dass das ein Minister dieser
Bundesregierung vor dem Plenum noch einmal verdeutlicht, das ist aller Anerkennung wert.
({1})
Damit sind wir mitten in der Diskussion über Ihre
Antwort auf die Große Anfrage; denn selten hat eine
Antwort auf eine Große Anfrage das Fehlen eines Konzepts so deutlich gemacht wie diese. Natürlich kann man
selbst in einer ausführlichen Antwort nicht auf alles eingehen. Aber Sie sagen zum Beispiel einerseits, es würden bei einem Ausstieg aus der Kernenergie weder zusätzliche Kosten noch zusätzliche Emissionen entstehen.
Andererseits sagen Sie nicht, dass die Kernenergie ersatzlos wegfalle; vielmehr sagen Sie, die Regierung setze auf die Schaffung von Ersatzkapazitäten. Sie behaupten, Probleme für Klima und Gesundheit gebe es bei einem Ausstieg aus der Kernenergie nicht. Die Frage nach
den Kosten alternativer Energien wird nicht beantwortet.
Das alles ist ganz erstaunlich.
Ich ziehe das Fazit: Die Bundesregierung weiß nicht,
was an die Stelle der Kernenergie treten soll; die Bundesregierung weiß nicht, wie viel der Ersatz der Kernenergie kosten wird; die Bundesregierung weiß nicht,
welche Wirkung die Ersatzenergien auf Klima und Gesundheit haben. Das ist in Ihren Augen dann ein Konzept. Das darf doch wohl nicht wahr sein!
({2})
Die Bundesregierung weiß aber ganz genau: Es entstehen bei einem Ausstieg aus der Kernenergie weder
zusätzliche Emissionen noch zusätzliche Kosten. Dies
sagen Sie nämlich an einer anderen Stelle. Die Bundesregierung bestätigt auch ausdrücklich, dass die Kernenergie im Bereich des Grundlaststroms nicht durch erneuerbare Energien ersetzt werden kann. Rot-Grün hat
keine Probleme mit dieser Einschätzung, auch wenn die
Kernenergie einen Anteil von 60 Prozent an der Erzeugung des Grundlaststroms hat. Diese Ansicht ist beachtlich.
Die Bundesregierung behauptet weiter, dass der Beitrag der Kernenergie zur Minderung der CO2-Emissionen nicht bedeutend sei. Sie verweist dabei auf die
ganze Welt. Aber wenn Sie sich den unterschiedlichen
CO2-Emissionsausstoß in den einzelnen Bundesländern
anschauen, dann können Sie schon im Kleinen und vor
der Haustür erkennen, dass der Beitrag der Kernenergie
entscheidend ist, um die CO2-Emissionen zu mindern.
Warum weichen Sie, Herr Minister, dem aus und verweisen mit Statistiken auf den Weltzusammenhang, die
so nicht brauchbar sind? Sie drehen und wenden sich,
wie Sie es brauchen. Aber Märchenerzählungen werden
der Realität nicht gerecht.
({3})
Sie versuchen Konsensrunden zu organisieren. Ich
bedanke mich für Ihr Lob, dass wir dort konstruktiv mitarbeiten würden. Aber Sie haben die Kernenergie ausgeklammert. Wir werden jetzt sehen, ob Sie nicht auch
die Braunkohle aus den Gesprächen ausklammern werden. Diese Diskussion haben wir noch vor uns.
Lassen Sie mich feststellen: Dieser Bundestag sollte
eigentlich gar nicht lange über den Ausgangspunkt von
Energie- und Klimapolitik diskutieren. Uns liegen die
Ergebnisse der Enquete-Kommission des 12. Bundestages vor. An diese sollten wir gemeinsam anknüpfen. In
dem Bericht der Enquete-Kommission wird zum Beispiel die Forderung erhoben, dass die Kohlenstoffintensität zu halbieren sei. Das bedeutet doch nichts anderes,
als dass die Menge fossiler Brennstoffe jedweder Form
dramatisch reduziert werden muss und diese Brennstoffe
durch andere Energieträger ersetzt werden müssen. Aber
Sie haben eben in Ihrer Rede entgegen der Forderung
nach Erfüllung der Klimaschutzziele gesagt, dass die
Kraftwerke, die auf der Basis fossiler Energieträger arbeiten, ausgebaut werden sollten und dass die Kernenergie, die einen Beitrag zur CO2-Minderung leisten könnte, ersetzt werden solle. Das entspricht nicht einem überschaubaren Szenario, das wir von Ihnen, Herr Minister,
erwarten.
Ich akzeptiere, dass Sie sich von der Kernenergie verabschieden wollen. Aber wenn Sie das wollen, dann
müssen Sie auch ein langfristig angelegtes Szenario haben, das den Realitäten und den wirtschaftlichen Bedürfnissen entspricht und das nicht ein Wolkenkuckucksheim ist, das zulasten unserer Arbeitsplätze geht.
({4})
In diesem Zusammenhang ist es schon interessant, Herr
Minister, festzustellen, dass Sie Bürgschaften für den
Bau eines Kernkraftwerks in China bewilligen - wie Sie
sagen, handele es sich nur um die Leittechnik - und dass
dieses Kraftwerk mit deutscher Hilfe gebaut werden
soll, weil deutsche Sicherheitstechnologie in diesem Bereich weltweit unverzichtbar ist. Aber in Deutschland
wollen Sie die Kernenergie kaputtmachen. Das ist doch
nichts anderes als die Vernichtung von Arbeitsplätzen in
Deutschland und der Export von Arbeitsplätzen ins Ausland. So haben wir nicht gehandelt. So werden auch die
Rio-Verpflichtungen in keiner Weise erfüllt, und zwar
weder sozial noch wirtschaftlich und auch nicht ökologisch.
({5})
Wir fordern von Ihnen eine Energiepolitik, die sich
an der Reduzierung der Schadstoffbelastungen orientiert. Aber davon ist keine Rede. In allen Modellen, die
Sie anbieten, stellen Sie lediglich auf den Verbrauch ab.
Aber auch dort - das hat der Kollege Lippold schon am
Anfang dieser Diskussion deutlich gemacht - ist es
höchst fragwürdig, ob sich mit der Ökosteuer, so wie Sie
sie konzipiert haben, überhaupt der beabsichtigte Erfolg
erreichen lässt; denn - ich wiederhole dies an diesem
Pult - alle Länder um uns herum, die diese Steuern eingeführt haben, haben seit diesem Zeitpunkt keine Senkung der CO
-Emissionen. Im Gegenteil: In den Niederlanden zum Beispiel ist eine heftige Diskussion darüber
im Gange, warum jetzt die CO
-Emissionen wieder steigen. Die Steuer spielt dabei gar keine Rolle, weil die
Steuer eine Abzockerei ist und nicht das geeignete Instrument, um in dieser Sache weiterzukommen.
({6})
Lassen Sie uns doch stattdessen darüber reden, wie
wir mit wettbewerbsorientierten Modellen den erneuerbaren Energien in Deutschland einen größeren Anteil
sichern. Wir wollen dabei die Kernenergie nutzen. Wir
sind auch offen für einen Weg, der ein Szenario ohne
diese Energieform ermöglicht. Aber lassen Sie doch
darüber den Markt entscheiden! Ihr Problem mit den
Ausstiegsgesprächen ist doch, dass Sie Ihren eigenen
Argumenten nicht trauen. Sie sagen, die Kernenergie sei
unwirtschaftlich. Aber gleichzeitig müssen Sie unbedingt ein Ausstiegsgesetz machen. Wenn sie wirklich
unwirtschaftlich wäre, würde sie von alleine auslaufen.
Sie müssen das Ausstiegsgesetz machen, weil Ihre Argumentation an dieser Stelle nicht richtig ist. Darüber,
welche Technik sich durchsetzt, sollte der Markt entscheiden. Die Menschen im Markt sind letzten Endes
diejenigen, die entscheiden.
In diesem Zusammenhang gibt es doch mehr als
Windenergie und Kraft-Wärme-Kopplung. Was ist denn
mit Wasserstofftechnologie, mit Brennstoffzellen zum
Beispiel? Sie können zu einer Umstrukturierung im
Energiemix führen. Wir können nicht heute den Energiemix der Zukunft ein für alle Mal festlegen. Das ist
nicht die Vorstellung der F.D.P. von Offenheit für Entwicklung, und zwar nicht nur im technischen, sondern
auch im gesellschaftlichen Bereich.
Herr Müller, Sie haben hier wieder den durchsichtigen Versuch gemacht, Ihre Position als die moralische
darzustellen und die anderer als die hässliche, indem Sie
die Kernenergie in die Ecke gestellt haben. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn es richtig ist, dass das größte Problem der Erde das Klimaproblem, das Treibhausproblem
ist, dann ist Ihre Moral eine kleinkarierte und falsche.
({7})
Wir müssen die Möglichkeiten nutzen, die uns helfen,
von der größten Geißel der Menschheit zuerst wegzukommen und dann die anderen Probleme zu lösen.
Sie wissen, dass der Potsdamer Klimaforscher
Schellnhuber, der quer durch alle Fraktionen hohe Anerkennung genießt, in einem „Focus“-Interview wörtlich
gesagt hat:
Der Nutzen der Kernenergie für die Menschheit ist
sehr hoch und die technische Unfallwahrscheinlichkeit eher gering.
Schellnhuber als Klimaforscher stellt die Klimafrage
über die Ideologiefrage. Sie tun es genau umgekehrt.
Wir bedauern das, weil das der falsche Weg ist, den Arbeitsplätzen in Deutschland zu helfen. Es ist der falsche
Weg, die Klimafrage in Deutschland zu lösen, und der
falsche Weg, die Klimafrage in Europa und in der Welt
zu lösen. Stattdessen sollten wir den Entwicklungsländern mit einer preisgünstigen, sicheren, hoch intelligenten Energietechnik dabei helfen, sich zu entwickeln, und
damit dazu beitragen, dass diese Erde eine friedliche
Zukunft hat und sich nicht in Streitigkeiten erschöpft.
Sie sind auf dem falschen Weg. Für diesen falschen
Weg versuchen Sie immer einzelne Bruchstücke in die
Debatte zu werfen. Sie haben kein Konzept; das macht
Ihre Antwort deutlich. Das bedaure ich. Ich hoffe, dass
Sie im Laufe des Dialogs zu einem Weg kommen, auf
dem wir uns dann gemeinsam bewegen können.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hirche,
diese Hermes-Debatte ist Kinderkram.
({0})
Sie wissen ganz genau, dass Hermes-Anträge von den
Betreibern nur gestellt werden, wenn große Wahrscheinlichkeit oder eine Sicherheit besteht, dass sie angenommen werden. Deswegen ist die Debatte im Vorfeld über
Projekte, von denen jeder weiß, dass sie anstehen, die
entscheidendere. Es kommt weniger darauf an, auf die
Anträge in der IMA zu warten.
({1})
Deswegen ist es richtig, jetzt die Diskussion über die anstehenden Anträge zum Gesamtprojekt zu führen. Das
haben die Grünen getan und werden es auch weiterhin
tun.
({2})
Herr Lippold, wenn Sie schon den Sachverständigenrat für Umweltfragen zitieren, dann picken Sie sich
bitte nicht nur das heraus, was Ihnen gefällt. Zur Ökosteuer zum Beispiel hat der Sachverständigenrat für
Umweltfragen die Bundesregierung ausdrücklich gelobt
und gesagt, wir sollten auf diesem Weg noch wesentlich
konsequenter voranschreiten, weil das ein Beitrag für
den Klimaschutz wäre.
({3})
Sie bieten uns Ihre konstruktive Zusammenarbeit an.
Dann frage ich die CDU-Fraktion: Wo war denn Ihre
konstruktive Zusammenarbeit bei dem Gesetz zur Förderung der erneuerbaren Energien, das wir in der letzten
Woche verabschiedet haben? Da haben Sie mit Nein gestimmt. Gott sei Dank hat das der Bundesrat nicht getan.
Der Bundesrat hat tatsächlich konstruktiv mit uns zusammengearbeitet und hat diesem Gesetz zur Förderung
der erneuerbaren Energien zugestimmt. Sie haben in
diesem Punkt Fundamentalopposition betrieben und
wenden damit einer Zukunftsbranche den Rücken zu.
Ich war auf der Messe der Maschinen- und Anlagenbauer in Halle 7, in der sich die Stände der Träger der
erneuerbaren Energien befinden. Dort herrscht jetzt Aufbruchstimmung. Es wird geplant, es wird verkauft, es
wird investiert, es werden neue Arbeitsplätze geschaffen. Schmack-Biogas sagt zum Beispiel: Statt bisher
fünf Anfragen in einer Woche haben wir jetzt zehn Anfragen pro Tag, Biogasanlagen zu bauen, unter anderem
von Stromkonzernen. Tacke kündigt an, die Zahl der
Arbeitsplätze um 50 Prozent steigern zu wollen. Wo gibt
es so etwas noch? In der „neuen energie“ gibt es jetzt
neun Seiten Stellenanzeigen für diesen Bereich. Übrigens profitiert davon auch die Zulieferindustrie. Wussten Sie zum Beispiel, dass Enercon mehr Stahl verbraucht als die deutsche Werftindustrie? Ich kann Ihnen
nur sagen: Das sind grüne Ideen und mit diesen grünen
Ideen werden jetzt in der Wirtschaft schwarze Zahlen
geschrieben.
Es gibt in diesem Bereich einen ungeheuer großen
Innovationsdrive. Die Biogasanlagenbauer haben angekündigt, dass sie ihre Anlagen in absehbarer Zeit um
50 Prozent verbilligen wollen. Die Betreiber von Windkraftanlagen wollen Offshoreparks, also schon größere
Kraftwerke, vor der Küste bauen. Ich sage Ihnen: Hier
gibt es richtig Bewegung, und zwar Bewegung in Richtung Umweltschutz, Arbeitsplätze und Zukunft.
Nun also gibt es eine Große Anfrage der CDU: Sie
stellen Fragen, wir handeln.
({4})
Genauer gesagt: Sie stellen Fragen von gestern und wir
handeln für morgen. Eine Frage von gestern ist zum
Beispiel, ob es in ungefähr 18 Jahren, wenn wir komplett aus der Atomenergie aussteigen wollen, möglich
ist, die AKWs in der Grundlast zu ersetzen. Ich sage
Ihnen: Italien, Portugal, Dänemark, Irland und Taiwan
haben null Prozent Atomindustrie. Haben diese Länder
keine Grundlast? Wenn Sie so wenig Fantasie haben, um
sich vorstellen zu können, dass auch in Deutschland irgendwann die Grundlast durch andere Energien sichergestellt werden kann, tut es mir um Sie Leid. Ich glaube,
dass Ihre ideologischen Scheuklappen Sie tatsächlich
daran hindern, in die Zukunft zu denken. Mit anderen
Worten: Auch die Bretter, die man vor dem Kopf hat,
können die Welt bedeuten.
({5})
Sie reden von Klimaschutz und davon, dass eventuell
die Gefahr besteht, dass wir das Ziel nicht erreichen. Ich
sage Ihnen Folgendes: Das ist auch Ihre Altlast. Jahrelang haben sie in diesem Bereich nichts, aber auch gar
nichts getan. Fünf Jahre verbleiben uns noch. Die Maßnahmen, die wir jetzt Schritt für Schritt ergreifen, werden natürlich nur zeitverzögert zur Senkung der CO2Emissionen führen. Aber wenn wir das Klimaschutzziel
nicht erreichen, ist die Hauptursache dafür, dass Sie in
den zehn Jahren, in denen Sie regiert haben, nichts getan
haben.
({6})
Die Behauptung, der Atomausstieg führe zu einem
CO2-Anstieg, ist falsch. Wenn wir dieses Thema endlich einmal vom Tisch haben, wird sich der Blick für die
Zukunftstechnologie weiten. Wir sagen: Wenn wir uns
nicht erhängen wollen, wollen wir uns auch nicht erschießen. Die Atomtechnologie ist keine Alternative zur
Begrenzung des Treibhauseffektes. Wir müssen beides
schaffen.
({7})
Ich nenne Ihnen einige Beispiele: Wir erarbeiten
zurzeit gemeinsam einen Antrag, Stand-by-Geräte, die
Energie verschwenden, herunterzuschalten. Wenn wir
das schaffen - dabei müssen Sie den Zeitraum von
18 Jahren für den Atomausstieg bedenken -, dann können
wir 4,4 Prozent Strom einsparen. Das entspricht ungefähr zwei AKWs.
Ein anderes Beispiel ist die Biomasse, zu deren Nutzung wir jetzt eine neue Initiative gestartet haben. Wenn
wir nur 60 Prozent der in Deutschland vorhandenen Bioabfälle für die Stromproduktion einsetzten, könnten wir
damit 15 Prozent des deutschen Strombedarfs, 60 Milliarden Kilowattstunden Strom produzieren. Das entspricht ungefähr sechs AKW.
Oder wenn wir nur die bestehenden Fernwärmeanlagen modernisierten, dort neue Technologien einsetzten,
um die Fernwärmenetze trotz der Liberalisierung weiter
zu betreiben, dann könnten wir beim gleichen Wärmebedarf wesentlich mehr Strom produzieren und damit
10 Prozent des deutschen Strombedarfs CO2-neutral ersetzen.
Dies sind nur drei kleine Beispiele, wie man CO2neutral Atomkraftwerke ersetzen kann. Diese drei kleinen Beispiele erbrächten schon 10 Prozent.
Ich habe dabei noch nicht über Wind geredet, ich habe dabei noch nicht über Erdwärme geredet. Erdwärme
hat ein Potenzial von 30 Prozent. Ich habe noch nicht
über die GuD-Anlagen gesprochen, bei denen es eine
Chance gibt und die übrigens sehr gut in die Grundlast
passen. Ich habe noch nicht über die Energieeinsparung
in Krankenhäusern, in Schulen und in der Industrie, die
immer noch möglich ist, geredet. Ich habe noch nicht
darüber geredet, dass die Bundesregierung auch das Ziel
hat, die Nutzung der Kraft-Wärme-Kopplung zu verdoppeln.
Beim endgültigen Ausstieg in 18 Jahren kann man es
schaffen. Ich bin mir sicher, dass wir sowohl die Nutzung der gefährlichen Atomtechnologie beenden, als
auch den Treibhauseffekt in unserem Lande begrenzen.
Der Weltenergieverbrauch verdoppelt sich in der
Tat und eben deswegen müssen Zukunftstechnologien
umweltfreundlich sein. Wir haben mit dem Gesetz über
die erneuerbaren Energien zusammen mit dem 100 000Dächer-Förderprogramm, das wohl weltweit ambitionierteste Instrumentarium zur Förderung der erneuerbaren Energien. Das ist ein sehr wichtiger Baustein für den
Klimaschutz; das ist eine sehr wichtige Säule auch für
ein zukünftiges Energiekonzept.
Ein zweiter Bereich, den wir uns jetzt in absehbarer
Zeit vornehmen, wird die effiziente Nutzung der fossilen Energieträger sein. Es ist ein Skandal, finde ich,
wenn über Endlichkeit der fossilen Energieträger gesprochen wird. Es ist ein Skandal, dass wir in Deutschland immer noch Kraftwerke betreiben, in denen nur
40 Prozent des Energiegehaltes dieser fossilen Energieträger tatsächlich genutzt werden. Über 60 Prozent des
Energiegehaltes werden sinnlos, ohne dass wir daraus
Energie gewinnen, in die Luft gepustet. Das ist keine
Zukunftstechnologie.
({8})
Deswegen nimmt sich diese Bundesregierung vor, die
Ausnutzung der fossilen Energieträger, wenn wir sie
schon einsetzen - wir werden sie auf absehbare Zeit
brauchen -, wesentlich zu erhöhen. Wir haben Technologien, mit denen wir 60, 70, 80, ja sogar 90 Prozent des
Energiegehaltes nutzen können, indem wir die Wärme,
die bei der Stromproduktion entsteht, im Anschluss
nicht einfach in die Luft geben, sondern zum Heizen von
Wohnungen oder als Prozesswärme nutzen.
Deswegen - damit befinden wir uns in Übereinstimmung mit der Europäischen Union - wollen wir diesen
Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung bei der Ausnutzung
der fossilen Energien in den nächsten zehn Jahren verdoppeln.
({9})
Die Grünen setzen dabei auf einen Zertifikatshandel. Wir wollen jedem Stromlieferanten vorschreiben,
dass er einen bestimmten Anteil dieser hoch effizienten
Nutzung der fossilen Energieträger mit im Angebot haben muss, und dieser Anteil wird Schritt für Schritt gesteigert. Wie dieser Stromlieferant diesen Anteil erfüllt,
das wollen wir offen lassen, das wollen wir dem Markt
überlassen. Er kann ihn entweder selbst produzieren, er
kann ihn aber auch zukaufen, er kann ihn in Gemeinschaftsproduktion mit der Industrie oder mit Stadtwerken produzieren. Dies wollen wir dem Markt überlassen.
Damit hätten wir dafür gesorgt, dass auch in dem Bereich der hoch effizienten Nutzung der fossilen Energieträger Kohle, Gas und Öl eine marktwirtschaftliche
Komponente enthalten ist.
Damit werden wir das Ziel erreichen, auch mit den
fossilen Energieträgern sparsam umzugehen. Dieses Ziel
werden wir zu minimalen volkswirtschaftlichen Kosten
mit maximalen Innovationsanreizen erreichen können.
Ich freue mich, mit Ihnen diese Debatte zu führen.
Herr Lippold, ich werde Sie an Ihr Angebot erinnern,
diese Debatte konstruktiv zu führen. In diesem Zusammenhang wünsche ich mir, dass nicht wieder die Situation eintritt, dass wir Sie im Bundestag überstimmen müssen, im Bundesrat aber eine Mehrheit für unsere Konzepte bekommen.
({10})
Ich erteile Kollegin
Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Grundsätzlich ist zu bemerken, dass die Große Anfrage der CDU/CSU eine deutliche Steilvorlage für die Atompolitik der Bundesregierung geliefert hat. Sie, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, haben Profilierungsprobleme: Außer ihrem
Festhalten an der Kernkraft hat die CDU/CSU kaum
noch ein positives Projekt auf dem energiepolitischen
Feld, und so verwickelt sie sich in rührende Ungereimtheiten.
Einerseits will sie die Kräfte des freien Marktes walten lassen, wo bekanntlich Monopolstrukturen und nicht
etwa Marktstrukturen den dominanten Einfluss ausüben.
Sie stellt volkswirtschaftliche Betrachtungen über den
Energiemix an und verdammt gleichzeitig sämtliche politischen Instrumente zur Gestaltung dieses Energiemixes als Eingriff in das Walten des Marktes. Ein schöngeistiger Streit über Plan und Markt ist in der deutschen
Energiepolitik angesichts der Eigentumsstrukturen und
der starken Rolle der öffentlichen Hand völlig gegenstandslos.
Wirklich rührend unschuldig klingt es, wenn die
Bundesregierung erklärt:
Die Bundesregierung erstellt keine eigenen
Energieprognosen. Sie will damit vermeiden, dass
Produzenten und Verbraucher amtliche Bewertungen als staatliche Vorgaben oder Erwartungen
missverstehen.
Ich frage Sie: Wird eine risikoarme und ressourcenschonende Energiepolitik ohne Bewertungen und ohne Formulierung von Erwartungen auskommen? - Ich denke,
nein.
Stichwort Energierohstoffreserven: Sowohl die Fragen der CDU/CSU als auch die Antworten der Bundesregierung zeugen von einem mangelnden Bewusstsein
für die Notwendigkeit einer international abgestimmten
Klimaschutzpolitik. Ihr Sinnen und Trachten ist auf die
billigste Versorgung mit Rohöl, Erdgas und Kohle gerichtet. Man muss sich beim Stichwort Versorgungssicherheit doch einmal klarmachen, dass die vorherrschenden Strategien zur Destabilisierung der Preispolitik
der OPEC klimapolitisch total kontraproduktiv sind. Billiges Rohöl auf den Weltmärkten heizt die Nachfrage
und den Verbrauch an.
Auf die Frage der Öffnung der nationalen Strommärkte für ausländische Anbieter antwortet die Bundesregierung mit Verweis auf den geschlossenen französischen Markt in einem Sinne, der darauf schließen lässt,
dass die Bundesregierung einer Ausweitung des grenzüberschreitenden Handels mit Strom nicht ablehnend
gegenübersteht. Dagegen erkläre ich: Die PDS teilt das
Ziel einer Ausweitung des grenzüberschreitenden Handels nicht. Nach unserer Auffassung ist dezentraler
Energieerzeugung in kleinen Anlagen Vorrang einzuräumen.
({0})
Die Bundesregierung macht deutlich, dass sie dem
Strompreisniveau eine bedeutende Rolle hinsichtlich
vergleichender Kostenbetrachtungen bei der Wahl von
Industriestandorten beimisst. Aus Sicht der PDS steht
das jeweilige Strompreisniveau in aller Regel jedoch
nicht an vorderster Stelle bei der Abwägung von Standortentscheidungen,
({1})
sondern wird nach wie vor durch Faktoren wie Marktnähe und Qualifikation der Arbeitskräfte dominiert.
Nach unserer Auffassung bestehen unter Würdigung
aller Standortfaktoren erhebliche Spielräume hinsichtlich der Strompreisgestaltung. Diese Spielräume müssen
bei der noch ausstehenden Energiewende erheblich stärker genutzt werden. Gegenwärtig bezahlen gerade die
energieintensiven Branchen in Deutschland viel zu wenig für ihren Energieverbrauch.
Die Bundesregierung behauptet, sie erörtere „mit allen relevanten gesellschaftlichen Gruppen, wie die künftige Energieversorgung klimaverträglich gestaltet werden kann“. Sie vertritt in beispielloser Selbstgerechtigkeit die Auffassung, im Rahmen des „Energiedialogs 2000“ mit den Beteiligten gesprochen zu haben.
Tatsache ist jedoch, dass die PDS eine gesellschaftlich
relevante Gruppe ist, die nicht nur eine Fraktion im
Bundestag stellt, sondern in Ostdeutschland auch die Interessen der von der Braunkohleindustrie geprägten Regionen wahrnimmt, und die sich darüber hinaus für eine
offene und sachgerechte Erörterung der Probleme bei
der Sanierung von Atomaltlasten in Greifswald und
Rheinsberg einsetzt.
({2})
Die undemokratische Ausgrenzungspolitik der Bundesregierung gegenüber der PDS ist durch und durch
von parteiegoistischem Kalkül geprägt und ist weit davon entfernt, zu dauerhaften Lösungen zu kommen. Dies
gilt insbesondere für ihre verantwortungslose Atompolitik.
Stichwort Energiewirtschaftsrecht: Die PDS hält im
Gegensatz zur Bundesregierung die Verbändevereinbarung für absolut unzureichend. Eine gesetzliche Regulierung der Einspeisemodalitäten und der Durchleitungsentgelte ist unabdingbar. Da das Monopoleigentum am
Transportnetz nach wie vor Monopolprofite erwarten
lässt und zu realisieren hilft, erheben wir auch weiterhin
die Forderung nach Überführung des Stromleitungsnetzes in gemeinwirtschaftliches Eigentum.
({3})
Eine Klima und Ressourcen schonende Energiepolitik
ist mit privater Aneignung von Monopolprofiten unvereinbar. Die Bundesregierung erklärt:
Eine dauerhaft günstige Versorgung der Verbraucher mit Strom soll über den Wettbewerb auf liberalisierten Strommärkten gesichert werden.
Sie feiert damit die so genannte Liberalisierung des
Strommarkts und begrüßt das Absinken der Strompreise.
Einen guten Teil aus den Rationalisierungsgewinnen in
der Energiewirtschaft führt sie sich als Energiesteuer
zu. Herr Hirche, zum Beispiel das kostet Arbeitsplätze.
Dass diese Entwicklung in einen wachsenden Gegensatz
zum Ziel der rationalen sparsamen Energienutzung gerät, stört Sie auch nicht.
Die Energiesteuer der Bundesregierung belastet vornehmlich die privaten Haushalte anstelle der Industrie
und das verarbeitende Gewerbe. Die Wunderformel
„Arbeit verbilligen, Natur versteuern“ entlässt die Unternehmen aus ihrer Verantwortung zur Finanzierung
der gesetzlichen Rentenversicherung und schafft aufgrund dieser unsozialen Verteilung von Steuern und
Abgaben gerade keine Preisanreize zur Entwicklung
Energie sparender und Ressourcen schonender Produkte
und Produktionsverfahren.
Ich habe neulich mit einem Professor gesprochen, der
gerade - ({4})
- Herr Glos, weil Sie so erstaunt tun: Vielleicht reden
Sie nie mit Professoren. Ich kann Ihnen nur sagen: Forschungsaufträge gerade für Großbetriebe zur Ressourceneinsparung werden zurzeit zurückgezogen. Vielleicht
haben Sie davon noch nichts gehört, aber ich inzwischen
schon.
Die Bundesregierung will auch zukünftig die Kernenergienutzung durch öffentliche Forschungsmittel unterstützen. Sie fördert - darüber haben wir schon gesprochen - den Export der deutschen Atomindustrie
durch Hermes-Kredite. Ja, sie erklärt unumwunden,
dass deutsche Firmen unter Mitwirkung deutscher Forschungsinstitute an den Arbeiten zur Entwicklung der
Hochtemperaturreaktortechnologie insbesondere in Südafrika beteiligt sind.
Wir fordern die Bundesregierung auf, die Beteiligung
deutscher Forschungsinstitute, soweit es sich um öffentlich geförderte Forschung handelt, unverzüglich einzustellen. Die HTR-Technologie hat sich gerade vor dem
Hintergrund der Erfahrungen mit der Reaktorkatastrophe
von Tschernobyl als unsicher erwiesen, da chemische
Reaktionen zwischen Wasserdampf und dem Moderatormaterial Graphit zu heftigen Explosionen und zur
Zerstörung des Reaktors führen können. Ein HTR ist
daher keineswegs sicher und er wäre in Deutschland
eben nicht genehmigungsfähig.
Darüber hinaus erheben wir den Vorwurf, dass sich
die Bundesregierung mit der Förderung der HTRTechnologie in Südafrika der Zulieferung und Verfügbarmachung von Technologie zur Kernwaffenproduktion schuldig macht; denn die Kugelhaufentechnologie ermöglicht einen kontinuierlichen Wechsel von
Brennelementen während des laufenden Betriebes, der
eine Überwachung von spaltbarem Material durch internationale Maßgaben zur Kontrolle dieser Stoffe schier
unmöglich macht.
Stichwort Restrisiko: Die Antworten der Bundesregierung zum Stichwort Restrisiko sind mehr als unbefriedigend. Sie hält offenkundig am Konzept Restrisiko
fest. Damit stellt sie sich einerseits auf den Standpunkt,
es sei akzeptabel, dass keine technische Vorsorge gegen
Unfallabläufe, die das Leben und die Gesundheit von
Millionen Menschen schwer beeinträchtigen, getroffen
wird und auch nicht getroffen werden kann.
Andererseits ist das haarsträubende Festhalten der
Bundesregierung am Konzept Restrisiko vor dem Hintergrund ihrer Restlaufzeitpläne nur folgerichtig. Würde
sie nämlich feststellen, dass keine technischen Maßnahmen verfügbar sind, die gravierende Unfallabläufe und
deren Folgen beherrschbar machen, müsste sie unter
dem öffentlichen Druck die Betriebsgenehmigungen aller Atomkraftwerke mit sofortiger Wirkung widerrufen.
Zum letzten Punkt, Stichwort Restlaufzeiten: Zurzeit
ist eine Restlaufzeit von 30 Jahren vorgesehen. Auf dem
Parteitag der Grünen wurde dies bestätigt. Unserer Meinung nach erhalten die Betreiber von Atomkraftwerken
erstmalig einen rechtlich einklagbaren Titel zur Verwertung ihres Kapitals, den sie so bisher nie ihr Eigen nennen konnten. Statt eines Ausstiegsgesetzes droht noch
vor der Sommerpause eine Regelung, die man ohne Umschweife „Atomkraftverstromungsgesetz“ nennen muss.
Wir lehnen diese Politik ab.
Danke.
({5})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Rolf Hempelmann, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Die Anfrage der CDU/CSUFraktion lautet: „Energiepolitik für das 21. Jahrhundert Energiekonzept der Bundesregierung für den Ausstieg
aus der Kernenergie“. Wenn man sich diese Anfrage näher anschaut, dann stellt man fest, dass sich fast
80 Prozent der Fragen auf die Kernenergie beziehen
und sich nur ein geringerer Teil der Fragen mit dem eigentlichen Thema, nämlich mit dem Konzept für das
21. Jahrhundert, befasst. Die Redner der früheren Koalition haben heute eine ähnliche Gewichtung vorgenommen. Man hat manchmal den Eindruck: Hier sprechen
nicht Politiker, sondern Vertreter der Atomlobby. Ich
glaube, auf diese Art und Weise sind die Zukunftsprobleme im Energiebereich nicht zu lösen.
({0})
Trotzdem ein paar Worte zum Komplex Kernenergie:
Zu dem Vorwurf an die Bundesregierung, sie plane den
Ausstieg aus einer Energieform, die beispielsweise im
Hinblick auf den CO2-Ausstoß über besondere Vorzüge
verfüge, muss man ganz klar sagen: Das, was die Bundesregierung in diesem Bereich tut, ist im Grunde genommen bereits vor 20 Jahren durch die Kernenergiewirtschaft eingeleitet worden.
Denn was ist passiert? Wer hat denn beispielsweise
den Betrieb des Brüters eingestellt? Wer hat den Betrieb
des HTR eingestellt? Wer hat den Betrieb einer Wiederaufbereitungsanlage eingestellt und wer hat seit
20 Jahren nicht mehr den Bau eines Atomkraftwerkes in
der Bundesrepublik Deutschland bestellt? Das war nicht
die Politik; das war die Energiewirtschaft. Insofern wird
deutlich, dass es sich letztlich um ein Vergießen von
Krokodilstränen handelt, wenn man behauptet, dass die
Politik einer erfolgreichen Technologie das Ende bereitet. Im Gegenteil: Wir sorgen endlich dafür, dass es einen geordneten Ausstieg und damit die Möglichkeit
gibt, endlich die Zukunft der Energie zu planen.
({1})
- Herr Hirche, ich traue mir auf jeden Fall immer zu
100 Prozent; bei anderen mache ich manchmal Abstriche.
Aber ich traue dem Energiekonzept der Bundesregierung weit mehr als dem, was in der Vergangenheit von der ehemaligen Bundesregierung getan worden
ist. Da ist nämlich eher nach dem Prinzip „Lasst die
Wirtschaft einmal machen und dann wird das alles
schon vernünftig laufen“ verfahren worden.
Wir haben aber gesehen - ich werde das gleich ausführlicher darstellen -: Gerade in den Bereichen, wo wir
eine Regulierung dem Markt überlassen wollten, zum
Beispiel bei der Liberalisierung des europäischen Binnenmarktes, haben die Maßnahmen, die Sie richtig beabsichtigt haben, in der Sache nicht gegriffen. Es gibt
eben keinen wirklich fairen Binnenmarkt für Energie.
Es gibt Ungleichgewichte und eine mangelnde Reziprozität, worüber Sie sich selbst - beispielsweise im Wirtschaftsausschuss - immer wieder beklagen. Das ist das
Ergebnis einer von Ihnen hier im Deutschen Bundestag
abgenickten europäischen Energierichtlinie und des von
Ihnen vollzogenen Umsetzungsgesetzes.
Um bei der europäischen Dimension zu bleiben: Hier
liegt die eigentliche Thematik, mit der wir uns befassen
müssen. Der Ausstieg aus der Kernenergie ist eben nicht
derjenige Komplex, der die weitere Zukunft der deutschen Energieversorgung entscheidend beeinflusst. Die
Situation hinsichtlich der Energieversorgung in Deutschland wird viel stärker durch die Frage beeinflusst, wie in
Europa in Zukunft weiter Energiepolitik betrieben wird.
Es stellt sich insbesondere die Frage, wie der Energiebinnenmarkt umgesetzt wird.
Was von der alten Koalition bezüglich der Europarichtlinie auf den Weg gebracht worden ist - ich denke,
in diesem Punkt sind wir uns im Ausschuss einig -, hat
letztlich dazu geführt, dass inzwischen eine Reihe von
Unternehmen aus anderen EU-Ländern auf unseren
Markt drängen konnten. Umgekehrt bestehen aber für
unsere Unternehmen - beispielsweise in Frankreich diese Möglichkeiten nicht.
Man muss ganz klar feststellen: Hier ist eine Reihe
von Aufgaben übrig geblieben, die die jetzige Bundesregierung zu lösen hat. Weil Sie sie nicht gelöst haben,
ist es in Zukunft unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass
diese Ungleichgewichte beseitigt werden. Es ist auch
unsere Aufgabe - das ist jedenfalls für die nächsten Jahre ein Teil unseres Energiekonzeptes -, dafür zu sorgen,
dass französische Unternehmen zwar als Wettbewerber
durchaus hier auftreten können, dass aber umgekehrt
auch wir die Chance haben, uns etwa auf dem französischen Markt zu engagieren. Dies ist bisher leider nicht
möglich.
({2})
Die alte Bundesregierung hat hier nach dem Motto
gehandelt: Hauptsache wir haben Wettbewerb. - Dazu
sage ich ganz klar: Der Grundgedanke ist richtig. Auch
wir sind dafür, dass Wettbewerb auf den europäischen
Energiemärkten stattfindet. Die alte Bundesregierung
hat aber geglaubt, dass sie mit dieser europäischen
Richtlinie, wie sie damals verfasst worden ist, tatsächlich auch Wettbewerb erreicht. Was sie erreicht hat, ist nach einhelliger Auffassung - eher Wettbewerbsverzerrung. Deswegen müssen wird dafür sorgen, dass wir in
Zukunft all die Elemente, die zur Wettbewerbsverzerrung beitragen, endlich beseitigen.
Wir müssen zum einen dafür sorgen, dass endlich
Entflechtungsprozesse auf dem französischen Energiemarkt und auch auf den südeuropäischen Energiemärkten erfolgen. Zum anderen müssen aber auch bestimmte
Prozesse, die eigentlich vor dem In-Kraft-Treten der europäischen Richtlinie hätten liegen müssen, endlich
nachvollzogen werden.
({3})
Das heißt, dass wir endlich all die Rahmenbedingungen, die letztlich den Wettbewerb beeinflussen und die
geordnet werden müssen, damit es einen echten und fairen Wettbewerb gibt, zumindest aneinander angleichen.
Ich will gar nicht das große Wort von der Harmonisierung strapazieren. Ich denke aber, es ist klar, dass wir
dafür sorgen müssen, dass wir endlich etwa bei dem
Thema einer europäischen Energiebesteuerung Schritte
weiterkommen. Die Vertreter der früheren Koalition
müssen eingestehen, dass die alte Bundesregierung in
diesem Bereich eher defensiv gewesen ist.
({4})
Wir müssen aber auch andere Faktoren, die den
Energiekomplex und die Wettbewerbsfähigkeit sowohl
der energieproduzierenden als auch der energieverbrauchenden Industrie beeinflussen, endlich in die Hand
nehmen. Es geht einerseits um die Entflechtungen, die
ich eben genannt habe. Es geht andererseits um die Angleichung der Besteuerung. Es geht aber auch um die
Angleichung vieler Auflagen, die ganz unterschiedlich
auf die europäischen Mitgliedstaaten verteilt sind, die
aber die Kosten von Energieproduktion und Energieverbrauch beeinflussen. Wir müssen endlich dafür
sorgen, dass der Begriff „europäischer Binnenmarkt für
Energie“ diesen Namen verdient.
({5})
In diesen Zusammenhang gehört auch ein Stichwort,
das der Bundeswirtschaftminister genannt hat. Das
Stichwort heißt EGKS. Es ist völlig klar - wir hatten in
der letzen Legislaturperiode hierzu einen Vorstoß gemacht; wir werden diesen wieder aufgreifen -, dass wir
wichtige Elemente dieses fundamentalen europäischen
Vertrages, der im Jahre 2002 ausläuft, in die europäischen Verträge übernehmen müssen. Das ist keine einfache Aufgabe. Wahrscheinlich ist dies der Grund, warum die alte Bundesregierung sie nicht angepackt hat.
Wir werden sie aber anpacken. Wir haben schon zahlreiche Verbündete, die uns dabei zur Seite stehen werden.
({6})
Die Frage der Stromeinspeisung von erneuerbaren
Energien ist ebenfalls ein europäisches Thema. Es wird
Sie nicht verwundern, dass ich diesen Aspekt besonders
hervorhebe, weil ich dafür im Wirtschaftsausschuss zuständig bin. Wir haben in Deutschland ein entsprechendes Gesetz auf den Weg gebracht, das nicht nur von den
Branchen, sondern insgesamt von der Energiewirtschaft
als Fortschritt gegenüber der alten Situation gelobt wird.
Ich denke, wir werden auch auf europäischer Bühne
versuchen müssen, Schritt für Schritt zu entsprechenden
Angleichungen zu kommen. Es gibt einige, die auf diesem Wege schon weit fortgeschritten sind. Wir müssen
aber auch andere mitnehmen und müssen dafür sorgen,
dass sie diesen Weg gemeinsam mit uns gehen. Die ersten Anzeichen sprechen dafür, dass wir auf diesem Wege auch Erfolg haben können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, an diesen Worten
ist glaube ich deutlich geworden, dass wir eine Menge
zu tun haben, um Reparaturen vorzunehmen und um dafür zu sorgen, den europäischen Binnenmarkt endlich in
eine vernünftige Ordnung zu überführen, was im deutschen Energiemarkt einschneidendere Auswirkungen
hat. Wenn der europäische Binnenmarkt nicht funktioniert, wenn er verzerrt funktioniert oder wenn er Wettbewerbsnachteile für deutsche Marktteilnehmer produziert, sind die Gefahren für Arbeitsplätze, etwa im Bereich der Energieproduktion oder auch der Energie
verbrauchenden Unternehmen, sehr viel größer als bei
einem Ausstieg aus der Kernenergie.
({7})
Um es klar zu sagen: Die Politik der Bundesregierung
geht in die Richtung, dass per saldo im Bereich der
Energie eher Arbeitsplätze gewonnen werden. Die Kollegin Hustedt hat eben deutlich gemacht, wie sich das
beispielsweise im Bereich der erneuerbaren Energien
bereits auswirkt und in Zukunft weiter auswirken wird.
Im Übrigen planen wir nicht den Sofortausstieg. Alle
Zahlen, die von der Wirtschaft vorgelegt werden, beziehen sich auf den Sofortausstieg. Arbeitsplätze in der genannten Größenordnung wären nur dann bedroht, wenn
ein kompletter Sofortausstieg stattfinden würde. Dies alles haben wir nicht vor.
Herr Kollege
Hempelmann, Sie nehmen bereits Ihren Fraktionskollegen die Redezeit weg.
Dann will ich jetzt zum
Schluss kommen, Herr Präsident.
Das Energiekonzept für das 21. Jahrhundert, das Sie
einfordern, haben Sie, hat aber auch der BDI schon einmal vor 20 Jahren versucht. Hätten wir das realisiert, so
hätten wir jetzt 50 Kernkraftwerke mehr, dann hätten
wir im Energiesektor eine zusätzliche Kostenbelastung
von jährlich 100 Milliarden DM. Es macht eine ganze
Menge Sinn, sich mit solchen Konzepten Zeit zu lassen,
den Dialog mit den Betroffenen, mit der Wirtschaft zu
suchen und dann etwas auf den Tisch zu legen, was
möglichst über Jahrzehnte trägt. Dabei sind wir. Wir
können uns die Zeit lassen, weil der Kernenergieausstieg, wie ich es schon ausgeführt habe, in den nächsten
Jahren keine einschneidende Wirkung haben wird, wie
Sie es behaupten - auch nicht bei der CO2-Thematik. Insofern sind Sie eingeladen, in der Enquete-Kommission,
in den Ausschüssen und im Plenum an den Konzepten
mitzuarbeiten.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Kurt-Dieter Grill, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Bundespresseamt hat zur Veröffentlichung der Antwort auf die
Große Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion folgende Überschrift für seine Presseerklärung gewählt:
40 000 Beschäftigte in der deutschen Kernenergiewirtschaft gefährdet, weitere 150 000 Arbeitsplätze vom
Ausstieg aus der Kernenergie abhängig.
({0})
- Das ist Ihr Bundespresseamt.
({1})
Ich sage nur: Eine Bilanz dessen, was Ihr Zugewinn
durch die Politik ist, die Sie heute Morgen vorgetragen
haben, findet sich in der Antwort nicht, können Sie nicht
geben. Das heißt, Sie gefährden 190 000 Arbeitsplätze.
Sie können aber nicht sagen, wie viele neue Arbeitsplätze Sie schaffen, meine Damen und Herren.
({2})
Herr Kollege Hempelmann, ich schätze Sie sehr, auch
bei der Arbeit in der Enquete-Kommission; eines kann
ich Ihnen aber nicht durchgehen lassen - das gilt genauso für Herrn Müller und für viele andere -: 50 oder 55
deutsche Kernkraftwerke war die Zahl, die Helmut
Schmidt in Anbetracht der Ölpreiskrise für Deutschland
geplant hatte und nicht Helmut Kohl.
({3})
Ich kann das nur so sagen. Sie haben hier jemanden
vor sich, der genau unter dieser Planung in Gorleben
22 Jahre lang politisch gearbeitet hat. Gorleben ist das
Produkt Ihrer Politik und nicht das Ergebnis von
CDU/CSU- und FDP-Regierung in diesem Land.
({4})
- Herr Schmidt, darauf komme ich später vielleicht noch
einmal zurück.
Meine Damen und Herren, wir haben am Ende unserer Zeit 20 deutsche Kernkraftwerke und wir haben in
den 80er-Jahren die Zukunft in die Hand genommen.
Wenn Sie einmal die Haushalte durchgehen, werden Sie
sehen, dass seit 1983 der stärkste Abbau der Kernenergieförderung passiert ist und unter Heinz Riesenhuber
und anderen der Aufbau der regenerativen Energien
konsequent und permanent verfolgt worden ist.
({5})
Nun hat der Herr Bundeswirtschaftsminister Müller
gesagt, der Kollege Lippold hätte sich mit dem beschäftigen sollen, was in der Antwort steht. - Ja, die Substanz
reicht dafür eigentlich nicht aus, Herr Müller.
({6})
Ich will Ihnen das an ein paar Beispielen beweisen. Der
Kollege Hempelmann hat gerade gesagt: Wir wollen die
Wirtschaft lenken. Meine Damen und Herren, beschäftigen Sie sich doch einmal mit der Antwort der Bundesregierung. Darin steht: Wir wollen eine wettbewerbsorientierte Energiewirtschaft, wir wollen eine staatsfreie
Energiewirtschaft, wir wollen eine subventionsfreie
Energiewirtschaft. Aber das, was Sie auf der linken Seite dieses Hauses bisher verbreiten, ist ein Eingriff nach
dem anderen, eine Subvention nach der anderen, weil
Sie dem Wettbewerb nicht vertrauen.
({7})
Herr Müller, ich diskutiere gern mit Ihnen über die
Frage des Wirtschaftswachstums, weil ich zusammen
mit Heinz Riesenhuber in einer Zeit mit der Energiepolitik angefangen habe, in der dieses Land unter einem
Energiefaktor 1,2 diskutiert hat. Wenn Sie heute die Bilanzen sehen, dann stellen Sie fest, dass Sie von uns einen Energiefaktor von 0,7 bis 0,8 übernommen haben.
Das heißt, in den 16 Jahren der Regierung Kohl ist die
Energieeffizienz der deutschen Wirtschaft um das Vielfache gesteigert worden und wir brauchen für ein Prozent Wirtschaftswachstum eben nicht mehr 1,2 Prozent
Energiewachstum. Aber Sie werden mit jeder Wachstumspolitik auch Energiefragen auslösen. Diesen Zusammenhang werden Sie nicht auf Null reduzieren können.
({8})
Jetzt spreche ich über die Frage der Entsorgung; das
ist ja Ihr Lieblingskind. Politisch ist für Sie die Entsorgung kaputt, aber fachlich nachprüfbar haben Sie bis
heute an keiner Stelle hinterlegt, wo das Entsorgungskonzept gescheitert ist. Herr Trittin, Sie teilen doch
Herrn Jüttner mit, „Konrad“ ist genehmigungsfähig, die
Pilotkonditionierungsanlage ist genehmigungsfähig und
die dezentralen Zwischenlager, die jetzt gebaut werden,
werden nach dem Baumuster von Ahaus und Gorleben
gebaut. Wo ist Ihr Problem? - Sie haben ein politisches
Problem, weil Sie mit den technisch-wissenschaftlich
hervorragenden Leistungen unserer Zeit politische Probleme haben, aber keine technischen.
({9})
Meine Damen und Herren, die Frage ist doch, welchen Anspruch Sie draußen erwecken. Sie erwecken den
Anspruch einer Energiewende. Sie erwecken den Anspruch, dass der Ausstieg aus der Kernenergie sozusagen problemlos möglich ist.
Danach haben wir gefragt. Wir haben Sie gefragt:
Wie wollen Sie das ersetzen? Sie haben am Anfang Ihrer
Zeit gesagt: „Wer aussteigt, muss sagen, wo er hin will.“
Wenn wir diese Antwort lesen, dann wissen wir nicht,
wo kommen Sie her, aber wir wissen schon gar nicht,
wo Sie in der Energiepolitik hin wollen.
({10})
Die Umrisse eines Energiekonzeptes sind nicht erkennbar. Wohin führt Ihr Weg?
Ich habe in der Antwort einen schönen Satz gefunden, der all dem Hohn spricht, was hier so vorgetragen
wird, und auch dem, was noch kommen wird, wenn Herr
Scheer sprechen wird. Er lautet:
Der Ersatz der Kernenergie in der Grundlast durch
regenerative Energien
- hören Sie genau zu! ist abwegig.
({11})
Und Sie gehen jeden Tag ins Land und erzählen den
Menschen, dass man mit Wind, Sonne und allen möglichen anderen Dingen wie Biomasse die Kernenergie in
der Grundlast ersetzen kann.
({12})
Sie sagen selber, es ist abwegig. Dann sollten Sie den
Menschen draußen endlich ein realistisches Theater vorführen und nicht so ein Pseudotheater, das im Grunde
genommen einer Prüfung überhaupt nicht standhält.
({13})
Eine eher traurige Lachnummer ist Ihre Behauptung,
dass die Frage von Leittechnik mit Kernkraftwerken
originär nichts zu tun habe. Sehen Sie, in der Ukraine, in
Tschechien, in der Slowakei geht es immer um die Frage
der Leittechnik, weil sich damit die Frage der Sicherheit
der Kernkraftwerke entscheidet. Es ist falsch, wenn Sie
draußen den Eindruck erwecken, es ginge gar nicht um
Kernkraftwerke.
Es gibt doch weitere Anträge. Ich habe die Zusammenstellung von Siemens. Da geht es um Kozloduj. Hier
sagt Herr Verheugen für die Europäische Union: Legt
1 bis 4 still, dann rüsten wir 5 und 6 mit Leittechnik aus
und machen sie sicherer. Sie verweigern kerntechnische
Sicherheit in Osteuropa; China ist weit genug weg. Das
ist der Punkt.
({14})
Das Zweite ist: Die Bundesregierung hat 1999 stillschweigend den Vertrag mit Brasilien für Angra um fünf
Jahre verlängert. Die Bundesrepublik Deutschland hat
sich verpflichtet, alles zu tun, Angra 3 in Brasilien zu
bauen. Der Vertrag ist durch diese Bundesregierung und
nicht durch die CDU/CSU verlängert worden.
({15})
Im Übrigen eine Bemerkung zu den Hermes-Bürgschaften. Unterhalten Sie sich einmal mit Siemens. Wir
haben doch selbst das Problem bei der Wasserkraft.
Siemens verlagert sein gesamtes Personal zur Herstellung von Wasserkrafttechnik nach Brasilien, weil von
Deutschland aus nicht mehr operiert werden kann. Das
ist Ihre Bilanz, nicht nur bei der Kernenergie, sondern
auch bei der Wasserkraft.
Dann haben Sie gesagt - das habe ich mir sehr gut
gemerkt -: Kernenergie kann ein Land auf ewig unbewohnbar machen. Herr Müller, wenn das so ist, dann
müssen Sie hier die Frage beantworten, warum Sie persönlich für 35 Jahre Laufzeit von Kernkraftwerken sind.
({16})
Das steht in einem krassen Widerspruch zueinander.
Auch in Ihrer schriftlichen Antwort steht: Erstens: Deutsche Kernkraftwerke sind sicher. Zweitens: Das Personal ist hervorragend. Drittens: Es gibt keine neue Risikobewertung. Wo haben Sie eigentlich das Problem mit
der Kernenergie? In Ihrer Antwort steht: Deutsche Kernenergie ist sicher. Warum wollen Sie eine sichere
Technik abschalten?
({17})
Dann kommt die Kollegin Hustedt und spricht von
Schweden, das eine CO2-Erhöhung um 5 Prozent beantragt hat. Das eigentliche Problem besteht darin, dass der
Bundeskanzler auf einem nordrhein-westfälischen Parteitreffen gesagt hat: Wir wollen Kernenergie durch
Kohle ersetzen. Ich sage Ihnen, Herr Müller: Wer Kernkraftwerke durch Kohlekraftwerke ersetzt, schafft ein
Klimaproblem. Die Folgen, die daraus erwachsen, können sehr stark in die Richtung gehen, die Sie für die
Kernenergie beschrieben haben.
({18})
Ich sage mit allem Nachdruck: Die Kernenergie ist
nicht das einzige Risiko. Moral, Ethik und Verantwortung stehen nicht auf der Seite derjenigen, die gegen
Kernenergie sind, sondern ich behaupte, dass sie auf unserer Seite sind, weil wir zwar schwierigere, aber konsequentere und verantwortungsbewusstere Wege gehen als
Sie.
({19})
Ich möchte nur noch eines ansprechen. Ich zitiere
Wolfgang Schäuble, der gefordert hat - das ist die eigentliche zentrale Aufgabe -,
({20})
die Vorherrschaft der fossilen durch die Vorherrschaft
der erneuerbaren Energien zu ersetzen. Dann gehen
Sie den richtigen Weg. Sie schleichen um das Klimaproblem herum, weil Sie es nicht lösen können. Die Solarbrücke in die nächsten 50 Jahre können Sie nur bauen, weil Sie das erste kräftige Widerlager des Windenergieweltmeisters Deutschland von der CDU/CSU, von
Riesenhuber und anderen, übernommen haben. Aber das
haben nicht Sie, sondern das haben wir in den letzten
16 Jahren gebaut. - Walter Hirche, ich schließe die
F.D.P. mit ein.
({21})
Zum Schluss. Herr Müller, ich hätte Ihnen das gerne
erspart, aber das kann ich dann doch nicht. Sie haben
sich bei CDU/CSU und F.D.P. für die Teilnahme am
Dialog bedankt. Sie haben jedoch die Grünen nicht erwähnt, die auch mit am Tisch sitzen. Sie haben das
wahrscheinlich nicht getan, weil dann aufgefallen wäre,
dass Sie sich bei der SPD nicht hätten bedanken können.
Michael Müller hat bei der Diskussion über den Beschluss zur Einsetzung der Enquete-Kommission gesagt:
Uns interessieren die Ergebnisse des Energiedialogs
nicht. - Ihr eigentliches Problem ist, dass Sie für die in
der Antwort grundsätzlich beschriebene Energiepolitik
in der SPD keine Mehrheit haben.
({22})
Ich erteile das Wort
dem Bundesminister Jürgen Trittin.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich muss dem Kollegen Grill Recht
geben,
({0})
nicht dafür, dass er die Moral für sich in Anspruch genommen hat,
({1})
sondern dafür, dass er gesagt hat, dass das Ausbauprogramm für die deutschen Atomkraftwerke ein Programm
von Helmut Schmidt gewesen ist. Das ist richtig. Aber,
Herr Grill, Sie sollten es denn doch unterlassen, mit dieser richtigen Aussage hier das Bild zu zeichnen, Sie als
armer Landtagsabgeordneter und armer Bundestagsabgeordneter seien von Helmut Schmidt sozusagen gegen
Ihren Willen und gegen Ihre innere Überzeugung gezwungen worden, sich in Gorleben für das Zwischenlager einzusetzen.
({2})
Da hat es, glaube ich, auch noch einen Ernst Albrecht
und andere gegeben, die da Mitverantwortung tragen.
({3})
Die Opposition und Sie, Herr Lippold, haben ein
Problem.
({4})
Dieses Problem lautet, dass die Frage der Klimaveränderungen ein Problem ist, das sich langfristig aufbaut.
Wenn der SRU heute sagt, dass es sehr schwierig wird
und dass wir, wenn man nicht zu einschneidenden Maßnahmen zum Schutz der Erdatmosphäre greift, unser
Klimaziel zu verfehlen drohen, dann ist das - für die
Regierung, die 16 Monate regiert - nicht nur eine Kritik,
der wir Rechnung tragen müssen, weswegen wir im
Frühsommer zusätzliche Maßnahmen vorlegen werden,
sondern es ist auch eine massive Kritik - ich kann das
auch noch an Details deutlich machen - an Ihnen, die
Sie über Jahre hinweg, genauer gesagt: 16 Jahre lang,
die Ratschläge dieses Gutachtergremiums in den Wind
geschlagen haben.
({5})
Was war dort immer eine der zentralen Forderungen? Im
Sinne der Steigerung der Energieeffizienz könne es nicht
sein, dass Energie immer billiger werde. Deswegen fordert der SRU seit Jahren - Sie haben sich dem verweigert - eine ökologische Steuerreform. Wo stünden
wir heute im Klimaschutz, wenn Sie den Entwurf Ihrer
damaligen Ministerin Merkel, Ihrer künftigen Parteivorsitzenden, damals nicht einfach kassiert und in die
Schublade gepackt hätten, sondern dem Ratschlag des
SRU gefolgt wären?
Aber ich will nicht nur Vergangenheitsbewältigung
betreiben. Lesen Sie, lieber Herr Lippold, doch einmal
die Ausführungen des SRU zu der Frage der Fortsetzung
der ökologischen Steuerreform. Der SRU fordert genau
das, was Sie hier mittlerweile in drei Reden, die ich in
Erinnerung habe - ich habe keine Liste geführt; vielleicht waren es auch vier oder fünf Reden -, beklagt haben, nämlich die kontinuierliche Fortschreibung und Effektivierung der ökologischen Steuerreform explizit über
2003 hinaus.
Ich rate Ihnen dringend: Wenn Sie sich auf Gutachter
berufen, dann lesen Sie diese Gutachten vollständig und
bemühen Sie sich wenigstens im Ansatz darum, Ihrer
Politik wenigstens den Hauch einer logischen Konsistenz zu geben.
({6})
Das gilt natürlich auch für den Zielkonflikt zwischen
Klimaschutz und Nutzung der Atomenergie. Ich rate Ihnen - das ist auch keine neue Debatte -: Nehmen Sie
doch das ernst, was die Enquete-Kommission zum
Schutz der Erdatmosphäre hierzu vorgelegt hat. Sie hat
ganz klar festgestellt, wie dieser Zielkonflikt aufzulösen
ist. Er ist nicht so aufzulösen, wie Sie, Herr Hirche, es
tun, nämlich durch ein simples Gegeneinander-Hochhalten: hier Klimaschutz, dort Nutzung der Atomenergie; vielmehr liegt der Schlüssel zum Schutz der Erdatmosphäre in einer deutlichen Steigerung der Energieeffizienz, in mehr erneuerbaren Energien und da, wo dies
nicht möglich ist, in einer effizienteren Nutzung endlicher Ressourcen.
({7})
Jetzt kommen wir zu der Frage: Wie wirkt die Atomenergie im freien Markt? Die Atomenergie wirkt so,
dass diejenigen, die entsprechende Anlagen betreiben,
heute gute ökonomische Gründe haben, diese Anlagen
möglichst lange zu betreiben, weil sie abgeschrieben
sind. Was heißt das? Notwendige Investitionen in neue,
effiziente Energietechniken werden unterlassen. Gleichzeitig wirkt der Markt so, dass niemand in neue Atomanlagen investiert.
({8})
- Das ist nicht grüne Logik, verehrter Herr Kollege.
Schauen Sie sich einmal die Entwicklung in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien und schließlich auch
hier in der Bundesrepublik an. Das gilt übrigens auch für
Bayern, wo überaltete und energieineffiziente Atomanlagen stillgelegt werden, weil hochmoderne Anlagenteile zu Dumpingpreisen aus diesen herausgekauft werden.
({9})
Wir können gerne über den Markt reden. Ich habe
noch gut in Erinnerung, wie die rechte Seite des Hauses
reagiert hatte, als wir sagten: Wir sorgen für Wettbewerbsgleichheit zwischen Kohlekraftwerken, Atomkraftwerken und hocheffizienten GuD-Kraftwerken.
Wer hat denn hier vorne gestanden und gesagt, es sei
doch eine Schweinerei, wenn hier Marktgesetze gelten
würden? Es war Herr Rüttgers, der jetzt hier mit solchen
Sprüchen antritt. Wenn Sie, lieber Herr Hirche, für einen
gemeinsamen Markt mit den entsprechenden Mechanismen plädieren, soll ich dann daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass nun auch Sie dafür eintreten, dass
Kernenergie im Primärenergieeinsatz genauso besteuert
wird wie der effiziente Energieträger Gas? Ich wäre dafür. Wir können uns gerne darauf verständigen, werter
Herr Kollege.
({10})
Das ist Marktwirtschaft. Das Gegenteil von Marktwirtschaft ist, den einen nicht zu besteuern und die anderen
entsprechend straff zu besteuern.
Das ist im Übrigen auch ein Teil der Antwort auf die
Frage, wie wir einen Ersatz für die Grundlast schaffen.
Ein Ersatz in der Grundlast muss möglichst auf die sauberste und energieeffizienteste Art und Weise geschehen. Auch auf diese Frage - das ist keine Glaubensfrage,
sondern eine Frage der realen Entwicklung - wird der
Einsatz von hocheffizienten Gas- und Dampfkraftwerken eine der ganz zentralen Antworten darstellen.
({11})
Es ist heute nicht mehr die Frage, ob diese zum großen Teil innerhalb der Bundesrepublik und insbesondere
in Nordrhein-Westfalen entwickelten und konstruierten
Anlagen gebaut oder nicht gebaut werden bzw. ob andere Energieträger eine größere Rolle spielen. Angesichts
eines liberalisierten Strommarktes in Europa wird sich
nur noch die Frage stellen: Werden diese Anlagen, die in
der Bundesrepublik konstruiert und entwickelt wurden
und in die hier ingenieurwissenschaftlicher Verstand
eingeflossen ist, auch hier gebaut oder um uns herum
und wird der Strom anschließend zu uns geliefert? Vor
dieser industriepolitischen Herausforderung stehen wir.
({12})
Meine Damen und Herren, eines wird Ihnen nicht gelingen: Sie werden hier nicht schlüssig erklären können,
die Bundesregierung wüsste nicht, wie es zukünftig in
der Energiefrage weitergeht. Nein, die Wirklichkeit ist:
Sie blockieren jeden Schritt hin zu einer Erneuerung der
Energiepolitik. Ich kann Ihnen das durchbuchstabieren:
Erstens: Sicherung und Rettung der Kraft-WärmeKopplung. Wir sind dafür, Kraft-Wärme-Kopplung
energieeffizient auszubauen. Wir wollen ihren Anteil
verdoppeln. Sie werden - das prophezeie ich Ihnen heute schon - dieses Gesetz ablehnen.
Zweitens: Fortschreibung des Stromeinspeisungsgesetzes. Die damalige Opposition hat die Größe gehabt zu
sagen: Das ist ein vernünftiges Gesetz; wir spielen nicht
Opposition, sondern verhalten uns verantwortungsvoll
und stimmen dem zu. Dieses Gesetz wurde durch das
Erneuerbare-Energien-Gesetz fortgeschrieben, das die
Aufforderung enthält, den Anteil der erneuerbaren Energien bis zum Jahre 2010 zu verdoppeln. Was macht die
Union? Sie stimmt dagegen und versucht massiv, es
auch noch im Bundesrat zu blockieren. Die einzigen
Landesregierungen mit CDU-Beteiligung, die dann doch
noch die Vernunft ereilt hat, waren die großen Koalitionen in Berlin und Bremen. Sie, werter Herr Grill, erklären jetzt hier vor dem Deutschen Bundestag, Sie wollten
die erneuerbaren Energien fördern.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grill?
Nein, ich bin gleich am
Schluss meiner Rede.
Dann weise ich Sie
darauf hin, dass Sie Ihre Redezeit bereits überschritten
haben.
Ich möchte deswegen
auch zum Schluss kommen, werter Herr Präsident.
Meine Damen und Herren, Sie bekommen es nicht
hin, den Glauben zu verbreiten, dass man mit den ideologischen Glaubenssätzen der 70er-Jahre und einer Fundamentalopposition die Energiepolitik des 21. Jahrhunderts bestreiten könnte. Das funktioniert nicht.
({0})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Birgit Homburger, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr
verehrte Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsminister hat für den Energiedialog 2000 so genannte Eckpunkte vorgeschlagen und die Bundesregierung setzt bei
der Energiepolitik - man höre und staune; das stellt man
fest, wenn man die Antwort der Bundesregierung liest -,
auf staatsfreie Lösungen, aber - so schreibt sie dann
gleich wieder - nur unter der Voraussetzung, dass diese
die gleiche Qualität haben wie eine gesetzliche Regelung. Meine Damen und Herren, ich finde das eine ziemliche Frechheit: Staatsfrei ja, aber nur, wenn es so ist,
wie es uns passt. - Das offenbart Ihr Demokratieverständnis.
({0})
Wer aber jetzt denkt, dass das womöglich heißen
könnte, dass die Messlatte relativ hoch ist, weil das
Ganze wie eine gesetzliche Regelung sein soll, der
täuscht sich natürlich. Ich nehme nur einmal die jüngste
Kostprobe: Vor wenigen Wochen haben wir hier das
Gesetz zur Förderung erneuerbarer Energien mehr oder
weniger durch das Parlament gepeitscht. Dabei hat man
bei der Regierung nicht erkannt: Förderung erneuerbarer
Energien bedeutet auch, Verantwortung für das Weltklima zu übernehmen.
({1})
Die F.D.P. hat die Bundesregierung eindringlich und
mehrfach aufgefordert, alles daranzusetzen, beim internationalen Klimaschutz endlich voranzukommen. Vergebens! Stattdessen Stückwerk: Hier das EEG, da die
Kraft-Wärme-Kopplung, dann mal zwischendurch eine
Hermes-Bürgschaft für ein chinesisches Kernkraftwerk.
({2})
Meine Damen und Herren von der Regierung, wenn
Sie den Ausstoß von Treibhausgasen wirklich begrenzen
wollen, dann brauchen Sie endlich ein schlüssiges Gesamtkonzept.
({3})
Dabei lautet die zentrale Frage: Wie kann man auf die
Kernkraft langfristig verzichten, ohne die Atmosphäre
durch den verstärkten Einsatz fossiler Energieträger weiter zu belasten? Die F.D.P. will eine preiswerte, sichere
und zugleich klimafreundliche Energieversorgung. Dabei geht es selbstverständlich auch um erneuerbare
Energien. Allerdings braucht man dafür dann auch konsistente und glaubwürdige Konzepte. Niemals wird man
sonst das ehrgeizige Ziel erreichen, das die F.D.P. nach
wie vor anstrebt - das wurde vom gesamten Haus gemeinschaftlich beschlossen -, bis zum Jahr 2050 einen
Anteil von 50 Prozent erneuerbarer Energien zu erreichen.
Nun zu Ihrem Gesetz zur Förderung erneuerbarer
Energien. Messen wir die Bundesregierung doch einmal
an dem, was sie uns als Antwort gibt. Da heißt es: Investitionslenkung durch den Staat passt nicht für eine Energiewirtschaft, die sich im europäischen Wettbewerb bewähren muss. Und an anderer Stelle: Die Bundesregierung vertritt die Auffassung, dass eine effiziente Verwendung knapper Ressourcen über den Preismechanismus gesteuert wird.
Da kann man nur sagen: Frechheit siegt! Das ist eine
Verhöhnung des Parlaments, was Sie da machen. Dreist
nehmen Sie wieder einmal die Öffentlichkeit auf den
Arm und glauben, dass es keiner merkt.
({4})
Herr Wirtschaftsminister Müller, Sie haben vorhin
gesagt, es gehe hier um Grundsätzliches und nicht um
Damenoberbekleidung. Ich denke, Sie haben keine Ahnung, was Damenoberbekleidung für Damen bedeutet.
({5})
Das ist nämlich etwas ganz Grundsätzliches. Jetzt stellen
Sie sich doch einmal vor, die anwesenden Damen hier
säßen alle ohne Damenoberbekleidung.
({6})
Kommen wir zurück zu Ihrem Gesetz zur Förderung
erneuerbarer Energien. Wie weit ist es mit Ihren Grundsätzen her? Erstens: die Anmaßung von technologischem Wissen durch den Staat, zweitens: eine in der
Summe und im Zeitverlauf erhebliche Belastung der
Stromkunden, und drittens: ein Außer-Kraft-Setzen des
Wettbewerbs. Die hehren Worte des Bundeswirtschaftsministers sind also nichts als Lippenbekenntnisse.
Die F.D.P. fordert von der Bundesregierung endlich
ein schlüssiges energiepolitisches Konzept. Das heißt,
dass erneuerbare Energien gefördert werden müssen, wo
dies sinnvoll, das bedeutet auch: kostengünstig möglich
ist. Ein Mengenziel wird festgelegt. Dazu braucht man
nicht staatlich diktierte Preise und auch nicht vorgeschriebene Technologien, meine Damen und Herren.
({7})
Wir wollen Zielvorgaben und flexibel handelbare Instrumente, also ein Zertifikatmodell. Das ist Markt, Herr
Trittin, und nicht das, was Sie hier beschrieben haben.
({8})
Die Beamten aus dem Wirtschaftsministerium haben das
offensichtlich schon verstanden. Ich kann Ihnen nur
empfehlen: Machen Sie sich diese Position zu Eigen,
lernen Sie davon und verschonen Sie um Gottes willen
die Stromkunden! Die können sich nämlich gegen das,
was Sie hier machen, nicht wehren.
({9})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Axel Berg, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Die Strukturen der Energie ändern sich. Die Politik debattiert hier, ob wir diese
Änderungen mitmachen wollen oder ob wir alles so weiterlaufen lassen wollen, wie es schon bisher war. Mein
Plädoyer ist: Lasst uns aus dem Wandel, da er ohnehin
kommt, ein Geschäft machen!
({0})
Ich möchte gleich zu Beginn klarmachen, dass es mir
bei meiner Rede heute um den Industriestandort
Deutschland geht und um Ideen, wie sich der Industriestandort Deutschland entwickeln könnte. Auch der Letzte hat mitbekommen: Die Zeiten ändern sich. Wir haben
es mit einer Globalisierung zu tun. Gerade im Umweltbereich spüren wir die Folgen: Kohlendioxid kennt keine Grenzen. Die Österreicher beispielsweise jammern vollkommen zu Recht - über den Transit, von dem sie
selbst keine Vorteile haben. Und auch saurer Regen
kennt keine Grenzen.
Es geht auch um Liberalisierung. Sie wollen Wettbewerb, so haben Sie uns immer gesagt - das wollen wir
ja auch. Sie wollen freie Märkte - das wollen wir auch,
so weit es geht. Das ist ja, so hieß es schließlich immer,
zum Vorteil aller. Aber nicht überall, wo Liberalisierung
draufsteht, ist auch Liberalisierung drin.
({1})
Wenn die Akteure auf den neuen Energiemärkten mit
ungleichen Voraussetzungen an den Start gehen, dann
werden die bestehenden regionalen Monopole nur ersetzt durch wirtschaftliche Monopole oder gar Oligopole. Um diese Thematik wird sich die Enquete-Kommission Energie kümmern, auf die ich mich sehr freue.
Die Deutschen sind doch ein technisch hoch begabtes
Volk. Wir waren ja noch nie ein Rohstoffland. Öl gab es
bei uns noch nie; wir haben bei uns auch noch nie nach
Gold geschürft. Diesbezüglich war doch bei uns in
Deutschland nie wirklich etwas zu holen. Also haben die
Deutschen richtig reagiert und haben angefangen, die
besten Automobile der Welt zu bauen, die besten Filteranlagen zu entwickeln, haben Computer und Faxgerät
erfunden, sich also in eine andere Richtung orientiert.
Das war ja auch sehr vernünftig. Jetzt stellt sich für uns
die Frage: Wollen wir ein Industriestandort bleiben? Ich
denke, ja, wir sollten Industriestandort bleiben. Wenn
wir das wollen, dann müssen wir jetzt vorangehen und
dann kommen wir nicht umhin, jetzt einige alte Zöpfe
abzuschneiden.
Ich kenne keinen volkswirtschaftlichen oder betriebswirtschaftlichen Ansatz, der uns glaubhaft macht:
Investieren Sie jetzt in Atomkraft, investieren Sie jetzt in
Kohle! Sie werden sehen, Länder wie Frankreich werden es noch bitter bereuen, dass sie den Strukturwandel, der zurzeit stattfindet, verpassen. Meine Damen und
Herren, jetzt findet das große Stühlerücken auf den
Weltmärkten statt. Jetzt müssen wir uns positionieren,
als die größte, als die erfahrenste, als die innovativste
Industrie-, Dienstleistungs- und Handwerksnation der
Welt.
({2})
Das Auto ist eine deutsche Erfindung. Es hat die Welt
auf den Kopf gestellt. Kaum einer wagte damals, sich
vorzustellen, welche rasante Entwicklung es nehmen
könnte. Bis heute sind Markennamen wie BMW, Mercedes, Porsche, Volkswagen weltweit tonangebend.
({3})
- Sagte ich bereits, gut zugehört!
Warum sollten diese Autos nicht in ein paar Jahren
geräuschlos durch unsere Straßen fahren, mit Brennstoffzellen ausgerüstet und mit Wasser als Treibstoff?
Warum sollten sie nicht durch Städte fahren, in denen es
keinen Wintersmog mehr gibt, weil die meisten Gebäude inzwischen gedämmt sind und effiziente Heizungsanlagen haben? Gute Umwelt wird einmal schick und sexy
sein.
({4})
Und nicht jeder wird sie haben. Dadurch, dass sie nicht
jeder haben kann, wird eine Handelsware daraus, und
zwar eine saumäßig teure. Nur gute Umwelt wird es erlauben, in einem Zustand zu leben, den man Wohlstand
nennt. Das macht unser Land attraktiv; das macht uns
für uns selbst, aber natürlich auch für unsere Nachbarn
und den Rest der Welt attraktiv, die ihre Umwelt- und
Arbeitslosenprobleme ebenso elegant angehen wollen,
wie wir es tun. Dafür werden sie unsere Produkte kaufen
müssen.
Bei Energie geht es um wesentlich mehr als nur um
Automarken, von denen ich gerade sprach. Energie ist
etwas sehr viel Wichtigeres. Wir haben jetzt die Chance,
Deutschland zum Marktführer zu machen. Das ist die
große politische Vision, mit der wir das 21. Jahrhundert
angehen sollten. Wenn Sie der Großen Anfrage, die Sie
vorgelegt haben, den Titel „Energiepolitik für das
21. Jahrhundert“ geben, dann, denke ich, ist es zu kurz
gesprungen, wenn wir uns hier darüber streiten, welche
Vor- und Nachteile Atomkraft, Kohle, Gas und auch
Erdöl haben. Das alles geht zu Ende. Die Sonne geht
dagegen nie bzw. erst sehr spät zu Ende.
Der Stellenwert von Energie kann kaum überschätzt
werden. Es geht weit darüber hinaus, nur einen Stecker
in die Steckdose zu stecken. Es geht durch die Welt; es
bewegt die Welt; es geht durch alle sozialen, kulturellen,
wirtschaftlichen und auch kriegerischen Entwicklungen
der Menschheit. Es ist doch kein Zufall, dass die
Menschheit entscheidende Sprünge gemacht hat, als das
Feuer entdeckt und die Dampfmaschine erfunden wurde.
Wie hat das Automobil den Lauf der Welt im letzten
Jahrhundert geprägt! Mit der Erfindung des Automobils
wurde das Erdöl wichtig. Wer das Erdöl hatte, der war
als Erster in der Lage, die Entwicklung dieser Erfindung
des 20. Jahrhunderts voranzutreiben, sie zum Massenprodukt zu machen und mit ihr Geld zu verdienen. So
sind die USA groß geworden. British Shell ist auf diesem Weg zu einer Legende in England geworden.
Die erneuerbaren Energien könnten sich mit sehr
hoher Wahrscheinlichkeit ähnlich entwickeln. Diese
Energieträger wird es auch noch dann geben, wenn die
Kinder in der Schule nur noch aus den Geschichtsbüchern wissen, dass es irgendwann einmal fossile Energieträger gab, weil diese in ferner Zukunft längst verbraucht sind. Auf uns kommt kein einfacher Kampf zu.
Es wird nicht einen einfachen Kampf zwischen Industriekonzernen auf der einen Seite und Industriekonzernen auf der anderen Seite geben.
Der weltweite Kampf um Energie geht meines Erachtens jetzt in eine entscheidende Phase. Jetzt, spätestens
seit Kioto, werden die alten Energieformen weltweit infrage gestellt. Jetzt werden die Claims für neue Märkte
abgesteckt, in denen richtig Musik ist. Dort stecken Arbeitsplätze drin, die eine noch größere Arbeitsmotivation
vermuten lassen. Es stecken Steuern drin, die man beispielsweise in Bildung und Soziales investieren könnte.
Es steckt auch mehr Lebenslust für sämtliche Beteiligten
an diesem Prozess drin, nicht zuletzt deshalb, weil die
Luft und die gesamte Umwelt besser werden.
Es geht auch schon langsam los: Die Unternehmen
investieren in den Umweltschutz. Bereits nach wenigen
Jahren haben sich solche Investitionen amortisiert. Ab
dann wird Geld verdient bzw. werden Energiekosten
eingespart. Wer die Ressourcen beherrscht, der war immer oben in der Geschichte der Menschheit. Jetzt haben
wir erstmalig in der Geschichte der Menschheit die
Chance, bei der zukünftigen Eroberung der Energieressourcen ganz vorne dabei zu sein. Wer hier Geld investiert, der legt sein Geld gut an und investiert in eine
kommende Schlüsselindustrie. Wenn wir jetzt ein paar
zusätzliche Kniebeugen machen, dann haben wir die
Chance, für lange Zeit in der Oberliga zu spielen. Bezüglich Energieinnovation und Energiequalität wünsche ich mir, dass wir Deutsche einen ebenso guten Ruf
wie in der Automobilbranche genießen werden.
Wer jetzt noch von der Atomkraft als der goldenen
Zukunft spricht, der erinnert mich an jemanden von
1930, der von der Weiterentwicklung der einfachen
Pferdekutsche zum Achtspänner geschwärmt hat und
damit vollkommen danebenlag.
({5})
Das Personal für die zukünftigen Aufgaben ist im
Großen und Ganzen bereits vorhanden. Bereits jetzt sind
in unseren Kraftwerken - unabhängig davon, welcher
Art diese Kraftwerke auch immer sein mögen - hoch
qualifizierte Mitarbeiter beschäftigt. In diesen steckt ein
enormes Potenzial. Dieses Potenzial müssen wir jetzt
ausschöpfen. Um diese hoch qualifizierten Arbeitskräfte
für unsere Ziele zu gewinnen, müssen wir sie natürlich
in den Arm nehmen. Wenn der Letzte von ihnen in die
Rakete eingestiegen ist, dann geht die Reise los. Wir
verfügen bereits jetzt über Fachleute und Ingenieure,
um eine Energiewende einzuleiten. Das hat doch Stil.
Herr Kollege, Sie
haben Ihre Redezeit schon überschritten.
Gut, ich werde zum Ende
kommen. - Das ist nicht alles. Natürlich brauchen wir
eine neue Philosophie und ein neues gemeinsames Ziel.
Das liegt vor uns. Lasst uns zugreifen! Lasst es uns
wirklich alle wollen! Lasst uns jetzt die Ärmel hochkrempeln! Dann werden wir es auch schaffen. Dann
werden wir Deutschland auf diesem Zukunftsmarkt ganz
vorne positionieren.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich erteile der Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Menschliches Leben am Beginn des dritten Jahrtausends ist unlösbar mit dem
Verbrauch von Energie verbunden. Wir brauchen Energie für beheizte, beleuchtete Wohnungen, für die Fahrt
im Auto, für die Produktion von Gütern und vieles mehr.
Deswegen können wir den Stellenwert einer vorausschauenden und besonnenen Energiepolitik gar nicht
hoch genug einschätzen.
({0})
Aber was Sie hier praktizieren, liebe Freunde von der
Regierung, ist genau das Gegenteil einer besonnenen
Energiepolitik. Sie verzetteln sich im Streit um Restlaufzeiten. Sie bringen uns noch höhere Steuerbelastungen und noch mehr Subventionen. Die zentralen Ziele
der Energiepolitik verlieren Sie vollkommen aus dem
Blickfeld:
({1})
Erstens. Eine Energieversorgung muss sicher sein.
Das heißt, Energie muss jederzeit und überall in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen.
Zweitens. Energie muss preiswert sein, und zwar sowohl für den normalen Bürger als auch für die Unternehmen.
Drittens. Die Energieversorgung muss umweltverträglich sein. Das heißt, die mit der Gewinnung, Umwandlung und Verteilung von Energie zwangsläufig
verbundenen Eingriffe in unsere Umwelt müssen auf das
geringstmögliche Maß beschränkt sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sicher, preiswert
und umweltverträglich - das ist sozusagen das Einmaleins der Energiepolitik, und das war bis 1998 auch
Common Sense aller Regierungen in Europa und in der
Welt. Bei Ihnen jedoch geht das Einmaleins andersherum: nicht sicher, sondern unsicher; nicht preisgünstig,
sondern teuer; nicht umweltverträglich, sondern klimaschädlich - so sieht die deutsche Energieversorgung aus,
auf die Ihre Politik hinausläuft.
({2})
Sie sind dabei - das ist das Gefährliche -, einen dauerhaften Schaden für unser Land anzurichten.
Nochmals: Energie muss preiswert sein. Energiepolitik ohne Kostenbewusstsein ist eine Politik zulasten von
Arbeitsplätzen, zulasten von Familien und zulasten der
kleinen Leute. Sie machen einen riesigen Fehler, wenn
Sie meinen, Energie müsse teuer sein. Auch die Mehrheit der Bevölkerung in unserem Land empfindet Ihre
Politik als Bevormundung und als reine Abkassiererei.
({3})
Ich verweise hier auf die Liberalisierung des
Strommarktes, eine der größten und erfolgreichsten
Reformen von CDU/CSU und F.D.P.
({4})
- Da brauchen Sie gar nicht zu lachen. Sie hat bewirkt,
dass heute der Verbraucher für eine Kilowattstunde rund
5 Pfennig weniger bezahlt als noch vor zwei Jahren.
Was machen Sie damit? Diesen Erfolg verfrühstücken
Sie einfach mit einer Stromsteuer von 4 Pfennig;
1 Pfennig geht für Subventionen drauf - von der Mehrwertsteuer, die noch dazugerechnet werden muss, ganz
zu schweigen.
Die Ökosteuer ist und bleibt eine politische Fehlentscheidung. Sie ist weder öko noch logisch. Sie vernichtet Arbeitsplätze.
({5})
Ich denke an die Landwirtschaft, ich denke an Handel
und Gastronomie, ich denke an mittelständische Transportunternehmen - um nur einige wenige zu nennen.
Die Ökosteuer ist vor allem extrem unsozial. Sie trifft
niedrige Einkommen viel stärker als hohe.
({6})
Liebe Kollegen von der SPD, Sie haben auf Ihrem
letzten Parteitag immens lange darüber diskutiert, wie
Sie hohe Einkommen belasten und niedrige Einkommen
entlasten können. Sie hätten es einfach haben können.
Die einfachste Lösung: Schaffen Sie die Ökosteuer wieder ab! Schließen Sie endlich diese Gerechtigkeitslücke!
Besonders ungerecht ist die Ökosteuer - das muss Sie
doch nachdenklich machen - für kinderreiche Familien.
Ein Einkommen, über das ein Single ganz alleine verfügen kann, müssen sich dort viele Personen teilen. Auch
ist hier der Energieverbrauch bei weitem höher als bei
einem Single.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das mit Abstand
folgenschwerste Stromverteuerungsprogramm stellt aber
Ihr politisch verordneter Ausstieg aus der Kernenergie
dar. Herr Helmut Maier-Mannhart schreibt in der „Süddeutschen Zeitung“ - dem können Sie nicht widersprechen - :
({7})
Es führt eben kein Weg daran vorbei, dass es ein
volkswirtschaftlicher Gewinn ist, mit den bestehenden Kernkraftwerken Strom zu erzeugen.
Seinen Leitartikel überschreibt er folgerichtig mit dem
Titel:
Ein Wohlstandsverlust ist programmiert.
Allein die Bayerische Staatsregierung rechnet im Fall
des Atomausstiegs mit einer Stromverteuerung um
30 Prozent. Ich will gar nicht davon sprechen, dass über
150 000 Arbeitsplätze mittelbar und unmittelbar davon
betroffen sind. Allein für Ihren grünen Seelenfrieden,
liebe Kolleginnen von den Grünen, ist dieser Preis einfach zu hoch. Dieser Preis allein für Ihre Ideologie ist zu
hoch!
({8})
Ihre Atomausstiegspolitik macht die Stromversorgung nicht nur teurer, sondern auch klimaschädlicher.
Ich erinnere Sie nur daran - das kann man nicht oft genug sagen -, dass 160 Millionen Tonnen CO2-Emissionen im Jahr durch die Kernenergie vermieden werden. Die Energieversorgung wird auch unsicherer werden.
({9})
Ohne Kernenergie werden wir bei weitem mehr Strom
und fossile Energieträger importieren müssen. Das bedeutet Abhängigkeit vom Ausland.
Ich begrüße es sehr, dass die EU-Kommissarin Frau
Loyola de Palacio ein umfassendes Dokument zur zukünftigen Entwicklung der Energieversorgung vorlegen
will. Es ist wichtig, warum: Es geht um die Versorgungssicherheit der Zukunft. Es sind Anzeichen dafür
vorhanden, dass der Import nach Europa von 50 auf
70 Prozent steigen wird. Wir müssen uns zukünftig darüber Gedanken machen, wie wir unsere Versorgung in
der Zukunft sichern.
({10})
Woher sollen denn zukünftig die 34 Prozent der deutschen Stromerzeugung, die die Kernkraftwerke momentan liefern, kommen? Auch hierzu zitiere ich die „Süddeutsche Zeitung“. Mir glauben Sie anscheinend nicht,
aber vielleicht glauben Sie der „Süddeutschen Zeitung“:
({11})
So spricht denn vieles dafür, dass die durch Schließungen von Kernkraftwerken verursachten Stromlücken hauptsächlich durch Importe geschlossen
werden. ... Dabei kann man dann mit Sicherheit davon ausgehen, dass es sich bei den Importen weitgehend um Strom aus Kernkraftwerken in Frankreich, Tschechien, der Slowakei oder der Ukraine
handeln wird.
({12})
So sehen es Experten.
Die Antwort auf unsere Frage in der Großen Anfrage,
ob die Bundesregierung an ein Importverbot von Elektrizität aus Kernkraftwerken im Ausland denkt, ist eindeutig: Die Bundesregierung denke nicht an ein Importverbot. Dann aber, liebe Kolleginnen, muss die Frage erlaubt sein: Welchen Sinn macht es, die anerkannt sichersten 19 Kernkraftwerke abzuschalten, wenn sich
weltweit 434 Kernkraftwerke in Betrieb und 36 im Bau
befinden und der in diesen Kernkraftwerken erzeugte
Strom auch zukünftig in das deutsche Stromnetz fließen
wird? Die Antwort kann nur lauten: Es macht überhaupt
keinen Sinn.
({13})
Sie machen die Entsorgung unsicher. Sie werfen das
gemeinsam entwickelte Entsorgungskonzept einfach
über den Haufen. Die von Ihnen gewünschte Zwischenlagerung abgebrannter Brennelemente an den Kraftwerksstandorten ist nichts anderes - das ist das, was ich
Ihnen ankreide - als eine Verschiebung der Entsorgungsaufgaben auf künftige Generationen.
({14})
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Ihre Energiepolitik befindet sich auf Abwegen. Ich
gebe Ihnen einen guten Rat. Korrigieren Sie Ihren Kurs
und beherzigen Sie endlich das energiepolitische Einmaleins: Deutschland braucht auch im 21. Jahrhundert
eine sichere, preisgünstige und umweltverträgliche
Energieversorgung.
Vielen Dank.
({15})
Für die SPDFraktion spricht nun der Kollege Christoph Matschie.
Herr Präsident! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über
die Energiepolitik des 21. Jahrhunderts. Gerade nach
dem, was ich von Ihnen, Frau Kollegin Wöhrl, gehört
habe, glaube ich, die wichtigste Voraussetzung für eine
solche Diskussion über die Energiepolitik des 21. Jahrhunderts ist es, dass wir uns von alten Ideologien befreien, dass wir uns von Ideologien befreien, die wir im
letzten Jahrhundert mitgeschleppt haben.
({0})
Werte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
ich kann Ihnen nur empfehlen: Steigen Sie aus dem
Kampfanzug aus, den Ihnen Herr Stoiber verordnet hat,
({1})
und folgen Sie sachlichen und konstruktiven Argumenten.
({2})
Dann kommen wir wirklich zu einer Debatte über die
Energiepolitik dieses Jahrhunderts.
({3})
Ich gehe an dem entlang, was Sie, Frau Wöhrl, gesagt
haben: sichere Versorgung, umweltverträgliche Versorgung, wettbewerbsfähige Versorgung.
Zur Versorgungssicherheit ist im Moment nur zu
sagen, dass wir in Europa Überkapazitäten von gigantischen 40 000 MW haben. Das entspricht etwa der doppelten Leistung aller in Deutschland installierten Atomkraftwerke.
({4})
In der Bundesrepublik haben wir entsprechend den Angaben von 1997 eine Überkapazität von etwa 23 000
MW. Das sind 24 Prozent der verfügbaren Kapazitäten.
Auch hier ist im Moment überhaupt kein Versorgungsengpass zu erkennen.
Langfristig müssen wir uns allerdings die Frage nach
der Verfügbarkeit und nach der Preisentwicklung von
Ressourcen stellen. Da gebe ich Ihnen völlig Recht.
Zur Umweltverträglichkeit: Hier haben wir verschiedene Aspekte zu beachten. Dabei ist wahrscheinlich an erster Stelle die Frage der Klimaverträglichkeit
zu nennen. Das ist hier ja von einigen angesprochen
worden. Aber auch Schadstoffemission, Bergbau und
Abfall sowie Sicherheit der Technik müssen eine Rolle
spielen.
Am stärksten umstritten ist die Nutzung der Kernenergie. Deshalb hat sie hier in der Debatte auch eine so
große Rolle gespielt, obwohl sie nach meiner Überzeugung nicht die Energieform des 21. Jahrhunderts sein
kann und sein wird.
({5})
Die Sicherheitsrisiken haben dazu geführt, dass eine
Mehrheit hier in Deutschland die Kernenergienutzung
beenden will. Diese Sicherheitsrisiken haben auch dazu
geführt, dass die Bundesregierung und die sie tragenden
Parteien sich entschieden haben, aus der Kernenergie
auszusteigen.
Jeder, der dieses Problem ideologisch betrachtet, sollte einmal nachlesen, was der Sachverständigenrat für
Umweltfragen zu diesem Thema aufgeschrieben hat.
Der Sachverständigenrat geht zum Beispiel in seinem
Gutachten 2000 davon aus, dass die Atomenergienutzung auch ohne vorzeitigen Ausstieg nach 2010 deutlich
absinkt, das heißt ohnehin nicht die Zukunftsperspektive
in der Energieversorgung ist.
Nun wird ja von einigen - das ist auch hier geschehen - die Kernenergie als die Waffe gegen den Klimawandel ins Spiel gebracht. Man kann sich ja einmal
überlegen, ob es sinnvoll ist, die Gefahren der Atomenergienutzung gegen die Risiken des Klimawandels
abzuwägen.
Herr Kollege Lippold, Sie wissen das aus den Diskussionen in der Enquete-Kommission: Auch die Nutzung der Atomenergie ist natürlich nicht CO2-frei, sondern wenn man die gesamte Kette vom Bau der Kraftwerke, vom Bergbau, der damit zusammenhängt, bis hin
zur Produktion betrachtet, zeigt sich, dass die Kernenergie keine CO2-freie Energie ist
({6})
und dass es durchaus Entwicklungspfade gibt, die unter
dem Gesichtspunkt der Freisetzung von CO2 ähnlich effizient sind.
Professor Graßl, bis Herbst immerhin Leiter des
Weltklimaforschungsprogramms in Genf, hat ja auch
damals in der Enquete-Kommission Ihren Aussagen widersprochen, dass die Kernenergie als Lösung für das
CO2-Problem angesehen werden könnte.
Nun überlegen wir einmal: Die Atomenergie hat
weltweit an der Primärenergieerzeugung einen Anteil
von 7 Prozent, und das bei 436 zurzeit am Netz befindlichen Kernkraftwerken.
({7})
- Wenn wir über Klima reden, reden wir über Primärenergie, Herr Kollege.
Beantworten Sie doch einmal die Frage: Wie viele
Hunderte und Tausende von Kernkraftwerken wollen
Sie denn bauen, um deren Anteil an der Primärenergieerzeugung nennenswert auszuweiten? Was bedeutet das
für die Sicherheit? Was bedeutet das für die verfügbaren
Reserven?
Auch Uranreserven sind begrenzt. Nach der statischen
Verfügbarkeit - das wissen Sie so gut wie ich ({8})
sind die Uranreserven in etwas mehr als 60 Jahren am
Ende. Es gibt also auch von dieser Seite keine Zukunft
für diese Energietechnologie.
({9})
Das Fazit kann doch nur sein - da stimme ich übrigens auch mit den Aussagen des Sachverständigenrates
für Umweltfragen überein -, dass der Ausbau der Kernenergie nach heutiger Kenntnis nicht signifikant zur Lösung des Klimaproblems beitragen kann. Wenn Sie gestatten, zitiere ich für Sie - auch für Frau Wöhrl -, was
der Sachverständigenrat für Umweltfragen zu dieser
Debatte sagt, nämlich erstens:
Der Umweltrat hält eine weitere Nutzung der
Atomenergie für nicht verantwortbar.
Er sagt zweitens:
Klimapolitischer Handlungsbedarf kann kein Argument gegen eine Beendigung der Nutzung der
Atomenergie sein.
Er unterstützt auch die Strategie der Bundesregierung, in
Gesprächen mit der Atomindustrie eine Lösung für einen geordneten Ausstieg zu finden.
Wenn die Atomenergie nicht die Lösung des Klimaproblems sein kann, müssen wir fragen, welche vertretbaren Strategien sich anbieten. Dazu hat diese Koalition
eine Reihe von Aussagen gemacht:
Die erste Strategie, die kurzfristig auch das größte
Potenzial verspricht, ist die Einsparung von Energie.
Wir haben in Deutschland mit den heutigen Technologien ein Einsparpotenzial von etwa 40 Prozent. Nicht alles davon ist im Moment wirtschaftlich erschließbar;
aber hier liegt die größte Quelle. Ökosteuer und Energieeinsparverordnung werden diese Technologien
vorantreiben.
Die zweite Strategie ist der Einsatz erneuerbarer
Energien. Da sind wir auf dem richtigen Weg. Dazu hat
auch die alte Bundesregierung mit dem Stromeinspeisungsgesetz einen wichtigen Beitrag geleistet. Ich kann
überhaupt nicht verstehen, warum Sie sich heute aus
dieser Debatte verabschieden und warum Sie das Erneuerbare-Energien-Gesetz abgelehnt haben, anstatt weiter
daran mitzuwirken, dass die regenerativen Energien in
diesem Land ausgebaut werden.
({10})
Wir haben beim Anteil der regenerativen Energien an
der Endenergie kurzfristig - das heißt, bis 2010 - ein
Potenzial von etwa 10 Prozent und bis 2050 eines von
etwa 60 Prozent.
({11})
Der dritte Pfad, den wir einschlagen, betrifft die bessere Ausnutzung fossiler Energieträger. Auch hierzu
ist einiges gesagt worden. Die Strategien sind auf den
Weg gebracht worden. Die Kraft-Wärme-Kopplung und
ihr Ausbau werden dazu einen wesentlichen Beitrag leisten.
({12})
Wir werden ja noch am Freitag dieser Woche die Abstimmung über das KWK-Vorschaltgesetz haben und
über eine langfristige Strategie zum Ausbau der KraftWärme-Kopplung diskutieren.
Herr Kollege
Matschie, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ramsauer?
