Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/16/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Ehrentribüne haben der Präsident der Saeima der Republik Lettland, Herr Jãnis Straume, und seine Delegation Platz genommen. Ich begrüße Sie und die begleitenden Mitglieder auch von diesem Platz aus noch einmal sehr herzlich im Namen des Deutschen Bundestages. ({0}) Herr Präsident, es ist uns eine große Freude, Sie und Ihre Begleitung zu einem offiziellen Besuch zu Gast zu haben. Der Deutsche Bundestag misst der zukunftsträchtigen Zusammenarbeit unserer Parlamente insbesondere bei der Gestaltung eines gemeinsamen Europa große Bedeutung zu. Wir verfolgen mit Aufmerksamkeit die Entwicklung in Ihrem Lande auf dem Wege zu demokratischer Souveränität, wirtschaftlicher Stabilität und finanzpolitischer Eigenständigkeit. Umso mehr freut uns die Aufnahme Lettlands in den engen Kreis der EUBeitrittskandidaten. Seien Sie versichert, dass wir alle Bemühungen um die EU-Beitrittsfähigkeit Ihres Landes und dessen Annäherung an die NATO mit freundschaftlicher Anteilnahme begleiten und weiterhin nach besten Kräften unterstützen werden. Fühlen Sie sich herzlich willkommen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland sind bestürzt über die Hochwasserkatastrophe, die Mosambik in den letzten Wochen heimgesucht hat. ({2}) Nach bislang vorliegenden Angaben wurden 80 000 Familien obdachlos. Noch ist unbekannt, wie vielen Menschen dieses Unglück ihr Leben gekostet hat. Unvorstellbar ist das Ausmaß der Katastrophe, allenfalls biblische Darstellungen vermögen uns einen Eindruck zu vermitteln von der gigantischen Zerstörung, die die gerade erst herangereiften Hoffnungen eines der ärmsten Länder der Welt zunichte zu machen droht. Wir alle sind aufgerufen, über die dringend notwendige Soforthilfe hinaus diesen Menschen, die alles verloren haben, über den Tag hinaus zu helfen, auch wenn die Bilder dieser Tragödie nicht mehr auf den Bildschirmen erscheinen. Den Frauen und Männern des Bundesgrenzschutzes und der Bundeswehr, die vermutlich noch länger als ursprünglich geplant in Mosambik Hilfe leisten werden, danke ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich für ihre aufopfernde und gefahrvolle Arbeit. Wir gedenken mit Anteilnahme der Toten in Mosambik. - Ich danke Ihnen. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich einer Reihe von Kollegen zu einem runden Geburtstag gratulieren: Heute, am 16. März 2000, feiert der Kollege Dr. Rainer Jork seinen 60. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch! ({3}) Nachträglich gratuliere ich den Kollegen Albrecht Feibel und Horst Schmidbauer ({4}) ebenfalls zum 60. Geburtstag, dem Kollegen Heinz Schemken zum 65. Geburtstag und dem Kollegen Dr. Heiner Geißler zu seinem 70. Geburtstag. ({5}) Im Namen des ganzen Hauses spreche ich Ihnen unsere herzlichen Glückwünsche aus. Die Fraktion der SPD teilt mit, dass der Kollege Frank Hofmann sein Amt als Schriftführer niedergelegt hat. Als Nachfolger wird der Kollege Reinhold Strobl ({6}) vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Strobl als Schriftführer gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der folgenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Bundespolitische Auswirkung der neuerlichen Parteispendensammelaktion ({7}) 2. Weitere Überweisungen im Vereinfachten Verfahren ({8}): a) Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung einer Steuerreform für Wachstum und Beschäftigung - Drucksache 14/2903 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({9}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, Heidemarie Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Besteuerung der Unternehmen nach deren Leistungsfähigkeit - Drucksache 14/2912 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({10}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie c) Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung des Mitgliederkreises von Bundesknappschaft und See-Krankenkasse - Drucksache 14/2904 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({11}) Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan Hilsberg, Brigitte Wimmer ({12}), Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Matthias Berninger, Hans-Josef Fell, Kerstin Müller ({13}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine Modernisierung der Ausbildungsförderung für Studierende - Drucksache 14/2905 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({14}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss 3. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({15}) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übergangsgesetzes aus Anlass des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften - Drucksache 14/2809 - ({16}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie - Drucksache 14/2922 Berichterstattung: Abgeordneter Christian Lange ({17}) 4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Kritische Bewertung der Umweltpolitik der Bundesregierung durch den Umwelt-Sachverständigenrat 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Mertens, Hans-Günter Bruckmann, Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert Schmidt ({18}), Franziska Eichstädt-Bohlig, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur Thüringen/Nordbayern im Rahmen des Verkehrsprojektes „Deutsche Einheit“ ({19}) Nr. 8 Schienenneubaustrecke Nürnberg-Erfurt-Halle/LeipzigBerlin - Drucksache 14/2906 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({20}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich, Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P: Ja zur Schienenneubaustrecke Nürnberg-Erfurt-Halle/LeipzigBerlin - Drucksache 14/2914 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({21}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Christine Ostrowski, Eva-Maria Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Flächenhafter Ausbau der Schienenwege im Bereich Nordbayern, Hessen, Thüringen und Sachsen - Drucksache 14/2525 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({22}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss 8. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Umweltcontrolling und Umweltmanagement in Bundesbehörden und Liegenschaften - Drucksache 14/2907 Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden. Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 87. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Innenausschuss zur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Birgit Homburger, Hildebrecht Braun ({23}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Nordseeküste schützen, Küstenwache einrichten, international besser zusammenarbeiten - Drucksache 14/548 überwiesen: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({24}) Innenausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Der in der 88. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und dem Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder zur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Eine Steuerreform für mehr Wachstum und Beschäftigung - Drucksache 14/2688 Präsident Wolfgang Thierse überwiesen: Finanzausschuss ({25}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss Der in der 88. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innenausschuss zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Fraktion SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung ({26}) - Drucksache 14/2683 überwiesen: Finanzausschuss ({27}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Der in der 90. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Steuerberater ({28}) - Drucksache 14/2667 überwiesen: Finanzausschuss ({29}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Die in der 91. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesenen nachfolgenden Gesetzentwürfe sollen zusätzlich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Abgeordneten Eva BullingSchröter, Rolf Kutzmutz, Ursula Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS zur Sicherung und zum Ausbau der gekoppelten Strom- und Wärmeerzeugung ({30}) - Drucksache 14/2693 überwiesen: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({31}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Gesetzentwurf der Fraktion SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Schutz der Stromerzeugung aus Kraft-Wärme-Kopplung ({32}) - Drucksache 14/2765 überwiesen: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({33}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- sen. Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Aktionsplan der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen - Drucksache 14/2812 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({34}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hanna Wolf ({35}), Lilo Friedrich ({36}), Dr. Cornelie SonntagWolgast, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Irmgard Schewe-Gerigk, Marieluise Beck ({37}), Claudia Roth ({38}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ausländergesetztes - Drucksache 14/2368 ({39}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({40}) - Drucksache 14/2902 Berichterstattung: Abgeordnete Rüdiger Veit Erwin Marschewski ({41}) Marieluise Beck ({42}) Ulla Jelpke Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Christine Bergmann.

Christine Bergmann (Minister:in)

Politiker ID: 11005290

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Gewalt gehört für viele Frauen in Deutschland leider noch immer zum Alltag. Mehr als 50 000 Frauen flüchten jährlich mit ihren Kindern ins Frauenhaus. Nach Schätzungen ist jede dritte Frau in Deutschland von häuslicher Gewalt betroffen und jede siebte Frau ist bereits einmal in ihrem Leben Opfer einer Vergewaltigung oder sexueller Nötigung geworden. Ein weiteres großes Problem in Deutschland ist der Frauenhandel. 1998 registrierte die Polizei etwa 1 300 weibliche Opfer des Menschenhandels. Wie wir wissen, liegt die Dunkelziffer aber weitaus höher. Präsident Wolfgang Thierse Gewalt verletzt die Integrität, die Würde von Frauen und ihr Recht auf Selbstbestimmung in eklatanter Weise. Dieser Gewalt vorzubeugen und von Gewalt betroffenen Frauen Schutz und Hilfe zu bieten sind Aufgaben, die der Staat besser als bisher wahrzunehmen hat. ({0}) Über lange Jahre war Gewalt gegen Frauen ein Thema, das weitgehend tabuisiert und als Privatsache behandelt wurde. Das hieß natürlich auch, dass Täter nicht konsequent zur Rechenschaft gezogen und Opfer nicht ausreichend geschützt wurden. Damit muss endlich Schluss sein. ({1}) Deshalb hat diese Bundesregierung den Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen beschlossen. Damit liegt erstmals ein umfassendes und ressortübergreifendes Programm vor, ein Gesamtkonzept, eine langfristige Strategie. Daran sind viele beteiligt. Die Regierung hat damit klargestellt: Die Bekämpfung von Gewalt, insbesondere von Gewalt gegen Frauen, ist für sie ein vordringliches politisches Ziel. Ich denke, das ist eine gute und ganz wichtige Botschaft an die vielen Frauen im Lande, die von Gewalt betroffen sind. ({2}) Das ist eine wichtige Botschaft auch an die vielen Frauen und Männer, die versuchen, von Gewalt betroffenen Frauen und Kindern zu helfen. Die Arbeit dieser Frauen und Männer ist nicht immer ganz einfach. Aber es ist auch eine gute und wichtige Botschaft an die Gesellschaft insgesamt, dass es eine Regierung gibt, die angetreten ist, Gewalt in der Gesellschaft wirklich auf allen Ebenen wirksam zu bekämpfen. ({3}) Wir wollen mit diesem Aktionsplan strukturelle Veränderungen erreichen, und zwar in allen Bereichen, von der Prävention über die Täterarbeit und die bessere Vernetzung von Hilfsangeboten bis hin zu rechtlichen Maßnahmen und einer stärkeren Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Ich sage ganz klar: Gewalt gegen Frauen ist kein Frauenproblem. Es ist ein Problem patriarchalischer Strukturen, ein Problem von Männern; es ist ein Problem unserer gesamten Gesellschaft und unseres Rechtsstaats. Wir wollen mit diesem Aktionsplan einen Paradigmenwechsel in der Antigewaltarbeit in Deutschland herbeiführen. Das ist dringend nötig. ({4}) Es geht eben nicht mehr ausschließlich um die natürlich wichtigen und unverzichtbaren Anlaufstellen für betroffene Frauen. Es geht nicht nur darum, betroffenen Frauen in dieser schwierigen Situation eine Anlaufstelle, einen Platz, wo sie hingehen können, zu bieten; vielmehr geht es um eine gesamtgesellschaftliche Ächtung und Verfolgung von Gewalt gegen Frauen. Gewalt im häuslichen Bereich ist keine Privatsache und danach muss gehandelt werden. Der Rechtsstaat hat dafür zu sorgen, dass seine Bürgerinnen und Bürger so gut wie möglich vor Gewalt geschützt werden. Am häufigsten erfahren Frauen Gewalt in sozialem Nahraum, durch Bekannte und Verwandte. Und was geschieht? Die Täter werden häufig nicht angezeigt, weil die betroffenen Frauen auf ein staatliches Eingreifen zu ihren Gunsten nicht vertrauen. Sie haben zum Teil wirklich sehr negative Erfahrungen gemacht. Alle, die sich in diesem Bereich einmal umgesehen haben, kennen die unsäglichen Leidensgeschichten vieler Frauen und die mangelnde Hilfe, die Frauen in dieser Situation erfahren haben. Das heißt dann in der Folge eben auch: Viele Täter bleiben ohne Strafe und die von Gewalt betroffenen Frauen müssen mit ihren Kindern - häufig, nachdem sie dieser Gewalt über Monate oder Jahre ausgesetzt waren - aus dem vertrauten Umfeld in ein Frauenhaus oder zu Bekannten flüchten. Das kann von einem Rechtsstaat nicht hingenommen werden. Es muss das Ziel sein, die gegen die Frau gerichtete Gewalt zu beenden und ihr Sicherheit zu gewähren. Ich denke, dass wir dazu nachher von der Bundesjustizministerin noch sehr viel ausführlicher etwas hören werden. Meine Damen und Herren, ein solches umfassendes Gesamtkonzept, wie wir es mit dem Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen verfolgen, umfasst natürlich auch Zuständigkeitsbereiche der Länder und Kommunen. Das betrifft neben den Bereichen, über die die Justizministerin sprechen wird, vor allen Dingen auch den Erhalt eines möglichst flächendeckenden Netzes an Hilfsangeboten, seien es Frauenhäuser, Frauenberatungsstellen, Notrufe, spezielle Therapieeinrichtungen oder Interventionsstellen. Mit einer engen Kooperation vor Ort zwischen den beteiligten Institutionen und Beratungsstellen haben wir bisher sehr gute Erfahrungen gemacht. Deswegen fördern wir solche Kooperationen auch. Es gibt ja schon zwei Interventionsprojekte - wir haben darüber bereits gesprochen - in Berlin und in Schleswig-Holstein. Die positiven Erfahrungen, die hier gemacht worden sind, sind übertragbar; deswegen werden die Ergebnisse aus diesen Interventionsprojekten auch allen anderen Ländern und Kommunen zur Verfügung gestellt. Und natürlich geht es bei der Vernetzung von Hilfseinrichtungen auch darum, diese Vernetzung zu fördern. Das tun wir. Wir fördern finanziell die Vernetzung der Frauenhäuser, der Notrufe, der Beratungsstellen gegen Frauenhandel, weil wir nur über diese Vernetzung eine zielgenaue effektive Arbeit zugunsten der betroffenen Frauen erreichen können. Meine Damen und Herren, ich sagte schon, dass die Umsetzung des Gesamtkonzepts eine sehr enge Kooperation zwischen Bund und Ländern erfordert. Wir werden deshalb neben der bereits bestehenden Arbeitsgruppe zur Bekämpfung von Frauenhandel eine BundLänder-Arbeitsgruppe einrichten, die den gesamten Umsetzungsprozess begleitet und in der natürlich auch die Frauenprojekte mit vertreten sind. Dadurch versprechen wir uns eine sehr gute Kooperation. Wenn wir aber Gewalt gegen Frauen wirksam bekämpfen wollen, meine Damen und Herren, dann brauchen wir auch einen anderen Umgang mit den Tätern. Dazu gehört neben einer konsequenten - auch strafrechtlichen - Verfolgung ein Prozess, der zur Änderung des gewalttätigen Verhaltens dieser Täter gewissermaßen auffordert oder diese Änderung bewirkt. Wir haben deshalb in unserem Gesamtkonzept auch täterorientierte Maßnahmen vorgesehen, die diese Verhaltensänderungen bei Tätern initiieren müssen. In diesem Bereich haben wir in Deutschland noch sehr wenig eigene Erfahrungen; es gibt Konzepte, aber noch nicht viele Erfahrungen. Wir werden in der nächsten Zeit verstärkt auf die europäischen Erfahrungen, die es in dem einen oder anderen Fall schon gibt, zurückgreifen und auf dem Weg über eine Konferenz die Kooperation mit anderen Ländern ausbauen. Aber, meine Damen und Herren, nicht nur deutsche Frauen sind von Gewalt betroffen, wie wir wissen - wir reden ja heute auch über die Änderung des § 19 des Ausländergesetzes -; für viele ausländische Frauen ist die Situation dramatisch, wenn sie - aufgrund der Tatsache, dass sie sich und ihre Kinder vor ihrem prügelnden Ehemann in Sicherheit bringen wollen - nicht vor einer Beendigung des Aufenthaltsrechtes geschützt sind, wenn also nicht die Täter bestraft werden, sondern die Opfer. Daher ist die Novellierung des § 19 Ausländergesetz so wichtig. Um diese Reform ist ja lange gerungen worden. Ich habe das auf unterschiedlichen Ebenen mit unterstützt und denke, das ist heute wirklich eine gute Botschaft an viele in diesem Land. Viele Frauen - über die Parteigrenzen hinweg - in Organisationen, Verbänden und Kirchen haben dieses Thema zu ihrer eigenen Sache gemacht. Hier muss man den vielen danken, die immer mitgezogen haben ({5}) - nicht zuletzt natürlich auch dem Innenministerium -, die wirklich in vorbildlicher Weise versucht haben, diese Rechtsänderung zu erreichen. Das ist ein Beitrag zur Stärkung der Menschenrechte von Frauen und es ist auch ein Beitrag zum Abbau von Gewalt. Meine Damen und Herren, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen ist eine Aufgabe, die über nationalstaatliche Grenzen hinausgeht und internationale Kooperation erfordert. Wir haben unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft auf unserem Kongress in Köln schon die EU-Kampagne zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt initiiert. Wir stehen hier in einer sehr engen Kooperation. Es ist sehr wichtig, dass die EU-Staaten und auch die assoziierten Staaten, die in diesem Bereich mitarbeiten, hier nicht locker lassen und dass sie kooperieren. Wir haben übrigens auch festgelegt, in den jeweiligen Mitgliedstaaten Aktionspläne umzusetzen. Dadurch ist es uns in unserer Ratspräsidentschaft auch gelungen, das DAPHNE-Programm, das seit dem 1. Januar 2000 läuft, im Rat durchzusetzen, was nicht ganz einfach war. Damit haben wir die Chance, insbesondere die Nichtregierungsorganisationen bei der präventiven Arbeit und der Arbeit der Beratungsstellen zu unterstützen, dort neue Möglichkeiten zu schaffen. Wir wissen alle, dass bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen nur ein gemeinsames und konsequentes Vorgehen langfristig Erfolg verspricht. Wir haben diesen Weg mit der Verabschiedung des Aktionsprogrammes im Dezember ganz konsequent beschritten. Ich sage noch einmal: Das ist ein Programm der gesamten Bundesregierung; alle stehen hinter diesem Programm. Ich habe in den letzten Wochen und Monaten bei meinen Besuchen in Frauenhäusern und Beratungsstellen erlebt, dass die Frauen, die dort arbeiten, sehr froh sind, dass sie endlich die notwendige Unterstützung und Hilfe bekommen, die sie für ihre Arbeit brauchen. Ich höre auch von Bürgerinnen und Bürgern, dass sie froh sind, dass diese Regierung endlich an vielen Stellen Ernst damit macht, die Gewalt in der Gesellschaft ganz konsequent zu bekämpfen. ({6}) Es muss klar sein - das sollen auch die betroffenen misshandelten Frauen wissen -, dass die Bekämpfung der Gewalt, dass der Schutz dieser Frauen ein vordringliches Anliegen dieser Bundesregierung ist. Danke schön. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Ilse Falk, CDU/CSU-Fraktion.