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege
Matschie, wie kommen Sie eigentlich zu der Feststellung, dass sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus
einer Politik zur Förderung der erneuerbaren Energien
verabschiedet habe, angesichts der Tatsache, dass wir in
der zweiten Lesung bei der Verabschiedung des EEG
Änderungsanträge gestellt haben, die zur Förderung der
erneuerbaren Energien substanziell deutlich über das hinausgingen, was Sie im EEG beschlossen haben?
({0})
Herr Kollege
Ramsauer, die Frage kann ich Ihnen ganz einfach beantworten.
({0})
In der Vergangenheit ist es auf diesem Politikfeld guter
Brauch gewesen, sich frühzeitig zusammenzusetzen und
zu versuchen, eine gemeinsame Lösung zu finden.
({1})
So haben wir das damals gehalten.
({2})
Sie haben sich jetzt aber an dieser Diskussion nicht beteiligt. Sie haben beispielsweise auch im Umweltausschuss keine Anträge zum Erneuerbare-Energien-Gesetz
gestellt, die wir dort hätten diskutieren und einarbeiten
können. Am Ende haben Sie dieses Gesetz abgelehnt.
Das bedeutet für mich: Sie haben sich aus dieser Debatte
verabschiedet.
({3})
Gestatten Sie, Herr
Kollege Matschie, eine zweite Frage des Kollegen
Ramsauer? Auf Ihre Redezeit wird das nicht angerechnet.
Bitte.
Herr Kollege
Matschie, ich muss Sie gerade nach der jetzt gegebenen
Antwort fragen, ob Ihnen entgangen ist, dass wir im
Laufe der Ausschussberatungen mehrmals das angeboten haben, was wir im Bereich der erneuerbaren Energien zuvor stets praktizierten und was ich früher als den
kleinen Energiekonsens bezeichnete; das ist auch immer
gut gelaufen, Herr Kollege Scheer. Da wir mit den Weiterungen, die wir angeboten haben, im Ausschussverfahren nicht weitergekommen sind, hatten wir nur noch die
Möglichkeit, unsere Anträge zu wesentlich weitergehenden Förderungsinstrumenten in der zweiten Lesung
einzubringen.
Mein Eindruck aus diesen Auseinandersetzungen ist - das muss ich Ihnen ganz
offen und ehrlich sagen -, dass die Gespräche nicht darauf angelegt waren, am Ende zu einem Konsens zu
kommen. Anderenfalls hätten wir einen solchen Konsens ja erreichen können. Vielmehr waren Sie darauf
aus, dass es beim Dissens bleibt, weshalb Sie am Ende
das Erneuerbare-Energien-Gesetz abgelehnt haben.
Werte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
ich kann Sie nur noch einmal bitten: Nicht nur wir in der
Bundesrepublik, sondern auch andere Länder, unter anderem in der Europäischen Union, führen die Diskussion
um den Ausstieg aus der Atomenergie. Lassen Sie
uns die Diskussion um die Energiepolitik des
21. Jahrhunderts sachlich führen! Beenden Sie die ideologischen Debatten!
Jemand, der so über die Atomenergie diskutiert, wie
Sie es hier tun, wird nicht dazu beitragen, dass bürgerkriegsähnliche Zustände, beispielsweise bei Atomtransporten, endlich verhindert werden und dass der gesellschaftliche Konflikt um die Nutzung der Atomenergie
friedlich beigelegt werden kann. Ich wünsche mir - ich
sage es noch einmal -: Legen Sie den Kampfanzug ab,
den Ihnen Herr Stoiber verordnet hat!
({0})
Stellen Sie sich einer fairen und sachlichen Debatte! Ich
wünsche mir, dass Sie sich in Zukunft genauso für die
erneuerbaren Energien und für die Energieeinsparung
einsetzen werden, wie Sie sich hier für die Atomenergie
eingesetzt haben.
({1})
Ich gebe dem Kollegen Ulrich Klinkert für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Noch nie in der Nachkriegsgeschichte herrschte auf dem Energiesektor Deutschlands so viel Verunsicherung und Chaos wie seit dem
Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung.
({0})
Das hohe Gut einer sicheren, preiswerten und ökologischen Energieversorgung unter hoher einheimischer
Wertschöpfung wird durch Sie zunehmend infrage gestellt.
Die Maßnahmen von Rot-Grün drohen zu einem Desaster für den Energiestandort Deutschland insgesamt zu
werden. Zusätzlich zu Ihren nationalen Maßnahmen sorgen Sie, allen voran Bundesumweltminister Trittin, mit
Ihren chaotischen und teilweise peinlichen internationalen Auftritten dafür, dass die Glaubwürdigkeit Deutschlands insgesamt infrage gestellt wird.
National träumt Rot-Grün noch immer den Traum eines vollständigen Atomausstiegs. Rot-Grün glaubt, dass
die Energieunternehmen so naiv wären, diesen Atomausstieg auch noch auf dem silbernen Tablett zu servieren. Die Bundesregierung ist weltfremd genug, anzunehmen, dass dies auch international noch Schule machen würde.
Aber die Tatsachen sprechen eine völlig andere Sprache. Meine Damen und Herren, Sie wissen doch ganz
genau, dass einem gesetzlichen Ausstieg enge juristische - grundgesetzliche - Grenzen gesetzt sind. Selbst
wenn es Ihnen gelingen würde, national alle deutschen
Reaktoren zu schließen, meinen Sie dann, dass das
Auswirkungen auf nur einen einzigen der weltweit 436
in Betrieb befindlichen oder der 36 im Bau befindlichen
Reaktoren hätte? Das Gegenteil ist der Fall.
In ganz Europa freut man sich auf einen deutschen
Alleingang beim Atomausstieg, um dann in genau die
Lücke springen zu können, die durch die Schließung der
deutschen Kernkraftwerke entsteht, sprich: Atomstrom
nach Deutschland liefern zu können. Herr Trittin, Sie
sollten sich nicht wie vorhin in Ihrer Rede auch noch
darüber lustig machen, dass durch Ihre chaotischen Blockadepolitiken Investitionen in Kernkraftwerke in
Deutschland - und nicht nur in Kernkraftwerke - ausbleiben.
({1})
In der Atompolitik wird die ganze Widersprüchlichkeit der Bundesregierung deutlich. Die Bundesregierung
spricht im Inland von „Teufelszeug“, gewährleistet aber
über Hermes-Bürgschaften den Bau von Kernkraftwerken, zum Beispiel in China. Gegen diese Hermes-Bürgschaften für China ist im Prinzip nichts zu sagen. Wie die Herren Trittin und Fischer dies der grünen
Basis beibringen, das ist zunächst einmal nicht unser
Problem.
Dass Sie aber einerseits, zum Beispiel für China, Kredite
verbürgen und andererseits internationale Verträge brechen und wiederum Kredite verweigern, die für die sicherheitstechnische Nachrüstung von Kernkraftwerken in der Ukraine gedacht sind, ist im Sinne der
nuklearen Sicherheit verantwortungslos und schadet
dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland.
({2})
Jedes Kind weiß, dass Kernkraftwerke russischer
Bauart nach westlichem Verständnis Sicherheitsdefizite
aufweisen. Aber die internationale Fachwelt ist sich
durchaus darüber einig, dass ein Teil dieser Kraftwerke,
nämlich die so genannten WWER-Blöcke, die nicht dem
Typ von Tschernobyl entsprechen, sicherheitstechnisch
auf vergleichbares westliches Niveau nachrüstbar sind.
Weil das so ist, haben die G-7-Staaten 1995 beschlossen, der Ukraine bei der Schließung des Kraftwerks von
Tschernobyl und bei der Schaffung von Ersatzkapazitäten behilflich zu sein. Diese vertraglich vereinbarte Linie hat die Regierung Schröder inzwischen verlassen.
Man hat mir anlässlich eines vor kurzem gemachten Besuches der Ukraine gesagt, dass man erstens inzwischen
an der Zuverlässigkeit der Bundesregierung zweifelt und
dass zweitens die Kernkraftwerke Rowno und Khmelnytsky, um die es hierbei geht, auf jeden Fall in Betrieb
gehen werden, dann eben ohne eine entsprechende sicherheitstechnische Nachrüstung.
Meine Damen und Herren, wenn in der Ukraine
Kernkraftwerke in Betrieb gehen, die in ähnlicher Entfernung zu Deutschland liegen wie das Kraftwerk
Tschernobyl, und wenn sie von der Ukraine bis nach
Mitteleuropa eine potenzielle Gefährdung der Bevölkerung darstellen, dann hat dafür die rot-grüne Bundesregierung in hohem Maße Mitverantwortung.
({3})
Die Regierung beruhigt sich und ihr grünes Gewissen, indem sie die weltweit anerkannt sichersten Kernkraftwerke, nämlich die in Deutschland, als erste abschaltet und zusieht, wie wesentlich unsicherere Kraftwerke in der Ukraine in Betrieb gehen. Falls es Ihnen
wirklich gelingt, einige Kernkraftwerke in Deutschland
abzuschalten, werden Sie dies sicherlich als Ihren vermeintlich großen Erfolg feiern. Aber selbst wenn Sie in
diesem Zusammenhang alle Ihre Steckdosen grün anstreichen werden, werden Sie im Zuge der Liberalisierung der internationalen Märkte nicht verhindern können, dass aus eben diesen Steckdosen Strom aus Kernkraftwerken kommt, deren Sicherheitsverbesserung Sie
verweigert haben.
({4})
- Das ist wohl wahr; das ist eine besondere Art von Moral, auf die Kollege Hirche zu Recht hinweist.
Zurück zum deutschen Energiemarkt. Mit dem Ausstieg aus der Kernenergie würde ein gigantischer
Arbeitsplatzverlust einhergehen und auch eine
Zunahme des CO2-Ausstoßes wäre zu befürchten. Es
ist ein Märchen, zu glauben, dass Kernkraftwerke durch
Energieeinsparung oder erneuerbare Energien kompensiert werden können. Möglicherweise kommt
der Zuwachs des CO2-Ausstoßes nicht aus deutschen
Kraftwerken, sondern wird durch Stromimporte aus dem
Ausland bedingt. Dies ist, wie wir wissen, der
Atmosphäre ziemlich egal.
Dass dieser Zuwachs auch aus dem Ausland kommen
könnte, liegt sicherlich daran, dass die Bundesregierung
zurzeit - ähnlich ideologisch motiviert wie bei Kernkraftwerken - massive Angriffe gegen konventionelle
Kraftwerke, insbesondere gegen Braunkohlekraftwerke in den neuen Bundesländern, richtet. Jeder weiß,
dass die ostdeutsche Braunkohleverstromung zurzeit,
bedingt durch notwendige Investitionen in Höhe von
20 Milliarden DM, finanzielle Probleme hat. Was tut die
Bundesregierung? Sie gefährdet diese gigantischen Investitionen auch noch, indem sie zum Beispiel eine zusätzliche Besteuerung von Rückstellungen für die
Rekultivierung plante, was nur in letzter Minute durch
massive Proteste verhindert werden konnte, übrigens
auch durch massive Proteste der IG BCE, die sich diese
Verhinderung durchaus als Erfolg auf ihre Fahnen
schreiben kann. Ich habe allerdings den Eindruck, dass
diese Gewerkschaft im Moment aufgrund dieses Erfolges etwas ermüdet ist. In der Zeit vor 1998, also vor dem
Regierungswechsel, habe zumindest ich diese Gewerkschaft als wesentlich munterer erlebt,
({5})
was ich in jedem Fall als positiv betrachte.
Im Weiteren führt die Bundesregierung einen Schlag
gegen die Braunkohle, indem sie eine Steuerbefreiung
für Gaskraftwerke einführt, dies in einer Ausgestaltung, die zwar verhindert - Herr Präsident, ich komme
zum Schluss -, dass in Nordrhein-Westfalen Gaskraftwerke gebaut werden, die aber gewährleistet, dass die
Voraussetzungen gegeben sind, eine Konkurrenz zur
ostdeutschen Braunkohleverstromung in den neuen
Bundesländern zu schaffen. Dies zeigt die ganze Doppelzüngigkeit der Bundesregierung.
Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die
Große Anfrage und in den Redebeiträgen am heutigen
Tage bewiesen, dass sie nicht in der Lage ist, Antworten
auf die Fragen der Energieversorgung des 21. Jahrhunderts zu geben.
Vielen Dank.
({6})
Für die SPDFraktion spricht der Kollege Hermann Scheer.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Eine Kollegin der CDU/CSUFraktion hat vorhin gesagt, es ginge um eine sichere,
preisgünstige und umweltfreundliche Energieversorgung, wie sie bisher praktiziert worden sei - und zwar
nicht nur in Deutschland, sondern von allen Regierungen dieser Welt.
({0})
- So haben Sie es wörtlich gesagt. - Angesichts dieses
Satzes habe ich mich gefragt, in welcher Welt Sie eigentlich leben.
Dass die Energieversorgung dieser Welt extrem umweltgefährdend, ja umweltzerstörend ist, wissen wir inzwischen von allen Weltklimakonferenzen. Das ist ein
eindeutiger Tatbestand.
({1})
Dass es unglaubliche Gefahren durch die Atomenergie
gibt, wissen wir spätestens seit Tschernobyl. Was die sichere und preisgünstige Energieversorgung anbetrifft:
Das Argument hinsichtlich der Sicherheit und der Preisgünstigkeit fällt aufgrund der Entwicklung der Energiemärkte desto stärker in sich zusammen, je mehr wir an
den herkömmlichen atomaren wie fossilen Energiequellen festhalten.
Es ist ja unbestritten, dass die Zahlen, die in der Antwort der Bundesregierung in Bezug auf die statistische
Verfügbarkeit genannt werden, realistisch sind. In der
Antwort wird von einer statistischen Verfügbarkeit bei
Erdöl von 43 Jahren - das ist ein extrem kurzer Zeitraum -, bei Erdgas von 66 Jahren und bei Atombrennstoffen - die jetzt in Anspruch genommenen Uranreserven einmal zugrunde gelegt - von ungefähr 60 Jahren
ausgegangen. Das sind absolut alarmierende Zahlen, die
die gesamte internationale Sicherheit infrage stellen.
Die Preisgünstigkeit der Energieversorgung wird ohnehin infrage gestellt. Man muss nämlich bedenken,
dass diese Zahlen eine nur durchschnittlich ansteigende
Zuwachsrate des Weltenergieverbrauchs unterstellen.
Von einer durchschnittlich ansteigenden Energiezuwachsrate kann aber gar nicht die Rede sein. Der Energieverbrauch entwickelt sich nämlich weltweit überdurchschnittlich. Das heißt, wir müssen damit rechnen,
dass die Zeiträume hinsichtlich der statistischen Verfügbarkeit kleiner sind, als das gegenwärtig noch von den
Statistiken ausgewiesen wird.
Die Welt wird natürlich nicht darauf warten, bis das
Ende der Verfügbarkeit tatsächlich eingetreten ist.
Vielmehr werden die politischen und wirtschaftlichen
Spannungen zunehmen. Je mehr wir uns dem Kreuzungspunkt zwischen nachlassender - zum Schluss
nicht mehr gegebener - Verfügbarkeit und Energiebedarf nähern, desto früher werden wir es neben den
ökologischen Turbulenzen mit riesigen wirtschaftlichen
Turbulenzen zu tun haben. Diese wirtschaftlichen Turbulenzen werden zu massiven militärischen Spannungen
führen und brutale militärische Konflikte provozieren.
Das ist die Situation, vor der wir stehen.
({2})
Von daher ist jedwede Selbstgefälligkeit in Bezug auf
frühere Energiepolitik falsch - gleich, wer sie praktiziert
hat. Wir stehen vor einer derart dramatischen Herausforderung, dass sie ganz anders bewältigt werden muss,
nämlich mit viel konsequenteren Schritten, mit denen
vermieden werden kann, dass wir jemals an dem Kreuzungspunkt von nachlassender Verfügbarkeit und Energiebedarf ankommen; denn das würde ein Chaos unbeschreiblichen Ausmaßes in der Welt bedeuten. Das ist in
letzter Konsequenz nur durch eine Mobilisierung erneuerbarer Energien möglich. Wir dürfen das nicht
weiter verschleppen. Dass das in der Vergangenheit von
fast allen Regierungen der Welt verschleppt worden ist,
dass das ungenügend oder teilweise gar nicht praktiziert
worden ist, war ein gravierendes Versäumnis des
20. Jahrhunderts.
Wir gehören zur oberen Klasse der Staaten, die in den
90er-Jahren in diesem Bereich etwas gemacht haben.
Aber auch diejenigen, die zur oberen Klasse zählten,
müssen sich angesichts der Gesamtherausforderung sagen lassen, dass die Antworten ungenügend waren.
Auch die Maßnahmen, die jetzt ergriffen worden sind,
die deutlich über frühere hinausgehen, reichen längst
noch nicht aus. An dieser Stelle muss entschieden weitergearbeitet werden. Eine Verschleppung ist unverantwortlich.
({3})
Das gilt auch für die Europäische Union. Wir müssen viel mehr Initiativen ergreifen, damit im Rahmen der
Europäischen Union und etwa bei Weltklimakonferenzen diese Thematik richtig aufgegriffen wird. Deswegen
stehen wir vor zwei Herausforderungen, nämlich zum
einen vor der Bewältigung des Verfügbarkeits- wie auch
Umweltproblems durch die Mobilisierung erneuerbarer
Energien. Zum anderen stehen wir vor der Frage, wie
wir dies vor dem Hintergrund der Liberalisierung der
Energiemärkte - gegebenenfalls mit Hilfe - beschleunigen können und wie wir verhindern, dass die Liberalisierung der Energiemärkte unsere Strategien für die Zukunft durchkreuzt. Auch das ist denkbar.
Die Liberalisierung, wie sie heute praktiziert wird,
ist für sich gesehen hochproblematisch, weil sie nicht
den Vorrang von Naturgesetzen, also der Erhaltung der
Umwelt, vor Marktgesetzen festschreibt. Wenn man den
Marktgesetzen den Vorrang einräumt, muss das logischerweise in einer Katastrophe enden. Man muss also
den Vorrang der Naturgesetze festschreiben, und damit
das Ende der Subvention; denn gegenwärtig subventioniert die Gesellschaft die kostengünstige, herkömmliche,
umweltschädigende Energieversorgung. Dies muss beendet werden. Das ist ein Gebot unserer Zeit. Deswegen
ist das EEG, das diesen Vorrang festschreibt - das war
schon mit dem Stromeinspeisungsgesetz gegeben, wird
aber jetzt ausgeweitet -, genau der richtige Weg. Es
handelt sich um eine notwendige Ergänzung zur Liberalisierung.
Was die Liberalisierung selbst angeht, so kann sie
nutzen, wenn dieser Vorrang gegeben ist und wenn die
Liberalisierung tatsächlich im Sinne der Wettbewerbsgleichheit praktiziert wird. Davon kann gegenwärtig
noch keine Rede sein. Die UN spricht von Subventionen
in einer Höhe von 300 Milliarden Dollar jährlich weltweit für atomare und fossile Energien. Es ist somit kein
Wunder, wenn diese gegenüber alternativen Energien
einen Preisvorteil haben. Das heißt, ein Programmpunkt
für die künftige Weltklimakonferenz müsste der Abbau
der Energiesubventionen im weltweiten Maßstab sein,
damit die alternativen Energien durchbrechen können.
Ein weiterer Programmpunkt müsste die Frage sein das hat heute eine große Rolle gespielt -, wie erreicht
werden kann, dass Wettbewerbsverzerrungen durch Ungleichzeitigkeit in der Liberalisierung der Energiemärkte
eintreten. Hier wurde die Gefahr beklagt - das haben
viele Redner der Oppositionsparteien heute gemacht -,
dass billiger Atomstrom aus Russland oder aus Frankreich oder vielleicht billiger Kohlestrom aus Polen in
diesen Markt kommt. Es ist doch völlig klar, dass das
daran liegt - nicht ausschließlich, aber entscheidend -,
dass von nicht liberalisierten Märkten in liberalisierte
Märkte importiert werden kann, ohne dass es gegenwärtig - wegen des Energiewirtschaftsgesetzes, wegen einer
falschen Konstruktion der europäischen Energiecharta,
also wegen früherer Versäumnisse -, keine Handhabe
dagegen gibt. Das heißt: Wenn Sie im Energiewirtschaftsgesetz keine Schutzklausel, gegen diese Art der
Wettbewerbsverzerrungen vorgesehen haben, dürfen Sie
die eintretenden Folgen nicht beklagen. Die Antwort der
Bundesregierung lautet bisher, dass hier keine Maßnahmen ergriffen werden, außer die, dass man sich bei der
EU-Kommission richtigerweise beschwert, mit dem
Ziel, dass sie dagegen tätig wird.
Wir müssen in unserem Energiewirtschaftsgesetz
Vorkehrungen dagegen treffen - selbstverständlich -,
sonst riskieren wir, dass aufgrund der wettbewerbsverzerrenden Importe aus Ländern, die noch geschützte
Märkte haben und diese Energien deswegen zu Dumpingpreisen anbieten und die Preise auf ihre heimischen
Kunden überwälzen können, Initiativen für Effizienzmaßnahmen und zur Sicherung heimischer Stromerzeugung und die Mobilisierung erneuerbarer Energien
durchkreuzt werden. Dies muss vermieden werden; das
ist eine der zwingenden Herausforderungen.
Das heißt, Sie dürfen sich nicht darüber beklagen. Die
Ursache liegt in einem falschen Liberalisierungsansatz;
er ist viel zu ideologisch praktiziert worden. An der Stelle sage ich: Wenn Sie jetzt die Folgen sehen und wir
gemeinsam dagegen initiativ würden, dann wäre das ein
produktives Ergebnis dieser Debatte.
Danke schön.
({4})
Wir können uns ja,
da wir es gerade praktiziert haben, einmal grundsätzlich
darauf verständigen: Wer frei spricht, kriegt einen Bonus bei der Redezeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 und die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
3. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
zur 11. Vertragsstaatenkonferenz zum Washingtoner Artenschutzübereinkommen
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Anke
Hartnagel, Ulrike Mehl, Petra Bierwirth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Steffi Lemke, Sylvia Voß,
Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz der Wale dauerhaft sicherstellen
- Drucksache 14/2985 ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marga
Elser, Ulrike Mehl, Petra Bierwirth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Sylvia Voß, Gila Altmann, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbot des Elfenbeinhandels wieder herstellen
- Drucksache 14/2986
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Manche von Ihnen werden es vielleicht schon dem „Spiegel“ entnommen haben: Die
Bundesrepublik Deutschland oder - exakter - die Hauptstadt Berlin hat aktuell ein äußerst bäriges
Problem, was den Artenschutz angeht. Das Pandabären-Weibchen Yan-Yan, vor fünf Jahren zu - so muss
man an der Stelle wohl sagen - angeblich wissenschaftlichen Zwecken mit Hilfe Berliner Politiker nach
Deutschland eingeschleust, soll angeblich wieder nach
China abgeschoben werden.
Der Grund ist banal: Yan-Yan kann oder will nicht
das tun, was sich Berliner Zooleute und Amtsträger bei
ihrer Einfuhr erhofft haben, nämlich Nachwuchs produzieren. Die Dame Yan-Yan muss oder soll nun das ausbaden, was eigentlich die Berliner und die zuständigen
Behörden des Bundes vor dem Panda-Deal hätten eruieren sollen: Wenn es nämlich zulässig ist, solche Tiere
zum Zwecke der wissenschaftlichen Produktion von
Nachwuchs zu importieren - und nur zu diesem Zwecke -, hätte man prüfen müssen, ob das mit der Dame
Yan-Yan überhaupt möglich ist.
Ich will aber - gerade um die Luft aus dieser Debatte
zu nehmen - eines klar sagen: Wir wollen alles tun, um
ihr einen angemessenen - sprich: artgerechten - Ruhestand zu ermöglichen - ob nun hier oder in China, das
bleibt abzuwarten.
({0})
Sie werden das verstehen, weil ich auch in anderen Fragen, bei illegal Zugereisten, eher zurückhaltend bin, was
Abschiebung angeht.
({1})
Meine Damen und Herren, ich habe dieses Einzelschicksal ausgewählt, weil sich an dieser Frage, die die
Emotionen der Öffentlichkeit sehr stark bewegt, etwas
illustrieren lässt: Der Handel mit vom Aussterben bedrohten Pandas - ob es nun wissenschaftliche oder politische Zwecke sind, die dahinter gestanden haben - ist
nur die Spitze eines Eisberges des weltweiten Geschäfts
im Handel mit gefährdeten Tier- und Pflanzenarten.
Die Dimension dieses Geschäfts ist zu beziffern; sie beträgt wahrscheinlich mehr als 10 Milliarden DM im
Jahr.
Auf der 11. Vertragsstaatenkonferenz zum Washingtoner Artenschutzabkommen im April werden genau
diese Fragen, also insbesondere die Fragen des Handels
und des Handelsverbots, wieder im Mittelpunkt der Diskussion stehen. Es geht um den traditionellen Konflikt
zwischen Nutzern und Schützern gefährdeter Tierund Pflanzenarten. Mehr als 146 Staaten diskutieren und
entscheiden über Verschärfungen und Lockerungen im
internationalen Artenschutz.
Auch dieses Jahr werden die Vertreter vieler Länder
mit seltenen exotischen Arten auf ihren Anspruch pochen, ihre eigenen natürlichen Ressourcen auch nutzen
zu können. Nachhaltige, also naturschonende Nutzung
ist die Zauberformel, mit der solche wirtschaftlichen
Möglichkeiten eingefordert werden. Auf der anderen
Seite werden vor allem die Einfuhrstaaten und Naturschutzorganisationen dem entgegenhalten, dass die Realisierung dieses Prinzips grundsätzlich mangelhaft ist
und dass sich damit der Handel mit vielen gefährdeten
Arten verbietet.
Aber nicht nur in Deutschland, überall auf der Welt
stehen Artenschützer vor einer schwierigen Aufgabe.
Tiere und Pflanzen sollen unter Schutz stehen, aber
daneben soll auch eine Nutzung möglich sein. Das ist
unter der Prämisse der Nachhaltigkeit in der Konvention
über die biologische Vielfalt von 1992 in Rio de Janeiro
so festgelegt worden. Auch das Washingtoner Artenschutzabkommen aus dem Jahre 1973 hat diesen Grundgedanken aufgegriffen, wenn auch nicht so explizit formuliert.
Festzustellen ist aber: Das Artenschutzabkommen hat
seine zentrale Aufgabe, die nachhaltige Nutzung gefährdeter Tier- und Pflanzenarten und deren kontrollierten
Handel, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nie erreicht; denn - diese Bilanz ist zu ziehen - die Liste der
bedrohten Arten ist seit In-Kraft-Treten der Konvention stetig gewachsen. Auch in Nairobi werden der Liste
sicherlich weitere Tier- und Pflanzenarten hinzugefügt
werden.
Zwei Gründe sind meines Erachtens für diese Entwicklung ganz besonders verantwortlich: mangelnde
Handelskontrollen sowie fragwürdige und teilweise fehlende wissenschaftliche Daten zum Erhaltungszustand
von Arten in freier Natur. Die Folge ist: Der Handel mit
Affen, Papageien, Schlangen, Korallen, Orchideen, Kakteen und vielen anderen Arten stellt nach wie vor den
wesentlichen Gefährdungsfaktor für viele Arten dar.
Neben der Gefährdung und der Zerstörung der natürlichen Lebensräume trägt der Handel mit diesen Arten zu
dem erschreckenden Verlust biologischer Vielfalt und
damit unser aller Lebensgrundlagen bei.
Kommt man diesem Problem mit totalen Handelsverboten bei? Ich meine, nein. Mit populistischen Forderungen nach generellen Importstopps wird sich der
Konflikt zwischen Nutzern und Schützern nicht konstruktiv lösen lassen. In manchen Fällen ist es sogar so,
dass sie dem Ziel des Schutzes der bedrohten Arten
mehr schaden als nutzen.
Ich glaube, wir müssen im internationalen Artenschutz offensiv neue Wege gehen. Die Bundesrepublik
Deutschland hat als eines der Haupteinfuhrländer für
exotische Tiere und Pflanzen eine zentrale Verantwortung, dem Washingtoner Artenschutzabkommen neue
Impulse zu verschaffen. Das ist der Grund, warum wir
die Konferenz sehr sorgfältig vorbereitet haben. Wir
wollen auf der 11. Vertragsstaatenkonferenz in Nairobi
im Wesentlichen zwei Ziele umsetzen: Wir wollen einerseits jeder ungerechtfertigten Lockerung von
Schutzbestimmungen für gefährdete Tiere und Pflanzen entgegenwirken und andererseits konstruktive Vorschläge unterbreiten, die der Weiterentwicklung des
Übereinkommens unter dem Blickwinkel der nachhaltigen Nutzung dienen.
Lassen Sie mich kurz einige Beispiele hierfür erläutern. Erstens. Deutschland wird sich dafür einsetzen,
dass Anträge mit dem Ziel, den Schutz bestimmter Arten
zu lockern, von den Vertragsstaaten abgelehnt werden,
wenn die Antragsteller nicht überzeugende und nachvollziehbare Informationen vorlegen. „Überzeugend und
nachvollziehbar“ heißt, dass sie die wissenschaftliche
Vertretbarkeit der Nutzung belegen müssen und dass es
ein lückenloses Management- und Kontrollsystem für
die erweiterte Nutzung einer bestimmten Art aufzuzeigen gilt.
So ist zum Beispiel abzusehen, dass auf der Vertragsstaatenkonferenz wieder hitzig und kontrovers über den
Schutz des Afrikanischen Elefanten und den Elfenbeinhandel gestritten wird. Botswana, Namibia und
Simbabwe haben Anträge gestellt, ihre Elefantenpopulationen weiterhin im Anhang II des Übereinkommens zu
belassen. Gleichzeitig hat Südafrika mit demselben Ziel
eine Herabstufung seiner Bestände beantragt und möchte 30 Tonnen Elfenbein exportieren.
Kenia und Indien wiederum werden einen Gegenantrag zu dem erstgenannten Antrag der Staaten mit dem
Ziel des Handelsverbots stellen wollen, also eine Hochstufung in den Anhang I des Washingtoner Artenschutzabkommens erreichen. Diese beiden Länder haben in
meinen Augen überzeugende Informationen vorgelegt,
dass seit der Lockerung des Elfenbeinhandels auf der
letzten Vertragsstaatenkonferenz, also seit 1997, die
Wilderei von Elefanten in Afrika, wieder zugenommen
hat.
Für uns heißt das: Die begrenzte Freigabe einzelner
Bestände stellt offenkundig einen Anreiz zur Wilderei in
allen Verbreitungsstaaten der Afrikanischen Elefanten
dar. Sie kann aus diesem Grunde nach unserer Auffassung nicht weiter aufrechterhalten werden. Deswegen
beabsichtigt die Bundesrepublik Deutschland, den Antrag von Kenia und Indien zu unterstützen.
Ich sage aber hier auch klar: Dies durchzusetzen wird,
nachdem Großbritannien und Frankreich eine andere
Position eingenommen haben, nicht einfach sein. Wir
werden aber gegenüber den anderen Vertragsstaaten
auch signalisieren, dass die Nutzung Afrikanischer Elefanten grundsätzlich möglich sein kann. Aber dafür
müssen die wissenschaftlichen und die vollzugstechnischen Rahmenbedingungen stimmen. Dies gilt auch für
die Kontroverse um die Frage der Bestandsregulierung
bei Elefanten in Südafrika, die Frage der Öffnung von
Grenzen und ähnlichem.
Die Frage eines Handelsverbotes stellt sich auch in
Bezug auf den Handel mit Walprodukten. Ich freue
mich, dass die Fraktionen hier eine klare Position bezogen haben. Wir stimmen damit völlig überein.
Zweitens. Wir als Bundesrepublik Deutschland wollen insgesamt sechs Anträge zur Unterschutzstellung
neuer Arten und zur Aufnahme in eine höhere
Schutzkategorie zur Diskussion stellen. Primäres Ziel
ist es dabei, auf weitgehend unbekannte Tier- und Pflanzengruppen aufmerksam zu machen, auf Arten, die im
öffentlichkeitswirksamen Schatten von Elefant, Wal und
Tiger unbemerkt in riesigem Umfang genutzt werden
und mangels ausreichender Handelskontrollen im Bestand gefährdet sind. Dazu zählt nicht nur der Hai; hierzu gehören auch das Steppenschaf und die Scharnierschildkröte, aber auch Pflanzen wie etwa die südafrikanische Teufelskralle.
Sollten Sie oder ich einmal vom Rheuma geplagt
werden, dann dürften wir in Zukunft froh sein, dass es
die südafrikanische Teufelskralle noch gibt; denn daraus wird ein Rheumamittel gewonnen, das sich bei uns
schon lange einer großen Nachfrage erfreut. Mehr als
600 Tonnen getrockneter Wurzeln dieser Pflanze werden pro Jahr allein aus Namibia nach Deutschland und
in andere Länder Europas exportiert und hier weiter verarbeitet. Wissenschaftler sind besorgt, dass diese Nutzungsmenge den jährlichen Zuwachs übersteigt und die
Pflanze in ihrem Weiterbestand gefährdet ist. Das
schmerzt.
Deshalb hat Deutschland in seiner Verantwortung als
Hauptverbraucherland für Nairobi den Antrag gestellt,
die Teufelskralle in Anhang II des Washingtoner Artenschutzabkommens aufzunehmen. Aber wir wollen dieses
Instrument diesmal anders verstanden wissen als in der
Vergangenheit: nicht als Maßnahme für ein Handelsverbot oder die Vorbereitung dazu, sondern als ein Instrument der Handelsüberwachung, des so genannten Monitoring, und gleichzeitig als Instrument, um die Nutzung
dieser Ressource dauerhaft zu sichern und ihre wild
wachsenden Bestände in den Kalahari-Gebieten des südlichen Afrikas dauerhaft zu schützen.
Wir richten unseren Blick gar nicht so sehr auf den
landwirtschaftlichen Anbau. Wir sind der Meinung, dass
die lokalen, oft in Armut lebenden Sammler unterstützt
und ausgebildet werden müssen, um langfristig sicherzustellen, dass sie die Pflanzen schonend sammeln und
sich an Sammelquoten halten.
({2})
Diese Menschen, die mit und von dieser Ressource leben und mit dieser Sammeltätigkeit ein spezielles soziales und kulturelles Leben entwickelt haben, müssen im
Mittelpunkt unserer Schutzbemühungen stehen. So ist
der Nutzungskonflikt zu bewältigen. Das meint nachhaltige Nutzung.
Wir haben den Antrag zur Aufnahme der Teufelskralle in Anhang II gestellt. Gleichzeitig wollen wir in den
nächsten vier Jahren knapp 200 000 DM an Forschungsgeldern ausgeben, um festzustellen, wie viel Teufelskralle es wo noch gibt, und um im Rahmen einer nachhaltigen Nutzung die jährlichen Zuwachsmengen zu ermitteln. Ich bin mir sicher, dass meine Kollegen in den
Ministerien von Botsuana, Namibia und Südafrika diese
Ergebnisse nutzen werden. Sie können entsprechende
Quoten festlegen, die mit Hilfe des Artenschutzübereinkommens dann auch international überwacht werden
können.
Drittens. Die Bundesrepublik wird in Nairobi mit insgesamt elf Resolutionen und Diskussionspapieren teilweise zusammen mit anderen Vertragsstaaten nicht nur
Grundsatzfragen zur Verbesserung des Washingtoner
Artenschutzübereinkommens aufwerfen, sondern auch
andere Lösungsmöglichkeiten suchen. Gerade in einer
Phase, wo immer mehr Ausländer den ArtenschutzHardlinern eine so genannte Käseglockenphilosophie bei
der Erhaltung gefährdeter Arten vorwerfen und eine
mehr wirtschaftlich orientierte Umsetzung der Artenschutzkonvention fordern, wollen wir Anregungen geben, wie man das Notwendige beim Schutz mit dem
Machbaren bei der Nutzung verknüpfen kann. Das gilt
nicht nur für Reizthemen wie Kaviar, Krokodilleder
oder das Ranching von Wildtieren, sondern wir legen
auch eine umfangreiche Dokumentation zum Handel
mit Süßwasserschildkröten vor, um auf eines der
brennendsten Artenschutzprobleme in Südostasien aufmerksam zu machen.
Wir wollen Vorschläge an Staaten wie China unterbreiten, wie der katastrophale Bestandsrückgang, der im
Übrigen dadurch verursacht wird, dass dort täglich 30
Tonnen Schildkröten verbraucht werden, aufgehalten
und rückgängig werden kann. Meine Damen und Herren, mir geht es nicht darum, beispielsweise die Nutzung
dieser Schildkrötenart, etwa zum Zwecke traditioneller
chinesischer Medizin, generell zu unterbinden, aber eine
durch Ernährungsgewohnheiten bedingte Massenvernichtung der Bestände dieser Schildkröten ist nicht zu
akzeptieren.
({3})
Wir sind fest entschlossen, bei der Vertragsstaatenkonferenz und im Nachgang dazu mehr als bisher den
internationalen Artenschutz aktiv, innovativ und vor
allem im Dialog mit den Exportländern zu gestalten. Wir
werden dabei vorrangig den Schutz solcher gefährdeter
Tier- und Pflanzenarten verbessern helfen, die auch und
gerade für Deutschland eine Rolle im Handel spielen.
Das verstehen wir als unseren nationalen Beitrag zum
weltweiten Bemühen, biologische Vielfalt und nutzbare
Ressourcen zu schützen. Wir werden auch aktiv alle
Entwicklungen im nationalen wie internationalen Bereich mitgestalten, die dazu beitragen, die gesellschaftliche Akzeptanz für die nachhaltige Nutzung von Wildtieren und -pflanzen zu festigen. Ich darf Ihnen versichern,
dass mein Ressort hierbei ein kritischer, vorrangig -
aber nicht ausschließlich - dem Natur- und Artenschutz
verpflichteter, aber auch um die Zielkonflikte wissender
Partner für alle an diesem Prozess Beteiligten sein wird.
({4})
Ich eröffne die Aussprache und gebe für die CDU/CSU-Fraktion zunächst
dem Kollegen Cajus Julius Caesar das Wort.
({0})
- Die Reaktion kennt der Kollege schon. - Insbesondere
die Schülerinnen und Schüler auf der Tribüne werden
mit großer Spannung auf Ihre Ausführungen warten.
({1})
Herr Präsident! Ich bedanke mich für diese nette Einführung.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der CDU/CSUFraktion war es in der Vergangenheit ein Herzensanliegen, zur Artenvielfalt beizutragen. Ich denke, dieser
Aussage können Sie alle zustimmen.
({0})
Aber auch mir persönlich war es immer ein besonderes
Herzensanliegen, im Sinne der Artenvielfalt zu handeln,
denn als gelernter und ausgebildeter Forstmann sowie
als Revierleiter habe ich mich auch vor Ort sehr dafür
eingesetzt, im eigenen Land Artenvielfalt zu praktizieren.
({1})
Wenn man hier über Tier- und Pflanzenvielfalt redet,
dann muss man das auch selbst vor Ort praktizieren. Das
ist sicherlich eine wichtige Voraussetzung.
Übereinkommen muss heißen: Aktion für die Zukunft. Bei dieser Konferenz hat Rot-Grün die Möglichkeit zu dokumentieren: Will man lamentieren oder will
man handlungsfähig sein? Bisher haben wir erleben
müssen, dass im Umweltbereich nicht sehr viel erreicht
wurde und die wichtigen Themen vor Ort in hohem Maße zu kurz gekommen sind. Nationaler Stillstand und internationale Handlungsunfähigkeit müssen bald ein Ende haben. Deshalb fordern wir, auf den guten Erfolgen
der bisherigen, von der CDU/CSU und F.D.P. geführten
Bundesregierung aufzubauen und hier anzusetzen. Man
darf die Messlatte nicht von Woche zu Woche, von Tag
zu Tag heruntersetzen. Dieser Zustand muss beendet
werden.
({2})
Nutzen Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Ihre Chance für eine sinnvolle Umweltpolitik - zum Wohle aller Beteiligten.
Ich darf ins Gedächtnis zurückrufen: 1993 wurde das
Artenschutzübereinkommen unterzeichnet, 1976 trat es
in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Damit
wurde ein wichtiger Schritt im Sinne der Artenvielfalt
getan, um frei lebende Tier- und Pflanzenarten vor der
Ausrottung zu schützen. Nach dem Schritt in die richtige
Richtung bleibt nach wie vor viel zu tun. Wir können
feststellen: 26 000 Arten sind es jährlich weniger; alle
20 Minuten verschwindet eine Art von der Erde. Das
bedeutet: Wir alle sind aufgefordert zu handeln.
Dass eine Trendwende möglich ist, zeigt unter anderem der Süßwasserbereich, bei dem es der von der
CDU/CSU und der F.D.P.geführten Bundesregierung in
der Vergangenheit in der Tat gelungen ist, eine Trendwende herbeizuführen.
({3})
Durch die konsequente Abstellung von schädigenden
Einflüssen ist eine Trendwende gelungen. Die Qualität
der Bäche, der Flüsse ist deutlich verbessert worden.
Es gilt nun, über diesen Bereich hinaus international
zu einer Trendwende zu kommen. Dazu müssen wir auf
den in der Vergangenheit abgeschlossenen Abkommen
aufbauen mit dem Ziel des Verbotes, bedrohte Arten in
andere Länder zu exportieren. Damit können wir verhindern, dass wir zur Schädigung dieser Arten beitragen.
Das Abkommen enthält drei Anhänge. Es ist wichtig,
dass wir uns insbesondere auf den Anhang I konzentrieren. Denn dadurch wird der Handel mit bedrohten Arten
ausgeschlossen. In den vergangenen Jahren hat es jedoch die Tendenz gegeben, wonach auch mit streng geschützten Arten gehandelt werden darf. Voraussetzung
dafür ist allerdings, dass ein Artenschutz betrieben wird,
der eine starke Population sichert.
Sie, meine Damen und Herren, werden mir sicherlich
zustimmen, dass Arten- und Naturschutz nicht gegen,
sondern nur mit den Menschen in den betroffenen Ländern realisiert werden kann. Ziel unserer Artenschutzpolitik muss sein, den Menschen so weit zu helfen, dass sie
nicht mehr darauf angewiesen sind, Wildtiere zu jagen,
zu erlegen, zu verkaufen, um zu überleben.
({4})
Eine sinnvolle Entwicklungshilfe kann hier ansetzen
und - mit finanzieller Hilfe - Unterstützung für die betroffene Bevölkerung leisten. Unter diesem Aspekt ist es
meiner Fraktion und mir allerdings völlig unverständlich, warum beispielsweise die rot-grüne Bundesregierung im Bereich des Schutzes der tropischen Regenwälder die Mittel - gemessen an denen, die die Vorgängerregierung hierfür zur Verfügung gestellt hat - deutlich
zurückgeführt hat.
({5})
Während 1997 noch rund 300 Millionen DM dafür im
Haushalt standen, sind es jetzt nur noch knapp
250 Millionen DM.
({6})
Das kritisiere ich an dieser Stelle aufs Schärfste. Das
können wir nicht hinnehmen. Natur- und Artenschutz
beginnt da, wo man die Lebensräume bedrohter Arten
schützt. Dafür müssen zukünftig wieder mehr Gelder als
zuletzt zur Verfügung gestellt werden. Der Schutz des
Tropenwaldes dient ja nicht allein den dort lebenden
Tier- und Pflanzenarten, sondern auch dem Schutz des
globalen Klimas.
Sie erläutern in Ihrem Antrag „Schutz der Wale dauerhaft sicherstellen“, dass sich das Klima weltweit um
1,5 bis 4 Grad erwärmen wird. Sollte diese Prognose
Tatsache werden, müssen wir dies umso mehr zum Anlass nehmen, noch einmal nachdrücklich den Schutz des
Klimas einzufordern: nicht - wie von Ihnen vorgesehen - durch weniger, sondern durch mehr finanzielle
Hilfen vor Ort und durch internationale Forschungsprogramme. Sie, Herr Minister, haben eben deutlich gemacht, dass Sie für Forschungsprogramme in diesem
Bereich in der Zukunft 200 000 DM zur Verfügung stellen wollen. Das ist im Verhältnis zu den gekürzten Millionenbeträgen natürlich wirklich nur ein Tropfen auf
den heißen Stein.
({7})
Auch hier klafft eine gewaltige Lücke zwischen Wahlkampfaussagen, Regierungserklärungen und der Wahrheit.
({8})
Stellen Sie mehr Geld zur Verfügung, um die Lebensräume zu schützen! Gerade hier sollte Rot-Grün vorangehen und zeigen, dass Sie es mit Klima- und Naturschutz ernst meinen.
Schlimm ist auch, dass Sie entgegen Ihrer Ankündigung, Herr Minister Trittin, die Umweltmittel im Bereich der Entwicklungshilfe gekürzt haben. Siehe da,
ein Viertel weniger hat Ihr Ministerium im Bereich der
Entwicklungshilfe zur Verfügung gestellt. Sie verkünden zwar - wie noch vor wenigen Minuten geschehen -,
man könne die Probleme nur mit den Menschen und mit
zusätzlichen finanziellen Hilfen bewältigen, aber Sie tun
genau das Gegenteil dessen.
({9})
Auch der Ausstieg aus der CO2-freien Kernenergie ist
nicht geeignet, die Klimaproblematik zu lösen. Ich erwähne das nur, weil das auch vonseiten der Regierung
eben angesprochen worden ist.
Meine Damen und Herren, wir müssen den Menschen
in unserem Land aber auch selbst vor Augen führen,
dass Pelze, dass Leder, ja dass Duftstoffe von artengeschützten Tieren möglichst nicht eingeführt und vor allem nicht verwendet werden sollten. Dieses Signal muss
von uns allen an die Hersteller gehen. Dann haben diese
Produkte auch keine Chance. Hier sind wir alle - über
Parteigrenzen hinweg - gefordert.
Nun steht uns die 11. Vertragsstaatenkonferenz ins
Haus. Dabei geht es auch um den Schutz des Afrikanischen Elefanten. Die letzte Konferenz hat eine Lockerung des strengen Schutzes beschlossen - dies mussten
wir damals zur Kenntnis nehmen -, obwohl sich die
deutsche Delegation entschieden dagegen ausgesprochen hat, die Schutzkategorie für die Elefantenpopulationen Botswanas, Namibias und Simbabwes herabzustufen. Das war nicht in unserem Sinne, im Sinne der Deutschen. Angela Merkel hat seinerzeit formuliert, dass die
erforderlichen Handelskontrollen und Methoden zur
Herkunftsbestimmung von Elfenbein noch nicht so weit
ausgereift sind, dass ein Wiederaufleben der Wilderei
verhindert werden könne.
({10})
Sie hat Recht behalten.
Die Beschlüsse haben seinerzeit dazu geführt, dass
ein begrenzter Handel wieder zugelassen wurde. Dies
hatte verheerende Folgen. Allein im letzten Jahr, wurden
13 Tonnen Elfenbein sichergestellt. Die Auswirkungen
der Wilderei sind also eklatant. Im letzten Jahr sind in
Kenia sechsmal mehr Elefanten als im Durchschnitt der
vergangenen Jahre getötet worden. Deshalb ist es dringend, geeignete Schutzmaßnahmen zu ergreifen.
Leider ist es in der Vergangenheit nicht gelungen,
den Handel mit Elfenbein zu unterbinden. Aufgrund der
in Botswana, Namibia und Simbabwe gesunden Populationsentwicklung erscheint eine Einstufung in Anhang II
des Artenschutzabkommens aus wissenschaftlicher Sicht
durchaus vertretbar. Wir sind aber der Meinung, dass ein
möglicher Handel mit Elfenbein nicht wirksam oder nur
mit einem unverhältnismäßig hohen Aufwand unterbunden werden kann. Wir sollten der Einstufung in Anhang
II deshalb nicht folgen. Denn dies würde in der Tat zu
mehr und nicht zu weniger Elfenbeinhandel führen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert deshalb
die Regierungskoalition auf, sich erneut für ein Handelsverbot einzusetzen. In den vergangenen zweieinhalb
Jahren ist deutlich geworden, dass auch die geringste
Tolerierung von Elfenbeinhandel den Wilderern nur
zeigt, dass sie mit ihren dunklen Geschäften Geld verdienen können. Nur ein generelles Handelsverbot kann
diesem dunklen Treiben zumindest teilweise Einhalt gebieten.
Dass solche Schutzmaßnahmen Erfolg haben, hat die
Entwicklung zwischen 1989, als man feststellte, dass der
Afrikanische Elefant fast ausgerottet war, und 1997 gezeigt, als die Populationen zugenommen hatten.
Es muss unser Ziel sein, den Ländern vor Ort nachhaltige Hilfen zu gewähren. Das muss im Wesentlichen
durch die Gewährung finanzieller Hilfen erfolgen, um
den finanziellen Verlust durch das Verbot des Elfenbeinverkaufs sowie durch das Verbot des Verkaufs der
Häute und des Fleisches der Elefanten auszugleichen.
Nur, wenn es gelingt, die Menschen vor Ort auf unsere
Seite zu ziehen, werden wir auch im Interesse der Tiere
handeln können.
({11})
Wir sind bereit, dies zu unterstützen. Hier muss die Regierungskoalition in den Verhandlungen ansetzen. Nur
durch gezielte Hilfen in den betroffenen Gebieten wird
es möglich sein, die Zerstörung der Natur sowie der Arten- und Pflanzenvielfalt vor Ort zu verringern.
Meine Fraktion unterstützt deshalb den Antrag der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie die Vorhaben der Bundesregierung, auch wenn wir in Nuancen
anderer Meinung sind. Der Artenschutz ist uns besonders wichtig. Wir wollen hier keine bürokratischen Umsetzungen; vielmehr wollen wir den Erfolg des Artenschutzes. Deshalb unterstützen wir Ihr Vorgehen.
({12})
Dass es möglich ist, den Artenschutz zu forcieren, hat
schon unsere Regierung gezeigt. Angela Merkel hat in
Verhandlungen durchsetzen können, dass der Raubbau
an 23 dezimierten Störarten eingeschränkt wurde. Die
Fischbestände haben sich deutlich vergrößert. Das war
ein Erfolg der alten Bundesregierung. Auf diesem guten
Beispiel kann man aufbauen. Man muss dafür sorgen,
dass es auch in Zukunft in vielen anderen Bereichen
Verbesserungen gibt. Ich rufe SPD und Grünen zu:
Bleiben Sie hartnäckig wie Klaus Töpfer und Angela
Merkel! Wenn Sie das tun, dann sind wir auf der sicheren Seite und werden erfolgreich sein.
({13})
Ziel muss es auch sein, den Erhalt der Wale dauerhaft zu sichern. Hierzu liegen entsprechende Forderungen vor. Die CDU/CSU-Fraktion möchte nicht die Einstufung in den Anhang II des Artenschutzübereinkommens, sondern in den Anhang I. Wir sind für einen Länder übergreifenden Artenschutz, der die gesamte Lebensgemeinschaft umfasst. Einzelinteressen gilt es hintanzustellen. Wir müssen für wissenschaftliche Untersuchungen, Erfahrungsaustausch und insbesondere für
Modellvorhaben vor Ort sorgen. Dies werden wir unterstützen. Hier werden wir uns einbringen. Es ist wichtig,
auch die diplomatischen Möglichkeiten nicht nur beim
Erhalt der Elefanten und Wale, sondern auch beim gesamten Artenschutz zu nutzen.
Setzen Sie sich bei unseren Partnern Japan und Norwegen für eine Beendigung des Walfangs ein. Wenn Sie
das tun, dann haben Sie meine Fraktion, die Naturschutzverbände und auch die Bürger auf Ihrer Seite. Wir
wollen Sie in diesem Fall gerne unterstützen. Es geht
hier um den Schutz der Natur und nicht darum, dass sich
der eine oder andere politisch möglichst positiv darstellen kann.
({14})
Herr Bundesumweltminister, sorgen Sie dafür, dass in
der EU ebenfalls Kompensationsgelder zur Verfügung
stehen. Das ist natürlich nur möglich, wenn Sie mit positivem Beispiel voranschreiten. Sie sollten Ihre Haushaltsansätze noch einmal dringend überdenken, damit es
im Sinne eines vernünftigen Umweltschutzes möglich
sein wird, etwas voranzubringen.
Nicht Holzhammermethoden sind gefragt, sondern
der Dialog ist gefragt. Nur dann, wenn wir im Dialog
mit unseren Partnern erfolgreich sind, werden wir im
Sinne des Erhalts der biologischen Vielfalt etwas bewegen können. Das gilt international, aber auch national.
Wenn wir in diesem Sinne vorangehen, dann werden wir
auch erfolgreich sein.
Es geht darum, ökologische, ökonomische und soziale Gegebenheiten sinnvoll miteinander zu verbinden.
Nur wenn wir dies schaffen, wird es uns gelingen, auch
am Ende positiv dazustehen. Wir müssen die Verantwortung wahrnehmen, die wir auch für die zukünftigen
Generationen haben. Das gilt nicht nur für das eigene
Land und die EU, sondern auch weltweit; denn Naturschutz lässt sich nur Länder übergreifend verwirklichen.
Heute handeln für ein gemeinsames Morgen! Das ist das
Motto der CDU/CSU-Fraktion und besonders meines.
Herzlichen Dank.
({15})
Für die SPDFraktion spricht nun die Kollegin Anke Hartnagel.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Caesar, ich bin natürlich höchst erfreut über das, was Sie eben gesagt haben, insbesondere darüber, dass Sie unsere Anträge und
unsere Politik unterstützen. Dennoch möchte ich zwei
kleine Anmerkungen machen. Zum einen: Wir wollen
die Latte keineswegs heruntersetzen, das müssten Sie
anhand der Anträge eigentlich gesehen haben. Zum anderen: Gerade in diesem Zusammenhang ist Geld nicht
alles und schon gar kein Allheilmittel.
({0})
Lassen Sie mich jetzt zum Thema Wale kommen, zu
dem ich sprechen will: Wenn man an Wale denkt, dann
sieht man immer die Greenpeace-Aktivisten vor sich,
zum Beispiel im Einsatz gegen japanische Walfänger.
Ich glaube, die Bilder kennen fast alle. Sie sind natürlich
sehr beeindruckend. Um es gleich ganz klar zu sagen:
Der Walfang, den die Japaner vornehmen, ist illegal. Die
so genannten Forschungszwecke dienen hier lediglich
als Alibi. Das Problem ist zudem, dass die Japaner im
antarktischen Schutzgebiet jagen und damit auch gegen
das Moratorium der Internationalen Walfangkommission verstoßen. Deshalb habe ich volles Verständnis für
die Aktionen der Walschützer. Zumindest für die SPDFraktion, aber, so denke ich, auch für einen Großteil dieses Hauses, möchte ich an dieser Stelle den GreenpeaceAktivisten ausdrücklich Respekt zollen.
({1})
Sie kämpfen vor Ort, wie wir wissen, einen fast aussichtslosen Kampf gegen die industrielle Walfangmaschinerie Japans und Norwegens.
Die Walfangmethoden sind inzwischen hoch effektiv geworden und haben nichts mehr mit dem Walfang
zu Moby Dicks Zeiten zu tun. Der industrielle und hoch
effektive Walfang ist wesentlich dafür verantwortlich,
dass viele Walarten stark dezimiert sind. Einige stehen
sogar vor der Ausrottung. - Der Sprachgebrauch der Jäger ist hier bezeichnend: Sie sprechen davon, dass „abgeerntet“ worden sei. - Insbesondere gilt dies für die
Großwale. Hierzu gehört zum Beispiel der Buckelwal.
Von ihm existieren weltweit nur noch 13 Prozent des ursprünglichen Bestands. Auch wenn es grotesk klingt: Im
Vergleich zu anderen Großwalarten ist dies schon fast
eine traumhafte Bilanz. Andere Walarten existieren nur
noch in Restbeständen. Einige sind schon gänzlich von
der Bildfläche verschwunden. Hierzu zählt vor allem der
Nordatlantische Grauwal, der schon im 17. Jahrhundert
ausgerottet wurde. Mit weniger als 2 Prozent des Ursprungsbestandes droht nun auch dem Nordkaper - dem
Blau- und dem Finnwal das gleiche Schicksal. Meine
Damen und Herren, wir müssen alles tun, um zu verhindern, dass hier weitergemacht wird.
Das Schicksal der Wale wäre wohl längst besiegelt,
wenn es in den 80er-Jahren nicht eine Kehrtwende in
der Walfangpolitik gegeben hätte. Aufgrund des
Drucks der Weltöffentlichkeit musste das sprichwörtliche Mordsgeschäft mit Großwalen eingestellt werden.
Seitdem gilt für alle Mitgliedstaaten der Internationalen
Walfangkommission ein völliges Fangverbot. Gleichzeitig haben die Mitgliedstaaten des Washingtoner Artenschutzabkommens jeglichen Handel mit Großwalprodukten untersagt.
Wale sind jedoch nur ein - besonders populäres Beispiel. Ihre Situation ist symptomatisch für den Umgang mit geschützten Tierarten. Deshalb ist die Washingtoner Artenschutzkonferenz auch für viele andere
Arten eine wichtige Institution. Sie haben schon darauf
hingewiesen, Herr Caesar, Herr Trittin. Herr Minister,
ich bin sehr froh, dass auch Sie voll mit unserem Antrag
übereinstimmen.
Aktuell liegen der CITES-Konferenz in Nairobi
60 Anträge vor. Unterschiedliche Tierarten sind hiervon
betroffen. Neben den Walen geht es zum Beispiel um
das Steppenschaf, die Scharnierschildkröte, den Quittenwaran usw. Die Interessen der Mitgliedstaaten sind
hierbei sehr unterschiedlich; Herr Minister Trittin hat
darauf schon hingewiesen. Wir müssen verhindern, dass
auf der Konferenz Beschlüsse zulasten bedrohter Tierund Pflanzenarten gefasst werden. Die Gefahr ist nämlich groß, dass Tauschgeschäfte zulasten des Artenschutzes stattfinden. Schon im Vorfeld haben sich einige
Staaten hier nicht mit Ruhm bekleckert. Im Stile „Gib
du mir meine Elefanten oder Schildkröten, dann stimme
ich auch deinem Walfang zu“ wird da über Schicksale
von Tieren entschieden. Ich denke, dass ich für uns alle
spreche, meine Damen und Herren, wenn ich diese Art
von Kuhhandel ablehne.
({2})
Zurück zu den Walen: Die Geschichte des Walfangs
bleibt eine Katastrophe. Leider gilt dies - trotz aller
Bemühungen der Internationalen Walfangkommission auch für die Geschichte der geregelten Bewirtschaftung.
Gerade die wichtigsten Länder halten sich nämlich nicht
an die Beschlüsse.
Die aktuelle japanische Wilderei in der Antarktis
zeigt, dass selbst internationale Vereinbarungen den
Walfang nicht beenden konnten. Paradoxerweise fühlen
sich gerade die hoch industrialisierten Staaten Japan
und Norwegen nicht an das Walfangmoratorium gebunden. Mehr als 1 000 Wale pro Jahr werden trotz Moratoriums aus Tradition - auch kulinarischer - abgeschlachtet. Aber wie wir wissen, kommt die Welt auch ohne
Mockturtlesuppe aus. Also wird es auch ohne Walfleisch gehen.
Dies alles wird noch absurder, wenn man bedenkt,
dass es für diese Länder überhaupt keine wirtschaftliche
Abhängigkeit oder Notwendigkeit gibt, den Walfang
weiter zu betreiben. Diese hoch industrialisierten Länder
können in diesem Punkt zum Beispiel nicht mit Ländern
in Afrika verglichen werden, die mit dem Handel mit
bedrohten Tierarten oder deren Produkten eine notwendige Einnahmequelle sichern wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, internationale Vereinbarungen machen aber nur dann Sinn, wenn sich
nicht jeder Staat nur die Rosinen herauspickt. Wir fordern daher Japan und Norwegen auf, endlich die internationalen Übereinkommen mitzutragen. Kehren Sie zum
internationalen Konsens zurück! Dies ist dringend erforderlich, denn es ist wohl kein Geheimnis mehr, dass auf
den japanischen Märkten trotz schärfster Fang- und
Handelsbeschränkungen Fleisch der bedrohten Walarten
gehandelt wird. Für das Kilo werden zum Teil etwa
700 DM gezahlt. Man kann sich vorstellen, dass aufgrund solcher Summen die Versuchung groß ist.
In diesem Zusammenhang kurz ein besonders groteskes Beispiel dafür, wohin blinde Profitgier führen kann:
Anfang der 80er-Jahre überschätzten norwegische Walfänger ihre Möglichkeiten. Den 15 000-Dollar-Scheck
vor Augen, erschossen sie einen 25-Meter-Finnwal. Als
der Wal an Bord war, versank leider das Schiff. Die Last
des Tieres war einfach zu schwer. So kann es gehen.
Nun aber wieder ernsthaft: Das Jagen der Wale und
die inländische Verwertung reichen Norwegen und Japan nicht. Sie wollen Walfleisch endlich wieder international handeln können. Insbesondere Norwegen hat großes Interesse daran, Walfleisch auf den Märkten anzubieten; denn die Lager sind voll.
Genau hierum geht es auf der bevorstehenden Artenschutzkonferenz in Kenia. Zum wiederholten Mal setzen sich Japan und Norwegen für eine Revision des
Handelsverbotes ein. Die Gefahr ist groß, dass sie dabei
erfolgreich sind. Bei der letzten Konferenz fehlten bereits nur wenige Stimmen. Fällt aber das Handelsverbot,
müssen wir davon ausgehen, dass nicht nur für Piratenwalfänger, sondern auch für ehemalige Walfangnationen
wie Russland und Korea die Jagd wieder lukrativ werden könnte.
Meine Damen und Herren, es muss klar sein: Fällt
das jetzige Handelsverbot, ist dies das Ende vieler Walarten. Deshalb wollen wir jetzt und heute nochmals die
einmütige Haltung des Deutschen Bundestages und der
Bundesregierung bekräftigen. Die deutsche und die internationale Öffentlichkeit sollen wissen, dass wir auch
weiterhin nicht bereit sind, eine immer noch bedrohte
Tierart zum Abschuss freizugeben.
({3})
Ich weiß mich und uns hier in guter Gesellschaft mit unserem Bundeskanzler, der ebenfalls klargemacht hat,
dass er zu diesem Walfangverbot steht.
({4})
Mit dem vorliegenden Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, alle ihr zur Verfügung stehenden diplomatischen Mittel einzusetzen. Das Handelsverbot
muss unangetastet bleiben! Herr Minister, wir gehen davon aus, dass die Bundesregierung schon jetzt alle Hebel
in Bewegung gesetzt hat, um auch die übrigen Vertragsstaaten - nicht nur die europäischen Länder - davon zu
überzeugen, dass hier keine Herabstufung stattfinden
darf. Das Ziel ist klar; wir haben es hier schon mehrfach
genannt.
Ich will nicht Dinge wiederholen, die hier schon gesagt worden sind, sondern möchte nur noch eines klarstellen: Wir Menschen sind es, die Walen ihre Lebensgrundlage rauben. Die gesamte Meeresökologie ist in
Gefahr. Ein uraltes Gleichgewicht gerät massiv ins
Wanken. Überfischung, Überdüngung und Erwärmung
der Meere sind hierfür nur einige Beispiele. Hinzu
kommen noch die zahllosen Einleitungen von Giftstoffen. Im Körper der Meeressäuger lagern sie sich in hoher Konzentration ab. Die Ozeane verkommen zur
Müllkippe und die Wale sind quasi die größten Müllschlucker der Ozeane.
Selbst in Japan - das finde ich in diesem Zusammenhang sehr wichtig - warnen einige Toxikologen bereits
vor dem Verzehr von Walfleisch. Angesichts hoher Dosen von PCB, DDT, Dioxin, Quecksilber und dem berüchtigten TBT hoffe ich, dass den Gourmets der Geschmack vergeht. Auch bei den Walfängern sollte daher
endlich ein Umdenken stattfinden. Immer mehr wird hoffentlich - klar, dass Whale-Watching eine Alternative zum Walfang sein könnte.
({5})
Wir alle wissen, dass die großen Wale in den fernen
Ozeanen leben. Wir haben aber auch einige in unseren
Heimatmeeren, zum Beispiel die Schweinswale, auch
kleine Tümmler genannt. Ihre Kinderstube befindet sich
vor den Inseln Sylt und Amrum. Sie genießen keinen
Schutz, der dem für Großwale vergleichbar wäre, aber
auch sie sind erheblichen Gefahren ausgesetzt.
({6})
Mehr als 7 000 von ihnen verenden jedes Jahr kläglich
in den Stellnetzen der Nordsee. Weitere Tümmler krepieren unnötig als Beifang der Hochseefischerei.
Nach allem, was man bisher weiß, kann dieser Verlust nicht durch die natürliche Fortpflanzung ausgeglichen werden. Deshalb ist die Einrichtung von Schutzgebieten dringend notwendig. Schleswig-Holstein hat einen guten Anfang gemacht. Ende letzten Jahres wurde
ein Kleinwalschutzgebiet eingerichtet. Genau hier müssen wir weitermachen.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
({7})
Für die F.D.P.Fraktion spricht Kollegin Ulrike Flach.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Im Vorfeld der 11. Konferenz der Vertragsstaaten zum Washingtoner Artenschutzabkommen brauchen wir vor allem eine sachliche Auseinandersetzung.
Ich hatte eigentlich erwartet, dass ich an dieser Stelle
meine üblichen Klagen über Minister Trittin loswerden
kann; ich kann es nicht. Ich danke Ihnen für die sachliche und abgewogene Art, mit der Sie dieses Thema angegangen sind.
({0})
- Man kann doch seitens der Opposition ruhig mal etwas
Positives sagen.
Es ist absolut nicht angebracht, dass wir Deutsche uns
als Hüter des Artenschutzes aufspielen und gegenüber
der so genannten Dritten Welt schulmeisterlich auftreten. Es sind nämlich - das wissen wir alle - in hohem
Maße deutsche Touristen, die gegen das Artenschutzrecht verstoßen.
Die Anhörung „Tourismus und Artenschutz“ im Februar ergab eine dramatische Steigerung der registrierten
Verstöße. Von 1993 bis 1999 hatten wir einen Anstieg
um immerhin 350 Prozent auf 2 941 Fälle zu verzeichnen. Am Frankfurter Flughafen haben wir täglich 40 bis
60 Fälle, in denen der Zoll geschmuggelte Tiere und
Pflanzen sicherstellen muss. Das ist kein Kavaliersdelikt, meine Damen und Herren! Die Entnahme von Korallen, Muscheln, Pflanzen und Tieren aus der Lebensumwelt der Entwicklungsländer raubt diesen Menschen
im Süden eine wichtige Ressource, manchmal die einzige, die sie haben: eine wunderschöne Fauna und Flora.
Lassen Sie mich jetzt zu drei Themenkomplexen aus
den immerhin 62 vorliegenden Anträgen der Konferenz
kommen.
Zunächst zum Thema Walschutz: Norwegen und Japan beantragen eine Herabstufung der Bestände - darüber haben wir eben gesprochen - und eine geordnete
wirtschaftliche Nutzung unter wissenschaftlicher Kontrolle.
Bei den Grau- und Zwergwalen haben wir seit 1986
eine Nullquote, was den kommerziellen Walfang angeht.
Der Antrag von SPD und Grünen fordert die Beibehaltung des Walfangverbots. Die F.D.P. stimmt, genauso
wie die ({1}), diesem Antrag inhaltlich zu, hält
aber - um das ganz klar zu sagen - die Begründung für
unangemessen; aber über Begründung stimmen wir ja
nicht ab.
Das entscheidende Problem ist nicht der Mangel an
Nahrung durch Überfischung oder die Überdüngung
durch den Eintrag von Schadstoffen oder die Schwächung des Immunsystems der Wale, wenngleich das
auch Gesichtspunkte sind, die hier ein Rolle spielen. Im Übrigen: Sie führen das Argument der Überfischung
an, Frau Hartnagel. Ich stelle mit Erstaunen fest, dass
Sie das in Ihrem Antrag überhaupt nicht erwähnt haben. ({2})
Nein das entscheidende Argument gegen den begrenzten
Walfang ist - darüber sind wir uns mit den Experten des
WWF absolut einig -, dass bei einer Herabstufung in
Anhang II jeder Staat Wale jagen könnte. Jeder Staat
könnte auch entsprechende Genehmigungen für andere
Staaten ausstellen. Vor einer Herabstufung müssten angemessene Kontrollmechanismen stehen, zum Beispiel
DNA-Registrierungen. Diese sind aber ganz offensichtlich von Japan und Norwegen nur geplant und keineswegs umgesetzt. Andere Staaten, die dann fangberechtigt werden, planen solche Kontrollmechanismen überhaupt nicht. Wir sind also mit Ihnen der Meinung, dass
eine Herabstufung eine Schleuse öffnen würde, die wir
nicht wieder schließen können. Deshalb ist auch die
F.D.P. wie schon in der Vergangenheit konsequent gegen jede Zulassung des Walfanges.
Meine Damen und Herren, der zweite Punkt, der heute hier zur Abstimmung steht, betrifft den Afrikanischen Elefanten. Südafrika - das haben wir eben in allen Details gehört - möchte eine Herabstufung, Botswana, Simbabwe und Namibia haben eine Beibehaltung in
Anhang II beantragt. Kenia und Indien möchten eine generelle Hochstufung in Anhang I. Hintergrund ist, dass
die Länder des südlichen Afrikas inzwischen auf nicht
unerheblichen Bergen von Elfenbein sitzen, Herr
Caesar, das von verstorbenen Tieren oder so genannten
Problemtieren stammt. Solche Problemtiere sind zum
Beispiel Elefanten, die gelernt haben, sich von Dorffeldern zu ernähren, und so eine Gefahr für die dort lebenden Menschen darstellen.
Die Elefantenpopulationen in Südafrika und Botswana haben sich deutlich vergrößert. Das erklärt übrigens
auch die Zahlen, die Sie eben anführten. Wer sich mit
der Materie auskennt, weiß, dass Elefanten einen erheblichen und auch negativen Einfluss auf die Natur haben.
Wo einmal eine Herde durchgezogen ist, wächst buchstäblich kein Gras mehr. Da Geld für Umsiedlungsprogramme fehlt, werden zum Beispiel in Südafrika gezielt Elefanten geschossen. Zurzeit sind circa
600 Tonnen legales Elfenbein vorhanden, das die afrikanischen Staaten verkaufen möchten. Der Erlös soll darauf lege ich besonderen Wert, damit keine falsche
Nuance hier in die Diskussion kommt - dem Naturschutz im Rahmen einer Stiftung zugute kommen, Frau
Griefahn.
Das ist eine schwierige Abwägung, die sich nicht mit
Plattitüden erledigen lässt. Einerseits müssen wir sehen,
dass der begrenzte Verkauf von Elfenbein die Wilderei
anheizen könnte. Andererseits ist klar, dass der Naturschutz im südlichen Afrika von den Ländern selbst nicht
bezahlt werden kann. Der kontrollierte Handel könnte
eine zusätzliche Einnahmequelle sein, wenn diese Einnahmen zweckgebunden verwendet würden. Auch entwicklungspolitische Ziele, zum Beispiel die Einbeziehung der Bevölkerung, könnten damit verknüpft werden.
Daher appelliere ich an die Entwicklungspolitiker der
Koalition: Sie kennen doch diese Thematik, die man
eben nicht nur umweltpolitisch betrachten darf.
Meine Damen und Herren, laut Vertragswerk wird
jeder von den Vertragsstaaten bewilligte Handel mit Elfenbein sofort eingestellt, sollte sich zeigen, dass Wilderei oder Schmuggel angeheizt werden. Daher brauchen
wir die von Ihnen angeführten Instrumente, um Wilderei
und illegalen Handel aufzuspüren und zu überwachen.
Ich weiß, dass dies teuer ist; aber der Gedanke, dieses
Geld durch eine Hochstufung zu sparen und den betroffenen Ländern als Ausgleich für entgangenen Handel
zuzuführen, geht doch am Kern der Existenzprobleme
dieser Länder vorbei. Hier herrscht sehr oft nackte Not.
Ein Teil der Wilderei hat nicht den Elfenbeinhandel zum
Anlass, sondern schlichtweg Nahrungsmangel der Bevölkerung. In Simbabwe, das gegenwärtig eine dramatische Entwicklung durchmacht, ist das definitiv der Fall.
Meine Damen und Herren, wir sollten uns hüten, mit
unserer europäischen Sichtweise den Oberlehrer spielen
zu wollen. Nach Abwägung des Für und Wider sind wir
von der F.D.P. deshalb der Meinung, dass ein kontrollierter, begrenzter Handel mit Elfenbein dem Naturschutz mehr helfen als schaden könnte. Aus diesem
Grunde lehnen wir Ihren Antrag ab.
({3})
Meine Damen und Herren, im Rahmen der
11. Vertragsstaatenkonferenz werden insgesamt 62 Anträge behandelt, von denen wenige so spektakulär wie
die gerade besprochenen sind.
({4})
Trotzdem möchte ich noch kurz auf den Antrag Indiens und Nepals zum Handelsverbot in Bezug auf Moschustiere eingehen.
Wir sollten diesen Antrag sehr dezidiert unterstützen
und uns nicht mit der Teufelskralle aufhalten, Herr
Trittin. Die EU hat ja bereits 1999 ein Einfuhrverbot für
Rohmoschus aus Russland erlassen, weil die Bestände
dramatisch zurückgingen. Es kann nicht angehen, dass
Tierpopulationen in ihrem Bestand gefährdet werden,
weil wir Europäer durch den Geruch hirschähnlicher
Paarhufer unser Liebesleben angenehmer gestalten wollen.
({5})
- Was Sie heute alles so lernen, nicht wahr?
({6})
- Darüber können wir uns gleich einmal unterhalten.
({7})
Es geht eben auch darum, welchen Stellenwert wir in
Deutschland dem Tierschutz beimessen. Die F.D.P. hat
bereits 1992 eine Ergänzung der Verfassung vorgeschlagen. Wir wollen dem Tierschutz durch die Aufnahme ins Grundgesetz als Staatsziel zu mehr Gewicht
verhelfen. Nach langen Verhandlungen kommen wir
nun - das wissen wir alle hier - zu einem gemeinsamen
Antrag von SPD, Grünen und F.D.P.
Ich möchte einmal ausdrücklich an die Kollegen von
der CDU/CSU appellieren:
({8})
Wenn, wie Sie hier gesagt haben, der Schutz der Tiere
ein so großes Anliegen ist, dann sperren Sie sich bitte
nicht länger gegen eine Ergänzung des Grundgesetzes.
({9})
Sie haben in den CDU-regierten Ländern und sogar im
CSU-regierten Bayern den Tierschutz in den Landesverfassungen verankert. Herr Paziorek, der Landesvorstand
in Nordrhein-Westfalen hält das zwar noch etwas unter
der Decke; aber Sie haben einen entsprechenden Beschluss gefasst.
({10})
Also, was soll die Taktiererei? Machen Sie endlich Nägel mit Köpfen und schließen Sie sich unserem Antrag
zum Nutzen des Tierschutzes an!
({11})
Ich möchte übrigens nicht unerwähnt lassen - als
Nordrhein-Westfale liegt mir das naturgemäß sehr am
Herzen -, dass wir Liberalen die Aufwertung des
UNO-Standortes Bonn durch die geplante Ansiedlung
des Sekretariats zum Schutz der wandernden Wasservögel begrüßen. In diesem Punkt ist die Bundesregierung
einmal ausdrücklich zu loben. Es war nicht leicht, den
Umzug von Den Haag nach Bonn zu erreichen.
({12})
Ich freue mich für die Bonner, dass es klappt. Nach den
Fledermäusen, den Kleinwalen und dem Wüstensekretariat - würden Sie unserem Antrag folgen, käme auch
noch der Bodenschutz dazu - hat Bonn endlich einmal
wieder Boden gewonnen.
({13})
Herr Trittin, das versöhnt mich zwar nicht mit Ihren
Versuchen, das Umweltministerium schrittweise von
Bonn nach Berlin umzusiedeln, aber es ist zumindest ein
Schritt in die richtige Richtung.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Ich habe eben den
Kollegen Schmidt angesehen, weil ich dachte, er wolle
sich jetzt verabreden. Tun Sie das aber bitte erst nach
der Kernzeit.
({0})
Nun spricht für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
die Kollegin Sylvia Voß.
Sehr
geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute erstmalig in einer so ausgedehnten Diskussion über Artenschutz. Ich denke, das ist
überfällig. Ich bin Frau Flach dafür insofern dankbar, als
sie den Blick von den Entwicklungsländern verstärkt auf
uns zurückgelenkt hat.
Vielleicht erinnern sich manche von uns noch an
Frühlingstage in der Kindheit, in denen das Gelb der
Sumpfdotterblumen überall leuchtete, als man ganz viele
Feldlerchen und den Ruf des Kiebitzes hören konnte.
Man konnte beim Wandern zufällig auch einmal ein
paar Rebhühner aufscheuchen. Auch bei uns sterben Arten - tausendfach. Die Vernichtung ihres Lebensraumes
nimmt immer stärkere Formen an; dem müssen wir sehr
viel entgegensetzen.
Mancher aus den alten Bundesländern hat zum ersten
Mal nach der so genannten Wende Störche und Kraniche bei uns in Brandenburg oder in Mecklenburg gesehen. Neben den Säugetieren sind dies die wirklich auffälligen Arten. Wer bemerkt schon den rapiden Verlust auch bei uns - an Fischen, Insekten, Lurchen und Pilzen?
Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Wir sind als
eigene Art Homo - die so wenig sapiens ist - untrennbar
mit allen Lebewesen dieser Erde verbunden. Jede Art erfüllt auf ihre eigene Weise eine Funktion in diesem
Kosmos. Zerstören wir diese Beziehungen, vernichten
wir Stück für Stück unsere eigenen Lebensgrundlagen.
Bisher ist nicht einmal genau bekannt, wie viele Arten auf unserem Planeten leben. Eigentlich wäre das
auch gar nicht wichtig, wären wir in unserem Denken
und Handeln in Harmonie mit der Natur und würden wir
dem Leben mit Ehrfurcht begegnen. Da das aber nicht
so ist und das monetäre Denken die Welt beherrscht, haben wir seit den 50er-Jahren ein explosionsartiges Artensterben verursacht, welches in der Millionen Jahre
zählenden Erdgeschichte schrecklich und einmalig ist.
Es hat noch nie zuvor einen solchen Verlust an genetischer Vielfalt gegeben.
Es gibt seit dem Beginn unseres Jahrhunderts in den
Ländern der alten Welt Bestrebungen des Schutzes. Dort
ist eine Naturschutzbewegung entstanden. Zunächst waren Vögel der Anlass dafür, dass man zu dem Ergebnis
kam, so nicht weitermachen zu können. Inzwischen gibt
es glücklicherweise weltweit Nationalparke, nationale
Schutzprogramme und internationale Abkommen.
Einer der jüngsten Sprosse ist die Biodiversitätskonvention, die sich den Erhalt der Artenvielfalt, die wir
noch haben, zum Ziel gesetzt hat. Aber auch die Bonner
Konvention zum Schutz der wandernden Arten oder die
Ramsar-Konvention zum Schutz der Feuchtgebiete gehören in diese Linie.
CITES, das Washingtoner Artenschutzabkommen,
hat einen anderen Ansatz. Weil der Mensch eines Tages
merkte, dass durch den maßlosen Handel mit Elfenbein,
mit Schildpatt, mit Rhinohorn, mit Vögeln, Krokodilleder, Tigerpenissen, mit den Knochen des Schneeleoparden, mit Jagdtrophäen aller Art, mit Waltran und
Walfleisch - diese Aufzählung ließe sich unendlich lange fortsetzen - die Bestände derart dezimiert wurden,
dass viele der Tierarten bereits am Rande des Aussterbens standen und somit auch keinen Profit mehr versprachen, beschloss man, den Handel zu begrenzen,
damit man irgendwann in der Zukunft wieder auf Bestände zurückgreifen kann, mit denen man handeln und
etwas verdienen kann. Hierbei waren damals gerade die
Bilder aus Afrika maßgeblich, und zwar die Bilder von
den vielen Elefanten, denen man die Stoßzähne herausgebrochen hatte, oder die von den Nashörnern, denen
man einfach das Horn entfernt hatte.
Das Problem der Ausrottung von Arten ist ein weltweites Problem. Es ist keineswegs, wie immer wieder
und auch vorhin - ich nenne den erhobenen Zeigefinger
- gesagt wird, ein Spezifikum der Entwicklungsländer.
Ehrlicherweise muss nämlich immer wieder betont werden: Erst durch die Begehrlichkeiten des europäischen,
japanischen und amerikanischen Marktes hat die Ausrottungswüterei in den damaligen Kolonien, den heutigen
Entwicklungsländern, begonnen. Noch heute ist Japan
wegen des Nationalgerichtes Walfleisch eindeutig
Hauptabnehmer - oft auch von der eigenen Flotte - gewilderter Wale. Es gibt ein sehr erschreckendes neues
Beispiel für diese Ausrottungswüterei, und zwar bei der
Tibetantilope. Weil reiche Europäer und Adlige dieser
Welt gerne federleichte, wollige Schals, die man durch
einen Ring fädeln kann, auf ihre Schultern legen, wird
im Moment die Tibetantilope - Shatoosh ist in diesem
Zusammenhang das Stichwort - derart bejagt, dass sie
schon jetzt am Rande der Ausrottung steht.
Was geht uns das an?, könnte man fragen. Die Elefanten sind doch ein Problem der Afrikaner, und die Störe und die Schildkröten ein Problem der Länder, in denen sie vorkommen. Weit gefehlt! Wir müssen bedenken, dass der europäische Markt der größte geschlossene
Verbrauchermarkt der Welt ist. Das hat dazu geführt,
dass die EU bis heute noch immer der weltweit größte
Markt für wild gefangene Vögel ist. Circa ein Drittel
dieser Vögel kommt nachweislich bereits auf dem
Transport qualvoll ums Leben; der weit größere Teil
stirbt dann in der Quarantäne.
Weil diese bestialischen Quälereien, die mit diesem
Handel verbunden sind, inzwischen immer mehr vor allen Dingen durch NGOs in die Öffentlichkeit getragen
werden, weigern sich bereits über 40 Fluggesellschaften
in ihrer Verantwortung für den Artenschutz, solche
Fracht überhaupt noch zu befördern.
Auf einer Anhörung des Bundestagsausschusses für
Tourismus zur Artenschutzproblematik im Februar dieses Jahres - Frau Flach, Sie haben schon darauf hingewiesen - haben sich uns Abgründe aufgrund all der Zahlen und Fakten, die uns von den Experten geschildert
wurden, aufgetan. Ich möchte jetzt nicht wiederholen,
was Frau Flach schon dargestellt hat. Es war aber wirklich so erschreckend, dass wir uns gesagt haben: Wir
müssen hier in nächster Zeit fraktionsübergreifend etwas
tun. Ich denke, dass das auch erfolgen wird.
Dabei kann gerade ein maßvoller, gelenkter Tourismus zum Erhalt der Arten und der Nationalparke beitragen. Ein Beispiel möchte ich in diesem Zusammenhang
nennen: Vor der Insel Madeira entstand der erste Meeresnationalpark der Welt. Ehemalige Walfänger sind
dort jetzt Naturschützer. Dank dieser Maßnahme kann
man dort wieder Pottwale erleben und hat ein Auskommen, das beiden die Zukunft sichert: dem Menschen
und dem Tier.
Das Maßvolle ist dabei das Wichtige. Auch „whale
watching“ kann, im Übermaß betrieben, zu Schäden führen. Negative Beispiele gibt es inzwischen auf der ganzen Welt. Ähnliches widerfährt gerade den Manatis vor
Florida. Sie werden zu Tode geliebt.
Durch regelmäßige Touren für Touristen zu Nashörnern nahm zum Beispiel die Wilderei auf die hoch bedrohten Panzernashörner im Kaziranga-Nationalpark in
Indien rapide ab. Die häufige Präsenz von Touristen mit
ihren Führern in diesem Nationalpark führte dazu, dass
sich die Wilderer permanent gestört fühlten und sich zurückzogen.
Ähnlich verhält es sich mit dem Schutz der Berggorillas in Ruanda und Ostzaire. Der Schutz wurde erst dann
von der einheimischen Bevölkerung akzeptiert und unterstützt, nachdem die Einheimischen selbst als Führer
diesen Schutz aktiv betreiben konnten und dadurch eine
Einnahmequelle bekamen.
1997 haben die Staaten in Harare beschlossen, für die
Länder des südlichen Afrikas die Elefantenpopulationen
weniger streng zu schützen und einen begrenzten Handel
mit Elfenbein zuzulassen. Gleichzeitig wurde aber auch
beschlossen, dass für den Fall deutlich zunehmender
Wilderei diese Regelung rückgängig gemacht werden
muss. Diesen Antrag auf Rückstufung aller Elefanten in
den streng geschützten Anhang I haben Kenia und Indien - Herr Caesar sagte es vorhin - aufgrund der nachweislich massiv zunehmenden Wilderei für die im April
stattfindende CITES-Konferenz in Nairobi gestellt.
Es gilt daher, diese Bemühungen Kenias und Indiens,
den Handel mit Elfenbein wieder zu verbieten, zu unterstützen. Es geht bei diesen Anträgen in keiner Weise um
die Beschränkung des Rechts auf eine eigene maßvolle
Nutzung der Elefantenbestände zum Beispiel durch Eingeborene oder durch Stämme. Es ist ganz klar, dass diese Völker mit den Tieren leben. Sie müssen daher auch
einen Nutzen von diesen Tieren haben dürfen.
Ich möchte noch einem anderen Argument begegnen.
Am Beispiel des Krüger-Nationalparks in Südafrika
lässt sich sehr anschaulich schildern, dass das Argument
der Überpopulation inzwischen durch neue Studien
entkräftet werden konnte. Viele Jahre - man kann fast
sagen: Jahrzehnte - vertrat man dort die Meinung, dieser
Nationalpark vertrage nur circa 7 000 Elefanten. Inzwischen weiß man über die Wanderwege und über die Populationen vieles mehr. Man ist zu dem Schluss gekommen, dass bis zu 20 000 Elefanten dort leben können. Inzwischen liegt der Bestand bei 9 100 Tieren. Man
kann daher nicht mehr von einer Überpopulation sprechen. Auch dort gilt: Einheimische, die jetzt in die Nationalparke zurückkehren dürfen - man darf dieses Kapitel nicht außer Acht lassen; sie wurden zum Teil verdrängt und aus diesen Gebieten ausgesiedelt -, müssen
von etwas leben. Auch dort müssen wir Unterstützung
leisten.
Im Interesse aller Staaten mit Elefanten muss es wegen der leidvollen Erfahrung mit der Wilderei um des
Elfenbeins willen, für das der Markt leider weiter besteht - das ist genau der Punkt: Wir müssen die Märkte
austrocknen und dafür sorgen, dass auch auf dieser Seite
etwas geschieht -, zu einer Einhaltung der CITESBeschlüsse kommen. Wir wollen als Deutscher Bundestag auf jeden Fall unsere Sympathie, Anerkennung und
Unterstützung der kenianischen und indischen Schutzbemühungen zum Ausdruck bringen und die deutsche
Delegation, die im April zur Vertragsstaatenkonferenz
nach Nairobi reisen wird, beauftragen, diesen Punkt dort
zu dokumentieren.
Über diese Artenschutzanträge wird die für den Erhalt der Artenvielfalt so dringend notwendige internationale Solidarität eingefordert und, was die Elefanten betrifft, speziell die Solidarität der Nutzerländer des südlichen Afrikas, die darin besteht, so lange mit der begrenzten Verwertung ihres Elfenbeins zu warten, bis die
Erhaltungsbemühungen für die Elefantenbestände in
West-, Zentral- und Ostafrika wirklich Früchte zeigen.
Die Hilfe dafür soll auch unsererseits verstärkt werden.
CITES und auch die Bonner Konvention geben uns eine
gute Basis dafür.
Vergessen wir dabei jedoch nie, dass es im eigenen
Land und überall auf der Welt Tausende von kleinen
und großen nicht „gewinnbringenden“ Arten gibt, die
über CITES nicht erfasst werden und über die wir uns
nur selten unterhalten. Ich möchte nur drei Beispiele aus
unserer eigenen Heimat nennen, nämlich die kleine Hufeisennase, die blauflügelige Ödlandschrecke und den
Laubfrosch, die aber genauso zu der schicksalhaft voneinander abhängigen Gemeinschaft allen Lebens, von
der auch wir nur ein Teil sind, gehören wie die Elefanten, Schildkröten, Wale und all die großen Arten, von
denen wir heute sprechen.
Danke schön.
({0})
Für die Fraktion der
PDS spricht die Kollegin Eva Bulling-Schröter.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir die Anträge und
die Position der deutschen Regierung zur Artenschutzkonferenz in Nairobi bewerten, dann kommen wir zu
dem Schluss, dass diesen uneingeschränkt zuzustimmen
ist. Das gilt auch für die beiden Koalitionsanträge.
Die Bundesrepublik unterstützt auch die drei Anträge
anderer Staaten zum Schutze des Weißen Hais sowie des
Riesen- und Walhais. Soweit wir informiert sind, gibt es
allerdings keine Unterstützung vonseiten der EU. Ich
denke, hier muss Deutschland seinen Einfluss auf die
Gemeinschaft geltend machen. Der Schutz der Haie, von
denen inzwischen viele Arten gefährdet sind, weil die
Tiere zu Tausenden abgeschlachtet werden, ist eine Aufgabe aller Staaten.
({0})
Dass Riesen- und Walhaie lediglich auf Anhang II
gesetzt werden, also nur einem kontrollierten Handel
und nicht, wie im Anhang I, einem Handelsverbot unterliegen, sagt im Übrigen nichts über ihre tatsächliche Gefährdung aus. Man weiß einfach zu wenig über diese
seltenen und spektakulären Räuber, nicht einmal, wo sie
sich den größten Teil des Jahres aufhalten. Die akute
Gefährdung kann also nicht nachgewiesen werden, obwohl sie sehr wahrscheinlich besteht.
Wir denken, dass Anhang II nur ein Anfang sein
kann. Wie das Beispiel der letzten Herabstufung der Elefanten Simbabwes, Botswanas und Namibias auf
({1})
Anhang II zeigt, bietet diese Kategorie offenere Türen für
den illegalen Handel und gefährdet somit die Bestände
und Schutzbemühungen. Nicht zuletzt deshalb beantragen Kenia und Indien wieder das totale Handelsverbot.
An dem Beispiel der Elefanten zeigt sich, dass die
deutschen Behörden durchaus janusköpfig sein können,
wenn es um die Interessen bestimmter Lobbyorganisationen von Tierhaltern und Zoos geht. Der eindeutig gegen die CITES-Abkommen verstoßende illegale Import
von vier in der freien Wildbahn gefangenen jungen Elefanten für die Zoos in Dresden und Erfurt erfolgte nach
unseren Informationen mit nachdrücklichem Dulden des
BfN und des BMU. Der Einspruch der Zoos gegen das
vom BMU erst nach Protesten von Tierschutzorganisationen verhängte Importverbot ist noch wirksam.
Die Tiere sind also weiterhin hier im Land.
Gehen wir ein Stück weg von den Großtieren, so wird
noch deutlicher, wie groß die Differenz zwischen den
auf internationalen Konferenzen mit breiter Brust und
hehrer Stimme verkündeten Ansprüchen und der heftigen Zurückhaltung bezüglich der jämmerlichen Realität
hier im Lande ist.
Die Antwort auf unsere Kleine Anfrage zum Import
von exotischen Wildtieren nach Deutschland zeigt, dass
aus dem wild wuchernden Handel dieser Tiere für den
Heimtiermarkt kaum Konsequenzen gezogen werden.
Deutschland ist hier einer der weltweit größten Verbraucher.
Während heimische Wildtiere in Deutschland durch
das Bundesnaturschutzgesetz umfassend geschützt sind,
lässt es die deutsche Gesetzeslage zu, dass durch die
Nachfrage von Tierhaltern hierzulande die Natur in entfernten Gebieten der Welt, vor allem in den armen Ländern Asiens, Afrikas und Südamerikas, geplündert werden kann. Dies ist nicht nur eine klare Absage an das
Vorsorgeprinzip, sondern auch eine zynische Abschiebung der Verantwortung auf die Herkunftsländer, die
mit den Problemen des Artenschutzes und der Folgen
der Naturzerstörung allein gelassen werden.
Millionen von seltenen, exotischen Fischen, Korallen,
Reptilien und Vögeln werden jedes Jahr legal eingeführt.
Obwohl die Entwicklung des Washingtoner Artenschutzabkommens deutlich zeigt, dass immer wieder Arten, die ursprünglich auf Anhang II gesetzt wurden, wenig später auf Anhang I, mit seinem totalen Handelsverbot, landen, ist die Bundesregierung nicht in der Lage,
dem Handel mit Anhang-II-Exemplaren einen Riegel
vorzuschieben. Der ist zwar laut Washingtoner Artenschutzabkommen nicht verboten, wäre aber trotzdem im
Sinne der Nachhaltigkeit in den meisten Fällen zu verbieten. Das Washingtoner Artenschutzabkommen ist
schließlich nichts anderes als ein sehr bescheidener kleiner gemeinsamer Nenner.
Durchschnittlich sind beispielsweise 88 Prozent aller
Importe von Anhang-II-Vögeln und praktisch alle Anhang-III-Vögel Wildentnahmen.
Vor diesem Hintergrund ist es doch irgendwie paradox, dass die ach so aufgeklärte Bundesrepublik erst die
nachhaltige Plünderung der Natur duldet, um dann später, wenn die akute Gefährdung für jeden sichtbar auf
der Hand liegt, für internationale Handelsverbote einzutreten. Wir denken, genau hier sind nationale Alleingänge notwendig, auch juristisch möglich.
({2})
Die längst überfällige Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes bietet dafür Raum. Dass das BMU die
Notwendigkeit einer Überarbeitung des entsprechenden
Abschnittes nicht einmal sieht, wie die Antwort der
Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage zeigt, macht
allerdings wenig Hoffnung auf eine Änderung.
Verstöße gegen die vorhandenen gesetzlichen Bestimmungen werden in Deutschland kaum sanktioniert.
Es sind eben Kavaliersdelikte. So sind 1997 sage und
schreibe 85 Prozent der entsprechenden Verfahren durch
das BfN eingestellt worden.
Wen wundert’s, wenn dies als Aufforderung an
Schmuggler verstanden wird. Die Zahl der Aufgriffe an
deutschen Grenzen nimmt nämlich weiterhin erschreckend zu.
Waren es 1996 noch 1 799 Aufgriffe mit 21 297 Tieren oder Pflanzen, so stieg die Anzahl 1998 auf
2 550 Aufgriffe mit 78 401 Exemplaren.
Die Bundesregierung betont in ihrer Antwort, die Lebensraumzerstörung sei eine viel größere Gefahr für die
Artenvielfalt als der Handel. Dem kann man zwar formal zustimmen, aber hinsichtlich einer Reihenfolge
beißt sich die Katze irgendwie in den Schwanz; denn die
gefährdeten Arten kommen ja fast immer aus den letzten
verbliebenen Refugien der biologischen Vielfalt. Der
entsprechende Fang- oder Sammeldruck für den internationalen Mark konzentriert sich auf sie und stellt somit
eine besondere Gefährdung dar.
Das Thema Lebensraumzerstörung ist zudem nicht
nur ein Problem der jeweiligen Staaten. „Land unter!“
soll es beispielsweise für die letzten wirklich urwüchsigen und extrem artenreichen Urwälder Ostboliviens
heißen. Ein riesiges Staudammprojekt zur Stromerzeugung bedroht den Nationalpark Madidi. So sollen Exporteinnahmen gesichert, der Staatshaushalt saniert und
internationale Gläubiger wie IWF und Weltbank bedient
werden. Das ist ein Trauerspiel. Bolivien, eines der
ärmsten Länder der Erde, hat jahrhundertelang mit seinem Silber und Zinn den Luxus des spanischen Hochadels finanziert und dessen Gläubiger in Holland,
Deutschland und Italien reich gemacht. Allein der legendäre Silberberg von Potosi hat dabei Hunderttausende Tote gekostet. Boliviens unter menschenunwürdigen
Bedingungen geförderte Kohle sichert Europa und den
USA noch heute billig Licht und Wärme. Nun soll Bolivien seine Schulden abbezahlen - Bolivien, nicht Spanien, nicht Deutschland oder die USA.
Wenn also irgendwann die Urwaldtäler geflutet werden, tragen diese Länder mindestens eine Mitschuld am
unwiederbringlichen Verlust von Tausenden Tier- und
Pflanzenarten und an dem der Menschen vom Silberberg
sowieso.
({3})
Für die SPDFraktion spricht nun die Kollegin Marga Elser.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! „Dem Artenschutz sind keine
Grenzen gesetzt“ - so der „General-Anzeiger“ zum Jubiläum der Bonner Konvention CMS. Schön wär’s!