Ilse Falk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000513, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von all den Themen, die uns jedes Jahr anlässlich des Internationalen Frauentages näher gebracht werden, ist eines der wichtigsten die Gewalt gegen Frauen. Es ist auch eines der bedrückendsten Themen. Wir können uns nicht hinter der Tatsache verstecken und darauf verweisen, dass im Wesentlichen Frauen in anderen Ländern davon betroffen sind und wie schrecklich jene Frauen dran sind, sondern es geht wirklich um Gewalt an Frauen in unserem eigenen Land. Es geht um körperliche, seelische und sexuelle Gewalt gegen die, die in der Regel von ihren Misshandlern abhängig und kräftemäßig die Unterlegenen sind. Wir haben von der Ministerin Zahlen gehört, die erschrecken und zugleich deutlich machen, dass wir, wie wir es heute tun, öffentlich darüber reden müssen und dass wir die Öffentlichkeit für das sensibilisieren müssen, was nebenan geschieht. Denn überwiegend finden diese Gewalttaten gegen Frauen und Kinder in der eigenen Nachbarschaft, im eigenen Umfeld, meist zu Hause statt, an dem Ort, an dem sich Frauen und Kinder am sichersten fühlen sollten. Es ist also eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich diese Hoffnung nicht in immer mehr Fällen als trügerisch erweist. Daher begrüßen wir es, dass die Bundesregierung die von unserer Regierung bereits begonnenen Maßnahmen jetzt weiterentwickelt und mit dem Aktionsplan ein dickes Bündel sinnvoller Handlungsvorschläge vorlegt. ({0}) Ich will daran erinnern, dass der Weg dieses Themas ein langer Weg ist. Als man vor gut 20 Jahren daranging, häusliche Gewalt zu enttabuisieren, konnte man dies zunächst nur in kleinen Schritten tun, denn kaum jemand konnte sich vorstellen, was da mit Frauen und Kindern passierte. Sexueller Missbrauch und Vergewaltigung waren unaussprechbar. Genauso haben wir erst seit wenigen Jahren Gewalt gegen Behinderte und gegen alte Menschen realisiert. Auch hier geht es um Tabus, die wir aufbrechen müssen, um den Betroffenen wirkungsvoll zu helfen. ({1}) Weil im Laufe der Jahre aus kleinen Schritten größere und mutigere geworden sind, können wir heute auf langjährige und vielfältige Erfahrungen in Frauenhäusern und Beratungsstellen zurückblicken. Wir können uns diese Erfahrungen politisch nutzbar machen, notwendige Gesetze auf den Weg bringen und die bundesweite Vernetzung dieser Einrichtungen vorantreiben. Aber eines will ich hier ganz deutlich sagen: Nicht die jetzige Bundesregierung hat sich das Thema „Gewalt gegen Frauen“ auf die Fahnen geschrieben und vorangebracht. Das ist schon vor Einsetzung der jetzigen Bundesregierung geschehen. Wir als Frauen haben das schon früher thematisiert. Zusammen mit vielen Männern haben wir zahlreiche Anliegen auf den Weg gebracht. ({2}) An einigen Beispielen aus den letzten beiden Legislaturperioden, aus der Zeit von 1990 bis 1998, will ich zeigen, dass wir uns intensiv damit befasst haben und welche Schwerpunkte wir gesetzt haben. Im Zeitraum von 1993 bis 1996 gab es unter unserer Regierung die Aufklärungskampagne „Gewalt gegen Frauen hat viele Gesichter“ und im Jahre 1996 einen entsprechenden Aktionsplan. Wir haben in diesem Bereich auch eine Reihe wichtiger Gesetzesänderungen verabschiedet: im Jahre 1992 die Novellierung der Strafvorschriften gegen den Menschenhandel, im Jahre 1994 das Beschäftigungsgesetz, das vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz schützen soll, die Verschärfung der Strafandrohung für pornographische Darstellungen mit Kindern im Jahre 1993 und im Jahre 1997 die Novellierung des § 177 des Strafgesetzbuches, der die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe stellt. Frau Kollegin Wolf, Sie lachen. Diese Maßnahmen sind natürlich von den meisten Frauen in diesem Parlament sehr unterstützt worden, auch von vielen Frauen aus meiner Fraktion. ({3}) Ebenfalls 1997 haben wir § 19 des Ausländergesetzes dahin gehend geändert, dass ausländische Ehegatten im Falle außergewöhnlicher Härte bei Ehescheidungen ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten, und zwar unabhängig von der Ehedauer; darauf komme ich nachher noch zu sprechen. Auch hat bereits die alte Bundesregierung auf eine bessere Vernetzung aller auf diesem Feld tätigen Institutionen und Organisationen und ebenso auf eine effektive Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Gemeinden hingearbeitet. Die damalige Familienministerin Claudia Nolte brachte 1996 auf dem Fachkongress für Polizei und Justiz zur Gewalt gegen Frauen in Ehe und Partnerschaft Vertreterinnen und Vertreter von Polizei, Justiz und Politik mit den Frauen und Männern zusammen, die vor Ort in Antigewaltprojekten arbeiteten. Sie diskutierten über Möglichkeiten, wie man die Zusammenarbeit von staatlichen und nicht staatlichen Stellen verbessern, den Schutz für die Opfer ausbauen und die Täter noch stärker zur Verantwortung ziehen kann. Schon damals war uns das In-die-VerantwortungNehmen der Täter wichtig, zum Beispiel durch soziale Trainingskurse, die darauf abzielen, das Verhalten der Männer zu ändern. Denkbare Präventivmaßnahmen waren der Jugendwettbewerb „Wo hört der Spaß auf? - bei Anmache, Beziehungen, Freundschaften“ und das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt. Das Berliner Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt, BIG, das durch gemeinsame Förderung von Bund und Stadt Berlin auf den Weg gebracht wurde, kann heute in der Tat als Vorbild für alle Projekte dienen, die eine Vernetzung der im Gewaltbereich tätigen Institutionen und Organisationen anstreben. BIG führte über die reinen Anlaufstellen für betroffene Frauen hinaus zu einer gesamtgesellschaftlichen Befassung und Ächtung von Gewalt gegen Frauen. Auch auf europäischer Ebene sind wir nicht untätig gewesen. Ich erinnere zum Beispiel an den diesbezüglichen Aktionsplan des Europarates. Nun zu einzelnen Punkten, zunächst zum Stichwort Prävention: Wir stimmen Ihnen zu, dass natürlich bei der Bekämpfung von Gewalt präventive Maßnahmen von höchster Priorität sind. Eltern, Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrerinnen und Lehrer müssen hier zusammenwirken. Da wissenschaftlich erwiesen ist, dass Kinder, die Gewalt erlebt haben, mit hoher Wahrscheinlichkeit später selber Gewalt anwenden, muss diese Spirale - je früher, desto besser - unterbrochen werden. Was mir aber an Ihrem Katalog fehlt, ist die konkrete Benennung der Kernursachen dieses Problems. Sie drücken sich darum herum, die Wertevermittlung in Familie und Schule sowie die Stärkung der Erziehungsfähigkeit der Eltern aufzulisten. ({4}) Ein ganz großes Problem ist doch das mangelnde Unrechtsbewusstsein bei Anwendung von Gewalt. Es ist notwendig, dies schon sehr früh in der Familie zu entwickeln. Viele Eltern sind heute selbst nicht mehr in der Lage, Alltagskonflikte zu lösen. Wie sollen ihre Kinder lernen, auf welche Weise angemessen mit Konflikten umgegangen werden kann? Viele Eltern vermitteln - oft aus Unvermögen, oft aus Bequemlichkeit - ihren Kindern keine Spielregeln hinsichtlich des Zusammenlebens, sondern erwarten, dass dies an anderer Stelle geleistet wird, zum Beispiel in der Schule. Die Fähigkeit zu reden und zuzuhören, Argumente gegeneinander abzuwägen, geht langsam verloren. Viele Jugendliche werden schweigend groß, nämlich vor dem Fernseher, über den sie Probleme vorgeführt bekommen; sie reden nicht mehr darüber. Sie lernen einfach nicht, sich zu artikulieren, und lösen Konflikte lieber mit dem Ellenbogen, so wie sie es vielleicht auch von ihren Eltern kennen. Folglich sind viele Kinder fast ausschließlich ichbezogen orientiert. Sie glauben, ihre Umwelt stets nach ihrem Willen gestalten zu können, sei es auch mit Gewalt, akzeptieren keine Grenzsetzungen für ihr eigenes Handeln und können mit Verboten und Misserfolgen nicht mehr umgehen. Ich will es ganz deutlich sagen: Grenzziehungen und richtig verstandene Autorität sind doch keine Unterdrückungsinstrumente. Ein Weiteres fehlt mir im Aktionsplan, nämlich ein Wort zur Rolle der Medien. Auch Presse, Funk, Fernsehen und Videoverleiher sind aufgefordert, sich immer wieder ihren Einfluss und ihre negative Vorbildwirkung auf die Entstehung von Gewalt gegen Frauen bewusst zu machen. Wir sollten mit Nachdruck fordern, dass die Verantwortlichen der freiwilligen Selbstkontrolle zu mehr Wirksamkeit verhelfen und darüber hinaus über Inhalte ihren Einfluss positiv geltend machen und Kampagnen gegen Gewalt fördern. ({5}) Ein ganz wichtiges Kapitel des Aktionsplans befasst sich mit der Rechtsetzung des Bundes. Dabei geht es nicht nur um neue Gesetze, sondern immer wieder auch um die Überprüfung bestehender Gesetze auf ihre Wirksamkeit hin und gegebenenfalls um Verbesserungsmöglichkeiten. Vielleicht ist es gerade in diesem sensiblen Bereich wichtig, uns der kritischen Auseinandersetzung zu stellen und die Frage zu beantworten, ob die Gesetze tatsächlich die an sie gestellten Erwartungen erfüllen. Da ist zum einen das Gesetz zur gewaltfreien Erziehung, das von Ihnen sehr stark in den Vordergrund gestellt wird. Hier propagieren Sie das Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung. Dass die Anwendung von körperlicher und psychischer Gewalt nicht mehr zu den zulässigen Mitteln angemessener Erziehung gehört, ist völlig unstrittig. Wir meinen allerdings, dass ein solcher Rechtsanspruch des Kindes in der Praxis weder einklagbar noch justiziabel ist. Deshalb halten wir die Bundesratsformulierung für besser, die da lautet: Kinder sind gewaltfrei zu erziehen. Aber dieser Gesetzentwurf befindet sich zurzeit in der parlamentarischen Beratung. Wir werden noch Gelegenheit haben, die Argumente auszutauschen. Mit dem vom Bundesjustizministerium lange angekündigten Gesetzentwurf zum Schutz vor Gewalt sollen künftig nach österreichischem Vorbild über die vereinfachte Zuweisung der Ehewohnung gewalttätige Ehegatten gezwungen werden, die gemeinsame Wohnung zu verlassen. Daneben soll ein Kontakt-, Belästigungs- und Näherungsverbot die Frau umfassend vor dem gewalttätigen Ehemann schützen; ohne dies wäre die Beibehaltung der Wohnung auch gar nicht sinnvoll. Aber damit dieser Schutz überhaupt gewährleistet werden kann, bedarf es der Absprache mit den Innenministern und den Polizeibehörden der Bundesländer. Das ist natürlich nicht ganz einfach. ({6}) - Ach! Aber Sie haben diesen Gesetzentwurf in Ihren Koalitionsvereinbarungen in Aussicht gestellt und sich zugetraut, diese Abstimmung ganz schnell - sowieso viel schneller als wir - zu vollziehen. ({7}) Immer wieder wurde der Gesetzentwurf angekündigt. Bei der Vorstellung des Aktionsplans im Dezember hieß es, er werde in Kürze vorliegen. In der letzten Woche haben Sie, Frau Justizministerin, aus Anlass des Internationalen Frauentages in einer Presseerklärung erneut gesagt, dass der neue Gesetzentwurf zum Schutz vor Gewalt zügig in das Gesetzgebungsverfahren gebracht wird. ({8}) - Wunderbar! Wir fordern Sie also auf, diese Abstimmung zu vollziehen. Dann erübrigt sich das Weitere. Zum Thema Täter-Opfer-Ausgleich kennen Sie unsere Auffassung. Grundsätzlich ist das eine gute Sache. Doch so, wie Sie ihn handhaben wollen, geht es nicht. Das bloße Bemühen des Täters soll zukünftig zur Beendigung des Strafverfahrens ausreichen. Doch gerade wenn es um die Interessen des Opfers von Gewalttaten geht, muss die Wiedergutmachung auch von diesem abhängig gemacht werden. Ansonsten stehen nicht die Interessen des Opfers, sondern die des Täters im Mittelpunkt. Und das kann nicht sein. Zur geplanten Änderung des § 19 des Ausländergesetzes wird der Kollege Uhl ausführlich Stellung nehmen. Deshalb will ich mich hier auf eine Bemerkung beschränken: Ich bedaure sehr - das habe ich auch im Ausschuss gesagt -, dass dieser Gesetzentwurf so durchgepaukt wird, denn ich hätte gern mit Ihnen zusammen geprüft, ob die Beispiele für das Vorliegen einer besonderen Härte nicht besser im Gesetz statt in der Begründung stehen sollten, wo sie sich ganz offensichtlich nicht bewährt haben, weil sie von den Ländern unterschiedlich ausgelegt werden. Aber gut, Sie meinen, in der Vergangenheit sei darüber ausführlich diskutiert worden, und gehen nun Ihren eigenen Weg. Ich hoffe sehr, dass diese Erleichterungen wirklich die richtigen Frauen treffen und damit das gemeinsame Ziel des besseren Schutzes von ausländischen Ehefrauen vor ihren misshandelnden Ehemännern tatsächlich erreicht wird. Es wären noch viele Punkte zu nennen, die eine nähere Betrachtung verdienen. Dabei denke ich an das schwierige Thema der geschlechtsspezifischen Verfolgung, der Genitalverstümmelung, an Menschenhandel und an das Zeugenschutzgesetz. Das sind alles Bereiche, für die in besonderem Maße die Forderung nach kompetenten, sensibilisierten Mitarbeitern in Verwaltungen, Gerichten, bei Polizeibehörden usw. gilt. Leider reicht für eine Behandlung meine Redezeit nicht. Aber ich bin sicher, dass im Laufe der Umsetzung der vielen Vorhaben des Aktionsplans noch Gelegenheit sein wird, sich dazu zu äußern. Ich hoffe, dass er tatsächlich in allen Punkten umgesetzt wird. Es gibt eine Fülle von Ankündigungen, von Maßnahmen, die in Aussicht gestellt werden, von Prüfvermerken und Ähnlichem, sodass wir nur hoffen können, dass aus dem „Plan“ wirklich „Aktion“ wird. So möchte ich mich zum Schluss noch mit einer Bitte an Sie alle wenden, nämlich dass Sie zu Hause in Ihren Wahlkreisen Ihre Möglichkeiten nutzen, dieses wichtige Thema noch stärker in die Öffentlichkeit zu bringen, sofern Sie das nicht ohnehin bereits tun. Sensibilisieren Sie die Menschen, stellen Sie Modellprojekte vor und helfen Sie mit, diese auf örtlicher Ebene wirklich umzusetzen! Aufgrund meiner sehr guten Erfahrungen aus meinem Heimatkreis Wesel mit dem runden Tisch gegen Gewalt an Frauen weiß ich, dass vor Ort oft die Vernetzung zwischen all denjenigen fehlt, die Gewalt bekämpfen wollen. Sie haben unsere Unterstützung für ihre wichtige Aufgabe verdient. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste auf der Tribüne! Es war die Frauenbewegung, die mit dem Slogan „Das Private ist politisch“ bereits vor 25 Jahren das Thema häusliche Gewalt gegen Frauen aus der Tabuzone herausgeholt und den Schutz des Staates eingefordert hat. Einzelne Punkte wie die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe wurden in der letzten Legislaturperiode - Frau Falk hat es gerade gesagt - mithilfe der damaligen Opposition umgesetzt. Aber ein umfassendes Aktionsprogramm mit einem Gesamtkonzept liegt erst heute, ein Vierteljahrhundert später, vor. Gewalt hat viele Gesichter und trifft bestimmte Frauengruppen wie Migrantinnen oder Behinderte zusätzlich in einer besonderen Art. Mit einer frauenverachtenden Praxis wird heute Schluss gemacht: Misshandelte ausländische Ehefrauen müssen sich nicht mehr dazwischen entscheiden, entweder vier Jahre lang bei ihrem gewalttätigen Ehemann auszuharren oder in ihr Heimatland ausgewiesen zu werden, wo sie häufig Ausgrenzungen oder lebensbedrohenden Handlungen ausgesetzt sind. Diese Frauen erhalten ein eigenständiges Aufenthaltsrecht und damit den Schutz des Staates, den sie verdienen. ({0}) Auch das Kindeswohl wird endlich als schutzwürdig berücksichtigt. Eine inhumane Abschiebepraxis, wie sie insbesondere in Bayern stattfand, wird beendet. Ich danke an dieser Stelle ganz besonders den - zum Teil auch hier anwesenden - Frauen- und Migrantinneninitiativen, die nicht locker gelassen und die unzumutbare Situation immer wieder zum Thema gemacht haben. ({1}) Ich freue mich, dass auch die F.D.P. das Gesetz nicht ablehnen wird und es somit eine breite Unterstützung im Parlament findet. Dies ist die erste konkrete Umsetzung eines Vorhabens aus dem gesamten Aktionsplan, bei dem der Paradigmenwechsel deutlich wird: Es werden nicht mehr die Täter, sondern die Opfer geschützt. Dies wird auch bei den Maßnahmen zur Bekämpfung einer besonderen Form der modernen Sklaverei, des Frauenhandels, deutlich. Frauen - zumeist aus Osteuropa werden mit falschen Versprechen und einem Reisevisum nach Deutschland gebracht und nach der Wegnahme ihrer Pässe zur Prostitution gezwungen. Nach EUAngaben sind das allein eine halbe Million in Westeuropa. Wenn diese Frauen entdeckt wurden, galten sie bisher als Täterinnen, weil sie keine Aufenthaltsberechtigung besaßen. Sie wurden meist mit dem nächsten Flugzeug in ihr Heimatland zurückgeschickt. Das geschah häufig ohne anwaltliche Unterstützung. Erst in letzter Zeit werden diese Frauen nicht mehr als Täterinnen, sondern als Opfer des Menschenhandels betrachtet. Erst seit kurzem haben Polizei und Justiz erkannt: Die Rechtlosigkeit dieser Opfer ist der beste Täterschutz. Wenn die Frauen nicht wenigstens so lange hier bleiben können, bis sie in einem Prozess aussagen, werden die Täter nie ermittelt. Nirgendwo ist die Aufklärungsquote so gering wie hier. Das Geschäft ist lukrativ: 1,8 Milliarden DM werden auf diese Weise in Deutschland „verdient“ - mehr als im Drogenhandel. Einen wirksamen bundeseinheitlichen Abschiebeschutz, Zeuginnenschutzprogramme, sichere Unterkünfte und ein Bleiberecht stärken die Opfer und tragen auch dazu bei, die Täter zu finden und zu bestrafen. Eine Beschlagnahme der Gewinne aus dem Frauenhandel würde zudem die Menschenhändler empfindlich treffen. Wo es um organisierte Kriminalität geht, ist eine internationale Zusammenarbeit unabdingbar. Die Opfer schützen und die Täter bestrafen - dieses Prinzip zieht sich auch durch das nächste Thema: Gewalt im sozialen Nahbereich. „My home is my castle“ - mein Zuhause ist mein Königreich -: Wer wünscht sich das nicht? Dieser Satz drückt den Wunsch nach Sicherheit und Geborgenheit im eigenen Zuhause aus. Aber dieser Wunsch geht für viele Frauen, für viel zu viele Frauen, nicht in Erfüllung. So unglaublich es klingt: Die eigenen vier Wände sind der unsicherste Ort für Frauen, und zwar nicht nur, weil die meisten Unfälle im Hause passieren, sondern auch, weil sie der Gewalt durch ihren Partner ausgeliefert sind. Die Zahlen sprechen für sich: In den Jahren 1987 bis 1991 wurden 350 000 Frauen Opfer einer Vergewaltigung durch ihren Ehemann. Die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. Jährlich suchen Zehntausende von Frauen mit ihren Kindern Schutz in Frauenhäusern. Die gesellschaftlichen Folgekosten für diese Gewalttaten sind enorm: Sie belaufen sich nach einer Aussage der Bundesregierung auf jährlich 29 Milliarden DM. Das wäre doch für Herrn Eichel ein wunderbares Sparpotenzial. Rechtliche Konsequenzen für diese Straftaten sind jedoch immer noch sehr selten. In der akuten Gefährdungssituation ist aber für die Frauen eine strafrechtliche Verfolgung der Täter manchmal zweitrangig. An erster Stelle steht für sie der gegenwärtige und zukünftige Schutz vor der Gewalt des Partners. Diesem Bedürfnis nach effektivem Schutz müssen wir nachkommen. Opfer von Gewalt müssen sich mit Aussicht auf Erfolg wehren können. Die bisherige Rechtslage und die Anwendung des Rechts in Deutschland lassen einen ausreichenden Schutz vor häuslicher Gewalt immer noch vermissen. Viel zu lange haben Justiz und Polizei Gewalt im sozialen Nahraum als Privatangelegenheit zwischen den Beteiligen angesehen, in die sich der Staat nicht einzumischen habe. Erst allmählich wird hier ein Bewusstseinswandel deutlich. Dies ist unter anderem auf die erfolgreiche Arbeit von Interventionsprojekten wie zum Beispiel der Berliner Initiative „ Gewalt gegen Frauen“ sowie von Frauenhäusern, Notrufen und Beratungsstellen zurückzuführen. Bis heute müssen geschlagene und vergewaltigte Ehefrauen ihr gewohntes Lebensumfeld verlassen. Die gewalttätigen Ehemänner hingegen verbleiben in der ehelichen Wohnung. Deshalb brauchen wir ein Gesetz, mit dem der gewalttätige Ehemann und Partner des Hauses verwiesen werden kann. ({2}) Nun ist unser Nachbarland Österreich in den letzten Monaten nicht gerade positiv in den Schlagzeilen gewesen. Dort wurde aber in der letzten Legislaturperiode ein Wegweisungs-Recht verabschiedet, das seit Jahren erfolgreich ist. Nach dem dort seit 1997 geltenden Sicherheitspolizeigesetz steht der Polizei die Befugnis zu, einen Gewalttäter von einer Wohnung fern zu halten, in der sich eine gefährdete Person aufhält. Kurz gesagt: Das Opfer kann bleiben, der Täter muss gehen. Dies gilt für zunächst sieben Tage. Es kommen dann gleich die Fragen: Wo bleiben denn nun die Männer? Müssen wir nicht besondere Häuser für die Männer schaffen? In Österreich ist die Obdachlosigkeit nicht signifikant gestiegen. Die Frage, wo die Männer bleiben, lässt sich so beantworten: die meisten bei ihren Müttern oder ihren Freundinnen. Ich denke, das können wir auch den deutschen Männern zumuten. ({3}) Noch bevor über eine erleichterte Wohnungszuweisung entschieden wird, wird so den betroffenen Frauen in der akuten Gefährdung geholfen. Daneben brauchen wir auch Kontakt, Belästigungsund Näherungsverbote sowie gesetzliche Regelungen für den Erlass von Schutzanordnungen. Eine enge Zusammenarbeit mit den Ländern ist notwendig - dies dauert, Frau Kollegin Falk, natürlich lange und Sie unterstützen uns ja auch jetzt darin - , und zwar nicht nur bei der polizeilichen und juristischen Aus- und Fortbildung, sondern auch bei einer Änderung der Polizeigesetze der Länder. Das ist ein Problem. Das geben wir zu. Aber auch das werden wir lösen. ({4}) Justizministerin Däubler-Gmelin hat zum Internationalen Frauentag angekündigt, dass ein neues Gewaltschutzgesetz zügig in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht wird. Die Grünen haben Eckpunkte dazu entwickelt. Ich finde, es ist höchste Zeit, dass wir endlich die Persönlichkeitsrechte der Frauen besser schützen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss auf die Situation widerstandsunfähiger - in den meisten Fällen behinderter - Frauen zurückkommen. Sie brauchen einen besonderen Schutz vor sexuellem Missbrauch. Es ist nicht länger hinnehmbar, dass die Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung dieser Personen mit einer niedrigeren Strafe geahndet werden kann als bei so genannten widerstandsfähigen Opfern. ({5}) Wir hatten bei der Verabschiedung des § 177 StGB vereinbart, die Rechtsprechung zu § 179 bis zum Mai 2000 zu beobachten. Danach müssen wir sehr schnell entscheiden, ob wir entweder diesen Paragraphen ganz aus dem Gesetz streichen oder das Strafmaß an das des § 177 anpassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gewalt gegen Frauen ist die schwerste Form der Benachteiligung von Frauen in unserer Gesellschaft. Sie stellt einen Angriff auf die körperliche und seelische Unversehrtheit dar und ist eine Verletzung der Menschenwürde. Dies muss ganz deutlich gesagt werden: Das ist kein Kavaliersdelikt, sondern eine Verletzung der Menschenwürde. ({6}) Es ist höchste Zeit, dass wir in den verschiedenen Bereichen entsprechende Gesetzesänderungen vornehmen, damit wir der Gewalt, die tagtäglich gegen Frauen ausgeübt wird, Einhalt gebieten können. Heute machen wir einen ersten großen Schritt. Es wäre schön, wenn auch einige CDU-Kolleginnen der Änderung des Ausländergesetzes zustimmen würden. Frau Falk, aus Ihrer Rede kann ich eigentlich nur schließen, dass Sie ihr zustimmen werden. Es gibt auch noch einige andere Kolleginnen in Ihrer Fraktion, von denen ich weiß, dass sie inhaltlich mit diesem Gesetzesvorschlag übereinstimmen. Es wäre schön, wenn auch sie diesem Gesetz zustimmen, damit wir hier im Parlament eine breite Mehrheit dafür haben. Das würde uns auch in der Bevölkerung stärken. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der innere Frieden einer Gesellschaft beruht auf der Freiheitlichkeit ihrer Rechtsordnung, auf dem Schutz von Eigentum und auf dem Schutz von Leib und Leben. Meine Damen und Herren, wenn wir in unserer Gesellschaft von Gewalt reden, dann sind Frauen häufig Opfer. Sie sind überproportional von Gewalt betroffen. Ich war kürzlich in der niedersächsischen Justizvollzugsanstalt Vechta. Dort sind Frauen in Haft. Sind sie alle Täterinnen? Dort wurde mir gesagt, dass nur 4 Prozent der Täterinnen und Täter Frauen sind. Das heißt, hier ist nicht Gewalt im Spiel, sondern Drogendelikte und andere Straftaten, die wenig mit Gewalt zu tun haben. Wir wissen das ist schmerzlich -, dass Gewalt sich nicht nur außerhalb der Familie, sondern auch innerhalb der Familie abspielt. Bei der Bekämpfung hat auch in der Vergangenheit die F.D.P.-Bundestagsfraktion ihren Part im Parlament dieser Gewalt gespielt. Sie hat durch unsere Kollegin Frau Leutheusser-Schnarrenberger auch die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt. Das ist jetzt Allgemeingut des gesamten Bundestages. ({0}) - Ich war in der letzten Legislaturperiode noch nicht Mitglied dieses Hohen Hauses. Aber ich denke, dass alle dieses Gesetz unterstützt haben bis auf die Hardliner; die wird es auch gegeben haben, nicht in unserer Fraktion, aber sicher in anderen. ({1}) Dabei haben wir den ersten Schritt getan. Es wird weitere Schritte geben, die wir natürlich auch unterstützen werden. Wir haben jetzt den Schutz von Frauen und Kindern in der eigenen Wohnung in der politischen Diskussion. Das entsprechende Gesetz werden auch wir unterstützen. Wir werden sehen, ob wir dazu eine eigene Initiative in den Bundestag einbringen. Ich und meine Fraktion finden es richtig, dass der, der jemand anderem Gewalt antut, aus der Wohnung verschwinden muss ({2}) und die Opfer - das sind meist Frauen mit ihren Kindern - ihr Lebensumfeld behalten. Dafür müssen wir uns alle hier im Parlament einsetzen. Ich denke, das gilt nicht nur für die Frauen, sondern auch für die Männer. ({3}) In dem Aktionsplan gegen Gewalt sind die Prävention und die Hilfsangebote sehr hoch angesiedelt. Alle, die auch auf der kommunalen Ebene oder auf der Landesebene arbeiten, wissen, dass hier doch ein Wandlungsprozess stattgefunden hat. Es gibt allerorten, auch im Landkreis Verden, aus dem ich komme, Präventionsräte, die sich zusammensetzen und diese Art der Strategie fahren. Gerade auf der örtlichen Ebene kann direkt geholfen werden. Das können wir natürlich von Berlin aus nicht tun. Von hier aus können wir nur Gesetze ändern. Da ist jeder Einzelne von uns gefragt, auch die Kommunalpolitiker und alle, die vor Ort tätig sind. Das sind wir ja auch, denn wir haben unsere Wahlkreise und da sollten wir auch etwas machen. Weiter wird im Aktionsplan ausgeführt, dass die Vernetzung von Hilfsangeboten stattfinden soll. Ich muss sagen: Auf Landesebene und auf kommunaler Ebene hat das längst stattgefunden. Für die Bundesebene kann ich das nicht beurteilen. Wir werden uns als Fraktion sicher mit Ihnen auch im zuständigen Ausschuss ins Benehmen setzen. Wenn das effektiver gestaltet werden kann, kann das nur hilfreich sein. Das wollen wir natürlich auch unterstützen. In dieser Diskussion heute haben wir auch über § 19 des Ausländergesetzes zu beraten. Die F.D.P. hat durch einen Änderungsantrag maßgeblich und sehr gut - ich hoffe, Frau Schewe-Gerigk, auch in Ihrem Sinne - dazu beigetragen, dass ausländische Frauen, die mit Deutschen verheiratet sind und hier in Deutschland leben, auch dann die Möglichkeit haben, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu bekommen, wenn sie Gewalt in der Ehe und anderes erfahren müssen und die Ehe vor Ablauf einer bestimmten Dauer geschieden wird. Wir haben gesehen, dass das Gesetz mit der Härtefallregelung in der letzten Legislaturperiode nicht gegriffen hat, gerade nicht in Bayern und vielleicht auch nicht in anderen Bundesländern. ({4}) Das ist halt manchmal so. Man muss das überprüfen und dann auch zu neuen Ergebnissen kommen. Ich denke, dass dieses Gesetz durch unsere konstruktive Mitarbeit daran verbessert worden ist. Ich werde diesem Gesetz heute zustimmen, ({5}) weil ich es für richtig halte, dass hier etwas gemacht wird. Ich hoffe deshalb auch, Sie werden das nicht parteipolitisch ausschlachten, meine Damen und Herren. ({6}) Ein besonderes Anliegen ist die Bekämpfung des Frauenhandels. In dieses Gebiet muss ich mich als neue Abgeordnete erst noch einarbeiten. Ich werde das aber mit Frau Schwaetzer und Frau LeutheusserSchnarrenberger und anderen Frauen in meiner Fraktion tun. Wir werden - natürlich auch zusammen mit unseren Kollegen - versuchen, diesbezüglich initiativ zu werden. Ich denke, da ist jede Bundestagsfraktion gefragt, nicht nur die Fraktionen, die die Regierung unterstützen. Ich finde es in Ordnung, dass wir uns zum Beispiel für eine Frist von vier Wochen als Abschiebungshindernis für Frauen, die Zeuginnen gegen potenzielle Täter sein sollen, einsetzen. Ob diese Frist vier Wochen oder einen anderen Zeitraum betragen soll, das werden wir zu prüfen haben. Diese Prüfung wird dann auch in den parlamentarischen Beratungen stattfinden. Es ist wichtig, dass wir uns um all diese Dinge kümmern. Zum Schluss möchte ich sagen: Die Debatte zeigt, dass immer wieder und immer noch politischer Handlungsbedarf besteht, Frauen vor Gewalt zu schützen. Die F.D.P. wird sich wie in der Vergangenheit konstruktiv an diesen Initiativen beteiligen. Wir wollen das zum Wohl der Frauen und zum Wohl der Gesellschaft tun. Wir wollen uns sehr intensiv daran beteiligen. Das Parlament, auch die Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Deutschland haben unsere Unterstützung. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Petra Bläss, PDS-Fraktion.