Was wir derzeit erleben, ist der weltweit größte Artenschwund seit Bestehen der Menschheit. Nach Angaben von Wissenschaftlern sterben täglich bis zu 150 Arten. Unsere Erde wird in absehbarer Zeit einen großen
Teil ihrer biologischen Vielfalt verloren haben, wenn
sich nichts ändert - und das, obwohl man schon seit
100 Jahren versucht, gefährdete Arten unter Vollschutz
zu stellen.
Deshalb ist es wichtig, dass sich nicht nur die Wissenschaft, die Umweltverbände, einzelne Institute dieser
Problematik zuwenden, sondern wir alle. Die Bundesrepublik ist als erster EU-Staat dem Washingtoner Artenschutzabkommen beigetreten. Sie hat bei der Umsetzung
in nationales Recht strikte Artenschutzbestimmungen erlassen. Dennoch kam der Wissenschaftliche Beirat im
Jahresgutachten 1994 zu dem Schluss: „Hierzulande ist
der globale Artenschutz weder ein zentrales Handlungsfeld noch ein wichtiger Forschungsbereich.“
Unsere Zeit ist von den Herausforderungen der Globalisierung geprägt.
Eine Antwort auf drängende Fragen ist das Leitziel einer nachhaltigen Entwicklung. Es waren die großen
europäischen Sozialdemokraten Willy Brandt, Olof
Palme und Gro Harlem Brundtland, die einen Prozess in
Gang gesetzt haben, der den Erdgipfel in Rio 1992 zur
Folge hatte.
Gründe für den Verlust der biologischen Vielfalt gibt
es genug. Da sind die Ausbreitung der Besiedelung, die
Ausweitung der Wüsten, Umweltverschmutzung und
Wassermangel, die Landwirtschaft und der Einsatz von
Düngemitteln und Pestiziden, das Bejagen und Einfangen wild lebender Tiere, der Abbau der Ozonschicht und
Klimaveränderungen. Alles zusammen sorgt für einen
ständigen Rückgang der Arten sowohl bei Pflanzen als
auch bei Tieren.
Wir haben aber auch eine Reihe von Schutzmechanismen zur Verfügung, von denen ich nur einige nenne:
das Washingtoner Artenschutzübereinkommen, die Biodiversitäts-Konvention, die Bonner Konvention zur Erhaltung der wandernden wild lebenden Tierarten, die europäische Vogelschutz- und die FFH-Richtlinie sowie
das europäische Schutzgebietssystem NATURA 2000.
Die Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes steht
an. Wir wollen ein großflächiges Biotopverbundsystem
mit etwa 10 Prozent der Landesfläche schaffen. Schließlich sollen die Artenvielfalt geschützt und die Verpflichtung zu einer flächendeckenden Landschaftsplanung
aufgenommen werden.
In den „Daten zur Natur 1999“ des BfN wird aufgezeigt, dass für Pflanzen- und Tierarten und ihre Lebensräume weiterhin erhebliche Gefährdungen bestehen.
Zwar sind die Belastungen durch Umweltschutzmaßnahmen in Teilbereichen zurückgegangen. Für die Natur
insgesamt besteht jedoch weiterhin Alarmstufe. Die roten Listen zeigen den Umfang der Bedrohung von Fauna
und Flora. Danach sind beispielsweise 36 Prozent aller
bewerteten Tierarten im Bestand gefährdet. Erheblich ist
nach wie vor auch der Landschaftsverbrauch durch Zersiedelung und Zerschneidung der Flächen. Bundesweit
sind es über 100 Hektar täglich. Dieser Artenverlust ist
ein deutlicher Hinweis auf die Belastung unserer Umwelt.
({0})
Das Netz NATURA 2000 umfasst 553 Vogelschutzgebiete. Die Meldungen zur Umsetzung der FFH-Richtlinie in Deutschland gehen sehr zögernd ein. Unsere föderale Struktur erschwert die Umsetzung. Mein
„Musterländle“ ist dabei nicht gerade sehr mustergültig.
Baden-Württemberg hat gerade einmal 1,5 Prozent Anteil an der Landesfläche in 151 Gebieten gemeldet. Die
Vielzahl der Gebiete sagt eben auch aus, dass die Stückelung sehr groß ist und eine Vernetzung und Zusammenlegung nicht stattgefunden haben.
Ein Ziel muss es sein, die Tier- und Pflanzenarten in
ihrer genetischen Vielfalt, ihrer natürlichen Häufigkeit
und ihrer natürlichen geographischen und ökologischen
Verbreitung zu schützen. Das bedeutet umfassenden
Schutz und Pflege wild lebender Tier- und Pflanzenarten
mit klar umrissenen Aufgaben für den Arten- und Biotopschutz.
Wir brauchen eine Renaturierung unserer Flüsse. Der
Erhalt natürlicher Flussläufe und Auwälder dient aber
nicht nur dem Artenschutz, sondern ist auch der beste
Hochwasserschutz.
({1})
Giftige Einträge in Flüsse zerstören die Gesundheit der
Menschen, die Nahrung und Wasser dem Fluss entnehmen. Auch Flora und Fauna erleiden irreparable Schäden.
Im Oktober 1999 ist die neue Bundesartenschutzverordnung in Kraft getreten. Die Novelle enthält eine
Regelung zur Kennzeichnung bestimmter lebender Säugetiere, Vögel und Reptilien. Mit ihr wird die Zuordnung geschützter Tiere zu bestimmten amtlichen Papieren sichergestellt. Damit soll der illegale Handel mit geschützten Tieren weiter erschwert werden. Das Übereinkommen über die biologische Vielfalt, 1992 in Rio geschlossen, hat zum Ziel, die biologische Vielfalt zu
schützen und nachhaltig zu nutzen sowie die Vorteile,
die sich aus ihrer Nutzung ergeben, gerecht aufzuteilen.
175 Staaten sind der Konvention seitdem beigetreten
und unterstreichen damit die globale Bedeutung, die diesem Übereinkommen weltweit zukommt.
Deutschland spielt bei der Umsetzung eine wichtige Rolle. Wir sind Impulsgeber bei der Frage des
nachhaltigen Tourismus oder bei den Zugangsregelungen
bei genetischen Ressourcen.
({2})
Schätzungen zufolge wurden im Zeitraum von 1990
bis 1995 jährlich 13,5 Millionen Hektar Tropenwald
vernichtet. Obwohl die Tropenwälder lediglich 7 Prozent der weltweiten Landflächen bedecken, beherbergen sie wahrscheinlich die Hälfte aller bekannten
Pflanzen- und Tierarten. Eine große Artenvielfalt ist jedoch durch menschliche Eingriffe bedroht. Die internationale Gemeinschaft hat sich dazu verpflichtet, die Artenvielfalt für die künftigen Generationen zu bewahren.
Das lässt sich jedoch nur erreichen, wenn es gelingt, diese Verpflichtung mit den Bedürfnissen und Prioritäten
der Menschen und der Wirtschaft in den Entwicklungsländern in Übereinstimmung zu bringen.
Tourismus und Artenschutz - wir haben das schon
gehört - war das Thema einer hochinteressanten Anhörung vor wenigen Wochen. Dabei hat sich herausgestellt, dass in rund 90 Prozent der Verstöße gegen das
Artenschutzgesetz Touristen die Täter sind. Eine explosive Zunahme: Um 350 Prozent ist die Zahl der Fälle
gestiegen. Tiere und Pflanzen werden vor allem aus beliebten Feriengebieten eingeschmuggelt. Die Zollverwaltung reagiert natürlich schon mit Öffentlichkeitsarbeit. Die Naturschutzorganisationen unterstützen sie dabei.
Den Reiseveranstaltern kommt beim Schutz der Lebensräume eine hohe Verantwortung zu: zum einen bei
der Nutzung der Lebensräume, zum anderen aber bei der
Aufklärung und Information der Touristen über naturgerechtes Verhalten und die geltenden Artenschutzbestimmungen. Wir brauchen einen Verhaltenskodex für
Reiseveranstalter und Touristen.
Es ist nicht einfach, liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Herzen der Menschen zu erreichen, wenn es sich um
eine aussterbende Käferart, ein seltenes Moos oder irgendein relativ unbekanntes, möglicherweise sogar
„hässliches“ Tier handelt. Viel erfolgreicher sind die
Fund-Raiser großer Umweltorganisationen, wenn es um
Wale, den Sibirischen Tiger, Nashörner oder Elefanten
geht. Die Berichte über die Robbenjagd in Kanada haben wahrscheinlich mehr für eine gewisse Ächtung von
Pelzkleidung getan als das Leiden der Felltiere in Zuchtanlagen.
Nicht zuletzt deshalb hat wohl die Einfuhr junger Elefanten in Zoos in Deutschland im vergangenen Jahr in
der Öffentlichkeit und auch im Deutschen Bundestag erhebliche Wellen geschlagen. Der Afrikanische Elefant - damit komme ich zu unserem Antrag - stand Anfang der 90er-Jahre kurz vor seiner Ausrottung. Deshalb
unterliegt er dem Schutz des Washingtoner Artenschutzübereinkommens. Wenn im südlichen Afrika in den letzten Jahren die Elefantenbestände wieder deutlich zugenommen haben, ist den dortigen Regierungen für ihre
wirksamen Schutzmaßnahmen ausdrücklich zu danken.
Leider hat aber die daraufhin erfolgte Lockerung des
strikten Verbotes des Handels mit Elfenbein zu einer
verstärkten Wilderei und einem erhöhten Schmuggel mit
Elfenbein geführt. Einige Länder wollen nun auf der
Konferenz in Nairobi durchsetzen, dass das Handelsverbot für Elfenbein noch weiter gelockert wird. Artenschutzorganisationen fürchten daher zusammen mit den
Staaten Ost- und Zentralafrikas und Indien um die Elefantenbestände.
Die Wiederhochstufung der Elefanten aus Anhang II
in Anhang I und ein Handelsverbot für Elfenbein bedeuten nicht - darauf lege ich Wert -, dass in den betroffenen Ländern nichts gegen Überpopulationen und damit
die Bedrohung der Felder und Ernten getan werden darf.
Es sind nun eben aus Savannen Kulturlandschaften geworden. Deshalb ist der Lebensraum, auch jener der Elefanten, entscheidend eingeschränkt worden. Aber es
muss auch ein Weg gefunden werden, den betroffenen
Ländern Kompensationen und Hilfen zu verschaffen.
({3})
Es ist keine Frage: Ein wirksamer Natur- und Artenschutz ist nur möglich, wenn die Bevölkerung mitmacht.
Dazu gehören umfassende Information, Aufklärung und
Umweltbildung sowie viel bürgerschaftliches Engagement. Die Politik kann zwar die Rahmenbedingungen
setzen, zur Beachtung einer gesunden und intakten Natur brauchen wir aber alle. Viele Bürgerinnen und Bürger tragen dazu in vielfältiger Weise in den Naturschutzverbänden, bei der Biotoppflege, dem Krötenschutz und in Agenda-21-Gruppen bei. Dafür bedanken
wir uns.
({4})
Das Wort für die
Fraktion der CDU/CSU hat jetzt der Kollege Georg
Girisch.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Washingtoner
Artenschutzübereinkommen wird am 1. Juli dieses Jahres sein In-Kraft-Treten vor 25 Jahren feiern können.
Seither sind 150 Staaten dem Vertrag beigetreten; in
diesem Jahr Island, Kasachstan und Slowenien. Seit
1990 sind sogar 47 Staaten beigetreten, darunter viele
Länder des ehemaligen Ostblocks. Sie erkennen damit
die Bedeutung der Vielfalt von Tier- und Pflanzenarten
an und arbeiten zum Schutz gefährdeter Arten zusammen. Dabei steht der zwischenstaatliche Handel im
Mittelpunkt. Das Schicksal gefährdeter Arten in ihrer
Heimat hängt nur mittelbar, aber doch in starkem Maße
davon ab. So beruht zum Beispiel die Gefährdung der
Nashörner und Tiger zum großen Teil auf der finanzkräftigen Nachfrage chinesischstämmiger Einwohner in
den verschiedensten Staaten Asiens. Leider ist eines der
Länder mit einer großen Nachfrage nach Nashorn- und
Tigerknochenpulver - Taiwan - nicht Mitglied dieses
Abkommens.
Im Zusammenhang mit diesem Abkommen hat noch
die unionsgeführte Bundesregierung für den Handel mit
geschützten Arten eine Strafandrohung eingeführt. Das
Bundesnaturschutzgesetz sieht für derartige Verstöße bis
zu fünf Jahre Freiheitsentzug vor. Die Öffentlichkeit
wird sich der Bedeutung des Artenschutzübereinkommens immer mehr bewusst. So weisen zum Beispiel
auch in Deutschland schon Anzeigenblätter Inserenten
auf die Liste zum Artenschutzübereinkommen hin. Aber
nicht nur der zwischenstaatliche Handel, sondern auch
das Einbringen von in internationalen Gewässern gefangenen Tieren wird von dem Abkommen erfasst. Hier besteht eine Überschneidung mit den internationalen Konventionen zur Regelung des Walfanges, auf die ich später noch eingehen werde.
Die nächste der Folgekonferenzen der Mitgliedstaaten des WA findet vom 10. bis 20. April dieses Jahres in
Kenia statt. Dabei stehen 61 Anträge auf der Tagesordnung, ein Teil davon fordert die Reduzierung des Schutzes von betroffenen Arten. Betroffen davon sind die
Grau- und Zwergwale, der Afrikanische Elefant, eine
Lamaart, eine südamerikanische Straußenart sowie drei
weitere Tier- und drei weitere Pflanzenarten. Die Vielfalt der betroffenen Arten scheint den Koalitionsfraktionen bei der Formulierung ihres erst kurzfristig bekannt
gegebenen Antrages entgangen zu sein. Dabei besteht
doch gerade bei nicht so populären Tier- und Pflanzenarten die Gefahr, dass sie aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt werden.
Dem deutschen Vertreter sollten besser allgemeine
Hinweise für die Verhandlungsführung auf der bevorstehenden Konferenz mit auf den Weg gegeben werden.
Das wird besonders dann wichtig, wenn durch die Bemühungen einflussreicher Einzelstaaten als sicher zu
erwartende Beschlüsse plötzlich infrage gestellt werden.
So hat Japan 1998 zum Beispiel bei einer der letzten
Walfangkonferenzen die Unterbringungskosten für mehrere Delegationen übernommen, die daraufhin überraschend abstimmten; das heißt, das Stimmverhalten wurde beeinflusst. Möglicherweise muss auch in Nairobi
taktisch agiert werden, um eine Koalition aus Ländern,
in denen der Walfang Bedeutung hat, mit Ländern, die
mit Elefantenstoßzähnen handeln, zu verhindern.
Das bisherige internationale Auftreten von Minister
Trittin weckt bei mir aber leider keine großen Erwartungen auf deutsches Verhandlungsgeschick.
({0})
Die Interessen dieser zwei Landesgruppen darf man
nicht in einen Topf werfen. So kann das Argument
„Kriminell nutzen, die Situation aus“ - hier aus dem
Verkauf von Stoßzähnen - nicht allein das Verbot einer
Handlung begründen. Sonst müsste man aufgrund des
Missbrauchs - ich sage das ganz drastisch - auch die
Nutzung von Eurochequekarten in Deutschland verbieten.
In den vier Staaten aus dem Bereich des südlichen
Afrika werden nun einmal, und zwar nur zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, Elefanten abgeschossen, die in der Nähe von Dörfern Felder verwüsten.
Die dabei anfallenden Stoßzähne werden von den Regierungen gelagert und können dann nur verwertet oder
vernichtet werden.
Auf der letzten Konferenz wurde deshalb drei Staaten
der einmalige Verkauf von 5 446 Stoßzähnen zu je
900 Dollar gestattet, der dann an Japan erfolgte. Es ist
für mich nicht nachvollziehbar, dass der staatliche Verkauf eine verstärkte Wilderei von Elefanten hervorgerufen haben soll. Im Gegenteil, den Schmugglern wurden
dadurch die Preise für gewilderte Stoßzähne verdorben.
Im Gegensatz dazu soll nach den Vorstellungen Japans und Norwegens die Jagd von Grau- und Zwergwalen gestattet werden. Sie stellen aber in keiner Weise
eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit dar. Dies hat
ja schon die ehemalige Umweltministerin, Frau
Dr.Merkel, auf der letzten Konferenz angeprangert. Hier
geht es nur um die kommerzielle Verwertung dieser Tiere. Die ist aber seit 1986 durch den Beschluss der internationalen Walfangkommission ohnehin verboten. Dabei ist noch darauf hinzuweisen, dass diese zwei Staaten
unter dem Deckmantel der wissenschaftlichen Notwendigkeit seit Jahren die Regelung des Artikel 3 Abs. 5 c
des Artenschutzabkommens unterlaufen, um die Wale in
der Nahrungsmittelindustrie zu verwerten. Aufgrund der
Wirtschaftskraft dieser zwei Staaten ist es keinesfalls so,
dass die Versorgung der Bevölkerung ohne die Jagd auf
Wale gefährdet wäre. Für Staaten, die wirtschaftlich weniger gut dastehen, ist dies ein schlechtes Vorbild.
Grauwale sind im Übrigen genau die Tiere, die sich vor
den Küsten Kaliforniens bei den Beobachtern so hoher
Beliebtheit erfreuen.
An dieser Gegenüberstellung ist zu erkennen, dass die
Koalitionsfraktionen in ihren Anträgen wichtige Details
vernachlässigt haben. Zudem erschweren sie dem deutschen Vertreter in Nairobi eine effektive Verhandlungstaktik. Der Schutz der Elefanten ist sicherlich wichtig,
meine Damen und Herren. Wenn man aber im konkreten
Fall zu einem Kompromiss gezwungen wird, muss man
doch eine Gewichtung vornehmen. Zudem zeigen diese
Anträge in ihrer Beschränkung auf nur zwei Tiergattungen die verengte Sicht der Koalitionsfraktionen mit großer Deutlichkeit.
Beispielhaft möchte ich hier auf einen Antrag der
USA und anderer eingehen, mehrere Haiarten unter
Schutz zu stellen. Wie der sprichwörtliche Hecht im
Karpfenteich, den es zum Beispiel in den Fischteichen
meiner Oberpfälzer Heimat wirklich gibt, ist der Hai im
Meer von großer Bedeutung. Als letztes Glied in einer
Nahrungskette sorgt er für die Gesundheit aller Meeresbewohner und Arten, indem er kranke und verletzte Tiere frisst. Er verhindert so, dass sich untüchtige Fehlbildungen bei der Entwicklung der Arten ausbreiten. Der
Hai, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat keine
Lobby und ist daher den Koalitionsfraktionen keinen
Antrag wert.
Auch Pflanzen interessieren Sie anscheinend wenig.
Während hierzulande viel Wind um die Ökosteuer gemacht wird, wurde ein Antrag auf Aufnahme einiger
Pflanzenarten nicht eingereicht. Es sollten aber zumindest einige Arten, die das so genannte Tropenholz liefern, geschützt werden.
Dabei ist doch gerade der tropische Regenwald der
wichtigste Sauerstoffproduzent und das größte natürliche
Genvorkommen auf unserem Planeten. Auch der Holzeinschlag, der zur Gewinnung von Tropenholz erfolgt, gefährdet den Regenwald in erheblichem Umfang.
Vielleicht hätte man bei zu großem Widerstand der betroffenen Exportstaaten eine eigene Regelung zum Anhang III zum Artenschutzabkommen anmelden können.
Hier herrscht bei den Koalitionsfraktionen Schweigen
im Walde.
Ein weiterer Punkt. Das Washingtoner Artenschutzübereinkommen sieht in jedem Mitgliedstaat die Überwachung des Artenschutzes vor. Dies soll durch eine
Behörde der Wirtschaftsverwaltung sowie eine wissenschaftliche Behörde sichergestellt werden. Leider ist
diese Überwachung oft lückenhaft, teils wegen fehlender
Ausbildung der Mitarbeiter, teils wegen mangelhafter
Bezahlung. Die schlechte Bezahlung führt oft zu Bestechlichkeit des Personals.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Computerunterstützung ist wichtig für die Effizienz der Verwaltung. Wenn dies so ist, dann darf man aus diesen Ländern nicht die Computerfachleute abwerben und gleichzeitig erwarten, dass dort die Verwaltung verbessert
wird.
Der beste und effektivste Umweltschutz ist derjenige,
der im Einvernehmen mit der Bevölkerung durchgeführt
wird. Dies darf bei den Bemühungen um eine bessere
Überwachung in den betroffenen Ländern nicht aus den
Augen verloren werden. Dies gilt besonders für den
Tierschutz. So gibt es im südlichen Afrika Projekte, bei
denen das Eigentum und somit das Verwertungsrecht an
bestimmten Wildtieren der lokalen Bevölkerung zugesprochen wird. Damit ist das Interesse der Bevölkerung
gewährleistet und die Wilderei hat kaum mehr eine
Chance. Der Abschuss und die Verwertung einer
begrenzten Anzahl der betroffenen Tiere unter
Begleitung von Wissenschaftlern kann dann gestattet
werden. Dass dies mit Augenmaß geschehen würde,
verdeutlicht das Sprichwort: Die Kuh, die man melkt,
schlachtet man nicht.
In diesem Rahmen ist auch eine touristische Nutzung
denkbar. Auch bei uns funktioniert dieses Konzept, wie
zum Beispiel der bayerische Vertragsnaturschutz belegt.
Niemand kann erwarten, dass man die Bevölkerung des
südlichen Afrika oder anderer wirtschaftlich schwacher
Gebiete ohne finanzielle Anreize überzeugen kann. Von
diesen finanziellen Anreizen müssen allerdings die kleinen und mittleren, namentlich die Familienunternehmen
profitieren können.
Artenschutz ist nur dann erfolgreich durchzusetzen,
wenn auch die Entwicklungschancen, die sich aus einer
nachhaltigen Nutzung ergeben, Bestandteil der Schutzkonzepte werden. Es ist deshalb unbestritten, dass wir
die Bevölkerung vor Ort verstärkt einbeziehen und mit
Hilfe zur Selbsthilfe unterstützen müssen. Dies haben
wir in der Vergangenheit auch getan. Ich kann deshalb
nicht verstehen, dass gerade diese Bundesregierung die
Mittel der Entwicklungshilfe um 8,7 Prozent gesenkt
hat, zumal man erwarten muss, dass sie auch künftig
weiter sinken.
Wenn man dann noch das ökologische Verhalten positiv verstärkt, haben wir einen wichtigen Schritt zum
Schutz dieser einen Welt getan. Ich freue mich deshalb
für den deutschen Vertreter in Nairobi, den Bundesumweltminister, dass er einmal hinauskommt und an etwas
anderes denken kann als an Atomausstieg in Deutschland. Hoffentlich bekommt er diesmal keine Schramme,
wenn ihm der Kanzler aller Safariautos an den Karren
fährt. Ich wünsche uns, dass er die von Frau Merkel auf
der letzten Konferenz gelegte hohe Latte erreichen kann
und die deutschen Interessen in Nairobi würdig und
wirksam vertritt.
Danke.
({1})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Steffi Lemke für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr
verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Mein
Vorredner hat eben lang und breit beklagt, dass die Koalitionsfraktionen nicht zu allen 60 auf der kommenden
CITES-Konferenz vorgelegten Anträgen hier Initiativen
eingebracht haben. Ich frage mich, ob Sie wirklich versuchen wollen, jedes Thema in die Parteienauseinandersetzung zu ziehen. Das ist völlig unnötig, weil wir in der
Sache, in der Diskussion um den Artenschutz, in vielen
Punkten einig sind. Gott sei Dank haben einige Vorredner Ihrer Fraktion diese Gemeinsamkeiten auch betont.
Ich müsste ansonsten aus Ihren Nichtaktivitäten schließen, dass Ihnen auch der Schutz der Wale und der Elefanten egal ist.
Artenschutz ist ein Thema, das große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erfährt, zumal dann, wenn es
um große Säugetierarten geht, die bei jedem Einzelnen
von uns einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Ich
nenne exemplarisch die Elefanten als größte Landsäuger
und die Wale als größte Meeressäuger. Ihr Lebensraum
und ihre Population sind gerade durch ihre Lebensweise
gefährdet: Sie leben in sozialen Gruppen und nehmen
sehr großflächige Lebensräume für sich in Anspruch.
Deshalb sind sie besonders darauf angewiesen, dass wir
den nachhaltigen Schutz ihrer Lebensräume gewährleisten.
({0})
Mit dem Washingtoner Artenschutzübereinkommen
wurde vor über 25 Jahren ein Instrument geschaffen, das
einen weltweiten Verhaltenskodex für den Umgang mit
wild lebenden Tier- und Pflanzenarten festlegt. Durch
die Einbindung von über 140 Staaten ist es tatsächlich
gelungen, eine globale Steuerungsfunktion beim Artenschutz auszuüben. Das ist ein großer Erfolg, auch wenn
dieses Instrument bisher nicht in allen Details greifen
konnte.
Für viele Arten, insbesondere für die Meeressäuger,
kam das Washingtoner Artenschutzübereinkommen
buchstäblich als Rettung in letzter Minute. Die Blauwale
wurden bis zu ihrer fast vollständigen Ausrottung verfolgt. Selbst nach 30 Jahren Jagdverbot und nach
22 Jahren Handelsverbot haben sich die Bestände nicht
erholt. Von ursprünglich 250 000 Exemplaren leben
heute noch maximal 3 000. Genau wissen wir das nicht.
Die Bestände haben sich jedenfalls bisher nicht regeneriert. Trotzdem scheiden sich beim Thema Wale auch
heute wieder die Geister daran, wie stark diese Meeressäuger tatsächlich gefährdet seien.
Seit 1986 gilt das von der Internationalen Walfangkommission verkündete weltweite Moratorium für den
kommerziellen Walfang. Lediglich für wissenschaftliche
Zwecke dürfen Wale noch gejagt werden. Das Moratorium basiert auf der Grundlage eines konservierenden
Artenschutzes, also Schutz durch Unterlassung jeglicher
Nutzung. Trotzdem umgehen einzelne Staaten unter dem
Deckmantel des wissenschaftlichen Walfangs oder
durch Austritt aus der IWC das Moratorium. Das heißt,
dass auch dieses Moratorium bisher keinen vollständigen Schutz bieten konnte. Wir diskutieren deshalb darüber, inwieweit sich Nutzung und vorsorgender Schutz
von gefährdeten Arten miteinander verbinden lassen.
Die Grundlagen dafür müssen eindeutig sein.
Wenn jetzt auf der 11. Vertragsstaatenkonferenz über
eine Aufhebung des Moratoriums diskutiert wird - die
Zurückstufung der Wale von Anhang I in Anhang II
würde in letzter Konsequenz nichts anderes bedeuten -,
dann können wir das nicht unterstützen, weil die wissenschaftlichen Grundlagen für eine solch weitreichende
Entscheidung nicht ausreichen.
Für den Zwiespalt zwischen dem Erhalt unserer natürlichen Umwelt und der kommerziellen Nutzung - seien es
Bodenschätze, Pflanzen oder Tiere - gilt seit der UNKonferenz für Umwelt und Entwicklung von 1992 eine
Formel, die die Nutzung ohne Gefährdung der Art erlaubt: Diese Formel heißt „Nachhaltigkeit“. Nachhaltige
Entwicklung soll durch nachhaltige Nutzung ermöglicht
werden. Auch die Internationale Walfangkommission
hat an die Aufhebung ihres Fangmoratoriums eine Bedingung geknüpft: Der Walfang bleibt so lange verboten, bis die Kriterien für eine nachhaltige Jagd auf Wale
erarbeitet und bis die Instrumente zur Überprüfung einer
dann erfolgenden nachhaltigen Nutzung entwickelt sind.
({1})
An diesem Maßstab muss die IWC festhalten und auch
CITES darf diesen Maßstab auf keinen Fall aufbrechen.
Das Washingtoner Artenschutzübereinkommen hat
sich in Bezug auf die Wale bisher eng an die Vorgaben
der Internationalen Walfangkommission angelehnt, das
heißt, die Schutzinteressen haben bislang Vorrang vor
den Nutzinteressen, eben weil wir nicht wissen, ob die
Bestände schon wieder eine kommerzielle Nutzung verkraften können. Und solange wir das nicht wissen, so
lange ist aus meiner Sicht eine kommerzielle Nutzung
selbst dann, wenn sie nachhaltig gestaltet ist, nicht möglich.
({2})
Eines ist in die Betrachtung bisher kaum eingeflossen. Frau Flach, da möchte ich auf Sie zurückkommen;
denn Sie haben unseren Antrag an diesem Punkt offensichtlich nicht gründlich gelesen. Es geht um die zunehmende Gefährdung der Ozeane. Sie hatten in diesem
Zusammenhang gesagt, dass die Wale nicht primär dadurch gefährdet sind. Da würde ich Ihnen zustimmen:
Wale sind hauptsächlich durch die kommerzielle Nutzung in ihrer Existenz bedroht - auch noch heute. Aber
ich denke, wir müssen in Zukunft sehr wohl den Blick
auf die Gefährdung der marinen Ökosysteme richten.
Globale Umweltveränderungen bedrohen die Populationen - insbesondere bei den Walen können wir dies
beobachten - inzwischen in erheblichem Ausmaße. Die
verschiedenen Faktoren wurden bisher isoliert betrachtet. Wir wollen, dass in Zukunft beim Schutz der wild
lebenden Arten die Gefährdungsfaktoren in ihrer Gesamtheit berücksichtigt werden.
({3})
Die marinen Ökosysteme werden durch den verstärkten
Treibhauseffekt, die zunehmende UV-Einstrahlung,
Eutrophierung und dadurch gestörte Produktion von
Phytoplankton sowie die Überfischung der Meere gefährdet.
Das Zusammenspiel dieser Faktoren wirkt sich inzwischen auch auf die Population der Wale aus und bedroht
ihre Existenz. Wenn, wie heute kurz ausgeführt wurde,
im Walfleisch inzwischen Schadstoffe wie Dioxin oder
PCB in einer solchen Menge angereichert sind, dass davor gewarnt wird, dieses Fleisch zu verzehren, dann
können wir nicht davon sprechen, dass die Wale nicht
auch durch die Gefährdung des Ökosystems bedroht wären. Ich möchte nicht, dass wir einen effektiven Walschutz erst erreichen können, wenn das Fleisch überhaupt nicht mehr verzehrt werden kann. Das ist nicht
unser Ziel.
({4})
Die Schlussfolgerung aus diesen inzwischen wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen kann nur lauten: Es
genügt nicht, über den Schutz einzelner gefährdeter Arten zu sprechen. Vielmehr müssen wir zukünftig den gesamten Lebensraum der betroffenen Art mitbetrachten.
Gerade hier klafft aber immer noch eine Riesenlücke
zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Nachhaltigkeitsrhetorik reicht nicht aus.
Die Vereinten Nationen hatten das Jahr 1998 zum Internationalen Jahr des Ozeans erklärt, um die zentrale
Bedeutung der Weltmeere für Klima, Artenvielfalt und
Ernährungssicherung stärker in das allgemeine Bewusstsein zu bringen.
Fakt ist, dass die Weltmeere bis auf den heutigen Tag
nicht nachhaltig genutzt werden, dass wir immer noch
mit einer dramatischen Überfischung einzelner Fischarten zu tun haben, die die Bestände in ihrer Existenz
bedroht, und dass hieran auch die Europäische Union beteiligt ist.
Artenschutz ist ein Themenfeld, dem man mit einer
isolierten Betrachtung nicht gerecht wird. Hier kann tatsächliche Nachhaltigkeit nur erreicht werden, wenn wir
über Zuständigkeitsgrenzen hinweg denken und handeln.
({5})
Zielstellung muss sein, die wirtschaftlichen Interessen so
zu lenken, dass dadurch Ökosysteme und ihre Arten
nicht gefährdet werden.
Hierzu gibt es eine Reihe ermutigender Ansätze. Ich
möchte als Beispiel die Zertifizierung anführen. Insbesondere beim Schutz des tropischen Regenwaldes gibt es
positive Ansätze im Rahmen des FSC zu einer Kennzeichnung von Holz aus nachhaltiger Tropenwaldbewirtschaftung, die wir - gerade hier in Mitteleuropa - allerdings viel stärker unterstützen müssen, wenn sie tatsächlich zum Tragen kommen sollen. Ein ähnlicher Ansatz wird auch für den Schutz der Meere diskutiert. Ein
weiterer Vorschlag ist die Einführung des Vorsorgeprinzips bei CITES. Ich denke, das ist der richtige Weg, um
den Vorrang des Artenschutzes zu gewährleisten und
trotzdem eine Nutzung in der Zukunft wieder zu ermöglichen.
Danke.
({6})
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Reinhold Hemker für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Bei der Debatte über Artenschutz, Schutz von Tieren und Pflanzen, vergisst man
sehr oft - das ist auch heute wieder deutlich geworden -,
dass es die Menschen sind, die sich in der Welt eingerichtet haben. Ihr Bestreben richtete und richtet sich auf
Macht und Einfluss. Mächtige sammelten und sammeln
im wahrsten Sinne des Wortes ihre Truppen, um die
Welt oder zumindest Teile der Welt zu unterwerfen.
Noch in diesem Jahrhundert war dieses Bestreben
von Menschen - und das nicht nur einiger weniger Diktaturen - nach Lebensraum, wie es genannt wurde,
Grund millionenfachen Mordes, von Krieg, den ich
Massenmord nenne, zumindest wenn er diesen Hintergrund hat. Wir lesen in den Geschichtsbüchern davon:
Dieses Bestreben richtete und richtet sich gegen Menschen, die sich meistens nicht wehren können. Die Stärkeren setzen sich durch.
In den Geschichtsbüchern lesen wir aber wenig davon, was im Zusammenhang mit den Handlungen des
Raubtieres Mensch, durch das Eingreifen der Menschen
überall auf der Welt, mit den anderen Geschöpfen auf
dieser Erde geschah und geschieht. Das ist sehr bedauerlich.
Der in der Schöpfungsgeschichte am Anfang der Bibel, im Alten Testament, reflektierte Vorgang der Entstehung der anorganischen und organischen Kreatur am
dritten und fünften Tag des auf eine Woche konzentrierten Schöpfungsprozesses durch den Schöpfer Gott nennt
sehr knapp und genau die Bedeutung der Kreatur mit
seinen vielfältigen Arten. Die Geschichte von der Arche
Noah malt das später noch einmal aus und das ist gut so.
Kurz: Die Welt, die Mutter Erde - wie es in der indianischen Tradition heißt -, ist auf alle Arten, die es in
der Natur gibt, angewiesen. Die Entwicklung der Artenvielfalt hat eine lebenserhaltende und lebensgestaltende Funktion für die gesamte Menschheit.
Aber auch das ist klar: Populationen wie bei Elefanten, Walen oder bestimmten Pflanzenarten werden trotz
des Wissens der Menschen um die Bedeutung der Artenvielfalt und der Notwendigkeit ihrer Erhaltung dezimiert. Darauf ist heute mehrfach hingewiesen worden.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht nur bedauerlich. Denn fällt etwas weg, wird etwas davon von
Menschen vernichtet, wird das Gleichgewicht gestört.
Die Kollegin Voß hat das sehr anschaulich beschrieben.
Der Oikos, der Hausstand der Menschen, die Gemeinschaft, muss global verstanden werden. Wenn ihm
das Verbindende und das Ausgleichende fehlt, wird der
Mensch immer mehr von den Erlebnisbereichen isoliert,
die die Natur bietet. Es ist die Gesamtheit der Welt, die
dem Menschen als Existenzgrundlage dient und von der
er sich entfremdet, wenn er seine Umwelt künstlich neu
erschafft: Technokratie statt Ökologie.
Aber liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, es gab
und gibt immer wieder auch die Bemühungen von Menschen, dem Prozess der Zerstörung entgegenzuwirken.
Die Organisationen, deren Aufgaben und Ziele mit
dem Artenschutzübereinkommen im Grunde mit globaler Orientierung auf den Punkt gebracht werden, sind
vor diesem Hintergrund entstanden. Ihnen ist für ihr Engagement zu danken.
({0})
Ich nenne als Beispiele die Naturfreunde, den Naturschutzbund, den Bund für Umwelt und Naturschutz
Deutschland, Greenpeace, Tierschutzvereine, Naturschutzgruppen in den Heimatvereinen und weltweit die
verschiedenen Organisationen, die Workcamps für Wiederaufforstung und Rekultivierung von Räumen organisieren, in die sich bedrohte Tierarten zurückziehen. Ich
bin auch der Auffassung, der WWF, der World Wide
Fund for Nature, wäre ohne solche vielfältig engagierten
Organisationen nicht denkbar.
Artenschutz hat viel mit Ressourcenschutz und mit
einer Art von Ressourcennutzung zu tun, die seit der
Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung - Minister
Trittin hat darauf hingewiesen - als „sustainable“ bezeichnet wird: langfristig, dauerhaft tragfähig. Mit den
schon inflationär gebrauchten Begriffen „nachhaltig“
und „Nachhaltigkeit“ - der Minister hat einen nachhaltigen
Eindruck hinterlassen - habe ich manchmal meine
Schwierigkeiten.
Wer global das Gleichgewicht der Grundelemente
Wasser, Feuer, Erde und Luft zerstört, die Grundlagen
und Grundsätze des Oikos nicht berücksichtigt, zerstört
die Lebensgrundlagen vieler Tiere und Pflanzen. Die
Wechselbeziehung von organischer und anorganischer
Kreatur funktioniert dann nicht mehr.
Es ist wichtig, dass überall die internationalen Vereinbarungen, Artenschutzübereinkommen, die FFHRichtlinie, die Kennzeichnung von Naturräumen als
Weltkulturerbe, auch durch nationale politische Entscheidungen und Rahmenpläne begleitet werden.
Hier muss uns als politisch Verantwortlichen im Norden der Welt klar sein: In armen Ländern vorwiegend
der südlichen Halbkugel dieser Welt kann das nur unter
Beteiligung der Völkergemeinschaft mit großen finanziellen Anstrengungen gelingen.
({1})
Weltumwelt-, Weltkultur-, Weltsozialpolitik und ein
die Politikbereiche tragender Weltethos dürfen nicht in
floskelbehafteten Vereinbarungen ohne substanzielle
Konsequenzen stecken bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in allen Hochkulturen hat es ein Management im Sinne regulierender Eingriffe in Tier- und Pflanzenbestände der Natur gegeben.
Bis heute können deren Bewirtschaftung und deren
nachhaltige, auf die Zukunft ausgerichtete tragfähige
Nutzung durchaus geeignete Maßnahmen sein.
In gepflegten und somit kulturell geprägten Wäldern
gibt es eben viele Schutzräume für die gefährdete Fauna
und Flora, gibt es Rückzugsräume für Tiere wie zum
Beispiel die Gorillas in den Bergen Ruandas oder im
östlichen Kongo, für Nashörner im Matopos-Naturpark
im Süden Simbabwes, die Nilpferde am Ufer des Sambesi in Sambia oder Mosambik, die Brachvögel in den
Feuchtgebieten in Deutschland.
Die biologische Vielfalt im Tropenwald als Gott sei
Dank noch nicht total erschlossene Quelle von Grundstoffen für die Medizin bleibt nur erhalten, wenn die
Nutzung mit den notwendigen artenerhaltenden Maßnahmen erfolgt.
({2})
Hier geht es um qualitativ abgesicherte Programme, die
international abgestimmt sind.
In der Vergangenheit ist viel Geld auch für immer
wieder ähnliche Forschungsprojekte ausgegeben worden. Wir brauchen ergebnisorientierte Projekte. Dabei
geht es um Qualität statt Quantität, lieber Kollege
Caesar. Das von Minister Trittin in der Regierungserklärung genannte Beispiel der Förderung einer langfristig
tragfähigen Nutzung der Teufelskralle, einer Trockengebietspflanze mit einer kostbaren Wurzel, eines wichtigen Rohstoffes für Anti-Rheumamittel, zeigt die richtige
Richtung.
Artenschutz geschieht auch dadurch, dass in unseren
arten- und naturnah geführten zoologischen und botanischen Gärten bedrohte Tier- und Pflanzenarten betreut
und gepflegt werden. Viele Erkenntnisse, die dabei gewonnen werden, helfen heute schon mit, die Maßnahmen im Rahmen des Artenschutzes zu verbessern.
Eine Fülle von direkten und indirekten Maßnahmen
ist nötig und möglich, damit die Eingriffe des Menschen
in Naturprozesse nicht zu einer Zerstörung der Lebensgrundlagen und -räume vieler Arten führen. Intensive
Landwirtschaft und chemische Schädlingsbekämpfung
bringen natürliche Kreisläufe aus dem Gleichgewicht.
Bautätigkeit und Verkehr führen nicht nur oft zur weiteren Trockenlegung von Feuchtgebieten, sondern lassen
den Menschen immer weiter in intakte Lebensräume
eindringen, die tief greifend verändert oder gar zerstört
werden.
Dazu kommt die mit der Ausbreitung des Zivilisationsraumes einhergehende Faunenverfälschung. Haustiere werden zur Konkurrenz und schleppen Krankheitserreger ein. Fehlgeleitete und profitgetriebene Sammler,
die vielleicht auch nur um ihr Überleben kämpfen, plündern Nester und stellen aus Tieren Souvenirs und obskure Heilmittel her, wenn sie nicht sowieso nur auf delikates Fleisch und exotische Felle aus sind.
Wir müssen uns nur immer wieder klarmachen: Wer
die Einnahmen zum Beispiel aus dem Elfenbeinhandel
in einzelnen armen Ländern aus Artenschutzgründen
einschränken will, muss dafür Sorge tragen, dass die
Entschädigungsfrage ernst genommen wird.
({3})
Wer ökologisch wertvolle Gebiete als Kulturerbe der
Weltgemeinschaft begreift und entsprechende Beschlüsse fasst, muss auch die ökonomische Seite der Medaille
berücksichtigen.
Wer den Tropenwald weltweit als Lunge für die reichen Industierländer erhalten will, muss auch die Kostenseite für die Sauerstoffbehandlung ins Auge fassen.
Ich bestärke daher die Bundesregierung und auch die
engagierten Akteure in den Nichtregierungsorganisationen, sich weiterhin für Maßnahmen zur Erhaltung der
Artenvielfalt einzusetzen, wie es im Falle des Schutzes
der Elefanten auch schon wieder geschehen ist, wie
Minister Trittin bereits angedeutet hat.
Es müssen auch gesetzliche Maßnahmen ergriffen
werden, um die Jagd zu kontrollieren, die Lebensräume
zu schützen, den Handel mit bedrohten Arten zu unterbinden. Dazu gehören natürlich auch Rahmenbestimmungen für eine ökologisch verträgliche Landwirtschaft
und Umweltrichtlinien, die die Erhaltung der Artenvielfalt berücksichtigen. Gleichzeitig müssen die Aktivitäten
unterstützt werden, die die Pflege einzelner Bestände
zum Ziel haben.
Artenschutz, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann
nur funktionieren, wenn vor Ort konkrete Schritte unternommen werden. Wir können unsere Lebensgrundlagen
nur dann erhalten, wenn wir auch in armen und
den ärmsten Ländern Anreize schaffen, behutsam mit
Lebensraum umzugehen. Dazu ist das Artenschutzübereinkommen ein Rahmen. Die Implementierung muss gerade auf der Ebene nationaler Gesetzgebung erfolgen, die
nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn die Rücksichtnahme auf den Garten, den Oikos, der ganzen Menschheit nicht durch das Leiden eines Teils der Menschheit
bezahlt werden muss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dem von der
Stiftung Entwicklung und Frieden herausgegebenen
Band „Globale Trends“ verweisen Tanja Brühl und Udo
Ernst Simonis auf die besondere Bedeutung des Artenschutzes im Rahmen anderer wichtiger Bausteine wie
Ozon, Klima, Biodiversität, Wüste und Meere für eine
globale Weltumweltpolitik:
Zukünftig gilt es daher, die bestehenden Instrumente auszubauen, neue Institutionen zu schaffen
und insbesondere die Interaktion der verschiedenen
Ebenen zu verstärken und besser zu koordinieren.
Der Artenschutz ist Teil einer wichtigen weltökologischen Orientierung und hat, auch wenn manche es nicht
wahrhaben wollen, eine große ökonomische Bedeutung.
Vorgeschlagen wird dafür eine Weltorganisation für
Umwelt und Entwicklung als Sonderorganisation der
Vereinten Nationen. Diese neue Institution soll zumindest das UN-Umweltprogramm, die Kommission für
Nachhaltige Entwicklung und die relevanten Konventionssekretariate, also auch das für Artenschutz, integrieren.
Wir merken also, liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass die heutige Debatte in einen größeren, einen globalen Zusammenhang hineingehört. Ich gehe davon aus,
dass sie wichtige Anregungen gegeben hat und noch
gibt.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aus-
sprache. Wir kommen zur Abstimmung.
Zunächst stimmen wir über den Antrag der Fraktio-
nen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur dauerhaf-
ten Sicherstellung des Schutzes der Wale auf Drucksa-
che 14/2985 ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig ange-
nommen.
Wir kommen jetzt zum Antrag der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Wiederherstellung
des Verbots des Elfenbeinhandels auf Drucksa-
che 14/2986. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist ge-
gen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis c und 14
sowie Zusatzpunkt 4 auf - es handelt sich um Überwei-
sungen im vereinfachten Verfahren - ohne Debatte -:
22 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rolf
Kutzmutz, Heidemarie Ehlert, Dr. Christa Luft
und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes
- Drucksache 14/2386 ({0}) Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Rotterdamer Übereinkommen über das Verfahren der vorherigen Zustimmung nach Inkenntnissetzung für bestimmte gefährliche
Chemikalien sowie Pflanzenschutz- und
Schädlingsbekämpfungsmittel im internationalen Handel vom 10. September 1998
- Drucksache 14/2919 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
c) Beratung des Antrags der Präsidentin des Bundesrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 1999 - Einzelplan 20 - Drucksache 14/2868 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
14. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag zum Erfolg führen
- Drucksache 14/2908 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl
Lamers, Peter Weiß ({3}), KlausJürgen Hedrich, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Den Stabilitätspakt Südosteuropa mit Leben
erfüllen
- Drucksache 14/2768 ({4}) -
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen, wobei die Vorlage auf Drucksache 14/2386
({5}) zusätzlich an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit überwiesen werden soll.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Die Vorlage auf Drucksache 14/2768 ({6}) soll zur
federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuss
und zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuss,
den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung und den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union überwiesen werden. Gibt
es dazu weitere Vorschläge? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall.
Damit sind sämtliche Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis i auf. Es
handelt sich um abschließende Beratungen ohne Aussprache.
Tagesordnungspunkt 23 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
4. August 1995 zur Durchführung der Bestimmungen des Seerechtsübereinkommens der
Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982
über die Erhaltung und Bewirtschaftung von
gebietsübergreifenden Fischbeständen und
Beständen weit wandernder Fische
- Drucksache 14/2421 ({7})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
({8})
- Drucksache 14/2815 Berichterstattung:
Abgeordneter Holger Ortel
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten empfiehlt auf Drucksache 14/2815, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 b:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung des Mitgliederkreises von Bundesknappschaft und See-Krankenkasse
- Drucksache 14/2764 ({9})
Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung des Mitgliederkreises
von Bundesknappschaft und See-Krankenkasse
- Drucksache 14/2904 ({10})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({11})
- Drucksache 14/2997 Berichterstattung:
Abgeordneter Eike Hovermann
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 14/2997, die gleich lautenden Gesetzentwürfe zusammenzuführen und unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf auf
Drucksachen 14/2764 und 14/2904 zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Pass- und Personalausweisrechts
- Drucksachen 14/2726, 14/2888 ({12})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({13})
- Drucksache 14/2993 Berichterstattung:
Abgeordnete Rüdiger Veit
Erwin Marschewski ({14})
Cem Özdemir
Petra Pau
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Gegenstimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({15}) zu dem
Entschließungsantrag der Fraktion der PDS zu
der Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu den Ergebnissen der Sondertagung
des Europäischen Rates in Tampere am
15./16. Oktober 1999
- Drucksachen 14/1854, 14/2702 Berichterstattung:
Abgeordnete Hedi Wegener
Michael Stübgen
Peter Altmaier
Claudia Roth ({16})
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Manfred Müller ({17})
Der Ausschuss empfiehlt, den Entschließungsantrag
auf Drucksache 14/2702 abzulehnen. Wer stimmt für
Vizepräsidentin Petra Bläss
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 23 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 135 zu Petitionen
- Drucksache 14/2923 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 135 ist bei Enthaltung
der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 136 zu Petitionen
- Drucksache 14/2924 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 136 mit den
Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 137 zu Petitionen
- Drucksache 14/2925 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 137 gegen die
Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 138 zu Petitionen
- Drucksache 14/2926 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 138 ist gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 139 zu Petitionen
- Drucksache 14/2927 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 139 gegen die
Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zur Fusion von
Deutscher Bank und Dresdner Bank und zu
den öffentlichen Diskussionen über die Folgen
dieser Fusion
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die
Fraktion der PDS ist die Kollegin Ursula Lötzer.
Frau Präsidentin! Kolleginnen
und Kollegen! „Was ist der Überfall auf eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“, so Bertolt Brecht. Was
würde er wohl zur Fusion der Deutschen Bank mit der
Dresdner Bank sagen? 6 Milliarden DM an Fusionsgewinnen pro Jahr stehen 16 000 abzubauenden Arbeitsplätzen gegenüber.
Die Beschäftigten der Dresdner Bank und der Deutschen Bank sind nicht die Einzigen, die um ihre Arbeitsplätze zittern. Diese Fusion leitet eine weitere Verschärfung der Konkurrenz in der gesamten Branche ein.
Auch bei den anderen Banken ist mit Fusionen, Rationalisierungen, Schließungen von Filialen und Personalabbau zu rechnen.
Die Gewerkschaften HBV und DAG stellen zu Recht
fest, dass die alten Instrumente wie Sozialplan gegenüber diesem Strukturwandel unzureichend sind. Sie wollen die Interessen der Beschäftigten in einem Fusionstarifvertrag mit Standortsicherung, systematischen Qualifizierungen, Outplacementmaßnahmen und Beschäftigungsgesellschaften sichern.
({0})
Angesichts der Gewinne der Bank sollten wir hier
gemeinsam die Bankenvorstände auffordern, ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung gerecht zu werden
und unverzüglich die Verhandlungen aufzunehmen.
Auch die Politik muss neue Wege gehen. Eine Erneuerung wirtschaftlicher Strukturen muss durch Maßnahmen zur Erneuerung der sozialen Demokratie begleitet
werden, damit diese dabei nicht untergeht.
Bundeskanzler Schröder hat den Beschäftigten Hilfe
versprochen. Die Teilnehmer der Kanzlerrunde zu einer
gesetzlichen Regelung von Übernahmen haben erklärt,
die Interessen der Beschäftigten in angemessener Weise
zu berücksichtigen.
({1})
Insbesondere bekräftigten sie die besondere Bedeutung
der Mitbestimmung. Dies ist ein erfreulicher Fortschritt
im Vergleich zu Ihrer Antwort auf unsere Anfrage nach
Fusionen, in der Sie keinen Anlass sahen, im Rahmen
von Fusionen besondere Maßnahmen zum Schutz der
Beschäftigten zu treffen.
Nehmen Sie die Verpflichtung zum Abschluss eines
Fusionstarifvertrages in eine gesetzliche Übernahmeregelung auf, damit über die Fragen des Arbeitsplatzerhalts,
Vizepräsidentin Petra Bläss
der notwendigen Qualifizierung und des Erhalts sozialer Leistungen verhandelt werden kann!
({2})
Die betrieblichen Interessenvertretungen, die in den
Übernahmeverhandlungen sehr dringend gebraucht werden, müssen auch bei Auslagerungen erhalten bleiben.
Und wenn das alles nicht erfolgreich verläuft, soll Gewerkschaften und Betriebsräten ein Vetorecht eingeräumt werden.
Fusionen vollziehen sich international. Deshalb müssen auch internationale Regeln vereinbart werden. Eine
Information der Betriebsräte, wie sie in der europäischen
Übernahmerichtlinie vorgesehen ist, reicht meiner
Auffassung nach absolut nicht aus. Schritte zur Erneuerung der sozialen Demokratie kämen jedenfalls meinem
Verständnis von einem aktivierenden Sozialstaat nahe.
An eines möchte ich Sie und alle diejenigen, die nur
noch die Shareholder im Kopf haben, erinnern: Ohne die
Beschäftigten ist keine Aktie auch nur einen Pfifferling
wert.
({3})
Doch die Fusion von Deutscher Bank und Dresdner
Bank geht in ihrer Bedeutung darüber hinaus. Van Miert
warnt aus diesem Anlass vor einer Machtwirtschaft.
Über Finanzspekulation, Fondsverwaltung und Investitionen wird die gesellschaftliche Entwicklung entschieden. Mit ihrem Anteilbesitz, ihrem Depotstimmrecht
und ihren Aufsichtsratsmandaten kontrollieren diese
Banken viele Betriebe. Die Fusion von Thyssen und
Krupp wäre, wie viele andere auch, ohne die Deutsche
Bank nicht möglich gewesen. Durch die Fusion mit der
Dresdner Bank steigt die Deutsche Bank endgültig in
den Kreis derer auf, die eine Fusionspolitik rund um den
Globus betreiben.
({4})
Nach der Bilanzsumme die größte Bank der Welt und
nach dem Börsenwert auf Platz drei nimmt die Deutsche
Bank Abschied von der so genannten Deutschland AG.
Der weltweite Konkurrenzkampf im Bankenbereich
konzentriere sich auf den Kampf USA kontra Europa, so
Norbert Walter. Weitere Übernahmen sind da nur eine
Frage der Zeit.
({5})
Hier entsteht Macht über die Lebenschancen von Millionen von Menschen, Macht, die sich demokratischer
Regulierung weitgehend entzieht.
Der Vertreter des DGB-Vorstands, Herr Putzhammer,
erklärte, es sei höchste Zeit, die Frage nach einer Einschränkung der Bankenmacht in unserem Wirtschaftssystem zu stellen. Dazu gehören die Begrenzung der
Aufsichtsratsmandate, die Überprüfung des Depotstimmrechts oder die Beschränkung von Beteiligungsmöglichkeiten.
Ein Wettbewerbsrecht, das Fusionen nur im Hinblick
auf deren Wettbewerbsbehinderung prüft, vernachlässigt
die Aspekte der Machtstellung völlig. Wer sich auf die
Förderung der Wettbewerbsfähigkeit beschränkt - auch
wenn dadurch die Demokratie gefährdet wird -, wird
seiner Verantwortung nicht gerecht. Die Diskussion über
eine nationale und internationale Fusionskontrolle ist
daher dringend erforderlich.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Klaus Lennartz.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die angekündigte
Mammutfusion zwischen Deutscher Bank und Dresdner
Bank ist die zeitgemäße und richtige deutsche Antwort
auf die Globalisierung der Finanzmärkte. Durch diesen
Zusammenschluss steigt das Deutsche-Bank-Unternehmen zum Tabellenführer in der europäischen und weltweiten Liga auf. Wer darin etwas Schlechtes sehen will,
verkennt, dass Großfusionen in einer weltumspannenden
Wirtschaft unvermeidbarer Bestandteil eines notwendigen Strukturwandels sind.
Insofern zeugt der laute Ruf der PDS nach „Schranken
für Banken“ nicht nur von Unkenntnis wirtschaftlicher
Zusammenhänge, sondern auch von einem fast marxistisch geprägten Weltbild, das sich beim Stichwort „Kapitalisierung“ geradezu reflexartig gegen Globalisierung
und Internationalisierung stemmt.
({0})
„Fusionen statt Illusionen“ kann ich Ihnen da nur antworten; denn Sie kämpfen wie der Ritter von der traurigen Gestalt gegen Windmühlen. Vor lauter Schwarzseherei bleiben Ihnen die Chancen, die mit solchen Fusionen für den Finanzplatz Deutschland verbunden sind,
absolut verborgen.
({1})
Die deutsche Wirtschafts- und Finanzbranche befindet sich in ihrem größten Umstrukturierungsprozess seit
dem Jahre 1948. Zum einen befinden wir uns weltweit
am Anfang einer langen, technologieorientierten Aufschwungphase, wobei das Internet, die Nano- und die
Biotechnologie die Schlüsseltechnologien sind. Hier
verdrängt das Neue massiv das Bestehende. Zum anderen setzen sich jetzt kapitalmarktgetriebene Wirtschaftsformen durch, die die Unternehmen zu einer gnadenlosen Restrukturierung ihrer Geschäfte zwingen.
Die Stichworte lauten: Produktivität, Effizienz, Innovation, Wachstumsstärke und globale Wettbewerbsfähigkeit. Wir befinden uns inmitten einer organisatorischen Evolution. Dabei dürfen wir uns nicht vom internationalen Kapitalmarkt abschotten. Dieser Markt
achtet gnadenlos auf Rendite und wachsende Kurse. Dabei sind für mich und für uns Kapital und Gewinn keine
Schimpfwörter. Mit der Fusion haben sich beide Banken
zu Führern und nicht zu Getriebenen einer unvermeidlichen Bewegung gemacht.
Es ist doch natürlich, wenn sich historisch gewachsene Systeme immer wieder durch Wettbewerb auf ihre
Zukunftsfähigkeit prüfen lassen müssen. Hierbei ist es
für uns beruhigend zu wissen, dass Deutschland - wie in
diesem Falle - über große und exzellente Leistungsträger verfügt. Die Bankenverschmelzung stärkt den Finanzplatz Deutschland, was ich ausdrücklich begrüße.
Aber die Rationalisierungsmaßnahmen - in diesem
Punkt gebe ich Ihnen mehr als Recht - sind der Wermutstropfen. Rund 14 500 Arbeitsplätze sind betroffen.
Das Gebot der Stunde muss daher lauten: Stellenumbau
statt Stellenabbau. Dies müssen sich die Vorstände der
Banken merken; auch das ist ein Gebot der Stunde. Neben der Gewinnorientierung gibt es noch die soziale
Verpflichtung.
({2})
- Das ist Ihre Auffassung. Ablehnung allein reicht nicht
aus. Wir müssen kreativ mitgestalten und mitwirken.
Dabei hilft das Übernahmegesetz.
({3})
Wir wissen doch alle, dass es gerade im Bankgewerbe mehr als genug gut ausgebildete und qualifizierte Arbeitskräfte gibt. Es gibt viele neue, unbesetzte Stellen in
der Branche, sei es im expandierenden Internet-Banking
oder auch im Investmentfondsbereich. Hinzu kommt:
Die neue Größe schützt beide Banken vor Übernahmen
und gibt der neuen Bank wiederum bessere Chancen,
andere Banken zu übernehmen. Die neue Größe bedeutet aber auch einen Sicherheitsfaktor für die Arbeitnehmer, da dadurch das Unternehmen seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern und Marktchancen ausbauen kann.
Für die Sparkassen und Genossenschaftsbanken bedeutet der Zusammenschluss der Großbanken eine große
Chance, sich noch stärker als bisher den Privatkunden
und der mittelständischen Wirtschaft zu widmen. Die
Stellung der Sparkassen- und Genossenschaftsorganisationen wird im Wettbewerb unseres Bankensystems
durch die Fusion wichtiger denn je.
Fusionen sind grundsätzlich nicht zu beanstanden, sofern der Wettbewerb nicht leidet. Es müssen aber Regelungen hinsichtlich der Transparenz für die Aktionäre
und hinsichtlich eines fairen Verfahrens für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschaffen werden. Die
Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen werden dabei sicherstellen, dass es bei der Formulierung des Übernahmegesetzes zu keiner Beeinträchtigung der bestehenden Vorschriften für Arbeitnehmerrechte insbesondere zur Mitbestimmung und zum Kündigungsschutz geben wird.
Bei Bankenfusionen dieser Größenordnung ist es unvermeidlich, dass eine qualitative Bankenaufsicht eingeführt wird -
Herr Kollege, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
- das mache ich -, die nicht
nur vom Schreibtisch aus die Eigenkapitalquote kontrolliert. Sie muss in der Lage sein, diesen neuartigen Risiken entgegenzusteuern. Daher ist es zu begrüßen, dass
die Verhandlungen zu den Basler Beschlüssen die qualitative Bankenaufsicht vorantreiben. Die Basler Beschlüsse dürfen aber nicht dazu führen, dass sich die
Kreditfinanzierung des Mittelstandes gegenüber Großunternehmen verschlechtert. Der Mittelstand ist der Motor für Investitionen und Innovationen in Deutschland.
Vor diesem Hintergrund sind Pläne des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht abzulehnen, die Eigenkapitalunterlegung unserer mittelständischen Unternehmen
nur durch ein internes Rating zu bewerten.
Herr Kollege, wir
sind in der Aktuellen Stunde. Ich muss Sie noch einmal
an Ihre Redezeit erinnern.
Ich bin sofort fertig.
Meine Damen und Herren, die Fusion von Deutscher
Bank und Dresdner Bank ist ein wichtiges Signal für
Deutschland. Der sich dabei abzeichnende Wandel ist
unumgänglich und birgt viele Chancen. Wer in Tradition
und Skepsis verharrt, überlässt der ausländischen Konkurrenz kampflos das Feld. Denn, meine Damen und
Herren, wer nicht innoviert, verliert.
Kollege Lennartz!
Ist es nicht gerecht, ist es
schlecht.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich möchte noch
einmal alle Kolleginnen und Kollegen bitten, in der Aktuellen Stunde auf die Redezeit zu achten. Ich finde es
unfair, wenn Sie immer wieder neu ansetzen. Sie selbst
wissen, dass es schwer ist, zum Ende zu kommen, wenn
man im Redefluss ist. Ich denke aber, wir sollten Rücksicht aufeinander nehmen.
Der nächste Redner ist Friedhelm Ost für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin
Lötzer, ich verstehe gut, dass Sie die Aktuelle Stunde
benutzt haben, um noch einmal Steinzeitargumente zu
servieren: Macht der Banken, Macht des Kapitals. Wenn
Sie Karl Marx richtig gelesen hätten, dann hätten Sie
auch nachsehen können, wem die Banken heute gehören. Da hätte er eine große Freude bei so vielen Hunderttausend Aktionären, auch Kleinaktionären, die Rendite
sehen wollen. Als Vertreterin der HBV, die Sie seit langer
Zeit sind - ich habe das gerade nachgesehen -, hätten Sie einmal das Bankenabenteuer der BfG nachvollziehen können. Das heißt, wer nicht rechtzeitig schaltet,
kommt rasch unter die Räder. Sie hätten vielleicht sagen
können, dass man bei der BfG froh war, dass sie von einer schwedischen Bank übernommen wurde.
Ich selber glaube - Kollege Lennartz hat dies zu
Recht gesagt -, dass die Globalisierung, der technische
Fortschritt und die neuen Technologien es erforderlich
machen, dass wir in der Wirtschaft insgesamt und damit
in der Kreditwirtschaft zu neuen Formen kommen, natürlich zu großen Fusionen. Ich will das nicht klein
schreiben. Die Fusion der Deutschen Bank und der
Dresdner Bank ist schon eine Megafusion, die viele
überrascht hat. Ich glaube, wir werden noch manche
Überraschung erleben. Ich hoffe, dass sie so positiv sind
wie hier.
Es ist richtig, dass wir auch politisch mahnen müssen,
dass beim Abbau von Filialen und damit von Arbeitsplätzen möglichst soziale Verfahren gewählt werden.
Wenn Sie sich einmal den Katalog ansehen, den Ihre
Kolleginnen und Kollegen der HBV mit den Bankvorständen von Deutscher Bank und Dresdner Bank ausgehandelt haben, dann stellen Sie fest, dass sogar jemand,
der noch eine neue Lehre machen will - nachdem er
Bankkaufmann gelernt hat und Schreiner werden will -,
dies finanziert bekommt. Wenn ein Viertel der 14 500
Arbeitnehmer, die freigesetzt werden, IT-Spezialisten
sind, dann können wir sogar noch über eine Reduzierung
der Zahl der Green Cards sprechen. Wenn Sie sich einmal erkundigen - Sie wollen immer Anwalt des Proletariats sein -, zum Beispiel beim Arbeitsamt, und arbeitslose Bankangestellte suchen, so stellen Sie fest, dass
man sie gar nicht findet. Sie werden nicht vermittelt,
weil es sie gar nicht gibt. Ein gut qualifizierter Bankangestellter ist in mittelständischen Betrieben willkommen, zum Beispiel in der Kreditabteilung oder der Finanzierung. Da habe ich gar keine Sorgen.
Wenn Sie sich einmal mit dem Megamarkt des Geldes - allein in Deutschland gibt es ein privates Geldvermögen von 6 Billionen DM - und mit ernsthaften
Studien beschäftigen, zum Beispiel des FERI-Institutes
aus Bad Homburg, das sich für Debis, damals die Tochter von Daimler-Benz, mit dem Schwerpunkt der Dienstleistung beschäftigte, dann stellen Sie fest: Bis zum Jahre 2010 werden rund 200 000 neue Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter im Bereich der Finanzdienstleistungen, der
privaten Vermögensberatung gesucht. Wahrscheinlich
muss die Zahl angesichts der Misere im Rentensystem
noch erhöht werden. Deshalb sollte man hier sehen, dass
riesige Chancen bestehen, dass wir durch die Fusion ein
Finanzinstitut bekommen, das auf dem globalen Finanzmarkt mithalten kann, gerade auch zum Nutzen
deutscher Unternehmen, großer Transaktionen, die wir
erleben wollen.
Mir selber wäre nicht so wohl gewesen, wenn etwa
die Deutsche Bank von einer amerikanischen Bank geschluckt worden wäre. Dann hätten Sie wahrscheinlich
noch einmal eine Aktuelle Stunde beantragt, aber da hätten wir gar nichts machen können.
Es ist mir also schon lieb, wenn die Deutsche Bank
mit der Dresdner Bank zusammengeht und hier ja auch
ein geordnetes Verfahren im Auge hat. In den nächsten
drei Jahren wird es zur Zusammenlegung von Filialen
kommen. In den nächsten drei Jahren will man die Synergieeffekte erzielen, die notwendig sind, weil die Leute sonst kein Kapital geben. Auch Kleinaktionäre wollen
eine Rendite für ihr eingesetztes Kapital sehen. Ich weiß
nicht, inwieweit Sie von der PDS da schon Aktien haben, aber wahrscheinlich setzen Sie auch auf Verzinsung
und wollen nicht sozusagen einen Sozialbeitrag leisten.
({0})
Deswegen glaube ich, dass das Ganze sowohl für unsere Volkswirtschaft gut ist als auch für den Finanzplatz
Deutschland oder auch für den Finanzplatz Europa; es
ist gut für Wachstum und Beschäftigung. Die Versorgung mit Bankdienstleistungen wird gut bleiben. Wir
haben das dichteste Bankennetz überhaupt in der Welt.
Ich glaube, nur in Spanien gibt es - pro Kopf gerechnet - mehr Bankenstellen. Aber sonst sind wir hier führend.
Es wird auch weiter einen harten Wettbewerb geben.
Wir haben im Kreditgewerbe ein ideales System mit den
Banken: mit den privaten Banken, mit den öffentlichrechtlichen Landesbanken, die teilweise recht groß oder
zu groß geworden sind, mit den Sparkassen, mit den
Genossenschaftsbanken und mit den vielen freien Finanzdienstleistern und Vermögensberatern, sodass Sie
sehr gut versorgt sind. Ich glaube, Sie werden keine Not
haben. Außerdem kommen neue Technologien wie etwa
das Internet, das Online-Banking und Ähnliches.
Ich stimme dem Kollegen Lennartz zu, was die Kontrolle anbetrifft. Wir müssen sehen, dass die nationale
Kontrolle ausgedient hat. Die europäische Kontrolle
muss so schnell wie möglich kommen. Ich selber bin
auch der Meinung, wir müssen über neue Formen der
Bankenkontrolle international nachdenken. Das kann eine wichtige Aufgabe unseres neuen Mannes beim IWF,
von Horst Köhler, sein, der darin viel Erfahrung hat.
Vielen herzlichen Dank.
({1})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Margareta Wolf.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Ost, nichts gegen Karl
Marx. Karl Marx hat gesagt: Das Kapital ist ein scheues
Reh. Ich glaube, vor diesem Hintergrund muss man die
Fusion als eine ganz normale, eine natürliche Anpassung
an wechselnde Strukturen der Märkte verstehen.
Fusionen, Frau Kollegin Lötzer, bieten in der Regel
viele Chancen für Beschäftigung und Innovation und sie
stärken die Wettbewerbsposition auch des Marktes
Deutschland.
Es war schon immer eine Forderung der Linken in
diesem Land - wenn ich das so sagen darf -, die
Deutschland AG mit entsprechenden Instrumenten auseinander brechen zu wollen. Nun hat der Gesetzentwurf
des Finanzministers der rot-grünen Koalition offensichtlich dazu geführt, dass dieses Auseinanderbrechen der
Deutschland AG in den Köpfen, schon bevor eine steuerliche Entlastung in Aussicht steht - wie das bei Dresdner Bank und Deutscher Bank der Fall ist -, tatsächlich
vollzogen wird. Von daher finde ich diese Klassenkampfparolen, die Sie hier heute präsentiert haben,
wenig hilfreich. Ich glaube, wir als Politiker müssen
auch der Tatsache begegnen, dass natürlich viele Menschen in diesem Land Angst vor Fusionen haben, Angst
vor Arbeitsplatzverlust.
({0})
Da finde ich es nicht hilfreich, verehrte Kollegin, wenn
Sie hier den Fusionstarifvertrag einführen. Sie wissen,
dass wir im Bündnis für Arbeit im Bundeskanzleramt
über ein Übernahmegesetz geredet haben, dass der
DGB, dass der Europäische Gewerkschaftsbund dort
eingebunden ist, dass wir den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern gleiche Rechte geben wollen wie auch
den Kleinaktionären. Sagen Sie, dass Sie keine Bündnispartner für Ihre Position haben! Sie machen den Leuten etwas vor und ich glaube, gerade in diesen schwierigen Zeiten brauchen wir Vertrauen in diese Entwicklung. Wir müssen auch einen Teil der Verantwortung für
diese Entwicklung übernehmen, meine Damen und Herren.
Frau Kollegin Lötzer, wenn ich einmal den Herrn
Klotz von der IG Metall zitieren darf - ich bitte Sie, sich
das genau anzuhören -, der sagt: „Die Arbeit von immer
mehr Menschen wird es sein, Daten in Wissen zu verwandeln. ... Das Management des Faktors Wissen wird
viel bedeutsamer als pure Firmengröße.“
Das heißt, Sie sind genauso wie wir alle in diesem
Hause gefordert, die Menschen in diesem Land fit für
die Zukunft zu machen, fit für die Innovationen zu machen, fit für die Herausforderungen der Globalisierung
zu machen und nicht so zu tun, als wollten wir zurück in
unseren Nationalstaat, zu seinen Handlungsmöglichkeiten und als wollten wir um Deutschland einen Gartenzaun ziehen.
({1})
Genau dies ist überhaupt keine Lösung und zeigt nur,
wie strukturkonservativ Sie tatsächlich sind.
Es geht um einen Innovationswettbewerb, einen Wissenswettbewerb und einen Qualifikationswettbewerb in
diesem Land. Die Menschen in diesem Land sind dafür
fit. Wir müssen sie nur noch etwas fitter machen. Ich
hätte mir auch von der HBV und der DAG gewünscht,
dass sie den Faktor Qualifikation nicht erst jetzt in dem
Haustarifvertrag, sondern schon sehr viel früher eingeführt hätten. Dann wären wir jetzt etwas besser gerüstet
und bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wäre nicht so viel Misstrauen entstanden.
Aber ich glaube, man kann in der Tat sagen, dass diese Bankenfusion in vielerlei Hinsicht revolutionär ist.
Die Tatsache, dass sich mit der Allianz, der größten
Versicherung in Deutschland, der Münchner Rück, der
Deutschen Bank und der Dresdner Bank die vier größten
Player der Finanzbrache offensichtlich bereit erklärt haben, Unternehmensbeteiligung abzugeben und sich zu
entflechten, um sich auf ihre eigentlichen Geschäfte zu
konzentrieren, bedeutet für uns einen wesentlichen
Schritt weg von der Deutschland AG hin zu mehr Wettbewerb, perspektivisch zu mehr Arbeitsplätzen und zu
mehr marktwirtschaftlichen Prinzipien. Das wurde auch
schon von Herrn Lennartz und Herrn Ost gesagt. Ich
glaube, wir sind uns in der Analyse relativ einig. Es
werden neue Arbeitsplätze entstehen, im Internet-Banking, im Direct-Banking und auch in der Beratung. Es
gibt erhebliche Qualifikationsmängel im Bereich der Finanzdienstleister, der Wirtschaftsprüfer; das wissen Sie
alle. Hier muss ausgebildet werden. Ich denke, wir sollten diese Debatte konstruktiv und nicht destruktiv führen.
({2})
Lassen Sie mich in dieser Debatte noch einen letzten
Aspekt erwähnen, den ich für maßgeblich halte. Ich
glaube, dass die Fusion der Deutschen Bank und der
Dresdner Bank auch die Bedeutung des Filialnetzes der
Sparkassen und der Genossenschaftsbanken in der Fläche unterstreicht. Wir gehen davon aus, dass die Europäische Kommission die Beschwerde der Bankenvereinigung der EG gegen die Gewährträgerhaftung bei den öffentlich-rechtlichen Kreditinstituten nunmehr sehr zurückhaltend verfolgen wird. Ich glaube, dass durch die
Fusion der beiden großen Banken ein Trend verstärkt
wird, der sich schon in den letzten Jahren ablesen ließ,
nämlich dass das Mittelstandsgeschäft und das Geschäft
der Privatkunden in der Zukunft bei den öffentlichrechtlichen Banken geführt werden wird. Das ist eine
Chance für die Öffentlich-Rechtlichen, eine Chance für
den Mittelstand in Deutschland, eine Chance für verstärkte Beratung in der Fläche in Deutschland. Ich glaube, dass man sagen kann, dass die Öffentlich-Rechtlichen somit wieder viel mehr in die Nähe eines öffentlichen Auftrages rücken und sich insofern die Klage der
europäischen Privatbanken bei der Kommission in Brüssel quasi ad absurdum führt. Ich würde mir das wünschen. Ich glaube, dass es gerade im Beratungsbereich
der öffentlich-rechtlichen Banken ein Arbeitsplatzangebot geben wird.
Zusammengefasst: Ich würde mir wünschen, dass wir
fraktionsübergreifend keine Angstmacherei betreiben,
sondern zusammen mit den Gewerkschaften und den
Arbeitgebern überlegen, wie man Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer fit für diese Herausforderung, vor die
uns die Globalisierung stellt, machen kann, anstatt hier
ganz billige Polemik zu betreiben und noch mehr Angst
in diesem Land zu produzieren, als schon vorhanden ist.
Danke schön.
({3})
Margareta Wolf ({4})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Rainer Brüderle.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Fusion der beiden Großbanken
und das, was wohl noch an weiteren Zusammenschlüssen in dieser Branche folgen könnte, verunsichert Kunden, vor allem kleine und mittlere Unternehmen. Weil
das Konzept des neuen Finanzriesen nun einmal vor allem auf internationales Investment-Banking und die
Betreuung großer Vermögen setzt - Privatkunden ab
200 000 DM, Geschäftskunden ab 5 Millionen DM; die
anderen werden quasi auf die Billigschiene verwiesen -,
bleiben einige Fragen offen.
({0})
- Das ist eine Zweiklassenstruktur.
({1})
- Das ist Ihre Auffassung! Oder sprechen Sie hier für
die Deutsche Bank?
Wie viele Filialen, wie viele Kundenberater werden
wegfallen? Wer berät in Zukunft die Privatkunden? Wer
übernimmt die Beratung und Finanzierung kleiner und
mittlerer Unternehmen? Die absehbare Schließung von
Filialen in der Fläche bringt den mittelständischen Unternehmen Schwierigkeiten. Der Existenzgründer, der
zusätzliche Kredite braucht, der Bäckermeister, der eine
neue Filiale aufmachen will, oder der Fuhrunternehmer,
der seinen Fuhrpark erweitern möchte, alle verlieren
möglicherweise ihre vertrauten Ansprechpartner vor Ort.
Es ist ein Problem, dass es vor Ort den betreuenden
Partner nicht mehr gibt, sondern dass irgendwo in Düsseldorf oder Frankfurt in der 84. Etage jemand nach
Branchenanalysen, standardisierten Bewertungen dann
zu einem Vorhaben entweder Ja oder Nein sagt.
({2})
Auch der Wegfall eines Wettbewerbers stärkt die Position des mächtigen Kreditgebers gegenüber den kleinen Unternehmern. Es ist leicht vorhersehbar: Kreditverhandlungen werden eher schwieriger und die Finanzierungskosten werden eher steigen. Das ist die eine Seite der Medaille.
Auf der anderen Seite liegt hier eine große Chance
für Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Dank ihres
flächendeckenden Filialnetzes und des Vorhandenseins
kompetenter Berater vor Ort können sie stärker ins Privatkundengeschäft und in die Mittelstandsfinanzierung
einsteigen.
Die Sparkassen können aber ihre Rolle nur finden,
wenn endlich das Problem der Landesbanken, die mittlerweile eine ähnliche Strategie wie die großen Geschäftsbanken verfolgen, gelöst wird. Zu Recht sind die
Landesbanken für Brüssel ein wettbewerbspolitischer
Stein des Anstoßes. Deren Rolle muss endlich von der
der Sparkassen bei der Versorgung der Fläche getrennt
werden. Die Sparkassen müssen von einer belastenden
Diskussion befreit werden. Dann erst können sie ihre
Unternehmensstrategie voll auf die neuen Chancen ausrichten.
Hier müssen noch einige Landesfürsten über ihre
Schatten springen. Die lokale Drohung von Ministerpräsidenten aus Bayern, Niedersachsen und NordrheinWestfalen ist hier nicht hilfreich.
({3})
Das Schnüren großer Pakete durch die Politik verhindert die notwendige Anpassung der Bankenlandschaft
und gefährdet die Kreditversorgung des Mittelstandes.
Nicht die Sparkassenlandschaft steht zur Disposition,
sondern die Politisierung der Landesbanken.
Es muss sich im Wettbewerb zeigen, ob die mittelständischen Kunden das Angebot an Direktbanken bzw.
das klassische Filialkonzept von Genossenschaftsbanken
oder Sparkassen mehr annehmen. Ohne das Thema weiter zu vertiefen: Der konsequente Weg führt zu einer
Privatisierung der Landesbanken. Dies ist eine Diskussion, die gerade durch die besonders enge Verquickung
zwischen einer Landesbank und einer Landesregierung
ganz neuen Auftrieb gefunden hat; denn mit jeder Privatisierung senken wir das politische Unfugpotenzial, das
in öffentlichen Unternehmen steckt. Man muss den
Funktionären ihr Spielzeug wegnehmen.
({4})
Mit der Megafusion der beiden deutschen Bankenriesen entsteht die größte Geschäftsbank der Welt mit einer
Bilanzsumme von 2,1 Billionen Euro. Die gesamten Zusammenschlüsse aller Unternehmen im Jahre 1998 hatten einen Wert von 2,1 Billionen Dollar, um nur einmal
die Dimension zu verdeutlichen, um die es hier geht.
Eines vorweg: Der Wettbewerb wird nach meiner
Einschätzung durch den Zusammenschluss zwischen
Dresdner Bank und Deutscher Bank weder national noch
international gefährdet. Aber das Ganze macht doch
deutlich: Wenn zwei Marmeladenfabriken in Deutschland fusionieren, gilt ein relativ gut funktionierendes
Kartellrecht und das Wort der Kartellbehörde. Auf europäischer Ebene ist dieses Recht schon wesentlich weiter.
Weltweit gibt es gar nichts. Hier ist der Bundeswirtschaftsminister gefordert, tätig zu werden und nicht nur
Ludwig Erhard zu zitieren, sondern das alles konkret zu
praktizieren.
({5})
Ich habe immer die mahnenden Worte des ausgeschiedenen Kartellamtspräsidenten Wolf im Ohr, der
einmal sagte, die gemeinschaftliche Kontrolle des Weltmarktes durch wenige Konzerne sei nicht mehr fern.
Man muss dies bei der ordnungspolitischen Begleitung
dieser Prozesse mit beachten. Hier haben wir eine
Asymmetrie: je größer, je internationaler, desto weniger
präventiver Wettbewerbsschutz. Das kann so auf Dauer
nicht bleiben. Hier besteht Handlungsbedarf.
Positiv sehe ich dabei, dass sich die Anteilseigner auf
5 Prozent wechselseitiger Beteiligung begrenzen. Es
war immer meine Auffassung, dass dies eine ungute
Vermengung ist: hohe Anteile an Unternehmen und Industriebesitz und eben die Funktion der Bank. 5 Prozent ist
eine vertretbare Größenordnung und eine erste Reaktion
auf die politische Diskussion.
Aber ich halte es weiterhin für erforderlich, dass wir
prüfen, ob Kontrollfunktionen von Aufsichtsräten nicht
noch einer besseren Handhabung bedürfen. Der Holzmann-Fall hat deutlich gemacht, dass es nicht in Ordnung ist, wenn eine Institution gleichzeitig Kontrolleur
und Kreditgeber ist, Depotstimmrecht besitzt und noch
Kontrolleur im Aufsichtsrat ist. Das ist eine Verquickung von Funktionen, die nicht in Ordnung ist. Deshalb
sind wir für wirksame Fusionskontrolle, Transparenz,
Schutz von Minderheitsaktionären und fairen Umgang
mit den Mitarbeitern.
({6})
Das Wort hat der
Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium
für Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal muss man sagen, Frau Kollegin Lötzer, wir helfen
weder den Kunden noch den Beschäftigten mit Museumsstrukturen. Wir müssen uns auf leistungsfähige Einheiten einstellen. Deshalb sieht die Bundesregierung in
dieser Fusion insgesamt eine Chance, den Finanz- und
Bankenplatz Deutschland im weltweiten Vergleich zu
stärken. Das möchte ich vorweg sagen, damit darüber
Klarheit herrscht. Ich glaube, dass wir mit alten Strukturen bzw. mit Strukturkonservatismus in Zeiten fundamentaler Veränderungen niemandem helfen, weder den
Beschäftigten noch den Kunden, noch denjenigen, die
mittelbar mit den Banken zu tun haben.
Meine Damen und Herren, dies ist ohne Zweifel eine
der bedeutendsten Fusionen überhaupt. Wenn man sie
sich ein wenig genauer anschaut, erkennt man, dass auch
die Banken selber Erkenntnisse gewonnen haben, die sie
vor Jahren vielleicht noch nicht hatten. Ich komme
gleich noch auf die Themen Wettbewerb und Beteiligung zu sprechen. Wenn nämlich die beiden Bankenvorstände in einer gemeinsamen Erklärung sagen, dass die
neue Deutsche Bank mit der Fusion eine aktive Rolle an
der Spitze der Konsolidierungsbewegung in der Bankenbranche wahrnimmt, zeigt das, dass es offensichtlich
Strukturen gibt, die konsolidierungsbedürftig sind. Es ist
ganz eindeutig: Wenn man auf dem Weltmarkt eine Rolle spielen will, dann braucht man eine international
handlungsfähige Bank. Deshalb sehen wir in dieser Fusion eine Chance, den Banken- und Finanzplatz
Deutschland zu stärken.
Es gibt drei Aspekte, die wir sehr genau im Auge behalten werden. Der erste ist die Frage, wie mit den Menschen verfahren wird. Es sind ja sehr viele Menschen
betroffen. Herr Brüderle hat eben von einem fairen Umgang gesprochen. Die Bundesregierung hält einen fairen
Umgang in dieser speziellen Situation für dringend geboten. Es gibt nämlich auch Möglichkeiten, sich rechtzeitig auf einen Strukturwandel einzustellen, beispielsweise indem man bereits im Unternehmen durch Umschulungen und Weiterbildung aktiven Strukturwandel
betreibt. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn man
sich sehr viel früher und schneller auf Online-Banking
und andere Herausforderungen eingestellt hätte, auch
wenn das Tempo sehr hoch ist. HBV und DAG haben in
den letzten Jahren übrigens durchaus auf Qualifikationen, Weiterbildung und Umschulungen gedrängt. Das
heißt, wir hoffen sehr, dass dieser Strukturwandel sozial
gestaltet wird, die Menschen mitgenommen werden und
man ernsthaft über neue Arbeitsplätze, Umschulungen
und Weiterbildung im Unternehmen nachdenkt.
An dieser Stelle möchte ich gerade auch nach Gesprächen mit der HBV sagen, dass sie nicht grundsätzlich gegen Fusionen ist, vielmehr erst die genauen Pläne
kennen lernen und auch gerne am Integrationsprozess
beteiligt werden möchte, um betriebsbedingte Kündigungen zu verhindern. Erste Integrationsteams sind bereits gebildet worden, an denen auch DAG und HBV beteiligt sind. Die Gewerkschaften sind also nicht die
Strukturkonservativen. Es geht vielmehr darum, dass
man einen fairen Umgang mit den 16 000 betroffenen
Menschen organisiert und dabei auch dafür sorgt, dass
eine sozial akzeptable Lösung gefunden wird. Hierfür ist
Prävention gefordert.
Ich komme auf einen zweiten Punkt zu sprechen: den
Mittelstand. Wir werden ihn sehr genau im Auge behalten. Es ist doch völlig klar, dass die Mittelstandsfrage
für uns eine Schlüsselfrage ist. Man muss nämlich wissen, dass der Mittelstand heute ein zentrales Problem
hat, nämlich das Finanzierungsproblem. Deshalb halten
wir die Basler Richtlinien sehr genau im Auge. Wir
werden darauf drängen, dass internes Rating möglich ist
und nicht allein externes Rating verlangt wird. Das ist
teuer und für den Mittelstand kaum darstellbar. Wir
werden darauf drängen und im April im Wirtschaftsausschuss darüber ja auch ausführlich reden, denn das ist
eine Schlüsselfrage für den Erfolg des Mittelstandes.
Man muss allerdings auch wissen, dass die Privatbanken überhaupt nur einen Anteil von 8 Prozent bei
Handwerkskrediten haben.
({0})
- Hören Sie einmal eine Sekunde zu. - Die Großbanken
sollte eigentlich alarmieren, dass sie nur einen Anteil
von 12 Prozent an Existenzgründungen haben.
({1})
Es gibt natürlich viele Genossenschaftsbanken, Sparkassen und andere Institute auf dem Finanzmarkt. Es zeugt
von einer funktionierenden sozialen Marktwirtschaft das finde ich gut -, dass genau in diese Lücke hinein
jetzt auch Genossenschaftsbanken und Sparkassen vorstoßen.
({2})
Genau dies muss auch passieren. Wir brauchen nämlich
eine aktive Unterstützung des Mittelstandes in Finanzierungsfragen. Dafür sind Sparkassen, öffentlich-rechtliche Banken und Genossenschaftsbanken genau die
richtigen Partner. Ich halte es nicht für glücklich, wenn
heute kommuniziert wird, dass man Private, die unter
200 000 DM auf dem Konto haben, oder Geschäftskunden mit weniger als 4 Millionen DM herausnimmt. Dies
müssen die Banken mit sich selber ausmachen. Ich kann
nur sagen: Wer so kommuniziert, der wird den anderen
eine große Steilvorlage geben.
({3})
Die Sparkassen und die Genossenschaftsbanken werden
genau in diesen Bereich hineingehen.
Ich komme zu einem dritten Punkt. Das ist die Frage,
die auch wichtig ist, nämlich die Wettbewerbskontrolle.
Herr Brüderle, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen,
dass das, wenn man sich den relevanten Markt anschaut,
im nationalen Markt keine dramatische Frage in Bezug
auf diese Fusion ist, weil die beiden nur einen
10-Prozent-Anteil haben. Aber es ist wahr: Wir stellen
uns auf eine globale Weltwirtschaft ein. Also müssen
wir den relevanten Markt in einem größeren Zusammenhang sehen.
Deshalb stellt sich die Frage: Wie können wir es ordnungsrechtlich hinbekommen, dass Wettbewerbskontrolle in unserem Sinne, im Sinne der sozialen Marktwirtschaft, auch in Europa funktioniert? Wie können wir
Wettbewerbskontrolle organisieren, die dann auch
weltweit funktioniert? Ich bin kein Anhänger eines
Weltkartellamtes, weil ich glaube, dass zusätzliche
transnationale Organisationen nicht unbedingt hilfreich
sind. Was wir aber zumindest brauchen, sind international abgestimmte Konventionen, die zwischen verschiedenen Kartellämtern kooperativ angegangen werden
müssen.
({4})
Da haben wir bisher noch nichts oder doch zu wenig.
Deshalb ist das ohne Zweifel eine der wichtigsten Zukunftsfragen überhaupt. Wenn sich die soziale Marktwirtschaft sozusagen weltweit etabliert, in einem weltwirtschaftlichen Zusammenhang agiert, brauchen wir
dafür einen angemessenen Ordnungsrahmen. Der fehlt
heute noch. Deshalb werden wir nicht nachlassen, in
diesem Sektor besonders aktiv zu sein.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss kommen. Ich glaube, dass wir keinen Anlass
haben, auf solche Fusionen ängstlich oder mit Angstkommunikation zu reagieren. Denken Sie einmal eine
Sekunde darüber nach - auch Frau Lötzer -, was passiert wäre, wenn dieser Strukturwandel nicht aktiv angegangen worden wäre. Was wäre eigentlich aus der
Dresdner Bank geworden? Das wäre doch der klassische
Übernahmekandidat für andere gewesen. Es ist wirklich
so: Wer zu spät kommt, den bestrafen die Märkte. Deshalb sind aktives Handeln, aktiver Strukturwandel, eine
Vorwärtsstrategie allemal besser. Ich persönlich habe
sogar den Eindruck, dass es eher ein bisschen spät ist,
wie im Bankensektor operiert wird, wie man sich hier
national auf den Weltmarkt einstellt. Da hätte man sich
etwas Früheres vorstellen können.
Deshalb noch einmal: Wenn wir keine alten Schlachten schlagen wollen, sondern den Menschen ernsthaft
helfen wollen und uns als Politik nicht überheben wollen, muss man sagen: Es gibt eine große Chance. Wir
drängen auf Fairness. Wir wollen, dass die Menschen in
diesem Prozess des Strukturwandels nicht untergehen.
Deshalb drängen wir auf Fairness. Wir drängen auch
darauf, dass man bei diesem Strukturwandel die Arbeitnehmer mitnimmt und sie in den Integrationsteams gestalten lässt. Wir werden natürlich dafür sorgen, dass wir
einen Ordnungsrahmen bekommen, der den neuen Herausforderungen der Weltwirtschaft gerecht wird.
Ein letzter Satz: Herr Brüderle, Sie können sich erinnern. Sie hatten in einer anderen Funktion, noch als
Wirtschaftsminister des schönen Landes RheinlandPfalz, eine Bundesratsinitiative zur Begrenzung der Beteiligungen gestartet. Sie ist damals leider von der alten
Bundesregierung abgelehnt worden. Offensichtlich sind
die Akteure heute klüger als die alte Bundesregierung,
denn heute ist bei der Allianz und der Deutschen Bank
eine 5-Prozent-Begrenzung vorgenommen worden. Ich
finde, es ist der richtige Weg, diese Begrenzung vorzunehmen. Ich kann nicht verstehen, warum man damals
Herrn Brüderle so hat im Regen stehen lassen.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist
der Kollege Hans Michelbach für die Fraktion der
CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die CDU/CSU-Fraktion steht für eine Stärkung und
Fortentwicklung der sozialen Marktwirtschaft. In diesem
Sinne begleiten wir die aktuellen Entwicklungen unserer
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Hierzu gehört
die Globalisierung der Märkte, die mehr Chancen und
Vorteile als Risiken und Nachteile entwickeln kann.
Allerdings: Mit diesem Prozess der Globalisierung
verbinden viele Bürger Probleme und Sorgen, insbesondere die Sorge über die Zukunft des Mittelstandes. Meine Damen und Herren, diese Sorgen und Probleme müssen wir ernst nehmen. Die Politik hat dabei die Aufgabe,
einen funktionierenden Wettbewerb
({0})
und vor allem Chancengerechtigkeit
({1})
zu garantieren. Probleme, Herr Kollege Lennartz, dürfen
nicht zugekleistert werden.
({2})
Welche Ausgangslage haben wir? Die immer engere
Verflechtung der Märkte ist ja zunächst das Ergebnis
enormer Innovationsschübe, resultierend aus der Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnik. Dabei hat der globale Wettbewerb die Suche nach
neuen und besseren Lösungen sicher ungeheuer beschleunigt. Dieser Wettbewerb kann ein gigantischer
Motor für Fortschritt und Wohlstand sein. In diesem
Sinne ist auch diese Megafusion sicher zu akzeptieren.
Sie ist ein Reflex auf die veränderten Standort- und
Strukturbedingungen. Angesichts der Größenordnung ist
Euphorie aber sicher fehl am Platze. Dabei muss es das
Rollenverständnis der Politik sein, auf die Einhaltung
der sozialen Marktwirtschaft, die Wettbewerbsgleichheit
und die Auswirkungen auf unsere demokratische Gesellschaft zu achten.
Folgende Kriterien halte ich deshalb für wichtig:
Chancengleichheit am Markt, keine einseitige direkte
Einflussnahme auf die Politik, Überprüfung der Industriebeteiligungen auf eine marktbeherrschende Stellung,
kartellrechtliche Überprüfung des deutschen Finanzmarktes durch die bundesdeutsche Kartellbehörde,
Überprüfung der Auswirkungen auf die Finanzierung
mittelständischer Unternehmen, der gemeinschaftsweiten Bedeutung durch die Fusionskontrollbehörden der
Europäischen Kommission, der sozialen Verantwortung
gegenüber den Arbeitnehmern und nicht zuletzt - das ist
für mich eine Kernfrage - der Frage, ob für die Megafusion Finanz- und Steuergeschenke des Staates benötigt
werden.
Weder die wettbewerbsverzerrenden Subventionen
für Philipp Holzmann noch einseitige Steuergeschenke
für große Kapitalgesellschaften sind gerecht und dienen
der Akzeptanz unserer sozialen Marktwirtschaft. Die
einseitige Begünstigung durch die rot-grüne Regierung
in der Steuerpolitik darf eben nicht zum Fusionsfieber
und zur angeheizten Konzentrationsförderung
({3})
zulasten anderer Marktteilnehmer, insbesondere des
Mittelstandes führen.
({4})
So ist durch die Bundesregierung vorgesehen, den Veräußerungsgewinn von Kapitalgesellschaften steuerfrei
zu stellen, jedoch den - meist mittelständischen - Personengesellschaften den vollen Steuersatz zuzumuten. Ist
das chancengerecht?
({5})
Das ist ein willkürlicher und ungerechter Eingriff in die
Marktbedingungen, der zu ökonomischen und wettbewerbsrechtlichen Verzerrungen führt. Es kann doch
nicht sein, Herr Lennartz, dass Herr Großbank in Frankfurt seine Veräußerungsgewinne unversteuert vereinnahmt und Herr Handwerker in Frankfurt seinen Veräußerungsgewinn voll versteuern muss.
({6})
Auch die einseitige Begünstigung des nicht entnommenen Gewinns wird eine weitere Konzentrationswelle
nach sich ziehen. Die Kapitalgesellschaften, die ihren
Gewinn nicht ausschütten, werden weitere Beteiligungen erwerben, um eine steuerschädliche Ausschüttung
zu vermeiden. Eine solche Ungleichbehandlung und
Chancenungerechtigkeit lehnen wir von der Unionsfraktion ab.
Zur Rückbesinnung auf die Grundlagen der sozialen
Marktwirtschaft gehört für uns eben auch die Rückbesinnung auf die ethischen Grundlagen. Die soziale
Marktwirtschaft lebt von den Werten, Überzeugungen
und Grundeinstellungen jedes Einzelnen.
({7})
- Wenn Sie an dieser Stelle dazwischenrufen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, muss ich Ihnen
sagen: Seit Ihrer Regierungsbeteiligung haben Sie Ihre
Sensibilität für die wichtigen Fragen der Marktwirtschaft offenbar an der Garderobe abgegeben.
({8})
War früher ein normaler wirtschaftspolitischer Vorgang
für Sie absolutes Teufelszeug, verantworten Sie heute in
der Steuerpolitik eine einseitige Förderung zugunsten
der Konzentration der Wirtschaft, die eine ganzheitliche
Konzeption der Ordnungspolitik vermissen lässt. RotGrün geht den wirtschaftspolitischen Weg vom Teufelszeug zum vorauseilenden Gehorsam.
Eine dauerhafte Verbeugung Ihres Bundeskanzlers
vor den Konzernpalästen ist absolut kontraproduktiv für
die soziale Marktwirtschaft.
({9})
Wir haben die Auffassung, dass die Väter der Marktwirtschaft stets gegen eine Konzentration der Wirtschaft
waren. Damit haben sie letzten Endes mehr Wettbewerb,
mehr Mittelstand und eine breite Förderung aller Marktteilnehmer erwirkt. Das einseitige Faible Ihres Kanzlers
für Großbetriebe als „Genosse der Bosse“
({10})
dient nicht der Unternehmenskultur und der Erhaltung
des Wettbewerbs in Deutschland. Er sucht den Glanz der
Größe. Dagegen sind wir nicht für die Diskriminierung
des Mittelstandes, sondern für die Förderung aller Unternehmen gleichermaßen sowie für Wettbewerbs- und
Chancengerechtigkeit in unserer Marktwirtschaft.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Klaus Lennartz [SPD]: Wer hat denn jetzt für
die CDU gesprochen, Sie oder Herr Ost? Gegenrufe von der CDU/CSU: Beide! - Klaus
Nächster Redner ist
der Kollege Matthias Berninger für die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Mehrere Dinge sind heute hier angesprochen worden.
Ich möchte mit der Bankenfusion anfangen. Ich glaube
wirklich, Frau Lötzer, wir alle tun weder den betroffenen Mitarbeitern der jetzt fusionierenden Banken noch
anderen Banken und Firmen am Wirtschaftsstandort
Deutschland einen Gefallen, wenn wir die Entscheidung,
vor der beide Banken objektiv gestanden haben, in der
Art und Weise abqualifizieren, wie Sie es tun, und wenn
wir einseitig Ängste wecken. Ich persönlich denke
durchaus - deshalb fange ich damit an -, dass die 16 000
Stellen, die abgebaut werden sollen, ein sehr ernstes
Thema sind. Es ist auch ein sehr ernstes Thema, wenn
Banken in Deutschland meinen, sie könnten ihre
Kunden in zwei Klassen einteilen: Die einen sind bei der
Deutschen Bank oder bei einer anderen gern gesehene
Kunden; die anderen Kunden möchte man nach Möglichkeit loswerden bzw. bei einer „Bank light“ oder bei
einer Retail-Bank unterbringen. Mir bereitet die Art und
Weise, wie das diskutiert wird, schon Probleme und Unbehagen.
Das andere Thema bereitet mir aber noch mehr Unbehagen, nämlich dass sich eine Reihe von Menschen,
die gerade einmal im Alter von 40 bis 45 Jahren sind,
mit ihren Familien sehr ernsthafte Sorgen darüber machen, was sie am Ende der Fusion eigentlich gewinnen
oder verlieren. Das ist nach Einschätzung der Bundesregierung einer der Hauptpunkte, über den wir uns Gedanken machen müssen. Es geht nicht, dass man die bei
uns ablädt, frei nach dem Motto: Die Großbanken machen die Fusion und die Politik kümmert sich um die
Verlierer.
({0})
- Genau, das geht nicht. Das muss an dieser Stelle klar
gesagt werden.
({1})
Es kommt darauf an, dass sich die neue Deutsche
Bank in dem Fusionsprozess zukunftsgewandt verhält.
Die Deutschen werden immer älter: In 20 Jahren ist die
Hälfte aller Arbeitnehmer älter als 40 Jahre. Es ist also
eine Herausforderung für ein Unternehmen wie die
Deutsche Bank, für die Mitarbeiter, die man an einer bestimmten Stelle nicht mehr braucht, andere Angebote zu
schaffen und dafür zu sorgen, dass sie so ausgebildet
sind, dass sie am neuen Markt eine Chance haben. Ich
glaube auch, dass die meisten Bankmitarbeiter nicht die
absoluten Verlierer auf dem Arbeitsmarkt sein werden.
Aber es ist die Aufgabe der Unternehmen, dafür zu sorgen, dass das auch eintritt.
({2})
Dennoch werden für den Standort Deutschland weitere Fusionen nach dem Vorbild der jetzigen Fusion unabwendbar sein. Das hängt damit zusammen, dass die
Filetstücke der beiden jetzt fusionierenden deutschen
Banken aufgekauft worden wären, wenn sie nicht selber
fusioniert hätten. Die Dresdner Bank war ein klassischer
Übernahmekandidat. Es gibt noch weitere klassische
Übernahmekandidaten unter den deutschen Banken,
Stichwort „Commerzbank“. Wenn Sie sich die Kapitalrenditen anderer großer Banken der Welt anschauen nehmen Sie TS Lloyds als Paradebeispiel -, dann wissen
Sie, dass auch solche Banken verlieren, wenn sie sich
nicht neu ordnen. Wenn es keine Neuordnung gibt, dann
läuft die wirtschaftliche Entwicklung - das ist in anderen Branchen schon passiert; ich sage nur IT - am
Standort Deutschland vorbei.
({3})
Wir brauchen in Deutschland, insbesondere in Frankfurt, starke Banken. Ohne diese starken Banken wird
Frankfurt nicht der zentrale Finanzplatz in Deutschland
bleiben können. Wir haben eine Riesenchance, weil die
Engländer der Meinung sind, dass sie den Euro nicht
brauchen. Deutschland hat mit dem Bankenplatz Frankfurt eine Stärke. Aber diese Stärke bleibt nur erhalten,
wenn auch die deutschen Banken bereit sind, sich der
neuen Entwicklung anzupassen. Insoweit ist der Schritt
richtig, den man mit der jetzigen Fusion geht.
Es wurde auch schon das Thema der Entflechtung
angesprochen. Wir sind uns alle einig darüber, dass es
vernünftig ist, dass Allianz, Deutsche Bank und Dresdner Bank nicht verworren miteinander verflochten sind
und dass man versucht, unterhalb einer 5-prozentigen
Beteiligung zu bleiben. Ich weiß nicht, ob sich die Deutsche Bank einen Gefallen damit getan hat, ausgerechnet
so ein Filetstück wie DWS an die Allianz abzugeben.
Der Aktienkurs scheint zu zeigen, dass diese Entscheidung nicht so toll war. Aber der entscheidende Punkt ist:
Diese Entflechtung ist richtig. Die Bundesregierung
sorgt mit ihren Vorschlägen zur Steuerreform dafür,
dass das Geld nicht irgendwo liegen bleibt und dass sich
die Unternehmen auf das Geschäft konzentrieren, von
dem sie eine Ahnung haben.
({4})
- Herr Michelbach, es nützt weder mir noch dem Standort Deutschland etwas, wenn die deutschen Unternehmen ihre alten Beteiligungen behalten, weil sie fürchten,
bei einem Verkauf Steuern zahlen zu müssen, und ihr
Kapital nicht in die neuen Märkte investieren.
({5})
Es geht nicht nur um die Frage, inwieweit sich Deutsche Bank und andere große deutsche Banken an mittelständischen Unternehmen beteiligen, sondern auch darum, wann sie bereit sind, in den neuen Markt in einer
vernünftigen Form zu investieren. Hier ist Deutschland
hintendran.
Ich kann Ihnen zu Herrn Rüttgers und zur CSU nur
eines sagen: Ihre Politik der Angst- und Panikmache
gegen die von uns beabsichtigte Einführung einer
Green Card, die wesentlich wichtiger als viele andere
Maßnahmen ist, auch wichtiger als ein bisschen niedrigere Steuern für die Entwicklung des neuen Marktes,
führt genau dazu, dass Deutschland an dieser Stelle zum
Verlierer wird.
Ich wünschte mir, dass Herr Rüttgers im Wahlkampf
das sagt, was er als Minister auch mir persönlich gesagt
hat, nämlich dass er für die Einführung der Green Card
ist. Als so genannter Zukunftsminister war er überhaupt
nicht dagegen, sondern hat eine völlig andere Politik
gemacht. Ich wünschte mir von der CSU, die sich hingestellt hat und gesagt hat, sie wolle Laptop und Lederhose
miteinander in Verbindung bringen, dass sie endlich
aufhört, bei den Menschen Ängste zu wecken.
({6})
Der Standort Deutschland braucht eine komplette
Neuordnung. Dazu gehört, dass die Banken sich neu
ordnen. Dazu gehört auch, dass wir am neuen Markt eine Chance haben und somit nicht die Verlierer sind.
Ferner gehört dazu, dass die Europäer insgesamt ein
Selbstbewusstsein entwickeln, und dazu gehört vor allem, dass die Opposition aufhört, bestimmte politische
Handlungen der Bundesregierung in kleinkarierter Weise derart kaputtzureden, wie Sie das tun.
({7}) - Hans Michelbach [CDU/
CSU]: Da hat doch niemand etwas dagegen!
Dazu brauchen wir aber keine Steuergeschen-
ke zu machen!)
Als nächste Rednerin
hat das Wort die Kollegin Dr. Christa Luft, PDS.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Der Vorgang, den wir hier
debattieren, ist nicht nur spektakulär, sondern von seinen
gesellschaftsverändernden und insbesondere sozialen
Konsequenzen her höchster politischer Aufmerksamkeit
wert.
({0})
Da kann man, Herr Kollege Lennartz, nicht einfach
sagen: „Unter Globalisierungsbedingungen ist das mit
den Fusionen nun einmal so!“ Dann könnte sich die Politik gleich abmelden,
({1})
wenn sie immer nur das nachvollziehen würde, was in
der Wirtschaft und auf den Märkten vorgegeben wurde.
({2})
Natürlich, Frau Kollegin Wolf, ist es wichtig, dass Politik Mut macht. Aber bevor Politik Mut machen kann,
muss sie die Fakten zur Kenntnis nehmen. Dies hat noch
nichts damit zu tun, dass man Strukturkonservatismus
betreibt oder Ängste schürt.
Ich will hier nur zwei Fakten ansprechen. Erstens. Es
ist doch unübersehbar, dass eine Finanzweltmacht im
Entstehen ist. Nun können die einen sagen: Das ist doch
schön für den Standort Deutschland. Aber ich sage: Wir
müssen doch zumindest ein anderes Faktum zur Kenntnis nehmen, nämlich dass die Größe eines Unternehmens zugleich politische Macht bedeutet. Was passiert
denn eigentlich, wenn ein solcher Koloss ins Schleudern
gerät? Dann entstehen offenbar viele neue „Holzmänner“, nur im Großformat. Dies wird weiter zulasten von
kleinen und mittleren Wettbewerbern gehen.
({3})
„Die Zeit“ aus Hamburg hat kürzlich gefragt:
Welcher Bundeskanzler geht nicht ans Telefon,
wenn ihn der Vorstandsvorsitzende der größten
Bank der Welt nur mal so anruft?
({4})
Welcher Finanzminister greift nicht zum Hörer,
wenn der Vorstandsvorsitzende einer großen Bank
die Politik des Bundes mit einem Fragezeichen versieht?
Geht der Bundeskanzler auch ans Telefon, frage ich,
wenn ein Sparkassenchef anruft? Geht der Bundeskanzler auch ans Telefon, wenn ein Mittelständler anruft?
Im Übrigen: Wenn hier ein solches Hohelied auf die
Sparkassen gesungen wird - ich stimme in dieses Hohelied ein -, frage ich mich, ob es zu der Einsicht hinsichtlich der Rolle der Sparkassen und der öffentlichrechtlichen Banken erst dieser Großfusion bedurfte.
({5})
Ich kann mich daran erinnern, dass in Sachsen die
Privatisierung der Sparkassen läuft. Dies hat in der Politik bisher keinerlei Aufsehen erregt.
({6})
Ich bin schon dafür, dass wir uns darauf einigen, die
Rolle der Sparkassen zu festigen. Dazu bedurfte es aber
nicht dieser Großfusionierung.
({7})
Zweitens. Wir dürfen ein weiteres Faktum, wie es
hier bereits anklang, nicht außer Acht lassen. Wir haben
im deutschen Bankensystem eine bis dato unvorstellbare
Veränderung zur Kenntnis zu nehmen. Das neue Institut
wird sich auf das internationale Investment-Banking
konzentrieren und den Sparern mit Einlagen von weniger als 200 000 DM über kurz oder lang den Stuhl vor
die Tür setzen. Künftig soll man einen Sparer, der über
gewisse finanzielle Ressourcen verfügt, daran erkennen,
welche Scheckkarte er in der Hand hat. Wohin sind wir
denn gekommen? Muss das nicht politische Aufmerksamkeit erfahren?
({8})
Das sind doch unwägbare Entwicklungen. Ich muss
mich dagegen wehren, dass Sie immer alles gleich als
Chance und nur als Chance betrachten. Es gibt auch andere Tendenzen und denen muss ich politisch begegnen.
Die Chancen setzen sich von alleine durch, indem die
Menschen die Chancen ergreifen. Die Politik dagegen
hat die Aufgabe, vor den Risiken nicht nur zu warnen,
sondern die Weichen so zu stellen, dass sich die Chancen tatsächlich für alle entwickeln können.
({9})
Um diesen unwägbaren Entwicklungen einen sozialverträglichen Ausweg zu bahnen, fordert die PDS - einige dieser Forderungen sind zu meinem Erstaunen auch
von der rechten Seite dieses Hauses gekommen - gesetzliche Maßnahmen, damit Fusionen nicht zu Arbeitsplatzvernichtungsprogrammen werden. Die Interessen
der Beschäftigten sind stärker zum Maßstab zu machen,
wenn Großkonzerne entstehen. Der Mensch darf - das
muss man doch einmal sagen dürfen - nicht auf eine
Humanressource schrumpfen, die ersetzt wird, wenn sie
sich nicht mehr rechnet.
Wir fordern, darauf hinzuwirken, dass im Bankenwesen freigesetzte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
mit informations- und telekommunikationsnahen Berufen für die IT-Branche nachqualifiziert werden. Wir fordern, die Existenzberechtigung des öffentlich-rechtlichen Bankensektors, also auch der Sparkassen, zu akzeptieren. Die Politik muss sich dazu öffentlich bekennen, damit der Mittelstand und die Fläche auch künftig
angemessen mit Finanzdienstleistungen versorgt werden
können.
Wir fordern die Bundesregierung auf, ihre Pläne zur
Steuerbefreiung bei der Veräußerung von Beteiligungspaketen der Banken und Versicherungen zu korrigieren.
Wir fordern, dass in der Europäischen Union durch die
Bundesregierung Initiativen zur Schaffung eines europäischen Kartellrechts ergriffen werden.
Danke schön.
({10})
Es spricht jetzt der
Kollege Dr. Rainer Wend für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Herr Ost, natürlich haben Sie Recht, wenn Sie der PDS
vorwerfen, dass sie nur eine Angstkampagne schüren
will, um Wählerstimmen zu gewinnen. Natürlich haben
Sie Recht, wenn Sie ihr Vulgärmarxismus vorwerfen.
Dazu muss ich Ihnen aber Folgendes sagen: Wenn Sie
schon der PDS Vulgärmarxismus vorwerfen, müssen Sie
Ihren geschätzten Kollegen Michelbach mit seinen
Vorwürfen, Schröder sei der Genosse der Bosse oder
({0})
unser Steuerrecht würde die Monopolisierung der Wirtschaft fördern, als einen lupenreinen Vertreter der Kritik
am staatsmonopolistischen Kapitalismus bezeichnen.
({1})
Ich glaube, dann werden die Positionen von PDS und
Herrn Michelbach deutlich.
Aber auch in der Sache, Herr Michelbach, liegen Ihre
Äußerungen daneben. Sie sagen, durch unsere Steuerreform würden die Großbetriebe begünstigt. Das Gegenteil
ist richtig, Herr Michelbach. Richtig ist: Wir wollen,
dass der Eingangsteuersatz von 24,9 auf 19,9 Prozent
gesenkt wird. Wir wollen, dass der Steuerfreibetrag erhöht wird. Das sind Maßnahmen, die vor allen Dingen
kleinen Handwerksbetrieben helfen, die zum großen Teil
zu versteuernde Gewinne von weniger als 50 000 DM
pro Jahr erzielen.
({2})
Sie konzentrieren sich auf den Spitzensteuersatz, verehrter Herr Michelbach. Dessen Senkung hilft eben
nicht den Handwerksbetrieben. Sie hilft den Vermögenden. Deswegen ist unsere Steuerreform an den kleinen
Leuten orientiert, sehr geehrter Herr Michelbach.
({3})
Herr Brüderle, ich bin Ihnen für Ihren differenzierten
Beitrag sehr dankbar, dem ich in ganz großen Teilen
folgen kann. In einem Punkt kann ich ihm nicht folgen.
Darin geht es um die Landesbanken. Das wird Sie aber
nicht sonderlich überraschen, Herr Brüderle. Ich sage
Ihnen eines: Mittelstandsorientierung ist wichtig. Aber
wie viele mittelständische Betriebe, wie viele Arbeitsplätze in mittelständischen Betrieben gäbe es heute
schon lange nicht mehr, wenn nicht die Landesbanken
die Verantwortung wahrgenommen hätten, der Wirtschaft Strukturhilfen zu geben, um Arbeitsplätze im Mittelstand zu retten? Deswegen brauchen wir auch in Zukunft starke Landesbanken, Herr Brüderle.
({4})
Ich teile die Auffassung der Bundesregierung und
hoffe, dass wir Recht bekommen, dass die Chancen gegenüber den Risiken dieser Operation im Wesentlichen
überwiegen. Auf die Arbeitsplätze wurde hingewiesen.
Ich möchte nur noch eines hinzufügen: Auch nach Auffassung von HBV und DAG ist es so, dass unabhängig
von dieser Fusion etwa 200 000 von 700 000 Arbeitsplätzen im Bankengewerbe verloren gehen werden. Das
ist schmerzhaft. In anderen Ländern ist dieser Prozess
bereits vollzogen worden. Wir verlangen, dass dieser
Arbeitsplatzabbau, der kommen wird, nicht nur sozial
verträglich gemacht wird, sondern dass er entweder
durch tarifvertragliche Regelungen, Frau Lötzer, oder
mindestens durch Betriebsvereinbarungen begleitet
wird. Nur so sind die Interessen der Beschäftigten angemessen zu schützen.
({5})
Wenn ich über Risiken spreche, möchte ich noch etwas anderes sagen: Größe allein ist noch keine Erfolgsgarantie; manchmal ganz im Gegenteil, wenn man sich
BMW/Rover oder andere ansieht. Nur am großen Rad
mitdrehen zu wollen ist noch kein Konzept. Je größer
ein Unternehmen wird - die neue Deutsche Bank wird
riesengroß -, umso größer werden die Anforderungen an
den Vorstand, strategische Konzepte heranzuziehen, um
sich auf dem Weltmarkt zu behaupten. Das ist eine
schwierige Aufgabe.
Lassen Sie mich noch einmal etwas zu den Chancen
sagen:
Ein erster Punkt: Die neue Deutsche Bank nimmt in
der Tat Abschied vom Charakter einer Universalbank. In
Zukunft wird das Thema Investmentbank im Vordergrund stehen, das heißt der Handel mit Aktien, mit festverzinslichen Wertpapieren, mit Devisen, ebenso die
Beratung von Firmen bei Börsengängen, Verkäufen oder
Fusionen.
In diesem Investmentbanking-Bereich geben amerikanische Großbanken weltweit den Ton an und sogar
auf dem heimischen Markt haben sie klare Vorsprünge
vor den deutschen Banken. Deswegen glaube ich, diese
Fusion ist eine Chance, dass eine deutsche Großbank auf
Augenhöhe mit den amerikanischen Investmentbanken
in den Wettbewerb gehen kann und das ist gut so.
Ein zweiter Punkt zu den Chancen: Weltweit neue
Geschäftsfelder, E-Commerce, also der globale Handel
über den weltweiten Daten-Highway, erfordern verdammt hohe Investitionen, für die dieses fusionierte
Geldinstitut besser gerüstet ist.
({6})
Ich glaube, dass im globalen Wettbewerb die neue Deutsche Bank eben kein Übernahmekandidat ist, sondern
ihrerseits international Übernahmen mitgestalten kann
und auch das ist gut so.
Ein dritter Punkt. Es wurden Chancen für Sparkassen
und Volksbanken angesprochen. Wir sollten es positiv
sehen. Wenn unseren Sparkassen und Volksbanken neue
Geschäftsfelder im Privatkundenbereich und auch im
Bereich der mittelständischen und der kleinen Wirtschaft erschlossen werden - dort sind sie kompetent -,
dann ist es gut so, wenn sie auf diesem Weg weiter gestärkt werden. Wenn es um Existenzgründungen geht,
dann war es nie die Deutsche Bank, die im Vordergrund
stand - da hat der Staatssekretär völlig Recht -, sondern
dann waren es unsere Sparkassen und Volksbanken. Wir
gewinnen also nicht nur einen neuen Global Player, sondern auch neue Chancen für Volksbanken und Sparkassen.
Ich fasse zusammen: Die Fusion der Deutschen Bank
bildet einen Prozess, den letztlich die Politik gar nicht
aufhalten kann und auch nicht aufhalten sollte. Ich hoffe, unsere Bewertung und auch die Bewertung der Regierung ist richtig, dass die Chancen die Risiken überwiegen und dass der Wirtschaft- und Finanzstandort
Deutschland durch diese Fusion gestärkt wird.
({7})
Das Wort hat Kollege Thomas Strobl, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eine sozialpolitische Fragestellung an den Beginn meiner Ausführungen stellen.
Sind 16 000 wegfallende Arbeitsplätze nicht ein zu
hoher Preis für die Hochzeit zwischen Deutscher und
Dresdner Bank? Allein bei der Deutschen Bank 24 stehen mehr als ein Viertel der Jobs auf dem Spiel.
Betriebsräte, Gewerkschaften, Sozialdemokraten
müssten eigentlich entsetzt aufschreien.
({0})
Indessen: Es zeichnet sich auch heute eine erstaunlich
sachliche Auseinandersetzung ab. Das muss ja offensichtlich seine Gründe haben.
Erstens. Das Bankgewerbe kann es sich leisten, den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern großzügig entgegenzukommen. Aber ist es nicht auch so, dass die Beschäftigten schon seit langer Zeit wissen, dass die Strukturen im Bankgewerbe wie auch anderswo bereinigt
werden müssen?
800 von 2 500 Filialen sollen in den nächsten drei
Jahren geschlossen werden. Die Frage ist: Wie viele wären geschlossen worden, wenn die Fusion nicht gekommen wäre? Wer sagt eigentlich, dass nicht ohne die Fusion langfristig mehr Arbeitsplätze auf dem Spiel gestanden hätten?
Bill Gates hat schon vor längerem gesagt:
Banking is necessary, banks are not.
Also: Das Bankgeschäft ist auch in Zukunft notwendig;
die Banken brauchen wir aber nicht mehr. Finanzdienstleistungen stehen bei dem Gebrauch des Internet inzwischen an zweiter Stelle. Damit, ursprünglich auf das Internet, erst später auf die Globalisierung zurückgehend,
ist die Umstrukturierung auch im Bankenwesen zwingend determiniert.
Wenn dies wahr ist, ergeben sich andere Fragestellungen. Was ist uns lieber, eine globale, international
handlungsfähige Investmentbank mit deutschem Namen
auf deutschem Boden oder dasselbe mit ausländischem
Namen in Amerika mit einer Filiale in Deutschland?
Aber zur Haltung der rot-grünen Bundesregierung
möchte ich schon eine Bemerkung machen. Kollege
Michelbach hat richtigerweise darauf hingewiesen, dass
die Großfusionitis durch die Bundesregierung ja außerordentlich gefördert wird.
Sie müssen schon erklären, warum Sie Veräußerungsgewinne nur bei Kapitalgesellschaften und nicht
bei Personengesellschaften ab dem Jahr 2001 freistellen
wollen.
({1})
90 Prozent der Handwerksbetriebe sind eben keine
Kapitalgesellschaften. Diese werden dadurch, dass Sie
die Kapitalgesellschaften ungerechterweise privilegieren, benachteiligt. Hier sagen wir im Interesse
kleiner Unternehmen, des Mittelstandes, des Handwerks
und letztlich von Arbeitsplätzen: So geht es nicht!
({2})
Die rot-grüne Bundesregierung benachteiligt die
Kleinen, privilegiert die Großen und begünstigt steuerlich die Kapitalgesellschaften bei Anteilsverkäufen und
wundert sich dann, wenn die Großen immer größer werden und die Kleinen und die Mittleren an den Schwierigkeiten fast ersticken.
({3})
Das können wir Ihnen im Interesse des Mittelstandes
nicht durchgehen lassen.
({4})
Auf der anderen Seite hat die Frau Parlamentarische
Staatssekretärin beim Bundesminister der Finanzen auf
meine Frage in der letzten Woche hier im Plenum des
Deutschen Bundestages ein Unternehmensübernahmeregelungsgesetz angekündigt. Herzlichen Glückwunsch!
Damit wurde Folgendes angekündigt: Steuergeschenke
für die Kapitalgesellschaften, nichts übrig für den Mittelstand,
({5})
aber weiße Salbe für die Arbeitnehmervertreter, die Linken und die Gewerkschaften und ein neues bürokratisches Monstrum. Ich kann Ihnen hier und heute sagen:
Ein solches Gesetz im nationalen Alleingang zu machen
ist ziemlich unvernünftig, ähnlich unsinnig wie die Einführung der Ökosteuer im nationalen Alleingang.
({6})
Das Ergebnis ist nämlich, dass Deutschland im Vergleich zu den Nachbarländern wieder einmal Wettbewerbsnachteile erleidet. Eine erneute staatliche Reglementierung dieser Art gefährdet den Standort Deutschland und die Arbeitsplätze in Deutschland.
Herr Staatssekretär Mosdorf, Sie haben gesagt, dass
man mehr für Kreissparkassen und Volksbanken tun
sollte. Ich gebe Ihnen Recht. Sie sollten das aber nicht
nur beobachten - auch Frau Wolf hat von Beobachten
gesprochen -, sondern angesichts der Tatsache, dass den
Sparkassen schreckliches Ungemach aus Europa droht,
aktiv für unsere Sparkassen eintreten.
({7})
Sie sollten ferner dafür sorgen, dass die Gefahren, die
der Mittelstandsfinanzierung drohen, auch dadurch eingedämmt werden, dass wir zu einer großen und leistungsstarken bundesweiten Förderbank kommen.
Zum Schluss möchte ich der Bundesregierung sagen:
Hören Sie mit der einseitigen Privilegierung und Bevorzugung von Großunternehmen und Kapitalgesellschaften auf! Unterstützen Sie die mittelständischen und kleineren Betriebe im Interesse auch der Arbeitsplätze! Das
ist das beste Rezept für mehr Wettbewerb und gegen
ungute Marktkonzentrationen. Es ist letztlich auch das
richtige Rezept für mehr Arbeitsplätze. Daran wollte
sich der Herr Bundeskanzler jederzeit messen lassen.
Allerdings ist zu keinem Zeitpunkt, seitdem die rotgrüne Bundesregierung im Amt ist, hier etwas besser
geworden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Nächster Redner ist
der Kollege Hubertus Heil, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Strobl, es
ist immer wieder interessant, Ihr Weltbild kennen zu
lernen. Es war auch heute wieder der gesamte Gemischtwarenladen dabei.
({0})
Aber was Sie zum Übernahmegesetz erzählt haben,
zeugt, mit Verlaub, schlicht und einfach von Unkenntnis
der Regelungen, die es in anderen europäischen Ländern
gibt. Im Übrigen bestehen europaweit Harmonisierungsbestrebungen. Sowohl Frankreich als auch andere europäische Staaten - in Großbritannien gibt es zwar kein
Gesetz, aber Regelungen - wollen einen breiten Orientierungsrahmen, um Übernahmen rechtlich abzusichern.
Ich komme darauf gleich zurück.
Meine Damen und Herren, die Fusion von Deutscher
und Dresdner Bank bewegt die Gemüter nicht nur an
den Börsen, sondern auch heute hier. Wir wollen eine
realistische Sicht auf die Dinge haben. Wir wollen sowohl die bestehenden Sorgen ernst nehmen als auch den
Blick auf die Chancen nicht verlieren. Das heißt für uns
Politiker, dass wir aufgrund einer solchen Analyse
Schlüsse ziehen müssen und auch Anforderungen an die
neuen Vorstände der fusionierten Bank zu stellen haben.
Lassen Sie mich einige Ausführungen zu den Ängsten machen, die durch die Fusion entstanden sind. Frau
Kollegin Lötzer, Frau Dr. Luft, ich bin nicht der ÜberThomas Strobl
zeugung, dass es besonders gut ist, hier Ängste zu schüren und ein billiges Süppchen zu kochen. Als diese Fusion öffentlich wurde, dachte ich mir schon, dass wir eine Aktuelle Stunde bekommen und die PDS so reagieren
wird, wie man es eben erwartet: mit einem pawlowschen
Reflex, mit dem Sie sozusagen den Untergang des
Abendlandes beschreiben. Das zu tun ist natürlich Unsinn.
Trotzdem gibt es bei den Beschäftigten Ängste.
({1})
- Sie müssen sich einmal selbst zuhören, dann würden
Sie das in Ihren Zwischenrufen feststellen können.
({2})
- Ich kann lesen; ich kann aber vor allen Dingen hören
und ich habe vorhin ganz genau zugehört, Frau Kollegin. Sie haben das offensichtlich nicht getan.
Wie gesagt, die Ängste der Beschäftigten und auch
die der Bankkunden sind ernst zu nehmen; das ist vollkommen richtig. Privatkunden mit geringen Einlagen
befürchten eine Ausdünnung des Kundennetzes und die -
das ist mehrfach gesagt worden - mittelständischen
Unternehmen die befürchten zurückgehende Möglichkeiten der Kreditfinanzierung.
Zwei andere ordnungspolitische Bedenken sollte man
nicht vom Tisch wischen; vielmehr sollte man sich mit
ihnen auseinander setzen. Es gibt natürlich das Bedenken, dass durch stärkere Konfrontation auf den Finanzmärkten eine Wettbewerbsgefährdung stattfinden könnte. Es gibt auch die Befürchtung, dass sich durch stärkere Verflechtungen Geschäftsrisiken einzelner Banken
zukünftig bis hin zu internationalen Krisen auswachsen
können. Diese Bedenken sind tatsächlich vorhanden.
Nur, die Alternative ist nicht, einfach „njet“ zu sagen,
meine Damen und Herren von der PDS, sondern darauf
zu achten, dass man mit diesen Bedenken vernünftig
umgeht und Regelungen schafft, mit denen Chancen genutzt und Risiken minimiert werden.
({3})
Lassen Sie mich etwas zu den Chancen sagen. Ich
habe von der PDS keinen einzigen Satz zum Thema
„Perspektiven und Chancen“ gehört, auch wenn es sie in
dieser Geschichte offensichtlich gibt. Demgegenüber
müssen wir sehen, dass für den Finanzplatz Deutschland
Vorteile entstanden sind, die diese Fusion und der Strukturwandel im Bankenbereich insgesamt mit sich bringt.
Deutschland hat durch diese Fusion einen „First Player“
auf dem europäischen und auf dem globalen Finanzmarkt, der für den internationalen Wettbewerb gut
positioniert ist. Es ist auch nicht zu vernachlässigen,
dass der Finanzplatz Frankfurt am Main vor allen
Dingen gegenüber der Konkurrenz der City of London
gestärkt wird. Was kann man eigentlich dagegen haben?
Für den Standort Deutschland ist es auch wichtig,
dass mit der neuen Deutschen Bank im Bereich der
Vermögensverwaltung eine schlagkräftige Assetmanagement-Bank entsteht. Da die Kollegin Wolf es vorhin
schon sehr deutlich gesagt hat, möchte ich nur kurz andeuten: Es ist auch so, dass die so genannte Deutschland
AG in der Struktur ihrer Querbeteiligungen und Querverstrebungen, die wir jahrelang beklagt haben, endlich
aufgebrochen wird.
Meine Herren von der CDU, uns geht es eben nicht
darum, diese Beteiligungen zu konservieren; vielmehr
müssen wir uns darüber unterhalten, wie man die Strukturen aufbricht. Die Unternehmensteuerreform ist ein Instrument, um verkrustete, ordnungspolitisch bedenkliche
und innovationshemmende Querbeteiligungen aufzubrechen.
({4})
- Herr Kollege Michelbach, Sie haben vorhin so einen
Unsinn geredet; deshalb reagiere ich jetzt nicht auf Ihren
Zwischenruf, zumal mir die Zeit wegläuft.
Ich glaube, meine Uhr läuft hier vorne ab. Ist das
richtig?
({5})
Sie haben noch ein
bisschen Zeit; aber Sie müssen langsam zum Ende
kommen.
Wir haben an das neu entstehende Unternehmen bestimmte Erwartungen. Wir erwarten eine partnerschaftliche Steuerung der Fusion, so
wie sie angekündigt wurde, wobei die Beschäftigten des
kleineren Partners nicht zum Verlierer werden dürfen.
Wir erwarten eine sozialverträgliche Umsetzung der Fusion. Auch das ist angekündigt. Wir werden da sehr genau hinschauen.
({0})
Dazu gehört, dass - wo immer möglich - betriebs- und
fusionsbedingte Kündigungen vermieden werden bzw.
Möglichkeiten für Beschäftigungszugänge geschaffen
werden.
Die Sicherung von Mitbestimmung, Tariftreue und
die Einhaltung der Anforderungen des Betriebsverfassungsgesetzes sind für uns ebenfalls unerlässlich.
Ich muss deutlich sagen: Wir als Vertreter der Politik
haben natürlich Aufträge aus solchen Entwicklungen
mitzunehmen. Dazu gehört, dass wir uns über einen internationalen Ordnungsrahmen Gedanken machen müssen.
({1})
- Da haben Sie ja einmal etwas Vernünftiges gesagt,
Herr Michelbach. Ausnahmsweise: herzlichen Glückwunsch!
Wir brauchen auf jeden Fall eine bessere Zusammenarbeit der Kreditaufsichten. Wir müssen uns im Hinblick
auf die Bank-Assecurance, die durch die Zusammenarbeit von Allianz und Bank 24 entsteht, darüber unterhalten, wie wir Versicherungsaufsicht und Kreditaufsicht
besser miteinander verzahnen. Ich halte das für unerlässlich.
({2})
- Was heißt hier „Hört! Hört?“ Was haben Sie denn in
den letzten Jahren in diesem Bereich gemacht? Fehlanzeige!
Zum Schluss, meine Damen und Herren von der
PDS: In der wirtschaftlichen Globalisierung, auch in der
Globalisierung der Finanzmärkte, stecken ungeheure
Chancen für Wachstum und Beschäftigung. Nur wenn
Politik für einen neuen Ordnungsrahmen sorgt, dann
können wir diese Chancen nutzen. Was Sie machen wollen, ist, sich vor einen fahrenden Zug zu stellen.
({3})
Das ist nicht gesund. Es geht darum, die Weichen für
diesen Zug vernünftig zu stellen und dafür zu sorgen,
dass wir die Chancen der Globalisierung nutzen.
({4})
Wir tun das und dabei könnten Sie uns eigentlich unterstützen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Für den Kollegen
Heil und alle anderen Kolleginnen und Kollegen stelle
ich fest: Die Uhr läuft immer ab.
Herr Kollege Gunnar Uldall, Sie sind jetzt der nächste Redner für die CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das eigentlich Erstaunliche an
dieser Fusion ist, dass, wenn ich von den Beiträgen von
Frau Lötzer und Frau Luft sowie von kleinen Nuancen
absehe,
({0})
im Grunde genommen alle diese Fusion begrüßt haben.
Das ist völlig neu. Ich stelle mir vor, was Frau Wolf gesagt hätte, wenn sie ihre Rede vor einigen Jahren gehalten hätte. Liebe Frau Wolf, damals waren die Großbanken Ihre Lieblingsgegner.
({1})
- Genau, da wären Sie auf die Straße gegangen und hätten dagegen gekämpft.
Zu erinnern ist auch daran, welche Attacken der heutige Staatsminister im Bundeskanzleramt, Herr Bury,
hier im Parlament gegen die Verflechtung von Finanzdienstleistern geritten hat.
({2})
Er hätte es damals gar nicht verkraftet, dass es, wie jetzt
geschehen, nicht nur zu einer Verflechtung, sondern sogar zu einer Fusion kommt.
({3})
Man sieht: Wenn man einen Dienstwagen erhält, dann
sieht die Welt in vielen Bereichen etwas anders aus.
({4})
Man kann sich nicht gegen die Entwicklung auf den
Märkten und in der Welt stemmen. Es gibt zwei Gründe,
weswegen diese Fusion von unserer Fraktion begrüßt
wird: Sie ist eine Antwort zum einen auf die zusammengewachsenen Weltmärkte und zum anderen auf ein völlig anderes Kundenverhalten.
Zunächst zu den Weltmärkten. Von meinem Kollegen
Ost ist schon ausführlich geschildert worden, wie sich
die Situation auf den Weltmärkten strukturell verändert
hat. Man kann in diesem Zusammenhang sagen: Diese
Fusion ist keine Aktion, um die Macht der Banken auszubauen, sondern eine Reaktion, um deren Position im
internationalen Finanzgeschäft zu sichern. Gegen eine
solche vernünftige Reaktion können wir uns vonseiten
der Politik nicht wenden.
Zum Kundenverhalten. Wir können die Kunden nicht
veranlassen, sich anders zu verhalten. Heute holt man
sich sein Geld nicht mehr am Kassenschalter der Bank,
sondern am Automaten. Es gibt das Homebanking, um
per Internet Überweisungen vorzunehmen.
({5})
Bei Direktbanken kann man seine Wertpapiere kaufen,
Herr Kollege Dr. Rössel.
({6})
Schecks sind aus dem deutschen Wirtschaftsleben fast
verschwunden.
Wenn ein solch tief greifender Wandel des Kundenverhaltens eintritt, dann muss eine verantwortungsvolle
Unternehmensleitung natürlich darauf antworten. Das ist
durch Zusammenschluss dieser beiden Banken geschehen. Nur, eines darf nicht geschehen, nämlich dass die
Politik solche Wandlungen des Verhaltens der Kunden,
das zu betriebswirtschaftlichen Konsequenzen führt,
versucht zu unterlaufen und zu verbieten.
Frau Luft, an diesem Fehler ist damals die Wirtschaft
der DDR, gescheitert. Sie haben keinen Strukturwandel
zugelassen. Das Ergebnis waren eine hohe Arbeitslosigkeit
({7})
und das Fehlen von Konkurrenz sowie die Unfähigkeit
der Betriebe der früheren DDR, damit umzugehen. Einen ähnlichen Fehler vermeiden wir nur dadurch, dass
wir eine angemessene Reaktion rechtzeitig zulassen.
Mehrfach ist der Aspekt des Wettbewerbs angesprochen worden. Dazu ist festzustellen: Der Wettbewerb
auf den Finanzmärkten wird durch diese Fusion nicht
eingeengt, sondern in den nächsten Monaten und Jahren
noch schärfer werden. Wir haben ein sehr leistungsfähiges Sparkassen-, Volksbanken- und Raiffeisenbankenwesen.
({8})
Es gibt Auslandsbanken, die in diesem Wettbewerb mithalten. Der Marktanteil dieser neuen großen Finanzinstitution wird unter 10 Prozent liegen. Das ist ein geringerer Marktanteil, als ihn zum Beispiel VW oder Opel haben.
({9})
Kein Mensch würde sagen: Weil es in Deutschland ein
Unternehmen wie VW oder Opel gibt, ist plötzlich der
Wettbewerb in Deutschland beeinträchtigt.
Ich mache mir also hinsichtlich des Wettbewerbes
überhaupt keine Sorgen. Ich glaube, dass der Wettbewerb weiter an Intensität gewinnen wird, und zwar in
einem solchen Maße, dass es für die Kunden und letztlich auch für die Mitarbeiter zu positiven Auswirkungen
kommt.
Ich meine, dass die Geschäftsführung dieser neuen
großen Bank gut beraten ist, wenn sie versucht, die notwendige enorme Änderung der Unternehmenskultur
zweier gewachsener Unternehmen nicht gegen die Mitarbeiter, sondern mit den Mitarbeitern durchzuführen.
Das wäre positiv für das Unternehmen; es wäre aber
auch positiv für die wirtschaftliche Entwicklung in
Deutschland insgesamt. Wenn man nämlich zu abrupt
den Strukturwandel zulässt und durchführt, dann führt
dies zu mangelnder Akzeptanz für einen solchen Strukturwandel. Deswegen liegt es im Interesse der Bankenlandschaft insgesamt, dass dieser Strukturwandel in den
betreffenden Unternehmen in einer angemessenen Form
durchgeführt wird.
Wir haben jetzt in Deutschland mit Frankfurt den führenden Finanzplatz Europas; darauf können wir stolz
sein. Dort ist bereits die Europäische Zentralbank. Auch
das größte Bankinstitut der Welt wird dort ansässig sein,
was sich nicht nur positiv auf den Finanzmarkt, sondern
auch auf alle Unternehmen in Deutschland auswirkt.
Deswegen begrüßen wir diese Entwicklung.
Ich möchte als Schlusssatz Jürgen Jeske, Mitherausgeber der „FAZ“, zitieren. Er hat die Situation so zusammengefasst: Die neue Bank ist eine europäische
Antwort auf die globalen Herausforderungen.
({10})
Letzter Redner in
dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Christian Lange
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke,
die Aktuelle Stunde zeigt: Das Koordinatensystem von
CDU und CSU ist etwas aus den Fugen geraten. Die
Debatte eignet sich offensichtlich nicht mehr so richtig
für Klassenkampf - weder von links noch von rechts.
({0})
Auch das ist ein Ergebnis dieser Fusion. Am 1. Juli 2000
ist es so weit. Die Fusion ist dann, wie gesagt, eine gemachte Sache.
Der Zusammenschluss der beiden Banken bietet große Chancen für die deutsche Wirtschaft. Die fusionierte
Bank wird nun eine starke Rolle auf den internationalen
Finanzmärkten spielen. Das, Herr Uldall, können wir in
der Tat nur begrüßen. Ich denke, dass dieser Schritt angesichts der Entwicklung der Bankenwelt in Asien, in
den USA und in Frankreich notwendig war, um mittelbis langfristig die Wettbewerbsfähigkeit unserer Institute
zu sichern. Letztlich wird dieser Zusammenschluss auch
zu einer Sicherung des Standortes Deutschland insgesamt beitragen.
Die Fusion hat - auf diesen Punkt wurde schon mehrfach hingewiesen - allerdings auch eine beschäftigungspolitische Dimension. Die beiden Banken beabsichtigen,
weltweit 16 000 Arbeitsplätze zu streichen, davon rund
14 000 in der Bundesrepublik. Unsere Sorge gilt deshalb
- ich sage das an dieser Stelle ganz betont - auch den
14 000 Beschäftigten und ihren Familien. Ich appelliere
deshalb an die Banken, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Als Sozialdemokrat sage ich den Beschäftigten: Wir
sind an Ihrer Seite.
({1})
Als einen Schritt in die richtige Richtung werte ich
deshalb die gemeinsame Erklärung der Vorstände beider
Banken gegenüber den Betriebsräten, die Fusion und Integration nur partnerschaftlich und letztlich sozialverträglich voranbringen zu wollen, das heißt: entweder
durch tarifvertragliche Regelungen oder durch Betriebsvereinbarungen. Auch das ist eine Tatsache, die man bitte einmal zur Kenntnis nehmen sollte.
({2})
Die Banken - ich hoffe: wir alle - haben aus der
Holzmann-Affäre gelernt. Auch die Banken müssen sich
ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung stellen.
Wenn sie das nicht tun sollten, werden wir dafür Sorge
tragen. Das zeigt sich darin, dass der Bundeskanzler die
Suche nach einem „Code of Best Practice“ in Form von
Corporate-Governance-Grundsätzen - das Übernahmegesetz haben Sie selbst schon erwähnt - unterstützt.
({3})
All dies befindet sich auf dem Weg. Das ist ein Grund
zur Freude und ein Grund, die Arbeit der Bundesregierung anzuerkennen.
({4})
Daran können Sie im Übrigen ersehen, dass wir bei der
Fusion nicht einfach zuschauen. Wir wollen sie vielmehr
zum Wohle der Beschäftigten und zum Wohle einer florierenden Wirtschaft gestalten.
({5})
Deshalb ist es wichtig, dass man nicht Horrorszenarien entwirft, sondern bei der Wirklichkeit bleibt. Die
geplante Expansion der neuen Großbank wird viele
hochqualifizierte Arbeitsplätze entstehen lassen, die einen Teil der abgebauten Stellen wieder wettmachen.
Konkurrierende Kreditinstitute, die sich stärker dem
Kundengeschäft widmen, werden von diesem Zusammenschluss profitieren. Heute Morgen gab es hierzu eine „dpa“-Meldung. Ich zitiere:
Nach der Fusion von Deutscher und Dresdner Bank
will die Hypo-Vereinsbank Marktführer im Privatkundengeschäft werden. Wer heute den Kunden
vernachlässigt, kann sich morgen aus dem Markt
verabschieden, sagte Hypo-Vereinsbank-Chef ...
({6})
Sie sehen also, die Hypo-Vereinsbank, aber auch die
Sparkassen, die Volks- und Raiffeisenbanken, die traditionell sehr stark in diesem Sektor sind, werden den Zusammenschluss nutzen, um ihre Marktstellung zu stärken.
Natürlich kann man auch zukünftig mit qualifizierten,
kundenorientierten Bankdienstleistungen Geld verdienen. Ich bin sicher, dass sehr viele Menschen großen
Wert auf eine persönliche und individuelle Betreuung
legen.
Ein Großteil der Mitarbeiter wird deshalb durch die Fusion verloren gehen, aber diese werden an anderer Stelle
einen Arbeitsplatz finden.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Handwerk und
zu den kleinen und mittleren Unternehmen sagen, weil
zur Zeit eine Anhörung im Finanzausschuss dazu stattfindet. Wenn es richtig ist, dass 70 Prozent der Handwerksbetriebe bis zu 50 000 DM Gewinn vor Steuern
haben, dann werden sie von der Senkung des Eingangsteuersatzes in einer Art und Weise profitieren, wie
es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland der Fall war.
({7})
Sie schauen immer nur auf den Spitzensteuersatz, und
der wird bei Singles ab einem Einkommen von
200 000 DM und bei Verheirateten ab 400 000 DM
zugrunde gelegt.
({8})
In diesem Bereich finden Sie aber leider so gut wie keinen Handwerksbetrieb. Deshalb handelt es sich um die
größte Steuersenkung gerade für Handwerksbetriebe und
kleine und mittlere Unternehmen. Auch das gehört zu
Wahrheit; das muss an dieser Stelle einmal gesagt werden.
({9})
Die Betreuung durch die kleinen und mittleren Unternehmen wird deshalb nicht verloren gehen. Im Gegenteil: Den Marktanteil von acht Prozent, den es im Bankgeschäft zu verteilen gibt, wird man entsprechend nutzen.
Die Chancen von Expansion und Sicherung der
Wettbewerbsfähigkeit sind also keine leeren Worte, wie
man an dem Beispiel sehen kann, das ich bereits erwähnt habe, nämlich der Fusion von Bayerischer Hypotheken- und Wechselbank mit der Vereinsbank. Diese
Fusion hat zunächst Stellen gekostet, aber dies ist wettgemacht worden. Mittlerweile ist die Hypo-Vereinsbank
mit mehr Neueinstellungen auf dem Markt. Das zeigt:
Wer eine hochqualifizierte Ausbildung hat, ist bestens
gerüstet und kann sich den kommenden Herausforderungen stellen.
Eine solche Perspektive wünsche ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Deutscher Bank und
Dresdner Bank.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich danke
auch. Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Tourismuspolitischer Bericht der Bundesregierung
- Drucksache 14/2473 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({0})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Christian Lange ({1})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Sind Sie
einverstanden? - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Parlamentarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie
mich zu Beginn dieser Debatte zum Jahresbericht des
Tourismus in Deutschland die besten Grüße an unseren
Kollegen Ernst Hinsken - ich glaube, in aller Namen -,
übermitteln. Wir wünschen ihm eine baldige Genesung,
damit er bald wieder bei uns sein kann.
({0})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung misst
dem Tourismus eine besondere Bedeutung bei. Wir
glauben, dass die Tourismusbranche unter dem Aspekt
des Wachstums, vor allem auch des Beschäftigungswachstums, eine sehr wichtige Branche ist. Heute sind
2,8 Millionen Menschen in dieser Branche beschäftigt.
Es werden etwa 280 Milliarden DM an Umsatz, an
Wertschöpfung erzielt. 91 000 Auszubildende sind in
diesem Bereich tätig. Das sind wichtige Kennziffern, die
zeigen, dass die Branche für unsere Volkswirtschaft einen hohen Stellenwert hat. Das soll auch so bleiben.
Wer auf der ITB war und sich die Entwicklung in der
Tourismusbranche vor Augen führt, der weiß, dass wir
eine enorme Veränderung erleben, die sehr stark geprägt
ist durch die Informations- und Kommunikationstechnik, und zugleich eine Wachstumsrate, die auch für
Deutschland von großer Bedeutung ist.
Ich darf daran erinnern, dass im Jahre 1999 die Daten
ausgesprochen gut waren. Wir sollten uns gemeinsam
darüber freuen, dass der Tourismusmarkt Deutschland
einen besonderen Stellenwert gewonnen hat. Erstmals
kamen über 100 Millionen Gäste in deutsche Beherbergungsunternehmen; das sind 5,6 Prozent mehr als 1998.
Es gab 308 Millionen Übernachtungen; das sind
13,5 Millionen mehr als 1998. Der Inlandstourismus, der
1998 nur um 2,5 Prozent zugenommen hatte, stieg 1999
um 4,7 Prozent. Dabei ist besonders bemerkenswert,
dass die neuen Bundesländer einen enormen Anstieg
zu verzeichnen haben; sie weisen sehr positive Zahlen
auf. Mecklenburg-Vorpommern hat hohe Wachstumsraten zu verzeichnen. Auch Thüringen weist sehr gute
Zahlen auf. Das zeigt, dass die Menschen langsam die
Juwelen entdecken, die wir in diesem Land haben.
({1})
Ich finde, wir können uns darüber freuen, dass die
Wachstumsraten so hoch sind. Das hilft den Menschen
vor Ort. Das hilft auch bei dem großen Engagement in
dieser Branche, - das stellen wir alle fest -; denn es
handelt sich um eine Servicebranche, bei der es darum
geht, dass man nichts abspult, sondern die Menschen
entsprechend behandelt.
Das schlägt sich dann auch in positiven Werten nieder.
Meine Damen und Herren, es gibt ohne Zweifel gerade bei einem hoch entwickelten Standort wie der Bundesrepublik Deutschland Spezialfragen, die man im Auge behalten muss. Wir glauben, dass insbesondere der
Kombinationstourismus in Zukunft eine der wichtigsten und interessantesten Plattformen für Deutschland
sein wird, also die Verbindung von Geschäftsreisen mit
Urlaub. Das machen auch schon viele Unternehmen.
Wenn man das entsprechend kombiniert, hat Deutschland davon nicht nur als Industriestandort, als
Dienstleistungsstandort etwas, sondern eben auch unter
dem Tourismusaspekt.
Wir glauben, dass wir sehr viel zu bieten haben, wenn
wir Kultur und Tourismus kombinieren. Deshalb hat es
bereits im letzten Jahr, bereits im Goethe-Jahr, große
Anstrengungen gegeben; auch dieses Jahr gibt es große
Anstrengungen in Bezug auf Bach und Gutenberg. Ich
glaube, es ist richtig, diesen Weg des Kombinationstourismus zu gehen, bei dem man versucht, das, was wir an
Diamanten haben, auch an kulturellen Diamanten, mit
dem zu verbinden, was die Menschen an Erholung brauchen.
Etwas Ähnliches könnte man zum Bereich des Gesundheitstourismus sagen. Auch hier gibt es Kombinationsmöglichkeiten von Urlaub und Rehabilitation, von
Gesundheitsstandorten. Es gibt dort eine ganze Menge
Möglichkeiten, die wir nutzen wollen und auch nutzen
müssen, weil der Tourismus für uns ein Wirtschaftsfaktor ist, eher an Bedeutung gewinnen wird und der auch
besonders beschäftigungsintensiv ist.
({2})
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Holetschek?
Gern, ja.
Herr Staatssekretär,
da Sie das Stichwort „Gesundheitstourismus“ genannt
haben, möchte ich sagen, dass ich gerade mit Interesse
gelesen habe, dass Sie Beratung für Kurorte in Estland,
in Litauen und in Lettland machen, dass Sie sich aber
wohl nicht in der Lage sehen, die Kur- und Heilbäder im
Inland mehr zu unterstützen - zum Beispiel durch eine
breite Kampagne, die auch den Menschen hier begreiflich macht, dass sie etwas für ihre Gesundheit tun müssen.
({0})
Die Kampagnen, die Sie im Ausland starten - so zumindest der Deutsche Bäderverband -, haben bis jetzt wenig
Erfolge gezeitigt, zumindest gibt es keine konkreten
Zahlen, wie sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis tatsächlich darstellt.
Vizepräsidentin Antje Vollmer
Lieber Herr
Kollege, ich glaube, das war ein Eigentor.
({0})
Sie müssten sich einmal mit Ihrem Kollegen Seehofer
darüber unterhalten, was er in den letzten Jahren in den
Kurstädten angerichtet hat.
({1})
Wir sind jetzt mühselig dabei, das wieder aufzubauen;
die Kurstädte merken das auch. Wir sind in intensiven
Gesprächen, um die Kurstädte selber auch in geeigneter
Weise zu präsentieren, aber das, was Sie hier vortragen,
zeigt, dass Sie von der Materie relativ wenig verstehen.
Es tut mir Leid, das sagen zu müssen: Das war ein echtes Eigentor. Wir werden natürlich alles Mögliche tun,
weil wir glauben, dass die Kurstädte - das haben Sie allerdings richtig erkannt - unter dem Aspekt des Kombinationstourismus wirklich eine interessante Adresse
weltweit sind. Wir haben auf diesem Gebiet sehr viel zu
bieten und werden das auch in Zukunft weiter tun.
Herr Staatssekretär, Herr Holetschek möchte noch eine zweite
Nachfrage stellen, auch eine Ihrer Kolleginnen hat eine
Frage.
Ladies
first!
Gut, dann bitte
der Reihe nach.
Herr Staatssekretär,
stimmen Sie mir zu, dass vor dem Hintergrund der
Spargesetze der letzten Bundesregierung im Gesundheitswesen die Zahl der Übernachtungen in den
Heilbädern 1997 um 18 Prozent gesunken ist, in den Sanatorien und Kurkliniken sogar um 26,2 Prozent, und
dass nach Einschätzungen des Deutschen Bäderverbandes in diesem Bereich zirka 40 000 bis 50 000 Arbeitsplätze aufgrund der Gesundheitsreform schlicht und ergreifend weggefallen sind?
({0})
Ja, ich
stimme Ihnen zu; die Zahlen kann ich bestätigen, Frau
Kollegin.
({0})
Ich habe mich nur gewundert, dass der Kollege nicht
weiß,
({1})
dass es eine solche Problematik gegeben hat. Ich weiß
aus den Kurorten in Deutschland, dass sie jetzt mühselig
dabei sind, das wieder in Ordnung zu bringen und sich
auch international aufzustellen. Wir werden dabei helfen. Wir hoffen sehr, dass wir Sie bei dieser Frage auch
in Zukunft an unserer Seite sehen können.
Herr Staatssekretär,
ich komme selber aus einem Kurort, aus Bad Wörishofen, und kenne die Problematik sehr wohl.
({0})
Stimmen Sie mir zu, dass Sie sich auch in diesem Bereich an Ihren Wahlversprechen messen lassen müssen
und Ihre Taten weit hinter dem zurückgeblieben sind,
was Sie zu Oppositionszeiten vollmundig angekündigt
haben? Das ist eine Tatsache, der Sie sich kaum werden
entziehen können.
Können Sie
mir ein Beispiel nennen?
Zum Beispiel die
offene Badekur - aber das ist jetzt eine gesundheitspolitische Diskussion -, die völlige Flexibilisierung der Regelzeiten und einiges andere. Die Abschaffung des Wortes „Kur“ hat auch nicht dazu beigetragen, dass sich viel
getan hat.
Lieber Herr
Kollege, ich glaube, das hat keinen Zweck. Wir brauchen das jetzt nicht zu vertiefen. Jeder hat gemerkt, dass
es da einen Stellfehler gegeben hat. Es ist einfach so: Es
gab dort erhebliche Zerstörungen, die die Kurstädte getroffen haben. Das wissen Sie wahrscheinlich aus eigener Erfahrung. Wir sind jetzt dabei, das mühselig zu kitten.
Sie wissen, dass es jetzt eine nächste Dimension gibt:
Viele internationale Gäste sind an deutschen Kurstädten interessiert. Deshalb werden wir den Standort
Deutschland für Rehabilitation und Kur international
vorstellen. Sie wissen, dass die ITB die wichtigste Tourismusmesse der Welt ist. Auf dieser Messe hat die
Bundesregierung sich sehr engagiert. Wir haben gemerkt, dass das Interesse gerade an deutschen Kur- und
Heilbädern sehr groß ist. Ich hoffe sehr, dass damit der
Totalschaden wieder korrigiert werden kann.
({0})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Tourismusbericht zurückkommen: Wir wollen alles tun, um
die Rahmenbedingungen für die Zukunft positiv zu
gestalten. Sie wissen, dass unsere Steuerreform nicht nur
die Unternehmen, vor allem die mittelständischen Unternehmen, entlasten wird - mit der Steuerreform ist
eine Entlastung um 75 Milliarden DM verbunden, davon
18 Milliarden DM für den Mittelstand -, sondern gerade
auch die Arbeitnehmer und ihre Familien, sodass sie netto mehr im Geldbeutel haben. Das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass man Inlandsurlaub machen kann,
und wirkt sich damit unmittelbar auf die Tourismusbranche aus. Ich weiß, dass die Branche das aufmerksam
beobachtet.
Lassen Sie mich nun noch auf ein paar Punkte des
Förderinstrumentariums eingehen: Aus dem ERPProgramm wurden 1999 Kredite für Existenzgründungen und für den Ausbau von Betrieben im Tourismus in
Höhe von 900 Millionen DM zugesagt. 1998 waren es
nur 640 Millionen DM.
Auch von der Regionalförderung hat der Tourismus
überdurchschnittlich profitiert. Die für die Tourismuswirtschaft bewilligten GA-Mittel lagen 1999 bei
382 Millionen DM und damit erheblich höher als im
Vorjahr. Obwohl die Mittelbereitstellung insgesamt von
6,8 auf 5,1 Milliarden DM gesenkt worden ist, haben
wir insbesondere in touristischen Orten große Anstrengungen unternommen. Außerdem wurden 1999 mehr als
322 Millionen DM GA-Mittel für touristische Infrastrukturmaßnahmen zugesagt.
({1})
Das sind wichtige Maßnahmen, die im allgemeinen
Wirtschaftshaushalt ein bisschen versteckt sind, die aber
direkt wirken. Das wissen wir auch von vielen Kollegen,
die in solchen Gebieten wohnen. Diese wissen, dass es
richtig war, diese Entscheidungen zu treffen.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja.
Aber dann
möchte ich die Kollegen doch bitten, bei einem so kurzen Beitrag nicht noch weitere Zwischenfragen zu stellen. Wenn man wegen der vielen Fragen die dreifache
Redezeit braucht, kommen wir mit dem Programm nicht
durch.
Das GA-Förderprogramm ist ein Bund-Länder-Programm. Meine Bitte an
Sie: Würden Sie sich dafür einsetzen, dass der Tourismus in den nächsten Jahren ein Schwerpunkt der Förderung in den 16 Bundesländern bleibt?
Herr
Brähmig, das ist eine gute Frage. Ich glaube, es ist sehr
wichtig, dass wir die Länder dafür gewinnen, genau diesen Weg mitzugehen. Wir haben mehr als 22 Prozent
der Infrastrukturmittel an den Tourismus gegeben. Das
geht natürlich nur, wenn die Länder Komplementärmittel geben. Insofern haben Sie Recht. Wir werden diese
Anstrengungen unternehmen und hoffen sehr, dass Sie
uns in den Ländern dabei behilflich sind. Das kann man
nur gemeinsam hinbekommen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch unser wichtigstes Instrument ansprechen: die Deutsche
Zentrale für Tourismus, die eine sehr gute Arbeit
macht. Ich möchte in diesem Haus der Tourismuszentrale für ihre Arbeit herzlich danken. - Ich glaube, da kann
ich Einvernehmen unterstellen.
({0})
Sie ist unsere Visitenkarte im Ausland. Sie macht ein
hervorragendes Marketing. Sie hat jetzt die Kombination
von mit Kultur und Natur aufgenommen, also solche
Fragestellungen, bei denen wir am Standort etwas zu
bieten haben. Deshalb hat die Bundesregierung alles unternommen, um die Tourismuszentrale, die ihre Arbeit
ausgebaut hat, weiterhin zu stärken.
Herr Brähmig, ich weiß, dass Sie sich immer für diese Einrichtung eingesetzt haben. Nur die nüchternen
Zahlen belegen, dass in der Finanzplanung der alten
Bundesregierung für das Jahr 2000 lediglich
29 Millionen DM für die Tourismuszentrale vorgesehen
waren. Wir haben aufgestockt und liegen jetzt bei knapp
40 Millionen DM. Wir wollen im Jahr 2001 noch einmal
eine Anstrengung unternehmen, weil wir glauben, dass
wir alles tun müssen, um uns international entsprechend
zu präsentieren. Deshalb ist es wichtig, dass Sie das mit
unterstützen und dass wir dabei alle gemeinsam an einem Strang ziehen.
Ein letzter Punkt, den ich ansprechen möchte: Wir
helfen der Branche besonders bei der Umstellung auf
die Informationsgesellschaft von morgen. Unser im
Kabinett verabschiedetes „Aktionsprogramm für Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft
des 21. Jahrhunderts“ sieht vor, dass wir für den Mittelstand 24 Kompetenzcenter einrichten, damit sich der
Mittelstand auf diese neue Entwicklung einstellen kann.
Wir sind dabei, dies zu tun, und machen das sehr aktiv.
Wir hoffen sehr, dass wir dabei auch vom Haus unterstützt werden.
Die Tourismusbranche ist eine der wichtigsten Zukunftsbranchen überhaupt. Sie stellt qualitativ sehr hohe
Ansprüche. Wir sollten deshalb vermeiden, diese Unterstützungen im Parteienstreit zu zerreiben, und alle Anstrengungen unternehmen, damit Deutschland von dieser
Entwicklung etwas hat.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Klaus Brähmig.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich
möchte die Gelegenheit nutzen, unserem erkrankten
Kollegen Ernst Hinsken von dieser Stelle aus die besten
Genesungswünsche seitens der Arbeitsgruppe und auch dies sei mir gestattet - seitens des Ausschusses zu
übermitteln.
({0})
Die heutige Debatte über den Tourismusbericht der
Bundesregierung gibt uns Gelegenheit, die vergangenen
anderthalb Jahre Tourismuspolitik der rot-grünen Bundesregierung zu analysieren und die Frage zu stellen:
Wo stehen wir? Wohin geht die Reise? Ist es eine Reise
mit oder ohne unseren Wirtschaftsminister Müller? Herr
Mosdorf, Sie sind anwesend. Ich möchte daher die Gelegenheit nutzen, seitens der Arbeitsgruppe einen Dank
für die konstruktive Zusammenarbeit mit der Abteilung
von Dr. Homann auszusprechen.
Dieser Bericht zeigt allerdings erneut, dass die Bundesregierung dem Tourismus immer noch nicht den Stellenwert einräumt, der ihm aufgrund seiner gesamtwirtschaftlichen Bedeutung eigentlich gebührt. Für unsere
Fraktion ist dabei wichtig, mit der SPD nicht in einen
Wettbewerb um nicht erfüllbare Versprechungen gegenüber der deutschen Tourismusbranche einzutreten, wie
dies vonseiten der SPD vor der Bundestagswahl erfolgte.
({1})
Hier möchte ich nur auf das Beispiel der Trinkgeldbesteuerung verweisen. Meine sehr verehrten Damen und
Herren von der SPD-Fraktion, Sie haben in Ihrem
Wahlprogramm die Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung angekündigt. Jetzt, da es zum Schwur kommt, enthalten Sie sich der Stimme. Ihre Kollegen im Finanzausschuss werden den Antrag der F.D.P. auf Abschaffung
der Trinkgeldbesteuerung hinwegfegen. Das nenne ich
Symbolpolitik und Wählertäuschung.
Einleitend werde ich einige grundsätzliche Schwachstellen dieses Berichtes und der bisherigen Tourismuspolitik herausarbeiten und einige Forderungen für die
Erstellung der noch folgenden Berichte definieren.
Die mangelnde Aussagekraft und der geringe Umfang
des nun vorliegenden Berichtes verdeutlichen meines
Erachtens die Notwendigkeit, nach österreichischem
Vorbild einen Staatssekretär für Tourismus beim
Bundeswirtschaftsministerium zu installieren. Verbunden mit einer Personalaufstockung in der Abteilung
Tourismus soll das Bundesministerium für Wirtschaft
und Technologie damit in die Lage versetzt werden, dem
Parlament jährlich einen umfassenden und aussagekräftigen Tourismusbericht vorzulegen, der neben reiner
Statistik auch echte Handlungsstrategien für die touristischen Entscheidungsträger auf Bundes-, Landes- und
kommunaler Ebene aufzeigt.
Als vorbildlich ist hier der dem Parlament präsentierte TAB-Bericht und das auf der diesjährigen ITB zum
dritten Mal vorgestellte Tourismusbarometer des Ostdeutschen Sparkassen- und Giroverbandes zu nennen,
das eine statistisch exzellente Grundlagenarbeit leistet
und diese mit strategischen Handlungsanweisungen zu
verbinden weiß. Eine Zusammenarbeit von Bundeswirtschaftsministerium und gesamtdeutschem Sparkassenund Giroverband auf diesem Gebiet könnte den effizienten Einsatz von Steuermitteln befördern.
Die CDU/CSU-Fraktion fordert zudem eine Novellierung des Statistikgesetzes, durch die gewährleistet
werden soll, dass alle Übernachtungen - nicht nur die in
Betrieben mit neun oder mehr Betten - unbürokratisch
und zeitnah erfasst und den politischen und fachlichen
Verantwortungsträgern zugänglich gemacht werden
können.
Meine Damen und Herren, der Tourismusbeirat
beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie muss zu einem Spitzengremium und zum Plenum
der deutschen Tourismusbranche werden. Die vielen populistischen Hinterzimmerzirkel mit personeller Mehrfachbesetzung bringen die Tourismusbranche nicht voran.
Weiterhin sollte von der jeweiligen Bundesregierung
jährlich, im Februar, ein Tourismusbericht vorgelegt
werden. Dies würde gewährleisten, dass wir als
Parlamentarier die Möglichkeit erhalten, vor bzw. auf
der ITB öffentlich über die Erfolge und Defizite im
Tourismus zu diskutieren.
Neben diesen grundsätzlichen Problemen müssen
heute zwei Hauptkomplexe des Tourismusberichtes genauer erörtert werden. Angesichts der Redebeiträge
meiner nachfolgenden Kollegen beschränke ich mich
auf die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und
den Deutschlandtourismus.
Ein alter römischer Rechtsgrundsatz besagt: Wer
Pflichten hat, der hat auch Rechte. Die rot-grüne Bundesregierung verpflichtet die Unternehmer mit Recht zu
sozial verantwortlichem Handeln gegenüber der Belegschaft. Also kann die Wirtschaft im Gegenzug auch gute, international abgestimmte Rahmenbedingungen
verlangen. Wo bleibt diese Gegenleistung? Die Steuerreform, die ausbleibende Reform der sozialen Sicherungssysteme, die Neuregelung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse und die Ökosteuer sind allerdings
Beweise dafür, dass die rot-grüne Bundesregierung zwar
viel fordert, faktisch aber wenig zu einer Gesundung
bzw. Expansion der Wirtschaft auch und gerade im Tourismusbereich beisteuert.
({2})
Dies festzustellen, Herr Mosdorf, macht mir keine Freude. Und ich füge hinzu: Seit der Übernahme der Regierung durch die Koalition aus SPD und Bündnis 90/die
Grünen hat sich auf dem Arbeitsmarkt praktisch nichts
bewegt; in den neuen Bundesländern ist die Situation in
Bezug auf die Arbeitsplätze sogar schlechter geworden.
({3})
Einen wichtigen Gesichtspunkt möchte ich hier noch
hervorheben: Deutschland muss zu einem leistungsfähigen europäischen Verkehrsdrehkreuz ausgebaut werden. 50 Prozent des aktuellen Verkehrsaufkommens
werden durch Freizeit und Tourismus induziert. Der Finanzminister muss wie der Verkehrsminister endlich begreifen: Verkehrspolitik ist Infrastrukturpolitik und damit Zukunftspolitik für den Standort Deutschland.
({4})
Daher fordern wir, meine Damen und Herren, dass aus
den Einnahmen der Mineralöl- und Kfz-Steuer mehr
Mittel in den Ausbau des Straßenverkehrsnetzes und der
Schienenwege investiert werden.
({5})
Wenn dies nicht erfolgt, werden die weltweiten Tourismusströme an Deutschland vorbeifließen und somit keine Arbeitsplätze geschaffen bzw. bestehende vernichtet.
Zu loben ist hier vor allen Dingen das Engagement des
Freistaates Sachsen beim Ausbau des Flughafens Halle/Leipzig; dort erfolgt ja am morgigen Tag die Einweihung der neuen, interkontinentalen Start- und Landebahn. Hier werden Zeichen gesetzt.
({6})
- Noch nicht, Kollegin Irber. - Das Angebot dieses
Flughafens steht Touristen 365 Tage im Jahr 24 Stunden
täglich zur Verfügung.
Meine Damen und Herren, der zweite Hauptkomplex,
der Deutschlandtourismus, zeigt folgende Entwicklungstendenzen: Aus der Bilanz für 1999 ergibt sich eine
deutliche Konsolidierung der Branche. Da stimme ich
Ihnen zu, Herr Staatssekretär Mosdorf. Nur, wie setzt
sich diese Konsolidierungsbewegung zusammen?
Nachweislich ist die Landkarte auch hier sehr differenziert. Nach meinen Recherchen sind die Wachstumszahlen im Wesentlichen durch die Erhöhung der Kapazität
vor allem im hochpreisigen Hotelsegment entstanden.
Der Prozess wird sich weiter dramatisch fortsetzen. Ich
empfehle hierzu als Lektüre die „Wirtschaftswoche“
vom 2. März 2000. Für den Deutschlandtourismus unerlässlich ist aber die Erhöhung der Verweildauer und der
Auslastungsquote im Betten- bzw. Zimmerbereich.
Weiterhin ist für die Beurteilung des Deutschlandtourismus die Entwicklung des Incoming-Tourismus im
Verhältnis zum Outgoing-Tourismus von fundamentaler Bedeutung. Umsätze von 87,5 Milliarden DM im
Outgoing-Tourismus abzüglich der Einnahmen von
30,6 Milliarden DM aus dem Incoming-Tourismus ergeben ein Defizit beim touristischen Reiseverkehr von circa 57 Milliarden DM. Dies ist mit einem massiven Export von Arbeitsplätzen gleichzusetzen. Bei einem angenommenen Durchschnittsumsatz von 80 000 DM pro
Arbeitsplatz könnten also rechnerisch in Deutschland
450 000 bis 500 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Wie ist das zu erreichen? - Durch mehr Gäste aus
dem Ausland und mehr Urlaub unserer Bevölkerung in
einheimischen Gefilden.
Es ist Aufgabe der Politik, dieser mittelständisch geprägten Branche, allen voran den Hotels und der Gastronomie, bei ihren Bemühungen um Auslastung ihrer
Kapazitäten finanziell beizustehen, etwa im Bereich
Marketing, Marktzugang und E-Commerce. Nur so hat
sie im globalen Wettbewerb eine echte Chance. Gerade
für Ostdeutschland ist dieses Thema von existenzieller
Bedeutung. Nur etwa 4 bis 5 Prozent des Gästeaufkommens werden dort von kaufkraftstarken Ausländern gestellt; dem gegenüber stehen 10 bis 12 Prozent in Westdeutschland.
Die Deutsche Zentrale für Tourismus hat eine große Verantwortung bei der Erreichung dieser Zielstellung. Meine Damen und Herren, für das operative Marketing so interessanter Quellmärkte wie Kanada und den
USA stehen der DZT nur 120 000 DM bzw.
1,2 Millionen DM zur Verfügung. Eine Marktdurchdringung ist mit diesem Budget unmöglich. Der Bundeshaushalt sieht im Jahr 2000 40 Millionen DM für die
DZT und - einmalig - 40 Millionen DM im Haushalt für
die Werbung der EXPO 2000 im Ausland vor. Lassen
Sie uns der DZT für ihre Aufgaben die sich ergebende
Summe von 80 Millionen DM ab 2001 gemeinschaftlich
zur Verfügung stellen.
Meine Damen und Herren, wer zwischen Frühstück
und Gänsebraten als Weihnachtsmann für einige Tausend Arbeitsplätze bei der Philipp Holzmann AG
({7})
mit 250 Millionen DM Bürgschaft sofort Gewehr bei
Fuss steht, wird doch wohl für die Sicherung der Arbeitsplätze der 2,8 Millionen im Tourismus Beschäftigten 40 Millionen DM zusätzliche Mittel im Haushalt
einsetzen können.
Herr Kollege,
haben Sie bitte die Uhr im Auge.
Ich bin sofort fertig. Es wird Zeit, dass wir alle zusammen in Deutschland
endlich diese fatale Industriegläubigkeit überwinden.
Veränderungen bedürfen eines neuen Bewusstseins und
eines gesamtgesellschaftlichen Dialogs. Tourismus ist
die Leitökonomie des 21. Jahrhunderts. Um diese dringend notwendige Diskussion in Gang zu setzen, richte
ich von dieser Stelle aus erneut meinen Appell an die
Bundesregierung: Rufen Sie 2001 zum Jahr des Tourismus in Deutschland aus! Mein Appell an die Mitglieder
der SPD-Fraktion lautet: Verlassen Sie endlich Ihr
Bremserhäuschen und steigen Sie zu uns auf die Lokomotive um! Lassen Sie uns in Zukunft gemeinsam die
Jobmaschine Tourismus unter Dampf setzen.
({0})
Jetzt hat die
Abgeordnete Sylvia Voß das Wort.
Sehr
verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Brähmig, auf die Lokomotive wollen
wir lieber nicht steigen.
({0})
Wir wollen deshalb nicht aufsteigen, weil Sie den Seitenzahlen eines Berichtes offensichtlich mehr Bedeutung
beimessen als seinem Inhalt. Da kann ich nicht mitgehen. Ich denke, der Inhalt sollte wichtiger sein. Man
kann manchmal in kurzer Form, wenn man es prägnant
tut, mehr ausdrücken, als wenn man lange Berichte
schreibt.
({1})
Der Kollege Hinsken, Vorsitzender unseres Ausschusses, dem auch ich von dieser Stelle aus natürlich
gute Genesung wünsche, hat die diesjährige ITB zu einer Pressekonferenz genutzt, auf der er sehr selbstkritisch reflektierte, dass „der Tourismus als Teil der mittelständischen Wirtschaft ... von 5 000 Gesetzen und
85 000 Verordnungen gegängelt“ wird.
({2})
Die alte Bundesregierung hat es nicht vermocht, die Lage hier wirklich zu verbessern. Eine späte Einsicht doch lieber spät als nie.
({3})
Die rot-grüne Bündnisregierung hat - der vorliegende
Bericht zeigt das überzeugend auf - entschieden Maßnahmen ergriffen, um im Bereich des Tourismus zu
nachhaltigen Fortschritten zu kommen. Diese sind Herr Staatssekretär Mosdorf hat darauf umfassend verwiesen - nicht zu übersehen. Die Perspektiven für den
Deutschlandtourismus sind gut. Die Zahl der Übernachtungen sowohl ausländischer als auch inländischer Gäste
in Deutschland konnte deutlich gesteigert werden.
({4})
- Ja, vor allen Dingen, wenn man nett zu den Leuten ist.
({5})
Dass einige Daten der Tourismusentwicklung unbefriedigend sind, kann nicht der Arbeit der Bundesregierung angelastet werden. Ich möchte Ihnen ein Beispiel
nennen: Die geringe und sinkende Auslastung der Bettenkapazitäten gerade in den fünf neuen Ländern - ich
weiß, wovon ich spreche; ich komme aus einem der
neuen Länder - beruht auf einer nachgerade abenteuerlich zu nennenden Erweiterung der Bettenkapazitäten
am Markt vorbei. Die Unternehmen sind sicherlich gut
beraten, dort vor allem Investitionen in die Qualität vorzunehmen.
Die Tourismuspolitik der Bundesregierung orientiert
sich am Prinzip der Nachhaltigkeit, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({6})
Diese Politik wird das Bundesumweltministerium unter
anderem dadurch unterstützen, dass ein einheitliches
Umweltkennzeichen auf den Weg gebracht wird. Dieses
soll durch eine Klassifizierung touristischer Produkte
den Erfüllungsgrad des Anspruchs einer nachhaltigen
Wirtschaftsentwicklung bewerten. Die derzeitige Kleinräumigkeit und Heterogenität der Kennzeichen und Siegel, die sich inzwischen überall etabliert haben, sind aus
Sicht sowohl der Anbieter als auch der Verbraucher, die
da gar nicht mehr durchblicken können, nicht wünschenswert. Die theoretischen Vorarbeiten und bisherigen praktischen Erfahrungen lassen es zu, die Entwicklung eines gemeinsamen touristischen Umweltzeichens
jetzt energisch anzugehen.
Es wird den Anbietern einen Image- und Wettbewerbsvorteil verschaffen und ökologische Innovationen in der
gesamten Branche fördern.
({7})
Das touristische Umweltzeichen wird damit zu einem
unverzichtbaren Instrument einer überprüfbar nachhaltigen Tourismusentwicklung.
Positiv, liebe Kolleginnen und Kollegen, bewerten
wir die Arbeit der Deutschen Zentrale für Tourismus.
Ich glaube, darin sind wir uns alle einig. Es hat sich gelohnt, dass die Koalition - und es war die Koalition! die finanzielle Ausstattung gesichert und verbessert hat.
Mit ihrer Fokussierung auf kulturelle Themenjahre erschließt die DZT neue Zielgruppen. Wie Sie alle wissen
- aus den Ausschüssen und all den Veranstaltungen, die
wir schon gemeinsam bestritten haben -, setze ich mich
ganz besonders für die Verknüpfung von Naturschutz
und Tourismus ein. Umso erfreuter bin ich deshalb, dass
sich die DZT nun offensichtlich entschieden hat, die
Themen Natur und Umwelt in den Mittelpunkt einer
neuen Marketingkampagne zu stellen. Insbesondere unsere Nationalparke können und sollten endlich auch zu
einem Magneten für Erholungssuchende aus dem Inund Ausland werden.
({8})
Wir müssen die Menschen für die kulturellen und die
Naturschönheiten unseres Landes einfach begeistern .
Meine Fraktion begrüßt es ausdrücklich, dass die
Marketingmaßnahmen der DZT im In- und Ausland
noch stärker als bisher genutzt werden, um den Bekanntheitsgrad der ostdeutschen Tourismusgebiete zu
erhöhen und dort ein positives Image aufzubauen. Ein
tourismusfreundliches Image ist aber nicht nur eine Frage des Marketings oder eine Frage des Services. Es ist
auch Ergebnis einer weltoffenen Haltung in der gastgebenden Bevölkerung. Fremdenfeindliche Vorfälle schädigen immer noch das Image vor allem ostdeutscher Urlaubsziele
({9})
und sind ein Armutszeugnis für unsere Demokratie.
Über Fraktions- und Parteigrenzen hinweg müssen wir allen Anfängen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit
entgegentreten. Ich glaube, auch da sind wir uns alle einig.
({10})
Die positive Entwicklung des Tourismus ist auch ein
Ergebnis der steuerpolitischen Trendwende von RotGrün. Auch das ist eine Lokomotive. Mit der Steuerreform 2000 erfassen die im Jahr 1999 begonnenen Reformen die mittelständische Wirtschaft. Der Eingangsteuersatz wird in wenigen Jahren von 26 auf 15 Prozent
gesenkt. Damit wird die finanzpolitisch gewonnene Verfügungsmasse gezielt zur Mittelstandsförderung eingesetzt. Das ist eine großartige Leistung, auf die die kleinen und mittleren Unternehmen ziemlich lange warten
mussten, Herr Brähmig.
({11})
Einige Anmerkungen möchte ich auch zum großen
Thema der diesjährigen ITB, der Internationalen Tourismus-Börse, machen, zum E-Commerce. Entgegen
manch landläufiger Meinung erschöpft sich Electronic
Commerce nämlich nicht in der Webpräsentation eines
Unternehmens oder im Internetshopping. Durch
E-Commerce wird die gesamte Wirtschaft grundlegend
verändert. Geographische Grenzen und zeitliche Beschränkungen verlieren dramatisch an Bedeutung. Die
Markttransparenz und die Intensität des globalen Wettbewerbs erhöhen sich; vielfältige neue Geschäftsmöglichkeiten entstehen. Unternehmen, die frühzeitig dieses
neue Medium nutzen, haben gute Chancen, ihre Marktanteile zu halten und auszubauen.
Für mittelständische Reisebüros stellt die Entwicklung des E-Commerce aber eine große Herausforderung
dar. Er ist nämlich Risiko und Chance zugleich. Wir als
rot-grüne Bundesregierung wollen die Voraussetzungen
dafür schaffen, dass die kleinen und mittleren Unternehmen E-Commerce breit anwenden können. Solche
Voraussetzungen sind: der kostengünstige Netzzugang
für Unternehmen und Haushalte sowie die Sicherheit im
Netz, insbesondere Rechtssicherheit bei Transaktionen
im Netz. Die Bundesregierung engagiert sich hier stark,
nicht zuletzt durch die Klärung der zivilrechtlichen Fragen des elektronischen Handels. Hier dürfen die Fehler
der alten Bundesregierung nicht wiederholt werden,
Entwicklungen regelrecht zu verschlafen und damit den
Wirtschaftsstandort Deutschland zur Aufholjagd zu verdammen.
({12})
Ich möchte die Gelegenheit dazu nutzen, noch einige
Anmerkungen zum Tourismus im ländlichen Raum zu
machen. Die Bundesregierung setzt sich - im Bericht
nachlesbar - für zeitgerechtere Vermarktungswege für
den Urlaub auf dem Bauernhof und den Urlaub auf dem
Lande ein. Damit unterstützt sie den Beitrag des Tourismus zur Sicherung unserer Landwirtschaft. Der
Tourismus kann und muss Wegbereiter eines
ökologischen Landbaus und eines naturgemäßen
Waldbaus werden. Diesen Beitrag leistet er dann, wenn
er im Bereich der Infrastruktur und landwirtschaftlicher
Erzeugnisse regionale Produkte verwendet. So werden
den ländlichen Räumen entscheidende Überlebensimpulse gegeben. Hier liegt sicherlich auch der
wirkungsvollste Beitrag des Tourismus zur Sicherung
unserer gewachsenen Kulturlandschaften.
({13})
Man möchte es kaum glauben: Der Anteil regionaler
Produkte an den Produkten, die in den Küchen unserer
Hotellerie und Gastronomie verarbeitet wurden, lag
1997 im Bundesdurchschnitt unter 3 Prozent. Fachleute
gehen davon aus, dass mindestens 25 Prozent erreicht
werden können. Das sollten wir auch gemeinsam anpacken.
({14})
Abschließend möchte ich einen Bogen zur Artenschutzdebatte schlagen, die am heutigen Vormittag in
unserem Hause stattfand. Die Gefährdung vieler Arten
resultiert leider aus dem zunehmenden Tourismus. Wild
lebende Tiere und Pflanzen werden durch Souvenirhandel und Freizeitaktivitäten in den Zielgebieten gestört
und gefährdet, auch in dem Bericht der Bundesregierung
wird darauf hingewiesen. Jährlich werden 40 000 Primaten, über 10 Millionen Orchideen, 4 Millionen Vögel,
10 Millionen Reptilienhäute, 15 Millionen Pelze, über
350 000 tropische Fische und viele andere Arten weltweit gehandelt. Dieser illegale Handel mit bedrohten
Tierarten erreicht nach Schätzungen des WWF einen
jährlichen Wert von 2 Milliarden bis 3 Milliarden Dollar. 90 Prozent der illegal ausgeführten Tiere und Pflanzen - diese Zahlen sind heute Morgen und auch in der
Anhörung des Tourismusausschusses schon erwähnt
worden - werden von Touristen geschmuggelt. Tourismuswirtschaft und Tourismuspolitik - das ist auch ein
Ergebnis der Anhörung des Tourismusausschusses zum
Thema „Tourismus und Artenschutz“ - müssen einen
noch viel größeren Beitrag als bisher zum Erhalt der biologischen Vielfalt leisten, die gerade die Attraktivität
vieler touristischer Zielorte ausmacht. Der ungezügelte Tourismus - ich glaube, auch darüber sind wir uns einig - zerstört genau das, was die Menschen dazu veranlasst, in Urlaub zu fahren, um schöne Dinge zu erleben.
Ungezügelter Tourismus ist Selbstzerstörung.
Bei der Beseitigung vieler Hemmnisse und Probleme,
die der Entwicklung eines nachhaltigen Tourismus in
Deutschland noch entgegenstehen und die uns die alte
Regierung hinterlassen hat, ist noch so manches zu tun.
Aber Sie können sich darauf verlassen: Wir werden es
tun! Wir sollten gemeinsam dafür sorgen, dass Menschen aus der ganzen Welt begeistert nach Deutschland
reisen, um hier Urlaub zu machen, und dass auch unsere
Landsleute ihr eigenes Land noch besser kennen lernen.
Schönen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt
der Abgeordnete Ernst Burgbacher.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über eines besteht
in diesem Hause sicherlich Konsens: Neben den
elektronischen Medien und der Biotechnologie ist
Tourismus wohl die Branche mit den höchsten
Wachstumsraten in den nächsten Jahren. 2,2 bis
2,3 Millionen neue Arbeitsplätze weltweit werden
prognostiziert, 400 000 immerhin für Deutschland.
Deshalb hat die F.D.P.-Bundestagsfraktion ganz bewusst
ihr neues Konzept zum Tourismus unter den Titel „Liberale Offensive für mehr Arbeitsplätze“ gestellt.
({0})
Auf der Internationalen Tourismus-Börse, die immer
wieder angesprochen wurde, waren zwei große Trends
sichtbar. Diese beiden Trends müssen auch in der heutigen Diskussion im Mittelpunkt stehen. Es gab zum einen
den Trend zur weiteren Konzentration. Es wird im Bereich des Tourismus nur noch wenige große Unternehmen geben, die einen großen Teil des Marktes beherrschen. Aber dennoch werden kleine Anbieter ihre Chance haben, wenn sie Marktnischen nutzen und Zielgruppen ganz konkret ansprechen. Die deutschen Tourismusdestinationen - ob nun die Nordsee, die Ostsee, der
Bayerische Wald oder der Schwarzwald - werden umdenken müssen, werden beim Marketing anders agieren
müssen und auch mit großen Anbietern kooperieren
müssen.
Der zweite große Trend, der die ITB beherrscht hat,
waren Internet und E-Commerce. Frau Kollegin Voß,
natürlich stellt dieser Trend die Branche vor riesengroße
Herausforderungen. Nur, man sollte nicht immer nur
über die Risiken, sondern vor allem auch über die Chancen reden. Internet und E-Commerce bieten riesengroße
Chancen für die Tourismusbranche. Die Reisebüros
müssen diese Chancen nutzen und als Erste ins Internet
einsteigen. Die kleinen Destinationen haben plötzlich
die Chance, zu sehr geringen Kosten weltweit auf sich
aufmerksam zu machen.
({1})
Deshalb stelle ich fest: Es wird niemand daran vorbeikommen, diese Chancen zu nutzen. Die Politik ist vor
allem gefordert, wenn es darum geht, kleinen und mittleren Anbietern zu ermöglichen, die entsprechenden Möglichkeiten zu nutzen, ins Netz zu gehen und dort tätig zu
werden. Das können viele nicht alleine und dort muss
die Politik unterstützend wirken.
Es wurde die DZT angesprochen. Auch ich bin der
Ansicht, dass die DZT hervorragende Arbeit leistet. Ich
glaube, in diesem Punkt sind wir uns alle einig. Herr
Staatssekretär Mosdorf, ich begrüße ausdrücklich Ihre
Ankündigung, die Mittel für die DZT zu erhöhen. Ich
sage aber auch: Wir werden wachsam sein und beobachten, ob dies nächstes Jahr auch so erfolgen wird.
Sie sprechen in Ihrem Tourismusbericht von dem
Abbau bürokratischer Hemmnisse, der Senkung von
Steuerlasten und der Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen. Die Ziele sind richtig und wir unterschreiben
sie auch. Aber was tut die Regierung eigentlich? Tatsächlich hat die Regierung die Rahmenbedingungen
verschlechtert. Sie hat weitere bürokratische Hemmnisse
aufgebaut und zusätzlich finanzielle Belastungen eingeführt. Das ist heute Fakt.
Wir haben über 630-DM-Jobs, Ökosteuer und andere
konkrete Maßnahmen wie die Abschaffung des Vorsteuerabzugs und die Neuregelung der Provisionsbesteuerung genügend geredet. Herr Staatssekretär, Sie sprechen von der Steuerreform. Wir wissen doch alle, dass
die betroffenen Betriebe zunächst mehr belastet wurden
und dass es äußerst fragwürdig ist, ob es unter dem
Strich eine Entlastung gibt.
({2})
Wir setzen dagegen und fordern Bürokratieabbau
durch Überprüfung von Gesetzen, Standards und Regelungen im europäischen Vergleich. Im Zeitalter des Euro
ist dies angesagt und dringend notwendig. Wir fordern
das Durchforsten des Wildwuchses touristischer Verbandsstrukturen, die Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten und der Sperrstundenregelung
({3})
sowie die Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung, worauf ich später noch näher zu sprechen komme. Wir fordern auch eine stärkere Verzahnung mehrerer Bereiche.
Ich erinnere daran: Es waren Liberale, die erste Vorschläge und Initiativen unterbreitet haben, um den Kurund Heilbädern den Einstieg in den Gesundheitstourismus zu ermöglichen. Es sind auch Liberale, die in den
letzten Wochen neue Konzepte für den Behindertentourismus - ein bisher noch völlig unterschätztes Feld vorgelegt haben.
({4})
Herr Staatssekretär Mosdorf, ich wollte jetzt eigentlich den Wirtschaftsminister ansprechen. Ich bedaure
außerordentlich, dass sich der Wirtschaftsminister mit
Ausnahme von zwei oder drei Kurzbesuchen im Ausschuss aus dem Tourismusbereich heraushält. Herr Wirtschaftsminister Müller hat versprochen, sich für den reduzierten Mehrwertsteuersatz einzusetzen. Er hat jetzt
gesagt, er habe sich bei Eichel nicht durchsetzen können. Wirtschaftsminister Müller - übrigens auch der
Kanzler - hat versprochen, sich für die Abschaffung der
Trinkgeldbesteuerung einzusetzen.
({5})
Ich frage mich: Wie sieht eigentlich eine Regierung
aus, in der Kanzler und Wirtschaftsminister zusammen
nicht in der Lage sind, sich gegen den Finanzminister
durchzusetzen?
({6})
Ich nehme dem Minister durchaus ab, dass seine Absicht
ehrlich war. Aber die Tourismuswirtschaft wartet nicht
auf einen Wirtschaftsminister, der redet, sondern auf einen, der handelt und sich wenigstens im eigenen Lager
durchsetzt.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Mosdorf?
Es ist mir eine Ehre,
Herr Abgeordneter.
Herr Kollege, ich wollte
Sie nur fragen, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Bundeswirtschaftsminister heute in Nürnberg - eine schwierige Region mit negativen Arbeitsmarktentwicklungen - ist und dort einen runden Tisch
mit den Vorstandsvorsitzenden der wichtigsten Unternehmen organisiert hat. Es geht dort um Arbeitsplätze
und die Zukunft der Region.
Sie wissen auch, dass wir unsere Anstrengungen im
Tourismus insgesamt in den letzten 15 Monaten erhöht
haben. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Sehr geehrter Herr Abgeordneter Mosdorf, ich bin wirklich bereit, vieles zu
entschuldigen. Aber ich bin nicht mehr bereit, zu entschuldigen, dass der Wirtschaftsminister - ich wiederhole dies - nur zwei- oder dreimal zu Kurzbesuchen im
Ausschuss war und dabei jedes Mal vorzeitig wieder gehen musste. Er hat sich, wenn ich micht recht erinnere,
noch nie bei einer Debatte sehen lassen. Ich denke, dies
zeigt, welchen Stellenwert die Tourismuspolitik für ihn
hat.
Zu Ihrer zweiten Frage. Ich weiß, dass Sie verschiedene Maßnahmen getroffen haben. Ich habe auch das
mit der DZT angeführt. Nur: Unter dem Strich sind die
Belastungen der Branche erheblich höher als die Entlastungen, von denen Sie so gerne reden.
({0})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch etwas zur Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung sagen.
Wir haben diesen Antrag eingebracht. Ich habe schon
darauf hingewiesen: Schröder und Müller haben versprochen, sich dafür einzusetzen. Ich war sehr enttäuscht, dass sich die SPD bei der Abstimmung darüber
in der Regel enthalten hat und dass die CDU/CSU dagegen gestimmt hat. Im Wirtschaftsausschuss haben offenbar einige dafür gestimmt, was ich sehr begrüße. Ich appelliere noch einmal an Sie: Es hat sich hier etwas geändert. Die Finanzämter prüfen mehr. Die BfA bekommt
die Bescheide und verdonnert die Betreffenden zu
Nachzahlungen. So kann die Branche nicht arbeiten.
Deshalb müssen wir aus solchen Veränderungen endlich
Konsequenzen ziehen. Ich bitte sie wirklich, über Ihren
Schatten zu springen und den Schritt doch noch zu machen.
({1})
Vor dieser Debatte hatten wir eine Aktuelle Stunde
zur Fusion von Deutscher und Dresdner Bank. In diesem
Zusammenhang bewegt uns schon sehr stark die Frage
nach der kreditmäßigen Versorgung -
Herr Kollege,
Ihre Redezeit ist leider vorbei.
Da waren doch Zwischenfragen.
Währenddessen habe ich die Uhr auch angehalten.
- ich komme gleich
zum Schluss, lassen Sie mich den einen Punkt noch ansprechen - der mittelständisch geprägten Tourismuswirtschaft. Jetzt wird deutlich, wie wichtig die Struktur
der Genossenschaftsbanken und Sparkassen ist. Deshalb
fordere ich die Regierung auf, alles dafür zu tun, um
diese Wettbewerbssituation zu verbessern, um insbesondere das vom Basler Ausschuss intendierte externe Rating zu verhindern. Denn dies wäre tödlich für diese
Branche.
({0})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Es gibt auf dem Weg zu dem gemeinsamen Ziel, über
das Konsens herrscht, rot-grüne Wegmarken, die in die
falsche Richtung führen, und blau-gelbe Wegmarken,
die heißen: weniger Steuern und Abgaben, Bürokratieabbau, Deregulierung. Die führen in die richtige Richtung.
Herr Kollege,
bitte.
Ich hoffe, dass sich die
Wirtschafts- und Tourismuspolitiker in der SPD doch
noch gegen Eichel durchsetzen und mit uns den richtigen Weg gehen. Sonst wird das Potenzial von 400 000
Arbeitsplätzen
Herr Kollege,
ich muss Sie jetzt wirklich bitten, nicht noch einen und
noch einen Satz zu sagen, sondern auch wirklich Schluss
zu machen.
- nicht genutzt. Die
Verantwortung dafür müssen dann allerdings Sie tragen.
Ernst Burbacher
({0})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Rosel Neuhäuser.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Es ist schon etwas kompliziert mit
der knappen Redezeit. Ich kann mir das vorstellen, aber
ich muss mich noch kürzer fassen, Herr Burgbacher.
({0})
Insofern kann ich viele Fragen, bei denen es sich lohnt,
dass sie ausführlich diskutiert werden, auch nur thesenförmig ansprechen. Ich denke, die Diskussion darüber
können wir dann im Ausschuss alle gemeinsam führen.
Vor gut anderthalb Wochen ist die ITB zu Ende gegangen. Wir haben schon erfahren, welche Ergebnisse
sie gebracht hat. Ich möchte auch auf die positiven Entwicklungen besonders in den neuen Bundesländern, in
Mecklenburg-Vorpommern und auch in Thüringen,
verweisen. Das hat Herr Mosdorf schon ausführlich dargelegt.
Der uns heute vorliegende Tourismuspolitische Bericht der Bundesregierung ist eine Bestandsaufnahme
der rot-grünen Regierung zu wesentlichen Dimensionen
des Tourismus in Deutschland. Er enthält eine Reihe
grundsätzlicher, absoluter und prozentualer Aussagen zu
den wirtschaftlichen Strukturen und steigenden Ergebniszahlen der Branche, zu Trends und Aufgaben sowie
zu Formen zukünftiger Förderpraxis. Neben der Vervollkommnung der Darstellung zum Nachweis der wirtschaftlichen Bedeutung des Tourismus wäre eine
gleichwertige Darstellung der sozialen Bedeutung des
Tourismus erforderlich.