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, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesrepublik gehört zu den reichsten Ländern der Erde. Umso erstaunlicher ist es, immer noch darauf verweisen zu müssen, dass Frauenrechte Menschenrechte sind. Die Bundesregierung musste sich vor kurzem bei den Vereinten Nationen bescheinigen lassen, dass es hierzulande eklatante Defizite bei der Umsetzung dieses Anspruches gibt. Der Ausschuss, der die Einhaltung des UNO-Übereinkommens zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung von Frauen - übrigens das einzige diesbezüglich völkerrechtlich verbindliche Dokument kontrolliert, hat der Bundesregierung vorgeworfen, zu wenig für die Gleichstellung von Frauen zu tun. Das CEDAW-Komitee begrüßt zwar ausdrücklich den vorliegenden Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, aber es ist … besorgt über die bleibenden Lücken beim Schutz von Frauen gegen Gewalt in der Familie und in der Gesellschaft. Das gelte besonders für ausländische Frauen. Die Regierung soll deshalb dafür sorgen, dass Gewalt gegen Frauen gesellschaftlich und moralisch nicht akzeptiert wird. Viele Frauen leben in Gewaltverhältnissen. Jede dritte Frau in der Welt hat mindestens einmal im Leben Gewalt erfahren, sei es als sexualisierter Missbrauch, Vergewaltigung, seien es Schläge oder sonstige Misshandlungen. Gewalt an Frauen findet in der Familie, im Kollegen-, Freundes- und Bekanntenkreis statt. Diese Gewalt muss aus der privaten Sphäre herausgezogen, öffentlich und zum gesellschaftlichen Problem gemacht werden, ohne die Täter dadurch zu entlasten. Nach meinem Eindruck zeigt die heutige Debatte, dass es hier einen parteiübergreifenden Konsens gibt. Die konkreten Maßnahmen, die die Bundesregierung vorschlägt, zielen in die richtige Richtung. Aber sie sind nicht konsequent genug. Die Bundesregierung will Polizei, Justiz, Sozial- und Ausländerbehörden sowie Beratungsstellen und Notrufe an einen Tisch holen und mit ihnen gemeinsame Konzepte erarbeiten. Das ist richtig und hört sich gut an. Doch die Polizei zum Beispiel steht dabei vor einem Glaubwürdigkeitsproblem; denn in ihren eigenen Reihen erfahren Polizistinnen massiv sexuelle Belästigung und Nötigung. Im Übrigen hat der in dieser Woche veröffentlichte Bericht der Wehrbeauftragten bestätigt, dass auch die Frauen in der Bundeswehr damit konfrontiert sind. Obwohl das Sexualstrafrecht in der letzten Legislaturperiode verschärft wurde, gelten sexueller Missbrauch und Vergewaltigung von Frauen bei Gerichten noch immer als Kavaliersdelikt. Wir brauchen eine richtige Fortbildungskampagne für die Polizei und die Justiz. Die Bundesregierung fördert seit Ende des Jahres die bundesweite Vernetzung der Notrufe im Rahmen eines Modellprojektes für drei Jahre. Das begrüßen wir, das ist gut so. Aber was geschieht nach diesen drei Jahren? Wer kontinuierlich mit Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten will, muss deren Arbeit institutionell absichern. Wir müssen in diesem Bereich von der bloßen Projekt- und Modellförderung wegkommen. ({0}) Ein anderes Beispiel dafür, dass der Aktionsplan noch nicht weit genug geht: Die Bundesregierung hat angekündigt, sie wolle Opfer von Frauenhandel besser stellen. Die betroffenen Frauen sollen eine Abschiebefrist von mindestens vier Wochen erhalten. Der Deutsche Frauenrat hat in seiner Stellungnahme zum Aktionsplan eindringlich darauf hingewiesen, dass diese Regelung höchstens 1 bis 2 Prozent der betroffenen Frauen zugute kommt. Es genügt auch nicht, den Frauen eine vierwöchige Abschiebefrist zu gewähren und den wenigen Fachberatungsstellen die Betreuung zu überlassen. Wir brauchen wirksamere Maßnahmen zur Bekämpfung des Frauenhandels. Das setzt zuerst einen exakteren Begriff von Frauen- und Menschenhandel voraus. Es geht nicht an, dass als Opfer von Menschenhandel nur gilt, wer in die Zwangsprostitution verkauft wurde. Auch Frauen, die zu Sklavinnen gemacht werden oder auf dem Heiratsmarkt feilgeboten werden, müssen als Menschenhandelsopfer gelten. ({1}) Wir müssen den Frauen, die sich zur Aussage entscheiden, Möglichkeiten bieten, in Zeuginnenschutzprogramme aufgenommen zu werden. Ferner müssen sie einen dauerhaften Abschiebeschutz bekommen; denn sie werden immer wieder durch Racheakte gefährdet sein. Wir müssen ein dichtes Netz von Beratungsstellen für die Opfer von Frauenhandel, aber auch für Migrantinnen allgemein ausbauen und fördern. Die Beraterinnen und Berater müssen dringend ein Zeugnisverweigerungsrecht bekommen, damit sie in der Lage sind, zu ihren Klientinnen tatsächlich ein Vertrauensverhältnis aufbauen zu können. ({2}) Sie können sich vielleicht vorstellen, dass es für Beratungsstellen, die durchaus mit der Polizei kooperieren, ohnehin problematisch ist, den Frauen, die zu ihnen kommen, Vertrauen einzuflößen. Aber wenn die betroffenen Frauen dann erfahren, dass die Beraterinnen möglicherweise gezwungen werden, ihre Informationen den Ermittlungsbehörden preiszugeben, wird es noch schwieriger. Zu Recht hat der UNO-Ausschuss die Bundesregierung gemahnt, die Situation ausländischer Frauen dringend zu verbessern; denn sie sind besonders von Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt betroffen. Die Änderung des § 19 Ausländergesetz , die wir heute beschließen wollen, geht zweifellos in die richtige Richtung und wir werden ihr zustimmen. Dennoch werden wir weiter darum kämpfen, dass Frauen bereits mit der Eheschließung hier ein eigenständiges Aufenthaltsrecht bekommen. Völlig unzureichend ist indessen das Vorhaben der Bundesregierung, bei der Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung lediglich die Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz ein bisschen zu ändern. Wir brauchen stattdessen klare Regelungen im Asylverfahrensgesetz und im Ausländergesetz. ({3}) Die Beamtinnen und Beamten im Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge müssen genauso Rechtssicherheit haben wie die betroffenen Frauen, dass geschlechtsspezifische Verfolgung hier künftig als Asylgrund gilt, und zwar unabhängig davon, ob es sich um staatliche oder nichtstaatliche Verfolgung handelt. ({4}) Das ist menschenrechtlich orientierte Frauenpolitik. Die brauchen wir. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in anderen Bereichen der Frauenpolitik geht der CEDAW-Ausschuss der UNO mit der Bundesregierung hart ins Gericht. Ich denke, das geschieht zu Recht, wobei man immer wieder darauf hinweisen muss, dass die Hauptverantwortung bei der abgewählten Bundesregierung liegt. Das betrifft insbesondere die anhaltende Lohndiskriminierung von Frauen, die Defizite bei der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Elternschaft, die nach wie vor zögerliche Politik bei der Gleichstellung von Frauen in der Privatwirtschaft und die besondere Benachteiligung ostdeutscher Frauen. Ich garantiere Ihnen: Solange all diese Formen geschlechtsspezifischer Diskriminierung existieren, wird es keine Ruhe geben, weder bei den Betroffenen noch bei denen, die ihre Interessen vertreten und sich konsequent auf die Forderung „Frauenrechte sind Menschenrechte“ berufen. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort nun der Kollegin Ulla Schmidt, SPD-Fraktion.