({1})
Thesenförmig möchte ich deshalb auf einige Punkte
aufmerksam machen: Mit einer Bruttowertschöpfung
von rund 270 Milliarden DM hat die Tourismuswirtschaft einen Anteil am Bruttoinlandsprodukt von rund
8 Prozent. Aber, so positiv der Fakt an sich ist, stellen
sich mir dennoch Fragen, auf die der Bericht keine Antwort gibt: Warum hat zum Beispiel der Tages- und Geschäftstourismus in Deutschland einen höheren Anteil
am Bruttoinlandsprodukt als die Individualreisen? Warum liegt der Tagestourismus mit einem Anteil von fast
45 Prozent am von der Tourismuswirtschaft erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukt vor allen anderen Tourismusarten?
Wenn - so wird es im Bericht festgestellt - die kleinen und mittelständischen Unternehmen auch der Tourismuswirtschaft in strukturschwachen Regionen der
Motor für Wachstum und Beschäftigung sind, dann sind
völlig neue konzeptionelle Überlegungen hinsichtlich
eines regionen- und länderübergreifenden Inlandmarketings, aber auch hinsichtlich der Angebote, die auch andere Reiseformen ermöglichen, erforderlich.
Das Reiseziel Deutschland braucht dringend die systematische, gemeinsame und überregional touristisch
nutzbare Erschließung von Kultur, Brauchtum und
Geschichte. Herr Mosdorf hat das vorhin mit „Kombinationstourismus“ umschrieben. Das heißt, bei allem
Föderalismus in der Tourismusentwicklung in Deutschland muss über Ländergrenzen hinweg ein Hauptaugenmerk auf die Gestaltung adäquater Förderprogramme
gelegt werden, wenn man will, dass die zur Verfügung
stehenden Mittel effektiver und sinnvoller zum Einsatz
kommen.
Die Tourismusbranche beschäftigt bundesweit circa
2,8 Millionen Menschen in direkten bzw. in indirekten
Arbeitsverhältnissen. Auch das ist vorhin schon einmal
angesprochen worden. Für die neuen Bundesländer muss
ich an dieser Stelle wiederholt auf die Besonderheiten
aufmerksam machen, die auf eine Schattenseite der
Branche hinweisen. Ein Großteil der touristischen Einrichtungen funktioniert bis zu 50 Prozent auf der Basis
des zweiten Arbeitsmarktes. Das liegt weit über den
Vergleichszahlen in den alten Bundesländern. Es schafft
sowohl sozial als auch in puncto Dienstleistung manches
Problem; denn Personen in befristeten und prekären Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind auf Dauer keine Lösung. Für den Tourismus - ich denke, das gibt nicht nur
in der Tourismusbranche - bedeutet Kontinuität in der
Beschäftigung auch immer Sach- und Fachkenntnis und
damit Qualität in dieser Branche.
({2})
Deshalb sollten aus meiner Sicht zukünftig Förderkriterien im Tourismus wesentlich die nachgewiesene, bilanzierte und dauerhafte Arbeitsplatzbeschaffung beinhalten.
Es ist sicher, dass für die Tourismuswirtschaft
E-Commerce völlig neue Wege eröffnet. Auch das ist
schon angesprochen worden. Die Möglichkeit schnell
zugänglicher Informationen und Buchungen via Internet
bringt aber auch Nachteile. Es ist nicht zu leugnen, dass
es durch die technologische Entwicklung letztlich zu Rationalisierungen in allen Bereichen und damit zum Arbeitsplatzabbau kommt. Ich sehe die Zukunft des Reisebüros in einer Kombination von Information über das
Internet, Telefon und Fernsehen sowie von Direktmarketing und von der Möglichkeit des Gespräches vor Ort.
Bei allem Wachstum in der Tourismuswirtschaft
muss aber davon ausgegangen werden, dass, solange die
Geschwindigkeit der touristischen Entwicklung anhält,
Wege gefunden werden müssen, um auch Natur und
Landschaft zu erhalten. Die negativen Folgen für die
vom Tourismus betroffenen Regionen und Menschen im
Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung liegen auf
der Hand: die Zunahme der Verkehrsbelastungen durch
Emissionen, die Übernutzung traditioneller Tourismusgebiete, die Beeinträchtigung des Landschaftsbildes, der
Flächenverbrauch und die Versiegelung des Bodens, der
Artenrückgang und die Bedrohung der Pflanzenwelt.
Realistische Chancen hat nachhaltiger und sanfter
Tourismus nur, wenn er nicht neben den bisherigen
Tourismusformen besteht, sondern die alleinige Tourismusform ist, eine Form, die nicht nur lebt, sondern auch
leben lässt. Hinsichtlich der Umweltfolgen wird im Bericht der Bundesregierung noch unzureichend und für
uns noch nicht weit genug auf alternative Lösungen bezüglich des Ressourcenverbrauchs eingegangen. Wir
fordern eindeutige Verbindlichkeiten für die Tourismuswirtschaft in Deutschland hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Umwelt. Ansätze dazu gibt es schon.
Ein Katalog von Maßnahmen, die das Bedingungsgefüge des Bundes im Verein von Ländern und Kommunen umreißt, ist dringend geboten. Wir fordern nach wie
vor einen nationalen Umweltplan.
Frau Kollegin,
auch Sie muss ich darauf hinweisen, dass Sie nicht mehr
alle Ihre Blätter schaffen werden.
({0})
Ich sehe ja, dass die Kollegen Tourismuspolitiker nicht
allzu viel Gelegenheit haben, im Plenum zu sprechen.
Ich bin aber schon großzügig.
Dann lassen Sie mich nur
noch ganz kurz auf ein Problem hinweisen: Eine wichtige Aufgabe im Bereich des Tourismus betrifft die Kinder- und Jugendreisen. Es stimmt mich schon nachdenklich, wenn das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vordergründig das Jugendherbergswerk berücksichtigt, nicht aber die in den neuen
Bundesländern geschaffenen Strukturen, wie zum Beispiel die Kindererholungszentren. Ich denke, dass es an
der Zeit ist, dass diese Strukturen, die gewachsen sind
und die auch erhaltenswürdig sind, die entsprechende
Förderung erhalten.
Zum Thema der barrierefreien Mobilität von Menschen mit Behinderungen ist schon ausreichend gesprochen worden.
Ich wünsche uns für die Beratungen des Tourismuspolitischen Berichts der Bundesregierung eine inhaltlich
orientierte Diskussion. Ich denke, dass wir dann auch zu
Schlussfolgerungen kommen werden.
Schönen Dank.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Brunhilde Irber.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber
Herr Brähmig, es ist schön, dass Politik bei Ihnen berechenbar ist. Sie legen seit Jahren immer dieselbe Platte
auf und wir wissen schon, womit Sie kommen.
Herr Burgbacher, Ihr liberales Tourismuskonzept
„21 Punkte für das 21. Jahrhundert“
({0})
stellt eine lange Liste der Versäumnisse Ihrer Regierungszeit dar.
({1})
Das gilt auch für Sie, Herr Brähmig: 16 Jahre haben Sie
nichts gemacht, aber jetzt treten Sie hier mit Forderungen auf. Haben Sie schon einmal ausgerechnet, was die
Forderungen, die Sie in allen Bereichen - Verkehr, Tourismus usw. - aufstellen, an Kosten im Bundeshaushalt
verursachen? Das ist doch ein Witz.
({2})
Lassen Sie uns zu den Tatsachen zurückkehren und
uns mit dem Bericht auseinandersetzen. Nur eines noch:
Sie sind 16 Jahre lang im Bummelzug gefahren, was den
Tourismus anbelangt. Wir aber sitzen im Transrapid.
({3})
- Zwischen München und dem Flughafen.
Aber nun zur Sache: Die Forderung der Opposition
für die DZT ist verständlich, aber, Herr Brähmig, in der
Höhe unangemessen. Das Problem im Deutschlandtourismus ist doch nicht, dass wir im Marketingbereich zu
wenig Mittel hätten,
({4})
sondern dass die Produktaufbereitung und die Produktgestaltung noch in den Kinderschuhen stecken. Ich
nenne Ihnen ein Beispiel aus der Automobilbranche:
BMW hat eine Menge Geld ausgegeben und intensive
Marketinganstrengungen unternommen, um die Marke
Rover auf dem deutschen Markt zu positionieren. Dass
dies nicht gelang, war keine Frage des Geldes, sondern
des Images des Produktes. Wir müssen also vermehrt
Anstrengungen unternehmen, um die Produkte im
Deutschlandtourismus vermarktungsfähig zu machen.
({5})
Hierin sehen wir auch die Aufgabe für den Deutschen
Tourismusverband.
Herr Minister Dr. Müller hat im Ausschuss bereits
darauf hingewiesen, dass er beabsichtige, die Finanzierung der DZT im nächsten Haushaltsjahr deutlich aufzustocken; das hat der Herr Staatssekretär bestätigt.
({6})
- Das hat der Herr Staatssekretär schon gesagt. - Dafür
möchte ich dem Minister ausdrücklich danken; denn er
setzt damit die seit Anbeginn dieser Regierungskoalition
entwickelte Strategie fort. Wir werden die DZT kontinuierlich in ihrer Leistungsfähigkeit stärken.
({7})
Aber es hapert noch, wie gesagt, am Produkt. Wir haben in Deutschland Ferienregionen mit wunderschönen
Landschaften - zum Beispiel die Sächsische Schweiz -,
({8})
in denen aber kein Hotel existiert, vor dem ein Bus Station machen könnte. Es gibt Ferienorte, in denen durchgängig alle Betriebe am selben Tag Ruhetag haben. Wir
haben Ferienorte, in denen die Hälfte der Zimmer ohne
Bad ausgestattet ist. Wir haben Ferienregionen, die in
Publikationen bunt inserieren, ohne eine Vorstellung
von ihrer Zielgruppe zu haben. Wir haben Regionen in
Deutschland, die mit Spaßbädern so dicht gepflastert
sind, dass man zwischen ihnen im Zehnminutentakt hinund herpendeln könnte.
({9})
- Das könnte ich Ihnen schon sagen.
({10})
- Da ist in den letzten 16 Jahren viel Geld planlos hineingeflossen. - Schließlich haben wir Regionen, die
noch nicht einmal erkannt haben, dass sie in Gestalt von
Landschaft und Natur ein vermarktungsfähiges Pfund
für ihre Wirtschaftsstruktur haben.
Dies auf Vordermann zu bringen ist nicht die Aufgabe der DZT. Wir brauchen in den Regionen vermarktungsfähige Produkte. Das bedeutet, die Leistungsträger
müssen in einen Angebotsverbund gebracht werden, ihre
Angebote aufeinander abstimmen und ein zielgruppenorientiertes Angebot erstellen. Sie müssen in Kooperation mit den Nachbarregionen Begleitprogramme entwickeln, zentrale Events organisieren und Highlights in die
Regionen bringen. Kurz gesagt, sie müssen sich für den
Urlaub 2000 fit machen.
({11})
Deutschland hat sehr wohl eine Chance gegenüber
den sonnenverwöhnten Südländern. Unsere Chance liegt
in der Qualität des Produktes. Ich danke der Bundesregierung ausdrücklich für den geänderten politischen
Schwerpunkt in diesem Tourismuspolitischen Bericht.
„Politischer Bericht“, der Name ist Programm: keine
Aneinanderreihung von bloßen Statistiken, wie wir es in
den Tourismusberichten der alten Regierung erlebt haben, sondern konkrete politische Aussagen zu den Inhalten und auch zu den Defiziten des Tourismus.
({12})
Die Umweltpolitik und die Nachhaltigkeit im Tourismus - das sind neue Schwerpunkte - sind die Schlüsselbegriffe für die Zukunft des Deutschlandtourismus.
Der Deutschlandtourismus wird nachhaltig sein oder er
wird nicht sein. Aufgabe ist es, die Qualität im Umweltbereich zu steigern, Lust auf Natur zu machen und das
zu einem herausragenden Qualitätsmerkmal im Deutschlandtourismus werden zu lassen.
({13})
Meine Kollegin, Frau Voß, ist bereits auf diesen Punkt
eingegangen.
Naturschönheit und Naturverbundenheit, Erholung
und Abwechslung, Familien- und Kinderfreundlichkeit
sind unsere Pluspunkte, die wir noch stärker herausstellen müssen.
({14})
Auch ein Pauschalurlauber kann in Deutschland gut aufgehoben sein.
Natürlich gibt es auch Schwierigkeiten. Der Anteil
der ausländischen Gäste an der Gesamtzahl der Übernachtungen ist in den neuen Bundesländern auffallend
gering. Die neuen Bundesländer haben im Ausland offensichtlich noch mit dem Image der vergangenen Jahre
zu kämpfen. Ich rege an, eine gesonderte Vermarktungsinitiative für die neuen Bundesländer und ihr insgesamt
positives Image über die DZT zu starten. Herr Brähmig,
das wird Sie freuen: Let‘s go east!
({15})
Wie ich sehe, lacht Herr Brähmig nicht einmal.
Ansonsten kann der Deutschlandtourismus aufgrund
der hervorragenden Wachstumszahlen rundweg begeistern. Dies hat der Herr Staatssekretär ausgeführt. Er hat
verschwiegen, dass die Ursachen hierfür in der Politik
der Bundesregierung liegen und dass ein ausgezeichnetes Konjunkturklima geschaffen worden ist. Davon profitiert die Branche bei weitem mehr als von den Forderungen der Opposition.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen
Brähmig?
Aber selbstverständlich.
Frau Kollegin Irber,
zu dem „Let’s go east!“ vielleicht so viel: Nicht reden,
sondern machen!
Sie haben mich in Ihrer Einführung vorhin so
charmant angesprochen. In diesem Jahr findet die
EXPO 2000 in Deutschland statt. Das Land Niedersachsen hat den Transrapid als ein weltweites Projekt,
als Zukunftstechnologie angemeldet. Könnten Sie sich
vorstellen, dass die Bundesregierung und vielleicht sogar Bundeskanzler die EXPO zum Anlass nehmen könnten, um dort den Spatenstich für dieses Hightech- und
Innovationsprojekt zum Wohle Deutschlands vorzunehmen?
({0})
Herr Brähmig, wenn ich
Bundeskanzler wäre, dann würde ich das machen; aber
ich bin es nicht. Da müssen Sie ihn schon selber fragen.
Ich möchte Ihnen das Wachstum des Tourismus gerade in den neuen Ländern darstellen. 17,8 Millionen Gäste sind in Ostdeutschland 1999 gezählt worden. Das ist eine Steigerung gegenüber 1998 um
10,3 Prozent bei den Ankünften und es bedeutet 54 Millionen Übernachtungen - ein Plus von 10,9 Prozent.
({0})
Das führt das, was Sie vorher sagten, ein bisschen ad
absurdum. Die Kapazitätsauslastung ist in den alten
Ländern auf 35,3 Prozent und in den neuen Ländern auf
32,5 Prozent gestiegen. Der Zuwachs liegt etwa bei
3 Prozent.
({1})
- Nein, nicht Bettenzuwachs. Die Verweildauer hat sich
erhöht. Gerade die neuen Länder haben wegen dieses
Zuwachses ein hohes Wirtschaftswachstum. Es ist höher
als das des Westens im gesamten wirtschaftlichen Bereich. Da ist der Tourismus federführend.
Dies zeigt, dass die Leitfunktion dieser Branche im
Osten wirkt. Der Tourismus ist das Zugpferd der ostdeutschen Konjunktur. Ich möchte an dieser Stelle auch
einmal sagen: Anerkennung den ostdeutschen Ländern Anerkennung, wem Anerkennung gebührt.
({2})
Ich möchte etwas auslassen; denn ich bin schon über
der Zeit.
Das ist auch
bei Ihren Kollegen die Regel.
Ich möchte nur noch ein
paar Worte sagen. Der Kollege Holetschek hat hier eine
Frage bezüglich des Kur- und Gesundheitstourismus
gestellt. Dazu muss ich Ihnen schon sagen: Die Heilbäder haben im letzten Jahr mit einem Plus von
3,3 Prozent wieder einen spürbaren Zuwachs erzielen
können. Dies ist natürlich nicht das Niveau von
1995/1996 oder der Zeit davor. Daran sind aber Sie von
der Opposition mit Ihrer unsäglichen Gesundheitsreform
von damals schuld.
({0})
- Ja, natürlich. Da ist doch ein Einbruch gewesen.
({1})
- Ja, eben. Darüber haben wir uns doch hier auseinander
gesetzt.
Auch der Städtetourismus verbuchte Steigerungen,
und zwar in den Großstädten in Höhe von 6,3 Prozent.
Das ist deutlich höher als die durchschnittlichen Steigerungen in den übrigen Gemeinden. Dies ist eine gute Bilanz für den Geschäftsreiseverkehr.
Wir sind auf einem guten Weg. Deswegen sollte die
Opposition ihre Aussage, es habe sich nicht viel bewegt,
zurücknehmen, die erfolgreiche Politik der Bundesregierung anerkennen und konstruktive Vorschläge machen,
wie der Deutschlandtourismus gefördert werden kann.
Wir wünschen uns keine überzogenen Selbstdarstellungen im Tourismusbeirat. Dies ist vielmehr ein Forum für
Fachleute und sollte nicht der Fortsetzung der Ausschusspolitik dienen.
Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in
den zuständigen Ministerien sowie den Haushältern und
den Vertretern der Branche und der Verbände. Ihr Beitrag ist die Grundlage zum Erfolg.
In diesem Sinne wünsche ich der Bundesregierung
eine weiterhin glückliche Hand im Umgang mit der
Branche und uns allen eine Fortsetzung der Erfolgsstory
„Tourismus in Deutschland“.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Anita Schäfer.
({0})
Die gab es aber nicht im
Sonderangebot. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Tourismuspolitische
Bericht der Bundesregierung ist eine schöne Statistik, in
der ich leider keine innovativen Ansätze für die Entwicklung des Tourismusstandortes Deutschland erkennen kann.
({0})
- Ja.
({1})
Die Bundesregierung verzichtet nicht nur auf jegliche
programmatischen Aussagen, sondern äußert sich auch
nicht zu so wichtigen Fragen wie zum Beispiel die der
künftigen Rolle des Autoverkehrs im Rahmen der Verkehrsträgerentwicklung.
Die deutsche Wirtschaft ist von Globalisierung und
Arbeitsteilung geprägt. Dies gilt auch für den Tourismus. Somit ist Mobilität für die zukünftige Entwicklung
des Standortes Deutschland ein Schlüsselfaktor. Engpässe im Verkehrssystem blockieren die Entwicklung der
Tourismuswirtschaft. Deutschland muss sich zu einem
wichtigen touristischen Verkehrsdrehkreuz in Europa
entwickeln, und zwar zu Wasser, in der Luft, auf der
Schiene und auf der Straße.
Tatsächlich aber bewirkt die Politik der Bundesregierung das genaue Gegenteil: Überall werden Mittel an der
falschen Stelle gestrichen. In meinem Wahlkreis steht
zurzeit eine Bahnlinie zur Disposition, die das 60 000
Einwohner zählende Mittelzentrum Pirmasens mit dem
Oberzentrum Kaiserslautern und seinen 100 000 Menschen verbindet. Obwohl diese Strecke für viele Menschen unentbehrlich ist, werden Mittel gekürzt und wegen der schlechten Haushaltslage die Schienenfahrwege
nicht mehr in Ordnung gehalten.
({2})
Das ist geradezu signifikant für die kurzsichtige und
engstirnige Politik von Rot-Grün.
({3})
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollege Faße?
Nein. Ich möchte mit
meiner Rede fortfahren.
Bei einer solchen Politik kann es uns nicht verwundern, wenn gleichzeitig die Straßen überfüllt sind. Es
drängt sich geradezu der Verdacht auf, dass Rot-Grün
die Bahn vernachlässigt, um auf der Straße umso mehr
die so genannte Ökosteuer abkassieren zu können.
({0})
Wie widersprüchlich die Politik der Regierung ist,
möchte ich an einem weiteren Beispiel verdeutlichen:
Das kurpfälzische Oberzentrum Mannheim soll von der
neuen ICE-Verbindung Frankfurt-Stuttgart abgehängt
werden. Somit hätte die gesamte Pfalz erhebliche
Nachteile, was nicht ohne Folgen bliebe.
({1})
- In der Tat, auch das Saarland. - Welchen Sinn hätte
noch der Ausbau der Schnellbahnstrecke Paris-Mannheim auf französischer Seite, wenn es in Mannheim keine Verknüpfung mit dem deutschen Schnellbahnnetz
gäbe?
Ich fordere daher die Bundesregierung auf, die Investitionen für die Verkehrsinfrastruktur zukunftsorientiert
zu erhöhen, was auch heißen soll, dass Knoten und
Schnittstellen unter Berücksichtigung von Zubringern
vorangebracht werden. Auch bei den Flughäfen müssen
wir darauf achten, dass sich neben den oftmals überlasteten Großflughäfen auch kleine Flugplätze behaupten
können, wie zum Beispiel mein Heimatflugplatz Zweibrücken, der ein innovatives Konversionsprojekt darstellt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bericht ist aber
auch in anderer Hinsicht unvollständig, da er einen wesentlichen Teil der Branche, nämlich die mittelständischen Reisevermittlungen und Reiseveranstalter, gar
nicht berücksichtigt.
Vor der Bundestagswahl hieß es noch, der Mittelstand
würde zur Kanzlersache. Aber in diesem Bericht werden
die Probleme des Mittelstandes gänzlich totgeschwiegen.
({2})
Das kann nur zweierlei bedeuten: Entweder kennt die
Bundesregierung die Probleme des Mittelstandes gar
nicht oder aber sie ist nicht willens, diese Probleme zu
lösen. Das eine ist so schlimm wie das andere.
In diesem Zusammenhang hätte ich mir eine Stellungnahme der Bundesregierung auch zu den gewaltigen
Provisionsabsenkungen in der Branche gewünscht. Mit
bis zu 45 Prozent Absenkung gefährden sie die Existenz
der eigentümergeführten Reisebüros, die einen wichtigen Bestandteil der mittelständischen Unternehmenskultur ausmachen.
Welche innovative und ideologiefreie Lenkfunktion
hat die Ökosteuer? Ich denke, keine. Für das Gastgewerbe hat sich die Ökosteuer nach einem Jahr Erprobung als Mogelpackung erster Güte entwickelt. Wenn
die durchschnittliche Nettobelastung eines Betriebes
mehr als 10 000 DM ausmacht, dann ist das nicht nur
arbeitsplatzfeindlich, nein, es ist auch für den Tourismusstandort Deutschland extrem wettbewerbshemmend.
Die Beitragssenkung um 0,4 Prozentpunkte in der Rentenversicherung macht diesen Schaden nicht wett, zumal
viele Familienbetriebe im mittelständischen Gastgewerbe davon überhaupt nicht profitieren.
Meine Damen und Herren von der Grünen-Bundestagsfraktion, können Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren, dass Betrieben in der Hotellerie durch Ökoaudit
besondere Energieeffizienz bescheinigt wird, dass aber
genau solche Betriebe immer noch jährliche Mehrbelastungen durch die Ökosteuer von durchschnittlich
5 000 DM zu tragen haben? Ich denke, Sie werden mir
darauf keine befriedigende Antwort geben können.
Es ist für uns von der CDU/CSU auch heute noch ein
Rätsel, wie sich die SPD-Fraktion in dieser Frage von
ihrem Koalitionspartner hat über den Tisch ziehen lassen. Gerade die ökologisch und ökonomisch sinnvollen
Verkehrsträger Bus und Bahn werden durch die Ökosteuer in stärkerem Maße belastet als der Individualverkehr. Nach Berechnungen der Deutschen Bahn AG entstehen alleine durch die erste Stufe der Ökosteuer jährliche Mehrkosten von circa 284 Millionen DM.
({3})
Den Omnibusunternehmern entstehen laut eigenen Angaben Mehrkosten in Höhe von circa 42 Millionen DM.
Somit wird Urlaub in Deutschland noch weiter verteuert.
Wann begreift endlich die Bundesregierung, dass sie
mit ihrem Handeln die internationale Wertbewerbsfähigkeit des deutschen Tourismus beschneidet? Die Regierung geht in ihrem Bericht nicht auf die für die
Branche wichtige und heiß diskutierte Frage der
Mehrwertsteuersenkung im Beherbergungsgewerbe ein.
Das kann ich nachvollziehen, denn gerade die SPD hatte
eine solche Senkung im letzten Wahlkampf versprochen
und wird nun nur ungern einräumen, dass sie auch hier
ein Versprechen nicht gehalten hat.
({4})
Bundeswirtschaftsminister Müller hatte schon bei der
Eröffnung der vorletzten Internationalen Tourismusbörse in Berlin am 6. März 1999 auf die zum Teil gewaltigen Unterschiede bei den Mehrwertsteuersätzen in der
EU hingewiesen und dies als ein großes Handicap bezeichnet. Er sagte darüber hinaus, dass deutsche Hotelund Gaststättenbetriebe mit 16 Prozent relativ hoch belastet seien. Diesen speziellen tourismuspolitischen Aspekt habe er besonders im Auge, denn er sei ein handfester Wettbewerbsnachteil für das deutsche Geschäft.
Wer für mehr Urlaub in unserem Lande eintritt, so der
Minister weiter, müsse diesen Nachteil zu beseitigen
versuchen. Des Weiteren gab er zu, noch nicht erfolgreich gewesen zu sein. Er wolle aber beim Bundesfinanzminister für eine deutsche Zwischenregelung am
Ball bleiben, bis die Sätze in Europa vereinheitlicht
würden. Doch offensichtlich ist der Ball nicht mehr im
Spielfeld. Erfolge jedenfalls sind ausgeblieben.
Da meine Redezeit zu Ende geht, kann ich auf den
nächsten Teil meiner Rede nicht mehr eingehen. Vielleicht wird meine Kollegin dies tun.
Ich komme zum Schluss. Für meine Fraktion fordere
ich die sofortige Rücknahme der so genannten ökologischen Steuerreform, die Harmonisierung der gastgewerblichen Mehrwertsteuersätze in der EU sowie die
zügige Realisierung der beschlossenen Bundesverkehrswegeplanung. Wenn Sie das tun, dann wird uns die Regierung vielleicht bereits im nächsten Jahr einen innovativen und effektiven tourismuspolitischen Bericht vorlegen können, der diesen Namen dann auch verdient.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Birgit Roth.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Offen gestanden, Frau Schäfer, bin ich über Ihre Aussagen sehr verwundert. Sie kritisieren wieder einmal die Ökosteuer.
Doch das simple Wiederholen einer Kritik heißt noch
lange nicht, dass sie auch zutrifft.
({0})
Sie kritisieren die zu geringen Mittel der DZT, sie kritisieren die Verkehrspolitik. Wenn Ihre Kritik zutreffen
würde, dann müsste es doch ziemlich schlecht um die
Tourismusbranche bestellt sein, oder nicht?
({1})
Schauen Sie sich doch einmal die Tatsachen an!
Staatssekretär Mosdorf hat es bereits erwähnt. Wir gehen davon aus, dass der Tourismusbereich mittlerweile
einen Anteil von 8 Prozent am Bruttosozialprodukt hat.
({2})
Das ist ein Umsatz von ungefähr 275 bis 300 Milliarden DM. Wir gehen davon aus, dass dort ungefähr
2,8 Millionen Arbeitsplätze bereit gestellt werden, abgesehen von circa 90 000 Ausbildungsplätzen.
({3})
Wenn Sie diese Kritik einmal reflektieren, dann werden
Sie sehen, dass sie schlicht und einfach nicht berechtigt
ist.
({4})
So viel dazu.
Lassen Sie mich zum Tourismusbericht der Bundesregierung zurückkommen. Trotz Sparpaket - wir alle
wissen, wie prekär die Haushaltssituation ist; denn wir
wissen ganz genau, welche Finanzlöcher wir von Ihnen
übernommen haben -
({5})
haben wir es geschafft, die Mittel für die DZT stabil zu
halten. Herr Brähmig, ich möchte noch einmal darauf
hinweisen, dass Sie die Mittel für die DZT auf
29 Millionen DM abgesenkt haben. Auf Grund unserer
Intervention ist es gelungen, dass die Mittel stabil bleiben. Staatssekretär Mosdorf hat bereits angedeutet, dass
diese in den nächsten Jahren sogar noch erhöht werden.
Aus den ERP-Programmen wurden 1998 insgesamt
460 Millionen DM für Existenzgründungen und vor allem auch für den Ausbau von Betrieben im Hotel- und
Gaststättengewerbe bereit gestellt. So viel zur Mittelstandsförderung, die die Regierung auch realisiert.
({6})
Hinzu kommen Mittel von ungefähr 3,8 Milliarden
Euro im Bereich der europäischen Sozialfonds, die Frau Schäfer, ich bitte Sie, zuzuhören - in Maßnahmen
im Bereich der Infrastruktur geflossen sind. Sie wissen
ganz genau, dass ein gut ausgebauter infrastruktureller
Bereich natürlich auch dem Tourismus zugute kommt.
Es hat ein Antistauprogramm gegeben, das Verkehrsminister Klimmt bereits vorgestellt hat.
({7})
Da werden 7,4 Milliarden DM eingestellt, um wiederum
Verbesserungen für den Infrastrukturbereich zu erreichen. Auch das hat einen direkten Einfluss auf den Tourismus.
({8})
Auch mit den Zuschüssen im Rahmen der Gemeinschaftsausgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ wurden in den letzten Jahren im Gastgewerbe Investitionen von insgesamt 15 Milliarden DM
ausgelöst. Das heißt, es wurden ungefähr 33 000 zusätzliche Dauerarbeitsplätze geschaffen. Genau dahin wollen wir, dass wir sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze realisieren und eben nicht 630-DM-Jobs, wie
vorhin von Ihnen angesprochen, Herr Brähmig.
({9})
Hinzu kommen vielfältige Qualifizierungsmaßnahmen,
Schulungs- und Beratungsprogramme des Bundes. Wie
bereits erwähnt, wurden 24 Kompetenzzentren in den
einzelnen Bundesländern neu eingerichtet.
Ein Wort noch zu den Konzentrationstendenzen im
Tourismusbereich, die bereits angesprochen worden
sind. Diese hat das Bundeskartellamt - mit Auflagen
wohlgemerkt - genehmigt. Das heißt, wir begleiten diese Entwicklung in diesem Bereich sehr verantwortungsvoll. Hinzu kommt, dass die Betriebe durch die Steuerreform je nach Umsatz bzw. durch die Unternehmensteuerreform ganz klar entlastet werden. Hierbei sollte
die Ökosteuer, Frau Schäfer, nicht vergessen werden,
denn die Ökosteuer trägt zu einer Reduzierung der
Lohnnebenkosten bei, wie Sie bereits erwähnt haben.
({10})
Durch weitere flankierende Maßnahmen, wie einen
Aktionsplan „Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“, wird die
Nutzung von modernen Informationstechniken weiter
verbessert. Denn die Tourismusbranche ist ohne den
E-Commerce überhaupt nicht mehr vorstellbar.
Abschließend wäre zu sagen: Aufgrund der veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind die Perspektiven in der Tourismuswirtschaft ganz klar durch
die Bundesregierung positiv verbessert worden.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ilse Aigner.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der
Tourismus hat unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten
ein besonders gutes Image. Er wird als eine der Boombranchen mit fest programmierten Wachstumsraten gehandelt und gilt als Hoffnungsträger für neue Arbeitsplätze. Die Tourismusbranche liegt, wie wir schon gehört haben, bei 8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes
und hat ein Volumen von 275 Milliarden DM. Dies ist
eine ganze Menge.
Leider muss ich hier anmerken, dass der von Ihnen
vorgelegte Bericht weder vom Umfang her noch in inhaltlicher Weise den Stellenwert erfährt, der der Tourismusindustrie aufgrund ihrer Wirtschaftskraft eigentlich zukäme. Sinnvoll wäre zum Beispiel ein Kapitel
über die Auswirkungen des Euro gewesen. Wir streben
schließlich einen juristischen „big-bang“ an; das heißt,
ab dem 1. Januar 2002 sollen ausschließlich Euro-Banknoten und -münzen gesetzliches Zahlungsmittel sein.
Hier wäre ein Kapitel zu den Perspektiven für die Branche wichtig gewesen.
Für die deutsche Tourismuswirtschaft wird die Einführung des Euro ein Meilenstein sein. Für die Bürger
wird der Wegfall des lästigen und kostspieligen Geldumtausches bei Auslandsreisen der offensichtlichste
Vorteil sein. Die einheitliche Währung macht auch die
umständlichen Umrechnungen überflüssig. Zusammen
mit der höheren Preistransparenz ist deshalb von einer
deutlichen Zunahme des Reiseverkehrs nicht nur innerhalb Europas zu rechnen, sondern auch für Touristen aus
Übersee werden Anreize geschaffen, nach Europa und
nach Deutschland zu reisen. Schon jetzt hat die Tourismuswirtschaft in besonderem Maße von den festen
Wechselkursen innerhalb der Währungsunion profitiert.
Die betriebliche Kalkulation, die Abrechnungen mit den
touristischen Leistungsträgern im Ausland und auch die
Buchhaltung werden vereinfacht. Dies wird die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Reiseveranstalter steigern und
vielleicht helfen, unseren Ruf als teures Urlaubsland abzustreifen.
Wir sind uns über die Parteigrenzen hinweg darin einig, dass der Wirtschaftsfaktor Tourismus weiter gefördert werden muss.
({0})
Die großen Chancen der besonders personalintensiven
Wachstumsbranche Tourismus müssen bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit konsequent genutzt werden. In
einem hart umkämpften internationalen Markt benötigt
die Tourismusbranche daher auch Korrekturen in der
Steuer-, Wirtschafts- und Verkehrspolitik.
Betrachten wir einmal die Beschäftigten- und Arbeitsmarktsituation. Im gesamten Bereich des Reiseverkehrs arbeiten rund 2,8 Millionen Erwerbstätige; die
Zahl der Ausbildungsplätze beläuft sich - Sie haben es
schon angesprochen - auf 91 000. Für Deutschland bedeutet dies, das etwa 5 Prozent der Arbeitsplätze direkt
und 13 Prozent indirekt vom Tourismus abhängen. Dabei sind die Chancen für Berufsanfänger und Seiteneinsteiger wie auch für hoch qualifizierte Führungskräfte
groß. Die Bereitschaft der Tourismusbranche, ihren
Nachwuchs zu schulen, ist dabei äußerst lobenswert.
Birgit Roth ({1})
Lassen Sie mich etwas zur Ausbildungssituation sagen. Als typischem Dienstleistungssektor kommt der
Branche durch ihre zahlreichen Beschäftigungs- und
Ausbildungsmöglichkeiten eine besondere Bedeutung
zu. Sie leistet einen Beitrag zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen. Dies ist nicht zuletzt ein positives Ergebnis einer Neuordnung und Modernisierung der
Ausbildungsberufe in der Tourismuswirtschaft. Sehr geehrter Herr Staatssekretär Mosdorf, eine kleine Anmerkung: Diese sind von der alten Bundesregierung auf den
Weg gebracht worden, genauso wie die IT-Berufe, zu
denen Sie letztes Mal in der Sendung „Sabine
Christiansen“, so glaube ich, gesagt haben, dass Sie die
eingeführt hätten. Sie haben die Ausbildungsordnungen
in Kraft gesetzt, aber konzipiert wurden sie natürlich
noch von der alten Regierung. Das nur einmal zur Richtigstellung.
({2})
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage der Kollegin Irber?
Aber immer.
Weil Sie gerade die Ausbildungsplätze angesprochen haben: Stimmen Sie mir darin
zu, dass in der letzten Legislaturperiode auf Antrag der
SPD der neue Beruf des Systemgastronomen/der Systemgastronomin geschaffen wurde und dass in diesem
Bereich zurzeit 395 Ausbildungsverhältnisse gemeldet
sind?
Sehr geehrte Frau Irber, es
ist nicht nur ein Beruf neu konzipiert worden, sondern es
sind eine Reihe von Ausbildungsberufen modernisiert
worden. Da hat man gemeinsam an einem Strang gezogen - ich glaube, da sind wir uns auch einig -, in dem
Bemühen, mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. Aber
dies ist in der letzten Legislaturperiode geschehen.
({0})
In den zwölf bestehenden Ausbildungsberufen der
Tourismusbranche bestanden Ende 1998, wie gesagt,
91 000 Ausbildungsverträge. Aufbauend auf einer fundierten Erstausbildung bietet dieser Bereich hervorragende Fort- und Weiterbildungsangebote. Die Förderung
der Aufstiegswilligen durch das noch von uns eingeführte so genannte Meister-BAföG ist dabei ein wirksames
und erfolgreiches Instrument zur Weiterqualifizierung
junger Menschen. Ich möchte Sie schon heute auffordern, mit uns weiter daran zu arbeiten, es zu intensivieren und weitere Förderungsmaßnahmen ins MeisterBAföG einzuführen.
Eine positive Entwicklung für Deutschland erwarten
wir auch von der Weltausstellung EXPO 2000 vom
1. Juni bis zum 31. Oktober in Hannover. Hier bietet
sich eine einmalige Chance, das Reiseland Deutschland
als modernes und attraktives Land darzustellen. Die Zusammenarbeit zwischen der EXPO und der Tourismuswirtschaft hat leider erst etwas spät eingesetzt. Es bedurfte erst zweier intensiver Gespräche des Ausschusses
mit der Geschäftsführung der EXPO, bis hier Bewegung
in die Sache kam. Ende Januar 2000 haben die Verantwortlichen der EXPO dann zum dritten Mal über den
Stand der Vorbereitungen im Ausschuss berichtet.
Eine Forderung des Tourismusausschusses war, ein
kundenfreundliches und unkompliziertes Buchungssystem für ein flächendeckendes touristisches Angebot in
ganz Deutschland bzw. zum Besuch der EXPO zur Verfügung zu stellen. Wichtig ist dafür eine Vernetzung der
Reservierungssysteme sowie die Bündelung der Einzelleistungen wie des Verkaufs der Eintrittskarten, der
Übernachtungen und der An- und Abreise zum Beispiel
mit der Bahn möglichst bei einer zentralen Stelle. Dieses
Problem scheint dem Vernehmen nach gelöst zu sein.
Nach monatelanger Diskussion tritt die EXPO 2000 jetzt
doch als Anbieter von Pauschalangeboten für die Weltausstellung auf. Mit dem EXPO-2000-Erlebnisplaner
sind ab jetzt auch komplette Pakete inklusive Bahnreise
und reserviertem Parkplatz buchbar.
Der Bedeutung des Ereignisses völlig unangemessen,
handelt der Tourismuspolitische Bericht der Bundesregierung das Ereignis EXPO lediglich auf einer halben
Seite ab. Das ist meines Erachtens nicht ausreichend.
({1})
Ich möchte darauf hinweisen, dass schon jetzt die touristische Nachbereitung der EXPO für das nächste Jahr beginnen sollte. Diese Anregung möchte ich gleich an Sie
weitergeben.
Ziel unserer Tourismuspolitik muss es auch weiterhin
sein, ein qualitatives und nicht ein quantitatives Wachstum zu erreichen. Es müssen insbesondere die kleinen
und mittleren Anbieter gestärkt werden. Lassen Sie uns
gemeinsam die notwendigen Maßnahmen für den Tourismusstandort Deutschland treffen.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe
damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/2473 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Klaus Riegert, Friedrich Bohl, Peter Letzgus,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Doping im Spitzensport und Fitnessbereich
- Drucksachen 14/1032, 14/1867 Ilse Aigner
Es liegen Entschließungsanträge der Fraktion der
CDU/CSU und der Fraktion der F.D.P. vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Kein
Widerspruch. Dann ist auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Klaus Riegert.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Der Fall Baumann
und seine mediale Überbewertung haben den Spitzensport mit Doping in Verbindung und damit in negative Schlagzeilen gebracht. Dabei ist Doping kein auf den
Spitzensport einzugrenzendes Phänomen. Die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion hat ihre Große Anfrage zum
Doping bewusst auf den Fitnessbereich erweitert. Hierzu
wird mein Kollege Norbert Barthle nähere Ausführungen machen.
Der Fall Baumann ist leider von höherem öffentlichen Interesse als gesundheitliche Dauerschäden und
Todesfälle durch Medikamentenmissbrauch im Fitnessbereich. Wir wollten durch unsere Anfrage von der Bundesregierung wissen, ob sie in der Kontinuität der sehr
erfolgreichen Dopingpolitik ihrer Vorgängerregierung
steht, wie sie dem Dopingproblem im Freizeitsport wirkungsvoll begegnen will und wie sie zu den zahlreichen
vollmundigen Ankündigungen des Bundesministers des
Innern steht, jetzt gehe es mit der Dopingbekämpfung
erst richtig los.
({0})
Herr Minister, Ihr Elan zu Beginn Ihrer Amtstätigkeit
war enorm. Konferenzen, Presseverlautbarungen, EUErklärungen, Treffen mit Sportlern und natürlich auch
Drohungen mit Boykott und Entzug von Fördermitteln
ließen ein neues Zeitalter der Dopingbekämpfung erwarten.
Ihren Aktionismus hat Martin Lauer treffend bewertet: „Schily macht dicke Backen“ und „Das Ergebnis
wird so mager sein, dass man besser schon jetzt vergisst,
wer sich da so weit aus dem Fenster gelehnt hat“. So
stand es in der „Welt“ vom 4. Juni 1999.
({1})
Die Antwort der Bundesregierung entspricht dieser
Erwartung: ausweichend, offen lassend, behutsame Distanzierung von den eigenen Ankündigungen. Eine zweijährige Mindeststrafe für Ersttäter wird es nicht geben,
auch keine internationale Anti-Doping-Agentur à la
Schily. Von ihrer Drohung mit einem Olympiaboykott,
verbreitet in den Medien, distanziert sich die Bundesregierung.
Bei der Bekämpfung des Dopings haben Sie unsere
Unterstützung. Aber Sie müssen realistisch bleiben.
Nehmen Sie Ihre Person zurück und stellen Sie die Sache in den Vordergrund!
({2})
Wir sind uns in diesem Hause einig, dass der erfolgreichen Bekämpfung des Dopings im Spitzensport eine
entscheidende Bedeutung zukommt. Spitzensport setzt
entscheidende Impulse für die Akzeptanz und Entwicklung des gesamten Sports und hat insbesondere für die
jungen Menschen eine hohe Vorbildfunktion. Spitzensport besitzt eine hohe Popularität und eine weite öffentliche Verbreitung. Deshalb brauchen wir einen sauberen, manipulationsfreien Spitzensport. Es wäre das
Ende des Spitzensports, würden wir in der Bekämpfung
des Dopings nachlassen.
Deutschland hat bei der Bekämpfung des Dopings im
internationalen Vergleich ein hohes Niveau. Dies ist
ohne Zweifel ein Verdienst des Sports, des
Sportausschusses, aber auch der alten Bundesregierung.
Bei den unangemeldeten Trainingskontrollen etwa
liegen wir weltweit vorn. Wir kontrollieren fünfmal so
viel wie in Frankreich. Was nützt den Franzosen ein
staatliches Anti-Doping-Gesetz, wenn sie kaum
kontrollieren? Die Sachverständigen bei unserer Anhörung lehnten ein Anti-Doping-Gesetz klar ab.
Bekämpfung des Dopings im Spitzensport ist in erster
Linie Sache des Sports. Wir dürfen den Sport nicht aus
seiner Verantwortung entlassen. In ihrer Antwort distanziert sich die Bundesregierung von der Forderung einiger Koalitionspolitiker, in Deutschland ein Anti-DopingGesetz nach französischem Muster einzuführen. Sie
macht dies zwar sehr behutsam, aber sehr akzentuiert.
Wir brauchen keinen staatlichen Zugriff auf Verbände
und Vereine.
Die Organisation der Dopingbekämpfung muss gestrafft werden. Die Sachverständigen, der Bundesminister des Innern, auch Koalitionspolitiker fordern eine
rechtlich eigenständige und unabhängige nationale AntiDoping-Agentur. Auch wir fordern dies.
Wir brauchen eine solche unabhängige Anti-DopingAgentur. Diese ist aber nicht umsonst zu haben. Herr
Minister, dies wussten Sie, als Sie die Forderung erhoben. Was Sie für den internationalen Bereich von anderen fordern, erfüllen Sie bitte zunächst im nationalen Bereich. Stellen Sie die erforderlichen Mittel zur Verfügung! Der Präsident des Deutschen Sportbundes hat sie
angemahnt.
Diese nationale Anti-Doping-Agentur sollte auch die
Schiedsgerichtsbarkeit ausüben. Nichts ist für den Sport
schädlicher als lange Verfahren, die in der Öffentlichkeit
immer wieder den Eindruck hervorheben, dass Spitzensport durch Doping belastet ist. Eine wirksame Dopingbekämpfung kommt ohne abschreckende Sanktionen nicht aus.
Es nützt aber nichts, öffentliche Erklärungen und Beschlüsse der EU-Sportminister herbeizuführen, wenn die
rechtlichen Möglichkeiten fehlen. Herr Schily, Sie haben eine zweijährige Mindestsperre gefordert. Der Konstanzer Arbeitskreis für Sportrecht und der Richter des
Bundesverfassungsgerichts Professor Dr. Udo Steiner
widersprechen Ihrer These, Herr Minister. Eine zweijährige Mindestsperre bei Erstvergehen ist nach Ansicht aller Rechtsexperten nicht haltbar.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Sie werden jetzt sicher gespannt sein, was die
CDU/CSU außer der Anti-Doping-Agentur noch fordert:
Erstens. Erhöhen Sie, Herr Minister, die Zahl der Trainingskontrollen! 6 000 statt 4 000 Trainingskontrollen:
Das Abschreckungspotenzial ist heute nur bei den Topathleten groß. Sie werden bis zu zehnmal im Jahr unangemeldet kontrolliert. Nur 0,5 Prozent von über 4 000
unangemeldeten Trainingskontrollen waren positiv. Bei
den B-, C- und D-Kadern wird theoretisch einmal in
zwei Jahren kontrolliert.
Geben Sie dem Sport die zusätzlichen Mittel! Dieses
hilft einer ernsthaften und präventiven Dopingbekämpfung mehr als öffentliche Bekundungen.
({3})
Zweitens. Wir brauchen - auch dies hat die Anhörung
ergeben - ein Dopingforschungsprogramm, abgestimmt
auf internationaler Ebene.
Drittens. Wir nehmen den Hinweis des Aktivensprechers bei der Anhörung sehr ernst. Herr Minister, ich
empfehle Ihnen, das Statement nachzulesen. Der Aktivensprecher betonte, dass eine gute Infrastruktur von
Trainings- und Wettkampfeinrichtungen verbunden mit
sportmedizinischer, trainingswissenschaftlicher und sozialer Betreuung Spitzenleistungen auf international hohem Niveau sichert, ohne auf illegale Methoden zurückgreifen zu müssen. Was aber macht die Bundesregierung? Sie kürzt bei den zentralen Maßnahmen und den
Investitionsmaßnahmen für den Spitzensport. Nehmen
Sie diese Kürzungen zurück! Auch das gehört zu einer
präventiven Dopingbekämpfung.
({4})
Der Sport wird das bisherige Leistungspaket in den
Olympiastützpunkten und Bundesleistungszentren angesichts der jetzigen Kürzungen nicht halten können. Sie
sprechen immer von Übereinstimmung mit dem DSB. In
Wirklichkeit diktieren Sie Kürzungen und verlangen
Umsetzung. Dies verstehen wir nicht unter fairem partnerschaftlichen Verhalten.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Dopingkontrollsystem wollen wir beibehalten und ausbauen. Wir müssen die Verbände ermutigen, mehr Druck
auf internationale Verbände auszuüben, um zur größtmöglichen internationalen Übereinstimmung bei der Bekämpfung des Dopings zu kommen. Dies wird umso
glaubwürdiger sein, wenn wir unsere Anstrengungen im
nationalen Bereich, also bei uns zu Hause, verstärken.
Herr Minister, es gibt für die Dopingbekämpfung einen ausgewiesenen Sachverstand. Wir stimmen mit den
Sachverständigen überein. Setzen Sie die Ergebnisse der
Anhörung in praktische Politik um! Dies macht sie
glaubwürdig, nicht lautstarke öffentliche Ankündigungen.
({6})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Dagmar Freitag.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute
mit der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zu Doping im Spitzensport und im Fitnessbereich. Der sportpolitische
Sprecher der größten Oppositionsfraktion hat uns bereits
per Pressemitteilung wissen lassen, was er von der Beantwortung seiner Fragen durch die Bundesregierung
hält: nämlich nichts. Es wird Sie, Herr Kollege Riegert,
nicht überraschen, dass wir Ihre Einschätzung nicht teilen. Im Gegenteil: Ich bin verwundert, wie gut die Antworten der Regierung auf Ihre teilweise etwas unglücklich formulierten Fragen - ich vermeide das Wort „dilettantisch“ - sind.
({0})
Als Anschauungsbeispiel empfehle ich, einmal die Frage 19 nachzulesen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung hat eine umfassende, verständliche Darstellung der Sachlage gegeben, neue Akzente beschrieben und deutlich gemacht, dass sie sich aktiv und erfolgreich in diese schwierige Diskussion einschaltet. Ihnen
ist offensichtlich mehr daran gelegen, den Bundesminister des Innern - neuerdings auch den Kanzler - zu attackieren, als sich mit Argumenten zu befassen.
({1})
Es drängt sich einmal mehr der Eindruck auf, dass nicht
die Sache, sondern schlichter vordergründiger Aktionismus Ihr Handeln bestimmt.
({2})
Nur so, Herr Kollege, sind Ihre Angriffe, Vorwürfe und
Halbwahrheiten überhaupt erklärbar.
Ich bemühe als nur ein Beispiel Ihrer verklärten Darstellungsweise die Historie der Verschärfung des Arzneimittelgesetzes. Im November 1999 behaupteten Sie
in einer Presseerklärung wörtlich:
Wir begrüßen deshalb die Einsicht, die Auswirkungen des 1998 auf Initiative der damaligen Bundesregierung geänderten Arzneimittelgesetzes abzuwarten und dort eventuelle Verschärfungen vorzunehmen.
Lieber Herr Kollege, „auf Initiative der damaligen Bundesregierung“! Darf ich Sie einmal daran erinnern Kollegin Janz, die auch hier sitzt und schon eine Wahlperiode länger als ich im Parlament ist, hat schon die
ersten Initiativen damals im Sportausschuss mitgetragen -,
({3})
wie viele Jahre Ihre Fraktion sich gegen alle Veränderungen gewehrt hat?
Haben Sie vergessen, dass wir - und nicht nur einmal entsprechende Anträge, entsprechende Gesetzesinitiativen formuliert und eingebracht haben? Haben Sie auch
vergessen, wie Sie uns dafür beschimpft haben? „SPD
stellt den deutschen Sport in die Dopingecke“, so sahen
Ihre Beiträge zur Dopingbekämpfung aus. Allein um der
Sache willen haben wir zugestimmt, dass die Änderung
im Rahmen des damals ohnehin anstehenden Novellierungsverfahrens des AMG in den Gesetzentwurf aufgenommen wurde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Änderung
wird - das hat die öffentliche Anhörung am 26. Januar
dieses Jahres eindeutig belegt - als wichtiger und unverzichtbarer Bestandteil einer wirksamen Dopingbekämpfung angesehen. Das darf uns jedoch nicht davon abhalten, uns mit den neuen Problemen, Entwicklungen und
Fragestellungen auseinander zu setzen. Eine dieser Fragestellungen wird die Struktur und das Anforderungsprofil der zu gründenden nationalen Antidopingagentur sein.
({4})
Eindeutige Zielvorgabe muss die Verbesserung der derzeitigen Situation sein.
Die Partner in Sport und Politik sind aufgerufen, konsequent und zielgerichtet an einer kurzfristigen Umsetzung zu arbeiten. Meine Damen und Herren, diese Frage
ist ein Prüfstein für die Glaubwürdigkeit einer effektiven
Bekämpfung des Doping.
({5})
Meine Damen und Herren, es ist unverzichtbar, dass
sich der Sportausschuss in einer zweiten Anhörung mit
dem Problem des Medikamentenmissbrauchs im
Dunstkreis von Fitness- und Bodybuildingstudios befasst. Im Vorfeld dieser Anhörung begrüßen wir die klare Aussage der Bundesregierung, sich dieses Problemfeldes anzunehmen und damit jahrelange Versäumnisse
der Vorgängerregierung aufzuarbeiten.
Wir sollten im Rahmen dieser Anhörung durchaus
auch Hinweise zum Medikamentenmissbrauch im leistungsorientierten Breitensport hinterfragen und diskutieren.
({6})
Ich gebe diese Anregung, wohl wissend, dass uns nun
morgen vermutlich die christdemokratische Schlagzeile
droht: „SPD stellt Breitensport in die Dopingecke!“ Herr
Kollege, das liegt uns völlig fern. Dennoch dürfen wir
entsprechende Hinweise nicht übersehen.
({7})
1998 ist in der Schweiz beim Marathon in Interlaken an 130 Läufern eine Studie vorgenommen worden mit einem Ergebnis, das mehr als nachdenklich stimmt:
2,4 Prozent der Befragten gaben an, täglich oder mehrmals wöchentlich Schmerzmittel zu nehmen. Und
34,6 Prozent hatten vor oder während des Laufes nachweislich Schmerzmittel zu sich genommen - sicherlich
kein Doping im klassischen Sinn, ganz sicher aber auch
eine Form von Medikamentenmissbrauch mit dem eindeutigen Ziel, im Wettkampf die Leistung zu steigern.
Zur Einordnung der Ergebnisse dieser Untersuchung
bleibt festzuhalten: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer solchen Veranstaltung sind Freizeitsportler,
die jedoch den Sport nicht allein unter gesundheitlichen
Aspekten betreiben. Bei ihnen spielt der Wettkampfgedanke eine wichtige Rolle, wenngleich auch klar ist,
dass keine Hochleistungssportler am Werk sind.
Unter Würdigung solcher Erkenntnisse sind in der
Vergangenheit folgende Bereiche geradezu sträflich
vernachlässigt worden: Aufklärung und Prävention. Es
gibt viel zu viele Schulkinder, für die der Griff zur Vitamin-, Kopfschmerz-, Aufputsch- und Beruhigungstablette zum morgendlichen Ritual gehört -, im Übrigen oft
genug auf Geheiß oder zumindest mit Duldung ihrer Eltern; schließlich soll das Kind in der Schule ja etwas
leisten.
Wer die Einnahme von leistungsfördernden Mitteln
schon als Kind als legitimes und damit unproblematisches Verhaltensmuster kennen lernt, wird im Fitnessstudio kaum Nein sagen, wenn die Einnahme von kleinen bunten Pillen schnelle und vor allen Dingen sichtbare Erfolge verspricht.
({8})
Meine Damen und Herren, Kinder und Jugendliche
müssen frühzeitig und drastisch über die vielfältigen Gefahren eines Medikamentenmissbrauches aufgeklärt
werden. Es muss ihnen ganz deutlich werden, dass Doping die eigene Gesundheit massiv und dauerhaft schädigt, im schlimmsten Fall zum Tod führen kann. Es
muss genauso deutlich werden, dass Doping Manipulation und Betrug ist, dass der Gedanke des Fairplay mit
Füßen getreten wird.
Ich rege an dieser Stelle einmal an, die Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung prüfen zu lassen, ob eine
konkrete Kampagne zu diesem Thema erarbeitet werden
könnte,
({9})
eventuell in Kooperation mit dem Deutschen Sportbund,
eventuell auch zusammen mit den Bundesländern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle verfolgen
mit großer Betroffenheit die aktuellen Prozesse um den
staatlich gelenkten Einsatz gesundheitsgefährdender
Dopingmittel bei Minderjährigen in der DDR. Diese
jungen Sportlerinnen und Sportler waren nicht über die
Verabreichung und Wirkung dieser Mittel unterrichtet
worden. Heute leiden sie unter erheblichen gesundheitlichen Störungen. Wir begrüßen ausdrücklich das Urteil
des Bundesgerichtshofes, das die Rechtmäßigkeit der
Strafverfolgung bis zum Einsetzen der Verjährung nach
dem 3. Oktober 2000 bestätigt hat.
({10})
Allerdings: Bis zu diesem Termin müssen erstinstanzliche Urteile vorliegen.
Meine Fraktion wird sich auch in Zukunft aktiv in die
Diskussion um die Bekämpfung des Dopings einschalten. Dabei wissen wir viele Mitstreiter im politischen
Raum und weit darüber hinaus an unserer Seite. Der
Sport ist - wie kaum ein anderer gesellschaftlicher Bereich - ein globalisiertes Phänomen. Eine effektive nationale Bekämpfung des Dopings ist die Grundlage, um
auf internationaler Ebene einen höheren Standard durchsetzen zu können. Gegenwärtig noch vorhandene
Schwachpunkte müssen analysiert und mit Lösungen
entsprechend vorangetrieben werden.
Um der Sache willen fordere ich die Sportpolitiker
aus den Reihen der Union auf, sich konstruktiv an dieser
Diskussion zu beteiligen. Ständige verbale Rundumschläge schaden diesem wichtigen Anliegen und Ihrem
doch sicherlich noch vorhandenen Anspruch, in dieser
Frage ernst genommen zu werden.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun
der Kollege Dr. Klaus Kinkel, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Immer höher, immer weiter,
immer schneller - und das um jeden Preis im wahrsten
Sinne des Wortes? Die Antwort kann doch wohl nur
Nein lauten. Sonst werden wir in der Tat bald einen sehr
hohen Preis zahlen für einen falsch verstandenen
Höchstleistungsfetischismus.
Sport will, soll, muss Spiel, Bewegung, Freude, gesunder Vergleich und Wettbewerb sein. Der Leistungssport mit seiner Vorbildfunktion im Breitensport ist
aber leider inzwischen in weiten Bereichen denaturiert,
und zwar: durch immer höhere Leistungserwartungen
bei den Zuschauern, dem Sportpublikum, durch immer
höhere Leistungserwartungen bei den Sportlern selber,
durch immer stärkere Wettbewerbsverzerrungen mit Hilfe des Einsatzes unerlaubter Hilfsmittel - sprich: des
Dopings - und durch eine kaum noch steuerbare Kommerzialisierung.
Das Ganze findet in einer Medienlandschaft statt, die
„panem et circenses“ fordert und fördert - ein Eskalationskarussell, das nur noch sehr schwer zu stoppen sein
wird, leider! Wo natürliche Grenzen im Weg stehen,
wird eben zum Doping gegriffen. Wer mithalten will,
wer mehr Geld verdienen will, wer beim Geldverdienen
weiter dabei sein will, wer sich im Licht der Öffentlichkeit sonnen will, glaubt, nur noch mithilfe des Dopings bestehen zu können.
Das Schlimme ist ja, dass unsere Gesellschaft den
Boden für solche Entwicklungen bietet. Die Denaturierung des Sports durch Doping - ich benutze bewusst
dieses Wort - und Kommerzialisierung treiben die ursprünglich schönste Nebensache der Welt in gefährliche
Regionen und vor allem in die Hände des Staates. Das
ist genau das, was wir ja eigentlich nicht wollen. Wir
wollen doch, dass die Autonomie, die Unabhängigkeit
des Sports als wichtiges Gut erhalten bleibt.
Also: Wie bekommen wir - den Ausdruck, den ich
jetzt benutze, gebrauche ich bewusst - dieses Dreckszeug in den Griff? Deutschland steht - die Kollegin
Freitag und auch der Kollege von der CDU haben es
schon gesagt - mit besonders strengen Kontrollen im internationalen Vergleich wahrhaft nicht schlecht da, trotz
der aktuellen Probleme, auf die einzugehen es mich natürlich schon aus landsmannschaftlichen Gründen besonders reizen würde. Aber es muss dabei bleiben: Bei
der Bekämpfung der Selbstverstümmelung der Sportler
und des Sports durch Doping kann und sollte - das ist
meine tiefe Überzeugung - der Staat nur subsidiär tätig
werden.
({0})
Der Staat sollte also Gesetze nur dort erlassen, wo sie
unbedingt notwendig sind. Die eigentliche Verantwortung muss bei den Selbstheilungskräften des Sports und
seiner Spitzenverbände bleiben. Der Staat kann und sollte nur unterstützend tätig sein.
Wie bekommen wir das Ganze in den Griff? Meine
persönliche Überzeugung ist, dass wir einen runden
Tisch, Herr Minister Schily, fordern und auch installieren sollten. Alle, die zur Lösung des Dopingproblems
beitragen können, sollten zusammenkommen, um sich
zu überlegen, wie wir das - ich benutze nochmals bewusst dieses Wort - Dreckszeug in den Griff bekommen. Wir brauchen eine nationale Anti-DopingAgentur, die im Wesentlichen von den Sportverbänden
mitfinanziert werden sollte. Sie würde die Sanktionierung von Dopingverstößen aus der Hand ehrenamtlich
geführter Verbände nehmen. Damit würde die Sanktionierung auf eine professionelle Ebene gestellt. Das wäre
angesichts der hohen Verantwortung etwa aufgrund
möglicher Regressansprüche wichtig.
Die Harmonisierung der Dopingbekämpfung auf europäischer und internationaler Ebene bleibt besonders
wichtig. Die Empfehlung der europäischen Sportminister, bei Erstvergehen eine Mindestsperre von zwei Jahren auszusprechen, sollte möglichst bald national und international umgesetzt werden. Ich persönlich bin der
Überzeugung, dass die Verhängung einer Zweijahressperre richtig ist.
({1})
Kompliziert ist und bleibt die Beweislastfrage. Wir
brauchen Forschungsarbeiten zur Dopingprävention und
auch zur Dopingkontrolle, und zwar auch auf europäischer Ebene. Die Bekämpfung des illegalen Handels
mit Dopingprodukten muss genauso unbedingt zu den
Aufgaben von Polizei und Zoll auf europäischer Ebene
gehören. Wir müssen auch überlegen, wie wir mit der
Internetproblematik fertig werden.
Weitere Unterstützungsmaßnahmen - ich kann in
der Kürze der Zeit nur ein paar nennen - sind: erstens
Einführung eines Ernährungspasses für Sportlerinnen
und Sportler; zweitens Einrichtung einer zentralen
Auskunfts- und Bekämpfungsstelle für Rechtsfragen im
Dopingbereich bei der Justiz; drittens Ausweitung von
Dopingkontrollen im Training und im Wettkampf; viertens Ausschluss von für Dopingvergehen verantwortlichen Trainern, Betreuern und Funktionären; fünftens erhöhte finanzielle Unterstützung für die Dopingforschung
und - analytik - wir haben während der Anhörung erfahren, dass hier noch vieles im Argen liegt und dass wir
längst noch nicht alles wissen -; sechstens Aufklärung besonders wichtig; denn sie bleibt beim Thema Doping
eine absolut zentrale Frage -, und zwar Aufklärung sowohl als Nachweis von Dopingvergehen als auch als
Hinweis auf Dopinggefahren. Eine nationale Aufklärungskampagne über Dopinggefahren wäre nach meiner
Auffassung zwingend notwendig.
({2})
Zum Schluss: Wir sind uns alle im Sportausschuss
darüber einig, dass Doping nicht nur ein Problem des
Leistungssports, sondern auch ein Problem des Breitensports ist. Das, was heute in den Fitnessstudios passiert, ist eine schlimme Sache. Nun kann man sagen:
Das geht uns alles nichts an und ist kein Problem, solange alles im arzneimittelrechtlichen Bereich bleibt. Erwachsene Menschen sollten selber wissen, wie sie mit
der Frage des Dopings umgehen. Bei Kindern ist das allerdings ein anderes Problem.
Ich möchte zusammenfassend feststellen - das ist im
Sportausschuss Gott sei Dank unser gemeinsames Credo -: Kampf dem Doping! Medikamente gehören ins
Krankenzimmer und nicht ins Sportstudio oder in Leistungszentren. Überführte Dopingsünder gehören nicht
auf das Siegertreppchen; vielmehr sollten sie gesperrt
werden, und zwar für relativ lange Zeit.
({3})
Ich freue mich immer, wenn die Kolleginnen und Kollegen am Ende ihrer
Redezeit versuchen, zum Schluss zu kommen. Aber
meistens dauert es dann noch überproportional lang.
Diese Anmerkung mache ich, damit mehr auf die Einhaltung der Redezeit geachtet wird.
Nun hat das Wort der Kollege Winfried Hermann,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte ausdrücklich an den Beitrag von Herrn
Kollegen Kinkel anknüpfen, der auf der einen Seite
deutlich gemacht hat, dass wir als Politikerinnen und Politiker uns immer dann verantwortungsvoll in den Sport
einmischen müssen, wenn Bedarf besteht, der aber auf
der anderen Seite deutlich gemacht hat, dass wir nicht so
tun sollten, als könnten wir alleine die Probleme des
Sports lösen.
({0})
Das ist auch die Begründung dafür, dass wir uns jetzt
einmischen. Es gibt immer mehr Stimmen aus dem Bereich des Sports, die sagen: Es gibt Bereiche, in denen
auch die Politik Verantwortung übernehmen muss und
uns unterstützen muss.
Lassen Sie mich zu Beginn meines Beitrages Herrn
Professor Digel, der in Tübingen Sportwissenschaft lehrt
und der, wie Sie alle wissen, Präsident des Leichtathletik-Verbandes ist, erwähnen. Er hat in einem, wie ich
meine, interessanten Beitrag versucht zu begründen, warum er aus sportwissenschaftlicher Sicht und als politischer Präsident meint, dass sich Politik einmischen müsse. Er sagt, der Sport sei, kurz definiert, ein besonderes
System mit besonderen Regeln und besonderen Prinzipien.
Man könnte sogar sagen: Der Sport wird durch drei
Prinzipien konstituiert: erstens die Anerkennung des
Wettbewerbsgedankens, zweitens das Fairplayprinzip
und drittens die Achtung der Unversehrtheit des Menschen, und zwar sowohl in Bezug auf sich selbst als
auch auf den Gegner. Genau diese Prinzipien müssen
vom Sport und von jedem einzelnen Sportler anerkannt
werden. Wenn das nicht der Fall ist, ist der Sport als solcher sozusagen infrage gestellt.
({1})
Das bedeutet als Regel für die Sportler im Wettbewerb - im Imperativ formuliert -: Jeder Sportler muss
davon ausgehen, dass seine Partner ebenso aufrichtig
bemüht sind, die eben genannten konstitutiven Regeln
des Sports in gleicher Weise wie sie selbst einzuhalten.
Im Doping werden diese essenziellen Regeln verletzt: Es
werden das Fairplayprinzip verletzt, der Wettbewerb untergraben und außerdem die Unversehrtheit des Menschen angegriffen. Auf diese Weise wird die eigentliche
Bedrohung des Sports durch das Doping sichtbar.
Das bedeutet: Sowohl der Sport selbst als auch die
Institutionen, die Mittel für den Sport bereitstellen, müssen dafür sorgen, dass diese prinzipiellen Regeln des
Sports insgesamt akzeptiert und Regelverstöße konsequent sanktioniert werden. Diese Stellen müssen auch
dafür sorgen, dass man das System des Sports kritisch
beobachtet und klarstellt: Wir verfolgen diese Sanktionen anhand eines eigenen Regelwerkes. Ich glaube, dass
mit der Dopingüberprüfung durch Kontrollen und Proben ein solches System gefunden ist.
Dieses System ist jedoch, streng genommen, rechtsstaatlich problematisch. Das haben wir zuletzt im Fall
Baumann gesehen und kritisch beurteilt. Ich bin der
Meinung, dass Dieter Baumann sehr viel im Antidopingkampf geleistet hat und ein ausgesprochen glaubwürdiger Sportler ist. Es kann aber nicht sein, dass man
hier Ausnahmen macht. Vielmehr muss das System der
positiven Probe für alle gelten. Dies kann im Einzelfall
auch eine persönliche Schärfe bedeuten. Ich glaube, hier
gibt es ein Dilemma: Der Sport muss seine Regeln hart
verfolgen und sanktionieren und gleichzeitig kann er
nicht das klassische Rechtsstaatsprinzip der Unschuldsvermutung anwenden. Das muss im kriminellen Einzelfall, der hier eventuell ansteht, anders geregelt werden.
Der Sport kann deswegen aber nicht auf dieses Regelsystem verzichten, wenn er sein System insgesamt erhalten will.
({2})
Ich komme nun zu dem Bereich der Anfrage, den ich
für besonders wichtig halte und über den wir lange nicht
gesprochen haben: Doping im Fitnessbereich. Ich glaube, hier sollten wir uns wirklich ernsthaft Sorgen machen, weil die Zahlen, um die es hier geht, weit höher
sind als im Höchstleistungssport. Dort geht es um eher
wenige Sportler, die im Übrigen scharf kontrolliert werden und auf diese Weise viel geringere Chancen haben,
das System zu überwinden. Im Breitensport dagegen
existieren faktisch keine Kontrollen.
Es gibt erste Studien, die auf dramatische Missbrauchszahlen hinweisen. Diese Zahlen sind aber noch
nicht valide genug, um daraus richtige Schlüsse ziehen
zu können. Es wird aber erkennbar, dass viele Menschen
und vor allem viele junge Menschen Doping betreiben.
Bis zu einem Fünftel der Fitnessstudiobesucher machen
es und nehmen dabei Mittel, die ihre Muskeln wachsen
lassen. Sie versuchen, durch den Einfluss von Chemikalien den eigenen Körper zu verändern. Sie tun dies oft,
obwohl sie wissen, dass diese Mittel auch schädliche
Nebenwirkungen haben. Dies finde ich besonders fatal.
Man weiß inzwischen auch, dass sie diese Mittel mithilfe von Apothekern und Ärzten bekommen und diese
Mittel aus europäischen Ländern, zum Beispiel Spanien,
zu uns gelangen. Das muss uns zu denken geben; das
können wir so nicht lassen. Wir müssen Wege finden,
um das zu verhindern.
Das heißt, wir müssen vermutlich in einem ersten
Schritt dafür Sorge tragen, dass empirisch genauer
nachgewiesen wird, wie dort Doping stattfindet. Wir
sollten in einem zweiten Schritt dafür sorgen, dass mehr,
als es bisher der Fall ist, aufgeklärt wird, und zwar auch
in Schulen und bei Jugendlichen, die darüber vielleicht
noch nicht genügend wissen.
Ich komme nun zu den Anträgen der CDU und der
F.D.P.. Aus meiner Sicht haben Sie in zahlreichen Punkten vernünftige Vorschläge gemacht, die auch unserer
Auffassung entsprechen. Es gibt in einzelnen Punkten
Differenzen, etwa bei der Einschätzung der Notwendigkeit eines Anti-Doping-Gesetzes. Ich glaube aber, dass
wir im Sportausschuss zumindest im Großen und Ganzen eine gemeinsame Position finden können.
Aus unserer, aus grüner Sicht gilt es in einem solchen
gemeinsamen Antrag festzuhalten: Erstens. Die Wahrung des Sports als autonomes System ist selbstverständlich, aber wir unterstützen den Sport im Kampf gegen
Doping. Zweitens. Wir wollen ein hochwirksames Kontrollsystem sichern und auch noch ausbauen. Ich glaube
tatsächlich, dass man die Nachwuchskader noch mehr
untersuchen muss. Hier müssen wir mehr tun, müssen
wir das hohe Niveau noch erhöhen und dürfen uns nicht
ausruhen, dürfen wir uns keine Selbstgerechtigkeit leisten.
Wir müssen außerdem - das habe ich aus der Dopinganhörung herausgehört - dafür Sorge tragen, dass es
im Bereich der Exekutive Verbesserungen gibt. Offensichtlich werden die Gesetzesverstöße nicht in aller
Konsequenz verfolgt. Man braucht auf Länderebene sicherlich auch Staatsanwaltschaften, die schwerpunktmäßig Dopingschmuggel und Dopinganwendung bekämpfen. Ich glaube, dass die Einrichtung einer nationalen
Anti-Doping-Agentur unbedingt und schnell notwendig
ist, die mit internationalen Agenturen vernetzt ist.
Aus meiner Sicht ist es auch zwingend notwendig,
die Wirkung des bisherigen gesetzlichen Regelwerks
kritisch dahin gehend zu überprüfen, ob es ausreicht.
Aber wenn wir ein wirklich anspruchsvolles AntiDoping-Programm fahren wollen, brauchen wir vermutlich eine neue gesetzliche Grundlage, ein Anti-DopingGesetz mit Regelungen zur Aufklärung, zur Einrichtung
und vielleicht auch Bezuschussung einer unabhängigen
nationalen Anti-Doping-Agentur und auch mit Regelungen für den Breitensport, zum Beispiel für den Fitnessstudiobereich. All dies sind Punkte, von denen ich glaube, dass sie uns im Kampf gegen Doping weiter voranbringen können.
({3})
Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. Ich glaube, für den Sport ist es
ausgesprochen wichtig, dass die Politik im Bereich des
Dopings ein klares, einheitliches Wort spricht, dass wir
gemeinsam mit denen im Sport, die konsequent gegen
Doping sind, kämpfen und alles tun, um sie dabei zu unterstützen.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile nun dem
Kollegen Gustav Schur, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Potenziellen Zwischenrufern, die eventuell schon in den Startlöchern sitzen, weil
jetzt ein Ex-Weltmeister aus der Ex-DDR das Wort zum
Thema Doping ergreift,
({0})
möchte ich einen Tipp geben, Herr Riegert: Neulich
schrieb eine Zeitung, ich sei 1972 in München gedopt
zur Medaille gekommen. Zu Ihrer Information: Ich habe
meine Laufbahn bereits 1964 beendet.
({1})
Im Übrigen ist hier zur Kontrolle im Hochleistungssport
zur Genüge gesprochen worden ist. Ich brauche dazu
keine Ausführungen mehr zu machen.
Doch vom schwarzen Humor zur aktuellen Dopingbekämpfung: Die Große Anfrage der CDU/CSU wurde
sehr umfangreich beantwortet. Zu den Fragen 18 und 19
stellte der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages bereits 1992 - ich wiederhole: 1992 - fest:
Verurteilungen wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz sind selten, sie wirken zudem nicht genügend
abschreckend, zahlreiche Ermittlungsverfahren werden
eingestellt, die Gefährlichkeit des Dopingmittelhandels
sei von der deutschen Justiz noch nicht erkannt worden.
Heute, acht Jahre später, bittet die heutige Bundesregierung die Bundesländer, zu prüfen, wie die Strafverfolgung verbessert werden kann. Sie hält es für
erwägenswert, die Einrichtung einer Staatsanwaltschaft
mit dem Schwerpunkt der Bekämpfung des
Arzneimittelmissbrauchs ähnlich der Zentralstelle für
die Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität zu
prüfen. Ich meine, es besteht dringlicher Handlungsbedarf der Bundesregierung.
Zur Beantwortung der Frage 20 musste ich lesen,
dass der Deutsche Bodybuilding- und Fitnessverband
1998 insgesamt 24 Dopingkontrollen durchgeführt hat das heißt, in jedem Monat zwei. Ich habe das für einen
Druckfehler gehalten. Es gibt in Deutschland Tausende
von Fitnesscentern, und insgesamt wurden in diesem
Bereich 24 Kontrollen durchgeführt. Das bedeutet im
Klartext: Wenn schon die alte Regierung nur begleitend
tätig war, also ganz gemütlich neben diesem Tatbestand
daherradelte, dann ist von der neuen Bundesregierung
ein ganz energischer Zwischenspurt verlangt.
Eine exzellente Amtshilfe erhält sie hierbei durch
Herrn Dr. Boos von der Medizinischen Universität Lübeck; ich verweise auf Ausschussdrucksache 117. Er
ermittelte zunächst, dass der fatale Anabolikamissbrauch
in deutschen Fitnessstudios bisher noch nicht einmal
systematisch untersucht wurde. Nach einer Fragebogenaktion, die allerdings lückenhaft genannt werden muss,
weil nur 34 Prozent der ausgegebenen Fragebögen beantwortet wurden, musste folgende Aussage getroffen
werden - ich zitiere -:
Sollten die vorliegenden Zahlen auch nur zur Hälfte
stimmen, ist bei derzeit 3,5 Millionen registrierten
Sportlern in Fitnessstudios von 350 000 Anabolikakonsumenten auszugehen.
Bliebe man bei den 24 Dopingkontrollen pro Jahr, könnte man diese Zahl frühestens im Jahr 16000 bestätigen,
falls ich richtig gerechnet habe.
Alessandro Donati, führender italienischer Antidopingfachmann, wusste in einem „Spiegel“-Interview zu
berichten, dass Carabinieri in Mailand mit einem Schlag
35 Kilogramm Testosteron beschlagnahmt haben. Mit
dieser Menge können 600 Leute - ich sage bewusst
nicht Sportler - über einen Zeitraum von 1 000 Tagen
ihre Leistungsfähigkeit nach oben manipulieren. Donati
weiter: In Nikosia wurden im vergangenen Mai 4 Millionen Ampullen Epo gestohlen. Es steht definitiv fest,
dass diese Fläschchen in Europa im Umlauf sind.
Derart ausgeleuchtet, versteht man den oben zitierten
Lübecker Mediziner Dr. Boos noch deutlicher, wenn er
signalisiert, dass 93 Prozent aller Fitnesssportler keinerlei Beschaffungsprobleme für Dopingmittel jeglicher Art
kennen. Wenn deutsche Zollfahndungsämter einräumen,
dass sie bei der Anabolikaeinfuhr zur systematischen
Kontrolle gar nicht fähig sind, und wenn Oberstaatsanwalt Dr. Körner bei der Dopinganhörung im Sportausschuss die Zufallstrefferquote mit 5 Prozent bezifferte,
dann bedeutet das hochgerechnet: Jährlich werden über
11 Millionen Tabletten, knapp 150 000 Ampullen und
gut 410 Kilogramm anabolikahaltiger Dopingmittel auf
den deutschen Markt geschleust - übrigens nachzulesen
im letzten NOK-Report.
Werte Kolleginnen und Kollegen, ich halte es wie der
hochverehrte Professor Dr. Wildor Hollmann, der schon
vor Jahren für sich festschrieb - ich zitiere -:
Den Irrglauben, dass man das Dopingproblem in
den Griff bekommen könnte, hatte ich nie.
Aber gerade deshalb müssen wir es mit ganzer Kraft bekämpfen. Vor allem sollten uns die schockierenden Zahlen der kontrolllos Gedopten in den Fitnessstudios beunruhigen - und noch viel mehr als uns die Bundesregierung, damit sie notwendige Schritte dagegen unternimmt
und nicht nur für erwägenswert hält.
Ich bedanke mich.
({2})
Ich erteile nun das
Wort dem Bundesminister des Innern, Otto Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Für diese
Bundesregierung gehört die Bekämpfung von Doping
im Sport zum Kernelement ihrer Sportpolitik.
({0})
Nach der von der Verfassung vorgegebenen Zuständigkeitsverteilung konzentriert sich die Bundesregierung
auf die Dopingbekämpfung im Spitzensport sowie auf
den Gesundheitsschutz der Sportlerinnen und Sportler.
Die Bundesregierung - das stelle ich mit großem Selbstbewusstsein fest - hat dabei nachhaltige Erfolge erzielt,
obwohl Herr Riegert das partout nicht wahrhaben will.
Selbstverständlich ist bei diesem Thema zu berücksichtigen - ich freue mich, dass das hier die allgemeine
Meinung ist; das wurde von Herrn Kinkel auch besonders hervorgehoben und ich teile seine Auffassung -,
dass die im Grundgesetz garantierte Autonomie des
Sports den Sportverbänden auf nationaler wie auf internationaler Ebene die zentrale Verantwortung zur Dopingbekämpfung zuweist.
Dass in Deutschland die Dopingbekämpfung ein Niveau
erreicht hat, wie es von anderen Staaten erst angestrebt
wird, beweist, wie verantwortlich das Problem bei uns
angegangen wird. Dabei ist allen Beteiligten bewusst,
dass ein sauberer, manipulationsfreier Sport auf allen
Ebenen Grundvoraussetzung für die Sportförderung des
Staates ist und sein muss.
Mehrfach wurde bereits erwähnt, dass wir bei den besonders effektiven Trainingskontrollen weltweit führend
sind. Im Jahr 1999 wurden mit rund 7 600 Trainingsund Wettkampfkontrollen etwa 800 Kontrollen mehr als
im Vorjahr vorgenommen. Das ist eine deutliche Steigerung, Herr Riegert.
Die Sportpolitik der Bundesregierung hat diese positive Entwicklung maßgeblich mitbestimmt. So wurde
1999 die Bundesförderung für die beiden deutschen
Dopingkontrolllabore für Analytik und Forschung um
400 000 DM aufgestockt.
({1})
Gegenüber dem Haushaltsentwurf der früheren Bundesregierung wurden insgesamt sogar 500 000 DM mehr
veranschlagt. Allein in den Jahren 1999 und 2000 werden rund 1 Million DM für Forschungen auf den Gebieten Wachstumshormone und EPO bereitgestellt.
({2})
Ich danke den Kollegen des Haushaltsausschusses auch den Kollegen aus der Opposition -, die das unterstützt haben.
Herr Riegert, Ihre Ausführungen hinsichtlich der Mittelbereitstellung haben unsere Erfahrungen der letzten
eineinhalb Jahre bestätigt: In der Opposition sind Sie
außerordentlich freigiebig mit Steuergeldern. Als Sie in
der Regierung waren, war eher das Gegenteil der Fall.
({3})
Auch der Vorwurf der Fragesteller im Vorwort der
Großen Anfrage, dem deutschen Sport würden zusätzliche Mittel für Dopingkontrollen und -analysen verweigert und sogar bisher gewährte Mittel gekürzt, ist falsch
und beweist nur ein schlechtes Gedächtnis; denn es war
eben die frühere Bundesregierung, die im Entwurf des
Bundeshaushalts für das vergangene Jahr die für
Dopingkontrolllabore veranschlagten Mittel um
100 000 DM reduzieren wollte. Auch der Vorwurf der
Fragesteller, die Bundesregierung setze den deutschen
Sport ständigen Verdächtigungen aus und drohe mit
Olympiaboykott - Herr Riegert, Sie haben das heute bedauerlicherweise wiederholt -, ist der ebenso krampfhafte wie untaugliche Versuch, zwischen Bundesregierung
und Sportverbänden Unfrieden zu entdecken.
({4})
Es gibt keine solchen Verdächtigungen und es gibt keine
Drohung mit dem Boykott der Olympischen Spiele.
Zwischen Bundesregierung einerseits und dem Deutschen Sportbund und dem NOK andererseits besteht
breites Einvernehmen in der Frage einer strikten
Bekämpfung des Dopings. Mit Ihrer Polemik blamiert
sich der Sprecher der CDU/CSU. Eigentlich haben Sie
im Moment keinen Bedarf an zusätzlichen Blamagen.
({5})
- Aber doch nur formal.
Bisher ging ich stets davon aus - eigentlich ist das
auch der Grundtenor dessen, was heute gesagt worden
ist -, dass es in der Zielsetzung eines humanen, dopingfreien Sports einen Grundkonsens zwischen allen im
Deutschen Bundestag vertretenen Parteien und ebenso
mit allen Bundesländern gibt. Deshalb bitte ich Sie, sich
doch wieder eher mit konstruktiven Beiträgen an dieser
Debatte zu beteiligen.
({6})
Es gibt nämlich keinen Grund, sich mit Blick auf das
Erreichte zufrieden zurückzulehnen. In der Dopingbekämpfung ist noch längst nicht alles getan, wie allein
schon Verzerrungen bei Sanktionen im internationalen
Vergleich zeigen. Mit dem Deutschen Sportbund und
dem Nationalen Olympischen Komitee weiß ich mich
auch hierin einig.
Die Planungen von DSB und NOK, die Gemeinsame
Anti-Doping-Kommission möglichst rasch in eine eigenständige Nationale Anti-Doping-Agentur zu überführen, wird von mir ausdrücklich unterstützt. Auf Einladung des Deutschen Sportbundes und des NOK wird
das BMI in der NADA mit einem ständigen Vertreter
mitwirken.
({7})
Wir sind sehr stolz darauf, dass es gelungen ist, die
Welt-Anti-Doping-Agentur einzusetzen, die mit ihrer
Arbeit begonnen hat. Sie wird hoffentlich sehr bald ein
weltweit einheitliches Kontrollniveau etablieren und die
Teilnahme an Olympischen Spielen von einem Mindestmaß an Kontrollen abhängig machen.
Selbstverständlich müssen wir auch auf dem Gebiet
der Forschung vorankommen. Die vom Bund geförderten erfolgreichen Forschungsvorhaben der Arbeitsgruppe
pe Strasburger bei der Analyse künstlich zugeführter
Wachstumshormone stimmen uns zuversichtlich. Die
Forschungen auf den Gebieten Wachstumshormone und
EPO erreichen jedoch Dimensionen, die stärker als bisher der internationalen Kooperation bedürfen.
Die Bundesregierung wird nicht nachlassen, sich für
eine gezielte Dopingbekämpfung einzusetzen, wo immer
Defizite erkennbar sind. Mit der von der SPDBundestagsfraktion veranlassten und im September 1998
in Kraft getretenen Verschärfung des Arzneimittelgesetzes wurde hierfür eine wichtige Grundlage geschaffen. Damit das gesetzliche Dopingverbot für das Umfeld
der Sportlerinnen und Sportler, für den Arzt, den Trainer
oder die sonstigen Betreuer wirksam durchgesetzt werden kann, müssen den Ermittlungsbehörden die einen
Anfangsverdacht begründenden Tatsachen bekannt werden; denn aus einer gesetzlichen Vorschrift lässt sich
kein Nutzen ziehen, wenn kein Anfangsverdacht bekannt wird, der Ermittlungen ermöglicht.
Ich bin dem Deutschen Sportbund deshalb dafür
dankbar, dass er die Sportfachverbände verpflichtet hat,
bei Verdacht einer verbotenen Weitergabe von Dopingmitteln durch Trainer oder Mediziner eine Anzeige bei
der Staatsanwaltschaft zu erstatten.
Im Übrigen muss noch die bevorstehende gründliche
Auswertung der mit dem novellierten Arzneimittelgesetz
gewonnenen Erfahrungen abgeschlossen werden. Erst
dann wird klar sein, ob noch Handlungsbedarf besteht.
Hinweise für denkbare Ansatzpunkte hat die Anhörung
im Sportausschuss des Deutschen Bundestages im Januar dieses Jahres ergeben. Die dort unterbreiteten Vorschläge werden in meinem Haus sorgfältig geprüft.
({8})
Die Große Anfrage sowie die Antwort der Bundesregierung, aber auch die erwähnte Anhörung im Sportausschuss lassen keinen Zweifel daran, dass es im Fitnessund Freizeitbereich ein Dopingproblem gibt. Hier geht
es vor allem um Aufklärung und Erziehung sowie um
Probleme des Gesetzesvollzugs. Wir können schließlich
nicht alle Fitnesscenter mit Dopingkontrollen überziehen.
Ich begrüße es, dass die Sportministerkonferenz in
der Sitzung vom Dezember 1999 auch die Verantwortlichkeit der Länder bekräftigt hat. Die in diesem Zusammenhang von der Sportministerkonferenz unter anderem geforderte verbesserte Strafverfolgung durch Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte, die Forderungen zur Einrichtung einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft für die Bekämpfung von Dopingstraftaten - eine
alte Forderung auch von mir - sowie zur Bildung unabhängiger Expertengruppen für die Dopingbekämpfung
auf Länderebene beschreiben den richtigen Weg.
Doping gefährdet den Sport. Auch Sponsoren können
es sich nicht leisten, mit dopenden Sportlerinnen und
Sportlern identifiziert zu werden. Bei der Dopingbekämpfung im Spitzensport sind wir erheblich vorangekommen. Von der Welt-Anti-Doping-Agentur und der
künftigen Nationalen Anti-Doping-Agentur erwarte ich
weitere Verbesserungen, vor allem bei der Harmonisierung auf internationaler Ebene. Doping im Freizeit- und
Fitnessbereich ist ein ernsthaftes gesellschaftliches Problem. Hierbei sind besonders die Länder zuständig und
gefordert. Die Möglichkeiten des Bundes sind in diesem
Bereich leider begrenzt.
Das Thema Dopingbekämpfung - das ist auch ein
Appell an die Opposition - sollte uns nicht entzweien;
vielmehr sollten wir gemeinsam dafür sorgen, dass die
Grundprinzipien des Sports, Fairness und Ehrlichkeit,
weiterhin Gültigkeit behalten. Das sind wir zuallererst
den Sportlerinnen und Sportlern selbst, aber auch den
Sportbegeisterten in der ganzen Welt, einschließlich der
Sponsoren, zu denen übrigens auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler gehören, schuldig.
Vielen Dank.
({9})
Jetzt hat das Wort
der Kollege Norbert Barthle, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Rede von
Herrn Minister Schily hat mir gezeigt, dass es tatsächlich wichtig war, diese Anfrage zu stellen und über dieses Thema zu debattieren.
({0})
Zwei Dinge zeigte mir Ihre Rede im Besonderen: Sie loben erstens die Maßnahmen, die es bereits zur Bekämpfung von Doping gibt. Das ist eine Bestätigung der Leistungen der Vorgängerregierung. Dafür bedanke ich mich
ganz herzlich.
({1})
Dadurch dass Sie erst zum Schluss Ihrer Rede in zwei,
drei Sätzen auf einen wichtigen Schwerpunkt dieser Debatte, auf das Doping im Fitnessbereich, eingehen, wird
zweitens deutlich, wie wichtig es ist, über das Thema
Doping zu debattieren. Denn Doping im Fitnessbereich
ist Teil unseres heutigen Themas. Nicht nur die öffentliche Wahrnehmung, sondern auch Ihre Ausführungen
zeigen, dass Doping derzeit immer noch viel zu sehr auf
den Bereich des Spitzensports reduziert wird.
({2})
Das wird der Sachlage nicht gerecht. Dies ist falsch und
letztlich sogar gefährlich. Ich bin dankbar, dass Kollege
Hermann von den Grünen dieses Thema entsprechend
gewürdigt hat.
Ein wichtiges Anliegen unserer Anfrage ist es nämlich, gerade Doping und Medikamentenmissbrauch im
Fitnessbereich sowie im Freizeit- und Breitensport
besser in das öffentliche Bewusstsein zu rücken. Weshalb ist das so wichtig? Aus der Sportwissenschaft wissen wir, dass es zwischen dem Spitzen- und dem Breitensport nicht scharfe, sondern fließende Grenzen gibt.
Im Freizeit- und Breitensport sowie im Fitnessbereich
wird häufig mit ähnlichen Intensitäten und Ausmaßen
sowie vergleichbarer Leistungsmotivation und Anstrengungsbereitschaft trainiert wie im Spitzensport. Ein
Blick in einen Kraftraum eines Fitnessstudios wird meine Ausführungen bestätigen.
Übrigens gibt es mittlerweile in Deutschland mehr als
6 000 Fitnessstudios mit rund 4,7 Millionen Mitgliedern.
Im Jahre 2005 sollen es schon 7 000 Fitnessstudios mit
6 Millionen Mitgliedern sein. Der Umsatz liegt derzeit
bei rund 4,5 Milliarden DM. Es handelt sich um eine absolut boomende Branche, und das ist auch gut so.
Aber die Kehrseite der Medaille muss man eben auch
im Blick haben. Dazu, was die Kehrseite anbelangt, fehlt
uns leider - das wurde bereits angesprochen - eine verlässliche Datenbasis. Es gibt lediglich eine Umfrage der
Universität Lübeck, die allerdings erschreckende Zahlen
zutage fördert: 35 Prozent der Befragten aus der Altersstufe der 21- bis 25-Jährigen räumen einen Anabolikamissbrauch ein. Das heißt, es handelt sich um ein echtes Massenphänomen.
Wenn wir über Doping sprechen, sprechen wir nicht
über Vitaminpräparate. Die in erster Linie verwendeten
anabolen Steroide führen zu schweren Schäden im HerzKreislauf-System und an der Leber. Die Auswirkungen
auf Geschlecht und Psyche sind dramatisch. Es gab bereits Todesfälle, und die sind der Bundesregierung ausweislich ihrer Antwort bekannt. Deshalb frage ich Sie,
Herr Minister Schily: Was muss eigentlich noch geschehen, bevor Sie in diesem Bereich handeln?
({3})
- Die Antwort enthält zwar schöne Rhetorik, aber nur
wenig im Hinblick auf zukünftiges Handeln.
Mich erschreckt vor allem, dass - auch das zeigt die
Untersuchung der Universität Lübeck - bereits 8 Prozent
der unter 21-Jährigen zu Anabolika greifen. Die gesundheitlichen Folgen sind kaum abschätzbar. So manche
Dopingkarriere beginnt schon im zarten Jugendalter.
Auch der Aspekt der Beschaffung wurde schon angesprochen. Dies ist eigentlich gar kein Problem; denn
man bekommt die entsprechenden Mittel über den
Schwarzmarkt, das Internet und viele andere Stellen.
Worin liegt das Problem? Das Problem liegt darin,
dass aus dieser Erkenntnis keine Konsequenzen gezogen
werden. Denn offensichtlich wird die Tragweite dieses
Problems nicht richtig erkannt. Herr Minister Schily, die
Verantwortlichkeit für diesen Bereich einfach auf die
Länder abzuschieben, das, meine ich, wird der Sache
nicht gerecht. Das ist nicht angemessen.
({4})
Herr Minister, ich fordere Sie deshalb im Namen der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu Folgendem auf: Sorgen Sie erstens für eine sichere Datenbasis über Dopingmissbrauch auch im Fitnessbereich; denn das ist ein
Massenphänomen. Wenn wir dieses Phänomen nicht bekämpfen, dann wird der gesamte Sport gefährdet und
das gesamte Koordinatensystem des Sports infrage gestellt.
Ich fordere Sie zweitens auf: Gehen Sie auf die Länder zu und prüfen Sie, welche Maßnahmen zur Dopingprävention ergriffen werden können, ohne die Verantwortlichkeit abzuschieben! Wenn nur 25 Prozent aller
Sportler, die solche Mittel benutzen, über die gesundheitlichen Risiken informiert sind, dann heißt das, dass
75 Prozent aller Anabolikakonsumenten dopen, ohne
sich der gesundheitlichen Gefahren bewusst zu sein.
Deshalb führt der Appell an die Eigenverantwortlichkeit
nicht sehr viel weiter, Herr Kollege Kinkel. Wir sind gefordert, hier entsprechend einzugreifen.
Ich fordere Sie deshalb drittens auf: Prüfen Sie zusammen mit den Ländern, ob es nicht auch Möglichkeiten gibt, in Fitnessstudios Dopingkontrollen durchzuführen, um diesem Problem Herr zu werden! Ich meine, wir
müssen diesen Sumpf trockenlegen.
({5})
Eine weitere Aufgabe wäre, die Möglichkeiten zu beseitigen, die Mittel auf einfache Weise über das Internet
zu beziehen. Deshalb halten wir es für notwendig, Herr
Minister Schily, dass Sie den Internethandel und die illegale Einfuhr von Dopingmitteln bekämpfen. Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage zeigt, dass
Sie zwar in der Analyse zu zutreffenden Ergebnissen
gekommen sind, dass aber die Taten noch auf sich warten lassen.
In der vergangenen Woche gab es eine Pressekonferenz, auf der die Bundesregierung gemeinsam mit dem
DSB die Suchtprävention im Sport vorgestellt und - das
finde ich gut - sie lobend erwähnt hat. „Kinder stark
machen“ ist eine prima Aktion. Für diese Aktion gibt die
Bundesregierung 12,9 Millionen DM aus.
Herr Minister Schily, ich fordere Sie auf: Geben Sie
ein bisschen Geld auch für die Bekämpfung des Dopings
im Fitnessbereich aus! Handeln Sie schnell! Angesichts
der Pressemitteilungen, in denen Sie bereits das Ende Ihrer politischen Laufbahn angekündigt haben, sollten Sie
schnell handeln, um nicht Gefahr zu laufen, dass man
Sie womöglich als „lame duck“ bezeichnen könnte.
Danke.
({6})
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Entschließungsanträge auf Drucksachen 14/2769 und 14/2918 zur
federführenden Beratung an den Sportausschuss und zur
Mitberatung an den Rechtsausschuss, den Haushaltsausschuss und den Ausschuss für Gesundheit zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für
Spätaussiedler
- Drucksache 14/2675 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
- Drucksache 14/2956 Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Graf ({2})
Marieluise Beck ({3})
Ulla Jelpke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen,
dem Kollegen Jochen Welt, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung ist sich
ihrer Verantwortung für die deutsche Minderheit in Osteuropa und insbesondere in den Nachfolgestaaten der
ehemaligen Sowjetunion bewusst. Russlanddeutsche haben am längsten unter Vertreibung und Verfolgung sowie den Folgen des Zweiten Weltkrieges gelitten. Für
die konkrete Politik heißt das, dass für all diejenigen
Mitglieder der deutschen Minderheit, die die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen, die Möglichkeit besteht,
nach Deutschland zuzuwandern.