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich ganz besonders, dass wir heute im Deutschen Bundestag ein Gesetz in zweiter und dritter Lesung verabschieden, das den hier lebenden Migrantinnen einen besseren Schutz vor gewalttätigen Ehemännern verschafft. ({0}) Ich freue mich, weil dieses in sehr engem Zusammenhang zur Nachfolgekonferenz der Weltfrauenkonferenz von Peking geschieht, die im Juni in New York stattfindet. Dort wird überprüft, was die einzelnen Länder zur Umsetzung der Plattform getan haben. Ich freue mich auch, dass dies in zeitlicher Nähe zum Internationalen Frauentag geschieht, weil es eine wiederholte Forderung der Frauenbewegung und der Frauen am InterPetra Bläss nationalen Frauentag gewesen ist, dass endlich der § 19 des Ausländergesetzes mit Blick auf die ausländischen Frauen geändert wird. ({1}) Es ist noch nicht einmal drei Jahre her, dass ich im Deutschen Bundestag zur Novellierung des § 19 geredet habe. Es ging damals um einen mühsam gefundenen Kompromiss, den die SPD-geführten Bundesländer über den Bundestag im Vermittlungsausschuss durchgesetzt hatten. Das war vor drei Jahren ein Erfolg, weil erstmals Ehegatten - hier ging es insbesondere um Ehefrauen unabhängig von der Aufenthaltsdauer und der Ehebestandszeit ein eigenständiges Aufenthaltsrecht im Falle außergewöhnlicher Härte in Aussicht gestellt wurde. Es ist uns leider nicht gelungen, das, was außergewöhnliche Härte ist, im Gesetz zu definieren. Es war eben ein Kompromiss. Die Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen. Wir - die damalige Opposition, aber auch viele in den Fraktionen der damaligen Regierungsparteien - waren bereit, einen Weg mit zu gehen in der Hoffnung, mehr Schutz für Migrantinnen zu schaffen. Auch die Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, die uns beraten haben, waren skeptisch. Es war ein Kompromiss. Es ging um eine Güterabwägung zwischen dem, was wir erreichen wollten, und dem, was unter den damaligen Mehrheitsverhältnissen möglich war. Wir in der SPD haben nie einen Zweifel daran gelassen: Wenn wir endlich die Mehrheit haben, dann werden wir Gesetze verabschieden, die den Frauen in unserem Lande einen besseren Schutz gewährleisten. ({2}) Mit dem jetzt zur zweiten und dritten Lesung anstehenden Gesetzentwurf lösen wir dieses Versprechen ein. Ich sage hier einmal ganz deutlich: Der Schutz vor Menschenrechtsverletzungen darf nicht durch Angst eingeschränkt werden. Es kann nicht sein, dass die im Grundgesetz verankerten Werte wie die Würde des Menschen, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Gleichheit vor dem Gesetz und das Selbstbestimmungsrecht nicht für alle unabhängig von ihrer Nationalität, von ihrem Geschlecht oder von ihrer religiösen Zugehörigkeit gelten sollen. Deshalb müssen wir in unserem Lande auch Migrantinnen, so gut es geht, vor ihren gewalttätigen Ehemännern schützen und ihnen ein hohes Maß an Rechtssicherheit gewähren. ({3}) Ich bestreite nicht, dass sich auch mit dem im Vermittlungsausschuss gefundenen Kompromiss die Bedingungen für Migrantinnen in einer Reihe von Fällen verbessert haben. Es gab aber in der Praxis nicht in jedem Fall eine Verbesserung. Für uns ist jeder einzelne Fall, für den keine Verbesserung erreicht wurde, ein Fall zu viel. Ich erinnere hier an den tragischen Fall einer misshandelten Kurdin aus Kempten in Bayern. Sie verlor ihr Aufenthaltsrecht und wurde zusammen mit ihren zwei Kindern abgeschoben, weil sie sich von ihrem Peiniger hatte scheiden lassen. Nach gerichtlichen Aussagen war die Frau regelmäßig massiv geschlagen, an den Haaren gezogen sowie mit Fußtritten und Faustschlägen malträtiert worden. Der Mann habe sie mit vorgehaltenem Messer gezwungen, die Sozialhilfe herauszurücken. In der leeren Wohnung sei sie mit ihren Kindern ohne Essen zurückgelassen worden. Es hat uns schon alle erschüttert, dass dies dem bayerischen Innenstaatssekretär Hermann Regensburger nicht genug war, um diese Situation als Härtefall anzuerkennen. Er hat gesagt: Eine sehr unglückliche Ehe alleine begründet keine besondere Härte. Wenn wir dann hören, dass die Eingriffe in die Integrität der Betroffenen durch ihren Ehemann in ihrer Intensität nicht das entsprechende Ausmaß erreicht hätten, fällt es schon schwer, hier jetzt auszusprechen, wie die Bayern besondere Härte definierten: Ein schwerer Fall oder eine schwere Körperverletzung läge im Sinne des Strafgesetzes nur „bei Verlust eines wichtigen Gliedes, bei Verfallen in Siechtum, Lähmung oder Geisteskrankheit oder auch bei dauernder Entstellung“ vor. Ich glaube, Kolleginnen und Kollegen, dies alleine reicht, um zu sagen: Damit muss endlich Schluss sein. So darf Härte nicht definiert werden. Das wollen wir den Frauen nicht zumuten. ({4}) Hilfsorganisationen, Beraterinnen, Mitarbeiterinnen aus den Frauenhäusern und auch wir mussten viel zu oft hilflos zusehen, wie Migrantinnen trotz der Neuregelung aus der Bundesrepublik ausgewiesen wurden. Brutal misshandelte Migrantinnen lebten nicht nur weiterhin in Angst vor ihrem gewalttätigen Ehemann, sondern auch in Angst vor dem Staat, der sie je nach Auslegung des Härtefallbegriffs und je nach Bundesland auch noch in ein Heimatland abschob, in dem ihnen erneut Verfolgung und auch körperliche Misshandlungen drohten. Genau in diesem letzten Bereich, in dem, was der Staat tun kann, muss gehandelt werden. Wir können nicht jede Frau vor ihrem gewalttätigen Ehemann schützen. Wir können aber Rahmenbedingungen schaffen, damit die Frauen in diesem Lande wissen, dass sie, wenn sie Gewalt ausgesetzt wurden, hier uneingeschränkten Schutz finden und wir ihren Schutz höher ansetzen als eventuelle Furcht vor Missbrauch eines Gesetzes. Ich glaube, da sind wir uns alle einig. ({5}) Wir beraten heute die Neuregelung des § 19 des Ausländergesetzes, damit endlich bundeseinheitlich geregelt wird, wann ein Härtefall gegeben ist, sodass Frauen im ganzen Bundesgebiet vor Gewalt geschützt werden und willkürliche Entscheidungen der Vergangenheit angehören. Trotz der früheren Neuregelung wurde von Land zu Ulla Schmidt ({6}) Land unterschiedliches Recht gesprochen. Eine Umfrage in den Frauenhäusern aus dem Jahre 1997 ergab, dass von 67 Anträgen auf Anerkennung eines Härtefalls lediglich 16 Anträge positiv entschieden wurden, davon entfielen allein 12 auf Nordrhein-Westfalen, das von Anfang an durch eine Verwaltungsvorschrift außergewöhnliche Härte im Interesse der betroffenen Frauen so bestimmt hat, wie wir es damals - ich sehe gerade den Kollegen Marschewski - im Deutschen Bundestag intendiert hatten. Es war unser Wille, dafür zu sorgen, dass die Definition, die wir in der Begründung des Gesetzes hatten, auch eine bundeseinheitliche Auslegung möglich macht. Leider hat es die alte Bundesregierung versäumt, dafür zu sorgen, dass die Definition des Härtefalls in einer Verwaltungsvorschrift überall gültig ist. Das holen wir heute mit der neuen gesetzlichen Regelung nach. ({7}) Die Umfrage, die ich eben genannt habe, ist aber auch ein Beispiel dafür, wie engagierte Frauenorganisationen, Initiativen, Verbände, Beratungsstellen und Frauenhäuser die Auswirkungen des § 19 Abs. 1 Ausländergesetz verfolgten. Deshalb freue ich mich ganz besonders, dass viele dieser engagierten Frauen heute auf der Besuchertribüne der zweiten und dritten Lesung der Novellierung des § 19 Ausländergesetz folgen. Ich kann ihnen von dieser Stelle aus sagen: Wir sind Ihnen für Ihr Engagement dankbar, das uns Frauen im Parlament jahrelang begleitet und den Rücken gestärkt hat. Auch das hat uns geholfen, dass wir heute im Deutschen Bundestag zu der Verabschiedung der Novelle kommen. ({8}) Zukünftig erhalten Migrantinnen ein eigenständiges Aufenthaltsrecht bereits nach zwei Ehejahren. In Fällen besonderer - nicht mehr außergewöhnlicher - Härte müssen sie nicht mehr in einer unzumutbaren ehelichen Gemeinschaft ausharren. Wenn sie die Rückkehr in ihr Herkunftsland härter als andere mit einer vergleichbar kurzen Dauer des Aufenthalts in Deutschland trifft, dann bekommen sie hier ein Aufenthaltsrecht. Besonders wichtig ist uns, dass auch der Bezug von Sozialhilfe in Fällen, in denen Frauen mit ihren Kindern in ein Frauenhaus gehen müssen und keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können, einer Aufenthaltsgenehmigung nicht entgegensteht. Die Frauen dürfen dann hier bleiben, wenn sie die Umstände nicht selbst zu verantworten haben. ({9}) Gewalt gegen Frauen und Kinder müssen wir bekämpfen. Wir alle wissen, dass Gewalt immer individuelle und gesellschaftliche Ursachen hat. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben uns zum Ziel gesetzt, ein Klima zu schaffen, in dem Gewalt gegen Frauen und Kinder geächtet wird. Uns ist damit ernst. Das sehen Sie an dem heute vorgelegten Aktionsplan und auch nicht zuletzt an dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des § 19 Ausländergesetz. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSUFraktion, ich wünsche mir, dass Sie mit derselben Ernsthaftigkeit, wie es auch schon die Kollegin Lenke für die F.D.P. vorgetragen hat, an dieses Thema herangehen und mit uns gemeinsam den Gesetzentwurf verabschieden. Wir alle sollten den hier lebenden Migrantinnen ein Stück mehr Sicherheit und Schutz in Deutschland geben. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Peter Uhl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Ich bitte um Nachsicht, dass ich als Mann zu diesem Thema heute spreche. ({0}) Ich habe aber gehört, dass ich von der F.D.P. Verstärkung bekomme: Herr Stadler beabsichtigt, als zweiter Mann zu diesem Thema zu sprechen. Gleichwohl werde ich mich bemühen, mit der gehörigen Sensibilität mit dem Thema umzugehen. Sie haben heute einen Aktionsplan zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen präsentiert. Das ist ein gutes Ziel, in dem wir uns alle einig sein könnten. Denn: Benachteiligt sind bestimmte Gruppen von Frauen, insbesondere ausländische Frauen, die zum Teil auf schändliche Weise behandelt werden, die gedemütigt, geschlagen und vergewaltigt werden. Denen muss geholfen werden. Das ist auch unser Anliegen. Deswegen waren wir in der Union, insbesondere die Frauen in der Union, sehr bemüht, einen Kompromiss zu finden. Leider kam es zu diesem Kompromiss nicht. Ich werde erläutern, warum. Es kam nicht zum Kompromiss, weil Sie das Ziel, das richtig ist, mit den falschen Mitteln angehen. Sie haben sich nämlich § 19 des Ausländergesetzes herausgesucht. Ein flüchtiger Blick in das Gesetz hätte Sie eigentlich schon belehren müssen. In § 19 wird von einem eigenständigen Aufenthaltsrecht für ausländische Ehegatten - geschlechtsneutral formuliert - gesprochen, ({1}) für Männer und Frauen, für gewalttätige Männer und für nicht gewalttätige Männer aus dem Ausland, für Gute und für Schlechte. Das ist der Gegenstand des § 19. Aufgrund ihrer Undifferenziertheit ist diese Vorschrift für das angestrebte Ziel untauglich. Ulla Schmidt ({2}) Mit Ihrem Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen verbessern Sie unweigerlich, ob Sie es wollen oder nicht, auch den Aufenthaltsstatus des ausländischen Ehegatten, der ein gewalttätiger Schläger ist. Ob Sie es wollen oder nicht, verbessern Sie auch den Aufenthaltsstatus des Strolches, der eine Ehe erschleicht. Sie verbessern auch den Aufenthaltsstatus des Betrügers, der Scheinehen eingeht. Das wollen Sie zwar nicht, aber Sie tun es. ({3}) Sie verbessern also unfreiwillig auch die Rechte von ausländischen kriminellen Männern. Sie machen sie mächtiger und geben ihnen die Möglichkeit, leichter als zuvor ein eigenständiges Aufenthaltsrecht durch Instrumentalisierung von Frauen zu erlangen. Das nennen Sie, Frau Sonntag-Wolgast, pathetisch einen „Aktionsplan der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“. Es gibt zwei Regelungen, zum einen eine Härtefallregelung und zum anderen eine Fristenregelung. Gegen die Härtefallregelung hätten wir nichts einzuwenden. In diesem Punkt könnten wir uns rasch einigen - kein Problem. Wir haben immer ganz offen im Innenausschuss darüber diskutiert, an welcher Stelle diese Regelung verbesserungsfähig und verbesserungswürdig ist. Aber die Verkürzung der Ehezeit von vier auf zwei Jahre ist der Punkt, an dem wir aus Gründen, die ich Ihnen jetzt nennen werde, nicht mitmachen können und wollen. Diese Regelung öffnet nämlich dem Missbrauch Tür und Tor, weil bei einer Verkürzung auf zwei Jahre eine Einzelfallprüfung bekanntlich nicht mehr stattfinden kann und nicht mehr stattfinden darf. Ich muss Sie aus meiner Praxis und aus meiner Erfahrung im Gesetzesvollzug leider mit konkreten Einzelfällen belästigen. Ich weiß, Sie wollen nicht hören, dass in der Praxis auch diese Fälle vorkommen. Aber ich muss es tun. Ein ausreisepflichtiges bosnisches Ehepaar hat gesagt: Wir wandern weiter in die USA. Daraufhin hat die Ausländerbehörde den Aufenthalt hier für mehrere Jahre geduldet. Plötzlich lässt sich das Ehepaar scheiden. Die Bosnierin überlässt die Kinder dem bosnischen Mann und heiratet einen Deutschen. Sie kann also hier bleiben, muss nicht mehr weiterwandern und auch nicht mehr zurück nach Bosnien. ({4}) Die Ausländerbehörde erkundigt sich, ob der Bosnier mit den Kindern nach Bosnien zurückgekehrt ist oder ob er in die USA weitergewandert ist. Siehe da, sie stellt fest, dass auch der bosnische Ehemann eine Deutsche geheiratet hat. Jetzt haben wir also zwei Verheiratungen mit Deutschen, keine Weiterwanderung und keine Rückkehr nach Bosnien. ({5}) - Fragen Sie einmal Ihre Praktiker in der Fraktion; sie wissen, wie es zugeht. Der Herr Landrat Veit aus Gießen weiß, was in seiner Praxis alles vorgekommen ist. ({6}) Die Ausländerbehörde muss jetzt innerhalb von zwei Jahren prüfen - das ist Ihr Gesetzesvorschlag -, ob hier zwei Scheinehen vorliegen. Ich sage Ihnen: Das gelingt der Ausländerbehörde nicht. ({7}) Man kann in zwei Jahren in aller Regel diese Prüfung nicht gerichtsfest abschließen. Scheinehen wird man im Falle einer Zwei-Jahre-Frist nur noch aufdecken können, wenn es zur Selbstanzeige eines Partners kommt, weil der andere seiner Unterhaltspflicht nicht mehr genügt. Das ist die Wirklichkeit in Deutschland. ({8}) Ich möchte Sie auf einen weiteren Umstand hinweisen. Wir alle wissen, dass es immer mehr Schleuser gibt, die ausländische Frauen nach Deutschland einschleusen, sie pro forma verheiraten, sie zur Prostitution zwingen und sie - nach Ihrer Zwei-Jahre-Regelung - nach zwei Jahren legalisieren. Die Schleuser können dann neue Frauen hereinschleusen, um sie auch auf diese Weise zu legalisieren. ({9}) Insofern ermöglichen und begünstigen Sie kriminellen Menschenhandel, ohne es zu wollen. Ein dritter Gedanke. Vielleicht kennen Sie die Entschließung des EU-Rates - sie stammt vom 4. Dezember 1997 - über Maßnahmen zur Bekämpfung von Scheinehen. Dort wird genau aufgezählt, welche Faktoren bei Scheinehen typischerweise vorliegen. Die EU verpflichtet alle Mitgliedstaaten, dagegen vorzugehen. Das heißt, die Behörden müssen diesen Verdachtsmomenten nachgehen. Die EU verpflichtet uns, die nationalen Gesetzgeber, dafür zu sorgen, dass die Entschließung des EURates zur Bekämpfung von Scheinehen in nationales Recht umgesetzt wird. Sie machen heute genau das Gegenteil. Mit der Änderung der Fristenregelung von vier auf zwei Jahre sorgen Sie dafür, dass die Behörden in Deutschland Scheinehen nicht mehr aufdecken können, das heißt, dass Scheinehen nicht bekämpft, sondern erleichtert werden. Das verstößt gegen europäisches Recht. Wenn Sie schon die Härtefallregelung erleichtert haben, wofür wir Sympathie haben und dem wir zustimmen könnten, dann sollten Sie zugleich nicht die Verkürzung auf zwei Jahre vornehmen, weil Sie mit dem Automatismus von zwei Jahren jedem Ausländer - ob gut oder böse, ob Mann oder Frau - ein Aufenthaltsrecht geben. ({10}) Das wollen wir nicht, weil auch Fälle begünstigt werden, die nicht begünstigt gehören. Wenn sich ein Mensch nach einer zweijährigen Ehe scheiden lässt und auf diese Weise lebenslang zu einem Sozialfall wird, ist dies eine Belastung des deutschen Steuerzahlers, die wir nicht einsehen. Dies führt zu einem Wohlstandsgefälle zwischen Deutschland und Entwicklungsländern, zu einem Anreiz, auf diese Weise nach Deutschland zu kommen. Jedes Jahr kommen Hunderttausende Armutsflüchtlinge, Ausländer im Wege des Familiennachzugs oder gleich illegal nach Deutschland. Sie wollen heute mit dieser Zwei-Jahre-Frist einen zusätzlichen, neuen Einwanderungstatbestand durch Scheineheschließung erreichen. ({11}) Ich möchte Ihnen noch einmal zwei Beispiele aus der Praxis nennen, damit Sie wissen, was Sie heute tun. Ich hatte in meiner Zeit einmal einen gewalttätigen Tunesier, der aus Deutschland wegen seiner Kriminalität zu Recht ausgewiesen wurde. Wir waren froh, dass er weg war. In Tunis heiratete er eine Deutsche. Er durfte also wieder nach München einreisen. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor. Unvorhersehbar hat er diese Kinder und die deutsche Ehefrau fortlaufend belästigt, im betrunkenen Zustand geschlagen und vergewaltigt. Die Strafverfahren wegen Trunkenheit im Verkehr, Diebstahls und sexueller Nötigung reihten sich aneinander. Aber er war ja deutsch verheiratet. Die Ehefrau hat jeglichen Kontakt zu ihm abgebrochen. Die gepeinigte Frau hat die Scheidung eingereicht - was sonst? Jetzt hat sie natürlich nur ein Ziel: Sie möchte vor diesem Menschen geschützt werden. Wissen Sie, was Sie machen? Sie belohnen ihn, indem Sie ihm nach zwei Jahren Ehe die Scheidung war danach - ein eigenständiges Aufenthaltsrecht geben, sodass er sie weiter peinigen, belästigen und vergewaltigen kann. ({12}) Sie müssen sich damit anfreunden, meine Damen und Herren. Sie können sich den Menschen nicht so schnitzen, wie Sie ihn haben wollen. Sie schaffen Gesetze. Gesetze wirken abstrakt und generell: für Gute, für Böse, für Deutsche, für Ausländer, für Männer, für Frauen. Deswegen muss ich Sie mit der rauen Wirklichkeit konfrontieren, damit Sie darüber noch einmal nachdenken. Ich nenne Ihnen noch einen weiteren Fall, vielleicht wachen Sie dann auf. Ein Nigerianer wurde als Asylbewerber abgelehnt und deswegen abgeschoben.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Uhl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Larcher?

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte diese Fälle vortragen. Im Anschluss gerne. Ein Jahr nach dieser Abschiebung kam er doch zu seiner Aufenthaltserlaubnis; er hat nämlich eine deutsche Touristin in Nigeria, im Standesamt in Lagos, geheiratet. Gleich nach seiner Wiedereinreise nach Deutschland erinnerte er sich: Ich habe hier ja noch eine Freundin aus der Heimat Nigeria; sie ist Asylbewerberin und ist noch nicht abgeschoben. Er hat darauf bestanden, dass seine nigerianische Freundin in die Wohnung, die er mit seiner deutschen Ehefrau teilte, mit einzieht; also lebten sie zu dritt. Die deutsche Ehefrau hat diesen Zustand natürlich abgelehnt - ich hoffe, Sie würden sich auch als Beschützerin dieser Frau bewähren -; aber sie war erfolglos. Der Mann war der Stärkere. Am Schluss ging die Deutsche zur Polizei und reichte die Scheidung ein, nachdem sie mehrmals geschlagen worden war. Das Ergebnis: Nach zweijähriger Ehe bekäme dieser Nigerianer ein eigenständiges unbefristetes Aufenthaltsrecht in Deutschland. Das hätten Sie mit Ihrem Gesetz erreicht. Herzlichen Glückwunsch! Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Noch einmal: Sie haben hier einen Aktionsplan vorgelegt und wollen Frauen helfen. Das wollen auch wir. Aber mit diesem Gesetzentwurf helfen Sie eben nicht nur Frauen, sondern auch den männlichen ausländischen Peinigern. Um diesen Punkt geht es mir. Ich habe aufmerksam dem zugehört, was die Staatssekretärin Sonntag-Wolgast zur Begründung der Fristverkürzung auf zwei Jahre gesagt hat. ({0}) - In der Innenausschusssitzung. - Sie, Frau SonntagWolgast, sagten, es sei bedeutsam, dass auch bei einer intakten Ehe die Begründung der Eigenständigkeit einer Seite erfolgen soll. Meine verehrte Frau Staatssekretärin, sicherlich ist es bedeutsam, dass man eine Eigenständigkeit bekommt. Aber, wie gesagt, das geschieht für beide: Auch der peinigende ausländische Ehemann bekommt eine Eigenständigkeit. Wollen Sie das wirklich? Haben Sie das zu Ende gedacht? Was Sie hier machen, das ist doch grober Unfug. Ihr Vorschlag ist keine Reform; stattdessen öffnen Sie dem Missbrauch Tür und Tor. Sie verletzen europäisches Recht. Sie betreiben eine verkappte Einwanderungserleichterung. Von ihren ausländischen Ehemännern gepeinigte deutsche Frauen lassen Sie gänzlich im Stich. ({1}) Anscheinend gehören diese Frauen nicht zum Kreis ihrer Interessensgruppen, weswegen Sie sie außer Acht lassen. Denken Sie daran: Es gibt deutsche Frauen, die von ausländischen Ehemännern gepeinigt werden können. Haben Sie davon schon einmal gehört? ({2}) Die Welt ist leider nicht so, dass es nur böse deutsche Männer und gute ausländische Frauen gibt. Ich habe schon von anderen Fällen gehört. ({3}) Ich hoffe, auch Sie. Wir machen hier Gesetze für alle: für die Guten und für die Bösen, für die Frauen und für die Männer, für die Deutschen und für die Ausländer. Denken Sie an den Ausgang und verharren Sie nicht bei einer einseitigen Fallgestaltung. Wir wollen in echten Härtefällen helfen. Wo Frauen gepeinigt werden, da sind wir dabei zu helfen. Aber so, wie Sie vorgehen, geht es leider nicht. ({4}) - Indem wir die Härtefallregelung, so wie sie jetzt vorgeschlagen wurde, übernehmen, es aber bei der Frist von vier Jahren belassen. Das ist die Antwort auf Ihren Zwischenruf. ({5}) - Auf vier Jahre. Härtefallregelung plus vier Jahre, das ist die beste Lösung. Das ist unser Kompromissangebot. ({6}) Ein kluger Mann hat einmal gesagt, dass das Recht angewandte Macht ist. Sie wenden heute - wir können Sie davon nicht abhalten - Ihre Mehrheitsmacht an, weil Sie ausländischen Frauen mehr Rechte geben wollen. ({7}) In Wirklichkeit geben Sie aber auch kriminellen ausländischen Männern mehr Macht über Frauen. Das wollen wir nicht; deswegen lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nun der Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ihre Rede, Herr Dr. Uhl, hat uns einen sehr tiefen Einblick in das finstere Denken und in den Hintergrund gegeben, mit dem Sie an die Frage des Verhältnisses von Ausländern und Deutschen herangehen. ({0}) Sehr deutlich wurde das genau an den Fällen, die Sie geschildert haben. Hier lebt eine bosnische Flüchtlingsfamilie - oft seit vielen Jahren; wir wissen, dass der Krieg schon vor zehn Jahren begonnen hat -, die Menschen trennen sich und es passiert das Normalste von der Welt: Es finden sich neue Partner und sie finden sich weil diese Menschen nun einmal in diesem Land leben mit Deutschen. Es werden neue Ehen geschlossen - das Normalste von der Welt. Dieser Sachverhalt wird nun von Ihnen von vornherein zu einer Scheinehen-Tatsache umdefiniert. ({1}) Das bedeutet, dass Sie gegenüber Migrantinnen und Migranten schon vom Grundsatz her mit einer Verdachtshaltung auftreten. Genau in diesem Punkte trennen wir uns wirklich voneinander. Wir gehen davon aus - die Kollegin Schmidt hat das sehr schön ausgedrückt -, dass die Menschenrechte und die Würde des Menschen für alle Menschen - unabhängig von der Nationalität - von Anfang an angenommen werden müssen und sich auch in unserer Rechtsordnung niederschlagen müssen. ({2}) Deswegen ist es sehr gut, wenn wir heute im Zusammenhang mit einem nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen auch darüber reden, welche neuen Rechte Migrantinnen und Migranten zugestanden werden müssen, denn eines wissen wir: Gewalt wird vornehmlich gegen Abhängige ausgeübt und unser Ausländerrecht führt so, wie es jetzt aussieht, immer auch dazu, dass sich Frauen - und Migrantinnen dann auch noch doppelt - in Abhängigkeiten befinden. Diese Abhängigkeiten so weit wie möglich zu lockern ist das Ziel und der Inhalt des § 19 des Ausländergesetzes in der Form, wie er jetzt in der zweiten und dritten Lesung debattiert wird. ({3}) Sie denken in Kategorien von Scheinehen. Wir wissen, dass die Realität im Wesentlichen anders ist. Mich beunruhigen die Katalogehen, die es hier gibt - darüber haben Sie nichts gesagt, Herr Kollege Uhl -, also die Fälle, in denen Männer Frauen missbrauchen. Ich habe noch nicht gehört, dass es Kataloge gibt, in denen Männer als Ehemänner angeboten werden. Ich meine also die Katalogehen, bei denen Männer ausländische Frauen missbrauchen und bei denen diesen Männern mit dem bisherigen § 19 die Knute in die Hand gegeben wird, die Ehe aufrechtzuerhalten, der Frau zu sagen: Wenn du nicht aushältst, was ich dir antue, dann kann ich dich wegschicken! ({4}) Das ist die Knute, die ich in der Hand habe. - Da wir in Kategorien der Gleichheit von Männern und Frauen denken, da wir auch Frauen Rechte geben wollen, wollen wir den Männern diese Knute aus der Hand nehmen und deswegen wird die Bestandszeit dieser Ehen von vier auf zwei Jahre verkürzt. ({5}) Wir gehen davon aus, dass Partnerschaften und Ehen gleichberechtigt sein müssen, und zwar egal, welche Nationalitäten zusammenkommen. Es geht um die Gleichheit von Mann und Frau. Das heißt, dass Ehen auf der Basis von Freiheit aufrechterhalten werden müssen; erst dann kann eine Partnerschaft gleichberechtigt werden. Zu der Freiheit gehört auch das Recht zu gehen, Herr Dr. Uhl. Ich weiß sehr gut, warum bei den Männern immer diese Nervosität aufkommt, wenn es um das Recht von Frauen geht zu gehen. ({6}) Deswegen sind Sie so starr gegen eine Reform des § 19: Es geht Ihnen nicht wirklich um den Schutz der Frauen, sondern es trifft viele Männer ins Mark, wenn sie anerkennen müssen, dass das Recht auch für die Frauen so gestrickt ist, dass sie Freiheiten bekommen, dass sie Entscheidungsfreiheiten bekommen, dass sie in der Ehe nicht alles aushalten müssen, weder eine physische noch eine psychische Misshandlung. Das ist der Inhalt dieses neuen § 19: die Freiheit zu bleiben, aber auch die Freiheit zu gehen, wenn eine Ehe unerträglich wird - nicht nur für deutsche Frauen, sondern auch für Migrantinnen in diesem Land. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Hanna Wolf, SPD-Fraktion.

Hanna Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Uhl, nur einen Satz zu Ihnen: Es stört nicht, wenn Männer in dieser Debatte das Wort ergreifen. Unerträglich ist nur, was Sie gesagt haben. ({0}) Ich finde es sehr schlimm, dass die CDU/CSU-Fraktion Sie heute hier hat reden lassen. ({1}) Mit dem Aktionsprogramm zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen haben die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen ein Zeichen gesetzt. Damit will die Bundesregierung in dieser Republik zum Ausdruck bringen, dass - es stimmt, Frau Falk, dass wir diese Themen immer sehr engagiert zusammen beraten haben - sie endlich etwas auf den Weg bringt und Gesetze macht. Deshalb möchte ich meinen Dank an die Beteiligten zum Ausdruck bringen: an die Frauenministerin Christine Bergmann, die Justizministerin Herta DäublerGmelin, den Innenminister Otto Schily, die Bildungsministerin Edelgard Bulmahn, die Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul und auch den Arbeitsminister Walter Riester. Alle haben ihren Beitrag zu diesem Aktionsprogramm geleistet und Gesetzesvorschläge unterbreitet. Deswegen mein herzlicher Dank, dass dieser Aktionsplan heute so einmütig von dieser Bundesregierung getragen wird! ({2}) Es ist für mich eine besondere Freude, dass wir mit großer Mehrheit in diesem Haus § 19 des Ausländergesetzes in der neuen Form verabschieden. Ich freue mich auch sehr, dass die F.D.P. dies nach einer intensiven Diskussion - ich gebe zu, dass sie eine Verdeutlichung in das Gesetz hineingebracht hat - ebenfalls mitträgt. Frau Falk, es tut mir ein bisschen weh, dass Sie heute nicht mitstimmen, ({3}) obwohl wir in vielen Punkten, wenn auch nicht in allen, übereinstimmen. Aber wenn Herr Uhl hier eine solche Rede halten darf, gibt es, glaube ich, keine Chance für Frauen aus Ihrer Fraktion, heute mit uns zu stimmen. Das finde ich schlimm! ({4}) Frau Falk, ich kann Ihnen leider nicht ersparen, dass ich hier einmal der Wahrheit die Ehre gebe. Herr Merz ist leider gegangen. Trotzdem muss ich sagen: Ja, es gab eine sehr dramatische, aber doch eindrucksvolle Debatte im Deutschen Bundestag, bevor wir für die Bestrafung der Vergewaltigung in der Ehe ein Gesetz verabschieden konnten, wie es auch für die Bestrafung der Vergewaltigung außerhalb der Ehe eines gibt. Viele von Ihnen haben sehr mutig mitgestimmt, gerade viele Frauen. Ich sehe einige, die dabei waren. Ich nenne einmal Frau Karwatzki, die das Gesetz mit vorangebracht hat. Aber Ihr neuer Hoffnungsträger und jetzt Fraktionsvorsitzender, Herr Friedrich Merz, ({5}) hat bei der Abstimmung über die Sanktionierung der Vergewaltigung von Ehefrauen mit Nein gestimmt. Das finde ich ziemlich schlimm. Dass er nun auch noch Ihr Fraktionsvorsitzender ist, lässt befürchten, dass von diesem Thema bei Ihnen noch nichts angekommen ist. ({6}) Eigentlich sollte er seine Meinung korrigieren und sich entschuldigen. Wir bringen heute Gesetze auf den Weg, einschließlich der Reform des § 19. Praktisch kurz vor dem Marieluise Beck ({7}) Abschluss steht das Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung. Es ist für uns sehr wichtig, dass es wirklich als Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung bezeichnet wird. Ich hoffe, dass wir da noch einen Kompromiss finden werden. Die häusliche Gewalt soll endlich sanktioniert werden. Sie ist nämlich nicht eine Privatsache, sondern eine gesellschaftliche Angelegenheit. Unsere Justizministerin wird sicherlich noch etwas dazu sagen. Frau Ministerin Bergmann hat klar und eindeutig darauf aufmerksam gemacht, dass Prävention, also Verhütung von Gewalt, eine große Aufgabe für uns alle in dieser Gesellschaft ist: in den Schulen, um die alten Rollenklischees zu überwinden, in den Jugendzentren; überall muss thematisiert werden, dass Gewalt geächtet gehört. ({8}) Wir haben auch angesprochen, dass wir endlich etwas gegen den Frauenhandel unternehmen wollen. Dieses Thema wird auch von der Reform des § 19 des Ausländergesetzes mit erfasst. Wir brauchen das Zeugenschutzprogramm und deswegen eine Abschiebefrist von mindestens vier Wochen. Aber wir brauchen ebenso Hilfen für die Frauen, die man nach Deutschland gelockt und dann in die Prostitution gezwungen hat. Ihnen muss auch in ihrem Heimatland geholfen werden. Es gibt ja die Zusammenarbeit zwischen den nicht staatlichen Organisationen. Diese müssen wir stärken. ({9}) Wir brauchen - auch da waren wir in diesem Parlament einig - eine Gesetzgebung, die auch das Asylrecht dahin gehend präzisiert, dass Genitalverstümmelung als Grund für das Recht auf Asyl anerkannt wird. Wir hoffen, dass dies durch die europäische Gesetzgebung und die Novellierung des Asylrechts ermöglicht wird. Ich denke, dass wir uns darin einig sind. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin Wolf, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Marschewski? ({0})

Hanna Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ich möchte folgende Frage stellen: Wie können Sie durch die Neuformulierung des § 19 des Ausländergesetzes Frauenhandel verhindern? Diese Frage würde ich gerne von Ihnen beantwortet haben. Öffnet nicht vielmehr Ihre neue Formulierung dem Missbrauch Tür und Tor, und ist es nicht richtig, dass mit der derzeitigen Regelung des § 19 alle schwierigen Fälle - es mag Fälle geben, die verwaltungsmäßig problematisch entschieden worden sind - gelöst werden?

Hanna Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Alle Fälle werden sicherlich nicht gelöst. Marieluise Beck hat ja darauf hingewiesen, dass dieser Kataloghandel, also das Recht, Frauen umzutauschen, oft deswegen ermöglicht wird, weil die betroffenen Frauen kein eigenständiges Aufenthaltsrecht haben. Das heißt, die Ehemänner kündigen einfach die Ehe auf, wenn ihnen die Ehe nicht passt. Damit erledigt sich für den Mann das Problem, und die Frau wird ausgewiesen. Halten Sie das für richtig? Ich denke, die Neuformulierung des § 19 des Ausländergesetzes ist ein Schritt, um ein solches Vorgehen zu bekämpfen. ({0})

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sind Sie denn nicht wie ich der Auffassung, dass gerade dieser Fall des Frauenhandels durch den bestehenden § 19 des Ausländergesetzes voll und ganz geregelt wird, und zwar zur Zufriedenheit der misshandelten Frau? Frau Kollegin, es ist wirklich so. Deswegen ist der § 19 in der neuen Form überflüssig. Das wird Ihnen jeder Fachmann, jeder Jurist sagen. Daher frage ich Sie: Sind Sie nicht der Meinung, dass die bestehende Regelung gerade im Hinblick auf die Verhinderung des Frauenhandels voll und ganz ausreicht? Ich bitte darum, diese Frage ganz konkret zu beantworten.

Hanna Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir gehen davon aus, dass sie nicht ausreicht. Wenn Sie meinen, sie reiche aus, dann sehen Sie das eben anders; aber auch dann schadet die Neuregelung nicht.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Wolf, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Hanna Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, sind Sie mit mir der Auffassung, dass im Gegensatz zu den Missbrauchsbefürchtungen von Herrn Marschewski der eigentliche Missbrauch dann besteht, wenn Männer mit ihren ausländischen Frauen, die sie sich in einem Katalog ausgesucht haben, zum Notar gehen, die jeweilige Frau notariell auf alle Unterhaltsrechte verzichtet, der Mann mit der Ehe faktisch keine Verpflichtung eingeht und die betroffene Frau finanziell, aber auch ausländerrechtlich völlig schutzlos gestellt ist, wenn ihr Mann seine Machtstellung in der Ehe auslebt? Sollten wir nicht noch einmal darüber nachdenken, ob damit die Ehe sittenwidrigerweise ausgehöhlt wird und ob in diesem Zusammenhang nicht eine Missbrauchsregelung notwendig ist, die vielleicht auch von der CDU/CSU im Sinne eines Schutzes der Ehe bzw. in diesen Fällen der Ehefrauen unterstützt wird? Hanna Wolf ({0})