Nur zwei Prämissen müssen in diesem Zusammenhang klar sein: Erstens. Der Zuzug muss sozialverträglich organisiert sein. Zweitens. Für diejenigen, die gekommen sind, muss die Integration die absolute Priorität
haben. Es genügt also nicht, zu sagen: „Das Tor ist offen
und jeder kann kommen“, wenn danach die Menschen
allein gelassen werden. Für uns ist wichtig, dass diejenigen, die gekommen sind, und dass diejenigen, die kommen, die Möglichkeit haben, sich hier einzubringen,
teilzuhaben, gute Nachbarn zu sein und hier auch gute
Nachbarn zu finden.
({0})
Ein wichtiger Teil der sozialverträglichen Zuwanderung ist eine zahlenmäßige Begrenzung. Wir haben die
Quote von ehemals 200 000 auf 100 000 Personen abgesenkt, sie also der erkennbaren Entwicklung angepasst. Wir haben somit Planungssicherheit für die Betroffenen, für die Gemeinden und Aufnahmeeinrichtungen sowie für die Sozialorganisationen und die
Finanzpolitik geschaffen.
Sozial verträgliche Zuwanderung bedeutet aber auch
eine gleichmäßige Verteilung der Spätaussiedler und der
damit zweifelsohne verbundenen Aufgabenverteilung
zwischen Bund, Ländern und Gemeinden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir werden nicht
zulassen, dass Gemeinden, wie in der Vergangenheit,
mit einem Spätaussiedleranteil von bis zu 40 Prozent finanziell, vor allen Dingen aber auch sozial überfordert
sind. Das bereits in der letzten Legislaturperiode gemeinsam verabschiedete Wohnortzuweisungsgesetz hat
in diesem Zusammenhang sicherlich eine wertvolle Hilfe geleistet. Dieses Gesetz ist allerdings bis zum 15. Juli
dieses Jahres befristet.
Die Eingliederung ist trotz der zurückgegangenen
Zuzugszahlen wesentlich schwieriger geworden. Die
Gründe liegen sicherlich auf der Hand: die schwierige
wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Lage in den
vergangenen Jahren. Sie liegen aber auch darin, dass die
Gruppe derjenigen, die seit Mitte der 90er-Jahre gekommen sind, wesentlich schwierigere Voraussetzungen
mit sich bringen. Es handelt sich verstärkt um gemischtnationale Familien, bei denen die deutschen Sprachkenntnisse mehr und mehr gegen null tendieren. Aber
die schwierigere Situation, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, resultiert auch zweifelsohne aus einer - vorsichtig formuliert - sehr zurückhaltenden Integrationspolitik der Vorgängerregierung. Deshalb müssen
wir das Wohnortzuweisungsgesetz, das sich vom Ansatz
bewährt hat, verlängern und in einigen wesentlichen
Punkten weiter entwickeln.
Wir wollen, dass jeder Spätaussiedler mit seiner Familie drei Jahre an seinen zugewiesenen Wohnort gebunden ist und auch dort seine Integrationsleistung und
auch dort seine Unterhaltsleistung erhält. Eine Befristung des Gesetzes bis zum Jahre 2009, wie durch den
Innenausschuss beschlossen, wird von mir durchaus befürwortet. Es geht in erster Linie darum, denke ich, die
notwendigen Instrumentarien für die kommenden Jahre
zu haben. Dies ist damit sehr wohl gewährleistet.
Wir haben in den vergangenen Monaten zu der Möglichkeit der Verlängerung unzählige Diskussionen geführt: mit Betreuungsorganisationen, Betroffenen, Verbänden, Städten und Gemeinden. Wir haben in einem
Spannungsverhältnis zwischen einer weitestgehenden
Freizügigkeit auf der einen Seite und der Sicherung des
sozialen Friedens in Gemeinden, Stadtteilen und Wohnquartieren auf der anderen Seite abzuwägen. Wir haben
trotz sicherlich verständlicher Wünsche von Betreuungsorganisationen und Verbandsvertretern viel Verständnis für das Anliegen einer sozialverträglichen Steuerung durch die Wohnortzuweisung erhalten.
Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf stellt einen vernünftigen und ausgewogenen Kompromiss dar. Die Entstehung neuer Ballungsgebiete wird durch dieses Gesetz
vermieden. Bestehende Ballungsräume sind auch künftig von der Zuwanderung ausgenommen und können dadurch entlastet werden. Auf der Grundlage des erkennbaren Zuzugs können die Kommunalverwaltungen ihre
Planungen im Hinblick auf Wohnraum, auf Sprachkurse
Vizepräsidentin Anke Fuchs
und auf sonstige Integrationshilfen treffen. Davon profitieren nicht zuletzt auch die Spätaussiedler selbst.
Im bisherigen Gesetz, verehrte Kolleginnen und Kollegen, war die Arbeitsplatzsuche ein Problem, wenn
der Aufenthaltsort, der zugewiesene Wohnort, von dem
möglichen Arbeitsort abwich. Durch diesen Gesetzentwurf ist das zufriedenstellend gelöst. Die Bindung
soll zum Zwecke der Arbeitsplatzsuche gelockert werden. Wir werden keinen Spätaussiedler mehr an einen
zugewiesenen Wohnort binden, wenn er die Chance hat,
an einem anderen Ort einen gesicherten Arbeitsplatz zu
finden. Die Berufstätigkeit, die Eingliederung in den
Arbeitsmarkt, ist einer der wesentlichen Bestandteile für
eine erfolgreiche Integration.
Wir wollen die gesteuerte, sozialverträgliche Zuwanderung mit den notwendigen Integrationshilfen begleiten. Deshalb werden wir in den kommenden Jahren in
unserer aktiven Integrationsförderungspolitik nicht
nachlassen. Bei den Integrationsmitteln des BMI haben
wir eine deutliche Erhöhung durchgesetzt. 1999 wurden
die Mittel von 32 Millionen DM auf 42 Millionen DM,
also um 30 Prozent, aufgestockt.
Für dieses Jahr ist trotz aller Sparzwänge eine weitere
Mittelerhöhung auf 45 Millionen DM erfolgt. Das ist eine Verbesserung der Integrationsmöglichkeiten in den
Städten und Gemeinden und das ist, verehrte Kolleginnen und Kollegen, vor allen Dingen ein gesellschaftspolitisch wichtiges und richtiges Zeichen.
({1})
Wir sollten, denke ich, auch alle aus der Vergangenheit
gelernt haben. Es macht einfach keinen Sinn, jetzt bei
der Integrationshilfe zu sparen und sich morgen über
Konflikte in den Stadtteilen und über soziale Auffälligkeiten bei den Jugendlichen zu beklagen.
({2})
Aber es geht nicht nur um Finanzmittel. Es geht auch
um das stärkere Einbinden bürgerschaftlichen, gesellschaftlichen Engagements in die Integrationsarbeit. Ich
will bei dieser Gelegenheit all den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Betreuungsorganisationen
und vor allem den vielen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danken, die sich seit Jahren in fantastischer Weise in der Integrationsarbeit mühen. Ohne
sie wäre die Situation wesentlich dramatischer. Sie haben Dank und auch Anerkennung verdient.
({3})
Aber es gilt, verehrte Kolleginnen und Kollegen,
noch stärker darauf hinzuarbeiten, dass diese Arbeit
nicht nur als Aufgabe für Aussiedler- und Betreuungsorganisationen verstanden wird. Eingliederungsarbeit für
Zuwanderer darf keine soziale Randgruppenarbeit sein,
sondern sie muss als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
begriffen werden.
Deshalb initiieren und unterstützen wir Netzwerke
für Integration in den Städten und Gemeinden. An diesen sollen alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen,
aber auch die betroffenen Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler beteiligt sein. Hier gilt es, auf örtliche Bedürfnisse zugeschnittene Projekte vorzubereiten und sie
dann auch gemeinsam zu realisieren. Bei diesen Projekten hat für uns insbesondere die Integration der jugendlichen Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler eine absolute Priorität.
({4})
Das gilt ebenso für die Sprachförderung. Sprache ist
ja bekanntlich der Schlüssel zur Integration. Dabei kann
es angesichts der finanziellen Situation der öffentlichen
Haushalte nicht um eine generelle Verlängerung der
Sprachförderung gehen. Wir haben schließlich und letztlich im Jahre 1999 einschließlich der Eingliederungshilfe für die Sprachförderung rund 1 Milliarde DM ausgegeben. Wir arbeiten zurzeit daran, dass mit diesen beträchtlichen Mitteln mehr erreicht wird als bisher. Wir
müssen sicherstellen, dass die Kurse qualitativ verbessert werden, dass es vor Ort keine Konkurrenz um
Teilnehmer für unterschiedlich finanzierte Kurse gibt.
Und wir müssen erreichen, dass alle Familienmitglieder
der Spätaussiedlerfamilien auch einen Sprachkurs erhalten. Also mehr Effizienz in der Sprachförderung! Das
sind wir den Betroffenen, aber auch dem Steuerzahler
schuldig.
({5})
Der Erfolg unserer Integrationsbemühungen hängt
entscheidend von der Akzeptanz von Zuwanderung
ab. Akzeptanz werden wir erreichen, wenn sich alle engagieren, wenn sich alle einbringen, aber auch dann,
wenn übermäßige Belastungen in Städten und Gemeinden vermieden werden. Dazu leistet das jetzt fortgeschriebene Wohnortzuweisungsgesetz einen wirklich
wichtigen Beitrag.
Ich darf Sie ganz herzlich um Unterstützung für dieses Gesetzgebungsvorhaben bitten.
({6})
Ich erteile dem Kollegen Harmut Koschyk von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute - der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung,
Herr Kollege Welt, hat bereits darauf hingewiesen - einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der das zurzeit
noch in Kraft befindliche Wohnortzuweisungsgesetz
ergänzen soll. Ich darf daran erinnern, dass dieses
Wohnortzuweisungsgesetz unter einer unionsgeführten
Bundesregierung - damals zumindest auch mit Zustimmung der SPD; Bündnis 90/Die Grünen hatten fundamentale Bedenken gegen dieses Gesetz - zustande gekommen ist.
({0})
Sehr geehrter Herr Welt, wir verschließen die Augen
nicht davor, dass wir dann, wenn dieses Gesetz im Juli
dieses Jahres ausläuft, das Problem haben, dass wir innerhalb Deutschlands möglicherweise wieder eine gewisse Bewegung in Ballungsgebiete, in denen wir schon
eine sehr hohe Aussiedlerkonzentration haben, bekommen könnten. Deshalb sind wir als CDU/CSU-Fraktion
grundsätzlich konstruktiv an die Frage, wie wir zu diesem Gesetz stehen, herangegangen.
Wir sehen eine gewisse Problematik darin, dass dieses Gesetz nicht nur für die Aussiedler gelten wird, die
ab dem 15. Juli 2000 - nach Auslaufen des jetzigen Gesetzes - nach Deutschland kommen, sondern auch für
diejenigen Aussiedler, die seit dem 15. Juli 1997 nach
Deutschland gekommen sind.
Neu ist auch die Bestimmung in dem jetzt von der
Bundesregierung vorgelegten Gesetz, die Spätaussiedler
zur Registrierung in einer Erstaufnahmeeinrichtung des
Bundes rechtlich verpflichtet. Solange sich Spätaussiedler nicht registrieren lassen, erhalten sie grundsätzlich
keine Integrationshilfen und sonstigen staatlichen Leistungen. Bislang gab es dadurch lediglich einen faktischen Zwang zur Registrierung.
Wir begrüßen - das will ich ausdrücklich sagen -,
dass mit dem vorgelegten Gesetz durch eine zusätzliche
Regelung den arbeitsfähigen Aussiedlern ein zeitlich
begrenzter Aufenthalt in einer anderen Region mit besseren Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt ermöglicht werden soll, ohne dass die diese Möglichkeit
nutzenden Aussiedler den Anspruch auf staatliche Leistungen verlieren.
Wir haben uns die Prüfung und Bewertung des Gesetzentwurfes nicht leicht gemacht. Für uns war ganz
entscheidend, dass die Koalitionsfraktionen bei der Beratung im federführenden Innenausschuss einem Antrag
der CDU/CSU-Fraktion gefolgt sind, das neue Gesetz
nicht unbefristet in Kraft treten zu lassen, sondern es mit
einer zeitlichen Befristung zu versehen und es am
31. Dezember 2009 außer Kraft treten zu lassen. Diese
Änderung war für uns bedeutsam, sodass wir als CDU/
CSU-Fraktion dem Gesetz bei allen Vorbehalten, die es
in unserer Fraktion gibt - bis hin zur Ablehnung -,
grundsätzlich zustimmen werden.
Auch wir haben natürlich den Kontakt mit den Ländern und den Kommunen gesucht. Wir haben zur
Kenntnis genommen, dass auch die unionsregierten
Länder ein neues Gesetz dieser Art begrüßen. Deshalb
hat bei der Behandlung im Bundesrat kein Land Einwendungen gegen dieses Gesetz erhoben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass
wir als CDU/CSU-Fraktion damit auch in der Opposition deutlich machen, dass wir uns vernünftigen Regelungen in der Aussiedlerpolitik, die insgesamt die Akzeptanz für die zu uns kommenden Aussiedler fördern,
nicht verschließen. Aber ich möchte diese Debatte doch
auch dazu nutzen, deutlich zu machen, dass es eine ganze Reihe von Punkten in der Aussiedlerpolitik der jetzigen Bundesregierung gibt, gegen die wir Vorbehalte haben und die nicht unsere Zustimmung finden können.
Sehr geehrter Herr Kollege Welt, wir nehmen erfreut
zur Kenntnis, dass Sie den noch unter der unionsgeführten Bundesregierung beim Bundesverwaltungsamt eingerichteten Integrationsfonds zur Lösung von Schwerpunktproblemen sehr schätzen. Aber ich will doch deutlich machen, dass er nicht von der jetzigen Bundesregierung erfunden worden ist. Sie haben diesen Integrationsfonds, der 1998 noch 32 Millionen DM betragen hat Sie haben davon gesprochen -, im vergangenen Jahr auf
42 Millionen DM erhöht. Er soll in diesem Jahr auf
45 Millionen DM ansteigen.
Aber, Herr Kollege Welt, Sie sollten schon deutlich
sagen, wie es sich insgesamt mit den Haushaltsmitteln
für die Aufnahme und Integration von Aussiedlern in
der Bundesrepublik Deutschland seit Amtsantritt der
neuen Bundesregierung verhält. 1998 standen hierfür im
Bundeshaushalt noch circa 2 Milliarden DM zur Verfügung. Im laufenden Haushalt sind die Gesamtleistungen
auf unter 1,5 Milliarden DM abgesenkt worden. Man
muss in einer solchen Debatte schon einmal deutlich
machen, was die Einsparungen in einem bestimmten Bereich humanitär bedeuten. Sie sparen nämlich bei den
Rückführungskosten für die zu uns kommenden Aussiedler die Hälfte ein. Sie senken die Mittel von
50 Millionen DM im Jahr 1998 auf 26 Millionen DM in
diesem Jahr ab. Dies führt vor allem dazu, dass diejenigen Aussiedler, die das ganze schwierige Verfahren mit
Sprachtest und Aufnahmebescheid durchlaufen haben
und dann zu uns in die Bundesrepublik Deutschland
kommen, ab sofort darauf angewiesen sind, die Modalitäten ihrer schwierigen Ausreise - wenn ich beispielsweise an die mittelasiatischen Republiken Kasachstan
und Kirgistan oder auch an die heutige Lebenswirklichkeit in der Russischen Föderation denke - selber
zu organisieren.
({1})
Sie dürfen nicht mehr auf dem Luftwege kommen. Sie
müssen das Ganze selbst im Voraus finanzieren und erhalten dann, wenn sie in der Bundesrepublik Deutschland sind, eine Reisekostenpauschale von 200 DM.
In den mittelasiatischen Republiken spielen sich heute teilweise dramatische Szenen ab, bis die Leute ihre
Ausreise organisiert haben. Alte und kranke Menschen
sowie Familien mit vielen Kindern sind gezwungen, sich
tagelang unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen auf die schwierigen Eisenbahnwege zu begeben.
Sie sollten die Anhebung des Integrationsfonds nicht als
große Tat preisen, wenn Sie den Menschen zumuten, unter wirklich inhumanen Bedingungen den Weg in die
Bundesrepublik Deutschland anzutreten.
({2})
Lassen Sie mich noch einige Worte dazu sagen, dass
Sie die Höchstzahl für den Aussiedlerzugang reduziert
haben. Sie haben Recht, Herr Welt - das sollte niemand
leugnen -, dass es insgesamt gelungen ist, den Zuzug
der Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland zu
verstetigen. Als das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz
1993 in Kraft trat, lagen die Zugangszahlen bei
weit mehr als 200 000 jährlich. Die Zahlen haben sich
inzwischen der 100 000-Grenze angenähert und sie werden weiter zurückgehen.
Herr Welt, wir haben schon ein Problem mit dieser
Korrektur der Zahlen gehabt; denn wir glauben, dass die
auf gesetzlichem Wege herbeigeführte Veränderung bei
den Zugangszahlen bei denjenigen, die bereits einen
Aufnahmebescheid in der Tasche haben, wieder ein
Stück Unsicherheit und Panik ausgelöst hat. Dass die
Zahlen seit Ende des vergangenen Jahres wieder ansteigen, führe ich auch darauf zurück, dass sich ein Teil der
Aussiedler, die einen Aufnahmebescheid besitzen, durch
diese neuerlichen Veränderungen aufgerufen fühlt, diesen Bescheid zu nutzen und in die Bundesrepublik
Deutschland zu kommen.
Lassen Sie mich auf ein Weiteres eingehen. Wir
nehmen mit Besorgnis zur Kenntnis, dass die Bundesregierung die Haushaltsmittel zur Förderung deutscher
Minderheiten in den Staaten Mittel- und Osteuropas
und in der GUS erheblich kürzt, und zwar nicht nur im
Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern,
sondern auch im Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Die Bundesregierung hat mir dieser Tage bestätigt,
dass die Zahl deutscher Lehrer vor allem in den Staaten
Mittel- und Osteuropas bereits im Haushaltsjahr 2000
drastisch zurückgefahren wird.
Wissen Sie, Herr Welt, da passt etwas nicht zusammen. Wir können uns gerne darüber unterhalten, wo es
auch in unserer Politik bei den Integrationsmaßnahmen
in der Bundesrepublik Deutschland Defizite gegeben
hat. Ich kann mich noch daran erinnern, dass Sie als Opposition uns in der Zeit, in der die Politik von einer unionsgeführten Regierung verantwortet wurde, dafür kritisiert haben, dass der Umfang der Sprachförderung zurückgeführt worden ist. Angesichts dessen haben wir die
Erwartung gehabt, dass Sie die Mittel für die Sprachförderung erhöhen würden. Sie aber haben über die sechsmonatige Sprachförderung hinaus überhaupt keine zusätzlichen Möglichkeiten geschaffen.
({3})
Das, was Sie über die Arbeitsverwaltung aus Mitteln des
Europäischen Sozialfonds zur Verfügung stellen, hat es
auch zu unserer Zeit gegeben.
Sie haben gesagt, dass Sie die Integrationsanstrengungen verstärken wollen. Sie verstärken sie aber nur
minimal und kürzen gleichzeitig die Mittel für deutsche
Minderheiten in ihrer angestammten Heimat, in Mittelund Osteuropa sowie in der GUS, und zwar nicht nur in
Ihrem Bereich, sondern sehr gravierend auch im Bereich
des Auswärtigen Amtes. Auf den in den letzten Jahren
zustande gekommenen Wiedererwerb der deutschen
Muttersprache bei den deutschen Minderheiten werden
sich die Kürzungen bei den dafür zuständigen Lehrern
und Bildungseinrichtungen in diesem Jahr und im nächsten Jahr sehr negativ auswirken. Wir glauben, dass dadurch ein Stück neue Verunsicherung bei den Deutschen
in den Staaten Mittel- und Osteuropas und in der ehemaligen Sowjetunion entsteht.
({4})
Ich will hier noch einmal sehr deutlich sagen: Wir
versagen uns nicht notwendige Maßnahmen, die einer
Förderung der Akzeptanz von Aussiedlern, die zu uns in
die Bundesrepublik Deutschland kommen, dienen. Wir
sehen dazu in diesem Gesetz trotz aller Vorbehalte einen
Weg. Deshalb wird die CDU/CSU-Fraktion diesem Gesetz auch mehrheitlich zustimmen. Wir fordern Sie aber
auf, nicht ständig nur neue Akzepte und Wohltaten der
Integrationspolitik dieser Bundesregierung zu verkünden,
({5})
sondern auch wirklich konkret zu handeln.
Herr Welt, wir würden uns freuen - das sage ich aus
Sicht unserer Fraktion, denn Ihr Vorgänger, Kollege
Waffenschmidt, war sehr oft und regelmäßig im Innenausschuss des Bundestages und hat mit uns als federführendem Ausschuss die Probleme erörtert -, wenn Sie mit
dem Innenausschuss als federführendem Ausschuss die
Probleme erörterten und wir auch mit Ihnen über all die
Fragen, die ich heute angesprochen habe, in Zukunft einen Dialog führen könnten, um manche Maßnahmen
durch gemeinsame Anstrengungen zu verbessern und so
noch mehr Konsens zu erreichen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun
die Ausländerbeauftrage der Bundesregierung, die Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich höre, es gibt Unruhe, weil ich als Ausländerbeauftragte angekündigt worden bin. Ich rede hier als
Abgeordnete Beck.
({0})
Aber wir reden über Zuwanderung. Insofern ist es gar
nicht so schlecht, wenn auch die Ausländerbeauftragte ich habe ja sozusagen zwei Hüte auf - hier über eine
Zuwanderergruppe redet, für die sich auch Fragen der
Integration stellen.
({1})
Es ist ja spannend, dass draußen überall eine aufgeregte Einwanderungsdebatte geführt wird, während wir
hier ganz konkret über politisch gewollte und gesteuerte
Einwanderung, über Gesetze und dazugehörige Teilgesetze reden. Wir befassen uns heute mit einem Aspekt
von Einwanderungspolitik,
({2})
die eigentlich nichts Neues darstellt, sondern bereits unter der alten Regierung politisch beschlossen und begonnen wurde und von uns jetzt weitergeführt wird.
In diesem Zusammenhang geht es also um das
Wohnortzuweisungsgesetz. Es läuft am 15. Juli 2000
aus. Der vorliegende Gesetzantrag stellt eine Anschlussregelung dar, da die Geltungsdauer auf Antrag der
Union bis zum 31. Dezember 2009 verlängert wird. Dieser vernünftige Vorschlag ist während der Ausschussberatungen aufgegriffen worden. Die Wohnortbindung von bisher vier Jahren soll nunmehr bei neu
einreisenden Spätaussiedlern, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, auf drei Jahre verkürzt werden. In das
Wohnortzuweisungsgesetz wird eine Klausel eingefügt,
wonach die Sozialhilfe weiter gezahlt werden kann,
wenn der zugewiesene Wohnort vorübergehend zur Arbeitssuche verlassen wird. Diese Neuerung, die jetzt
eingeführt wird, halte ich für vernünftig.
Spätaussiedler werden verpflichtet, sich nach der Einreise registrieren zu lassen, andernfalls erhalten sie weder Sozial- noch Eingliederungshilfe. Die Anschlussregelung soll somit einerseits dem Interesse der Spätaussiedler an freier Wahl des Wohnortes Rechnung tragen,
andererseits soll aber auch Planungssicherheit beim Einsatz von Integrationsmitteln berücksichtigt werden.
Es stimmt und wurde vorhin auch schon bemerkt:
Meine Fraktion hat in der vergangenen Legislaturperiode gegen dieses Gesetz gestimmt. Es bestanden Bedenken wegen der Einschränkung der Freizügigkeit. Man
muss gute Gründe haben, wenn man das Recht auf
Freizügigkeit einschränkt. Damit haben Sie vollkommen Recht. Es ist allerdings nicht von der Hand zu weisen, dass eine zeitlich begrenzte Wohnortzuweisung die
Integrationsmöglichkeiten für die neu einreisenden
Spätaussiedler und ihre Familien in der Tat verbessert.
Das wurde hier schon von allen Seiten angeführt; insbesondere aufgrund der Erfahrungen vonseiten der Kommunen und der Länder konnte sehr deutlich gezeigt
werden, dass mit dieser Form von Planungssicherheit ihre Integrationsansätze besser gesteuert werden können,
({3})
als wenn es keine Wohnortzuweisung gibt. Das hat auch
der Aussiedlerbeauftragte Jochen Welt in seinen Berichten sehr eindeutig belegt. Er belegt auch, dass es schwieriger geworden ist, die heute zu uns kommenden Aussiedler zu integrieren.
Im Jahre 1999 kamen 104 916 Personen als Spätaussiedler in die Bundesrepublik Deutschland. 90 Prozent
stammen aus Gebieten der ehemaligen Sowjetunion. Der
Anteil derer, die ausschließlich der deutschen Volkszugehörigkeit zuzurechnen sind, ist in den letzten Jahren
immer geringer geworden. Ein großer Teil der Spätaussiedler stammt jetzt aus gemischt-nationalen Familien.
Damit sind die Integrationsangebote oder -notwendigkeiten auf dem Weg in unsere Gesellschaft dringender denn je.
Es gibt außerdem Probleme, die bei dem Wechsel
von einem Gesellschaftssystem in ein anderes, in unser
Land entstehen. Oft kommen die Menschen aus dem
ländlichen Raum, aus Regionen mit sehr überschaubaren, einfachen Strukturen, und tun sich sehr schwer, sich
in unserer industrialisierten, hochkomplexen Gesellschaft zu orientieren.
Hinzu kommen unzureichende Sprachkenntnisse bei
den neu einreisenden Spätaussiedlern. Während wir bei
der älteren Generation in der Regel Deutschkenntnisse
vorgefunden haben, kommen nun mit den jungen Menschen und gerade mit den mitausreisenden Familienmitgliedern immer mehr Menschen, die fast keine oder gar
keine Deutschkenntnisse haben.
Die Beratungsstellen für Spätaussiedler stellen bereits
seit vielen Jahren fest, dass sich die Beratungsangebote
für ihre Klientel - das ist das Spannende - kaum mehr
von der Integrationsarbeit für andere Migrantinnen und
Migranten unterscheiden: fehlende Sprachkenntnisse,
nur noch schwer erkennbare kulturelle Bezüge zu unserem Land. Wir marschieren im Grunde genommen in eine Zeit hinein, in der wir politisch gut beraten wären, die
Zusammenfassung der Zuwanderergruppen anzusteuern,
nämlich Spätaussiedler und andere Migranten, die jetzt
noch getrennt werden, nicht mehr zu trennen, sondern
unsere Integrationsansätze so zu konzipieren, dass sie
gleichermaßen für beide Gruppen gestrickt werden.
({4})
Wegen dieser schwierigen Entwicklungen, die ich
eben beschrieben habe, sind Integrationsangebote, die
möglichst rasch nach der Einreise der Spätaussiedler
greifen, sinnvoll. Übrigens ist dieses Prinzip der frühzeitigen Intervention wiederum für andere Zuwanderergruppen genauso gültig. Wir haben also immer ähnliche
Erscheinungen.
Da Integrationsarbeit vor allem in den Kommunen
geleistet wird, bietet der vorliegende Gesetzentwurf eine
Grundlage dafür, um Ressourcen möglichst effizient
einzusetzen. Deswegen stimmen wir ihm zu.
({5})
Das Wort hat nun
der Kollege Dr. Max Stadler, F.D.P.-Fraktion.
({0})
- Wenn Sie heute Geburtstag haben, möchte ich Ihnen
im Namen des ganzen Hauses herzlich zu Ihrem Geburtstag gratulieren.
({1})
Frau Präsidentin, ich bedanke mich sehr herzlich. Ich befürchte freilich, dass
das, was ich vorzutragen habe, nicht allen gefallen wird.
Marieluise Beck ({0})
Meine Damen und Herren, es ist unstreitig, dass es
bei der Eingliederung von Spätaussiedlern Probleme
gibt. Also muss man ihnen bei dieser Eingliederung helfen. Zu Recht stellt daher der Aussiedlerbeauftragte der
Bundesregierung, unser Kollege Jochen Welt, die
Sprachförderung und die Idee des „Netzwerks für Integration“ in den Mittelpunkt seiner Politik.
Ich finde, dass auch der Vorschlag von Jochen Welt
zu unterstützen ist, gleich nach der Einreise einen so genannten Eingliederungskontrakt zu erarbeiten. Hierin
soll je nach den vorhandenen beruflichen und sozialen
Kompetenzen ein individueller Förderplan definiert
werden und zwischen dem Leistungsempfänger und den
Leistungsträgern vereinbart werden. Eine so organisierte
Integrationsarbeit soll mehr Effizienz und Nachhaltigkeit bei der Integration von Spätaussiedlern entfalten.
Diese offensive Integrationspolitik ist zu begrüßen.
Dagegen wirkt das Gesetz zur Wohnortzuweisung
wie ein Relikt aus dem bürokratischen Obrigkeitsstaat.
({1})
Einem Menschen vorzuschreiben, wo er seinen Wohnsitz zu nehmen hat, passt nicht zu einer freiheitlichen
Gesellschaft.
({2})
Integrationsprobleme können damit nicht dauerhaft gelöst werden. Ein solcher Eingriff in die persönliche Freiheit ist daher nur für eine vorübergehende Zeit vertretbar, wenn eine aktuelle Notlage nicht anders behoben
werden kann. So hat sich die Situation 1996 dargestellt,
als die damalige Koalition aus CDU/CSU und F.D.P.
mit Zustimmung der Sozialdemokraten ein befristetes
Wohnortzuweisungsgesetz erlassen hat. Die Gettobildung unter Aussiedlern mit ihren negativen Begleiterscheinungen hat damals eine hinreichende Begründung
geliefert.
Bei der Verlängerung dieses Gesetzes um weitere
zwei Jahre im Jahr 1998 hat der damalige Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung, Horst Waffenschmidt,
der diese Verlängerung betrieben hat, aber schon klargestellt, dass diese Notmaßnahme im Jahr 2000 endgültig
auslaufen wird.
({3})
Waffenschmidt hat im November 1997 wörtlich erklärt,
dass bei sinkenden Aussiedlerzahlen die Integration
auch ohne gesetzliche Wohnortfestlegung erreicht werden wird. Er hat versprochen, das Wohnortzuweisungsgesetz könne im Jahr 2000 auslaufen, weil die Zuzugszahlen zurückgehen würden und sich die Bundesregierung - auch schon die damalige Bundesregierung - verstärkt um eine verbesserte Integration, insbesondere um die Verbesserung der Sprachkenntnisse vor
der Einreise bemühen werde.
Die F.D.P.-Fraktion hält sich an das damals gegebene
Versprechen.
({4})
Alle von Waffenschmidt genannten Voraussetzungen
liegen nämlich vor.
({5})
Die Integrationsmaßnahmen - dass wir das anerkennen,
darauf legt Herr Welt ja besonderen Wert; und wir tun
dies - sind deutlich verbessert worden. Die Aussiedlerzahlen sind jetzt rückläufig. Im Februar 2000 sind
5 045 Spätaussiedler - einschließlich der Familienangehörigen - in der Bundesrepublik registriert worden. Dies
liegt weit unter der Größenordnung von über 10 000
Personen der Vormonate.
Dennoch will die SPD das Wohnortzuweisungsgesetz
sogar auf Dauer verlängern - das war der ursprüngliche
Entwurf - und tritt die Union für eine zehnjährige Weitergeltung ein. Dies ist für uns Freie Demokraten nicht
akzeptabel.
({6})
Denn - davon war in den bisherigen Debattenbeiträgen
noch nicht die Rede - die Zuweisung eines Wohnortes
beschränkt, zwar nur indirekt, aber dennoch in sehr massiver Weise, das Grundrecht des Art. 11, nämlich das
Grundrecht auf Freizügigkeit.
({7})
Darüber hinaus stellt die Zuweisung unter dem Aspekt
des Art. 3 eine Ungleichbehandlung von Spätaussiedlern
mit anderen Bevölkerungsgruppen dar,
({8})
die wir ebenfalls sehr bedenklich finden. Ich habe bei
den Ausführungen der verehrten Frau Ausländerbeauftragten nicht gehört - das sei nur nebenbei bemerkt -,
dass sie die Wohnortzuweisung für alle Migrantinnen
und Migranten gutheißen würde.
({9})
Meine Damen und Herren, wir bleiben bei unserer
Linie: Für einen befristeten Zeitraum haben wir diese
Notmaßnahme mitgetragen. Wir halten aber an dem damals gegebenen Versprechen fest, das Gesetz nunmehr
auslaufen zu lassen.
Ich hätte mir dabei schon Unterstützung von der
Fraktion der Bündnisgrünen erwartet.
({10})
Denn noch in der Plenardebatte vom 13. November
1997 hat diese Fraktion dem damaligen Wohnortzuweisungsgesetz die Zustimmung versagt.
({11})
Kollege Özdemir hat wörtlich ausgeführt - ich zitiere -:
Wir können dem Wohnortzuweisungsgesetz nicht
zustimmen, weil dieses Gesetz, wenn man es abwägt, einen schwerwiegenden Eingriff ins Grundgesetz darstellt.
Meine Damen und Herren, ich kann keine überzeugende Begründung dafür erkennen, warum die Grünen
im Jahr 1997 ein lediglich befristet geltendes Wohnortzuweisungsgesetz abgelehnt haben, jetzt aber bereit waren, sogar einem auf unbestimmte Zeit verlängerten entsprechenden Gesetzentwurf zuzustimmen,
({12})
das nach der Änderung im Innenausschuss immerhin auf
zehn Jahre, also für einen reichlich bemessenen Zeitraum, gelten soll.
Ich bin der Meinung, dass die Grünen damit einmal
mehr ihren eigenen Anspruch und ihre eigene rechtsstaatliche Überzeugung der Koalitionsräson geopfert haben.
({13})
Über den eigentlichen Anlass hinaus ist diese Kehrtwendung der Grünen der bemerkenswerteste Vorgang
der heutigen Beschlussfassung.
({14})
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Günter Graf, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich etwas zum eigentlichen Thema sage, möchte ich auf Herrn Koschyk eingehen. Ich glaube, es war ein Versprecher, als Sie während Ihres Vortrags sagten, die Wohnortbindung gelte
sechs Jahre. Nach dem Wohnortzuweisungsgesetz, das
am 15. Juli 2000 ausläuft, beträgt die Bindung maximal
viereinhalb Jahre; denn seit 1996 gilt das Gesetz. Das
war sicherlich ein Versprecher, auf den ich nur hinweisen wollte.
Ich danke Ihnen an dieser Stelle dafür, dass Sie sich
im Innenausschuss so massiv für einen Konsens eingesetzt haben, weil wir mit ihm den Bedürfnissen bestimmter Kommunen in unserem Lande gerecht werden.
Herr Koschyk, zu den Haushaltszahlen möchte ich
nichts sagen. Ich habe vorhin mit dem Kollegen Jochen
Welt gesprochen und er hat mir zugesagt: Wenn wir das
Gesetz verabschiedet haben, wird er an einer Sitzung des
Innenausschusses teilnehmen, damit wir uns über die
praktischen Auswirkungen des Gesetzes informieren
lassen und uns darüber austauschen können, was besser
gemacht werden kann.
Die Haushaltszahlen haben sich natürlich in Gänze
verändert. Aber dass wir mehr Geld für Integration ausgeben, ist nachlesbar. Wir haben die Mittel für die Herkunftsgebiete erhöht, nicht zuletzt deshalb, weil die
Mittel, die wir früher zur Verfügung gestellt haben, oft
nicht dort angekommen sind, wo sie ankommen sollten.
Sie kennen den Bericht des Bundesrechnungshofs. Dann
kennen Sie auch das Beispiel der Ziegelei, die errichtet
werden sollte, um Arbeitsplätze zu schaffen und um
Häuser bauen zu können. Für die Errichtung dieser Ziegelei wurden ursprünglich 2 Millionen DM veranschlagt. Am Ende waren es 7 Millionen DM.
Sie wissen, wie viel Geld wir für den Bau von Wohnungen für Deutsche in den Herkunftsgebieten ausgegeben haben. Die heutige Situation sieht so aus, dass
40 Prozent der Wohnungen, die mit deutschem Geld gefördert wurden, mit Deutschen belegt sind, aber
60 Prozent der Wohnungen leer stehen, weil die Eigentumsverhältnisse nicht geklärt sind. Insofern war es ein
guter und richtiger Schritt der Bundesregierung, die
Vergabe der Mittel auf die Herkunftsgebiete dort zu
konzentrieren, wo sie benötigt werden.
({0})
Ich möchte Sie, geschätzter Kollege Stadler, ganz
persönlich beglückwünschen. Sagen möchte ich Ihnen
aber: Wenn man regiert, dann unterliegt man bestimmten Zwängen und gelangt auch zu anderen Einsichten.
Das war auch zu Ihrer Zeit so, als Sie dem Gesetz zustimmten und die Freizügigkeit für maximal viereinhalb
Jahre eingeschränkt haben. Nun wird durch das neue
Gesetz die maximale Wohnortbindung auf drei Jahre
begrenzt.
Ich möchte noch etwas sagen, damit das deutlich
wird, weil es oft falsch verstanden wird: Mit dem vorliegenden Gesetz regeln wir auf der einen Seite den Zuzug von circa 100 000 Menschen, die innerhalb eines
Jahres zu uns kommen. Aber wir erfassen auch die Altfälle, und zwar in der Gestalt, dass diejenigen, die bis
zum 14. Juli 2000 noch keine drei Jahre der Wohnortbindung unterliegen, die Restzeit an dem ihnen zugewiesenen Wohnort - so muss man es wohl sagen - abwohnen müssen. Warum soll das so sein? Wenn wir all
die Menschen, für die noch die alte Wohnortbindung
gilt, am 15. Juli 2000 aus der Bindung entlassen würden,
dann würde es in Deutschland eine kleine Völkerwanderung geben; denn es sind über eine halbe Million Menschen, die heute in anderen Gebieten leben. Das Wohnortzuweisungsgesetz hat ja gewirkt.
Sie alle wissen, dass ich aus dem Landkreis Cloppenburg stamme, der in der Vergangenheit - Frau Kollegin
Kors, Sie werden das bestätigen können - zu den Gebieten gehörte, in denen es einen sehr extremen Zuzug gab,
in denen in den Jahren 1995 und 1996 Spannungen in
der Bevölkerung auftraten, sodass in bestimmtem Orten
über die Aufstellung von Bürgerwehren gesprochen
wurde, um sich vor den „Russen“ - so hat es der
Volksmund manchmal formuliert - zu schützen. Gott sei
Dank konnten wir gemeinsam mäßigend einwirken und
mit diesem Gesetz dazu beitragen, dass sich die Situation massiv entspannte. Das merken wir heute.
Würden wir das vorliegende Gesetz nicht beschließen, dann würde zwangsläufig Folgendes eintreten - die
Bürgermeister und Landräte meines Wahlkreises sind in
diesem Sinne an mich herangetreten -: Natürlich haben
die Menschen, die in den letzten Jahren den neuen Bundesländern zugewiesen wurden, dort zum Teil unter wesentlich schlechteren Bedingungen bezüglich Wohnsituation und Arbeitsplatzmöglichkeiten gelebt als diejenigen,
die damals den alten Bundesländern zugewiesen worden sind und die ständig Kontakte zu ihren Verwandten und Bekannten gehalten haben. Ich weiß es aus
meinem Umfeld: Diese Personen würden sich, wenn sie
dort nicht integriert worden sind, auf den Weg in die
Ballungsgebiete machen. Das würde das gesamte Integrationsbemühen, das jetzt zu fruchten beginnt, zunichte
machen. Deswegen ist dieses Gesetz notwendig.
Ich denke, in diesem Hause macht es sich keiner
leicht, ein Gesetz zu verabschieden, in dem es darum
geht, das Grundrecht der Freizügigkeit einzuschränken.
Aber wir sind alle gefordert, mit offenen Augen durch
das Land zu gehen und uns vor Ort über die Situation
kundig zu machen. Und wenn eine wir entsprechende
Situationen vorfinden, dann müssen wir auch handeln,
dann muss jede Ideologie beiseite geschoben werden.
Denen, die die Situation in meinem Wahlkreis nicht
kennen, will ich sie erklären: Es gibt einen Schlüssel,
nach dem die Zuteilung auf die einzelnen Bundesländer
erfolgt. Für das schöne Land Niedersachen, aus dem ich
komme, beträgt die Zuteilung 9,2 Prozent. Bei der damals im Rahmen des Asylkompromisses beschlossenen
Größenordnung von 220 000 Menschen hätte das bedeutet, dass pro Jahr etwa 20 000 Menschen nach Niedersachsen gekommen wären. Wenn ich das nun für meinen
Landkreis herunterrechne, wären uns jährlich circa
450 Spätaussiedler zugewiesen worden. In der Realität
waren es jährlich circa 2 000, 2 500 oder
3 000 Menschen.
({1})
- Das ist eine ganz schlaue Bemerkung von Ihnen.
Kümmern Sie sich einmal bei sich darum. Auch Sie haben diese Probleme vor Ort.
({2})
- Lassen Sie mich das einmal zu Ende erzählen, damit
Sie wissen, wovon wir reden.
({3})
Wenn man diese Zahlen hört, so ist das um ein Erhebliches mehr.
Es ist von allen darauf hingewiesen worden, dass die
Menschen, die in den letzten Jahren gekommen sind,
hinsichtlich der Sprache nicht mit denen zu vergleichen
sind, die in den 80er-Jahren kamen.
({4})
Es ist völlig klar, dass diese Menschen auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind. Wenn sie die deutsche
Sprache nicht beherrschen, finden sie auch wesentlich
schlechter Arbeit.
Dies hat dazu geführt, dass sie in den vergangenen
Jahren überwiegend Sozialhilfeleistungen in Anspruch
nehmen mussten. Ich sage Ihnen einmal beispielhaft,
was das im Klartext für den Kreis Cloppenburg bedeutet
hat: In den Jahren 1992/93 gab der Landkreis eine
Summe von etwa 17 Millionen DM an Sozialhilfe aus.
Diese schnellte im Haushaltsansatz 1996 auf einen Betrag von annähernd 60 Millionen DM hoch. Somit trat
bei mir im Landkreis zum ersten Mal die Situation ein,
dass Haushalte nicht mehr ausgeglichen werden konnten. Dies wurde ganz überwiegend durch die hohe Konzentration aufgrund verwandtschaftlicher oder nachbarschaftlicher Bindungen ausgelöst. Deshalb ist es notwendig, dass wir die entsprechenden Maßnahmen ergreifen.
Im Übrigen hat es den Kommunen auch einiges mehr
abverlangt, was man gar nicht so zur Kenntnis nimmt.
Allein der verstärkte Aussiedlerzuzug hat dazu geführt,
dass wir in den eben genannten Jahren in die Schulen
und Kindertagesstätten 75 bis 80 Millionen DM zusätzlich investieren mussten.
Wäre die Situation die gleiche geblieben, wäre in den
Folgejahren in etwa die gleiche Summe dazugekommen.
Das sind Probleme, die sich vor Ort darstellen. Wir
haben zu handeln, auch wenn es schwer fällt. Das haben
wir in der Vergangenheit, glücklicherweise mit breiter
Mehrheit getan. Ich hoffe, dass wir es auch heute mit
breiter Mehrheit, tun können.
An die F.D.P.-Fraktion gerichtet will ich sagen:
Wenn man die Freizügigkeit in der Vergangenheit für
viereinhalb Jahre einschränken konnte, dann sollte man
darüber nachdenken, ob es nicht zur Erreichung eines
breiten Konsenses möglich wäre, dies jetzt für einen
Zeitraum von drei Jahren zu tun.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der
Kollege Dr. Heinrich Fink, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass die Aussiedler, die zu uns kommen, in ein
Land kommen, das ihnen zunächst fremd ist, obwohl sie
Deutsche sind. Sie haben ihre gesamte Sozialisation hinter sich gelassen, sie sind praktisch entwurzelt. Es liegt
in ihrem Interesse und sollte auch in unserem liegen,
dass sie hier so schnell wie möglich eine neue Heimat
finden.
Heimat ist für mich nicht Boden, Heimat ist Sprache,
ist Glaube, ist Familie. Dass die neu Ankommenden bestrebt sind, dorthin zu gehen, wo sich bereits Personen
aus ihrem verwandtschaftlichen Umfeld befinden, liegt
auf der Hand. Das würde jeder von uns genauso tun.
Außerdem haben sie nach aller Erfahrung so noch die
besten Chancen, eine Erwerbstätigkeit zu finden. Dem
steht aber das Wohnortzuweisungsgesetz entgegen.
Ich kann durchaus das Interesse der Bundesregierung
und ebenso der Länder verstehen, Aussiedler möglichst
Günter Graf ({0})
gleichmäßig aufzuteilen. Doch kann dieser Wunsch keinen höheren Rang als das eigentliche Ziel besitzen. Das
eigentliche Ziel ist eine schnellstmögliche Integration.
({1})
Es erfüllt mich mit Genugtuung, dass die zu uns
kommenden Aussiedler volle staatsbürgerliche Rechte
erhalten. Dazu gehört auch das Recht auf Freizügigkeit,
die allerdings mit diesem Gesetz massiv eingeschränkt
würde. Schon deshalb kann die PDS dem vorliegenden
Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Doch es gibt noch schwerwiegendere Gründe dafür.
Gleich im Eingangssatz des Gesetzentwurfes heißt es,
das Gesetz habe sich bewährt. Daran habe ich starke
Zweifel.
({2})
Ich muss angesichts der Tatsache, dass sich die Zahl derer, die unser Land enttäuscht wieder verlassen, zunimmt, zumindest fragen, für wen es sich bewährt hat.
({3})
Es spräche prinzipiell nichts dagegen, Aussiedler entsprechend dem Bevölkerungsproporz auch auf die neuen
Länder aufzuteilen, aber doch nur, wenn sie damit auch
gleiche Startchancen hätten. Sie alle wissen doch, dass
das nicht so ist. Wenn die Arbeitslosigkeit in einem
Land wie Sachsen-Anhalt mehr als doppelt so hoch ist
wie in Baden-Württemberg oder Bayern, sind kaum
Möglichkeiten gegeben, aus der Sozialhilfe herauszukommen.
({4})
Wem nützt es also, dies weiterhin gesetzlich festzuschreiben? Die rechtsradikale Losung - „Deutsche Arbeitsplätze für deutsche Arbeiter“ - ist vorprogrammiert.
({5})
In der Zielsetzung des Gesetzentwurfes heißt es weiter, dass mit ihm nicht nur Integration, sondern sogar eine bessere Integration erreicht werden soll. Das ist aber
schon deswegen nicht möglich, weil die Bundesregierung die Rahmenbedingungen dafür erheblich verschlechtert hat. Obwohl bekannt ist, dass die jetzt zuziehende Aussiedlergeneration wesentlich geringere Kenntnisse der deutschen Sprache mitbringt als Aussiedler
früherer Jahre, wurden die Sprachkurse - das noch
immer erste und wichtigste Mittel für Integration - von
einem auf ein halbes Jahr verkürzt.
({6})
Der „Info-Dienst Deutsche Aussiedler“ spricht für
das Land Brandenburg sogar von einer katastrophalen
Lage. Es gebe monatelange Wartezeiten. Auch danach
werde die Sprachkompetenz der Teilnehmer bei der Zusammensetzung der Kurse oft nicht gebührend berücksichtigt. Die Erfolgsquote dürfte bei derart seelenlosem
Angehen dieser Aufgabe sehr mäßig sein. Die so mehr
schlecht als recht vorbereiteten Aussiedler haben auf
dem ohnehin kaum vorhandenen Arbeitsmarkt in Brandenburg keine Chance. Sie dürfen trotzdem nicht vor
Ablauf von drei Jahren in ein anderes Bundesland wechseln; ansonsten würden Ihnen aufgrund dieses Gesetzes
die Zuwendungen gestrichen. Folgen wie Resignation,
Gettoisierung und eine erhöhte Kriminalitätsrate unter
Aussiedlern können da niemanden verwundern. Das Gesetz ist wirklichkeitsfremd und steht dem hehren Anspruch der Integration diametral entgegen.
({7})
Solange also in den Bundesländern nicht annähernd
gleiche Lebensverhältnisse hinsichtlich des Zugangs zur
Erwerbsarbeit bestehen und solange nicht die tatsächlich
notwendigen Integrationshilfen zur Verfügung gestellt
werden, ist dieses Gesetz nicht hilfreich.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ja. - Es behindert die Integration, es behindert ihr Leben in Deutschland, das
viele gewählt haben, um dorthin zurückzukehren, von
wo ihre Großeltern und Urgroßeltern ausgewandert sind.
Wir nennen diese Menschen Heimkehrer.
Ich komme aus einer Familie von Heimkehrern.
Meine Familie stammt aus Moldawien. Alles, was ich
hier sage, ist gedeckt.
({0})
- Das ist absolut nicht meine These.
Meine Botschaft ist, dass die Art. 3 und Art. 12 des
Grundgesetzes nicht weiter verletzt werden dürfen.
({1})
Für die PDS sage ich daher Nein zum vorliegenden Gesetzentwurf.
({2})
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Gesetzes
über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für
Spätaussiedler in der Ausschussfassung, Drucksachen
14/2675 und 14/2956. Wer stimmt für den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung? - Die Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen der PDS, der F.D.P. und einiger Kolleginnen und
Kollegen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Wir kommen nun zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Jetzt mögen sich diejenigen, die dagegen sind, erheben. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hildebrecht, Braun ({0}), Günter Nolting,
Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Bekämpfung jeder Art von Diskriminierung in
der Bundeswehr
- Drucksache 14/1870 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hildebrecht Braun, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die F.D.P. hat den
dieser Debatte zugrunde liegenden Antrag gestellt. Sie
will nicht mehr länger mit ansehen, wie das Bundesverteidigungsministerium die Diskriminierung von Soldaten in unserem Lande nicht nur weiterhin duldet, sondern auch noch rechtfertigt. Wir haben darauf bestanden,
dass der Minister heute selbst erscheint und sich nicht
vertreten lässt; denn wir erwarten heute eine öffentliche
Erklärung, die den unsäglichen Zustand beendet, dass
eine besonders wichtige Institution unseres Staates
grundgesetzwidrig und menschenrechtswidrig junge
Menschen, die unserem Lande dienen, diskriminiert.
({0})
Das Jahr 2000 muss in diesem Punkt den grundlegenden
Wandel bringen.
({1})
Herr Scharping, es fällt außerordentlich schwer, damit umzugehen, dass viele junge Menschen die SPD als
Partei der Freiheit wahrgenommen haben, die sich aber
jetzt als eine Partei herausstellt, die das Denken von
vorgestern ausgerechnet im Grundrechtsbereich fortsetzt. Sie selbst betonen im Gespräch, dass Sie gar nichts
gegen Homosexuelle hätten, nur bei der Bundeswehr
seien sie ein Problem. Welch groteske Bewertung!
({2})
Der Europäische Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Diskriminierung von homosexuellen Soldaten gegen die Menschenrechte verstößt. Zwar erging
die Entscheidung aufgrund der Klage eines englischen
Soldaten; es ist aber sonnenklar, dass diese Entscheidung ohne weiteres auf die deutsche Bundeswehr zu
übertragen ist.
Herr Scharping, nach protestantischer Lehre werden
Sünden - auch schwere Sünden - vom gütigen Herrgott
vergeben. Nur Sünden wider den Heiligen Geist führen
zu ewiger Verdammnis. Eine solche Sünde liegt vor,
wenn man verstockt ist. Als Kind wusste ich nie so
recht, was das ist.
({3})
Jetzt weiß ich es: Wer trotz einer klaren Entscheidung
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte so
tut, als könne man weitermachen wie bisher, der ist verstockt. Kurz: Herr Minister, Sie riskieren die Chance,
doch noch in den Himmel zu kommen, wenn Sie nicht
endlich Ihre unselige Praxis aufgeben.
Da hilft Ihnen auch nicht die überraschende Nähe
zum ultrakonservativen Bischof Dyba aus Fulda, der
sich bisher als Bastion wider die Aufgabe der Diskriminierung von Menschen erwiesen hat, die der Herrgott
etwas anders als die Mehrzahl der Menschen geprägt
hat. Dyba bewegt sich nämlich; er hat kürzlich erklärt,
dass er sich sogar homosexuelle Priester vorstellen könne, allerdings nur, wenn sie das Zeug zum Familienvater
hätten, was immer das sein mag.
({4})
Nehmen Sie doch endlich zur Kenntnis, dass zu Gottes Schöpfung Linkshänder und Rechtshänder, aber eben
auch Heterosexuelle und Homosexuelle gehören. Vielfalt statt Einfalt!
({5})
Wenn Sie durch Ihr Haus verkünden lassen, dass ein
Homosexueller zum Vorgesetzten untauglich sei, dann
unterstellen Sie, dass homosexuell veranlagte Menschen
dazu neigten, ihre Vorgesetztenposition zur Gewinnung
von sexuellen Vorteilen zu nutzen. Sie behaupten damit
zugleich, dass derartige Tendenzen zwar bei homosexuell Veranlagten gegeben seien, nicht aber bei heterosexuell Veranlagten. Welch eine groteske Verkennung der
Realität! Oder ist Ihnen ein Erfahrungssatz bekannt, wonach Homosexuelle zu derartigem Fehlverhalten neigten, während Heterosexuelle dies nicht täten?
Gerade auch deswegen, weil in Zukunft viele Frauen
in der Bundeswehr Dienst tun werden, soll hier unmissverständlich klargestellt werden: Jede Ausnutzung
der Vorgesetztenstellung für sexuelle Vorteile muss hart
Vizepräsidentin Anke Fuchs
bestraft werden. Dies gilt aber für Heterosexuelle und
für Homosexuelle gleichermaßen.
({6})
Warten Sie nicht, Herr Scharping, bis Ihnen das Bundesverfassungsgericht den Weg weist. Wir erwarten vom
Vorgesetzten aller Soldaten Mut, nicht Zögerlichkeit.
Die Mehrheit der Deutschen verabscheut die Diskriminierung in jeder Form, gleichgültig, ob sie rassistisch,
religiös oder sexuell motiviert ist.
Die Bundeswehr ist ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft. Junge Wehrpflichtige lernen dort, wie der demokratische Staat mit Menschen, auch wie er mit Minderheiten umgeht. Die Bundeswehr hat Vorbildfunktion.
Gerade deshalb ist es so unerträglich, dass die Bundeswehr bis heute Vorurteile verfestigt und bestätigt, statt
sie zu bekämpfen.
({7})
Dieser Staat und seine Regierung müssen endlich die
Scheinheiligkeit beenden, die zum Beispiel darin liegt,
dass Homosexuelle zwar alle Positionen des öffentlichen
Lebens - inklusive die von Ministern einer Bundesregierung - einnehmen können, aber nicht von Gruppenführern der Bundeswehr.
Herr Scharping, bis heute waren Sie in der Frage des
Umgangs mit homosexuellen Soldaten auf dem Holzweg. Es gibt hier keine kleinen Korrekturen, sondern nur
schlichte Umkehr. Gehen Sie in die andere Richtung!
Dann liegen Sie richtig.
({8})
Das Wort hat nun
der Kollege Johannes Kahrs, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Kollege
Braun, ich war etwas erstaunt, als ich Ihre Rede hörte.
Ich hätte nicht gedacht, dass der Vertreter einer Partei,
die während der letzten 16 Jahre an der Regierung war
und rein gar nichts gemacht hat,
({0})
sich jetzt erdreistet, eine Rede zu halten, als sei seine
Partei zum ersten Mal im Bundestag.
({1})
Herr Braun, Sie reden vom Denken von vorgestern.
Wer hat denn bitte schön vorgestern die Regierung gestellt?
({2})
Es ist ein wunderschöner Satz, wenn Sie ein Ende der
Scheinheiligkeit fordern. Herr Braun, das könnte die
Überschrift für Ihre Rede sein: ein Ende der Scheinheiligkeit.
({3})
Das stört mich nun wirklich, denn inhaltlich habe ich an
Ihrem Antrag gar nichts auszusetzen.
({4})
Aber die Rede, die Sie hier dazu gehalten haben, war eine Beleidigung Ihrer eigenen Regierungszeit. Man merkt
wieder einmal: Opposition verleiht Flügel.
({5})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen!
({6})
Art. 2 und Art. 3 des Grundgesetzes - auch Sie sollten
sie kennen - garantieren jedermann die freie Entfaltung
seiner Persönlichkeit und verbieten es, Menschen ihres
Geschlechtes, ihrer Abstammung und ihrer Rasse wegen
zu diskriminieren. Dies gilt selbstverständlich auch in
der Bundeswehr.
({7})
Im Soldatengesetz steht:
Der Zusammenhalt der Bundeswehr beruht im Wesentlichen auf Kameradschaft.
Sie verpflichtet alle Soldaten, die Würde, die Ehre und
die Rechte des Kameraden zu achten und ihm in Not
und Gefahr beizustehen. Das schließt gegenseitige Anerkennung, Rücksicht und Achtung fremder Anschauungen ein. Das hat nichts mit Theorie, sondern mit Praxis zu tun, meine Herren von der F.D.P.
Im Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen aus
dem Jahre 1998 heißt es:
Niemand darf wegen seiner sexuellen Orientierung
diskriminiert werden.
({8})
Dessen ungeachtet sind wir uns aber alle darüber im
Klaren, dass es wie in der Gesellschaft auch in der Bundeswehr leider noch Vorbehalte gegenüber Homosexuellen gibt. Ihre 16-jährige Regierungspraxis hat das ja gezeigt. Die von CDU/CSU und F.D.P. getragene alte
Bundesregierung hat nichts unternommen, um diese
Vorurteile zu überwinden. Im Gegenteil: Ihre Versetzungs-, Beförderungs- und Übernahmepraxis in den Status eines Zeit- oder Berufssoldaten hat Homosexuelle
benachteiligt und die bestehenden Vorurteile bestätigt
und zementiert.
({9})
- Wenn Sie jetzt so laut herumbrüllen, dann zeigt das
einmal mehr, wie schuldig Sie sich fühlen.
Hildebrecht Braun ({10})
({11})
Mit uns würde es dies nämlich nicht geben.
In meiner Zeit bei der Bundeswehr und den sich anschließenden Wehrübungen als Zugführer und Kompaniechef
({12})
habe ich gelernt, dass es Situationen gibt, in denen man
mit dem Grundsatz von Befehl und Gehorsam nicht weiterkommt. Als junger Leutnant bei der Panzergrenadiertruppe gibt man manchmal einen schneidigen Befehl,
dann gibt es eine kernige Antwort und anschließend
spritzt die Erde. Aber das klappt eben nicht immer;
vielmehr gibt es Situationen, in denen man manchmal
im Interesse der Sache und der Betroffenen ({13})
- das kann nicht falsch sein - darauf angewiesen ist,
mehr zu tun, als nur etwas zu befehlen.
({14})
Man muss diejenigen für sein Anliegen gewinnen, die
innerhalb der Bundeswehr Führungsverantwortung ausüben. Man muss die Menschen bei ihrem Standpunkt
abholen, man muss sie mitnehmen und überzeugen. Man
darf nicht nur laut brüllen. Nur so kommen wir im Alltag der Truppe zu wirklichen Veränderungen.
({15})
Genau hier, mitten in dem notwendigen und weit
fortgeschrittenen Umdenkungsprozess über Homosexualität und ihre Akzeptanz in der Bundeswehr, befindet
sich die politische Leitung des Hauses mit der Führungsebene des Ministeriums und der Truppe. Wer genau hinhört, der kann das auch merken. Dieser Prozess
ist naturgemäß langwierig, er kann nur im gegenseitigen
Vertrauen erfolgen, muss für alle Beteiligten gesichtswahrend sein und hat deshalb außerhalb des öffentlichen
Medienspektakels stattzufinden. Ihr Trara, meine Herren
von der F.D.P., verdeckt nur Ihr 16-jähriges Nichtstun.
({16})
Umso mehr habe ich es bedauert - auch das muss ich
sagen -, dass das Verteidigungsministerium bisher bei
der Beantwortung der verschiedenen öffentlichen Anfragen im Kern die Meinung der ehemaligen CDU/CSUund F.D.P.-geführten Regierung vorgetragen hat. Es war
auch die Meinung Ihrer Regierung, meine Herren von
der F.D.P. Ich hätte es vorgezogen, wenn der aktuelle
Diskussionsstand dargestellt worden wäre. Dies wäre ein
Signal in Richtung Reform gewesen und hätte auch die
Debatte in der Truppe beflügelt.
({17})
Ziel muss es sein, dass die Soldaten nur nach Eignung und Leistung beurteilt werden. Wer zum Beispiel
die Qualifikation zum Offizier errungen hat, dem traut
die Bundeswehr körperliche, geistige, charakterliche,
fachliche und moralische Eignung zu. Das gilt dann
auch für alle Soldaten - ohne Ausnahme.
({18})
Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Herkunft, Religion oder sexueller Orientierung muss auch
innerhalb der Bundeswehr erkannt, offen angesprochen
und abgebaut werden.
({19})
- Von der PDS muss man sich nun wirklich nicht belehren lassen. Machen Sie erst einmal ein bisschen Geschichtsunterricht und überlegen Sie sich, wo Sie herkommen!
({20})
Ein Kernelement der inneren Führung ist, dass jeder
Mensch einen Anspruch auf Toleranz, Respekt und
Achtung hat.
({21})
Jeder Angehörige der Bundeswehr, der andere diskriminiert, hat mit Disziplinarmaßnahmen zu rechnen. Wir
wissen aber auch, dass wir unsere angestrebten Ziele
noch nicht erreicht haben. Meine Herren von der F.D.P.,
das ist uns klar. Wir arbeiten aber seit anderthalb Jahren
an diesem Problem, während Sie 16 Jahre lang nichts
gemacht haben und jetzt zu geistigen Höhenflügen aufbrechen.
({22})
- Wer viel brüllt, der hat nicht immer Recht.
Wir erwarten, dass im Zuge der anstehenden Entscheidungen noch in diesem Jahr konkrete Maßnahmen
umgesetzt werden. Zum einen wollen wir von einer
grundsätzlichen Ablehnung homosexueller Soldaten in
der Funktion des Ausbilders und Vorgesetzten hin zu einer grundsätzlichen Annahme der Eignung und zu einer Einzelfallprüfung kommen. Dies würde bedeuten,
dass alle anhängigen gerichtlichen Auseinandersetzungen im Sinne obiger Grundsatzentscheidung beendet
werden.
({23})
Zum anderen fordern wir, dass die gemäß § 3 des
Soldatengesetzes und § 1 der Laufbahnverordnung bereits bestehenden Verbote der Diskriminierung entweder
mit einer verbindlichen zeitgemäßen Erläuterung versehen oder um das Verbot der Diskriminierung wegen der
sexuellen Orientierung ergänzt werden.
({24})
Letztendlich soll dieser Umlenkungsprozess in der
Truppe auf allen Ebenen im Rahmen von Grundsatzunterrichten und Weiterbildungen gefördert werden. Denn
wenn man weiterkommen will, muss man die Menschen
mitnehmen. Dann sollte man nicht laut brüllen, sondern
argumentieren und mitnehmen, meine Herren von der
F.D.P.
({25})
In den anderthalb Jahren seiner Amtszeit hat unser
Verteidigungsminister gezeigt,
({26})
dass er mit Sorgfalt und Augenmaß vorgehen kann. Wir
werden ihn dabei unterstützen und die soeben aufgeführten Ziele umsetzen.
({27})
Der Antrag der F.D.P. wird nun an die zuständigen
Ausschüsse überwiesen. Ich freue mich darauf, dass wir
bei diesem sensiblen Thema mit der hoffentlich sensibleren Argumentationsweise der F.D.P. rechnen können.
({28})
Ich hoffe, dass wir alle gemeinsam zu einem für alle befriedigenden Ergebnis kommen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({29})
Das Wort hat nun
der Kollege Werner Siemann, CDU/CSU-Fraktion.
Meine sehr verehrte
Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Die heute zu debattierende parlamentarische Initiative
der F.D.P.-Fraktion trägt den Titel „Bekämpfung jeder
Art von Diskriminierung in der Bundeswehr“.
({0})
Sie behandelt ein sensibles Thema. Entsprechend gilt es
damit zu verfahren. Mir geht es nicht um Trara und auch
nicht um vordergründige parteipolitische Polemik.
({1})
Während der Antrag noch mit einem umfassend klingenden Titel überschrieben ist, wird in dessen Begründung nur eine Art der tatsächlichen oder vermeintlichen
Diskriminierung thematisiert: die Benachteiligung aufgrund von Homosexualität. Der Begriff der Diskriminierung im Zusammenhang mit homosexuellen Soldaten
suggeriert dabei eine gezielte, planvolle und systematische Herabsetzung von Soldaten durch die Bundeswehr
aufgrund ihrer gleichgeschlechtlichen Neigungen.
Davon kann meines Erachtens in Bezug auf die Bundeswehr nicht die Rede sein. Nach höchstrichterlich bestätigter Auffassung der CDU/CSU-Fraktion war die
bisherige Verfahrensweise nicht zuletzt im Hinblick auf
die gesellschaftliche Entwicklung der Vergangenheit gerechtfertigt, zweckdienlich und sachgerecht.
({2})
- Warten Sie doch erst einmal ab. - Die homosexuelle
Veranlagung eines Soldaten als solche zieht grundsätzlich keine nachhaltigen Konsequenzen nach sich. Insofern kann nicht pauschal von Diskriminierung gesprochen werden und ich empfinde es als unangebracht, dies
zu tun.
Bei Grundwehrdienstleistenden ist die Frage der sexuellen Orientierung für die Vergabe des Tauglichkeitsgrades ohnehin nicht von Relevanz. Die Situation bei
Soldaten auf Zeit und Berufssoldaten unterscheidet sich
jedoch insofern, als ein militärischer Vorgesetzter, der
sich zu seiner Homosexualität bekennt, nach der derzeitigen Verfahrensweise nicht in einer Verwendung eingesetzt wird, in der er unmittelbar mit der Aufgabe der
Führung, Erziehung und Ausbildung von unterstellten
Soldaten beauftragt ist.
Die Homosexualität eines Soldaten als solche stellt
also keinen Eignungsmangel dar. Dieser wird vielmehr
aus der Akzeptanzproblematik abgeleitet und veranlasst
wiederum die Bundeswehr zum Handeln.
({3})
Somit besteht nur ein mittelbarer Zusammenhang zwischen der Homosexualität und einer eventuellen Versetzung. Die Rechtsprechung des 1. Wehrsenats des Bundesverwaltungsgerichts hat diese Auffassung im Übrigen bestätigt. Ich gehe davon aus, dass Ihnen diese
Rechtsprechung bekannt ist.
Von 1982 bis 1998 haben die Unionsfraktionen die
geltende Praxis mitverantwortet. Seit dem Regierungswechsel wird sie von der Union mitgetragen. Die hier
aufgezählten Argumente würden eine Fortführung der
jetzigen Verfahrensweise ohne weiteres rechtfertigen,
obwohl - daraus mache ich heute keinen Hehl - zumindest vorsichtige Zweifel an der Verfassungsgemäßheit
der jetzt geübten Praxis angezeigt sind.
({4})
Während es aber gleichwohl gute Gründe für eine Fortführung der geschilderten Verfahrensweise gibt, legen
andere, sehr beachtliche Gründe eine Revision nahe,
zumal eine Umstrukturierung und einschneidende Veränderungen der Bundeswehr geplant bzw. unumgänglich
sind.
Des Weiteren wird die Problematik auch aufgrund
der umfassenden Öffnung der Bundeswehr für Frauen neu bewertet werden müssen. Eine demokratische
Gesellschaft ist insbesondere von Pluralismus und Toleranz geprägt. Diese Werte sollten auch in den Streitkräften zum Tragen kommen und nicht am Kasernentor ihre
Gültigkeit verlieren,
({5})
zumal Armeen in Demokratien zum Schutze dieser Werte aufgerufen sind.
Die derzeitige Regelung ist nach meiner persönlichen
Meinung überprüfungsbedürftig, da sich die gesellschaftlichen Gegebenheiten unzweifelhaft verändert haben. Von der fortschreitenden sexuellen Liberalisierung der Gesellschaft bleibt nach meinen Beobachtungen eben auch die Bundeswehr nicht unberührt. Insofern
wäre es wenig hilfreich, vor dieser Erosion der Ablehnung von Homosexualität im Allgemeinen und von homosexueller Veranlagung von Soldaten im Besonderen
die Augen zu verschließen. Die gesellschaftliche Einstellung zur Homosexualität hat sich geändert. Daher
sollte auch die jahrelang praktizierte Verfahrensweise
der Bundeswehr im Umgang mit homosexuellen Soldaten den gesellschaftlichen Realitäten angepasst werden,
da auch sie ein Spiegelbild dieser Gesellschaft sind.
({6})
Am 23. Februar dieses Jahres, also vor genau einem
Monat, konstatierte der Parlamentarische Staatssekretär
im Verteidigungsministerium, Walter Kolbow, hier im
Plenum:
Der Soldat bekennt sich zu seiner sexuellen Orientierung und wird damit als Soldat zu einem bestimmten Problem, was das Führen und Ausbilden
angeht.
Diese Position ist nach meiner Auffassung für die Zukunft so nicht mehr haltbar. Stattdessen sollten wir die
Gelegenheit, die der Antrag der F.D.P. uns bietet, nutzen
und in den Ausschüssen in eine ausführliche Diskussion,
in Beratungen über den Umgang mit homosexuellen
Soldaten in der Bundeswehr eintreten.
Die derzeitige Praxis wird zudem nach meiner Einschätzung den Ansprüchen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, des Europarates in Strassburg
und des EuGH in Luxemburg nicht mehr lange standhalten. Fraglich ist auch, ob das höchste deutsche Gericht,
das sich noch in diesem Jahr mit einem solchen Fall beschäftigen wird, das derzeit praktizierte Verfahren nicht
zuvor verwirft.
Zurzeit wird schließlich vom Rat der Europäischen
Union eine Richtlinie „Zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf“ vorbereitet. Der vorliegende Entwurf sieht in Art. 1 unter anderem vor, dass
der Rat in die Lage versetzt werden kann, geeignete
Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen aus
Gründen der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen. Als
Begründung wird nachhaltig angeführt, dass eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung die
Verwirklichung der im Vertrag über die Europäische
Union festgelegten Ziele unterminieren könnte.
({7})
Nach Einschätzung des Rates liegt eine zumindest mittelbare Diskriminierung dann vor, wenn dem Anschein
nach neutrale Vorschriften oder Verfahren unbegründet
eine Person oder Personengruppe auch aufgrund der sexuellen Ausrichtung benachteiligen können.
Noch besteht für uns, für den Deutschen Bundestag,
ein Handlungsspielraum, eine Regelung in Bezug auf
den Umgang mit homosexuellen Soldaten in den Streitkräften zu schaffen, die nicht im Widerspruch zu den zu
erwartenden europäischen Rechtsnormen und zum geltenden Verfassungsrecht steht. Meine Anregung beruht
nun nicht auf populistisch vorauseilendem Gehorsam das werden Sie mittlerweile gemerkt haben -, sondern
vielmehr auf der Auffassung, dass eine verantwortungsvolle Politik zukunftsgestaltend und weitsichtig sein und
eben nicht nur auf gesellschaftliche Umstände reagieren
sollte. Sie sollte dazu beitragen, oftmals unbegründete
Vorbehalte gegenüber Minderheiten abzubauen. Der
deutsche Schriftsteller Karl Gutzow drückte dies Mitte
des 19. Jahrhunderts mit den Worten aus: „Bitter ist es,
heute das zu müssen, was man gestern noch wollen
konnte.“
Künftig sollte der Automatismus, der die Versetzung
eines homosexuellen Soldaten mit Führungsverantwortung in der Truppe vorsieht, entfallen. Ich halte es für
nicht mehr zulässig, einen Eignungsmangel allein aus
der allgemeinen, aber nicht spezifizierten Gefahr für Autorität, Disziplin der Truppe und Vertrauen herzuleiten.
Stattdessen sollten die allgemeinen Verwendungsgrundsätze uneingeschränkt zur Wirkung kommen. Danach besitzt der Soldat den Anspruch, nach Eignung,
Leistung und Befähigung verwendet und befördert zu
werden. Der Homosexualität sollte keine eigenständige
Bedeutung mehr beigemessen werden und nicht automatisch eine Eignungseinschränkung nach sich ziehen.
({8})
Wenn sich allerdings ein Vorgesetzter Verfehlungen
zuschulden kommen lässt, die im Zusammenhang mit
seiner Homosexualität stehen, ist er für die Truppe untragbar und unter Umständen aus dem Dienst zu entfernen.
({9})
Dies gilt für heterosexuelle Soldaten gleichermaßen und
ist nicht zu beanstanden. Auch bei festgestelltem Autoritätsverlust wird es im Einzelfall zu Handlungsbedarf
kommen.
({10})
- Selbstverständlich, das gilt für alle.
Die jetzigen Regelungen scheinen von dem gesellschaftlichen Entwicklungsprozess eingeholt worden zu
sein. Was in der Vergangenheit noch sachdienlich war,
wirkt heute unzeitgemäß und korrekturbedürftig,
({11})
nicht zuletzt auch aufgrund der Bildung von multinationalen Korps. So sind in den Niederlanden homosexuelle
Soldaten als Vorgesetzte mit Führungsverantwortung in
der Truppe eingesetzt. Nach der derzeit noch gültigen
deutschen ministeriellen Regelung wäre dies aus europarechtlicher Sicht eine Ungleichbehandlung.
Auch aus vielen persönlichen Gesprächen mit der
Truppe weiß ich, dass unsere jungen Soldaten mit der
Problematik heute viel unbefangener umgehen, als wir
uns das vielleicht vorstellen und dies aus früherer Zeit
kennen. Es geht - unabhängig von der sexuellen Ausrichtung - einzig und allein darum, ob ein Vorgesetzter
etwas leistet oder nicht. Daher sollten wir uns zu einer
Modernisierung der zurzeit noch angewendeten Verfahrensweise entschließen, da die ministerielle Begründung
eben auf diese jungen Soldaten abhebt. Nicht die bekannt gewordene homosexuelle Veranlagung unterminiert die Autorität und das Vertrauen in homosexuelle
Vorgesetzte, sondern die gesellschaftliche Bewertung
dieser Veranlagung.
({12})
Hier ist der Deutsche Bundestag gefordert, an einer
zeitgemäßen und zukunftsfähigen Regelung mitzuwirken. Die Politik sollte wieder mehr vom Parlament
gestaltet werden. Es kann nicht Aufgabe des Parlamentes sein, Fragen von erheblicher Bedeutung vom Bundesverfassungsgericht klären zu lassen, weil es sich selber dazu außerstande sieht. Es kann auch nicht in unserem Interesse sein, dass die normative Urteilskraft europäischer Gerichtshöfe die Arbeit des Parlaments ersetzt.
Bei dem heute diskutierten Thema sehe ich - zugegebenermaßen - noch Diskussionsbedarf. Vielleicht gelingt es aber den hier anwesenden Fraktionen, eine einvernehmliche Lösung auf diesem sensiblen Gebiet herbeizuführen. Der frühere Bundeskanzler Willy Brandt er scheint unverdächtig zu sein - schrieb einmal:
Gerade wer das Bewahrenswerte bewahren will,
muss verändern, was der Erneuerung bedarf.
({13})
Ein wahrhaft konservativer Ansatz, dem ich mich anschließe.
In diesem Sinne bitte ich Sie, meine Damen und Herren, einer Überweisung des Antrags an die Ausschüsse
zuzustimmen.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Volker Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Siemann, ich bin Ihnen für Ihre nachdenkliche Rede
wirklich dankbar; denn wir können am Ende der Debatte
feststellen, dass Redner aller Fraktionen für eine Änderung der Praxis plädiert haben. Für diese Thematik ist
das wirklich ein großer Fortschritt in der Sache. Ich bin
froh, dass sich damit andeutet, dass wir bei einer Veränderung der bisherigen Praxis keinen Kulturkampf in dieser Frage haben werden, sondern dass die notwendige
Regelung im Deutschen Bundestag im Konsens getroffen werden kann.
Wie ist die Situation heute? Homosexuelle dürfen bei
der Bundeswehr Befehle empfangen, sie dürfen aber
keine Befehle geben. Ich weiß nicht, wie man einen solchen Sachverhalt anders nennen sollte als schlicht und
einfach „Diskriminierung“.
({0})
Bei der Bundeswehr werden derzeit Menschen allein
wegen ihrer homosexuellen Orientierung von Führungsaufgaben und Ausbildungstätigkeiten ausgeschlossen.
Das verträgt sich meiner Auffassung nach nicht mit dem
freiheitlichen Menschenbild unseres Grundgesetzes.
Am 27. September 1999 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall von Großbritannien geurteilt: Ein Ausschluss Homosexueller aus den
Streitkräften ist ein Verstoß gegen die Europäische
Menschenrechtskonvention. Damit wird das Recht auf
Privatleben verletzt. - Die britische Regierung hatte damals argumentiert, die Integration Homosexueller beeinträchtige die moralische und militärische Effektivität der
Armee. Der Menschenrechtsgerichtshof hat darauf eine
bemerkenswerte Antwort gegeben. Er hat festgestellt:
Solche Befürchtungen haben keinerlei empirische
Grundlage. Hier handelt es sich lediglich um die Vorurteile Heterosexueller gegen Homosexuelle. - Ja, so ist
es!
Herr Kollege Siemann, in einem Punkt muss ich Ihnen widersprechen: Höchstrichterlich wurde der Bundeswehr in der Vergangenheit in der Tat ein gewisses
Recht auf Diskriminierung von Bundeswehrangehörigen
zugestanden - aus sehr zweifelhaften Gründen. Aber
dass diese Diskriminierung sachgerecht oder gar erforderlich wäre, hat kein oberstes Gericht jemals festgestellt, es hat die Hardthöhe lediglich gewähren lassen.
Die Wehrbeauftragte des Bundestages, Claire
Marienfeld, hat in ihrem Jahresbericht letzte Woche
festgestellt:
Die gesellschaftliche Haltung gegenüber Homosexualität hat sich in Bezug auf Männer wie auf Frauen verändert.
Sie konstatierte eine größer gewordene Toleranz und
plädierte für die Zukunft für einen veränderten Umgang
mit Homosexualität in der Bundeswehr. Jüngste demoskopische Erhebungen geben ihr Recht. Die große
Mehrheit der Bundesbürger hat keine Vorbehalte gegen
Schwule in der Bundeswehr. 77 Prozent befürworten,
dass Homosexuelle als Soldaten tätig sein dürfen,
91 Prozent der Befürworter votieren auch dafür, dass
Homosexuelle als Ausbilder und Vorgesetzte tätig sein
dürfen.
Wenn nun behauptet werden sollte, dass man in der
Armee anders empfände, wäre das - so empfinde ich
es - eine Beleidigung für die Truppe und widerspräche
auch meinen Erfahrungen, die ich in Gesprächen mit
vielen jungen Soldaten gemacht habe. Die sind ganz
Angehörige ihrer Generation und genauso aufgeklärt
oder unaufgeklärt wie der Rest der Gesellschaft. In einer
Reihe anderer NATO-Staaten stellen schwule Offiziere
und Ausbilder kein Problem dar. Selbst in einem Land
wie Israel, das sehr religiös geprägt ist, ist dies eine
Selbstverständlichkeit.
Meine Damen und Herren, in nächster Zeit stehen einige Gerichtsentscheidungen an. Schwule Bundeswehrangehörige haben gegen ihre Diskriminierung geklagt. Ein Fall ist bereits beim Bundesverfassungsgericht
anhängig. Ich meine, es wäre ein Armutszeugnis, wenn
die Bundesrepublik erst durch Gerichtsentscheid dazu
gezwungen werden müsste, die Diskriminierung von
Schwulen in der Bundeswehr zu beenden.
({1})
Das ist Aufgabe der Politik.
Übrigens, eines sollte man nicht vergessen: Die Soldaten, die derzeit auf dem Klageweg sind, wurden von
Herrn Rühe geschasst. Es wäre schön gewesen, meine
Damen und Herren von der F.D.P., wenn Sie schon damals, als Sie noch in Regierungsverantwortung waren,
einen solchen Eifer wie heute an den Tag gelegt hätten.
({2})
Aber es sei Ihnen nachgesehen: besser spät als nie!
Ich fasse zusammen: Es gibt kein rationales Argument, warum Schwule in der Bundeswehr von bestimmten Funktionen ausgegrenzt bleiben sollen. Im Gegenteil: Das Grundgesetz gebietet aus unserer Sicht zwingend das Ende der Diskriminierung. Die Geltung der
Grundrechte für Homosexuelle darf nicht am Kasernentor Halt machen.
({3})
Die bisherige Haltung des Verteidigungsministeriums ist
unverständlich und für uns nicht akzeptabel. Herr
Scharping, es ist Zeit für einen Politikwechsel. Ich
möchte Sie fragen: Wann beenden Sie die Praxis Ihres
Vorgängers? Die Diskriminierung Homosexueller in der
Bundeswehr dauert schon viel zu lange; sie muss in dieser Wahlperiode ein Ende finden. Dafür stehen wir
Bündnisgrüne, dafür setzen wir uns in der Koalition ein.
Ich bin optimistisch, dass wir bald zu einer Lösung
kommen werden.
({4})
Das Wort hat
jetzt Herr Bundesminister Scharping.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Sie wissen, dass bisher aus der gleichgeschlechtlichen Orientierung von Angehörigen der
Bundeswehr Schlussfolgerungen hinsichtlich ihrer Eignung und Befähigung auf den Gebieten der Ausbildung
und der Führung gezogen worden sind. Richtig wäre es,
allenfalls aus dem Umgang mit einer sexuellen Orientierung - sei sie heterosexuell, sei sie homosexuell - eine
Schlussfolgerung zu ziehen, nicht aber aus der Orientierung selbst.
({0})
Es ist richtig, dass die bisherige Praxis in der Bundeswehr von höchsten Gerichten gebilligt worden ist.
Um es in aller Ruhe und ohne jede Ablenkung zu sagen:
Der Fall, der in Sachen Großbritannien entschieden worden ist, ist ein anderer und könnte nicht automatisch auf
die Bundesrepublik Deutschland übertragen werden.
Nebenbei bemerkt: Angesichts mancher Kritik aus
den Reihen der CDU/CSU am Urteil des Europäischen
Gerichtshofes, den Zugang von Frauen zum Beruf des
Soldaten betreffend, hat es mich trotz des Ernstes der
Sache leicht amüsiert, dass jetzt Vertreter derselben
Fraktion mit noch nicht verabschiedeten Richtlinien der
Europäischen Union und möglichen Urteilen des Europäischen Gerichtshofes argumentieren - nun aber andersherum.
({1})
Aber das nur nebenbei.
Ich will im Übrigen den Deutschen Bundestag darauf
aufmerksam machen, dass es in meiner Amtszeit - ich
sage ausdrücklich: in meiner Amtszeit - keinen einzigen
Fall mehr gegeben hat, in dem aus der sexuellen Orientierung eines Soldaten automatisch Schlussfolgerungen
gezogen worden wären.
({2})
Die Fälle, an denen sich die öffentliche Debatte entzündet hat, sind in der Zeit meines Amtsvorgängers entstanden.
({3})
Vor diesem Hintergrund will ich auch noch eine Nebenbemerkung in Richtung F.D.P. machen. Ich kann Ihre Ungeduld bei der Regelung des Problems gut verstehen, vor allen Dingen, weil Sie dem bisherigen Zustand
über Jahre hinweg entweder schweigend oder unterstützend zugeschaut haben.
({4})
Jedenfalls haben Sie, lieber Herr Kollege Braun, hier eine in der Wortwahl sehr übertriebene Rede gehalten, die
nicht bemänteln kann, dass Sie in den Jahren zuvor zu
einem solchen Antrag, wie er jetzt im Deutschen
Volker Beck ({5})
Bundestag vorliegt nicht fähig waren. Das ist einfach
eine Tatsache.
({6})
Vor diesem Hintergrund will ich noch hinzufügen,
dass Sie mit Ihrem Antrag in einer gewissen Hinsicht ich sage ausdrücklich: in einer gewissen Hinsicht - bei
mir völlig offene Türen einrennen.
({7})
Erstens bin ich - das wissen Sie ganz genau - mit der
militärischen Führung über diese Fragen seit langer Zeit
im Gespräch.
({8})
Es ist aber auch ein Gebot kluger Führung, eine für
richtig gehaltene Auffassung auf vernünftige Weise erträglich, verträglich und verständlich zu machen, und
zwar innerhalb der Truppe gegenüber den Untergebenen
und auch - was man insbesondere bei Ausbildung und
Führung unter den Bedingungen von Befehl und Gehorsam angesichts mancher in meinen Augen überholter
Vorurteile oder Vorbehalte nicht vergessen darf - gegenüber den Eltern von Wehrpflichtigen. Man darf das
nicht einfach so dekretieren. Man muss Toleranz verstehbar, erwerbbar und in diesem Sinne erlernbar machen.
({9})
Zweitens habe ich - ich nenne das bewusst zum
Schluss; Sie in der Öffentlichkeit und im Parlament verstehen das bitte nicht falsch - aus genau diesen Überlegungen heraus nicht nur mit der militärischen Führung
gesprochen, sondern auch abgewartet, was der Wehrsenat des Bundesverwaltungsgerichtes in dem konkret
anstehenden Fall entscheiden würde, und danach - übrigens schon vor Wochen - das Bundesverfassungsgericht
gebeten, die Frist für die Stellungnahme der Bundesregierung zu verlängern und mir damit die Möglichkeit zu
geben, eine streitfreie Beilegung des konkreten Falls zu
versuchen.
({10})
Ich bin sicher, ich werde das erreichen.
Schließlich will ich Ihnen sagen, welche Konsequenzen ich dann zu ziehen gedenke.
Herr Bundesminister, ich muss Sie fragen: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Nolting?
Bitte.
Herr Minister,
stimmen Sie mir zu, dass es besser wäre, hier im Deutschen Bundestag eine politische Entscheidung zu treffen,
({0})
und zwar jetzt?
Sie sind etwas ungeduldig.
- Stimmen Sie
mir weiter zu, dass wir uns nicht immer von Gerichten
treiben lassen sollten, wie es zum Beispiel auch bei dem
EuGH-Urteil, was Frauen anbelangt, der Fall gewesen
ist?
({0})
- Doch, ich habe sehr gut zugehört.
({1})
Aus der Sicht des Fragestellers sind Fragen immer
sehr gut.
({0})
- Eben! Allerdings hätte sich die Frage erübrigt, wenn
Sie noch zwei Minuten Geduld gehabt hätten.
({1})
- Danke. Ich lege in dem Fall gar keinen Wert darauf.
Aber ich bitte
doch, dass Sie auf Ihre Redezeit achten.
Ich wollte Ihnen gerade erläutern, was ich über
die - hoffentlich gelingende - streitfreie Beilegung des
konkreten Falls hinaus noch zu tun gedenke. Ich beabsichtige, danach einen Verhaltenskodex zu erlassen, der
jeden Automatismus aufgrund der bloßen Tatsache einer
sexuellen Orientierung ausschließt, der jede Form von
Diskriminierung wegen einer sexuellen Orientierung
sanktioniert. Dies soll dann übrigens auch für jede Form
der sexuellen Belästigung gelten.
({0})
Wir müssen damit aufhören, aus der bloßen Tatsache
einer sexuellen Orientierung Schlussfolgerungen zu ziehen. Ich sage noch einmal: Ob ein Mann eine Frau, ein
Mann mit gleichgeschlechtlicher Orientierung einen
anderen Mann oder eine Frau mit einer solchen Orientierung eine andere Frau belästigt - es ist immer dasselbe
zu missbilligende Verhalten, aus dem dann im konkreten
Fall auch Schlussfolgerungen hinsichtlich Eignung und
Befähigung gezogen werden können, im Zweifel auch
gezogen werden müssen.
Ich sehe den Antrag der F.D.P. und den Willen des
Parlaments - so haben sich die meisten hier geäußert -,
diesen Antrag an den Verteidigungsausschuss zu überweisen als eine gute Gelegenheit an, über diese Fragen
in Ruhe miteinander zu reden und nicht zu versuchen,
die Dinge auf der Grundlage einer irgendwie gearteten
Aufgeregtheit zu lösen. Vielmehr sollten wir, wie ich es
versuche - ich hoffe, es gelingt mir auch -, umfassend,
gründlich überlegt, ruhig und dann auch konsequent entscheiden, und zwar so, dass möglichst viele in den
Streitkräften mitgehen können und sich niemand davon
untergebuttert oder düpiert fühlen müsste. Auch das halte ich für innere Führung und für einen Teil kluger politischer Fürsorge.
({1})
Das Wort hat
die Abgeordnete Christina Schenk.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Grund für die heutige Debatte
ist ein handfester Skandal. Noch immer werden in der
Bundeswehr Führungskräfte und Ausbilder von ihrer
Funktion entbunden bzw. als Berufssoldaten nicht übernommen, wenn bekannt wird, dass sie homosexuell sind.
({0})
Herr Bundesminister Scharping, Ihr Hinweis, dass diese
Fälle nicht in Ihre Amtszeit fallen, hilft insofern nicht
weiter, als das Fortbestehen dieses unerträglichen Zustandes sehr wohl in Ihrer Verantwortung liegt.
({1})
Ich habe im vergangenen Jahr, genauer gesagt: Anfang Juni 1999, die Bundesregierung nach einer Begründung für diese Diskriminierung gefragt. Bundesminister Scharping ließ fabulieren - im Übrigen brauchte er für die Antwort statt der üblichen einen Woche fünf
Wochen Zeit -, Homosexualität begründe erhebliche
Zweifel an der Eignung und schließe eine Verwendung
in Funktionen aus,
({2})
die mit Führung, Erziehung und Ausbildung von Soldaten zu tun hätten.
({3})
Begründet wurde das selbstverständlich nicht, sondern es wurden Mutmaßungen und Spekulationen über
eventuelle Autoritätsprobleme angeführt, die entstehen
könnten. Im Übrigen war das in keinem der durch die
Presse öffentlich gewordenen Fälle so. In keinem der
Fälle gab es Autoritätsprobleme. Das ist völlig aus der
Luft gegriffen.
({4})
- Herr Kahrs, stellen Sie eine Frage, wenn Sie mit mir
reden wollen.
Tatsachen, die das Vorkommen solcher Autoritätsprobleme nahe legen, gibt es selbstverständlich nicht.
Seriöse Studien gibt es ebenfalls nicht.
Das heißt, es gibt de facto ein Berufsverbot für Homosexuelle, obwohl in der Koalitionsvereinbarung der
rot-grünen Bundesregierung - das will ich in Erinnerung
rufen - das Versprechen enthalten ist, dafür einzutreten,
dass niemand wegen seiner sexuellen Orientierung diskriminiert werden darf. Tatsächlich aber legitimiert die
Bundesregierung die Diskriminierung und schürt damit
Vorurteile gegen Homosexuelle. Die streitfreie Beilegung von Fällen, wie es hier angekündigt worden ist,
mag ja für die Betroffenen gut und schön sein. Aber das
ist keine generelle und auch keine politische Lösung. Sie
sind, Herr Bundesminister, nicht gehindert, bereits jetzt
den Verhaltenskodex einzuführen, von dem Sie gesprochen haben.
({5})
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat
Ende 1999 ganz eindeutig gesagt, dass ein Tätigkeitsverbot für Homosexuelle in der Armee eine Menschenrechtsverletzung ist und gegen das Grundrecht
auf Privatleben verstößt. Er hat mit derselben Klarheit
Auffassungen zurückgewiesen, dass die Anwesenheit
von Homosexuellen in der Armee deren Qualität - was
auch immer man darunter versteht - vermindern würde.
Die Straßburger Richter haben auch sehr klar gemacht,
wie mit etwaigen Problemen, die die Präsenz von Homosexuellen in der Armee aufwerfen könnte, umzugehen sei: Es sei eben nicht mit Ausgrenzung darauf zu reagieren, sondern mit einem Verhaltenskodex und mit
strikten disziplinarischen Vorschriften bei Zuwiderhandlung. Vielleicht helfen ja auch Trainingskurse weiter.
Man kann sich darüber bei der niederländischen Armee
erkundigen. Dort gibt es solche Trainingsprogramme
zum Umgang mit Minderheiten.
Einmal mehr bestätigt sich also, dass die Bundesregierung in der Europäischen Union zu den Schlusslichtern in Bezug auf die Rechte von Lesben und Schwulen
gehört. Es sieht bislang leider so aus, als ob sich auch
unter einer rot-grünen Bundesregierung daran nichts ändern wird.
(Johannes Kahrs [SPD]: Haben Sie nicht
zugehört?
Ich bin trotzdem sicher, dass noch in dieser Legislaturperiode das Berufsverbot für Schwule in der Bundeswehr fallen wird. Dafür werden die Gerichte sorgen. Es
ist schon gesagt worden, dass gegenwärtig mehrere Klagen anhängig sind. Zwei Verfasser dieser Klagen sitzen
auf der Besuchertribüne: Es handelt sich um Oberleutnant Winfried Stecher und Oberfeldwebel Werner
Buzan. Ich kann mir vorstellen, dass sie diese Debatte
durchaus mit gemischten Gefühlen verfolgen; denn ausgerechnet eine rot-grüne Bundesregierung überlässt es
letztendlich den Betroffenen selbst, mit persönlichem
und nicht zuletzt auch finanziellem Einsatz dafür zu sorgen, dass die Praxis der Diskriminierung von Homosexuellen in der Bundeswehr beendet wird.
Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen versichern:
Die Bundeswehr wird sich ändern müssen, nicht nur,
weil demnächst auch Frauen den Dienst mit der Waffe
leisten dürfen, unter denen sich - das sage ich Ihnen
jetzt schon in aller Deutlichkeit - in nicht geringer Zahl
auch lesbische Frauen befinden werden, -
Frau Kollegin,
bitte kommen Sie zum Schluss.
- sondern weil in Kürze
höchstinstanzliche Rechtsprechung dafür sorgen wird,
dass Schwule als Vorgesetzte oder Ausbilder eine
Selbstverständlichkeit sein werden.
Danke schön.
({0})
Jetzt möchte
der Abgeordnete Rudolf Scharping eine Kurzintervention machen. Bitte.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich wollte die Kollegin Schenk darauf aufmerksam machen, dass ich als Bundesminister der Verteidigung
durch den Amtseid verpflichtet bin, Gesetz und Rechtsprechung exakt so lange zu beachten, wie sie oder ihre
Grundlagen sich nicht geändert haben. Im Übrigen wollte ich die Kollegen von der F.D.P. darauf aufmerksam
machen - ({0})
- Lassen Sie mich doch einmal ausreden. Ich habe Ihnen
doch gerade angekündigt, das tun zu wollen. Sie haben
dann gefragt: ab wann? Diese Frage wollte ich Ihnen mit
dem Hinweis beantworten: wenn irgend möglich, vor
den Sommerferien. Bis dahin wird es keine automatischen Schlussfolgerungen geben.
({1})
Danke schön.
Möchten Sie antworten? - Bitte.
({0})
Herr Bundesminister
Scharping, ich möchte nicht nur Sie, sondern auch das
Auditorium darauf hinweisen, dass ich in meinen
schriftlichen Fragen vom Juni vergangenen Jahres nicht
nach geltendem Recht und nach der Rechtsprechung gefragt habe, sondern nach der Auffassung des Bundesverteidigungsministeriums zu den vorgekommenen Diskriminierungsfällen. Insofern führt Ihr Hinweis hier nicht
weiter.
({0})
Dann kann ich
jetzt die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt
schließen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/1870 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr.
Jürgen Rüttgers, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Graffiti-Bekämpfungsgesetz -
- Drucksache 14/546 ({0})
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Dr.
Edzard Schmidt-Jortzig, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zum verbesserten Schutz des
Eigentums
- Drucksache 14/569 ({1})
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes - Graffiti-Bekämpfungsgesetz - ({2})
- Drucksache 14/872 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses ({4}) - Drucksache
14/2941 Berichterstattung:
Abgeordnete Hermann Bachmaier
Jörg van Essen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der
Respekt vor fremdem Eigentum gehört zu den Fundamenten unseres Staates. Der Schutz des Eigentums ist
ein Eckpfeiler unserer Rechtsordnung. Der heutige Tag
allerdings ist ein schwarzer Tag für den Eigentumsschutz.
({0})
Mit ihrer Mehrheit will die rot-grüne Koalition heute
verhindern, dass effektiv gegen den SpraydosenVandalismus vorgegangen werden kann.
({1})
Die heute zur Abstimmung stehenden Initiativen der
CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion sowie des
Bundesrates haben alle dasselbe Ziel, nämlich eine
Strafbarkeitslücke zu schließen
({2})
und damit den strafrechtlichen Schutz vor Graffitischmierereien zu verbessern.