Hanna Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Beck, ich stimme voll mit Ihnen überein. Es wäre wirklich angemessen - damit möchte ich auf den Vorwurf von Herrn Uhl an sich selber dahin gehend, dass er hier als Mann spricht, eingehen -, wenn sich angesichts dieses Themas mehr Männer engagieren würden. ({0}) Letztendlich geht nämlich die Gewalt von den Männern aus. Wer könnte Männern besser klarmachen, dass Gewalt geächtet werden muss? Männer können Männern sehr viel besser sagen, dass es sich nicht gehört, so mit Frauen umzugehen. ({1}) Das wäre eine große Hilfe. Folgenden Appell möchte ich an das gesamte Parlament, an die Öffentlichkeit und auch an alle Männer richten: Helft mit, dass Männer Frauen nicht mehr mit Gewalt begegnen! Das wäre heute ein gutes Signal, das wir nach außen geben können. ({2}) Ich möchte mit folgendem Hinweis schließen: Mit der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen bekämpfen wir Gewalt als solche auch in unserer Gesellschaft. Ich glaube, das bringt dieses Parlament heute mit dieser Debatte zum Ausdruck. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Max Stadler, F.D.P.-Fraktion.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst daran erinnern, dass die geltende Fassung des § 19 des Ausländergesetzes in der letzten Legislaturperiode vom Vermittlungsausschuss gestaltet worden ist, also faktisch von einer großen Koalition. Entsprechend sah das Ergebnis aus: ein Zwitter, ein Formelkompromiss. SPD und Grüne konnten Verbesserungen des eigenständigen Aufenthaltsrechts von geschiedenen Ehegatten für sich reklamieren, aber die Union, insbesondere die CSU, konnte mit gleichem Recht gegenüber ihrer Wählerklientel behaupten, dass ausländische Ehegatten nach einer Scheidung weiterhin ausgewiesen und abgeschoben werden. Kurzum: Dies war eine in sich widersprüchliche Regelung mit unklarem Inhalt, die in den Ländern zu einer unterschiedlichen Verwaltungspraxis geführt hat. Das kann so nicht bleiben. ({0}) Die F.D.P.-Bundestagsfraktion unterstützt daher die vorliegende Novelle des Ausländergesetzes insofern, als die so genannten Härtefälle, bei denen ein eigenständiges Aufenthaltsrecht unabhängig von Fristen zuerkannt wird, nunmehr präziser definiert sind. Fälle, wie in Kempten geschehen - dieser Fall ist heute schon angesprochen worden -, sind künftig nicht mehr möglich. Dies ist gegenüber der Gesetzeslage von 1996 eindeutig ein Fortschritt. ({1}) Der Koalitionsentwurf in seiner ursprünglichen Fassung hatte aber eine Widersprüchlichkeit der alten Regelung beibehalten wollen. Auf Betreiben Bayerns war 1996 im Vermittlungsausschuss festgelegt worden, dass trotz Vorliegens eines Härtefalls geschiedene ausländische Ehegatten ausgewiesen und abgeschoben werden können, wenn sie sozialhilfeberechtigt sind. Graf Lambsdorff hat dies damals als kleinlich und menschlich schäbig kritisiert. Wir schließen an seine Kritik an. Deswegen hat die F.D.P. im jetzigen Gesetzgebungsverfahren darauf hingewirkt, dass diese Sozialhilfeklausel nur noch gilt, wenn der oder die Betroffene die Sozialhilfebedürftigkeit selbst zu vertreten hat, also etwa bei grundloser Verweigerung der Annahme angebotener Arbeit. Dieser Änderungsantrag der F.D.P. war notwendig, weil man den Frauen - um diese geht es im Wesentlichen - ansonsten Steine statt Brot gegeben hätte. Dann nämlich wäre es zwar zu einer auf dem Papier großzügigeren Härtefallregelung gekommen, was aber durch Beibehaltung der alten Sozialhilfeklausel sofort wieder konterkariert worden wäre; denn in den kritischen Fällen liegt meistens unverschuldete Sozialhilfebedürftigkeit vor. Den betroffenen Frauen hätte daher weiterhin Ausweisung und Abschiebung gedroht. Wir stellen mit Befriedigung fest, dass unser Änderungsantrag in den Ausschüssen von allen Fraktionen mit Ausnahme der CDU/CSU unterstützt worden ist und dieser Gesetzentwurf somit gegenüber der Fassung aus der ersten Lesung im Interesse der Frauen in einem Punkt entscheidend verbessert worden ist. ({2}) Von einer Zustimmung zur gesamten Neuregelung trennt uns aber die Frage, wie einem denkbaren Missbrauch des eigenständigen Aufenthaltsrechts entgegengewirkt werden kann. Die Koalition ist der Meinung, dass man einem solchen, immerhin denkbaren Missbrauch in Normalfällen, nicht also in Härtefällen, mit einer Fristsetzung von zwei Jahren Bestandsdauer der Ehe in Deutschland entgegenwirken muss. Die F.D.P.Fraktion meint, diese Frist sei zu kurz bemessen und sollte auf drei Jahre ausgeweitet werden. Dieser Teil unseres Änderungsantrages ist in den Ausschüssen abgelehnt worden. Wir wiederholen ihn daher im Plenum in zweiter Lesung. Die F.D.P.-Fraktion macht ihr Gesamtvotum vom Ausgang der Abstimmung über diesen Änderungsantrag abhängig. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun erteile ich der Bundesministerin Herta Däubler-Gmelin das Wort.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es ist gut, wenn wir an einem Tag wie heute, in einer Debatte, in der es insbesondere um die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen geht, gemeinsam und öffentlich drei Feststellungen treffen. Erste Feststellung: Wir lehnen Gewalt ab, Gewalt ist unzulässig. Wir gehen alle gemeinsam entschlossen gegen sie vor. ({0}) Wir wissen genau, dass dies nicht nur eine Frage der Moral ist. Das betrifft vielmehr den Kern unseres Selbstverständnisses in unserem Rechtsstaat und auch unsere Rechtskultur. Zweite Feststellung: Der Staat hat zentral die Aufgabe, Schwächere zu schützen, ihnen gegen Gewalt zu helfen und damit dazu beizutragen, dass Gewalt allgemein zurückgedrängt wird. ({1}) Die dritte Feststellung, die wir alle gemeinsam treffen sollten, ist, dass Opfern von Gewalt und Schwächeren geholfen werden muss, dass das viel zu häufig Frauen, Kinder und in zunehmendem Maße auch Ältere sind und dass Gewalt viel zu häufig auch heute noch bzw. heute wieder in Familien stattfindet. Meine Damen und Herren, der Aktionsplan der Bundesregierung macht sehr gut deutlich, dass wir Gewalt, gerade auch Gewalt in der Familie, mit unterschiedlichen Instrumenten, mit unterschiedlichen Mitteln und auf unterschiedlichen Wegen bekämpfen müssen, wenn wir erfolgreich sein wollen. Diese rot-grüne Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, erfolgreich zu sein. Das sind wir den Schwächeren und den Opfern schuldig. ({2}) Meine Damen und Herren, ich habe mich über das, was die Kollegin Falk zur Gewalt in der Familie gesagt hat, sehr gefreut. Ich denke, das ist ein richtiger Ansatz. Darauf sollten wir unsere gemeinsame Politik über die Parteigrenzen hinweg aufbauen. Aber lassen Sie mich eines hinzufügen: Gewalt in den Familien ist aus mehreren Gründen besonders problematisch. Sie ist über das Leiden der Opfer hinaus problematisch. Warum ist sie das? Sie ist es, weil wir ganz genau wissen, dass Gewalt dort gelernt und weitergegeben wird. Frau Falk, Kinder werden nicht gewalttätig oder als Schläger geboren, sondern sie werden durch eigene leidvolle Erfahrungen und schlechte Vorbilder zu Gewalt gebracht, sie werden durch Gewalttätige und Schläger zu Gewalt und auf die schiefe Ebene gezogen. Genau deshalb müssen wir hier eingreifen. ({3}) Wir müssen auf verschiedenen Ebenen aber auch dadurch eingreifen, dass wir Gewalt in der Erziehung, Gewalt als Erziehungsmittel durch Gesetz ächten. Wir müssen dies allen Menschen, die dies noch nicht wissen und uns zuhören, klarmachen und mit ihnen besprechen. Wir zielen damit auf das Bewusstsein der Öffentlichkeit, wir zielen auf den guten Willen der Eltern, zu erkennen, dass man mit Gewalt nichts erreicht, außer Menschen gewaltgeneigter zu machen. Erziehung findet dadurch nicht statt. Es ist richtig, die Fähigkeit zur Erziehung zu stärken. Auch das ist Teil der Politik dieser Bundesregierung. Dazu brauchen wir natürlich auch die Eltern. Wir brauchen aber auch die Jugendämter, wir brauchen alle, die guten Willens sind. Aber Erziehung und Erziehungsfähigkeit zu stärken ist das eine, deutlich zu machen, dass Gewalt nicht zur Erziehung gehört, ist das andere. Das können wir als Bundesgesetzgeber sehr deutlich machen. ({4}) Wir wollen auch deutlich machen, dass Erziehung Fördern und Fordern bedeutet, dass Erziehung bedeutet Vorbild zu sein, dass Erziehung bedeutet, das Selbstbewusstsein von Kindern zu stärken, und dass Erziehung hin zu Solidarität, zu Menschlichkeit, aber auch zu Selbstbewusstsein und demokratischem Verhalten führen muss. Gerade darauf, meine Damen und Herren von der Opposition, müssen Kinder ein Recht haben, wenn es wirksam sein soll. ({5}) Deshalb werben wir auch bei Ihnen für das Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung. Wir müssen auch auf anderen Wegen gegen Gewalt vorgehen. Wir müssen den Opfern helfen. Deshalb haben wir das Gesetz zum Täter-Opfer-Ausgleich gemacht. Deswegen haben die Justizministerinnen und Justizminister auf europäischer Ebene endlich Maßnahmen zur Verhinderung und Bekämpfung des Frauenhandels eingeleitet. Natürlich dauert das lange. Natürlich ist das kompliziert. Aber wir haben einen Anfang gemacht, und mit der Unterstützung des gesamten Hauses, des gesamten Parlaments, werden wir ein Stück weiter kommen. ({6}) Das Nächste ist deshalb der Gesetzentwurf, den ich heute hier vorstelle und der jetzt in das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren kommt. Frau Falk, ich dachte übrigens, dass heute der richtige Zeitpunkt und der Deutsche Bundestag der richtige Ort ist, um das zu tun. Gerade deswegen haben wir unser Gewaltschutzgesetz vorgelegt und wollen es als Teil des Aktionsplans, der von der Kollegin Bergmann vorgestellt wurde, gegen Gewalt einsetzen. Was erreichen wir damit? Wir verstärken den zivilrechtlichen Schutz für gequälte und geschlagene Frauen. Wir haben im Zivilrecht heute schon einige Möglichkeiten. Ansprüche auf Unterlassung, auf Schadenersatz, auf Schmerzensgeld und bisweilen auch - bei Vorliegen der Voraussetzungen - auf Zuweisung der gemeinsamen Wohnung. Aber wir wissen genau, dass die Durchsetzung dieser Ansprüche im täglichen Leben bisweilen zu viel Mühe erfordert. Die Durchsetzung der Ansprüche müssen wir erleichtern und ergänzen und das versuchen wir. Wie machen wir das? Unser Gesetzentwurf sieht zwei wesentliche Dinge vor: einmal die Erleichterung der Wohnungszuweisung - - ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir werden offensichtlich darüber informiert, was wir gerade behandeln. Ein herzliches Dankeschön! ({0})

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Lassen Sie mich noch einmal da beginnen, wo wir von der Stimme aus dem Hintergrund unterbrochen wurden. Wie machen wir das? Wir tun das durch zwei wesentliche Neuerungen. Einmal erleichtern wir die Wohnungszuweisung. Das ist gut und richtig. Bisher seit in den siebziger Jahren; und es war schwer, das damals durchzusetzen, - hatten geschlagene Frauen und deren Kinder letztlich nur noch die Möglichkeit, ins Frauenhaus zu gehen. Es ist ein Glück, dass es die gibt. Frauenhäuser sind dringend nötig und jeder, der seinen Beitrag dazu leisten kann, sie zu unterstützen, muss dies tun. ({0}) Aber eigentlich empört sich da doch unser Rechtsbewusstsein. Ich bin ganz sicher, dass auch das über die Fraktionen und Parteien dieses Hauses hinweg so ist. Es empört unser Rechtsbewusstsein, wenn das Opfer, die geschlagene Frau, ins Frauenhaus flüchten muss, während der Täter, der Schläger, der prügelnde Mann, der den Mietvertrag unterschrieben hat, die Wohnung behalten darf. ({1}) Weil uns das empört und weil es nicht richtig ist und der Aufgabe des Staates, Schwächeren zu helfen, geradezu ins Gesicht schlägt, sagen wir: Wir drehen das um und verpflichten den Schläger zu gehen, während die Geschlagene bleibt. ({2}) Das ist das Ziel. Dazu brauchen wir die Möglichkeit der Erleichterung der Wohnungszuweisung. Als Zweites schaffen wir die Möglichkeit für neue gerichtliche Anordnungen, Menschen, insbesondere prügelnden Männern, vorzuschreiben, wie sie sich in Zukunft nicht mehr verhalten dürfen. Wir schaffen die Möglichkeit, durch Anordnung Hausverbote und Belästigungsverbote sowie Verbote, sich geschlagenen Ehefrauen oder den Kindern zu nähern, auszusprechen. Wir sanktionieren das bei Nichteinhaltung der Anordnung mit Ordnungsgeld und unter Umständen Ordnungshaft. Ich sage hier ganz offen: Es steht noch nicht fest, ob wir nicht später, wenn die Praxis das verlangt, mit Bußgeld - oder Strafvorschriften nachlegen müssen. Das alles wird noch zu diskutieren sein. Eines ist aber auf jeden Fall wichtig: Solche Anordnungen werden nicht nur dann ergehen, wenn bereits geschlagen wurde bzw. wie die Juristen es nennen - die Verletzung bereits erfolgt ist. Wir setzen die Bedrohung mit der Verletzung gleich. Deswegen soll es auch vorbeugend Anordnungen treffen. Ich glaube, dass ist genau das, was wir brauchen. ({3}) Wir wissen genau: Die Österreicher haben damit gute Erfahrungen gemacht. Sie haben auch deshalb gute Erfahrungen gemacht, weil sie nicht nur Gesetze geändert haben, sondern weil es ihnen gelungen ist, mit der Öffentlichkeit und auch mit gutwilligen Männern - also genau auf die Weise, die die Kolleginnen Schmidt und Wolf hier vorgetragen haben - in das Bewusstsein der Menschen und der Männer hinein zu wirken und Änderungen zu erreichen. Das haben auch wir vor. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden jetzt einen Teil vermissen, den Frau Falk angesprochen hat. Auch ich will dazu etwas sagen. In Österreich sind Justiz und Polizei Aufgaben der zentralen Regierung. Dort können vorläufige polizeiliche Wegweisungsrechte auf Bundesebene geregelt werden. Wir können das nicht. Wir haben den Ländern schon vor mehr als einem halben Jahr geschrieben und sie gebeten, zu überprüfen, ob und gegebenenfalls wie polizeiliche Wegweisungsrechte rechtsstaatlich verwirklicht werden können. Ich schließe mich Ihrem Appell an die Länder, so wie ich ihn verstanden habe, an, sehr schnell in die Prüfung einzutreten. Selbstverständlich helfen wir gern dabei. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erfahrungen sind, wie gesagt, gut. Wir möchten, dass dieser Aktionsplan über den heutigen Tag hinaus ernst genommen wird, dass darüber beraten wird und dass wir mit einer möglichst breiten Unterstützung des Deutschen Bundestages in der Öffentlichkeit sagen können: Wir schützen Schwächere und wir sind gegen Gewalt. Das ist das Signal für die Öffentlichkeit, das wir brauchen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- wurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grü- nen zur Änderung des Ausländergesetzes. Zur Abstimmung hat die Kollegin Jelpke eine schrift- liche Erklärung abgegeben.*) Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/2917 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der F.D.P.-Fraktion? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der SPD, von Bündnis 90/Die Grünen, der Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion und der PDS-Fraktion gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion und einige Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Wer stimmt nun für den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen und der PDS-Fraktion sowie einigen Stimmen aus der F.D.P.-Fraktion und einer Stimme aus der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion bei einigen Stimmenthaltungen aus der CDU/CSU-Fraktion angenommen. ({0}) Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der SPD-Fraktion, von Bündnis 90/Die Grünen, der PDS-Fraktion, einigen Stimmen aus der F.D.P.-Fraktion und zwei Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der großen Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion bei einigen Stimmenthaltungen aus der F.D.P.-Fraktion angenommen worden. ({1}) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2812 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers, Erwin Marschewski ({2}), Norbert Geis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Modernes europäisches Asyl- und Ausländer- recht *) Anlage 4 - Drucksache 14/2695 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheit der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aufgrund einer Initiative der CDU/CSU-Bundestagsfraktion debattieren wir heute über die Frage, was die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit den anderen Ländern der Europäischen Union unternehmen muss, um die dringend notwendige Harmonisierung des Asyl- und Ausländerrechts zügig voranzutreiben. ({0}) Die Erörterung unseres Antrages kann jedoch nicht isoliert von anderen ausländer- und asylrechtlichen Fragen erfolgen, die uns hier im Parlament, aber auch und vor allem die Menschen im Lande intensiv beschäftigen. Wir haben uns in den vergangenen Jahren viel zu lange mit der Erörterung der Frage beschäftigt, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland sei oder nicht. Ob man die Bundesrepublik als Einwanderungsland bezeichnet oder nicht, ist ausschließlich eine Frage der Definition, ohne dass mit der Beantwortung der Frage mit Ja oder Nein irgendein Erkenntnisfortschritt oder gar eine sachliche Problemlösung verbunden wäre. Im Gegenteil: Wer sich ständig nur mit dieser Frage beschäftigt und sie je nach politischer Interessenlage mit Ja oder Nein beantwortet, gerät leicht in die Gefahr, die wirklich wichtigen Fragen des deutschen Asyl- und Ausländerrechts sowie einer europäischen Harmonisierung auf diesem Gebiet zu vernachlässigen. Man kann diese Frage deskriptiv oder normativ beantworten. Wer die Ansicht vertritt, dass jedes Land ein Einwanderungsland ist, in das Angehörige ausländischer Staaten einreisen, um sich dort auf Dauer niederzulassen, der wird bei einer Zahl von über 7 Millionen Ausländern selbstverständlich behaupten, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Wer mit guten Argumenten die Auffassung vertritt, dass man richtigerweise nur solche Länder als Einwanderungsländer bezeichnen könne, die sich gezielt und nachhaltig um Einwanderung bemühen, der kann die Bundesrepublik selbstverständlich nicht als Einwanderungsland bezeichnen, ({1}) da wir spätestens seit dem Anwerbestopp aus dem Jahre 1973 aus guten innerstaatlichen Gründen nicht mehr um Zuwanderung werben. Angesichts des Umstandes, dass wir uns durch die Erörterung dieser Frage seit langer Zeit rhetorisch immer wieder im Kreise drehen, plädiere ich mit Nachdruck dafür, dass wir uns alle gemeinsam von Schlagworten und Überschriften lösen ({2}) und uns stattdessen mit Inhalten, also mit den Problemen und Chancen unseres Landes beschäftigen. ({3}) Eine ähnlich skurrile Debatte führen wir derzeit zu dem Thema Videoüberwachung von öffentlichen Räumen. Niemand in der Union denkt daran, die Republik einer flächendeckenden Videoüberwachung zu unterziehen. Es geht nur um die Frage, ob Videoeinsatz an einigen ausgewählten Kriminalitätsbrennpunkten sinnvoll sein könnte - und wenn ja, wie man datenschutzrechtlichen Bedenken Rechnung tragen kann. Um alles andere geht es bei dieser Frage nicht. Ich bin der festen Überzeugung: Die Menschen in der Republik sind es leid, dass wir uns nicht selten um des Streites willen streiten; sie verlangen stattdessen von uns, dass wir Probleme nicht nur analysieren, sondern auch lösen. ({4}) Was wir gerade auf dem ebenso wichtigen wie sensiblen Gebiet des Ausländer- und Asylrechts benötigen, ist eine von jeder Ideologie befreite Erörterung der Frage: Was ist gut und notwendig für die Zukunft unseres Landes und die Menschen, die hier leben? Ich bin sehr dafür, dass wir Debatten zur Ausländerpolitik zwar nicht emotionslos, aber dass wir sie ruhig und sachlich führen. ({5}) Aber es kann nicht sein, dass bestimmte Sachverhalte nur von Sozialdemokraten, aber nicht von den Mitgliedern der Union erwähnt werden dürfen, weil es dann sofort eine straff organisierte Empörung der politisch Korrekten gibt. ({6}) Der Bundesinnenminister hat vor einigen Monaten völlig zutreffend festgestellt - ich zitiere -: Die Grenze der Belastbarkeit der Bundesrepublik durch Zuwanderung ist überschritten. Rustikal formuliert: Das Boot ist nicht nur voll, sondern überfüllt. Meine Damen und Herren, was wäre eigentlich passiert, wenn sich ein Innenminister von CDU oder CSU derart geäußert hätte? - Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wäre eine Welle der Empörung durch unser Land gegangen, vorneweg die Sozialdemokraten, und vermutlich wäre Ausländerfeindlichkeit der allermildeste Vorwurf gewesen. ({7}) Doch wenn der Kollege Jürgen Rüttgers nur zutreffend darauf hinweist, dass es wesentlich sinnvoller ist, in die Ausbildung unserer Kinder und die Qualifizierung von Erwerbslosen zu investieren, statt in den Entwicklungs- und Schwellenländern dringend benötigte Fachkräfte abzuwerben, muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, dies sei - so Müntefering wörtlich - „Hetze gegen Minderheiten“. ({8}) Auf diesem Niveau kann man auf SPD-Parteitagen Erregungszustände organisieren, aber man löst kein einziges Problem. ({9}) Es ist für uns immer von Interesse, was ein Innenminister öffentlich äußert. Aber uns und die deutsche Öffentlichkeit interessiert viel mehr, was er eigentlich unternimmt, um unser Land von der von ihm persönlich diagnostizierten Überbelastung zu entlasten. All das, was wir an konkreter Politik erleben oder an Planungen erfahren, deutet nicht auf Begrenzung, sondern auf einen stärkeren Zuzug hin. Beispielhaft erwähnen möchte ich die so genannte liberalere Visapolitik. Sie soll eine Abkehr von der Politik der Union sein, unter deren Regierung - so Ihr Vorwurf - das Verhindern illegaler Einreise sehr stark im Vordergrund gestanden habe. Jawohl, wir wollten nicht, dass Besuchsvisa für einen illegalen Daueraufenthalt missbraucht werden. Das soll jetzt geändert werden. Im Klartext: Der Innenminister stellt fest, dass die Grenze der Belastbarkeit überschritten ist. Der Kollege Außenminister organisiert gleichzeitig eine Abkehr von dem Ziel, die illegale Einwanderung durch Visamissbrauch so weit wie eben möglich zu unterbinden. Zum Themenkomplex „Straffälligkeit von Ausländern und deren Konsequenzen“ steuerte unser heutiger Bundeskanzler als damaliger Ministerpräsident von Niedersachsen mit der ihm eigenen Präzision und Sensibilität unter anderem Folgendes bei: Beim organisierten Autodiebstahl sind die Polen nun einmal besonders aktiv. Das Geschäft mit der Prostitution wird beherrscht von der Russenmafia. Wer das Gastrecht missbraucht, für den gibt es nur eins: Raus, und zwar schnell. Bleiben Sie ruhig. Er ist Ihr Kanzler. Man darf gar nicht daran denken, was in unserem Land geschehen wäre, wenn sich ein Politiker der Union so geäußert hätte. Wie hat sich der Bundeskanzler tatsächlich verhalten? Unsere Vorschläge für ein strengeres Recht zur Ausweisung von ausländischen Straftätern wurde auch von ihm im Parlament abgelehnt. Wir brauchen eine ruhige, ideologiefreie Istanalyse, mit dem Ziel, Ursachen von Fehlentwicklungen zu vermeiden. ({10}) Durch die seit Jahrzehnten andauernde starke Zuwanderung, insbesondere von Asyl begehrenden Ausländern und Bürgerkriegsflüchtlingen, trägt unser Land eine Last, die es auf Dauer nicht tragen kann. Frau Kollegin Beck, Sie können ganz entspannt bleiben. Ich kenne die Zahlen und weiß, dass der Fortzug von Ausländern in den beiden letzten Jahren sogar stärker war als der Zuzug. Ich möchte keine falschen Sachverhalte vortäuschen. Aber unter den - im Saldo - 90 000 Auswanderern waren 89 000 bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge, die man nur einmal in ihr Heimatland zurückführen kann. In den letzten zehn Jahren betrug der durchschnittliche Nettozuzug 200 000. Das macht nach Adam Riese einen Nettozuzug von 2 Millionen innerhalb eines Zeitraumes von zehn Jahren. Das muss man sagen dürfen. Das hat mit latentem Rassismus überhaupt nichts zu tun. ({11}) Dies ist insbesondere nachteilig für die Menschen, die zu uns kommen und von denen die meisten auf Dauer mit uns gemeinsam leben werden. Ein starker Zuzug ist in aller Regel nicht integrationsfördernd, sondern integrationshemmend. Wenn für die Zukunft unseres Landes irgendetwas von überragender Bedeutung ist, dann ist es eine gelungene Integration aller Migranten, die dauerhaft und rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland leben möchten. Deshalb wollen wir den Zuzug von Nicht-EU-Ausländern weiter begrenzen. Wir wollen innerhalb der EU eine gerechtere Verteilung derjenigen Belastungen, die mit der Aufnahme einer großen Zahl von Asyl begehrenden Ausländern und Bürgerkriegsflüchtlingen zwangsläufig verbunden sind. Wir wollen und müssen auf allen staatlichen Ebenen die Bemühungen um eine bessere und schnellere Integration der hier rechtmäßig und dauerhaft lebenden Ausländern verstärken. Dazu haben wir im vergangenen Jahr ein schlüssiges und kluges Konzept vorgelegt. Es wurde ohne inhaltliche Auseinandersetzung oder fundierte Sachkritik von Rot-Grün niedergestimmt. Von Alternativen fehlt derzeit jede Spur. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, unsere Sorgen hinsichtlich einer Überbelastung der Aufnahme- und Integrationskapazität unseres Landes nicht teilen, so darf ich an ein Zitat von Willy Brandt erinnern: Es ist notwendig geworden, dass wir uns sorgsam überlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft und Verantwortung Halt gebieten. Dieses Zitat stammt aus dem Jahre 1973, als der Ausländeranteil in der Bundesrepublik Deutschland um ein Drittel geringer war als heute. Natürlich muss und wird ein reiches Land wie die Bundesrepublik Deutschland auch zukünftig aus humanitären Gründen politisch Verfolgten oder von Krieg und anderen Katastrophen Heimgesuchten Zuflucht bieten. Das ist gar keine Frage. Es geht doch nur um die Größenordnung und darum, dass wir nicht alleine und auf Dauer eine Last tragen können, die die meisten europäischen Länder nicht tragen können oder nicht tragen wollen. Wir können nicht alle Probleme dieser Welt auf dem Boden der Bundesrepublik lösen, ohne unser Land und die hier lebenden Menschen zu überfordern. Deshalb sagen wir in unserem Antrag: Es muss vorrangiges Ziel der EU-Politik sein, die Fluchtursachen vorbeugend in den Herkunftsländern, in den Krisenregionen zu bekämpfen. Das hilft den betroffenen Menschen und es vermeidet unkontrollierte Wanderungsbewegungen. Es wird höchste Zeit, dass wir uns nicht heute mit jener und morgen mit einer ganz anderen ausländerrechtlichen Frage beschäftigen. Vielmehr müssen wir uns einmal ideologiefrei mit der Beantwortung der Frage befassen: Welche Ausländer- und Zuwanderungspolitik ist im Interesse der Bundesrepublik Deutschland und der Menschen, die hier leben? Ich füge hinzu: Es ist ganz gleich, welche Staatsangehörigkeit sie haben. In diesem Zusammenhang muss auch die Frage erlaubt sein, ob wir uns auf Dauer unser derzeitiges weltweit einzigartiges Asylrecht erlauben können, obwohl wir genau wissen, dass die Anerkennungsquote bei nur circa drei Prozent liegt und dass die Rückführung der rechtmäßig abgelehnten Asylbewerber oft mit großen Problemen verbunden oder ganz und gar unmöglich ist von den Vorkommnissen in Bremen, über die sich die Menschen zu Recht empören, ganz zu schweigen. Niemand in der Union will das Asylrecht abschaffen. Aber wer es auf Dauer für die wirklich politisch Verfolgten erhalten will, muss bereit sein, es so zu reformieren, dass ein ganz überwiegender Missbrauch von 97 Prozent so weit wie eben möglich verhindert werden kann. ({12}) Deshalb sollten wir einmal in aller Ruhe ohne gegenseitige Schuldzuweisungen darüber nachdenken, ob es aus vielfältigen Gründen nicht wirklich notwendig wäre, das derzeitige individuelle Asylgrundrecht in eine institutionelle Garantie abzuändern. Ich halte es für möglich, dass wir dann, wenn wir die gerade geschilderten Probleme einer Lösung zuführen, neue Spielräume für Zuwanderung aus einem wohlverstandenen eigenen nationalen Interesse gewinnen: zur Behebung eines Fachkräftemangels für Investoren und Wachstumschancen für Forschung und Lehre. Aber wir können nicht gleichzeitig - das ist unser Punkt - einen ungesteuerten und unsteuerbaren Zuzug beibehalten, im europäischen Vergleich überproportionale Lasten tragen, durch Verwaltungsvollzug Einreiseanreize schaffen und darüber hinaus weltweit 10 000 oder mehr Arbeitnehmer anwerben. Wir wollen auch vorurteilsfrei die Absicht - unter der Überschrift Green Card - diskutieren, eine neue Zuwanderung von Fachkräften im Interesse der deutschen Wirtschaft zu organisieren, wohl wissend, dass diese Idee nichts mit der US-amerikanischen Green Card zu tun hat. Der Kanzler hat sich das wohl so vorgestellt, dass EDV-Spezialisten aus Osteuropa oder dem indischen Subkontinent für fünf Jahre in die Bundesrepublik einreisen - ob mit oder ohne Familie, schauen wir mal. Während dieser Zeit legt sich die Wirtschaft mächtig ins Zeug und bildet aus. Wenn dann die Aus- und Fortgebildeten dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, gehen die Angeworbenen am nächsten Tag wieder nach Osteuropa oder Indien zurück. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen hier nicht über seelenlose Roboter, sondern über Menschen. ({13}) Die Erfahrungen der Vergangenheit lehren uns, dass nicht alle, aber sehr viele Arbeitsmigranten bei Fristablauf nur einen einzigen Wunsch haben, nämlich den, auf Dauer in der Bundesrepublik bleiben zu können. Der Wunsch ist menschlich verständlich. Er kollidiert aber mit der richtigen Feststellung des Innenministers, dass die Grenzen der Belastbarkeit durch Zuwanderung überschritten sind. Will die Bundesregierung, dass sich die Menschen und die Familien bei uns integrieren? Wenn ja, wie kann man sie dann nach Fristablauf - nach dem Motto: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen - wieder nach Hause schicken? Wenn nein, kann eine Desintegration in unserem Interesse sein? Wir sind nicht aus Prinzip oder Ideologie gegen die Initiative. Aber wir haben viele Fragen und wir erwarten, dass sie hier im Parlament erörtert und entschieden werden, bevor die Bundesregierung Fakten schafft, die nicht mehr zu ändern sind. ({14}) Welche Institution hat wann und auf welche Art und Weise präzise ermittelt, welche Computerspezialisten genau und wie viele Fachkräfte in der Branche fehlen, die auf absehbare Zeit weder in der Bundesrepublik noch in der EU für die Besetzung freier Arbeitsplätze gewonnen oder ausgebildet werden können? Welche geradezu revolutionäre Entwicklung hat es eigentlich in den vergangenen sechs Wochen - sechs Wochen, nicht sechs Jahren! - auf dem deutschen Arbeitsmarkt gegeben? Die Frage stellt sich deshalb, weil der Kollege Johannes Singhammer Anfang des Jahres die Bundesregierung gefragt hat, ob sie daran denke, irgendwelche Änderungen bei der Zulassungsbeschränkung für ausländische Arbeitskräfte vorzunehmen. Anfang Februar 2000 hat die Bundesregierung diese Frage verneint: Es sei gegenwärtig nicht daran gedacht, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen, die den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erleichtern können. Ich frage also: Was hat sich in den letzten sechs Wochen Revolutionäres ereignet? ({15}) Die „Rheinpfalz“ hat in der Ausgabe vom 10. März gemeldet, dass in Rheinland-Pfalz 500 offenen Stellen in der informationsverarbeitenden Wirtschaft 1 100 arbeitssuchende Datenverarbeitungsfachleute gegenüberstünden. Warum ist die Arbeitsmarktlage in RheinlandPfalz auf diesem Sektor eine völlig andere als im Rest der Republik? Welche Argumente gibt es dafür, dass die Beschäftigung von ausländischen Arbeitnehmern nur einer einzigen Branche gestattet werden soll, nicht jedoch gleichzeitig anderen Branchen, die ebenfalls über Fachkräftemangel klagen? Anders formuliert: Warum soll ein Zuzug für die Pflege von EDV-Programmen möglich sein, nicht aber ein Zuzug zur Pflege von alten und kranken Menschen? ({16}) An einem einzigen Tag konnte man in drei verschiedenen Zeitungen drei verschiedene Zahlen über den Fachkräftemangel auf dem Computersektor lesen. An diesem Tag waren beispielsweise 60 000, 70 000 bzw. 100 000 im Angebot. Nach Lage der Dinge ist davon auszugehen, dass die Zahl der fehlenden Fachkräfte mit der Dauer der Debatte steigt. Angenommen, die Zahl 60 000 ist richtig: Wenn aber, wie angekündigt, zunächst nur 10 000 Einwanderungserlaubnisse erteilt werden sollen, wer bzw. welche Behörde entscheidet dann nach welchen Kriterien, welcher Betrieb wie viele Zuwanderungs- und Arbeitserlaubnisse erhalten soll? Wer garantiert, dass kleine und mittelständische Unternehmen im Wettlauf um die Spezialisten die gleichen Chancen haben wie IBM? Angenommen, dass nach Fristablauf viele Arbeitsmigranten auf Dauer in der Bundesrepublik bleiben wollen, aber nicht mehr benötigt werden: Wer soll dann die Rückführung organisieren? Machen das die Betriebe oder handelt auch hier der Bundeskanzler höchstpersönlich? Wieso kann das Bildungssystem Osteuropas oder Indiens etwas leisten, was angeblich weder das deutsche noch die Bildungssysteme in allen anderen EU-Ländern leisten können? ({17}) Kann es im Interesse der Entwicklungs- oder Schwellenländer sein, wenn eine reiche Industrienation wie Deutschland dort die besten Fachkräfte abwirbt? ({18}) Meine Damen und Herren, im Jahre 1973 betrug die Zahl der Arbeitslosen im Durchschnitt 274 000. Diese Zahl war so hoch, dass sich die sozialliberale Bundesregierung veranlasst sah, einen Anwerbestopp zu erlassen. Heute registrieren wir 4 Millionen Arbeitslose, darunter 32 000 Computerfachkräfte. Wir wollen gar nicht verhehlen, dass es auch gute Argumente für die Aktion geben kann. Es gibt aber auch berechtigte Zweifel an der Sinnhaftigkeit. Von daher sollte dieses Thema im Deutschen Bundestag und nicht im Verwaltungsvollzug entschieden werden. Es mag zulässig sein, die gewünschte Novellierung der so genannten AnwerbestoppausnahWolfgang Bosbach nahmeverordnung am Parlament vorbei zu organisieren. Das entspräche jedoch nicht der Intention des Gesetzgebers und auch nicht dem Sinn und Zweck dieser Verordnung. Der Kollege Wiefelspütz hat in der Zeitung „Die Welt“ auf die zukunftsweisende Bedeutung der Initiative hingewiesen; er wird in diesem Zusammenhang wie folgt zitiert: Sie macht klar, dass Ausländer für die deutsche Gesellschaft sehr nützlich sein können. Dann zieht er folgenden Vergleich: Im Fußball haben wir das schon lange begriffen. Lieber Herr Wiefelspütz, ich greife Ihren Vergleich gerne auf. Wir beide sind begeisterte Fußballfans, wir freuen uns beide, wenn Giovane Elber oder Zé Roberto am Ball sind. Ihre sportlichen Leistungen haben dazu beigetragen, dass Bayern München und Bayer Leverkusen die Tabelle anführen. ({19}) Aber, Herr Wiefelspütz, der Vergleich hinkt. Sie können nicht ernsthaft behaupten, dass die hohe Zahl ausländischer Fußballspieler in der Bundesliga dazu beigetragen hat, dass auch unsere Nationalmannschaft stärker geworden ist. Das Gegenteil ist der Fall. Aber auch unsere Nationalmannschaft müsste Ihnen am Herzen liegen. Deswegen dürfen wir die Diskussion nicht auf die Frage verkürzen, was in einer bestimmten Situation für ein bestimmtes Wirtschaftsunternehmen oder, um bei Ihrem Beispiel zu bleiben, für einen Fussballklub vorteilhaft sein kann, sondern wir müssen immer auch die Frage stellen, welches Interesse unser Land und die hier lebenden Menschen haben. ({20}) In diesem Sinne bieten wir der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen eine offene und ehrliche Debatte und eine konstruktive Zusammenarbeit über alle Fragen an, die für die Zukunft unseres Landes wichtig sind. Danke fürs Zuhören. ({21})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Kollege Rüdiger Veit.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wenn dieses Angebot noch so freundlich gemeint und formuliert wurde, können wir nicht darauf zurückkommen; ich bitte dafür um Nachsicht. Die von der CDU/CSU für die Harmonisierung des Asyl- und Ausländerrechts auf europäischer Ebene genannten Gesichtspunkte offenbaren nicht nur einige knackige Widersprüche in sich und untereinander, sondern sie beinhalten auch eine Reihe von auffällig unauffälligen Selbstverständlichkeiten, etwa Regelungen, die entweder schon im geltenden deutschen Recht vorhanden sind oder aber sich in vielen europäischen Dokumenten wiederfinden, seien es nun Beschlüsse des Europäischen Parlaments, des Rates, der Kommission oder seien es Bestimmungen des Amsterdamer Vertrages vom 2. Oktober 1997 oder die Schlussfolgerungen von Tampere aus dem Oktober 1999. Was also ist das politische Ziel und mithin die wahre Absicht dieser, wie ich finde, etwas zweifelhaften parlamentarischen Initiative der CDU/CSU? Es deutet sich in der Begründung des Antrags an, aber auch in den Ausführungen des Kollegen Bosbach, soweit er sich nicht mit dem aktuellen Thema Green Card oder mit Fußball befasst hat. Von der neu gewählten Fraktionsspitze, von den Herren Merz und Bosbach, ist Ihre Intention laut „Tagesspiegel“ von gestern ausdrücklich angesprochen worden. Das gilt auch für die Äußerungen Ihres innenpolitischen Sprechers Marschewski von gestern. Es geht der CDU/CSU nicht um etwas wirklich „Modernes“, wie es in dem Antrag steht, auch nicht um eine echte „Harmonisierung“ im positiven Sinne und offenbar schon gar nicht um die wirksame Verwirklichung von Flüchtlings- und Menschenrechten nach europäischen Maßstäben oder denjenigen des Grundgesetzes. Ganz offensichtlich geht es der CDU/CSU um die Abschaffung des individuellen, subjektiven und damit auch einklagbaren Grundrechtes auf Gewährung von politischem Asyl, um eine radikale Abschottung gegenüber Flüchtlingen und Zuwanderern und um ein Abdrücken eines Teils unserer historisch bedingten Verantwortung für Verfolgte in aller Welt in andere Staaten der Europäischen Union. Das ist inakzeptabel. ({0}) Das wird unsere Billigung nicht finden, sondern ebenso abgelehnt, wie andere Initiativen im letzten Jahr abgelehnt worden sind, die Sie, Herr Bosbach, angesprochen haben. Das haben wir nicht getan, weil wir parlamentarische Macht ausüben wollten, sondern weil wir Inhalte zurückweisen mussten, die Sie für richtig halten. Offenbar will nach dem Vorbild des einzigen Lügners unter den derzeit amtierenden deutschen Ministerpräsidenten, den man in voller Legitimität so bezeichnen kann und muss, also des Herrn Koch, der mithilfe einer an Ausländerfeindlichkeit appellierenden Unterschriftenaktion zum Thema doppelte Staatsbürgerschaft an die Macht gekommen ist, nunmehr Herr Rüttgers, der als erster den Antrag unterschrieben hat - er hat auch das Stichwort „Kinder statt Inder“ gegeben, das wir beanstandet haben -, den Wolf der ausländerfeindlichen Gesinnung unter dem Schafspelz der Europafreundlichkeit verbergen. Aber man kann den Wolf noch erkennen. Man merkt die Absicht und man ist verstimmt, meine Damen und Herren. ({1}) Ja, es ist wahr: Deutschland hat im europäischen Vergleich bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem früheren Jugoslawien Beispielhaftes geleistet, sehr viel mehr als viele andere europäischen Staaten getan. Das war gut und richtig. ({2}) Insgesamt muss man natürlich im europäischen Konzert irgendwann einmal zu vernünftigen Lastenverteilungen kommen. Genauso wahr ist aber auch - das sage ich an die Adresse von Herrn Dr. Uhl, der in der Debatte vorhin von Hunderttausenden gesprochen hat, die zu uns gekommen sind -, dass zwar in den Jahren 1991, 1992 und 1993 300 000 bis 400 000 Asylsuchende zu uns gekommen sind, dass aber diese Zahlen in der Zeit danach drastisch und ständig rückläufig waren und bis zum heutigen Tage sind. In 1998 und 1999 lag die Zahl, Herr Dr. Uhl, unter 100 000. Sie betrug im Jahr 1999 93 000. Und auch dieser Punkt muss richtig gestellt werden: 3 bis 4 Prozent wurden in diesen Jahren als Asylberechtigte durch das Bundesamt anerkannt. Alle Erfahrung lehrt, dass ungefähr noch einmal die gleiche Zahl vor deutschen Gerichten anerkannt wird. Darüber hinaus wird gerne verschwiegen, dass der Abschiebeschutz nach den §§ 51 und 53 des Ausländergesetzes etwa 6 Prozent der Menschen zugesprochen wird. Dieser Anteil erhöht sich noch einmal im Laufe der gerichtlichen Verfahren. Wenn man dann noch die Zuwanderungen berücksichtigt, die mit Genehmigungen nach dem Ausländergesetz oder die im Rahmen der Freizügigkeit aus EUStaaten erfolgen, dann verstehe ich nicht, lieber Herr Marschewski, wie Sie in der „Berliner Zeitung“ von gestern behaupten können, dass 95 Prozent - so war Ihre Aussage - aller Ausländer illegal nach Deutschland kämen. Wie Sie auf diese Zahl kommen, bleibt Ihr Geheimnis. Wann werden Sie in der CDU/CSU-Fraktion endlich einmal erkennen - der erste Ansatz ist eben von Herrn Bosbach gemacht worden -, dass wir einen so genannten Negativsaldo in der Wanderungsbilanz haben, und zwar dergestalt, dass in den beiden zurückliegenden Jahren einige Zigtausende Menschen mit ausländischem Pass mehr Deutschland verlassen haben, als zu uns gekommen sind? Wie wollen Sie denn mit Ihren Abschottungstendenzen diesem Umstand Rechnung tragen? Sie sind, wie ich eingangs sagte, dabei auch noch in sich widersprüchlich. Sie verlangen zwar in Ihrem Antrag - ich finde, zu Recht - die Definition des Flüchtlingsbegriffes nach Maßgabe der Genfer Flüchtlingskonvention, aber dabei ist vermutlich Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, dass zwar das europäische Regelwerk keinen individuell einklagbaren Rechtsanspruch auf Asyl enthält, dass aber der Flüchtlingsbegriff nach der Genfer Flüchtlingskonvention sehr wohl erheblich weiter geht als geltendes deutsches Recht. Dies gilt im Hinblick auf die Frage, ob subjektive Verfolgungsfurcht als Asylgrund ausreichen kann, wenn sie objektiv begründbar ist, und ob nicht staatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung als Grund anerkannt werden.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Veit, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte sehr.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, Sie sprechen von Widersprüchen bei der CDU/CSU-Fraktion. Was sagen Sie aber zu den Äußerungen unseres verehrten Herrn Bundesinnenministers, der gesagt hat - Kollege Bosbach hat zu Recht darauf hingewiesen -, erstens sei die Grenze der Belastbarkeit überschritten und zweitens müsse das subjektive Asylrecht geändert werden? Was sagen Sie zu dieser Äußerung? Welche Auffassung hat die SPD-Fraktion zu dieser Äußerung des Herrn Bundesinnenministers?