Pikanterweise fand die Bundesratsinitiative, die auf
einen Antrag Bayerns zurückgeht, im Rechtsausschuss
des Bundesrates eine überwältigende Mehrheit. Auch
die meisten SPD-regierten Länder stimmten zu -
({3})
mit zwei Ausnahmen. Das damals noch rot-grün regierte
Hessen und Nordrhein-Westfalen waren dagegen. Dass
im Übrigen gerade aus Berlin der Wunsch nach effektiverem Vorgehen gegen das Sprayerunwesen kommt, ist
mehr als verständlich, denn mindestens 40 Millionen DM Schaden entstehen allein hier in der
deutschen Hauptstadt jährlich durch Graffitischmierereien. Wer mit offenen Augen durch diese
Stadt geht, kann sich selbst ein Bild vom Ausmaß der
Beschädigungen machen.
({4})
Bundesweit liegen die jährlichen Schäden nach
Schätzung des Zentralverbands der Deutschen Haus-,
Wohnungs- und Grundeigentümer allein bei den Hauseigentümern im dreistelligen Millionenbereich. Die Anzahl der Tatverdächtigen belief sich allein in Berlin im
Jahr 1998 auf über 1 500 .
({5})
- Wir reden also hier, Herr Kollege Ströbele, nicht von
Bagatellkriminalität. Wir reden auch nicht von Kunst
und künstlerischer Freiheit.
({6})
Es geht vielmehr um den Schutz des Eigentums. Dieser beinhaltet, dass niemandem eine rechtswidrige Veränderung seiner Sache aufgezwungen werden darf, auch
nicht eine so genannte Verschönerung. Denn auf ästhetische Gesichtspunkte kommt es hierbei überhaupt nicht
an.
Mit den derzeitigen strafrechtlichen Mitteln kann den
Graffitischmierereien nicht wirksam genug entgegengewirkt werden.
({7})
Denn nach der Rechtsprechung des BGH ist der Tatstand der Sachbeschädigung nur gegeben, wenn eine
Substanzverletzung vorliegt. Es muss also in jedem Einzelfall mit hohem Ermittlungsaufwand
({8})
und teuren Gutachten festgestellt werden, dass durch die
Schmiererei oder deren Entfernung die Sache selbst beschädigt worden ist.
({9})
Nicht ausreichend ist nach der Rechtsprechung, dass der
Instandsetzungsaufwand erheblich ist. - Herr Kollege
Ströbele, ich weiß nicht, was Sie unter rechtsstaatlichen
Gesichtspunkten zu der Debatte beitragen können. Aber
vielleicht wollen Sie ein paar Anekdoten aus Ihrer Jugendzeit zum Besten geben, in der Sie möglicherweise
ein aktiver Sprayer waren.
({10})
Ich weiß nicht, ob das zur Bereicherung beiträgt.
({11})
- Einige outen sich hier jetzt offensichtlich. Das ist sehr
interessant.
({12})
Nur, meine Damen und Herren, leider können die betroffenen Hauseigentümer über die Verunstaltung ihrer
Hauswände nicht lachen.
Weil die Rechtslage so ist, sieht unser Gesetzentwurf
vor, die §§ 303 und 304 StGB jeweils um das Merkmal
des Verunstaltens zu ergänzen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
({13})
Dieses Merkmal des Verunstaltens erfasst Veränderungen des äußeren Erscheinungsbildes der Sache.
Dieses Vorhaben wurde übrigens bei der Anhörung
des Rechtsausschusses im Herbst vergangenen Jahres
von der deutlichen Mehrheit der Sachverständigen begrüsst.
({14})
Aufschlussreich war übrigens der Hinweis eines
Sachverständigen, dass die Sprayerszene geradezu damit
prahle, dass strafrechtlich de facto keine Verfolgung zu
erwarten sei.
({15})
Ein anderer Sachverständiger legte überzeugend dar,
dass die Gerichte in Österreich, wo das Verunstalten im
Rahmen der Sachbeschädigung schon lange strafbar ist,
({16})
mit der Definition und der Anwendung des Begriffes
„Verunstalten“ keine Probleme haben. Das kümmert die
rot-grüne Koalition freilich wenig.
({17})
Sie setzt sich, wie so oft, über den Sachverstand hinweg
({18})
und stimmt, wie im Rechtsausschuss geschehen, mit ihrer Mehrheit sinnvolle Vorschläge nieder. Leider ist es
so, Herr Kollege Bachmaier. Das ist die traurige Wahrheit. Wen sollte es wundern, dass bei diesem Thema, vor
allem bei manchem Grünen, auch immer eine gehörige
Portion Ideologie im Spiel ist, sodass mancher, der vielleicht in der 68-er Kampfzeit selbst Parolen an die
Hauswände gesprüht hat oder sonst mit dem Rechtsstaat
in Konflikt gekommen ist,
({19})
Kollege Ströbele, auch heute wenig Bereitschaft zeigt,
({20})
das Eigentum zu schützen?
({21})
Wer aber verhindert, dass gegen den Spraydosenvandalismus wirksam vorgegangen werden kann, der
leistet der Rechtlosigkeit Vorschub. Dies wird in der
Sprayerszene wie ein Signal verstanden werden, praktisch unbehelligt wie bisher weitermachen zu können,
und wird jegliches Unrechtsbewusstsein dieser Täter beseitigen.
({22})
- Herr Ströbele, Sie haben noch nie ein Unrechtsbewusstsein gehabt. Das ist mir klar.
Bei den rechtstreuen Bürgern führt Ihre Verweigerungshaltung, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, dazu, dass das Vertrauen in den Rechtsstaat schwindet.
({23})
Deshalb appelliere ich an die Regierungskoalition,
einen Beitrag zum besseren Schutz des Eigentums zu
leisten, rechtsstaatlich Flagge zu zeigen und sich den
Erkenntnissen aus der Anhörung nicht zu verschließen.
Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu und Sie tun etwas für den Rechtsstaat.
({24})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hermann Bachmaier.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr Götzer, es ist schon interessant, wo Sie plötzlich den Rechtsstaat entdecken
und an welchen Stellen Sie einen relativ großen Bogen
darum machen.
({0})
Bei der heutigen abschließenden Beratung der dem
Bundestag vorliegenden Gesetzentwürfe geht es nicht
um die Frage, ob und wie stark wir entschlossen sind,
den Auswüchsen der Graffitisprühereien Einhalt zu gebieten.
({1})
Es geht ausschließlich um die Frage, ob eine Ergänzung der Sachbeschädigungsvorschriften des Strafgesetzbuches ein geeignetes Mittel ist, mit dem das Beschmieren von Hauswänden, Fassaden, Eisenbahn- und
Straßenbahnwaggons und anderer privater und öffentlicher Flächen eingedämmt werden kann. Darum geht es
und um sonst nichts.
Immer dann nämlich, wenn wir ein öffentliches Ärgernis zu beklagen haben und niemand so recht weiß,
auf welchem Wege derartige Provokationen eingegrenzt
werden können, hat es sich bei uns eingebürgert, nach
einer Verschärfung der Strafnormen zu rufen, ungeachtet der Frage, ob wir dadurch Abhilfe schaffen können
oder nicht.
({2})
- Herr Geis, beruhigen Sie sich. Ich habe nachher noch
ein schönes Zitat für Sie.
({3})
Es wird dann in aller Regel gar nicht weiter gefragt,
ob die bisherigen Strafvorschriften eine geeignete und
hinreichende Antwort auf die Herausforderungen geben
oder nicht. Im vorliegenden Fall wäre außerdem zu fragen, ob eine Verschärfung und Ergänzung des § 303 des
Strafgesetzbuches letztlich zu einem Rückgang der unerwünschten Graffitisprühereien führen kann.
({4})
- Das Strafrecht ist nicht zum Probieren da, Herr Geis.
({5})
Dabei wird immer suggeriert, dass die bisherige, klar
konturierte Fassung des § 303 des Strafgesetzbuches im
Anwendungsbereich von Graffitischmierereien ein
stumpfes Schwert sei. So suggerieren Sie es.
({6})
Das Gegenteil ist richtig. Die vom Rechtsausschuss
durchgeführte Sachverständigenanhörung hat ergeben,
dass auch im Lichte der sich herausbildenden obergerichtlichen Rechtsprechung Graffitisprühereien in aller
Regel zu einer Substanzverletzung der betroffenen Häuserwände oder Flächen führen
({7})
und damit als Sachbeschädigung schon heute im Sinne
der geltenden Fassung des § 303 StGB anzusehen sind.
({8})
Bei den relativ wenigen verbleibenden und nicht
durch die geltende Fassung des Strafgesetzbuches erfassten Fällen handelt es sich häufig um leicht und folgenlos beseitigbare bzw. abwaschbare Farbaufträge, die
schon wegen ihrer praktisch nicht vorhandenen weiteren
Folgen kaum als strafrechtlich relevante Sachbeschädigung anzusehen sind.
({9})
So ist die sich herausbildende obergerichtliche Rechtsprechung.
({10})
Praktisch alle einen oft erheblichen Schaden hervorrufenden Graffiti-Sprühereien, die die Öffentlichkeit zu
Recht verärgern, sind schon heute durch den Sachbeschädigungstatbestand des Strafgesetzbuches erfasst.
({11})
Der Straftatbestand ist also völlig ausreichend.
({12})
Auch ist es nicht so, dass die Strafverfolger dem
Treiben tatenlos zusehen würden. Das Gegenteil ist der
Fall. In der Sachverständigenanhörung wurde uns über
die Arbeit der „Gemeinsamen Einsatzgruppe Graffiti“ in
Berlin berichtet. Jetzt hören Sie einmal genau zu. 1999
wurden dort im Zusammenhang mit Graffiti 7 500 Straftaten - das ist zugegebenermaßen viel - festgestellt
({13})
und circa 1 500 verdächtige Personen ermittelt. Das
spricht für eine beachtliche Aufklärungsquote.
Auch über die Arbeit der in Karlsruhe tätigen Arbeitsgruppe Graffiti wurde uns berichtet, die sehr interessante Ansätze verfolgt, sowohl repressiv als auch
präventiv. Manchmal müssen Sie eben mehr an das Verhüten von Vergehen als an die Strafverfolgung denken.
Verhüten ist immer besser, als dem Verbrechen hinterherzulaufen.
({14})
Zum repressiven Bereich: In 75 Prozent aller Fälle von
angezeigter Sachbeschädigung werden die Straftäter ermittelt. Das ist eine erstaunlich gute Bilanz. Das Gegenteil will man uns immer weismachen.
Noch etwas: Falls wirklich in einigen wenigen Einzelfällen der Sprayer straflos davonkommt, weil keine
Substanzverletzung vorliegt, so bleibt er zivilrechtlich
selbstverständlich haftbar. Auch das sollten Sie der Öffentlichkeit nicht vorenthalten.
({15})
Allein von dieser zivilrechtlichen Haftung hat der Geschädigte etwas. Von der Bestrafung hat er nämlich
herzlich wenig.
({16})
Ich halte also fest: Die derzeitige Fassung des § 303
des Strafgesetzbuches ist ausreichend und angemessen.
Was würde also eine Erweiterung des Straftatbestandes der Sachbeschädigung bringen? Auch darüber
sollte man sich Gedanken machen. Vor allem würde
eine Erweiterung des Sachbeschädigungstatbestandes - darauf hat insbesondere ein renommierter Strafverteidiger in der Anhörung des Rechtsausschusses hingewiesen - um den Begriff der Verunstaltung zu oft
schwierigen Auseinandersetzungen bei den Strafrichtern
unserer Amtsgerichte und bei den Rechtsmittelinstanzen
führen. Es kann unschwer vorhergesehen werden - Herr
Geis, das wissen Sie auch -, dass man sich bei Gericht
mit kontroversen Sachverständigengutachten darüber
streiten müsste, ob im Einzelfall das sehr schillernde und
auslegungsbedürftige Tatbestandsmerkmal der Verunstaltung gegeben ist oder nicht.
({17})
- Hören Sie genau zu! Jetzt kommt gleich ein schönes
Zitat von Ihnen. - Noch Mitte der 80er-Jahre, als wir
uns mit einem ähnlichen Vorstoß der damaligen Koalition im Ordnungswidrigkeitenrecht befasst haben
({18})
- ich weiß, das gefällt Ihnen nicht -, haben Sie sich,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU, selbst davon überzeugen lassen, dass der Begriff der Verunstaltung erhebliche und kaum zu lösende Auslegungsprobleme schon im Bußgeldrecht mit sich bringen würde. Im abschließenden Bericht des damaligen Rechtsausschusses heißt es:
Die Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. ließen
sich bei ihrer Entscheidung … von den Bedenken
leiten, dass der Begriff des ‚sonstigen Verunstaltens‘ nicht eindeutig auszulegen sei. Vor allem aber
hält man die zivilrechtlichen Ansprüche des durch
eine Verunstaltung Betroffenen und das Satzungsgebungsrecht der Kommunen für ausreichend,
- so war Ihre Position Mitte der 80er-Jahre ({19})
um diejenigen Verunstaltungen zu bekämpfen, die
nicht mehr unter die Tatbestandsvoraussetzungen
einer Sachbeschädigung fallen.
Wenn Sie damals schon - mit Recht - Bedenken gegen
einen derart schillernden und unkonturierten Begriff wie
den der Verunstaltung im Bußgeldrecht hatten, dann
gilt dies doch erst recht für das Strafrecht, das die Aufgabe hat, kriminelles Fehlverhalten klar und deutlich im
Straftatbestand festzulegen.
({20})
- Es gefällt Ihnen nicht; darum versuchen Sie, mich zu
überschreien. Aber das nützt Ihnen nichts.
Wir sollten - sehr geehrter Herr Geis, darauf habe ich
bereits in der ersten Lesung hingewiesen - ein gemeinsames Interesse daran haben, das Strafgesetzbuch nicht
immer weiter mit unbestimmten Rechtsbegriffen zu
überladen, die unabsehbare Auslegungsprobleme mit
sich bringen und in hohem Maße Rechtsunsicherheit zur
Folge haben.
({21})
Herr Kollege
Bachmaier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Ich bin zwar gerade
am Ende, aber bitte, wenn Sie meinen.
Ich stoppe
auch die Zeit.
Gut.
Herr Kollege Bachmaier,
Sie wissen so gut wie ich, dass der Begriff „Verunstalten“ bereits jetzt in einer anderen Norm des Strafgesetzbuchs enthalten ist. Sie wissen auch, dass der Begriff
„Verunstalten“ im österreichischen Strafgesetzbuch enthalten ist, gerade bezogen auf Graffiti, und dass dies,
wie uns der Sachverständige, der übrigens von Ihrer Partei benannt worden ist und der aus Österreich kommt,
bei der Anhörung sagte, ausgezeichnet funktioniert und
dieser Begriff keine Probleme bei der Rechtsprechung
macht. Was sagen Sie dazu?
Herr Geis, wenn ich
das richtig sehe, bewegen wir uns im Rahmen des deutschen Strafgesetzbuches
({0})
und haben darüber zu entscheiden, welche Auslegungsprobleme sich bei uns ergeben.
Der von Ihnen herangezogene Straftatbestand der
Urkundenverunstaltung hat einen völlig anderen Hintergrund. Dort geht es darum, dass Urkunden unbrauchbar und nicht mehr zu ihrem Zweck benutzbar sind. Das
ist ein völlig anderer Rahmen und es ist eine Irreführung
der Öffentlichkeit, wenn Sie diesen Vergleich hier heranziehen.
({1})
- Herr Geis, Sie sind ein viel zu guter Jurist, als dass Sie
nicht wüssten, dass Sie hier Irreführendes vorbringen.
({2})
Ich bleibe dabei: Das Strafrecht ist kein Allheilmittel
zur Bewältigung von Problemen, bei denen es keine
schnell wirksamen und ins Auge springenden Lösungen
gibt. Unser Bedarf an lediglich symbolischem Strafrecht
ist gedeckt. Wir sollten bei der Tradition bleiben, das
Strafrecht nur für die Fälle zu nehmen, in denen es unausweichlich und vorhersehbar zu strafbarem Verhalten
kommt. Im Übrigen ist die Rechtsprechung bei diesen
Problemen auf einem guten Wege. Hier gilt es, Verhinderungsstrategien zu entwickeln und nicht ständig nach
weiteren Scheinlösungen zu rufen, die uns nicht weiterhelfen.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rainer Funke.
({0})
- Lieber Herr Kollege Tauss, ich habe jetzt dem Kollegen Funke das Wort gegeben, dabei bleibt es auch.
({1})
Nein, ich höre Ihnen zu,
weil ich Sie nicht gerne unterbrechen möchte. Ich bin,
wie Sie wissen, ein höflicher Mensch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ehrlich
gesagt verstehe ich die ganze Aufregung nicht. Das ist
ein schönes populistisches Thema. Es ist aber unstreitig,
dass das Besprühen von privaten Gebäuden, öffentlichen
Gebäuden, Anlagen, Eisenbahnzügen und vielem anderen im Grunde genommen zu einer Plage geworden ist,
und dies nicht nur aus ästhetischen Gründen. Die Beseitigung dieser Schmierereien verursacht der öffentlichen
Hand und damit auch dem Steuerzahler riesige Kosten.
Dennoch werden die Abgeordneten der Regierungskoalition - das ist voraussehbar - gegen den Gesetzentwurf meiner Fraktion, und zwar wider besseres Wissen
und wider die eigene Überzeugung, stimmen.
({0})
- Ja, das geschieht wider die eigene Überzeugung. Das
weiß ich sehr wohl. Denn Sie haben ja im Bundesrat
({1})
zum großen Teil unseren Gesetzentwürfen zugestimmt.
({2})
Das Schlimme ist: Sie zeigen überhaupt keine Alternative auf. Sie haben, Herr Bachmaier, soeben zu Recht
darauf hingewiesen, dass weder im präventiven noch im
repressiven Bereich etwas geschehen ist. Sie meinen, es
wäre besser, etwas im präventiven Bereich zu tun. Aber
Sie haben überhaupt nicht aufgezeigt, wie im präventiven Bereich diesen Schmierereien begegnet werden
kann. Wir sehen, dass diese Schmierereien in der Öffentlichkeit weiter zunehmen.
Dabei beinhaltet der Gesetzentwurf der F.D.P.Fraktion, in dem das Verunstalten durch Graffitisprühen
unter Strafe gestellt wird, lediglich eine Klarstellung
zum Begriff der Sachbeschädigung. Sie haben zu Recht
auf die Rechtsprechung hingewiesen. In Einzelfällen
wird durchaus von einigen Gerichten - sie sind etwa in
der knappen Mehrheit - dieses Besprühen strafrechtlich
geahndet.
({3})
Aber wir müssen eine Klarstellung für die Gerichte
vornehmen, die dieser Rechtsauffassung bislang nicht
gefolgt sind.
({4})
Aus diesem Grunde haben wir dieses Wort „verunstalten“ in § 303 StGB aufgenommen. Ich halte das auch
für richtig. Sie haben zu Recht auf § 134 StGB hingewiesen. Von § 134 StGB sind natürlich auch Urkunden
betroffen, aber auch Veröffentlichungen der öffentlichen
Hand. Wenn zum Beispiel Litfasssäulen besprüht würden, wäre das eine Straftat nach § 134 StGB. Somit erfasst § 134 StGB nicht nur Urkunden. Auch in diesem
Fall hat die Öffentlichkeit einen Anspruch darauf, dass
öffentliche Bekanntmachungen nicht besprüht werden.
({5})
Dies ist durchaus mit den Tatbeständen vergleichbar,
die von § 303 StGB betroffen sind. Auch die Länder haben im Bundesrat diesen Begriff gewählt und im Übrigen Herrn Bürgermeister Diepgen
({6})
damit beauftragt - insoweit ist es schade, dass er heute
nicht da ist -, mit dem Bundestag darüber zu verhandeln. Offensichtlich ist Herr Bürgermeister Diepgen, der
auch Justizsenator ist, dieser Aufgabe nicht ganz gerecht
geworden.
({7})
Die sozialdemokratischen Rechtspolitiker weisen allgemein darauf hin, dass gesellschaftswidriges Verhalten
auch durch strafrechtliche Bestimmungen und Sanktionen begleitet werden müsse. Sie sprechen insoweit von
einer erzieherischen Wirkung des Strafrechts auf die
Gesellschaft. Das habe ich schon allzu häufig von Ihnen
gehört.
Aber gerade dort, wo der Gesellschaft tagtäglich
durch die Schmierereien an Häusern, Wänden und öffentlichen Einrichtungen die Missachtung des Eigentums vor Augen geführt und deutlich gemacht wird, dass
Sachbeschädigungen ungeahndet bleiben können,
verweigert sich die SPD dieser edukativen Regelung, die
ausdrücklich nur eine Klarstellung und Verdeutlichung
der Rechtsprechung darstellt.
({8})
Denn durch eine einheitliche Rechtsprechung kann der
erzieherische Charakter auch und gerade gegenüber Jugendlichen verdeutlicht werden.
Wir dürfen als Parlament nicht tatenlos zusehen, wie
durch die Schmierereien tagtäglich gegen Recht und Gesetz verstoßen wird. Unterschätzen Sie nicht, welche
Wirkung eine Untätigkeit des Parlaments auf die betroffenen Eigentümer,
({9})
aber auch auf die Mehrheit der Gesellschaft hat, die diese Schmierereien so langsam leid ist.
Vielen Dank.
({10})
Herr Kollege
Funke, gestatten Sie noch eine Nachfrage des Kollegen
Tauss?
Ja, natürlich.
Nachdem Sie, Herr Kollege, erneut den Eindruck erweckt haben, als ob Schmierereien
heute überhaupt nicht strafbewehrt seien, frage ich Sie:
Wie erklären Sie beispielsweise mir als - im Gegensatz
zu Ihnen - Laien, dass in der Stadt, in der ich wohne,
vor einiger Zeit ein Polizeiwagen vorfuhr, drei Polizisten herausstürmten, eine Wohnung durchsuchten und bei
der Gelegenheit die Hobbywerkstatt des Vaters beschlagnahmten, weil der Sohn im Verdacht stand, ein
Sprayer zu sein? Auf welcher Rechtsgrundlage erfolgen
solche Polizeieinsätze, wenn - wie Sie das hier vorgaukeln - es dafür überhaupt keine gesetzliche Grundlage
gibt? Ich bin nachgerade empört.
({0})
Verehrter Herr Kollege
Tauss, Ihre Empörung können Sie sich sparen, Sie hätten einfach nur zuhören sollen.
({0})
Ich habe ausdrücklich gesagt, dass es nach meiner Auffassung auch heute schon ein strafbewehrter Tatbestand
ist.
({1})
Aber nicht alle Gerichte fassen dies unter den strafbewehrten Tatbestand des § 303 StGB so wie ich mir das
vorstelle.
({2})
Es gibt vielmehr eine Reihe von Gerichten, die sagen:
Eine Sachbeschädigung liegt nur dann vor, wenn in die
Substanz eines Gebäudes eingegriffen wird. Sie wissen,
wie schwer es ist, dies im Einzelfall nachzuweisen.
({3})
Im Übrigen erfolgt die Strafverfolgung nicht immer so,
wie Sie und ich uns das vorstellen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans-Christian Ströbele.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen!
({0})
Wir erleben hier gerade wieder einmal einen etwas unlauteren Versuch der Irreführung des Parlaments und der
Zuhörer.
({1})
Ich kann nur sagen: Sollte jemand hier im Saal sein dort oben oder hier unten -, der vorhat, irgendwo einen
„Tag“ an die Wand zu sprayen und sich nun nach den
Reden der Vertreter der CDU in Sicherheit wiegt, der also meint, bei der gegenwärtigen Gesetzeslage könne er
nicht bestraft werden, muss ich ihn leider enttäuschen.
({2})
Hier wird ein völlig falscher Eindruck erweckt. Ich
habe schon im Rechtsausschuss erwähnt, dass ich in unzähligen Verfahren verteidigt habe. In keinem einzigen
Fall ist eine Verurteilung daran gescheitert, dass der
Begriff der Verunstaltung nicht im Gesetz gestanden
hat. In aller Regel haben Verurteilungen stattgefunden.
Wenn sie nicht stattgefunden haben, dann
({3})
deswegen, weil der Tatnachweis nicht geführt werden
konnte, aber nicht, weil das Gesetz unvollkommen gewesen ist.
Ich bin dem Kollegen Tauss dankbar, dass er darauf
hingewiesen hat, mit welchen Überreaktionen auf
Sprayen reagiert worden ist. Trotzdem beschweren Sie
sich, der Staat und der Bundestag würden nicht reagieren.
In Berlin ist eine ganze Sonderkommission gegen organisierte Kriminalität mit dem alleinigen Ziel eingerichtet worden, das Sprayen aufzuklären. In Berlin
wurden an einem Tag über 50 Wohnungsdurchsuchungen
gleichzeitig durchgeführt, um bei Schülern und Lehrlingen Spraywerkzeug sicherzustellen und dann die Strafverfahren einzuleiten und durchzuführen.
Ich habe hier einen Zeitungsausschnitt aus der „Hamburger Morgenpost“.
({4})
Danach hat der Staatsanwalt eine Freiheitsstrafe von drei
Jahren gegen einen unbelehrbaren Sprayer, der immer
wieder seine „Tags“ in der Stadt angebracht hat, gefordert. Es ist also gar nicht wahr, was Sie behaupten.
Ich habe Sie im Rechtsausschuss aufgefordert, mir
einmal eine Statistik zu nennen, in wie vielen Fällen eine Verurteilung gescheitert ist, weil der Straftatbestand
des § 303 StGB nicht erfüllt gewesen sein soll.
({5})
Das hätte ich gerne und dann können wir weiter diskutieren.
({6})
Der Begriff der Verunstaltung führt nicht zur Klarheit,
sondern zur zusätzlichen Verunklarung.
({7})
Verehrte Kollegin und Kollegen, machen Sie sich
doch einmal Gedanken darüber, was alles dabei herauskommt, wenn wir Juristen, vor allem die Gerichte, das
künstlerische Urteil über einen „Tag“ abgeben sollen, ob
es nun eine Verunstaltung oder eine Verschönerung ist.
Das wird doch kabarettreif,
({8})
vor allem in Deutschland. Aber auch das kann uns nicht
davon überzeugen, dass wir einen solchen Begriff ins
Gesetz aufnehmen müssen, denn die Rechtsprechung
sagt heute schon, dass jegliche Substanzverletzung
strafbar ist.
({9})
Eine Substanzverletzung liegt nicht nur dann vor,
wenn das Gebäude einfällt oder ein Ziegel herausfällt
oder ein Stück aus dem Betonmauerwerk herausbricht,
sondern Verunstaltung ist - , seit der Bundesgerichtshof
das 1979 entschieden hat -, eben auch beispielsweise die
Beschädigung von Lack oder von Anstrich. Das heißt,
immer dann, wenn eine Lackbeschädigung gegeben ist,
({10})
liegt eine Sachbeschädigung vor.
Herr Kollege, es ist auch einfach nicht zutreffend,
dass das immer mit Sachverständigengutachten festgestellt werden muss. In keinem einzigen Verfahren, das
ich hier in Berlin kenne, ist ein Sachverständiger zugezogen worden, weil - das mag in Berlin vielleicht anders
sein als in anderen Städten - in keinem einzigen Fall der
Amtsrichter, der Jugendrichter, die darüber entschieden
haben, sich nicht in der Lage gesehen haben, selber zu
entscheiden, ob es sich im jeweils vorliegenden Fall um
eine Sachbeschädigung handelt oder nicht.
In allen Fällen, in denen der Tatnachweis geführt
worden ist, hat in den Verfahren, an denen ich beteiligt
gewesen bin, eine Verurteilung stattgefunden, weil natürlich die für das Vorliegen des Tatbestandes einer
Sachbeschädigung notwendigen Voraussetzungen inzwischen so gering sind, dass der Tatbestand dann immer erfüllt ist.
Ich sage Ihnen: Wenn er nicht erfüllt ist, wenn Sie also eine Farbe, einen „Tag“, wenn er mit Wasserfarbe
angebracht ist, einfach mit einem feuchten Lappen abwischen können, so ist es doch ganz einfach nicht mehr
gerechtfertigt, von Kriminalität und von Kriminalstrafe
zu sprechen.
({11})
Wenn es genügt, den Täter oder die Täterin, die dabei
erwischt worden sind, ein „Tag“ angebracht zu haben,
dazu zu verurteilen oder besser: dazu anzuhalten, mit einem Lappen dort hinzugehen und das abzuwischen, und
wenn die Wand danach wieder hergestellt ist, wenn sie
wieder sauber ist und man nicht mehr sehen kann, dass
dort vorher ein „Tag“ war,
({12})
dann wäre es doch unsinnig und völlig unverhältnismäßig, mit einer Kriminalstrafe zu drohen oder eine solche
Kriminalstrafe zu verhängen.
({13})
Ich denke, alle Gesetzentwürfe, die sich ja voneinander nicht unterscheiden - einmal steht da „Verunstalten“, im anderen Fall steht da: „Wer eine Verunstaltung
vornimmt“; das ist der Unterschied zwischen dem Gesetzentwurf der CDU/CSU und dem der F.D.P. -, kommen nicht in Betracht, weil beide weit über das Ziel hinausschießen.
({14})
Was Sie hier wollen, ist die Fortsetzung Ihrer alten
Politik. Immer dann, wenn Sie auf gesellschaftliche
Probleme treffen,
({15})
dann haben Sie nur eins im Sinn: Die strafrechtliche
Drohgebärde muss her.
({16})
Damit wollen Sie Politik machen, damit wollen Sie
Gesellschaftspolitik machen.
({17})
Das ist das falsche Mittel, um die meist jugendlichen
Täterinnen und Täter zu beeindrucken. Da folgen wir
Ihnen nicht. Ich sage Ihnen: Das Strafrecht ist nicht dazu
da, um solchen Zwecken zu dienen. Wir geben uns nicht
dafür her,
({18})
solchen Gesetzesanträgen hier im Deutschen Bundestag
zur Mehrheit zu verhelfen. Deshalb lehnen wir alle drei
Gesetzesvorlagen ab.
({19})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Sabine Jünger.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren!
Ich denke, ich kann dieses Thema mit zwei Sätzen
abhandeln. Satz eins: Sehr geehrte Damen und Herren der Wohnungsbaugesellschaften, der Polizei
und der Sozialarbeit, sosehr Sie sich auch den Kopf
zerbrechen werden, den Kampf werden Sie verlieren. Satz zwei: Betrachten Sie Graffiti als Demokratisierung der Stadtplanung und -gestaltung und
wenden Sie sich wichtigeren Aufgaben zu.
({0})
- Herr Dr. Kansy, diese beiden Sätze sind nicht von mir,
sondern wurden von Eberhard Seidel-Pielen auf einer
Tagung der Landeskommission „Berlin gegen Gewalt“
gesprochen. Ich werde ihnen noch einige Sätze hinzufügen.
({1})
Untersuchungen haben ergeben, dass Menschen über
30 Jahre Graffiti eklatant anders sehen
({2})
und bewerten als Menschen unter 30. Die heute hier zur
abschließenden Beratung vorliegenden Entwürfe dokumentieren also in allererster Linie das Durchschnittsalter
der Einreicherinnen und Einreicher. Ich freue mich allerdings, dass die Mehrheit des Hohen Hauses heute ihre
jugendliche Einstellung demonstrieren und alle drei Gesetzentwürfe ablehnen wird.
Sprayer sind größtenteils männliche Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren. Wenn sie beim Sprühen erwischt werden, dann hat das auch jetzt schon Folgen:
Wem ein oder mehrere Graffiti nachgewiesen werden
können, der muss auch heute schon mit Konsequenzen
rechnen. Das bedeutet in der Regel richterliche Ermahnung, Freizeitarbeiten oder Freizeitarrest.
({3})
Hinzu kommen Verhöre, Hausdurchsuchungen und der
vorprogrammierte Ärger mit den Eltern, Beseitigung der
Graffiti, persönliche Haftung für den Schaden und damit
ein Schuldenberg, je nach Sachlage auch noch Anklage
wegen Sachbeschädigung. Das wissen die Sprayer natürlich; so etwas spricht sich halt herum. Die Konsequenz
daraus ist aber, sich nicht erwischen zu lassen.
Was also wollen Sie mit der Erfindung eines dubiosen Straftatbestandes „Verunstaltung“ erreichen? Dass
die jährlichen Zahlen der Jugendkriminalität steigen und
Sie wieder einmal den Verfall von Recht und Ordnung
anprangern und Jugendliche als kleine Monster darstellen können?
Sprayer sehen Graffiti als eine Antwort auf unsere
oftmals gesichtslosen Städte. Sie sind eine Antwort auf
die fantasielose Stadtplanung und Stadtentwicklung.
Selbst in den wenigen Fällen, in denen Bürgerinnen und
Bürger einbezogen werden, bringt diese Planung zum
Ausdruck, was sie in der Praxis vom kreativen Potenzial
und den Anregungen von Kindern und Jugendlichen
hält, nämlich nichts. Darüber sollten wir hier nachdenken, statt immer nur nach Gesetzesverschärfung zu rufen.
Es ist doch ein ernsthaftes Problem, dass Kinder und
Jugendliche - und nicht nur sie - nicht in die Gestaltung
ihrer Umwelt und in andere Entscheidungen einbezogen
werden, die auch sie betreffen. Das Problem ist auch,
dass Jugendkulturen von weiten Teilen der Gesellschaft
immer als Bedrohung und nicht als spezieller Ausdruck
einer Bevölkerungsgruppe und damit als Bereicherung
empfunden werden.
Meine Damen und Herren von der rechten Seite, setzen Sie ruhig weiter auf Ihre kulturelle und politische
Dominanz! Behelfen Sie sich in Ihrer Hilflosigkeit gegen Jugendphänomene weiter mit der Gesetzeskeule!
Aber ich sage Ihnen, Sie werden verlieren, und das ist
gut so. Solange Sie Jugendlichen keine besseren Angebote machen, ihre Kreativität und ihr Lebensgefühl auszudrücken, müssen Sie sich wohl damit abfinden, dass
Sie der Attraktivität einer Spraydose nichts entgegensetzen können.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Pick.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde jetzt nicht versuchen, in die
Aktionen der so genannten Graffitikünstlerinnen und
-künstler etwas hineinzugeheimnissen. Es soll verschiedene Kategorien geben, habe ich mir sagen lassen. Aber
ich stimme doch mit der Mehrheit des Hauses darin
überein, dass man das insgesamt ein Unwesen nennen
muss und dass auch die Empörung der Bürgerinnen und
Bürger verständlich ist, wenn sie ein frisch saniertes
Haus plötzlich mit einer solchen „Verschönerung“ betrachten müssen.
({0})
Die Frage ist aber, ob tatsächlich ein Mehr an Strafbarkeit erforderlich ist, um diesem Unwesen wirksamer als
bisher begegnen zu können und ob andere Wege beschritten werden müssen.
Es ist schon gesagt worden: Die Rechtsprechung tut
sich gelegentlich mit dem Tatbestandsmerkmal der
Sachbeschädigung etwas schwer. Allerdings ist die
Rechtsprechung, auch die des BGH, ziemlich eindeutig;
denn nicht nur bei Substanzverletzungen - davon war
schon die Rede -, sondern auch bei Beeinträchtigung
des bestimmungsmäßigen Gebrauchs der Sache - das
kann in dem einen oder anderen Fall so sein - liegt eine
Sachbeschädigung vor.
({1})
- Vor allen Dingen - lieber Herr Geis, das wissen auch
Sie - in den Fällen, in denen eine Reinigung zwangsläufig zu einer Beschädigung zum Beispiel der Fassade
führt, bejaht die Rechtsprechung in großer Eintracht eine
Sachbeschädigung.
({2})
- Es gibt dazu natürlich Kommentare, wie zu allem im
rechtlichen Bereich.
({3})
Die vorliegenden Gesetzentwürfe schlagen nunmehr
vor, die Tatbestände der Sachbeschädigung und der gemeinschädlichen Sachbeschädigung um das Merkmal
des Verunstaltens zu erweitern. Ich denke, dass wir bei
der Auslegung dieses Begriffs große Schwierigkeiten
haben werden. Herr Geis, wir können nicht ohne weiteres auf die Rechtsprechung zurückgreifen.
({4})
Es gibt auch eine historische Seite der Rechtsprechung.
Gerade dieser Begriff beinhaltet eine sehr subjektive
Wertung. Die Sachverständigen, insbesondere die Strafrechtswissenschaftler, haben auf diese Problematik in
der Anhörung am 27. Oktober hingewiesen. Diesem
Begriff ist eine ästhetische Bewertung immanent. Insofern handelt es sich um eine ganz schwierige Auslegungsfrage, die wir uns zusätzlich einhandeln würden.
Es ist nicht damit getan, über diese Frage zu diskutieren; vielmehr dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren,
dass erhebliche zivilrechtliche Konsequenzen mit der
Graffitiproblematik verbunden sind; denn die Schadenersatzansprüche können zum Teil sehr weitgehend sein.
Die Frage stellt sich in der Tat eher so, ob man der
Sprayer habhaft werden kann und ob eine wirksame
Schadenswiedergutmachung zu erreichen ist.
Ich möchte noch auf einen anderen Gesichtspunkt
eingehen, der bisher kaum angesprochen worden ist. Die
Polizeiliche Kriminalstatistik und die Strafverfolgungsstatistik enthalten zwar keine gesonderten Angaben zu
den Graffitisprayern als Tatverdächtigen bzw. Verurteilten; aber wir können auf Erkenntnisse aus den Ländern
zurückgreifen.
Es gibt gerade hier in Berlin einen Aktionsplan
„Graffiti“. Diesem ist zum Beispiel zu entnehmen, dass
die durch die Polizei im Zusammenhang mit Graffitischmierereien festgestellten Tatverdächtigen in der Regel zwischen 12 und 21 Jahre alt sind. Bei diesem Täterkreis erscheint das Bekämpfen des Phänomens der Farbsprühaktionen vorrangig mit Mitteln des Strafrechts
nicht befriedigend;
({5})
vielmehr kommt der Prävention besondere Bedeutung
zu.
Wir wissen, dass die Länder und auch die Gemeinden
im Bereich der Prävention schon sehr aktiv sind. Es
existiert eine Vielzahl von Projekten, die das Problem
interdisziplinär und mit großem Engagement angehen.
Neben diesem Berliner Aktionsplan „Graffiti“ gibt es
zum Beispiel in Schleswig-Holstein einen Bericht des
Rates für Kriminalitätsverhütung zu dem Thema „Konzepte zur Kriminalitätsverhütung im Zusammenhang mit
Graffiti“.
Es scheint auch besonders wirkungsvoll zu sein,
wenn Täter ihre eigenen oder auch fremde Graffiti und
Farbschmierereien selbst beseitigen müssen.
({6})
Hiermit ist ein Feld gerade für den so genannten TäterOpfer-Ausgleich aufgezeigt. Die Täter könnten sozusagen am eigenen Leib erfahren, wie schwierig es im Einzelfall sein kann, die Schäden zu beseitigen.
({7})
Auch Aufklärungsaktionen in Schulen über die Strafbarkeit und die Gefahr erheblicher Schadensersatzforderungen zeigen Wirkungen.
Ich denke, dass wir die Präventionsanstrengungen der
Länder und Kommunen mit großem Interesse zu begleiten haben. Die Bundesregierung prüft, ob neben dem
schon bestehenden umfangreichen Angebot auch Projekte der Bundesregierung erforderlich sind, um weiterzukommen. Im Ergebnis stimmt die Bundesregierung mit
all denjenigen überein, die eine weitere Verschärfung
des Strafrechts um einen neuen Straftatbestand für nicht
notwendig halten.
({8})
Der Bundesrat kann eine eigene Sicht der Dinge haben. Auch der Bundestag hat dieses Recht. Sie sagten ja
selber, dass Sie vor einigen Jahren noch einer anderen
Auffassung gewesen sind. Man kann das auch so ausdrücken: Damals waren Sie aus meiner Sicht klüger.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Pofalla.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in einer Art überschaubarem strafrechtlichen Symposium die
drei vorliegenden Gesetzentwürfe, unter anderem auch
den von der Union eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, das GraffitiBekämpfungsgesetz.
Was mich an dieser Debatte stört, sind zwei Dinge:
Erstens. Es hat bisher eine Reihe von Beratungen und
auch eine Anhörung gegeben, die eigentlich auf beiden
Seiten - ich betone ausdrücklich: auf beiden - zu neuen
Erkenntnissen hätten führen können. Ich habe mir die
Mühe gemacht, noch einmal das Protokoll der ersten Lesung nachzulesen. Daher bin ich erstaunt, dass zumindest im Hinblick auf Ihre ablehnende Sicht ausschließlich Argumente vorgetragen werden, die Sie bereits in
der ersten Lesung vorgebracht haben, was ich wirklich
für falsch halte.
({0})
- Herr Ströbele, zu Ihnen komme ich gleich -, denn in
der entsprechenden Anhörung sind eine Reihe von guten
und neuen Argumenten angeführt worden.
Zweitens. Wenn Herr Ströbele hier unter anderem
sagt, es gebe in diesem Zusammenhang keine Gerichtsurteile
({1})
- Herr Ströbele, dann sagen Sie so etwas nicht -, dann
ist das nicht richtig. Ich könnte Ihnen hier seitenweise
Gerichtsurteile vorlesen, in denen im Zusammenhang
mit Graffiti eine Sachbeschädigung abgelehnt worden
ist,
({2})
weil man die bestehende Rechtslage nicht für ausreichend gehalten hat. Das geht unter anderem aus einem
Urteil des Amtsgerichtes Tiergarten vom 24. September
({3})
und des Landgerichtes Itzehoe vom 3. Juli 1997 hervor.
({4})
- Herr Ströbele, ich habe nicht vor, Ihnen Nachhilfeunterricht über Rechtsprechung in Berlin zu geben. Aber
wenn Sie hier behaupten, es gebe keine Urteile,
({5})
in denen im Zusammenhang mit Graffiti eine Sachbeschädigung abgelehnt worden ist,
({6})
dann haben Sie, so muss ich schlicht und ergreifend sagen, die Rechtsprechung eines nicht unerheblichen Teils
der Bundesrepublik Deutschland leider nicht zur Kenntnis genommen.
({7})
Die Wahrheit ist, dass das bestehende Gesetz mit den
beiden Begriffen „zerstört“ und „beschädigt“ nicht alle
Fälle von Graffiti erfasst.
({8})
Folgenden Punkt verstehe ich angesichts dessen, dass
Sie in jeder Debatte Gerechtigkeitsargumente vortragen, in Ihrer Argumentation wirklich nicht: Ein Teil der
Sprayer kann nicht verurteilt werden,
({9})
weil bestimmte Farben verwandt werden bzw. auf einen
bestimmten Untergrund aufgesprüht wird. Beides ist
zum Teil rein zufällig. Jetzt müssen Sie mir einmal erklären, warum der eine wegen Sachbeschädigung verurteilt wird und der andere, der nicht einmal wusste, auf
welchen Untergrund er sprüht, nicht.
({10})
Was das mit Gleichbehandlung bei der Strafjustiz zu tun
hat, will uns nicht einleuchten.
({11})
Deshalb liegen uns heute - übrigens auch aufgrund
von Beschlüssen von SPD-Landesregierungen; sonst
wäre es zu diesem Gesetzentwurf des Bundesrates nicht
gekommen - drei Entwürfe vor, die im Kern dasselbe
aussagen.
Ich kann sogar verstehen, dass es Argumente gibt ich will sie gar nicht ignorieren -, die darauf hinauslaufen, dass man Ihre Position durchaus vertreten kann.
({12})
Ich sage Ihnen aber, Herr Ströbele: Was Sie in Ihrer unvorbereiteten Rede vorgetragen haben, hat mit einer differenzierten Argumentation in der Sache nichts mehr zu
tun.
({13})
Sie haben einen Teil der Rechtsprechung nicht zur
Kenntnis genommen
({14})
und behaupten, es gebe eine solche nicht.
({15})
Wir sind der Auffassung, dass es höchste Zeit ist, der
ständig zunehmenden Verschandelung ganzer Stadtviertel und anderer öffentlich zugänglicher Bereiche entschieden entgegenzutreten. Wer sich einmal in den Städten umschaut, Herr Ströbele - zum Beispiel in Berlin als
der Hauptstadt des Graffiti -,
({16})
der kann nicht die besprühten Hauswände, Mauern und
Garagentore sowie graffitiübersäte Eisenbahnwaggons,
U-Bahn-Wagen und Straßenbahnen übersehen. Kurz:
Nichts ist mehr vor Graffitisprühern sicher. Sie haben
selber in Ihrer kurzen Rede deutlich gemacht, dass Sie
ganz offensichtlich in diesem Bereich häufig Mandanten
vertreten. Also bestreiten Sie den Umstand als solchen
nicht.
({17})
Nach unserer Auffassung ist die bisherige Gesetzeslage insbesondere in strafrechtlicher Hinsicht offensichtlich nicht ausreichend, um die vorhandenen Fälle tatsächlich unter dem Gesichtspunkt der Sachbeschädigung
einer hinreichenden Bestrafung und Verurteilung zuzuführen. Die in anderen Zusammenhängen von Ihnen
aufgeführten möglichen Folgen, die im Falle einer Verurteilung auferlegt werden können - beispielsweise gemeinnützige Arbeit und andere Maßnahmen, die von
den Gerichten auferlegt werden können -, können eben
nicht auferlegt werden, wenn es entweder gar nicht erst
zur Anklage oder nicht zur Verurteilung kommt.
Wir halten diese Entwicklung für falsch. Wir sind
vielmehr der Auffassung, dass vor allem den jungen
Menschen, die sprayen, aufgezeigt werden soll, dass es
sich um eine Straftat handelt, die zu einer entsprechenden Verurteilung führt. Die bloße zivilrechtliche Ahndung führt zu überhaupt nichts. Wenn ein Sprayer ein
Garagentor zusprüht und nur zivilrechtlich verfolgt wird,
dann muss er am Ende ein paar hundert Mark aufbringen, die zu einem großen Teil wahrscheinlich von den
Eltern oder Großeltern bezahlt werden. Nach unserer
Auffassung reicht die zivilrechtliche Seite nicht aus, um
eine spürbare Reaktion zu erzeugen, sodass das Fehlverhalten eingesehen werden kann. Scheinbar glauben einige Sozialdemokraten, dass jeder, der in der Lage ist, eine Spraydose unfallfrei richtig herum zu halten, bereits
ein kleiner Picasso ist. Ihnen muss gesagt werden - das
ist unsere Überzeugung -: Schmutzfink bleibt Schmutzfink. So einfach ist das, Herr Schmidt.
({18})
Zur Kunstfreiheit, Herr Ströbele, gehört aber auch,
dass kein Eigentümer gezwungen werden darf, als Mäzen wider Willen zu fungieren. Der Eigentumsschutz beinhaltet, dass niemandem eine Verschönerung einer Sache aufgezwungen werden darf. Unsere Rechtsordnung
gibt nach unserer Überzeugung auf der strafrechtlichen
Seite dafür nicht den hinreichenden Schutz. Schließlich
lernt schon jedes Kleinkind, dass die Eltern zumeist
nicht überglücklich reagieren, wenn weiße Wohnzimmerwände eigenmächtig künstlerisch mit bunter Farbe
umgestaltet werden.
({19})
Es ist, so glaube ich, unstreitig, dass es auf der staatlichen Ebene andere Reaktionen geben sollte.
Die Sozialdemokraten blocken bei diesem Thema
möglicherweise auch deshalb ab, weil viele Grüne meinen, dass Graffitisprayer einen natürlichen Rechtsanspruch auf Teilnahme am Wettbewerb „Unser Dorf soll
schöner werden“ haben. Sie sollten sich vielleicht selber
daran beteiligen, aber vielleicht nicht als Graffitisprayer.
Der Staatssekretär hat eigentlich gerade die richtige
Erkenntnis gehabt, indem er deutlich gemacht hat, dass
er im Namen der Bundesregierung Graffitisprayereien
für falsch hält und verurteilt. Herr Staatssekretär, wenn
Sie jetzt diese Erkenntnis noch in strafrechtliche Maßnahmen umsetzten, dann würden Sie von unserer Seite
sogar die Zustimmung dafür bekommen.
Herzlichen Dank.
({20})
Jetzt erhält der
Kollege Hartenbach das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Heute ist neben
juristischem Sachverstand noch einiges anderes gefragt,
nämlich die richtige Einordnung dessen, was Sie wollen.
({0})
Ich gehe davon aus, dass Sie mit guten Absichten gehandelt haben. Aber auf Sie trifft das Wort von Goethes
Faust zu:
({1})
Ihr seid die „Kraft, die stets das Gute will und stets das
Böse schafft.“
({2})
Wenn man Ihnen folgt, so kann ich Ihnen nur sagen,
dass die Christenheit wahrscheinlich ausgestorben wäre.
Denn die Christen im alten Rom haben nur dadurch
überlebt, dass sie sich mit Graffiti Hinweise gegeben
haben, wo sie in den Katakomben unterkommen können.
({3})
Wenn man Ihr Wort „verunstaltet“ nimmt, so sind wir
wieder bei einer urchristlichen Angelegenheit. Nehmen
Sie doch einmal die Sternsinger, die teilweise auch ohne
Einwilligung der Hausbesitzer an die Wand malen. Fragen Sie einmal, ob sie wegen „Verunstaltung“ belangt
werden sollten!
({4})
Lassen Sie doch die Kirche im Dorf oder die Sprühdose im Regal! Entscheidend ist doch, dass die Täter
sauber ermittelt werden und zur Anzeige gebracht werden.
({5})
Wir wollen einmal sehen, wie es geht. Wir wissen aus
der eigenen praktischen Erfahrung, dass in jedem Fall,
in dem es eine saubere Täterermittlung gab, eine Verurteilung oder, wenn Milde angebracht ist, eine Einstellung des Verfahrens erfolgte. Das, was Herr Pofalla gemacht hat, war eine juristische Taschenspielerei.
({6})
Er hält ein Blättchen nach dem anderen hoch und zitiert
das Amtsgericht Itzehoe und das Amtsgericht Tiergarten,
({7})
sagt aber nicht, warum sie möglicherweise freigesprochen haben.
({8})
- Passen Sie auf, dass Sie Ihr Gebiss nicht verschlucken,
Herr Geis! - Hier gibt es eine ganze Menge Möglichkeiten. Wir sind der festen Überzeugung, dass Sie mit dem
Wort „verunstaltet“ nur Unfrieden in der Szene schaffen
würden.
({9})
Sie würden Unfrieden bei den Gerichten schaffen, weil
Sie die Richter überfordern würden.
({10})
Dann haben wir plötzlich keine Sachverständigen für
Sachbeschädigung mehr, sondern wir haben Sachverständige für Verunstaltung. Dafür bieten Sie sich aber
geradezu an.
({11})
Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir
haben bei der Anhörung erfahren, dass jedes Besprühen
einer Fläche eine Sachbeschädigung ist, egal ob es eine
raue Fläche ist -
({12})
die raue Fläche muss zerstört werden, weil sie abgeschliffen werden muss - egal ob es eine glatte Fläche ist,
wie zum Beispiel bei Eisenbahnwaggons. Man kann es
nur beseitigen, indem man die glatte Fläche beschädigt.
Wir haben also den Tatbestand der Sachbeschädigung
voll erfüllt. Mehr brauchen wir nicht. Wir brauchen keine „Verunstaltung“.
({13})
Wir brauchen die ganz, ganz wenigen Richter, die sich
mit der Sache einmal richtig befassen müssten. Die große Mehrheit der Staatsanwälte, die große Mehrheit der
Richter weiß, wie sie zu entscheiden hat. Darauf vertrauen wir.
({14})
- Herr Götzer, Sie reizen mich gerade, noch etwas zu
sagen. Natürlich weiß ich, um was es geht. Natürlich
weiß ich, dass der vorhandene Tatbestand ausreicht. Wir
brauchen keinen zusätzlichen „Verunstaltungs“-Begriff.
({15})
Ein letztes Wort. Österreich ist ein wunderschönes
Land. Die österreichischen Menschen gefallen mir sehr
gut.
({16})
Aber wir müssen nicht unbedingt auch noch österreichische Rechtsbegriffe importieren.
({17})
Das haben wir nicht nötig.
Vielen Dank.
({18})
Damit schließe
ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über
den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Än-
derung des Strafgesetzbuches, also zum Graffiti-
Bekämpfungsgesetz. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf
Drucksache 14/2941 unter Buchstabe a, den Gesetzent-
wurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der
Fraktion der CDU/CSU abstimmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stim-
men der CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. abgelehnt
worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung. Jetzt folgt die Abstimmung über
den Gesetzentwurf der Fraktion der F.D.P. zum verbes-
serten Schutz des Eigentums. Der Rechtsausschuss emp-
fiehlt auf Drucksache 14/2941 unter Buchstabe b, auch
diesen Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich lasse jetzt über diesen Gesetzentwurf der Fraktion
der F.D.P. abstimmen. Ich bitte Sie um das Handzei-
chen, wenn Sie dem zustimmen wollen. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch dieser Gesetz-
entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen sowie der PDS und diesmal gegen
die Stimmen der F.D.P. und der CDU/CSU abgelehnt
worden. Damit entfällt die weitere Beratung.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den vom
Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsände-
rungsgesetzes. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf
Drucksache 14/2941 unter Buchstabe c, den Gesetzent-
wurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf des
Bundesrates abstimmen und bitte Sie, die Hand zu erhe-
ben, wenn Sie dem Gesetzentwurf des Bundesrates zu-
stimmen wollen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Auch dieser Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS ge-
gen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung der
F.D.P. abgelehnt worden. Die weitere Beratung entfällt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6a und 6b sowie
Zusatzpunkt 6 auf:
6. a) Erste Beratung des von den Abgeordneten.
Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Dirk Fischer ({0}), Eduard Oswald, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes und
des Altschuldenhilfe-Gesetzes
- Drucksache 14/2763 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christine Ostrowski, Heidemarie Ehlert,
Gerhard Jüttemann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS
Aufhebung der Privatisierungspflicht im
Altschuldenhilfegesetz und der Sanktionen
bei Nichterfüllung
- Drucksache 14/2804 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes
({3})
- Drucksache 14/2983 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch! Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Kollegen
Kansy das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen
und Herren! Ich freue mich, dass sich die Rechtspolitiker in der ersten Reihe auch sehr intensiv mit der Wohnungspolitik befassen. Das ist zu dieser Stunde immer
ein gutes Zeichen.
Meine Damen und Herren, noch nie hat eine Bundesregierung bei ihrer Machtübernahme so günstige wohnungspolitische Rahmenbedingungen vorgefunden wie
diese Regierung.
({0})
Millionen neue Wohnungen und die daraus resultierende
Entspannung auf den Wohnungsmärkten führten zu immer geringeren Steigerungsraten des Mietenindexes, der
die Entwicklung der Mieten und Betriebskosten widerspiegelt: 1998 schon auf 1,8 - fast ein historischer
Tiefstwert -, ein Jahr später 1 Prozent. Das war der geringste Mietenanstieg seit Einführung des Mietenindexes
im Jahre 1962.
({1})
Meine Damen und Herren, leider hat diese Koalition
aus den heute schon angesprochenen günstigen Ausgangsbedingungen falsche Schlüsse gezogen. Statt der
Vorlage einer von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
schon vor Jahr und Tag geforderten neuen Bedarfsprognose und einer Bestandsaufnahme erleben wir ein unabgestimmtes Eingreifen der Bundesregierung in fast alle Steuerungsinstrumente der Wohnungspolitik mit dem
Ergebnis, dass im Mietenbereich wieder erste Steigerungstendenzen festzustellen sind. Dies stellt nicht nur
der Ring Deutscher Makler fest, sondern zum Beispiel
auch der Mieterbund, dem man nicht gerade SPD-Ferne
bescheinigen kann.
Meine Damen und Herren, die Haushaltsmittel für
den sozialen Wohnungsbau wurden radikal heruntergefahren. Durch verschiedene Änderungen im Steuerrecht
wird die Bereitschaft privater Investoren, Geld in den
frei finanzierten Wohnungsbau zu stecken, massiv gemindert. Unsicherheit und Attentismus greifen dort um
sich. Gleichzeitig wurden am Eigenheimzulagengesetz
Abstriche vorgenommen, obwohl gerade dieser Bereich
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
die Wohnungsproduktion der letzten Jahre wesentlich
getragen hat.
Dazu kommen die beabsichtigten Änderungen im
Mietrecht, die ebenfalls zulasten der Investoren gehen
und das mühselig hergestellte Gleichgewicht zwischen
Vermietern und Mietern zulasten der Vermieter verschieben.
Meine Damen und Herren, den sozialen Wohnungsbau fortzuführen, aber dabei grundlegend zu reformieren war schon ein Ziel der CDU/CSU-F.D.P.-Koalition
in der letzten Legislaturperiode. Wie bekannt, wurde
dies zu Zeiten der lafontaineschen Blockadepolitik
durch die SPD-Mehrheit im Bundesrat verhindert. Aber
statt wenigstens jetzt zügig auf die seit Jahren vorliegenden Vorarbeiten der Regierung Kohl zurückzugreifen und die Reform des sozialen Wohnungsbaus endlich
voranzutreiben, wird erneut eine Bund-LänderArbeitsgruppe nach dem Motto gebildet: Wenn ich
nicht mehr weiter weiß, bild ich einen Arbeitskreis.
({2})
- Liebe Kollegen der SPD, wenn Sie schon bei einer
solchen Binsenweisheit die Contenance verlieren, wird
es gleich noch schlimmer.
({3})
Dieses Auf-die-lange-Bank-Schieben blockiert aber
auch dringende Lösungen anstehender Detailprobleme.
So haben wir aus allen Verbänden und allen Diskussionen den Ruf nach schnellen Lösungen im Rahmen der
Förderung einer nachhaltigen Stadtentwicklung in bestimmten Ortsteilen und Stadtteilen mit besonderen sozialen und gesellschaftlichen Problemen und zur Verhinderung einseitiger Belegungsstrukturen vernommen.
Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, bedarf
es unseres Erachtens jetzt - und nicht irgendwann im
Jahre 2002 nach Vorliegen der Kommissionsergebnisse
und dem anschließenden Gesetzgebungsprozess - einer
Erweiterung des gesetzlichen Handlungsinstrumentariums um die so genannte mittelbare Belegung.
({4})
Das ist der Kernpunkt unserer Änderungswünsche in
diesem Gesetzgebungsverfahren.
Meine Damen und Herren, dies hat auch die Wohnungswirtschaft - ich habe es bereits erwähnt - nicht zuletzt in der Diskussion über die überforderten Nachbarschaften dringend eingefordert. Selbst wenn es jetzt für
eine Wohnungsbaudebatte ein bisschen juristisch wird:
Der heutige § 7 Wohnungsbindungsgesetz lässt zwar die
Freistellung von der Belegungsbindung zu, nicht aber
die Freistellung von der Mietpreisbindung, auch Kostenmiete genannt.
Deshalb haben wir diesen Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes und des Altschuldenhilfe-Gesetzes vorgelegt, den ich jetzt in einigen Detailpunkten noch einmal begründen will. Zum
Thema Altschuldenhilfe generell und zum Gesetzentwurf der Koalition dazu wird anschließend mein Kollege
Norbert Otto Stellung nehmen.
Unser Entwurf sieht vor, das Wohnungsbindungsgesetz so zu ändern, dass für im ersten Förderweg geförderte Sozialmietwohnungen die mittelbare Belegung im
Wege einer Vereinbarung zwischen der zuständigen
Stelle und dem Verfügungsberechtigten zugelassen
wird. Erhält der Investor beispielsweise beim Bau neuer
Mietwohnungen Wohnungsbauförderungsmittel, können
die damit verbundenen Mietpreis- und Belegungsbindungen des Wohnungsbindungsgesetzes vertraglich auf
ungebundene, über die Stadt verteilte Wohnungen aus
dem Bestand des Investors oder auch auf an anderer
Stelle neu errichtete Mietwohnungen übertragen werden.
Dieses Instrument der mittelbaren Belegung soll für
diejenigen Wohnungsunternehmen auf die jeweiligen
landesrechtlichen Vorschriften über Belegungsbindung
übertragbar sein, denen Altschuldenhilfe gewährt wurde. Das hat jetzt nicht direkt mit dem wichtigen Problem
der Bewältigung des Altschuldenhilfeproblems in den
neuen Ländern zu tun, bietet aber mit der von uns vorgeschlagenen Novellierung des Altschuldenhilfe-Gesetzes eine zusätzliche Erleichterung.
Angesichts der in vielen Städten und Gemeinden vorhandenen dramatischen Lage ist es nicht mehr verantwortbar, auf die angesprochene Reform des Wohnungsbaurechts zu warten, die, wenn wir seriöse Zeitvorstellungen beachten, nach dem Vorbereitungsstand innerhalb der Bundesregierung frühestens im Jahre 2002 in
Kraft treten könnte.
Unser Antrag könnte eigentlich die Zustimmung des
ganzen Hauses finden; denn alle Fraktionen dieses Hauses befürworten zum Beispiel das in den letzten Jahren
von der Arbeitsgemeinschaft des Bundes und der Länder, ARGE Bau genannt, erarbeitete Programm „Die soziale Stadt“. Darum wird zurzeit viel Luft gemacht.
Aber wenn man die Ziele dieses Programms ernst nimmt
- die Bundesregierung schmückt sich derzeit mit dem in
langen Vorbereitungen erarbeiteten Programm -, muss
man natürlich auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen schnellstens kompatibel machen.
In diesem Zusammenhang ist besonders die im Auftrag des Bundesverbandes Deutscher Wohnungsunternehmen erstellte Impirica-Studie aus dem Jahre 1998
„Überforderte Nachbarschaften - Soziale und ökonomische Erosion in Großsiedlungen“ hervorzuheben. Diese
Studie kommt zu folgendem Schluss - ich zitiere -:
Der soziale Wohnungsbau ist bis heute durch große
Wohngebiete mit einheitlicher Verwaltung und
einheitlicher Belegung charakterisiert. Eine soziale
Wohnungspolitik muss über räumlich weniger konzentrierte Belegungsmöglichkeiten verfügen. Das
Ziel ist grundsätzlich dadurch erreichbar, dass die
bestehenden Belegungsrechte räumlich entzerrt
werden.
Meine Damen und Herren, genau das ist der Kern unseres Gesetzentwurfs. Unser Ziel ist es, den zuständigen
Stellen für die im ersten Förderweg des sozialen
Wohnungsbaus geförderten Wohnungen - neben den Freistellungsmöglichkeiten nach § 7 - mit der mittelbaren
Belegung ein weiteres Instrument zur Schaffung und Erhaltung ausgewogener Bewohnerstrukturen an die Hand
zu geben. Da § 7 zwar die Freistellung von der Belegungsbindung - ich wiederhole das, weil es oft verwechselt wird -, aber keine Freistellung von der Mietpreisbindung, sprich: Kostenmiete zulässt, ist die mittelbare Belegung im ersten Förderweg bisher nicht zulässig.
In diesem entspannten Wohnungsmarkt gibt es überall schon ein Quartier, das sozial problematisch ist. In
diesem Zusammenhang gibt es ein weiteres Thema, mit
dem wir noch auf Sie zukommen werden, nämlich der
Frage: Ist es heute überhaupt noch vernünftig, im Bundesgesetz eine Fehlbelegungsabgabe vorzuschreiben,
wenn diese zu Segregationserscheinungen führt?
({5})
- Lassen Sie mich mein Thema doch selber festlegen,
Frau Kollegin.
({6})
- Dies hat alles damit zu tun. Ihre Reaktion zeigt Ihre
Dickfälligkeit gegenüber Problemen, deren Lösung vor
Ort nicht nur für die Bürger, sondern auch für die Kommunen und die Wohnungsunternehmen wichtig ist. Statt
sich dieser Probleme anzunehmen, tragen Sie dauernd
Ihre aufgeblasenen Luftballons von der „sozialen Stadt“
vor sich her, was dazu führt, weil nur geringe Mittel dafür zur Verfügung stehen, dass Sie an die Probleme
nicht herankommen. Das ist das Problem.
({7})
Mieter ziehen in zunehmendem Maße, und zwar ohne
dass die Unternehmen reagieren und ihre Belegungsbindung streuen können, aus und ein Quartier nach dem anderen kippt um. Die SPD-Fraktion ruft „Thema“, wenn
man das in diesem Zusammenhang erwähnt.
({8})
Wir hatten bereits in der letzten Legislaturperiode im
Rahmen unserer Vorschläge zur Reform des sozialen
Wohnungsbaus die mittelbare Belegung angeregt. Zwischenzeitlich ist die Situation wesentlich kritischer geworden.
Bei allem Respekt vor Kommissionen und trotz der
schon erwähnten zeitlichen Perspektive bis zum Jahre
2002 sage ich: Es muss schnell und sofort gehandelt
werden. Wir bitten Sie deshalb - das ist wirklich keine
ideologische Frage, in der man sich verrennen muss -,
den vorgelegten Gesetzentwurf in den Ausschüssen zügig zu beraten und möglichst auch schnell zu verabschieden. Wegen der Bedeutung des Instrumentes der
mittelbaren Belegung als Lösungsansatz für den dringlichen Problemkreis „Soziale Brennpunkte in unseren
Städten“ sollten diese Änderungen nämlich möglichst
schnell und möglichst früh in Kraft treten.
Vielen Dank.
({9})
Jetzt spricht
die Abgeordnete Christine Lucyga.
Guten Abend, Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kansy, als ich Ihnen zuhörte, habe ich mich gefragt,
was denn eigentlich die Botschaft sein sollte, die Sie uns
übermitteln wollten.
({0})
Zunächst beklagen Sie die dramatische Lage der
Städte und Gemeinden, fordern uns aber gleichzeitig
auf, auf den Vorarbeiten der Regierung Kohl aufzubauen. Dabei sind es doch die Vorarbeiten der Regierung
Kohl, die diese dramatische Lage verursacht haben. Wir
werden uns also davor hüten müssen.
({1})
Dan werfen Sie uns vor, wir würden die Contenance
verlieren. Wenn jemand etwas verloren hat, dann Sie,
und zwar die soziale Balance. Wir werden dafür sorgen,
dass sie wieder hergestellt wird
({2})
Mit der Reform des Altschuldenhilfe-Gesetzes, die
wir jetzt vorgelegt haben, räumen wir eine Altlast der
früheren Bundesregierung ab. Ich will die Diskussionen,
die wir dazu in diesem Hause in den vergangenen Jahren
geführt haben, nicht erneut aufrollen, sondern nur feststellen: Unser Gesetzentwurf beendet konsequent die
von diversen Ministerinnen und Ministern der ehemaligen christlich-liberalen Koalition jahrelang betriebene
Flickschusterei. Die ostdeutschen Wohnungsunternehmen bekommen Rechtssicherheit und können sich ihren
eigentlichen Aufgaben widmen.
Wenn ich noch einmal an die Beschäftigung mit dem
Problem der Altschulden in den vergangenen sieben Jahre zurückdenke, erinnere ich mich, dass der damit zusammenhängende Prozess nach einer fehlerhaften Initialzündung schon eine gewisse Eigendynamik entwickelt
hatte, nachdem anfängliche Fehlentscheidungen und vor
allen Dingen ein unverantwortlich langes Zuwarten bis
zu einem ersten halbherzigen Lösungsansatz der Wohnungswirtschaft im Osten ganz besondere Schwierigkeiten auferlegt hatten.
Nachbesserungen waren zwingend notwendig und
sind, wie vor allen Dingen 1995 geschehen, durch aktiven Druck vonseiten der SPD in Bund und Ländern
durchgesetzt worden. Dabei stand für uns von vornherein fest, dass sowohl der Prozess der Altschuldenhilfegesetzgebung als auch die Umsetzung dieser GesetzgeDr.-Ing. Dietmar Kansy
bung über längere Zeit parlamentarische Begleitung und
auch weiter gehende Hilfen für die ostdeutsche Wohnungswirtschaft erfordern würden. Deshalb haben wir
sofort nach Regierungsübernahme gehandelt.
Bereits Bauminister Müntefering hatte sich dieses
Problems im März des vergangenen Jahres erfolgreich
angenommen. Durch einen Beschluss des Lenkungsausschusses erhielt eine große Zahl der Wohnungsunternehmen greifbare Entlastungen und Sicherheit durch
Schlussbescheide. Die Unternehmen wurden zudem von
der jährlichen Berichtspflicht freigestellt. Gleichzeitig
wurde die Ausnahmeregelung zur vorzeitigen Befreiung
von der Privatisierungspflicht erweitert, sodass weitere
Unternehmen sofort aus der Privatisierungspflicht entlassen werden konnten.
({3})
Das betraf im Wesentlichen Unternehmen in strukturschwachen Gebieten, die aufgrund ihrer hohen Leerstände - auch eine Erblast Ihrer Politik -
({4})
außerstande waren, die Pflicht zur Privatisierung von
15 Prozent ihres Bestandes zu erfüllen. Durch die wesentlich verbesserten Kriterien sind über die Hälfte der
Wohnungsunternehmen bereits heute von der Privatisierungspflicht befreit. Das haben wir, nicht Sie geschafft.
({5})
Wir waren uns aber schon seinerzeit darüber im Klaren, dass mit diesen Erleichterungen allein nicht allen
Unternehmen geholfen werden konnte. So haben wir
auch keinen Zweifel daran gelassen, dass weitere Schritte folgen müssen und die ostdeutsche Wohnungswirtschaft durch weitere Maßnahmen und eine abschließende Gesetzgebung endlich verlässliche Bedingungen bekommen muss. Deshalb legen wir heute einen Gesetzentwurf vor, der die ostdeutsche Wohnungswirtschaft effektiv entlastet.
({6})
- Wir können uns anschließend gern unterhalten.
({7})
- Das habe ich getan, Herr Kansy, und zwar dort, wo es
tatsächlich um diese Probleme geht.
({8})
Da wir gerade von den Wohnungsunternehmen sprechen, möchte ich hier etwas Notwendiges ergänzen. Der
Wohnungswirtschaft in den neuen Ländern ist an dieser
Stelle einmal ganz nachdrücklich für das bisher Geleistete zu danken.
({9})
Wir begehen in diesem Jahr so manches Zehnerjubiläum
und damit auch das zehnjährige Bestehen der ostdeutschen Wohnungswirtschaft. Dem Verband kann wirklich mit vollem Recht bescheinigt werden, dass er unter
schwierigen Bedingungen Großes geleistet hat. Ich
möchte zum Beispiel daran erinnern, dass die ostdeutsche Wohnungswirtschaft einen immensen Strukturwandel zu bestehen hatte, dass sie unglaubliche Kraftanstrengungen zur Modernisierung und Instandsetzung eines überwiegend unattraktiven Wohnungsbestandes zu
leisten hatte,
({10})
dass sie sich auf einem schwierigen Markt zu behaupten
hatte und dass sie ihren entsprechenden Anteil daran hat,
dass die Wohnung in Ostdeutschland heute nicht nur
Wirtschaftsgut, sondern eben auch Sozialgut ist. Für diesen Beitrag sei dem GdW an dieser Stelle noch einmal
nachdrücklich gedankt.
({11})
Ich glaube, das gehört hierher.
Jetzt möchte ich Sie zu der heutigen Debatte zurückführen.
({12})
- Lassen Sie mich doch bitte mal reden! Hören Sie zu!
Anschließend unterhalten wir uns über die offen gebliebenen Fragen.
({13})
Zurück zum Hauptanliegen der heutigen Debatte: Gerade angesichts der Leistungen, die die Wohnungswirtschaft erbracht hat und von denen ich eben gesprochen
habe, müssen wir uns auf eine abschließende Regelung
des Altschuldenproblems mit Augenmaß verständigen.
Wir machen es uns dabei weder so einfach wie Sie noch
wie die PDS, denn wir wollen das Kind auch nicht mit
dem Bade ausschütten.
Es war zum Beispiel naiv oder verantwortungslos
oder beides, immer wieder zu fordern, eine Rückabwicklung des Altschuldenhilfe-Gesetzes vorzunehmen. Die
Bemühungen der überwiegenden Zahl der Wohnungsunternehmen würden damit entwertet, was schlicht und
einfach neue Disparitäten und Ungerechtigkeiten
schafft. Das kann schließlich niemand wollen.
Nun zu unserem Gesetzentwurf, der sicherlich auch
noch vom Ministerium dargestellt wird: Der Termin, bis
zu dem die Privatisierungspflicht erfüllt sein muss, wird
von uns drastisch auf das Ende des Jahres 1999 vorgezogen. Damit ist klar: Den Wohnungsunternehmen, die
ihre Privatisierungspflicht bisher unverschuldet nicht
vollständig erfüllen konnten, ist endlich der Klotz vom
Bein genommen worden. Für Unternehmen, die sich anders entschieden haben, gibt es bis 2003 einen Vertrauensschutz.
Unternehmen, die bisher keine Wohnungen privatisiert haben, erhalten die Möglichkeit, ersatzweise Zahlungen an den Erblastentilgungsfonds zu leisten. Ich
möchte jetzt nicht kolportiert hören, dass diese Unternehmen zu einem Freikauf gezwungen würden. Das
wird der Sache nicht gerecht. Gerechtigkeit bedeutet für
uns, dass Unternehmen, die sich ihrer Privatisierungspflicht ohne Begründung entzogen haben, jetzt nicht belohnt werden dürfen. Wenn die betroffenen Unternehmen finanziell annähernd den Unternehmen gleichgestellt werden, die Erlösanteile abgeführt haben, kann ich
daran keine Ungerechtigkeit erkennen. Aber wir müssen
und wir werden auch in der parlamentarischen Beratung
die Möglichkeit von Härtefallprüfungen im Auge behalten.
Schließlich: Wir lösen das Problem der „negativen
Restitution“, indem wir auch hier einen Schlussstrich
ziehen. Ab dem 31. Dezember 1999 - so sieht es der
Entwurf bis jetzt vor - wird der Teilentlastungsbescheid
dann auch nicht mehr geändert. Übrigens besteht gerade
für diese Wohnungen ein erhöhter Sanierungsbedarf.
Denn wo Eigentumsverhältnisse nicht geklärt sind - eine
weitere Erblast Ihrer Regierung -, da wird auch nicht
investiert. Dies werden wir in der parlamentarischen Beratung berücksichtigen müssen.
Alles in allem sehen wir uns mit unserem Gesetzentwurf auf einem guten Weg - ebenso wie mit der Einsetzung der Expertenkommission „Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel“. Auch das sehen wir anders als
Sie, Herr Kansy. Diese Kommission soll regional differenzierte und finanzierbare Lösungsvorschläge vor allen
Dingen für die Leerstandsproblematik erarbeiten. Diese
Strukturaufgaben können nicht durch eine abschließende
Altschuldenhilfegesetzgebung allein gelöst werden,
({14})
sondern nur durch ein Bündel von Maßnahmen, in dem
städtebauliche, soziale, raumordnerische Gesichtspunkte
und Gesichtspunkte einer effektiven Förderpolitik zu
Wort kommen. Es sind alle Ebenen - Bund, Länder und
Gemeinden bis hin zur EU - gleichermaßen gefragt. Allein schon deshalb werden die Beratungen weitergehen
müssen.
Ich danke Ihnen.
({15})
Es spricht jetzt
der Abgeordnete Dr. Karlheinz Guttmacher.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das vor
sieben Jahren eingebrachte Altschuldenhilfe-Gesetz
sieht in § 5 vor, dass sich die Kommunen bzw. Wohnungsunternehmen, die einen Antrag auf Teilentlastung
der Altschulden stellen, gleichzeitig verpflichten,
15 Prozent ihrer Wohnungen mit den 15 Prozent ihrer
Gesamtwohnfläche mieternah zu privatisieren. Über den
Erfolg der Privatisierung entscheidet nach geltendem
Gesetz die Kreditanstalt für Wiederaufbau Ende 2003
durch einen Schlussbescheid.
Noch im Februar 1998, liebe Frau Lucyga, hat der
Bundestag in einer Entschließung auch den so genannten
schwierigen Fällen Rechnung getragen und die Bundesregierung aufgefordert, dass vor allen Dingen die kleineren Wohnungsunternehmen und Genossenschaften auf
Antrag eine vorgezogene Bestätigung erhalten, wonach
sie die absehbare Nichterfüllung der Privatisierungsauflage nicht vertreten müssen. Eine Anerkennung des
Nicht-Vertreten-Müssens der Privatisierungsauflage sollte dabei nach Auffassung der F.D.P. unter weitaus moderateren Gesichtspunkten erfolgen als nur durch ein
Kumulieren von Arbeitslosigkeit, Leerstand und Bevölkerungsrückgang, so wie es der Lenkungsausschuss vorgegeben hat.
({0})
Es ist zu berücksichtigen, dass es bereits heute bei
den Kommunen und Genossenschaften zu Härtefällen
kommt, da nicht selten 15 Prozent der Wohnungen, aber
nicht 15 Prozent der Gesamtfläche der Wohnungseinheiten verkauft werden konnten. Ebenso muss die Änderung des Altenschuldenhilfe-Gesetzes die Reduzierung
von strukturellem Leerstand im Rahmen von Ordnungsmaßnahmen zur Beseitigung städtebaulicher Missstände, wie Rückbau von altschuldenbelasteten Blockund Plattenbauten sowie Maßnahmen zur Wohnungsumfeldverbesserung berücksichtigen.
Mehrfach haben wir in den letzten wohnungspolitischen Debatten darauf hingewiesen, dass der Rückbau
sowohl mit Städtebaufördermitteln, aber in besonderem
Maße auch durch die Befreiung von der Altschuldenlast
für die Wohnfläche der abgerissenen Objekte unterstützt
werden muss. Die Forderung der F.D.P. an ein Altschuldenhilfe-Änderungsgesetz ist daher die Regelung zur
Streichung der Altschulden für dauerhaft leer stehende
Wohnungen.
({1})
Bis Ende 1999 wurden von 362 000 Wohnungen etwa
275 400 Wohnungen privatisiert. Von den 2 080 Wohnungsunternehmen, die die Altschuldenhilfe in Anspruch genommen haben, konnten bis Ende 1999
838 Wohnungsgesellschaften die vollständige Erfüllung
der Privatisierungspflicht durch die KfW feststellen lassen und einen Schlussbescheid erhalten. Einen Antrag
auf Nicht-Vertreten-Müssens einer Nichterfüllung der
Privatisierungspflicht haben bis Ende 1999 etwa 330
Wohnungsunternehmen gestellt.
Die ursprüngliche Zielsetzung des AltschuldenhilfeGesetzes war und ist, die Investitionsfähigkeit der Wohnungsunternehmen zu stärken. Dies ist beileibe noch
nicht durchgängig der Fall. In zunehmendem Maße
mussten die Wohnungsgesellschaften die nach dem
Vermögensgesetz restitutionsbehafteten Altbaubestände,
die nicht zurückgeführt werden konnten, übernehmen.
Diese Negativrestitution muss dringend stärkere Berücksichtigung bei der Novellierung des Altenschuldenhilfe-Gesetzes finden.
Die meisten dieser Objekte befinden sich in einem
solch desolaten Zustand, dass sie entweder gar nicht
oder nur zum Teil vermietet werden können. Zu den
Kosten der Bewirtschaftung für die leer stehenden Wohnungen kommt durch die Korrektur der Teilentlastung
ebenfalls der Kapitaldienst auf die Altschulden hinzu,
der sich pro Wohnung und Jahr auf 270 DM berechnet.
Nach Vorstellung der F.D.P. sollten die leer stehenden Wohnungen in den vor dem 31. Dezember 1999 negativ restituierten Objekten nicht für eine Änderung der
Teilentlastungsbescheide der KfW herangezogen werden. Eine Belastung mit Altschulden sollte nur für vermietete Wohnungen erfolgen.
Um Rechts- und Bilanzsicherheit in den Wohnungsunternehmen zu erreichen, sollte der Schlussbescheid
zur Erfüllung der Privatisierungsauflagen bis zum
30. Juni 2000 erteilt werden.
({2})
Um in klaren, entscheidungsreifen Fällen Schnellentscheidungen zu ermöglichen, sollten die Unternehmen
generell bereits mit In-Kraft-Treten des Zweiten Altschuldenhilfe-Änderungsgesetzes die Möglichkeit erhalten, die Erteilung eines Schlussbescheides zu beantragen. Die KfW könnte so auf der Grundlage der jährlichen Berichterstattung der Wohnungsunternehmen eine
entsprechende Prüfung der eingereichten Berichte bis
Ende 1999 vornehmen.
Die Wohnungsunternehmen sollten sich umgehend
entscheiden, ob sie Antrag auf Schlussbescheid aufgrund
des Nicht-Vertreten-Müssens stellen, den Freikauf auf
der Basis von 150 DM pro Quadratmeter nicht veräußerter Wohnfläche beantragen oder die Nachfrist zur Erfüllung der Privatisierungspflicht beanspruchen.
Die Möglichkeit der Ablösung soll besonders den
Wohnungsunternehmen dienen, die bisher keine Wohnungen veräußert haben. Sie haben so die Chance, die
drohende Rücknahme der Teilentlastung für den Fall zu
vermeiden, dass sie die Nichterfüllung der Privatisierungs- bzw. Veräußerungspflicht zu vertreten haben.
Der Freikauf kann jedoch für kleine Unternehmen
unzumutbar sein. Es sollte daher nach Ansicht der
F.D.P. noch vor Einbringung des Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes geprüft werden, ob eine Bagatellregelung für kleine Wohnungsunternehmen mit weniger als 500 Wohnungen beschlossen
werden kann.
({3})
Die F.D.P.-Fraktion wird in den nächsten zwei Wochen den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Altschuldenhilfe-Gesetzes einbringen, der den vorangestellten Novellierungsanforderungen gerecht wird.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Damit Herr Kansy nicht zu kurz kommt,
möchte ich erst die „kleine“ Tagesordnung abfeiern,
nämlich Ihren Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Wohnungsbindungsgesetzes und des AltschuldenhilfeGesetzes.
({0})
- Wir sind eben fix. Da staunen Sie! - Wir haben verstanden, dass Sie gerne eine allgemeine wohnungspolitische Debatte gehabt hätten. Eine solche Debatte wollen
wir auch gerne und werden wir sicherlich zu gegebener
Zeit führen.
Zu Ihrem Tagesordnungspunkt: Nach meiner Meinung greift Ihr Gesetzentwurf ein bisschen zu kurz, weil
für Westdeutschland Befreiungsregelungen eingeführt
würden, für die es zu wenige Gegenleistungen gibt. Darin besteht die Gefahr. Das sollte man sehr ernsthaft diskutieren. Hinsichtlich Ostdeutschland ist Ihr Antrag
schlicht obsolet. Angesichts des dort herrschenden Leerstandes, über den wir eigentlich diskutieren, müssen die
Wohnungseigentümer inzwischen jeden Mieter nehmen,
der bereit ist, in eine leer stehende Wohnung zu ziehen.
Daher ist die Diskussion über Belegung und Belegungstausch schlicht überflüssig. Das Thema zieht nicht.
Die Arbeitsgruppe, die eingerichtet worden ist und
über die Sie gerade gespottet haben, arbeitet sehr gut
und sehr solide. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir einen guten Vorschlag zur Novellierung des Zweiten
Wohnungsbaugesetzes bekommen werden. Ich würde es
gut finden, wenn in diesem Zusammenhang Ihr Gesetzentwurf noch einmal diskutiert und eingehend geprüft
wird.
Jetzt zum eigentlichen Tagesordnungspunkt Altschuldenhilfe-Gesetz.
({1})
- Wieso ist das arrogant? Es ist korrekt, dass wir im
Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens das ganze Gesetz
novellieren wollen.
({2})
- Nein, da irren Sie sich, Herr Kollege Kansy. - Ich
freue mich sehr, dass wir das Altschuldenhilfe-Gesetz
jetzt einbringen können. Die Vorarbeiten und die Abstimmung mit den ostdeutschen Ländern waren zwar
lange und mühselig, aber wir sind einen deutlichen
Schritt vorangekommen.
Die Kollegin Lucyga hat die wichtigsten Aspekte
schon genannt: Wohnungsunternehmen, die nach dem
Lenkungsausschussbeschluss vom März 1999 - Sie haben es also in den letzten vier Jahren Ihrer Legislaturperiode nicht geschafft - von der Privatisierungspflicht befreit worden sind, können schon Ende 1999 einen
rechtskräftigen Schlussbescheid erhalten. Das ist sehr
wichtig, weil sie dann bilanzrechtlich endlich Klarheit
haben und über die weiteren Kredite selbstbewusst mit
den Banken verhandeln können.
({3})
Ich habe es so verstanden, dass Sie das letztlich begrüßen. Die anderen Wohnungsunternehmen, die noch Privatisierungspflichten haben, in deren Gebieten aber keine nachweisbaren Probleme mit Leerstand, Arbeitslosigkeit und Bevölkerungsrückgang bestehen, können
sich freikaufen.
Als letzter Punkt ist für uns auch sehr wichtig, dass
das berühmte Problem mit der Negativrestitution jetzt
auf Ende 1999 vorgezogen ist. Das bedeutet, dass der
Privatisierung nach dem Vermögensrecht unterworfene
Wohnungsunternehmen, die eine Reihe von Altbauten
zurückbekommen, die oftmals leer stehen und sehr heruntergewirtschaftet sind, nach dem 1. Januar 2000 nicht
noch nachträglich mit Schulden belastet werden. Auch
dies ist ein sehr wichtiger Schritt. Dabei ist uns klar,
dass sich die Wohnungswirtschaft noch weitere Erleichterungen für andere Wohnungsbestände wünschen würde.
({4})
Ich möchte eines noch deutlich sagen und habe das an
dieser Stelle auch getan: Wir dürfen uns keiner Illusion
hingeben. Dieses Gesetz löst erst einmal nicht die großen Leerstandsprobleme. Ich würde das hier auch nicht
behaupten. Ich möchte nur noch eines klar in Ihre Richtung, Herr Guttmacher und Herr Kansy, sagen, auch
wenn es in dem Redebeitrag von Herrn Kansy keine
Rolle spielte: Sie vergießen über die Wohnungsprobleme Ost große Krokodilstränen. Ich würde nicht so weit
gehen wie Frau Lucyga und behaupten, der Leerstand
sei ausschließlich ein Problem der letzten zehn Jahre. Es
ist auch ein Problem der Wohnungswirtschaft der DDR.
Man muss sehen, wie und in welcher Qualität sie gebaut
hat. Die schlechte Bausubstanz leugnet hier niemand.
Sie aber haben praktisch bis Ende des letzten Jahres
und - wenn man die Übergangsfristen sieht - bis heute
die städtische Wohnungswirtschaft und die Genossenschaften über die wahnwitzigen Sonderabschreibungen
Ost in eine gnadenlose Konkurrenz getrieben, die unter
anderem zu diesen Leerstandsproblemen geführt hat. Sie
hat auch zu Leerständen in Gründerzeitwohnungen geführt. Die Stadt Leipzig hat 40 Prozent Leerstand in
Gründerzeitwohnungen. Dies muss man sich einmal
klarmachen. Andere haben in ihren Großsiedlungen bis
zu 30 Prozent Leerstand.
Da müssen Sie sich schon Ihre Mitverantwortung für
diese Hyperinvestitionen in kürzester Zeit, anstatt überwiegend in Bestandserneuerungen zu investieren, vor
Augen führen. Hätte es gleich Anfang der 90er-Jahre eine achtsamere Regelung für das eigentumsrechtliche
Problem gegeben, beispielsweise durch Vergabe von
Erbbaurechten, und hätten Sie nicht einfach im steuerrechtlichen Bereich in konkurrierender Weise immer
den Neubau statt Instandsetzung und Erneuerung gefördert, dann hätten wir nur einen Teil der Probleme, vor
denen wir heute mit dem Leerstand Ost stehen.
({5})
Von daher sollten Sie an dieser Stelle nicht so tun, als
wären Sie diejenigen, die die ostdeutschen Probleme in
Sachen Leerstand lösen wollten. Sie sollten nicht so tun,
als wären Sie die Retter der ostdeutschen Wohnungswirtschaft. Hier ziehen Sie sich einen Schuh an, der Ihnen nicht so richtig passt. Der klemmt ganz schön!
Ich freue mich, dass Bauminister Klimmt eine Expertenkommission zu dem Leerstandsproblem eingerichtet
hat. Ich hoffe, dass diese relativ zügig zu Ergebnissen
kommt und Handlungsstrategien erarbeitet. Sie wird das
sehr differenziert tun und nicht pauschal. Wir müssen
uns aber alle darüber im Klaren sein, dass es für dieses
Problem keine einfachen Lösungen gibt, dass Bund,
Länder, Gemeinden, Wohnungswirtschaft und Banken
alle ihren Beitrag werden leisten müssen und wir in diesem Hause noch intensiv über das Problem werden reden müssen.
Wir dürfen nicht die Erwartung wecken, dieses Problem sei schnell zu lösen. Aus meiner Sicht ist das Erste
und Wichtigste, dass die Kommunen das Thema endlich ernst nehmen und eine konkrete Planung aufstellen,
nach der feststeht, in welchen Stadtteilen Rückbauten
und Abrisse vollzogen werden müssen und in welchen
Stadtteilen die Positiventwicklung wirklich vorangetrieben wird. Wird das nicht gemacht, besteht die Gefahr,
dass weiterhin - wie in den vergangenen Jahren - Fehlinvestitionen getätigt werden, dass morgen Häuser abgerissen werden müssen, in die wir heute noch Instandsetzungs- und Modernisierungsmittel hineinstecken. Es ist
egal, ob es sich dabei um Mittel nach dem Investitionszulagengesetz oder um Mittel aus den KfW-Krediten
handelt. Das können wir uns nicht weiter leisten.
Insofern ist meine erste Forderung - ich sage das hier
ganz deutlich und laut; ich werde demnächst auch einen
entsprechenden Antrag stellen -
({6})
- Moment, das ist bisher hier nicht diskutiert worden -,
dass KfW-Kredite nur noch vergeben werden, wenn die
Kommune einen Stempel gibt, dass das jeweilige Haus
langfristig stehen bleiben soll. Das gehört mit zu unserem Positiv-Konzept. - Ich bin mir ziemlich sicher, dass
in fast 50 Prozent der Häuser, die über kurz oder lang
abgerissen werden, so oder so öffentliche Mittel hineingeflossen sind. Daher müssen wir uns diesem Thema
stellen und werden dies auch tun.
Ich freue mich erst einmal darauf, dass Sie mit Ihrem
angekündigten kleinen neuen Gesetzentwurf zum
schuldenhilfe-Gesetz alle Daten noch ein klein bisschen
anders, als sie jetzt zwischen der Koalition vereinbart
sind, haben wollen. Ich freue mich auf die Diskussion.
({7})
Jetzt hat
die Kollegin Heidemarie Ehlert von der PDS-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! In meiner Heimatstadt Halle stehen
14 Prozent der Wohnungen leer. In meinem Wahlkreis
Dessau sieht es nicht besser aus: Wohnungsleerstand in
Höhe von mehr als 10 Prozent.
({0})
- Ja, das ist sehr günstig. Von dort sind noch nicht so
viele weggezogen. - Die Mietausfälle in Dessau haben
sich von 1996 bis 1998 mehr als verdreifacht. Woher
sollen also die Wohnungsgesellschaften das Geld nehmen, um Altschulden zu tilgen? Die Mieter hatten in all
den Jahren das Geld zum Kauf der Wohnungen nicht
und der Umweg über die Zwischenerwerber hat sich
auch erledigt.
Doch Ihr Gesetzentwurf zur Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes, meine Damen und Herren von der
Koalition, ist kein Schlussstrich. Die Erteilung des
Schlussbescheides wird nach wie vor vom Vertretenoder Nicht-Vertreten-Müssen der Privatisierung abhängig gemacht. Die in ihm enthaltene Freikaufsregelung ist
keine Lösung; denn die Ablösesumme in Höhe von
200 DM je Quadratmeter Wohnfläche ist in Anbetracht
der wirtschaftlichen Lage der Unternehmen so was von
realitätsfremd, dass mir einfach die Spucke wegbleibt.
({1})
Er berücksichtigt in keiner Weise die regionalen und lokalen Besonderheiten der Wohnungsmärkte.
Nein, Grund zum Feiern gibt es heute nicht. Ihr Vorschlag, den Sie wohl in höchster Eile vom Regierungsentwurf abgeschrieben haben, enthält auch keine neuen
Ideen. Dass er heute überhaupt auf der Tagesordnung
steht, haben Sie der Hartnäckigkeit der PDS zu verdanken.
({2})
Sie fühlten sich unter Druck gesetzt - und das eigentlich
zu Recht. Unsere aktuellen Vorschläge liegen Ihnen allerdings schon seit anderthalb Jahren vor. Sie haben sich
sehr viel Zeit gelassen, um überhaupt zu Potte zu kommen.
Ich möchte Sie daran erinnern, dass wir bereits seit
1993 Jahr für Jahr die Aufhebung der Altschuldenverpflichtung, der Zwangsprivatisierung und der Erlösabführung gefordert haben. Jawohl, wir haben Sie genervt,
aber das nicht ohne Grund. Leider haben auch Sie unsere Warnungen und unsere Anträge in den Wind geschlagen. Aber unsere Einschätzungen haben sich nun leider
bestätigt.
Uns erreichen jeden Tag Briefe von Bürgermeistern,
Kommunen, Wohnungsgesellschaften und -genossenschaften, die uns ihre prekäre Lage schildern. Der Bürgermeister von Lauchhammer hat uns erst in den letzten Tagen darüber informiert, dass für die kommunale
Wohnungsgesellschaft der Insolvenzverwalter bestellt
werden musste. Diese Stadt hat nur 21 000 Einwohner
und 1 600 Wohnungen stehen leer. Er bittet den Deutschen Bundestag inständig um Hilfe und Unterstützung.
Bitte lassen Sie ihn nicht im Stich. Wir wollten diese
Bitte hier heute an Sie weitergeben.
({3})
Lauchhammer ist beileibe kein Einzelfall. Sie wissen
genauso gut wie ich, dass ein Wohnungsleerstand von
mehr als 10 Prozent auf Dauer die Existenz der Wohnungsunternehmen gefährdet. Davon gibt es im Osten
noch viele. Die Lage ist also ernst, auch wenn der Herr
Staatsminister meint, dass ihm kein Wohnungsunternehmen bekannt ist, das konkursgefährdet sei. Ich kann
mir überhaupt nicht vorstellen, dass er die Situation
nicht kennt. Aber er verdrängt offensichtlich wider besseres Wissen.
Da nützt meines Erachtens auch eine Kommission
nichts, die bis Ende dieses Jahres den strukturellen
Wohnungsleerstand im Osten untersuchen soll. Die Fakten sind doch bekannt. Nach all dem, was ich heute von
Ihnen gehört habe, kann ich nur sagen: Der Lobesworte
sind genug gewechselt, lassen Sie uns endlich Taten sehen!
({4})
Dem Problem der Altschulden ist mit den vorgesehenen Maßnahmen nicht mehr beizukommen. Deshalb,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierung, seien Sie mutig und konsequent und folgen Sie unseren
Vorschlägen.
Erstens. Der Schlussstrich unter die Privatisierung
muss endgültig und uneingeschränkt zum Stichtag
31. Dezember 1999 erfolgen, ohne weitere Erlösabführungen.
({5})
Zweitens. Streichen Sie die Altschulden auf leer stehenden Wohnraum.
Drittens. Befreien Sie die Wohnungsunternehmen
von Altschulden für den Wohnraum ehemals restitutionsbehafteter Objekte, und das von Anfang an und
nicht, wie Sie es vorschlagen, erst zum Stichtag 31. Dezember 1999.
Viertens. Heben Sie endlich die Sanktionen auf, die
den Unternehmen bei Nichterfüllung der Privatisierungspflicht drohen.
Treiben Sie die Wohnungsunternehmen bitte nicht in
den Ruin. Das darf und sollte nicht die Absicht Ihres
Gesetzentwurfes sein. Deshalb sehen wir dringenden
Änderungsbedarf. Nur eine sofortige endgültige Lösung
bringt den Wohnungsunternehmen eine Chance zu überleben.
Lassen Sie uns die unendliche Geschichte des Altschuldenhilfe-Gesetzes endlich zu einem verträglichen
Ende bringen. Das wird von uns allen verlangt und Sie
können dazu beitragen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Als
nächster Redner hat Kollege Peter Danckert von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren Kollegen! Frau Ehlert, ich weiß
nicht, den wievielten Versuch Sie heute unternommen
haben, mit Ihren Anträgen alles auf den Kopf zu stellen
und eine zugegebenermaßen nicht sehr praktikable Regelung, das Altschuldenhilfe-Gesetz, nun mit einem Federstrich aus den Angeln heben zu wollen. Das geht
nicht. Sie können nicht eine gesetzliche Regelung, die
Sie nicht zufrieden stellt und die auch mich nicht zufrieden gestellt hat, nun mit einem Federstrich beseitigen
wollen und damit neues Unrecht und unendliche viele
Probleme schaffen, über die wir ja schon geredet haben.
Deshalb verzichte ich darauf, auf diesen Vorschlag weiter einzugehen.
Verehrter Herr Kollege Kansy, nehmen Sie es mir
heute an diesem Abend nicht übel, wenn ich auf Ihre
Idee der mittelbaren Belegung nicht eingehe. Das ist für
mich nicht das Thema.
({0})
- Für mich ist es nicht das Thema. Für mich als einen
Abgeordneten aus den neuen Ländern ist das ohne jede
Relevanz.
Für mich ist heute die zentrale Frage: Wie können wir
die vielen Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten, die
im Zusammenhang mit dem Altschuldenhilfe-Gesetz
nun einmal in den letzten Jahren auf den Weg gebracht
worden sind, reparieren?
Wie ist die Situation beispielsweise in meinem Wahlkreis? Ich kann das besser beurteilen; Sie kommen aus
Niedersachsen. In meinem Wahlkreis herrscht durchweg
eine hohe Arbeitslosigkeit, in der Kreisstadt von fast
25 Prozent. In dem Wohnungsunternehmen, das in der
Kreisstadt ansässig ist, besteht ein Leerstand von über
35 Prozent. Es handelt sich um strukturschwache Gebiete.
Das ist die Situation, und deshalb müssen wir - ich
bin sehr froh, dass Staatsminister Rolf Schwanitz heute
hier anwesend ist - auch unter dem Stichwort „Aufbau
Ost“ an dieser Stelle noch einmal ansetzen; denn das
Ganze hat etwas mit dem Aufbau Ost zu tun. Vielleicht
ist es nicht das allerletzte Mal, aber ich hoffe, dass wir
mit dem von den Koalitionsfraktionen eingebrachten
Gesetzentwurf einen wesentlichen Schritt weiterkommen.
({1})
Weshalb kommen wir weiter? Weil der Schlussbescheid auf den 31. Dezember 1999 vorgezogen wird und
damit für viele, viele Fälle Rechtssicherheit geschaffen
worden ist und wir in der Lage sind, den Wohnungsunternehmen zu sagen: Jetzt seid ihr in einer besseren Situation und könnt an dieser Stelle neu beginnen. - Das ist
doch das Wesentliche an der Sache.
({2})
Es geht darum, neu zu beginnen, um endlich aus dieser
Situation herauszukommen.
Ich kann mir nicht vorstellen, Herr Kollege
Guttmacher, dass Sie an dieser Stelle irgendetwas Besseres werden entwickeln können. Ich bin sehr gespannt,
wenn Sie mit Ihrem Entwurf kommen.
({3})
- Da sind wir uns offensichtlich einig, und dann können
Sie ja in diesem Punkt zustimmen.
Wir haben also den Schlussbescheid vorgezogen. Wir
haben im Laufe der nächsten Woche - ich sage das aus
meiner ganz persönlichen Anschauung - vor Ort noch
einige zusätzliche Probleme zu diskutieren. Ich bin sehr
froh, dass wir eine Sachverständigenanhörung haben
werden. Dann werden wir sehen, welche ganz konkreten
Probleme den Wohnungsunternehmen in den neuen
Ländern auf den Nägeln brennen und wie sie unsere
Vorschläge bewerten. Dann werden Sie sehen, dass unsere Vorschläge weitgehend auf Zustimmung stoßen
werden.
Ohne jeden Zweifel haben wir das Problem zu lösen,
ob die Unternehmen nicht erfüllte Privatisierungsquoten zu vertreten haben oder nicht. Ich hoffe sehr stark,
dass es im Rahmen der Beratung in den Ausschüssen
hier zu einer sehr praktikablen Lösung kommen wird. Es
kann nicht sein, dass wir einerseits den Schlussbescheid
vorziehen und andererseits in endlose Auseinandersetzungen mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau darüber
geraten, ob es von den Wohnungsunternehmen in der
konkreten Situation zu vertreten war, dass sie ihre Privatisierungsquote nicht erreicht haben. Hier denke ich zum
Beispiel daran - darüber sollten wir dann gemeinsam
nachdenken -, dass es zu einer Umkehr der Beweislast
kommt: Wenn die Unternehmen vortragen, was sie unternommen haben, dann muss die Kreditanstalt für Wiederaufbau belegen, dass sie ihrer Verpflichtung schuldhaft nicht nachgekommen sind. So herum muss es gehen; das schafft dann schneller Rechtssicherheit. Vielleicht fällt uns im Rahmen der Beratung auch noch etwas noch Vernünftigeres und Praktikableres ein, damit
wir an dieser Stelle wirklich Klarheit bekommen.
({4})
Ein weiteres Problem, meine Damen und Herren, sehe ich im Zusammenhang mit dem Ablösungsbetrag.
Im Moment sind 200 DM im Gespräch. Wir sollten uns
einmal von den Betroffenen anhören, ob das wirklich eine realistische Größe ist.
({5})
- Ich danke für den Zuspruch. - Wir werden prüfen
müssen, ob der Betrag unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten vertretbar ist; denn es hat ja keinen Zweck, dass
wir eine Summe ins Gesetz hineinschreiben, die dann
entweder neue wirtschaftliche Probleme schafft oder
überhaupt nicht zu realisieren ist. Auch an dieser Stelle
sind wir alle gemeinsam gut beraten, im Interesse der
Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern noch
einmal darüber nachzudenken, ob das der richtige Weg
ist.
({6})
Insgesamt sind die verschiedenen Maßnahmen, die
wir hier vorgeschlagen haben, wirklich gut geeignet, um
nach vielen Jahren der Mühe für den Rest der Wohnungsunternehmen eine vernünftige Lösung zu schaffen.
Unter dem Strich bleibt aber immer noch das Thema
Leerstand. Wir werden es mit unserem Entwurf nicht
lösen können. Dieses Themas nimmt sich eine Strukturkommission an und ich kann nur hoffen, dass diese
Kommission sich nicht allzu viel Zeit nimmt; denn dieses Problem muss in den neuen Ländern dringend geklärt werden. Bekämen wir das gemeinsam hin, wäre
auch das ein Beitrag zum Aufbau Ost.
Vielen Dank.
({7})
Als
nächster Redner hat der Kollege Norbert Otto von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Herr Danckert, erlauben Sie
mir eine Vorbemerkung: Wenn Herr Kansy über das
Wohnungsbindungsgesetz redet, dann ist das völlig legitim und nicht am Thema vorbei. Natürlich liegt mir als
Ostdeutscher das Altschuldenhilfe-Gesetz näher. Aber
das von Herrn Kansy angesprochene Thema stand eher
auf der Tagesordnung als Ihre Gesetzesnovelle. Wenn
Herr Kansy darüber redet, dann kann man es nicht so abtun, als gehörte es nicht zum Thema.
({0})
- Nein, Sie haben das hier so abgetan, als hätte Herr
Kansy am Thema vorbeigeredet.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach wiederholten
Ankündigungen liegt endlich ein Entwurf der Koalition
zur Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes vor. Zusammengefasst lässt sich das Prozedere kurz vielleicht
so beschreiben: langen Anlauf genommen, zu kurz gesprungen, aber wenigstens in die richtige Richtung.
Frau Eichstädt-Bohlig, Sie haben gesagt, es habe so lange gedauert, weil es so schwierig war, den Konsens mit
den Ländern zu finden. Der Konsens mit den Ländern ist
nicht vorhanden. Ich erinnere Sie an die gestrige Bundesratssitzung. Dabei ist ganz deutlich geworden, wie
viel Arbeit noch zu leisten ist, um einen Konsens mit
den Ländern herbeizuführen.
({2})
Wir beschäftigen uns aus gutem Grund mit diesem
Gesetz zum wiederholten Male. Das 1993 verabschiedete Altschuldenhilfe-Gesetz hat sich in seinen Grundzügen bewährt. Liebe Kollegen von der Koalition, auch
Sie haben das in Ihrem Entwurf zum Ausdruck gebracht.
Der Regierungsentwurf zieht doch eine positive Bilanz
des Altschuldenhilfe-Gesetzes.
Demnach wurden Wohnungsunternehmen in den
neuen Ländern mit 28 Milliarden DM entlastet plus
5 Milliarden DM Zinsdienst. Die Wohnungsunternehmen bekamen so den Spielraum für dringend notwendige Modernisierungs- und Instandsetzungsmaßnahmen. Insgesamt - das ist eine Zahl aus Ihrem Entwurf;
das müssen wir doch nicht verstecken, das können wir
doch einmal sagen - sind 90 Milliarden DM für Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen per annum
eingesetzt und realisiert worden. Das ist eine Zahl, die
ohne die Entschuldung der Wohnungsunternehmen nicht
zu verwirklichen gewesen wäre. Das erkennen auch Sie
an. Das ist ja in Ordnung.
({3})
Die Wohnungswirtschaft schätzt, dass 80 Prozent der
Privatisierungsauflage erfüllt worden sind. Was gab es
hier nicht alles für Aufschreie, das sei niemals realisierbar. Die 20 Prozent, die übrig sind, sind unser Problem.
Damit müssen wir uns wirklich ernsthaft beschäftigen
und das tun wir auch.
Der Lenkungsausschuss hat sehr praxisnah das Altschuldenhilfe-Gesetz begleitet und wir haben die Entscheidung des Lenkungsausschusses in unserem Ausschuss unterstützt und zum Teil auch angeregt. Man
muss ebenfalls sagen: Das Gesetz ist nicht als starre
Einheit betrachtet worden; vielmehr haben wir uns an
der Wirklichkeit entlanggehangelt und dieses Gesetzes
flexibel gestaltet.
Bereits 1998 wurde jedoch deutlich, dass eine erneute
Novellierung des Gesetzes notwendig wird. In diesem
Zusammenhang möchte ich auf eine Debatte vom April
1998 zum Thema Altschuldenhilfe verweisen. Wenn
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, sämtliche Forderungen, die Sie damals als Opposition gestellt haben, in den heutigen Regierungsentwurf
hineingepackt hätten, dann, glaube ich, könnten wir diesen Entwurf fast unisono heute verabschieden.
({4})
Sie haben damals Forderungen aufgestellt, die wir so
nicht mittragen wollten. Heute sind diese Forderungen
in Ihrem Entwurf nicht mehr enthalten. Lesen Sie einmal
das Protokoll der Debatte vom April 1998 nach! Wenn
Sie das tun, dann finden Sie alles, was wir heute noch
anmahnen werden.
({5})
Sie bleiben mit Ihrem heutigen Entwurf hinter Ihren
selbst gesteckten Forderungen zurück.
({6})
- Sie sind aber heute Regierungskoalition. Wir sind abgewählt worden, weil Sie besser sein wollten.
In Ihrem Entwurf ist zu begrüßen - das gebe ich gerne zu, weil es auch unseren Forderungen entspricht -,
dass die Erteilung des Endbescheides für erfolgreiche
Privatisierung um vier Jahre vorgezogen wird. Dadurch
erhalten die Wohnungsunternehmen Planungssicherheit;
sie müssen keine Rücklagen mehr bilden und sie haben
mehr Bewegungsfreiheit in ihren baulichen Aktivitäten.
Auch die ersatzweise Zahlung an den Erblastentilgungsfonds für die Ablösung von Privatisierungspflichten ist positiv zu beurteilen. In dieser Frage stimme ich
Herrn Danckert aber darin zu, dass die Größenordnung
der abzuführenden Ersatzbeiträge - auch darüber sollten wir noch einmal reden; dazu haben wir im Ausschuss sicherlich ausreichend Zeit - noch einmal überdacht werden sollte.
Die seit zwei Jahren zu verzeichnende Situation war
seinerzeit nicht absehbar. Wir haben es mit einem höheren Bevölkerungsrückgang, einer hohen Arbeitslosigkeit, großen Leerständen und der Nichtinanspruchnahme
von Restitutionen zu tun. Das hat die Situation der
Wohnungsunternehmen dramatisch verschlechtert.
Das Beispiel der Stadt Lauchhammer ist ja bereits
angeführt worden. Auch uns und nicht nur der PDS hat
der Bürgermeister dieser Stadt geschrieben.
({7})
Diese Stadt war vom Braunkohlentagebau der DDR
geprägt. Der Braunkohlentagebau ist ja bekanntermaßen
sehr zurückgegangen. Lauchhammer hat heute infolge
eines Wohnungsleerstandes von circa 17 Prozent, eines
Bevölkerungsrückganges von 18 Prozent und einer extrem hohen Arbeitslosigkeit ein großes Problem.
Meine Damen und Herren, auf einer Konferenz
mit Wohnungsunternehmen in Auerbach am
18. März dieses Jahres sind Ihnen, Herr Staatsminister
Schwanitz - Sie waren ja anwesend -, eine ganze Reihe
von Problemen der Wohnungsunternehmen geschildert
worden. Sie haben zugesagt, dass Sie einige dieser Probleme in die jetzt anstehende Diskussion über den vorliegenden Gesetzentwurf einbringen werden. Zudem haben
Sie entsprechende Nachbesserungen in Aussicht gestellt.
Ich halte das für richtig und denke, dass wir uns auf dem
richtigen Weg befinden.
Gestern haben die neuen Länder im Bundesrat deutlich gemacht, dass der von den Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen vorgelegte Entwurf einer
Novellierung des Altschuldenhilfe-Gesetzes nicht ausreicht. Vielmehr seien nach ihrer Meinung weitere Änderungen notwendig. Auch hier besteht, so denke ich,
Konsens und die von der Koalition ausgesandten positiven Signale sind so zu verstehen, dass wir im Ausschuss
einen weit gehenden Konsens finden werden.
Zum Schluss möchte ich feststellen: Selbst wenn wir
im Rahmen der Nachbesserung dieses Gesetzentwurfes
zu einem allumfassenden Konsens kommen, fließt den
Wohnungsunternehmen nicht eine Mark mehr für Baumaßnahmen zu. Alles muss durch Eigenvermögen, über
Kredite und letztendlich über Mieten finanziert werden.
Deshalb brauchen wir für die Unternehmen geeignete
Härtefallregelungen,
({8})
um bezahlbare Mieten zu sichern und die Unternehmen
vor einem drohenden Konkurs zu schützen. Deshalb
hoffen wir auf eine zügige und konstruktive Beratung.
Vielen Dank.
({9})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort
der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte
mit dem Antrag der CDU/CSU beginnen. Wenn Herr
Kansy mir zuhört, erhält er heute sogar noch eine Antwort auf den mit seiner Unterstützung vorgelegten Antrag. Denn wir sollten so fair sein, alle eingebrachten
Anträge zu würdigen. Dazu gehört eben auch der Antrag, eine Änderung im Wohnungsbindungsgesetz herbeizuführen mit dem Ziel, eine mittelbare Belegung zustande zu bringen.
Der Antrag der CDU/CSU ist inhaltsgleich mit einem
Antrag des Landes Bayern im Bundesrat.
({0})
Der Bundesrat hat aber im Januar dieses Jahres im
Wohnungsausschuss des Bundesrates mit den Stimmen
Bayerns, Herr Oswald, zugestimmt, diesen Antrag zunächst einmal aufgrund eines Reformvorschlages, über
den die Bundesregierung mit den Ländern verhandelt,
Norbert Otto ({1})
zurückzustellen. Das heißt, auch vonseiten des Bundesrates wird die Dringlichkeit einer Änderung gesehen.
Aber man sagt, es mache mehr Sinn, diesen Baustein
ähnlich wie andere - weitere Bundesländer haben zudem
Anträge zur Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes eingebracht - zurückzustellen und an einer Gesamtreform zu arbeiten. Deshalb möchte ich Ihnen mit
wenigen Sätzen darstellen, wie die Vorarbeiten für diese
Reform verlaufen sind.
Herr Kansy, Sie haben soeben mit dem Spruch
„Wenn ich nicht mehr weiter weiß, bilde ich einen Arbeitskreis“ - dieser Spruch hat ja einen überaus langen
Bart; man braucht schon fast eine Bartaufwickelmaschine im Keller, Sie kennen das ja - versucht, die Arbeit
der in diesem Zusammenhang eingerichteten Arbeitsgruppe ein wenig lächerlich zu machen. Ich kann Ihnen
heute nur sagen, dass ich vor den Männern und Frauen,
die in dieser Arbeitsgruppe gesessen haben und gestern
mit ihrer Arbeit fertig geworden sind, große Hochachtung habe.
({2})
Das heißt, es gibt hinsichtlich der Eckwerte einer Reform des sozialen Wohnungsbaus Konsens. In dem Papier, das der Bauministerkonferenz Ende Mai dieses
Jahres vorgelegt wird, steht kein völlig strittiger Punkt
mehr. Es enthält nach dem Motto „Dieses und jenes
müssen wir noch einmal prüfen“ einige salvatorische
Klauseln. Aber ich glaube, wir haben einen Durchbruch
erzielt.
Ich habe aus den Reihen der Beteiligten gehört, sie hätten es noch nie erlebt, dass eine Bundesregierung in einem so konstruktiven Umfang mit den Ländern an einer
Reform gearbeitet hat.
({3})
Sie haben noch folgenden Punkt angesprochen, auf
den es auch eine Antwort geben soll: Wir haben weitestgehend nicht auf die Vorschläge der alten Bundesregierung eingehen können. Wir haben eine neue Definition
der Zielgruppen und eine andere Regelung für die Einkommensgrenzen erarbeitet. Wir haben außerdem eine
andere Lösung für die Instrumente der zukünftigen Förderung gefunden. Wir haben ein Baukastensystem und
werden Klauseln einführen, die den Bestand sichern.
Was die Mietpreisbindung anbelangt, war das damals
einer der Knackpunkte, warum Herr Beckstein in einem
wenig freundlichen Brief Herrn Töpfer geschrieben hat,
man solle eine Wohnungsreform nicht damit beginnen,
die Mieten für 2,5 Millionen Wohnungen anzuheben.
Alle diese Fehler werden wir nicht machen.
({4})
Die Reform des sozialen Wohnungsbaus - wir wollen
sie soziale Wohnraumförderung nennen, weil sie auch
für den Bestand gültig sein wird - ist auf gutem Wege.
Deshalb können wir das Problem der mittelbaren Belegung in der nächsten Zeit anpacken.
Ich komme zum Altschuldenhilfe-Gesetz. In der
Koalitionsvereinbarung steht, dass wir besondere Probleme der ostdeutschen Wohnungswirtschaft wie Leerstände und Fehler im Altschuldenhilfe-Gesetz lösen
werden. Auch diesen Punkt der Koalitionsvereinbarung
werden wir wie bereits andere zuvor umsetzen. Ich freue
mich auf eine wohnungspolitische Debatte. Wir können
dann die Koalitionsvereinbarung durchdeklinieren und
sehen, was wir schon auf den Weg gebracht haben. In
dem Zustandsbericht von Herrn Kansy hat man nur einige wenige freundliche Worte über den Zustand und
nichts über den Reformstau gehört. Er hat auch kein
Wort zum Wohngeldgesetz gesagt. Das alles werden wir
aber noch nachholen können.
({5})
Bezüglich des Altschuldenhilfe-Gesetzes und der
Leerstände haben wir uns in der Koalitionsvereinbarung
vorgenommen, die in diesem Gesetz offensichtlich enthaltenen Fehler, die jahrelang aufgezeigt worden sind,
abzubauen. Herr Otto, bei Ihrer Vergangenheit - Sie haben ja praktisch alles abgelehnt, was wir an Änderungsvorschlägen zum Altschuldenhilfe-Gesetz im Deutschen
Bundestag vorgelegt haben - sollte man wenig Kritik
üben. Sie haben beispielsweise gesagt: langer Anlauf,
kurzer Sprung. - Wir haben einen kurzen Anlauf genommen und machen einen langen Sprung. Das ist die
Realität.
({6})
Als wir an die Regierung gekommen sind, haben wir
festgestellt, dass von den 2 100 Wohnungsunternehmen,
die die Altschuldenhilfe in Anspruch genommen haben,
lediglich 100 einen Schlussbescheid bekommen haben.
2 000 Wohnungsunternehmen mussten sozusagen unter
dem Fallbeil leben und damit rechnen, einen Teil der
Teilentschuldung zurückzahlen zu müssen. Inzwischen
haben schon 1 200 Unternehmen einen Schlussbescheid.
Uns ist es also in weniger als einem Jahr gelungen,
1 100 Wohnungsunternehmen einen Schlussbescheid
zuzuleiten und somit Rechtssicherheit und Planungssicherheit zu geben.
({7})
Die Novelle - wir haben das schon gehört - hat drei
Schwerpunkte:
Erstens. Wir werden die Laufzeit des Gesetzes von
etwas mehr als zehn Jahren radikal um vier Jahre verkürzen. De facto hätte sich die Laufzeit nach dem alten
Gesetz sogar bis zum Jahre 2004 oder 2005 erstreckt.
Bis Ende 2003 wäre nämlich das Gesetz gültig gewesen.
Dann hätte man Berichte erstellen müssen und es hätte
eine sehr umfangreiche Prüfung von der KfW beginnen
müssen, sodass die Wohnungsunternehmen weitere anderthalb Jahre verloren hätten. Deshalb macht es Sinn,
dass wir das Ende auf den 31. Dezember 1999 vorgezogen haben.
Wir wissen: Fast alles, das privatisierbar war, ist privatisiert worden. Deshalb müssen wir die Unternehmen
aus der Warteschleife herausholen, die zu unerträglichen
Einschränkungen führt. Die Folge wäre sonst: Solange
Schlussbescheide fehlen, gäbe es Drohverlustrückstellungen, Probleme bei der Kreditgewährung, Liquiditätseinschränkungen und Investitionshemmnisse sowie nicht
zuletzt den bürokratischen Aufwand, dass ständig Berichte zunächst verfasst und dann von der KfW geprüft
werden müssen. Deshalb ist es gut, dass wir den
31. Dezember 1999 als Schlussdatum gewählt haben.
Zweitens. Wir haben eine Ablöseregelung für die,
die nicht verkaufen wollen. Der Betrag von 200 DM Herr Otto, Frau Ehlert und Herr Danckert, Sie haben
darüber gesprochen - orientiert sich nicht an der Wirtschaftlichkeitsfrage, sondern an der Gerechtigkeitsfrage.
Wir können denen, die sich jetzt freikaufen, keinen deutlich niedrigeren Kaufpreis zugestehen als denen, die ordentlich privatisiert haben. Das würde einen Aufschrei
in der Wohnungswirtschaft geben.
({8})
Deshalb definiert sich der Betrag, den wir in das Gesetz
hineinschreiben, an dem Betrag, der im Durchschnitt an
Ablösung geleistet worden ist. Davon sind nur wenige
Wohnungsunternehmen betroffen. Deshalb bitte ich Sie
herzlichst, diesen Gerechtigkeitsgesichtspunkt in der
Debatte zu beachten.
({9})
Drittens. Wir haben eine Situation der negativen Restitutionen, die sich in den letzten Jahren verschärft hat.
Mit der Lösung - ich greife jetzt auf Zahlen des GdW
zurück - packen wir 20 Prozent der gesamten Restitutionsfälle. Diese letzten 20 Prozent fassen wir unter die
Schlussregelung zum 31. Dezember 1999. Das wird dazu führen, dass nur noch wenige Unternehmen in Kalamitäten kommen. Wir befinden uns in der Diskussion,
wie man unter Umständen zu Lösungen kommt, die im
Einzelfall Härtefälle vermeiden. Aber auch das wird zu
gewichten sein.
Herr Otto, hinsichtlich der im Bundesrat gestarteten
Initiative haben Sie ausgeführt, wie die Entscheidung
gestern war. Heute hat das Land Sachsen im Finanzausschuss des Bundesrates nicht über den Antrag abstimmen lassen, sondern ihn nur zu Protokoll gegeben. Ich
denke, das ist ein Hinweis darauf, dass man erkannt hat:
Das, was man einbringt, muss auch finanzierbar sein.
Wir wollen also ein Gesetz vorlegen, das mehr
Rechtssicherheit, mehr Planungssicherheit schafft, das
erhebliche Entlastungen für die Wohnungswirtschaft mit
sich bringt und das damit zur Verbesserung der Investitionskraft und zu mehr Investitionen führt. Wir sind auf
einem sehr guten Weg.
Vielen Dank.
({10})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 14/2763 und 14/2804 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Die Vorlage auf Drucksache 14/2983 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Verkehr, Bauund Wohnungswesen und zur Mitberatung an den Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder und den
Haushaltsausschuss überwiesen werden. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Hilfe für durch Anti-D-Immunprophylaxe mit
dem Hepatitis-C-Virus infizierte Personen
({0})
- Drucksache 14/2958 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Horst Schmidbauer von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte mit einem Zitat aus der „Geheimen Verschlusssache der Staatssicherheit Nr. 32/81“
beginnen. Da heißt es:
Das sozialistische Gesundheitswesen wurde in seiner Zuverlässigkeit erschüttert.
Weiter heißt es:
Der gesellschaftspolitische Schaden muss hoch
eingeschätzt werden.
Und:
Die folgerichtige Anerkennung der Hepatitiserkrankungen als Impfschaden in Verbindung mit
der staatlichen Haftung machte hohe finanzielle
Anforderungen für die Geschädigten erforderlich.
Man kann nur feststellen: wie Recht die Mitarbeiter des
Ministeriums für Staatssicherheit hatten!
Diese Frauen und Mütter haben erst 16 Jahre später,
nach der deutschen Einheit, erfahren, dass sie durch ein
Arzneimittel mit Hepatitis C infiziert wurden. Das war
der größte Arzneimittelskandal der DDR. Alles hat
perfekt geklappt. In einem Protokoll von 1979 heißt es:
Die Hauptverhandlung wird unter Ausschluss der
Öffentlichkeit geführt.
Und weiter:
Allen anwesenden Personen wird zur Pflicht gemacht, über die Problematik dieses Verfahrens
nicht zu sprechen.
Was auch perfekt geklappt hat: Im Verfahren selbst tritt
kein Opfer auf.
Heute sind die Umstände anders. Ich freue mich sehr,
dass eine Delegation der beiden Selbsthilfeverbände bei
uns im Bundestag ist. Wir wollen das heute im Beisein
der Opfer behandeln.
({0})
6 773 Frauen wurden mit Chargen dieses Arzneimittels behandelt, das aufgrund strafrechtlich relevanter
Vorgänge bei der Herstellung und Überwachung mit
Hepatitis C verseucht war. Heute möchten wir aber nicht
die Vergangenheit in den Mittelpunkt stellen, sondern
heute stehen die Menschen - besser gesagt: steht das
Schicksal von 2 300 Frauen - im Mittelpunkt. Es ist das
Schicksal von 2 300 Müttern und deren Kindern, weil
nicht verkannt werden darf, dass der Kinderwunsch die
eigentliche - im weitesten Sinne - Ursache dafür war,
dass die Frauen dieser Zwangsimpfung ausgesetzt waren, die im Herbst 1978 durchgeführt worden ist.
Wenn wir das heute sehen, dann steckt hinter dem
Leidensweg eine 20-jährige Entwicklung; der Leidensweg dauerte 20 Jahre. Aber heute können wir mit gutem
Recht sagen, es ist Licht am Ende des Tunnels sichtbar.
Deswegen ist es auch ganz klar, dass wir als sozialdemokratische Bundestagsfraktion diesen Gesetzentwurf
der Regierung sehr begrüßen. Wir sind sehr froh darüber, dass nach dieser langen Phase diese Regierung
jetzt endlich in einer kurzen Phase das umgesetzt hat,
was wir bei der Vorgängerregierung über viele Jahre
vermisst und bei ihr kritisiert haben.
({1})
Ich möchte auch ein ausdrückliches Dankeschön an
die Ministerin und an die Staatssekretärin, Frau Nickels,
sagen, dass sie die Federführung für dieses Gesetz übernommen haben;
({2})
denn wir haben miterlebt, dass sich die Bundesländer,
die in einer hohen Verantwortung gewesen sind, dieser
Aufgabe nicht vorrangig angenommen haben, sondern
froh waren, als seinerzeit in der Gesundheitsministerkonferenz der Beschluss ergangen ist, doch die
Bundesministerin zu bitten, die Federführung zu übernehmen. Ich glaube, wir waren darin gut beraten, weil
wir jetzt ein ganz erhebliches Stück weiter sind.
Aber ich denke, wir dürfen nicht vergessen, dass die
Frauen letztlich zweimal geschädigt wurden: zum einen
durch die kriminellen Machenschaften dieser Institution
in Halle, die seinerzeit dieses Serum herstellte und diese
Arzneimittelstraftat zu verantworten hat, zum anderen
im Zuge des Übergangs in die deutsche Einheit. Der
Sachverhalt war so, dass es ja zu DDR-Zeiten keinen
Arzneimittelskandal geben durfte. Also hat man die
Frauen als Impfgeschädigte eingestuft. Mit dieser Einstufung sind die Frauen nach der deutschen Einheit auch
in unser Rechtssystem übernommen worden. Wir wissen
natürlich, dass in der Bundesrepublik die Rechtslage
völlig unterschiedlich ist, ob ich einen Impfschaden erlitten oder durch ein Arzneimittel einen Schaden zugefügt bekommen habe. Deswegen ist eine doppelte Schädigung eingetreten.
Jetzt ist es wichtig, dass nach zehn Jahren deutsche
Einheit die Benachteiligung ein Ende hat. Es ist auch
ganz wichtig, dass wir dabei sehen, dass es bei den betroffenen Frauen nicht um Fürsorgefälle geht, sondern
dass sie einen gesetzlichen Anspruch auf eine Entschädigung haben.
({3})
Ich darf nicht verschweigen, dass die Versorgungssituation der Frauen zu Zeiten der DDR unberührt blieb, weil
das GüK - das ist das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten bei Menschen in
der DDR gewesen - keinen Unterschied machte, ob dahinter ein Straftatbestand steckte oder ob es tatsächlich
nur ein Impfschaden war. Warum? - Weil dieses Gesetz
dafür gesorgt hat, dass die betroffenen Frauen den vollen
Ausgleich der krankheitsbedingten Nettolohnausfälle erstattet bekommen haben. Das heißt, für sie waren ihr
Lebensstandard und ihre Lebenssituation gesichert.
Heute, in der Zeit der deutschen Einheit, ist das wirklich anders geworden, weil die Frauen zurzeit für eine
nachgewiesene medizinisch bestätigte Erwerbsminderung von 30 Prozent 191 DM bekommen. Eine nachgewiesene Erwerbsminderung von 30 Prozent ist 191 DM
wert!
Das hat Verpflichtungen ausgelöst. Erste Verpflichtung war, dass die sozialdemokratische Bundestagsfraktion bei Professor Goerlich in Leipzig ein Gutachten in
Auftrag gegeben hat, weil er der Fachmann ist, der sich
in diesen beiden Rechtssystemen gut auskennt. Er hat
bestätigt, dass es zum einen eine Handlungspflicht gibt
und zum anderen eine Gleichbehandlungspflicht. Diese Gleichbehandlungspflicht bezieht sich auf die HCVInfizierten und die HIV-Infizierten.
Die Handlungspflicht hat heute die Bundesregierung
mit der Einbringung des Gesetzentwurfs erfüllt. Damit
haben wir die erste Stufe erreicht. In einer zweiten Stufe
ist nun dem Gleichbehandlungsgrundsatz Rechnung zu
tragen, der für uns gewissermaßen noch als Prüfstein
gelten muss.
Um dem Gleichbehandlungsgrundsatz Rechnung zu
tragen, war parlamentarisches Handeln notwendig, und
Horst Schmidbauer ({4})
ich denke, es ist auch in der nächsten Stufe parlamentarisches Handeln angezeigt.
Die Gleichbehandlungspflicht hat unsere Bundestagsfraktion im Dezember veranlasst, dafür zu sorgen und
das Gesundheitsministerium dabei zu unterstützen, dass
der finanzielle Rahmen geschaffen wurde. In einem
Kraftakt, der vor allem auf die Unterstützung von Herrn
Dr. Struck zurückzuführen ist, ist es dann gelungen, in
der Haushaltsbereinigungssitzung zusätzlich 15 Millionen DM unterzubringen. Dadurch haben wir die Regierung gestärkt und unterstützt, sodass sie aus diesen
15 Millionen DM heraus nun die Einmalzahlung nach
diesem Gesetz leisten kann. Ich denke, das war wichtig;
denn das war die Voraussetzung dafür, dass die zur Verfügung stehenden 10 Millionen DM für die laufenden
Zahlungen benutzt werden können. In den nächsten parlamentarischen Schritten wollen wir darauf hinarbeiten,
dass die Frauen tatsächlich einen Anspruch auf monatliche Zahlungen innerhalb des vom Parlament beschlossenen Finanzrahmens erhalten.
Ein weiteres Problem mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz besteht darin, dass im HIV-Hilfegesetz keine
Anrechnung der Leistungen auf die Sozialhilfe vorgesehen ist. Wir müssen deshalb im weiteren Verfahren prüfen, ob wir bei diesem Gesetz ähnlich verfahren wollen.
Ein dritter Gleichbehandlungsgrundsatz betrifft die
Frauen, die noch keine Erwerbsminderung von 25 oder
30 Prozent nachgewiesen haben. Es kommt immer der
Eindruck auf, dass diese Frauen keine Entwicklung hinter sich hätten. Aber auch die Frauen, die heute noch
keinen entsprechenden Schädigungsgrad nachgewiesen
haben, haben die akute HCV-Erkrankung hinter sich,
haben die Zwangseinweisung zur stationären Behandlung von sechs Wochen bis zu 18 Monaten hinter sich,
haben die politischen Repressalien hinter sich, haben
Arbeitsunfähigkeit hinter sich und haben medizinische
Eingriffe bis hin zu Biopsien hinter sich. Auch diese
Frauen haben also Belastungen hinter sich. Zudem sind
ihre Altersversorgungsansprüche nicht geregelt. Es ist
notwendig, diesen Frauen aus den 15 Millionen DM, die
das Parlament bereitgestellt hat, zumindest einen Anerkennungsbetrag zu zahlen. Ich denke, in dieser Weise
müssen wir in das Verfahren hineingehen.
Am Ende meiner Rede möchte ich noch anmerken:
Vielfach ist der Eindruck entstanden, es gehe um ein
Versorgungsgesetz. Ich hoffe, dass jetzt in Deutschland
damit Schluss ist. Hier geht es um einen Arzneimittelschaden, der durch Vorsatz, durch einen kriminellen Akt entstanden ist und den es jetzt zu entschädigen
gilt. Die Bundesrepublik hat dreimal in solchen Fällen
staatlich handeln müssen. Ich hoffe, dass dies der letzte
Fall ist, bei dem wir staatliches Handeln brauchen, weil
unsere Haftungsgesetze im Arzneimittelbereich nicht
ausreichend greifen.
Wir sollten deutlich machen: Hier geht es nicht um
ein Versorgungsgesetz, sondern um ein Haftungsgesetz.
Es ist an der Zeit, es in die Tat umsetzen. Das Leid der
Mütter, Kinder und Hinterbliebenen kann dadurch zwar
nicht gelindert werden; aber das Leben der Betroffenen
könnte damit wesentlich erleichtert werden.
({5})
Das
Wort hat jetzt der Kollege Dr. Harald Kahl von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Vorsitzender!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor allem: liebe Vertreter der Opferverbände, die heute an unserer ersten Beratung zu diesem Gesetzentwurf teilnehmen! Zum wiederholten Male befasst sich der Deutsche Bundestag mit
einem Thema, das aus der traurigen Hinterlassenschaft
der ehemaligen DDR resultiert.
Nicht zum ersten Mal debattieren wir das Schicksal
von Tausenden Frauen aus der ehemaligen DDR.
Diese hatten in der Zeit zwischen 1978 und 1979 Immunglobulin erhalten, von denen einige Chargen mit
dem Hepatitis-C-Virus verseucht waren. Die Gabe des
Immunglobulins erfolgte im Rahmen einer Pflichtimpfung in solchen Fällen, in denen RhesusUnverträglichkeiten verhindert werden sollten. Das geschah nach dem DDR-Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen.
Obwohl der verantwortlichen Behörde, dem Bezirksinstitut für Blutspende- und Transfusionswesen des Bezirks Halle, die Kontamination mit dem Hepatitis-CVirus durchaus bekannt war, wurden die Immunglobuline an die Frauen verabreicht. Das ist ein Skandal, unter
dessen Folgen mehrere Tausend Frauen bis heute zu leiden haben. Nach dem Stand vom 30. Juli 1999 sind das
2 227 Frauen, 57 Kinder und acht Kontaktpersonen, bei
denen die Krankheit Hepatitis C als Folge der Infektion
anerkannt wurde.
Dieser Vorgang ist ein Fall für das Staatshaftungsrecht; denn es handelte sich hierbei um eine staatlich
verordnete Impfung. Zum Glück, sage ich, gibt es diesen
Staat DDR nicht mehr. Aber - das bedrückt uns alle
quer durch die Fraktionen - die Opfer, die wir noch heute beklagen, haben unverschuldet schweres persönliches
Leid mit schlimmen gesundheitlichen, psychischen und
sozialen Folgen ertragen.
Zivilrechtliche Ansprüche oder Ansprüche aus Amtshaftung aus dieser Zeit sind nicht realisierbar. Für Impfschäden greift bisher das Bundesversorgungsgesetz im
Zusammenhang mit dem Bundesseuchengesetz. Ansprüche daraus und die den Geschädigten zustehenden Leistungen sind allerdings eher bescheiden und werden der
Situation der Opfer nicht ausreichend gerecht. Die
Mehrheit der Betroffenen erhält monatliche Leistungen
in Höhe von 191 DM bis circa 440 DM. Nur ein geringer Anteil der Opfer erhält eine darüber liegende Leistung. Für Betroffene, deren Erwerbsminderung unterhalb 30 Prozent liegt, gibt es überhaupt keine Entschädigung.
Meine Damen und Herren, wir sind uns in diesem
Hause einig, dass dies ein nicht zu tolerierender Zustand
ist. Den Opfern in den alten und in den neuen BundesHorst Schmidbauer ({0})
ländern ist es letztlich egal, wie das Gesetz heißt, nach
dem sie entschädigt werden. Nur muss es eine gerechte,
dem Gleichheitsprinzip folgende Leistung sein.
Bedauerlicherweise war in der vergangenen Legislaturperiode eine akzeptable Lösung für die Hepatitis-COpfer parteiübergreifend nicht zu erreichen. SPD und
Bündnis 90/Die Grünen forderten seinerzeit die unionsgeführte Bundesregierung auf, ein Gesetz auf den Weg
zu bringen, das allein den Bund in der vollen und damit
auch finanziellen Verantwortung sehen sollte.
({1})
- Hören Sie schön zu! - In einer am 8. November 1996
von der SPD verbreiteten Presseerklärung heißt es wörtlich:
Auch ein Schwarzer-Peter-Spiel aufseiten der Koalition führt nicht zum Ziel, wenn die Bundesregierung jetzt versucht, die Länder in Mithaftung zu
nehmen.
Tatsache aber ist, dass sich der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer und die Parlamentarische
Staatssekretärin Frau Dr. Bergmann-Pohl immer wieder
um eine Entschädigungslösung bemüht haben. Um einer
Legendenbildung vorzubeugen, zitiere ich aus dem
Schreiben von Horst Seehofer vom 21. März 1997 an
die Bundesländer wie folgt:
Ich bin bereit, über eine entsprechende Initiative
der Bundesregierung zu diskutieren, vorausgesetzt,
dass alle Länder, insbesondere die alten Länder, bereit sind, entsprechend ihrer Größe und Finanzkraft
die Kosten mit zu übernehmen.
Für diese Lösung aber war eine finanzielle Beteiligung der Bundesländer nicht zu erreichen. Auch das gehört zur Wahrheit: Diese Beteiligung haben mehrheitlich
die SPD-geführten alten Bundesländer stets verweigert.
({2})
Der schwarze Peter, von dem Sie, Herr Kollege
Schmidbauer, sprachen, ist demnach nicht bei der ehemaligen Bundesregierung, sondern in den Reihen der
SPD zu suchen.
({3})
Tatsache ist auch, dass trotz Einsetzung einer BundLänder-Arbeitsgruppe das Thema bis zu den letzten
Bundestagswahlen verschleppt wurde. Nach nahe liegenden Gründen zu suchen fällt nicht schwer.
Nun hat die Bundesregierung einen Entwurf für ein
Anti-D-Hilfegesetz vorgelegt. Wir begrüßen das und
nehmen mit einiger Genugtuung zur Kenntnis, dass
nunmehr ein Gesetzentwurf vorliegt, der genau das beinhaltet, was seinerzeit von uns vorgeschlagen wurde,
nämlich die finanzielle Beteiligung aller Bundesländer
bei der Lösung dieses Problems.
({4})
Auch eine späte Einsicht ist immer willkommen. Keiner
wird sich mehr darüber freuen als die Betroffenen, die
heute hier anwesend sind.
Nicht neu an diesem Gesetz ist also, um Herrn
Schmidbauer zu zitieren, die Mithaftung der Länder.
Neu aber ist, dass Sie sich nun dazu bekennen. Die
Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat haben sich ein wenig verschoben. Plötzlich ist der Weg für ein Gesetz frei.
Das macht deutlich, dass die unionsgeführten Länder
eben nicht die Blockadepolitik der SPD fortsetzen,
({5})
sondern konstruktiv an einer Lösung mitzuarbeiten bereit sind, die der Situation der Betroffenen Rechnung
trägt.
({6})
Der vorliegende Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung behandeln, geht von einer hälftigen Finanzierung von Bund und Ländern aus. Ausgehend von diesem
50-prozentigen Länderanteil entfallen auf die alten Bundesländer 12,4 Prozent und auf die neuen Bundesländer
37,6 Prozent der Gesamtkosten. Das Gesetz sieht im
Einzelnen monatliche Renten in Höhe von 500 DM bis
2 000 DM, Einmalzahlungen in Höhe von 7 000 DM bis
30 000 DM je nach Grad der Einschränkung der Erwerbsfähigkeit und schließlich auch eine Hinterbliebenenversorgung vor. Zur Ergänzung und Absicherung der
Hilfe sieht das Gesetz für diese Rentenleistungen eine
jährliche Dynamisierung vor, die an die Dynamisierung
der gesetzlichen Rentenversicherung geknüpft ist. In
Anbetracht der nebulösen Rentenpläne der Bundesregierung ist mir allerdings schleierhaft, wie diese Dynamisierung tatsächlich funktionieren soll.
Meine Damen und Herren, wir als Opposition werden
uns einer konstruktiven und zügigen Beratung nicht entziehen, weil auch wir der Meinung sind, dass nunmehr
endlich gehandelt werden muss. Man könnte meinen,
damit sei alles in Ordnung. Dem ist allerdings nicht so.
Zu dieser Erkenntnis muss man kommen, wenn man
sich den Antrag des Bundeslandes Niedersachsens zu
Tagesordnungspunkt 7 auf der heutigen 729. Sitzung des
Finanzausschusses des Bundesrates ansieht, in dessen
Begründung ausgeführt wird, dass die Zuständigkeit für
die Durchführung des Gesetzes und damit die anteilige
Kostentragungspflicht ausschließlich bei den neuen
Ländern liegt. Weiter heißt es:
Davon abgesehen ist der vorgesehene Beteiligungssatz von 12,4 % für die alten Länder sowie der Verteilungsschlüssel unter den alten Ländern nicht
nachvollziehbar.
({7})
Das ist mehr als nur merkwürdig. Will man jetzt auf
einmal wieder zurückrudern? Einerseits begrüßt man
den Gesetzentwurf; wenn es aber andererseits darum
geht, sich an den finanziellen Konsequenzen zu beteiligen,
möchte man sich aus der Verantwortung stehlen. Sankt
Florian lässt grüßen, meine Damen und Herren.
({8})
Obwohl das Schicksal der HCV-geschädigten Frauen,
Kinder und Familienangehörigen nicht direkt mit dem
des Schicksals von HIV-Geschädigten in den alten Bundesländern vergleichbar ist, scheint es dennoch nur recht
und billig, dass für die Hepatitis-C-Opfer eine Lösung
gefunden wird, die sich an das HIV-Hilfegesetz anlehnt.
Um in Zukunft Fälle wie die Skandale um HIV- und
HCV-Infektionen zu vermeiden, ist es an der Zeit, das
Arzneimittelhaftungsrecht so auszugestalten, dass die
möglicherweise von gesundheitsschädigenden Arzneimitteln Betroffenen in Zukunft eine echte Chance erhalten, ihre berechtigten Forderungen durchzusetzen. In der
vergangenen Legislaturperiode haben sich SPD und
Grüne vehement für ein entsprechendes Gesetz ausgesprochen. Die Bundesregierung ist nunmehr in der
Pflicht, es auf den Weg zu bringen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Als
nächste Rednerin hat die Parlamentarische Staatssekretärin Christa Nickels das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Bereits mehr
als 20 Jahre liegt der größte Arzneimittelskandal in der
ehemaligen DDR zurück, bei dem mehrere Tausend, vor
allem Frauen, mit Hepatitis C infiziert worden sind. Seit
mehr als zehn Jahren wird über eine bessere Entschädigung der im Rahmen einer Anti-D-Immunprophylaxe
mit Hepatitis C infizierten Frauen diskutiert.
Ich bin sehr froh, dass es in einer gemeinsamen
Kraftanstrengung von Bund und Ländern nun endlich
gelungen ist, eine gesetzliche Grundlage für die materielle Absicherung der Betroffenen vorzulegen. Die betroffenen Frauen haben nicht nur großes Leid durchgemacht und machen es nach wie vor durch, sie haben
auch eine lange Zeit hinter sich, in der sie dafür kämpfen
mussten, dass überhaupt anerkannt wurde, dass sie Opfer einer Straftat wurden und ihnen deshalb Entschädigungsleistungen zustehen.
Die rot-grüne Bundesregierung hat versprochen, die
materielle Situation der Opfer zu verbessern. Sie hat sich
sofort nach der Regierungsübernahme an die Arbeit gemacht und sie hat ihr Versprechen gehalten.
({0})
Das jahrelange unerfreuliche Hin und Her zwischen
Bund und Ländern wurde endlich zum Abschluss gebracht. Das ist nicht zuletzt auch dem unermüdlichen
Einsatz von Bundesgesundheitsministerin Andrea
Fischer zu verdanken.
Herr Kollege Kahl, wir sind ja nun in der Situation,
sämtliche Akten und Unterlagen zu sehen. Es ist nicht
so, dass das an den Ländern gescheitert wäre. Es ist so
gewesen, dass der Kollege Seehofer, der frühere Minister, bei seinem Kollegen Waigel nicht durchgedrungen
ist, den Anteil, den der Bund tragen sollte, überhaupt
etatisiert zu erhalten. Er hat immer wieder darum gebeten und keine definitive Zustimmung erhalten. Das gehört auch zu dieser traurigen Geschichte. Dazu sollte
man redlicherweise stehen. Ich hatte nicht vor, das hier
anzumerken, aber ich muss das jetzt sagen.
({1})
Vonseiten der rot-grünen Bundesregierung haben wir
den Bundesanteil frühzeitig etatisiert, und zwar unmittelbar nach Antritt von Minister Eichel. Vorher war es
auch zugesagt - aber, wie gesagt, es ist im April passiert. Damit haben wir Rückenwind für die zuständigen
Minister in den alten wie auch in den neuen Ländern erzeugen können, sodass am Ende auch die Landesfinanzminister ihre Zustimmung zu diesem Gesetz signalisiert haben.
Es waren die Länder, auch die neuen Bundesländer,
die die Bundesregierung und Ministerin Fischer gebeten
haben, das Gesetzgebungsverfahren zu übernehmen. Die
Bundesgesundheitsministerin hat das vor der Gesundheitsministerkonferenz im Juni 1999 zugesagt, damit das
lange Warten der Frauen endlich ein Ende hat.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Die Betroffenen
werden nun eine monatliche Rentenzahlung, die nach
dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit gestaffelt ist, zwischen 500 und 2 000 DM erhalten. Die Beträge werden jährlich dynamisiert. Die Rentenhöhe stellt
eine deutliche Verbesserung zum Status quo dar, bei
dem die Grundrenten lediglich zwischen 191 und
996 DM liegen.
Darüber hinaus ist eine Einmalzahlung vorgesehen,
die auch die Geschädigten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit zwischen 10 und 20 Prozent umfasst.
Diese zusätzliche Leistung trägt sowohl dem humanitären Aspekt als auch dem Schmerzensgeldgedanken
Rechnung.
Die Finanzierung der Renten erfolgt hälftig durch
Bund und Länder. Der Bund trägt die Einmalzahlung allein. Der Betrag von 15 Millionen DM für die Einmalzahlung ist auf Initiative des Haushaltsausschusses für
den Bundeshaushalt 2000 zur Verfügung gestellt worden.
Meine Damen und Herren, das Leid, das den Frauen
zugefügt worden ist, ist mit Geld sicherlich nicht aufzuwiegen. Deshalb habe ich großes Verständnis dafür,
wenn die Betroffenen für weitere Verbesserungen kämpfen. Wir haben inzwischen jedoch auch Rückmeldungen
aus dem Kreis der Betroffenen erhalten, dass es Einverständnis mit dem vorgelegten Gesetzentwurf gibt. Sie
haben vor allem den Wunsch, dass das Gesetz schnell in
Kraft tritt, damit sie die Leistungen endlich in Anspruch
nehmen können.
Jeder, der diese Leistungen - gut gemeint - weiter
aufstocken will, läuft Gefahr, dass die ausgewogene Balance dieses sehr komplexen Systems von Hilfe und Finanzierung erneut ins Wanken gerät. Der mühsam hergestellte Konsens zwischen den verschiedenen zu beteiligenden Akteuren, zwischen den alten und den neuen
Bundesländern und zwischen den verschiedenen zuständigen Bundesministerien, könnte sonst zerbrechen. Denn
man muss wissen, dass der Hauptgrund für die lange
Dauer des Verfahrens eben gerade in dieser Komplexität
liegt. Die alte Regierung ist an dieser Aufgabe gescheitert mit der Folge, dass die Frauen nunmehr seit zehn
Jahren auf eine Verbesserung ihrer Situation warten
müssen.
Auch eine andere Forderung der Betroffenen, die
Rentenzahlungen - so wie das bei den Einmalzahlungen
der Fall ist - von der Anrechnung bei Sozialleistungen
freizustellen, ist aus der Sicht der Einzelnen absolut
nachvollziehbar und wurde vom Gesundheitsministerium unterstützt. Nach Auffassung der Länder - und zwar
aller Länder - und der anderen zuständigen Ministerien
hätte dies jedoch eine Privilegierung gegenüber anderen
Rentenempfängern bedeutet und war deshalb nicht
durchsetzbar. Immerhin haben wir erreicht, dass die
Leistungen nur zur Hälfte angerechnet werden.
Auch die Forderung, diejenigen, die zwar HepatitisC-infiziert, aber nicht manifest erkrankt und damit eben
noch nicht erwerbsgemindert sind, an der Einmalzahlung zu beteiligen, ist intensivst erörtert worden. Dabei
ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Haushaltsausschuss des Bundestages die 15 Millionen DM als eindeutige Obergrenze für die Einmalzahlung festgelegt
hat. Verbesserungen zugunsten einer bislang nicht einbezogenen Gruppe müssten also zu Verschlechterungen
bei allen Übrigen führen.
Außerdem hat sich die Bund-Länder-Arbeitsgruppe und zwar alle Bundesländer, die neuen und die alten,
unabhängig von der Farbe der Partei, die regiert - strikt
gegen diese Regelung ausgesprochen. Das Arbeitsministerium sprach sich ebenfalls dagegen aus mit dem
Hinweis auf das SED-Unrechtsbereinigungsgesetz; denn
danach werde den ehemals Gefangenen bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von Null auch keine Leistung gewährt. Im Übrigen sei eine derartige Regelung
im Vergleich zu den anderen Gesetzen unsystematisch,
da keine manifeste Erkrankung vorliege.
Nach langen Jahren zermürbenden Kämpfens und
Wartens für die betroffenen Frauen sind wir nun endlich
mit einem Gesetz auf der Zielgeraden, das den Betroffenen eine schnelle und erhebliche Verbesserung ihrer materiellen Situation bringen kann. Das hängt von der zügigen Beratung in Bundestag und Bundesrat ab, aber vor
allem davon, dass sich keiner der Beteiligten nun
klammheimlich aus der gemeinsamen Verantwortung
stiehlt.
Deswegen bin ich über das Ergebnis der Probeabstimmung im Unterausschuss, Herr Kollege Kahl, des
Finanzausschusses des Bundesrates von vorgestern
alarmiert, das ein Ausscheren aus der gemeinsamen
Zahlungsverpflichtung bedeutet hätte. Erfreulicherweise
aber hat das Land Niedersachsen diesen Antrag heute im
Finanzausschuss des Bundesrates nicht eingebracht.
({2})
Dies geschah allerdings mit der Begründung:
Die verfassungsrechtlichen Bedenken werden im
Interesse der vom Gesetzentwurf Betroffenen und
im Hinblick auf die vergleichsweise geringfügigen
finanziellen Auswirkungen für die Länder zurückgestellt.
Der Finanzausschuss entschied einstimmig, im Bundesrat keine Einwände zu erheben.
Es gilt nun, dieses Einvernehmen zu erhalten. Jetzt
muss alles getan werden, damit das Gesetz zügig, sicher
und mit Erfolg ins Ziel kommt.
Ich danke Ihnen.
({3})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Dieter Thomae von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass
dieses Problem nun endlich gelöst worden ist. Wir hatten in der alten Bundesregierung ausgesprochen große
Schwierigkeiten mit den einzelnen Bundesländern, diese
Fälle zu lösen. Das wissen Sie alle. Es gab eine Anzahl
von Bundesländern, die nicht bereit waren, auf unsere
Vorschläge einzugehen.
Daher ist es gut, dass diese Entscheidung jetzt gefallen ist. Ich wünsche mir, dass alle Bundesländer auch in
Zukunft diese Entscheidung mittragen werden und nicht
auf die Idee kommen, wieder auszuscheren.
({0})
Ich bin dem Haushaltsausschuss ausgesprochen
dankbar, dass er bereit ist, auch aus menschlichen Gründen, die dringend notwendig waren, die
15 Millionen DM zur Verfügung zu stellen, damit diese
Thematik endlich richtig organisiert und den Betroffenen geholfen werden kann. Von daher freue ich mich,
über diese Entscheidung.
Herzlichen Dank.
({1})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Infolge schuldhaften Verhaltens leitender Mitarbeiter eines Blutspendeinstitutes erkrankte in der DDR in den Jahren
1978/79 eine große Zahl von Frauen an Hepatitis C. Sie
hatten zur Vorbeugung der Neugeborenengelbsucht virenverseuchte Immunglobuline erhalten.
Die Betroffenen wurden nach den akuten medizinischen Behandlungen in eine fachärztliche Langzeitbetreuung aufgenommen. Sie erhielten Entschädigungsleistungen, die auf einen vollen Nettolohnausgleich bei krankheitsbedingten Ausfällen und ungeschmälerte Rentenansprüche zielten. Die gesundheitlichen und sozialen Folgen waren und sind für die
Frauen schwerwiegend. Einige stehen vor unmittelbar
lebensbedrohlichen Auswirkungen der erlittenen Schädigung.
Mit den Verhandlungen über den Einigungsvertrag
wurde diese spezielle Problematik in die Obhut der
Bundesregierung übergeben, die sie als Impfschäden in
bundesdeutsches Recht überführte. Es zeigt sich jedoch,
dass die damit verbundenen Entschädigungsregelungen
der Situation der Frauen nicht gerecht wurden. Zu begrüßen war deshalb, dass sich schließlich alle Fraktionen
dieses Hauses dafür aussprachen, die Entschädigungsleistungen deutlich zu verbessern und ein spezielles Hilfegesetz als eigenständige Rechtsgrundlage zu schaffen.
Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Dr. Kahl, möchte ich Folgendes betonen: Gerade die SPD-Fraktion hat sich um
das Zustandekommen dieses Gesetzes große Verdienste
erworben. In Anbetracht der Situation der Betroffenen
Parteipolemik zu betreiben finde ich beschämend.
({0})
Trotz meines Lobes: Ich finde es sehr bedauerlich ich glaube, das gilt auch für die Betroffenen -, dass der
jetzt vorliegende Kabinettsentwurf erneut große Enttäuschung bei den Frauen ausgelöst hat. In Gesprächen, die
ich mit den betroffenen Frauen geführt habe, ist mir das
bestätigt worden; denn viele Regelungen des Kabinettsentwurfs beruhen noch immer auf der Fassung von
1998, die bereits - das ist schon erwähnt worden - zu
Zeiten der Vorgängerregierung erarbeitet wurde. Damals
haben SPD und Bündnisgrüne genauso wie wir diese
Fassung als nicht ausreichend und unannehmbar bezeichnet.
Der Beschluss des Haushaltsausschusses vom Herbst
des vorigen Jahres brachte ohne Frage einen wesentlichen Fortschritt. Auf seiner Grundlage konnten die Einmalzahlungen erhöht werden. Aber das wichtigste Ziel
ist mit der Kabinettsvorlage eben nicht umgesetzt
worden. Dieses Ziel besteht darin, die bisher als nicht
angemessen betrachteten monatlichen Zahlungen im unteren Bereich entsprechend anzuheben. Gerade diese
Form der Hilfe ist für die Frauen und ihre Familien besonders wichtig.
Darüber hinaus ist auch unverständlich, dass die
Frauen künftig keinen Anspruch mehr auf die gesundheitlichen und pflegerischen Leistungen haben sollen,
die ihnen bisher nach dem Bundesversorgungsgesetz zustehen. Damit wären deutliche Schlechterstellungen bei
Kuren und Pflegeleistungen nach Dauer und Höhe sowie
anderes mehr verbunden.
Ebenfalls nicht nachvollziehbar ist für die Betroffenen die Tatsache, dass die monatlichen Rentenzahlungen hälftig auf die Sozialhilfe oder andere Sozialleistungen angerechnet werden sollen. Angesichts der für Bund
und Länder nun wahrlich nicht sehr großen Gesamtsumme - das ist hier auch schon gesagt worden - müssen solche Einschränkungen nicht nur als unangemessen, sondern auch als unnötig erscheinen.
({1})
Wir wollen - auch das haben alle Vorredner betont;
darüber sind wir uns einig - dafür sorgen, dass die Frauen die Entschädigungen, die ihnen zustehen, auch bekommen. Ich hoffe, dass es im Rahmen der Ausschussberatung eine Anhörung geben wird. Ich hoffe auch im
Interesse der Betroffenen, dass die notwendigen Nachbesserungen eingearbeitet werden und wir dann ein Gesetz verabschieden können, das dafür sorgt, dass die
Ungerechtigkeit aus den kriminellen Handlungen der
ehemaligen DDR die betroffenen Frauen nicht bis an ihr
Lebensende verfolgt.
Ich danke Ihnen.
({2})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/2958 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Fraktion der PDS
Aufhebung der Sanktionen gegen die Bundes-
republik Jugoslawien
- zu dem Antrag der Fraktion der PDS
Schiffbarmachung der Donau und Wieder-
aufbau der zerstörten Donaubrücken
- zu dem Antrag der Fraktion der PDS
Aufhebung des Ölembargos gegen Jugosla-
wien
- Drucksachen 14/2387, 14/2388, 14/2573,
14/2996 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eberhard Brecht
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Helmut Haussmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Mit Ausnahme des Kollegen Wolfgang Gehrcke von
der PDS-Fraktion wünschen alle Redner, ihre Reden zu
Protokoll zu geben.*) Ist das Haus damit einverstanden?
- Das ist der Fall.
Dann gebe ich das Wort dem Kollegen Wolfgang
Gehrcke von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich will es nicht so missverstehen, dass ich jetzt die ganze halbe Stunde reden kann,
die mir freundlicherweise von den Kolleginnen und Kollegen eingeräumt worden ist.
({0})
Nein, es
stehen Ihnen nur 5 Minuten zur Verfügung. Damit das
klar ist.
({0})
Ich habe es schon geahnt. - Aber ich möchte erklären, warum ich meine Rede nicht zu Protokoll gegeben habe, warum ich der Meinung bin, dass wir diese Debatte führen müssen, und
warum ich es bedauere, dass sich die Kolleginnen und
Kollegen dieser Debatte nicht live stellen: Wir diskutieren am Vorabend des Jahrestages des Beginns des
NATO-Luftkrieges über unsere Anträge, die natürlich einen
Zusammenhang mit dem Kosovokrieg haben. Ich finde,
es wäre eine Verpflichtung gewesen, im deutschen Parlament diesen Anlass zu nutzen, sich in Rede und Gegenrede damit auseinander zu setzen. Dass Sie das nicht
machen, bedauere ich außerordentlich.
({0})
Es führt aber kein Weg daran vorbei, noch einmal
über den Krieg zu reden. Ich finde, dass es - zumindest
nehme ich das für mich in Anspruch - nach gründlicher
Prüfung und Selbstprüfung keine moralische, politische,
geschweige denn völkerrechtliche Legitimation für
diesen Krieg gibt. Die Bundesregierung hatte diesen
Krieg mit dem moralischen Argument begründet, Mord,
systematische Vertreibung und ethnische Säuberung zu
beenden. Eine Schlüsselstellung - auch das muss hier
ausgesprochen werden - nahmen dabei das Massaker
von Racak und der so genannte Hufeisenplan ein. Erin-
nern Sie sich an den unwürdigen Vergleich mit Ausch-
witz und den Verteidigungsminister mit seinen Schau-
bildern im Bundestag?
Nun wird quer durch die Presse berichtet - ich zitiere
hier nureinmal das „Hamburger Abendblatt“ -, es gebe
„viele Anzeichen, der Hufeisenplan sei nicht in Belgrad,
sondern in Bonn entstanden“. Sie werden mir, liebe Kol-
leginnen und Kollegen, jetzt nicht antworten können;
das ist Ihr Problem. Aber was denken Sie, wenn General
a. D. Loquai und der Hamburger Friedensforscher Dieter
_______
*) Anlage 2
Lutz zu der Wertung kommen:
Der amerikanische OSZE-Missionsleiter Walker
zündete mit seiner unbewiesenen Version von Racak die Lunte zum Krieg gegen Jugoslawien.
Scharping löschte mit dem „Hufeisenplan“ die Kritik an diesem Krieg. Beide Anschuldigungen wurden, Zweifel hin oder her, ungeprüft für wahr ausgegeben und konnten so ihren Zweck erfüllen.
Ich will noch den Kollegen Willy Wimmer von der
CDU zitieren und hoffe, dass das nicht zu seinem Nachteil ausgelegt wird.
({1})
Wenn ich vom Kollegen Wimmer im Zusammenhang
mit den Auseinandersetzungen lese, dass „noch nie so
wenige so viele so gründlich belogen“ hätten „wie im
Zusammenhang mit dem Kosovokrieg“, so ist das ein
Anlass, über diese Fragen am Vorabend des Jahrestages
des Krieges zu reden. Sie werden das Thema nicht loswerden.
({2})
Für diese Fehler und Falschmeldungen wird sich die
Regierung verantworten müssen. Wir werden das hier
im Plenum noch einmal debattieren. Auch hierbei möchte ich, ohne dass ich mir das jetzt zu Eigen machte, die
Wertung des „Hamburger Abendblattes“, das ja eine
mehr betuliche und nicht links stehende Zeitung ist, vortragen:
Wäre dem so, käme das einem Betrug an Parlament
und Öffentlichkeit gleich, denn auch für eine gerechte Sache bleiben Lügen Lügen. Scharping und
Fischer müssen Konsequenzen ziehen: Entweder
den Verdacht entkräften - oder abtreten.
Ich finde, wir werden uns hier über die Fragen auseinander setzen müssen, was wahr, was gelogen, was gefälscht war und was Bestand hat. Diese Debatte findet
hier im Parlament statt.
Wir müssen uns auch klarmachen, dass sich die Bundesregierung mit ihrer Balkanpolitik in einer Sackgasse
befindet. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat
heute noch einmal festgestellt, dass es keine Konzeption
zur Lösung der Balkanprobleme gebe. Sie kommen aus
der Sackgasse nur heraus, wenn Sie erst einmal zurückgehen. Dazu bieten Ihnen unsere Anträge, jetzt das Embargo und die Sanktionen aufzuheben, somit das Leben
der Menschen in Jugoslawien zu verbessern und gleichzeitig auch Stabilität auf dem Balkan zu schaffen, eine
Chance.
({3})
Ich weiß aus vielen Gesprächen mit den Kolleginnen
und Kollegen und über alle Fraktionen hinweg sehr genau, dass hier im Haus nur eine Minderheit ernsthaft bestreitet, dass Sanktionen und Embargos in der durchgeführten Weise, mit Ausnahme von Waffen, keine Probleme gelöst hätten. Aus vielen Debatten weiß ich, dass
die Kolleginnen und Kollegen, wenn es wirklich um die
Sache geht, unseren Anträgen zustimmen würden. Ich
weiß aber auch, dass ideologische Vorbehalte es schwer
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
machen, hier eine richtige politische Entscheidung zu
treffen.
Trotzdem bitte ich Sie, nicht wegen des Regimes von
Milosevic - das ist mir gleichgültig -, sondern um der
Menschen willen: Machen Sie endlich Schluss mit dem
Embargo und dem Ölboykott und tragen Sie dazu bei,
dass nicht nur die Donau wieder schiffbar wird, sondern
auch die Brücken wieder errichtet werden.
({4})
Das beantragen wir, darüber haben wir diskutiert. Das
wäre ein Akt der Humanität. Diese Fragen sind auch am
Vorabend des Jahrestages des Krieges zu stellen.
Ich finde, dass Sie diese zumindest beantworten müssen,
wenn Sie auch nicht dazu reden wollen.
Herzlichen Dank.
({5})
Die Re-
debeiträge der Kollegen Uta Zapf, Dr. Andreas
Schockenhoff, Dr. Ludger Volmer und Walter Hirche
werden zu Protokoll genommen*). Deswegen schließe
ich jetzt die Aussprache.
({0})
Wir kommen zur Abstimmung: Beschlussempfehlung
des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Frak-
tion der PDS zur Schiffbarmachung der Donau und zum
Wiederaufbau der zerstörten Donaubrücken, Drucksache
14/2996. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/2388 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist diese Beschlussempfehlung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU
und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS angenom-
men.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur Aufhebung der
Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien,
Drucksache 14/2996. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 14/2387 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlussempfehlung
mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur Aufhebung des
Ölembargos gegen Jugoslawien, Drucksache 14/2996.
Der Ausschuss empfiehlt wiederum, den Antrag auf
Drucksache 14/2573 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit
dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
________
*) Anlage
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hermann Gröhe, Monika Brudlewsky, Dr.
Norbert Blüm, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Menschenrechte in der Volksrepublik China
- Drucksache 14/2694 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Hermann Gröhe von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen! Zunächst danke ich Ihnen dafür, dass
Sie bereit sind, zu einer solch späten Zeit noch an dieser
Debatte zu den Menschenrechtsverletzungen in China
teilzunehmen. Ich glaube, dass wir diese nicht zu den
Akten legen dürfen.
({0})
- Da wird aus besonders berufenem Munde zu Menschenrechtsverletzungen gesprochen und konsequenterweise aus dem Saal gegangen. Wer mehr Erfahrung als
Täter denn als Opfer hat, sollte sich vielleicht auch zurückhalten.
({1})
- Wenn Sie die Zwischenrufe unterlassen, werde ich das
sicher tun können.
Anlass für den Antrag der Unionsfraktion sind die
anhaltenden Verschlechterungen der Menschenrechtslage in der Volksrepublik China und die in dieser Woche
begonnene 56. Sitzung der UN-Menschenrechtskommission in Genf. Unser Antrag nennt besonders bedenkliche Entwicklungen: die hohe Zahl der oft in jahrelanger Administrativhaft festgehaltenen Personen, die
große Anzahl von Todesurteilen und die Vielzahl der
Delikte, für die diese verhängt werden, die vielfältigen
Eingriffe in die Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit, die sich etwa bei den Repressionen gegenüber der Falun-Gong-Bewegung, dem erheblichen staatlichen Druck auf Rom treue Katholiken, protestantische
Hauskirchen oder Muslime in Xinjiang zeigen. Dieses
Unrecht muss beim Namen genannt werden.
Einem Bericht der UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson zufolge hat sich in den letzten
zwölf Monaten die Lage gerade im Hinblick auf die
Menschenrechte der Meinungs-, Versammlungs- und
Religionsfreiheit weiter verschlechtert. Das ist ein Ergebnis, zu dem auch der Menschenrechtsbericht des USAußenministeriums kommt. Daher müssen wir bereit
sein, über die Instrumente unserer Menschenrechtspolitik gegenüber China zu diskutieren und sie - wo notwendig - einer kritischen Überprüfung mit der Bereitschaft zu Veränderungen unterziehen. Wir müssen endlich zu einer gemeinsamen westlichen Strategie kommen.
Niemand redet dabei dem Versuch das Wort, China
zu isolieren. Ein solcher Versuch wäre ohnehin zum
Scheitern verurteilt. Niemand missachtet die großen Erfolge, die China im Hinblick auf die Armutsbekämpfung
in diesem bevölkerungsreichsten Land der Erde hat.
Aber bei allen Erfolgen dürfen diese sozialen Menschenrechte nicht gegen die politischen und bürgerlichen
Freiheitsrechte ausgespielt werden. Menschenrechte sind
unteilbar.
({2})
Angesichts der vielfältigen diplomatischen Aktivitäten Chinas als Reaktion auf unseren Antrag füge ich
hinzu: Nicht die kritischen Worte zu den Menschenrechtsverletzungen belasten die Beziehungen, sondern
die Menschenrechtsverletzungen, die die Ursache für
diese Kritik sind.
({3})
Wir wollen den Menschenrechtsdialog mit der Volksrepublik China. Themen müssen die Rechtsreform, die
Ratifizierung der internationalen Pakte und eine konstruktive Lösung der Tibet-Frage im Rahmen des vom
Dalai Lama angebotenen konstruktiven Dialogs sein.
Mit einem wirklichen Dialog verträgt es sich aber nicht,
wenn das chinesische Außenministerium zur Kritik von
Mary Robinson anmerkt, einer Ausländerin stehe kein
Urteil zur Menschenrechtslage in China zu. Mit Dialogangeboten, noch dazu, wenn diese bislang nicht zu wirklich durchgreifenden Verbesserungen führten, dürfen
nicht die Mechanismen der UN-Menschenrechtskommission außer Kraft gesetzt werden. Deshalb muss
es nach unserer Ansicht zu den Bestandteilen einer gemeinsamen westlichen Strategie gehören, die Erfolgsaussichten einer gemeinsamen Resolution in der
UN-Menschenrechtskommission zu prüfen.
Meine Damen und Herren, diese Fragen unserer
Menschenrechtspolitik gegenüber China gehören in das
Parlament. Deswegen begrüße ich, dass auch die F.D.P.
einen entsprechenden Antrag eingebracht hat, auch
wenn er heute leider nicht auf der Tagesordnung steht.
Die Koalitionsfraktionen dagegen vor allem die Grünen,
bleiben nach markigen Sprüchen während der Zeit ihrer
Opposition heute merkwürdig stumm.
({4})
Sie haben bis heute keinen Antrag zur Chinapolitik bzw.
zur Menschenrechtslage in China vorgelegt oder vorlegen können.
({5})
Dieselben Grünen, die noch vor wenigen Jahren - ich
füge hinzu: mit durchaus beachtlichen Argumenten gegen Hermes-Bürgschaften für ein großes Staudammprojekt in China Sturm liefen, finden sich heute mit der
Hermes-Bürgschaft für ein Atomkraftwerk in China ab.
({6})
Aber ich bin sicher, dass Fischer seine Grünen davon
überzeugen wird, dass die Lieferung deutscher Kerntechnik geradezu die zwingende Voraussetzung dafür
ist, den Ausstieg aus der deutschen Kerntechnik in
30 Jahren zu einem wahrhaft globalen Ereignis werden
zu lassen, und sie werden es ihm abnehmen, denn Regieren ist so schön.
Meine Damen und Herren, anders als die grünen
Sprüche vor wenigen Jahren ist unser Antrag kein taktisch motivierter Oppositionsantrag, der auf innenpolitische Schwierigkeiten abzielt. Dazu sind die deutschchinesischen Beziehungen zu wichtig; dazu fühlen wir
uns zu sehr einer vernünftigen Außenpolitik unseres
Landes verpflichtet. Unser Antrag stellt daher eine gute
Grundlage für die Beratungen in den Fachausschüssen
dar, in denen wir dann ausloten können, welche Gemeinsamkeit wir in diesem Haus im Hinblick auf die
Menschenrechtslage in der Volksrepublik China erreichen können. Die unterdrückten Menschen haben klare
und, wenn möglich, gemeinsame Worte von uns verdient.
Vielen Dank.
({7})
Als
nächster Rednerin gebe ich der Kollegin Petra
Ernstberger von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es haben sich schon Erfolge
in der Reformpolitik und bei der Öffnung Chinas ergeben. Trotzdem sind die Menschenrechte im Leben der
Chinesen immer noch nicht Realität geworden sind. Ich
glaube, dass daraus für uns in diesem Parlament, aber
auch für die Regierung Aufgabe und Verpflichtung entstehen.
Ich gebe es ja zu: Auch mich irritiert die späte Stunde
etwas, zu der wir dieses Thema behandeln müssen. Ich
hätte mir dafür einen etwas früheren Zeitpunkt gewünscht.
({0})
Aber wenn es Aufgabe für uns ist, dann muss man
sich auch ein paar Fragen stellen: Müssen wir uns nicht
einsetzen für ein Ende der Verfolgung politischer Dissidenten und die Freilassung von aufgrund ihrer politischen und religiösen Überzeugung inhaftierten Menschen? Müssen wir uns nicht einsetzen für die Abschaffung der Todesstrafe? Müssen wir uns nicht einsetzen
für die Beseitigung der rechtsstaatlichen Defizite und sofort darauf drängen, dass die VN-Menschenrechtspakte
endlich ratifiziert werden?
({1})
Müssen wir uns nicht einsetzen für religiöse Freiheit?
Und vor allem: Müssen wir uns nicht einsetzen für das
Ende der Unterdrückung der tibetischen Kultur und der
tibetischen Gesellschaft?
({2})
Ich beantworte diese Fragen trotz aller Versuche der
Einflussnahme vonseiten Chinas mit einem klaren Ja.
Auch wenn es bei uns Meinungsverschiedenheiten über
die Art und Weise gibt, wie wir darauf zu reagieren haben, gibt es doch einen grundsätzlichen Konsens im
Hause, die Regierung und Parlament auf China dahin
gehend einwirken müssen, die Menschenrechte zu achten. Es bedarf einer Abstimmung nicht nur in unserem
Parlament und in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch mit unseren Partnern in Europa sowie mit den
USA und all den Staaten, die die Menschenrechtskonventionen anerkennen und umsetzen.
Herr Kollege Gröhe hat bereits die UN-Kommissarin
Mary Robinson zitiert. Ich kann das nur unterstreichen.
Auch in anderen Quellen ist nachzulesen, dass sich die
Lage der Menschenrechte in China im letzten Jahr insbesondere in Bezug auf die Rede-, Religions- und Versammlungsfreiheit bedauerlicherweise verschlechtert
hat. Das drückt sich auch in der Verfolgung Andersdenkender und der Verhaftung von Mitgliedern politischer
Gruppen sowie in Aktionen gegen Gewerkschaftsorganisationen aus.
Ganz besonders - auch das hat Herr Kollege Gröhe
schon angesprochen - ist das Problem der Administrativhaft zu kritisieren. Man muss sich das einmal vorstellen: Personen, die sich nach Ansicht der Regierung und
der Polizei unbotmäßig verhalten, können willkürlich
„einkassiert“ und ohne Prozess in die berüchtigten Arbeitslager verbracht werden.
Als Beispiel nenne ich den 26-jährigen Uighuren
Ablikim Abdiriyim, der in der Autonomen Uighurischen
Region Xinjiang festgenommen und misshandelt wurde.
Inzwischen befindet er sich zur „Umerziehung durch
Arbeit“ in der berüchtigten Haftanstalt Wulabai. Offensichtlich reagierten die Behörden darauf, dass seine
Mutter, eine 51-jährige Geschäftsfrau, sich mit einer Delegation des US-Kongresses getroffen haben soll. Ihr
wird vorgeworfen, „Informationen an Ausländer“ bzw.
„Personen im Ausland“ weitergegeben zu haben. Auch
für sie und ihren Mitarbeiter besteht äußerste Gefahr,
verhaftet zu werden. Dieses Schicksal ereilte bereits den
chinesischen Dissidenten Fu Sheng. Nach einem Treffen
mit US-Diplomaten wurde er von der Polizei verhaftet
und misshandelt. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die
Gemeinschaft der freien Staaten kann und darf diese Politik der „Umerziehung durch Arbeit“ nicht dulden.
({3})
An dieser Stelle komme ich auf das schwerwiegende
Problem der Todesstrafe. Die Zahlen sind erschreckend: Allein im Jahre 1998 wurden mindestens 2 701
Todesurteile verhängt und mindestens 1 769 Todesurteile vollstreckt. Rechnet man das für einen Zeitraum von
acht Jahren, nämlich von 1990 bis 1998, zusammen,
kommt man auf mehr als 25 400 Todesurteile und über
16 600 Hinrichtungen. Das ist dokumentiert. Darüber
hinaus muss man davon ausgehen, dass die Dunkelziffer
um vieles höher ist, weil nicht alle Todesurteile und
Hinrichtungen bekannt werden.
Auch wenn man nur von den belegten Zahlen ausgeht, steht als Tatsache fest, dass China das Land ist, in
dem die meisten Menschen exekutiert werden. Nach der
Neufassung des chinesischen Strafgesetzbuches im März
1997 ist die Zahl derer, die mit der Todesstrafe belegt
werden können, sogar noch größer geworden, weil man
den Katalog der Delikte erweitert hat, bei deren Begehen
die Todesstrafe verhängt werden kann.
Ich spreche hier auch von der Verfolgung religiöser
Gruppen wie der Falun Gong, katholischer und protestantischer Christen sowie der Moslems und von der gewaltsamen Unterdrückung ethnischer Minderheiten wie
der Uighuren und Tibeter.
Die Gefahren, die aus Menschenrechtsverletzungen
erwachsen, hat Mary Robinson in einem Satz treffend
zusammengefasst:
Die Menschenrechtsverletzungen von heute sind
die Kriege von morgen.
Ausgesprochen interessant finde ich in diesem Zusammenhang die Auslegung der Menschenrechtssituation von chinesischer Seite. Die chinesische Führung hat
ein Weißbuch unter dem Titel „50 Jahre Fortschritt bei
Chinas Menschenrechten“ veröffentlicht. Darin wird gefordert, dass die Welt doch nun endlich einsehen und
anerkennen solle, dass die Regierung der Volksrepublik
China schließlich 1,2 Milliarden Menschen ernähre und
dass Chinesen in Freiheit und Demokratie lebten. Mich
irritiert schon, mit welcher Unbefangenheit solche Errungenschaften aufgelistet werden.
Die chinesische Führung versucht, negativen Einfluss
auf die USA auszuüben, die angekündigt haben, eine
Resolution zur Menschenrechtspolitik Pekings bei der
Konferenz in Genf einzubringen. Die Führung in Peking
muss mit allen uns zur Verfügung stehenden politischen,
diplomatischen und eventuell auch wirtschaftlichen Mitteln zur Anerkennung und Befolgung der Menschenrechte gedrängt werden.
({4})
Ich freue mich, dass unser Außenminister Fischer
gestern bei der Menschenrechtstagung ganz deutliche
und dezidierte Worte gefunden hat, mit denen er - neben
der Lage der Menschenrechte in Tschetschenien und in
anderen Gebieten, wo Menschenrechtsverletzungen
stattfinden - auch die Situation in China angesprochen
hat.
({5})
Eines müssen wir aber bei unserer Vorgehensweise
berücksichtigen, um eine wirklich konstruktive Menschenrechtspolitik gegenüber China betreiben zu können: die Frage, wie man eigentlich die breite Öffentlichkeit des chinesischen Volkes stärker sensibilisieren
kann. Das ist eine ganz schwierige Aufgabe; denn die
Chinesen selber sind im Prinzip mit ihrem profanen Alltag - Überleben, Kleidung, Reisanbau und Ähnliches beschäftigt und haben eigentlich keine Chance, ihre
Rechte selber einzuklagen. Deswegen ist die Unterstützung von unserer Seite notwendig.
Unser Bundeskanzler hat bei seinem Chinabesuch zu
Recht gefordert, dass die grundlegenden Rechte der
Bürger gestärkt werden müssen.
({6})
Er hat einen Brief an Herrn Bindig, unseren Sprecher
der Arbeitsgruppe Menschenrechte, geschrieben, in dem
er mitteilt:
Es ist nicht möglich, die rechtlichen Grundlagen,
die für die weitere wirtschaftliche Entwicklung
Chinas auszubauen oder noch zu schaffen sind, getrennt von den grundlegenden Rechten der Bürger
zu entwickeln, etwa von denen auf Informationsund Meinungsfreiheit oder denen auf Teilhabe an
staatlichen Entscheidungen und unabhängige Kontrolle des Verwaltungshandels. Beides gehört
zwangsläufig zusammen.
({7})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir müssen
versuchen, im europäischen Konsens, das heißt multilateral, aber auch bilateral in unseren Beziehungen zu
China einen Weg des Dialoges und eine Weiterentwicklung ohne Sanktionen zu finden; denn Sanktionen lehne
ich ab, da sie im Prinzip wenig oder gar nichts gebracht
haben. Wir müssen vielmehr versuchen, auf vielen Feldern gemeinsam Einfluss auf die Volksrepublik China
auszuüben, die Menschenrechte einzufordern und den
Willen unseres Hauses zu zeigen.
Es wäre schön gewesen, wenn wir einen Antrag hätten vorlegen können, den mehr Fraktionen unterstützt
hätten. Herr Gröhe, Sie haben gerade ein Angebot gemacht. Ihr Antrag wird sowieso in die Ausschüsse
überwiesen. Dort können wir uns dann darüber noch
einmal konkret unterhalten. Die Menschenrechte haben
es verdient, dass wir alle an einem Strang ziehen.
({8})
Ich bitte,
die Reden von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger*)
und dem Kollegen Carsten Hübner**) zu Protokoll
nehmen zu dürfen. Findet das Ihr Einverständnis? - Das
ist der Fall.
Dann gebe ich der Kollegin Claudia Roth vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Guten Abend, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße es, dass der Deutsche
Bundestag auch zu dieser späten Stunde angesichts der
zurzeit tagenden Menschenrechtskommission in Genf
zum Thema „Menschenrechte in China“ eine Debatte
führt. Ich begrüße dies erstens, weil zwar viel über Menschenrechte gesprochen wird, aber selten hier im Hohen
Hause, und zweitens, weil wir - auch zu dieser späten
Stunde - ein Zeichen setzen sollten und Reden über die
Situation der Menschenrechte in China nicht zu Protokoll geben sollten. Da schließe ich mich Hermann Gröhe
an.
({0})
Ich glaube, es ist richtig, die bittere Realität in Chi-
na anzusprechen. Ich begrüße den vorliegenden Antrag
der CDU/CSU-Fraktion und den jetzt zwar noch nicht
vorgelegten, aber schon ausgedruckten Antrag der
F.D.P.-Fraktion. Ich bin überzeugt, dass wir, wie Frau
Ernstberger gesagt hat, im federführenden Menschen-
rechtsausschuss eine sehr breite, eine interfraktionelle
Initiative zustande bekommen.
Dass sich die Menschenrechtssituation in China nicht
verbessert hat - ganz im Gegenteil -, dass viele Erwar-
tungen einen empfindlichen Dämpfer bekommen haben,
haben meine Vorrednerin und mein Vorredner schon
deutlich gemacht. Die Liste der Menschenrechtsverlet-
zungen ist unendlich lang. Ich erinnere in diesem Zu-
sammenhang an die exzessive Anwendung der Todes-
strafe, an die Ausweitung der Delikte, bei deren Bege-
hen die Todesstrafe verhängt wird - allein in China wer-
den mehr Todesstrafen vollstreckt als im Rest der
Welt -, an die massiven Einschränkungen der politi-
schen und bürgerlichen Freiheitsrechte, an die Verbote
von Parteigründungen, an die Kriminalisierung von Op-
positionellen, an die drakonischen Strafen gegen Oppo-
sitionelle, an die wirklich schlimmen Zustände im Straf-
vollzug, an die Einschränkung der freien Religionsausübung,
__________
*) Anlage 3
**) Der Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss noch
und zwar nicht nur im Hinblick auf Falun Gong.
Und schließlich erinnere ich - das sollte nicht vergessen
werden, mehr noch: Das sollte immer wieder angesprochen werden - an die anhaltende Unterdrückung der
Kultur und Religion der Tibeter.
Ich bin überzeugt, dass sich die Glaubwürdigkeit
und die Effizienz der internationalen Menschenrechtspolitik auch daran messen lassen müssen, wie es
zum einen gelingt, die Missstände in einem so großen
und bedeutenden Land wie China angemessen anzusprechen bzw. zu kritisieren, und wie es zum anderen gelingt, einen Prozess der Veränderung, einen Prozess der
Reformen bzw. der Dynamik hin zu politischer Erneuerung, zu einem Rechtsstaatsdialog mit zu initiieren und
mit zu unterstützen.
Es geht also nicht darum - auch hier teile ich die Auffassung meiner Vorrednerin und meines Vorredners -,
zu isolieren oder eine Blockade zu betreiben. Es geht
vielmehr darum, die wirtschaftliche Öffnung notwendigerweise mit einer politischen Öffnung zu verbinden.
({1})
Es geht darum, klarzumachen, dass Stabilität immer auf
einer gesicherten Lage der Menschenrechte und der
Rechtsstaatlichkeit beruht und dass das letztendlich im
wirtschaftlichen Interesse liegt.
In Genf geht es jetzt darum, ein deutliches Zeichen zu
setzen. Ich erwarte mir von Genf, dass die Europäische
Union eine starke, gemeinsame Position vertritt, dass
die vorliegenden Anträge unterstützt werden und dass
eine Menschenrechtsdynamik initiiert wird - Frau
Ernstberger hat das schon angesprochen -, die darauf
hinwirkt, dass internationale Pakte, zum Beispiel die
beiden großen UNO-Pakte im letzten Jahr, nicht nur unterzeichnet, sondern endlich auch ratifiziert werden.
({2})
Dies war heute Abend sicher nicht die letzte Debatte,
die wir über die Situation in China geführt haben. Wir
werden uns im Menschenrechtsausschuss mit China befassen. Zudem wird der Menschenrechtsausschuss im
September dieses Jahres nach China und Tibet fahren.
Gestatten Sie mir noch einen Satz zu Hermann
Gröhes fulminanter Rede, die ich in vielen Punkten teilen kann: Ich bin voll davon überzeugt, dass Sie/du mit
mir der Auffassung sind/bist, dass Menschenrechte mit
Panzern nicht besonders effizient geschützt werden.
Glauben Sie/glaube mir: Ich hätte mir tatsächlich etwas
anderes vorstellen können als eine AKW-Bürgschaft.
Menschenrechte haben immer etwas mit Hoffnung zu
tun. Deswegen zu dieser späten Stunde folgender Satz:
Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.
({3})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Heute
Morgen war der Saal voll und das Medieninteresse war
groß, als es um Artenschutz ging. Jetzt geht es um Menschenschutz. Aber es sind nur 30 Kolleginnen und Kollegen und eine Hand voll Staatssekretäre anwesend,
wenn ich richtig gezählt habe.
({0})
Das ist symptomatisch für Ihre vielfältige Unglaubwürdigkeit im Umgang mit dem Thema Menschenrechte.
Damit bin ich beim ersten Punkt, der mir wichtig ist.
Im November 1984 sprach Joschka Fischer von der
Hohlwangigkeit der westdeutschen Demokratie und
mahnte in der Menschenrechtspolitik eine anständige,
moralische politische Kultur an. Das war noch der
Joschka Fischer, wie wir ihn - vor allen Dingen Sie kannten.
({1})
Der Bundesaußenminister Joseph Fischer hat noch im
Januar, als er in Moskau war, gesagt: Der Tschetschenienkrieg ist eine politische und humanitäre Katastrophe.
({2})
Auch das war noch der Joschka Fischer. Aber im gleichen Atemzug sagt er - so ist jetzt der Joseph Fischer -:
Isoliert mir Russland nicht!
({3})
Wir dürfen unser Verhältnis zu Russland nicht auf
Tschetschenien reduzieren. Dazu ist uns Russland zu
wichtig. - So viel zum heutigen Joseph Fischer.
Ich würde Ihnen allen, vor allem Rot-Grün, gern zum
Beitritt zum Klub der Realisten gratulieren, wenn die
Chinapolitik von Joschka Fischer nicht eine gespaltene
Politik wäre. Nach der Rede des Bundesaußenministers
vor der Menschenrechtskommission in Genf vorgestern
ist klar geworden: Die Europäer werden keine chinakritische Resolution verabschieden. Stattdessen werden sie
eine Resolution gegen die Staaten verabschieden - besonders die USA sind damit gemeint -, die die Todesstrafe noch nicht abgeschafft haben.
Das ist symptomatisch: Man geht gegen die USA und
die Türkei vor und rügt sie wegen ihrer Menschenrechtsverletzungen. Man will der Türkei den Leopard 2
nicht ausliefern, wohlwissend, dass deutsche Panzer nie
für irgendwelche Einsätze gegen Kurden in der Türkei
eingesetzt worden sind. Man geht gegen die USA, die
Claudia Roth ({4})
Türkei und andere Verbündete vor. Das scheint Methode
zu sein. Wenn es aber um Russland und China geht,
dann wird der Schongang eingelegt.
({5})
- Ich mache gleich einen Vorschlag. Bitte lassen Sie mir
noch etwas Zeit.
Auch Sie wissen, Herr Kollege Ströbele, dass das,
was wir Menschenrechte nennen, auf ein Naturrecht zurückgeht, das wir im Europa des 17. Jahrhunderts entwickelt haben. Dieser Naturrechtsgedanke ist den Chinesen
fremd. Sie haben eine andere Entwicklung genommen,
die wir zunächst einmal respektieren müssen. Das heißt:
Das Individuum hat in China nach der konfuzianischen
Regelgeschichte nicht die Bedeutung wie bei uns. Man
muss also die Vergangenheit einer 5 000 Jahre alten Zivilisation verstehen, will man die Gegenwart Chinas begreifen.
Zum Umgang mit den Menschenrechten in China:
Wir sollten Menschenrechtsverletzungen in China
selbstverständlich anprangern.
({6})
Wir sollten hier mit einer Stimme sprechen und unsere
Stimme erheben. Wir sollten das aber konsequent und
vor allem für China berechenbar tun, sodass China gerade aufgrund seiner Mentalität, das Gesicht wahren zu
wollen, nicht unnötigerweise an den Pranger gestellt
wird. Wir sollten also den Weg der stillen Diplomatie
gehen. Das tut Joschka Fischer in gewisser Weise. Er
will sich nur nicht von Ihnen dabei erwischen lassen.
Die janusgesichtige Politik, die Außenminister
Joschka Fischer bezüglich der Menschenrechte in China
an den Tag gelegt hat, werden die Chinesen natürlich
durchschauen. Sie ist nicht glaubwürdig. Es ist eine Politik, die den Respekt vor uns Deutschen nicht erhöht,
sondern schmälert, die eher Verachtung und Geringschätzung auslöst als Bewunderung. Er hat als Außenminister die Hermes-Bürgschaften genehmigt. Dafür
aber die politische Verantwortung lediglich auf Ihrem
Parteitag zu übernehmen ist lächerlich.
Meine Damen und Herren, wenn einem Außenminister in seinem Geschäftsbereich so etwas passiert, dann
gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder der betreffende
Beamte wird in einen Bereich versetzt, wo er nie mehr
Schaden anrichten kann - man nennt das die Besenkammer -, oder aber das Ganze ist mit seinem klammheimlichen Wissen erfolgt. Dann muss ich mich aber
fragen: Hat er Sie auf Ihrem Parteitag belogen oder ist er
unfähig, sein Amt als Außenminister auszuüben?
({7})
Ich komme zum Schluss: Man kann nicht auf der einen Seite Hermes-Bürgschaften genehmigen und auf der
anderen Seite als grüner Minister den chinesischen Außenminister vor Journalisten öffentlich rügen und scharf
angreifen. Man kann nicht auf der einen Seite in Genf
China gegenüber eine ganz pragmatische Menschenrechtspolitik an den Tag legen, ohne auf der anderen
Seite dafür zu sorgen, dass es zu einer Resolution
kommt. Das ist unglaubwürdig. Das ist kein richtiger
Umgang mit dem Thema Menschenrechte. Deswegen
muss Außenminister Fischer gerügt werden. Das war
meine Aufgabe.
({8})
Als letztem Redner gebe ich Staatsminister Dr. Ludger Volmer
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die
Lage der Menschenrechte in der Volksrepublik China
hat sich gerade im zentralen Bereich der politischen
Freiheitsrechte nicht verbessert, sondern - leider - erneut massiv verschlechtert. Bundesaußenminister
Fischer hat das in seiner Rede vor der Menschenrechtskommission in Genf in aller Deutlichkeit zum Ausdruck
gebracht.
({0})
Die Verfolgung und Drangsalierung Andersdenkender seien es politische Dissidenten oder Angehörige der
christlichen Kirchen und Anhänger von Falun Gong,
seien es Angehörige ethnischer Minderheiten wie der
Tibeter und Uighuren - haben im letzten Jahr wieder erheblich zugenommen. Die Unterdrückung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie schwere rechtsstaatliche Defizite bleiben an der Tagesordnung.
Die Bundesregierung bringt die Menschenrechtsdefizite in der Volksrepublik China gegenüber ihren chinesischen Gesprächspartnern konsequent und auf allen Ebenen zur Sprache. Ihr Vorgehen in Genf stimmt die Bundesregierung eng im EU-Kreis wie auch mit anderen
westlichen Partnern ab. Nur gemeinsam kann es gelingen, die Volksrepublik China zu einer substanziellen
Verbesserung der Menschenrechtslage zu bewegen.
Wir müssen uns aber auch darüber im Klaren sein:
Solange die KP Chinas nicht bereit ist, auf ihr Machtmonopol zu verzichten, solange es keine Trennung von
Partei und Staat gibt, wird es in China Dissidenten geben. Der weitere Fortgang der Reformpolitik wird ohne
eine echte politische Öffnung nicht mehr lange möglich
sein. Die chinesische Führung weiß, dass die angestrebte
WTO-Mitgliedschaft hier eine Sogwirkung auslösen
kann. China braucht nicht nur eine offene Wirtschaft,
sondern auch eine offene Gesellschaft, wenn es die für
die Wahrung seiner inneren Stabilität notwendigen wirtschaftlichen Zuwachsraten auch in Zukunft sicherstellen
will.
({1})
Das bedingt zum Beispiel die weitere Öffnung in
Richtung auf eine globale Informationsgesellschaft.
Die Zahl der Internetanschlüsse in der VR China hat
sich in den letzten fünf Jahren von 1 Million auf über
10 Millionen verzehnfacht. Der Versuch, durch restriktive Vorschriften über Verschlüsselung Kontrolle im Internet sicherzustellen, ist fehlgeschlagen: Die chinesische Regierung sah sich genötigt, in einem erläuternden
Zirkular die Einschränkungen zu entschärfen - ein in der
chinesischen Verwaltungspraxis bisher einmaliger Vorgang.
Diese Prozesse in Richtung auf eine gesellschaftliche
und politische Öffnung zu unterstützen ist ein wichtiges Element der deutschen Chinapolitik. Hier setzt auch
die Rechtsstaatsinitiative des Bundeskanzlers an. Peking
hat sich bereit erklärt, beim weiteren Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen mit Deutschland zusammenzuarbeiten.
Die Regierungschefs haben vereinbart, die Fortschritte
dieser Zusammenarbeit bei ihren Treffen regelmäßig zu
überprüfen. Wir streben dabei eine Zusammenarbeit auf
möglichst breiter Ebene an. Die Bundesregierung ist
auch bereit, die chinesische Regierung im Hinblick auf
die baldige Ratifizierung der beiden VN-Menschenrechtspakte zu beraten.
({2})
Die Bundesregierung hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie - wie auch die Regierungen unserer
Partner - eine Ein-China-Politik verfolgt. Das heißt
aber auch, dass wir erwarten, dass Peking - sei es in der
Tibetfrage, sei es in Bezug auf Taiwan - sich im Wege
des friedlichen Dialogs um konstruktive Lösungen bemüht. In der Tibetfrage setzen wir uns mit Nachdruck
dafür ein, dass es endlich zu einem direkten Dialog zwischen der chinesischen Regierung und dem Dalai Lama
kommt.
({3})
Meine Damen und Herren, ich habe in dieser Debatte
sehr viel Konsens zwischen den Fraktionen gehört. Da
es unser Ziel ist, möglichst eine einheitliche Haltung aller Europäer herbeizuführen, um politisch schlagkräftig
zu sein, würde die Bundesregierung es sehr begrüßen,
wenn sich die Fraktionen des Bundestages auf einen
gemeinsamen Antrag verständigen und wir diesen in der
Kerndebatte des Bundestages diskutieren könnten.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/2694 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung angelangt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 24. März 2000,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.