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich halte diese Äußerung des Bundesinnenministers nicht für zutreffend und teile sie nicht. Mit Ihrer Erlaubnis wende ich mich wieder Ihren Widersprüchen zu. Unsere Widersprüche lassen Sie unsere Sorge sein. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wollen Sie damit sagen, dass die Äußerung von Herrn Schily falsch ist und dass Sie diese Äußerung verurteilen? Ist auch die SPD-Fraktion dieser Meinung? Welche Konsequenzen wird die SPD-Fraktion aus der Diskrepanz zwischen den Auffassungen von Schily und von Ihnen ziehen?

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich sage dazu hier und auch an anderer Stelle meine Meinung und werde auch nicht müde, diese Meinung zu wiederholen. Ich respektiere auch andere Auffassungen; auch mit Ihrer Auffassung muss ich mich ja auseinander setzen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Veit, es gibt vom Kollegen Uhl den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte. Aber das ist die letzte Frage, die ich zulasse.

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Veit, Sie sind ja ein Mann der Praxis. Sie waren 13 Jahre Landrat im Landkreis Gießen. Dort hatten Sie mit Ausländerrecht im Vollzug zu tun.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

So ist es.

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Innenminister Schily hat gesagt, das Problem liege im Asylverfahren, in der subjektiven Einklagbarkeit des Grundrechts auf Asyl, in der Möglichkeit, das Verfahren zu verschleppen, Folgeanträge zu stellen und damit das Verfahren über Jahre hinauszuziehen. Wenn Sie die Meinung des Innenministers Schily nicht teilen, frage ich Sie: Sind Sie der Meinung, dass Ihre hier vertretene abweichende Position die Meinung Ihrer früheren Mitarbeiter im Landratsamt Gießen ist?

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich darf Ihnen sagen, dass es von Seiten der SPD einen eindeutigen Beschluss des Bundesparteitages in Berlin gibt, der besagt: Wir halten an dem individuell einklagbaren Rechtsanspruch auf Gewährung von politischem Asyl in Deutschland fest. Das ist gut so. Das ist richtig so. Das sieht die SPDFraktion insgesamt auch so. Von daher bin ich der Überzeugung, dass auch meine früheren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das genauso sehen, die sich im Übrigen im Landratsamt und in der zentralen Abschiebebehörde auch mit anderen Fluchtgründen und Flüchtlingen haben auseinander setzen müssen. ({0}) - Sie waren nicht alle Sozialdemokraten, aber unter meiner Führung wurden es ständig mehr, wenn Sie das beruhigt. ({1}) - Ich warte noch auf das Ende Ihrer Zurufe, weil es vielleicht noch etwas Lustiges zu erwidern gibt. Ich komme auf den zweiten Widerspruch zurück, von dem ich meine, ihn in Ihrem Antrag zu erkennen, und über den der Kollege Bosbach wenig geredet hat. Ich nehme aber an, dass wir das im Ausschuss tun werden. Der zweite Widerspruch liegt darin, dass Sie Flüchtlinge möglichst bereits außerhalb der Grenzen der EU zurückhalten wollen, sie dort Asylanträge stellen sollen, womöglich dann abgelehnt werden und gar nicht mehr in das Gebiet der EU einreisen dürfen. Ist Ihnen dabei entgangen, dass Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention das so genannte Refoulmentverbot enthält, also das Zurückweisungsverbot, um es auch für die Zuhörer einzudeutschen? Das beinhaltet den Rechtsanspruch auch eines hier Asyl suchenden Flüchtlings, in Europa einzureisen und seinen Anspruch geltend zu machen, und zwar egal woher er kommt. Außerdem - das möchte ich Ihnen auch vorhalten sprechen Sie in der Begründung von der Menschenrechtskonvention. Haben Sie übersehen, dass der Europäische Gerichtshof gerade in der jüngsten Zeit - das halte ich für sehr beachtlich und für sehr wichtig - den einklagbaren Abschiebeschutz für Flüchtlinge unter Berufung auf die Art. 3 und 8 der Menschenrechtskonvention eindeutig ausgeweitet hat? ({2}) Schließlich muss ich Sie noch daran erinnern, dass der Amsterdamer Vertrag - den hat bekanntlich der frühere Bundeskanzler und nicht Gerhard Schröder unterschrieben - ausdrücklich festlegt: Wir brauchen auf europäischer Ebene Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Veit, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke sehr. Ich komme sofort zum Ende. - Wir brauchen Mindestnormen für die Anerkennung als Flüchtling, Mindestnormen für das Asylverfahren, Mindestnormen für den vorübergehenden Schutz. Das ist unsere Aufgabe, nicht etwa der Abbruch weiter gehender nationaler Rechte. Diesen Bemühungen erteilen wir jedenfalls eine klare Absage. Ich muss zum Schluss kommen: Wir werden daher Ihren Antrag ablehnen. ({0}) Wir werden uns darum bemühen, dass auch auf europäischer Ebene, wo es das nicht gibt, das individuelle, subjektive Recht eines Einzelnen, Asyl zu gewähren, verankert werden kann. Vielen Dank. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir führen in diesem Hause seit Jahren Ausländer-, Asyl- und Zuwanderungsdebatten. Der Bundesinnenminister hat ein Vokabular gebraucht, das der Herr Kollege Bosbach vorhin zu Recht mit der kritischen Bemerkung belegt hat: Hätte sich jemand aus dem konservativen Spektrum der Bundesrepublik dieser Wortwahl bedient, wäre er öffentlich angeklagt worden. ({0}) Der Bundeskanzler hat dem Bundesinnenminister zuweilen assistiert. Seine Politik schwankt eigentlich zwischen grüner und roter Karte, je nach Belieben. ({1}) Die Grünen haben das Scheunentor Bundesrepublik Deutschland immer offen gehalten und wissen genauso wie wir, dass die Probleme aller Welt nicht auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland gelöst werden können. ({2}) Die Kollegen der CDU/CSU haben aus meiner Sicht in den letzten Jahren eine Debatte geführt, die überflüssig war. Herr Bosbach hat das heute Morgen zum ersten Mal zugegeben. Wir brauchen nicht darüber zu diskutieren, ob wir ein Einwanderungsland sind. Die Debatte ist gänzlich überflüssig. Die Menschen kommen zu uns. Deshalb ist das Vokabular nicht die Streitfrage. ({3}) Wir diskutieren - das hat der Kollege Veit wieder getan - seit Jahren das Thema: Wie gestalten wir das Grundrecht auf Asyl aus, wenn es manche gibt, die es anders denn als Individualrecht ausgeprägt sehen wollen? Jeder hier weiß: Asylverfahren in Deutschland dauern lange. Die Unerträglichkeit des Bewerberverfahrens ist jedem klar vor Augen geführt worden. Wir halten uns mit Flughafenregelungen und mit Widersprüchen auf. Unser Rechtsmittelstaat ist bis zum Ende ausgefeilt. Manchmal bescheiden wir einem Menschen, dass er hier kein Asyl genießt, obwohl er schon so lange bei uns ist, dass es fast menschenunwürdig ist, dies zu tun. Es herrscht überhaupt keine Klarheit. Die letzte Aktion des Bundeskanzlers mit der Green Card zeigt das im Übrigen. Er hat wohl in Hannover gestanden und für die informationstechnologische Branche etwas zugesagt, über dessen bildungspolitische, zahlenmäßige und menschliche Konsequenzen er sich gar nicht im Klaren gewesen sein kann, als er die Zusage gegeben hat. ({4}) Wir haben 1998 und danach diesem Hohen Hause einen Gesetzentwurf über eine Zuwanderungsbegrenzung vorgelegt, den Sie alle im Innenausschuss abgelehnt haben, obwohl Sie genauso wie ich wissen: Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz. ({5}) - Es ist völlig egal, wie Sie das nennen. Nennen Sie es „Einwanderungssteuerungsgesetz“! Die Bundesrepublik Deutschland braucht eine gesetzliche Grundlage, um nicht in solchen Mechanismen wie der Green Card zu landen. Diejenigen Menschen, die zu uns kommen wollen, müssen wissen, woran sie sind. ({6}) Herr Veit, das heißt, dieses Land braucht eine Einwanderungspolitik, egal ob wir es als Einwanderungsland bezeichnen oder nicht. ({7}) - Ich habe nie behauptet, dass die letzte Regierung trotz unserer Anstrengungen eine glückliche Einwanderungspolitik gemacht hätte. Aber Ihnen darf ich vorhalten: Sie machen überhaupt keine! ({8}) Deshalb sollten wir ganz vorurteilsfrei diskutieren können, meine Damen und Herren von der parlamentarischen Linken. Sie wissen genauso wie ich: Es gibt in Deutschland eine begrenzte Anzahl von Wohnungen; es gibt eine begrenzte Aufnahmekapazität von Schulen in Deutschland und es gibt einen begrenzten Arbeitsmarkt in Deutschland. Wer das nicht beachtet, der legt sozialen Sprengstoff. Wir haben das an verschiedenen Orten schon gespürt. ({9}) Daher ist es doch gut, wenn wir einmal Trennendes beiseite legen und jetzt den Versuch unternehmen, uns auf eine gesetzgeberische Beratung zu konzentrieren, die nicht immer beim Asylrecht, bei der grünen Karte oder bei Segmenten endet, sondern parteiübergreifend eine Regelung für die Einwanderung nach Deutschland auf den Weg bringt, in die die Arbeitsmarktlage plus die Asylbewerberzahl eingebettet ist. Anders kann man nicht verfahren. Da unser Gesetzentwurf noch im Ausschuss liegt, können wir ihn jederzeit wieder hervorholen. Wenn er auf Bedenken stößt, dann gehen wir darauf ein. Die Zeit ist reif für ein solches Gesetz. Ich sage das auch, weil wir im letzten Jahr unter großen Anstrengungen die gesellschaftlich wichtige Frage einer modernen Staatsangehörigkeit gesetzlich geregelt haben. Lassen Sie uns in diesem Jahr die gesellschaftlich wichtige Frage der Wanderungsbewegung nach Deutschland unter eine klare gesetzliche Norm stellen. ({10}) Es wäre gut, wenn wir das täten, weil es im legitimen Interesse unseres Landes liegt, zu bestimmen, wie viele zu uns kommen können und wer zu uns kommen kann. ({11}) Auch jede andere große Demokratie dieser Welt behandelt das so. Dieses Vorgehen beinhaltet im Übrigen den größten Respekt vor den Zukunftschancen derer, die zu uns kommen. Sie kommen nicht nur mit der Green Card für ein paar Jährchen, und dann als isolierte Arbeitnehmer; vielmehr stehen deren Familien im Hintergrund, sie entwickeln gesellschaftliche Bezüge und sie können nur kommen, wenn die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft in der Schule, beim Wohnen und auf dem Arbeitsmarkt kräftig genug ist, um ihnen eine Integration anzubieten. Deshalb ist die isolierte Diskussion - heute über das Individualrecht auf Asyl, morgen über die Green Card, überhaupt über alles, aber bei Gott und der Welt nicht über das Wichtigste, nämlich über eine gesetzliche Einwanderungssteuerungsregelung - so kurzatmig und so falsch. ({12}) Ich biete allen Fraktionen namens der Freien Demokraten an, dass wir uns jetzt auf eine Einwanderungsregelung verständigen. Sie liegt ja auch vor.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz?

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, klar.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Gerhardt, erkennen Sie nicht an, dass wir die Chance der Initiative des Kanzlers - bei einem Thema, das in Deutschland sehr polarisierend debattiert wird, das verständlicherweise und vielleicht auch, leider Gottes, angstbesetzt ist - zu einer rationalen Debatte auf diesem Sektor nutzen sollten? Herr Gerhardt, ich anerkenne, dass Sie aus der Opposition heute auf eine rationale Ausländerpolitik ganz offenbar mehr Einfluss haben, als Sie in der Regierung hatten. Ich danke Ihnen ausdrücklich für Ihren Beitrag zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Sie haben aus der Opposition einen wichtigen Beitrag geleistet. Sie könnten dies auch jetzt tun. Aber bitte: Nicht die Sache zerreden! Die Initiative des Kanzlers hat, wie ich finde, ein Denkverbot aufgebrochen, das sich viele auferlegt haben, vielleicht auch der eine oder andere von uns. Es ist die Chance, rational darüber zu reden: Was bringt dieses Land weiter? Was nutzt diesem Land? Das dürfen wir genau so tun, wie andere Gesellschaften es auch tun, aber bitte nicht im Zusammenhang mit Asyl und sonstigen Fragen. Und bitte - Sie sind ein erfahrener Politiker, Herr Gerhardt - überfrachten Sie nicht die Debatte,

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Wiefelspütz, würden Sie bitte Ihre Frage formulieren?

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- damit sie nicht vor die Wand gefahren wird.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, ich bin gegen alle diese Vermutungen, die Sie mir gegenüber äußern, wirklich gefeit, Herr Kollege Wiefelspütz. Ich überfordere die Debatte nicht; ich will sie nur auf den Kern bringen. Ich nehme auch gern die Green-Card-Initiative des Bundeskanzlers mit Ihrem Hinweis auf, er habe eine Art Denkverbot durchbrochen, und bemühe mich, weiter zu denken als der Herr Bundeskanzler. ({0}) Deshalb führt mich das Ende der Debatte eben nicht zu einer isolierten Green-Card-Regelung. Wir gehen ja fair miteinander um; Sie können ruhig wieder Platz nehmen. Ich möchte die Gelegenheit Ihrer Frage auch nutzen, um zu sagen, was mich zu meiner Wortmeldung heute Morgen veranlasst hat. Es geht mir darum, die Debatte nicht allein den Fachsprechern der Fraktionen zu überlassen, die sich immer mit Asylfragen beschäftigen, ({1}) sie nicht allein den Arbeitsmarktpolitikern zu überlassen, die nur den Arbeitsmarkt betrachten. Dieses Haus muss jetzt mit einer politischen Debatte über die Einwanderung nach Deutschland reagieren und muss dann über ein Gesetz reden. Das ist unser Angebot. Darauf will ich hinaus. ({2}) Deshalb möchte ich Ihnen in dieser Debatte aber noch einmal erläutern, dass einige Argumente, die bisher vorgebracht worden sind, nicht stimmen. Sie haben in den Ausschussberatungen gesagt - das hat mich bei Rotgrün gewundert; diese kleine Polemik gestatten Sie mir wohl -, das Gesetz bringe zu viel Bürokratie mit sich. Wer die Scheinselbstständigkeitsgesetzgebung und die 630-DM-Gesetze gemacht hat, bei dem wundert mich dieses Argument doch. ({3}) Aber sei es, wie es ist. Wir machen es natürlich gern schlanker und erwarten Anregungen. Sie sagen, für die Zuwanderung empfehle es sich nicht, jetzt eine nationale Regelung zu treffen; man müsse ohnehin nach dem Amsterdamer Vertrag auch mit vielen anderen Mechanismen auf europäischer Ebene rechnen. Das ist ja auch richtig, nur: Ich warte schon lange auf europäische Regelungen, und die Menschen kümmern sich nicht darum, ob es europäische Regelungen gibt. Sie kommen vorzugsweise nach Deutschland. Deshalb sollten wir doch das eine tun und das andere nicht lassen. Lassen Sie uns doch über eine nationale Regelung reden, die Kontingente umfasst und die im Grunde genommen auch die Arbeitszuwanderung klärt! Ich möchte nicht dauernd Verschiebebahnhöfe. Ich freue mich, wenn das in Europa gelingt, aber ich bin skeptisch, ob es in einem Zeitraum gelingt, in dem wir Deutschen dauernd mit diesen Problemen beschäftigt sind ({4}) und in dem wir innenpolitische Probleme bekommen und beobachten, wie sich die politische Landschaft entwickelt. Ich möchte einfach - wenn wir parteiübergreifend reden -, dass Sozialdemokraten wie Grüne, wie auch Christdemokraten und meine Fraktion den Menschen in Deutschland eindeutig und klar sagen, wo es auch Grenzen der Zuwanderung gibt, und dass wir nicht jeweils in der Auseinandersetzung meinen, der eine sei der bessere Menschenfreund und der andere nicht. Sie wissen nämlich als Sozialdemokratische Partei ebenfalls - Sie haben auch Elternvertreter in Ihren Reihen -, dass Sie an der Grenze der Zumutbarkeit angekommen sind, wenn Sie Ihre Kinder in Klassen schicken, die einen überwiegenden Ausländeranteil haben, ohne dass deren Familien die Integrationsbemühungen annehmen und auf richtige Kenntnisse der deutschen Sprache Wert legen. Das sind Wahrheiten, die man gesellschaftlich zur Kenntnis nehmen muss. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Gerhardt, es gibt eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Veit.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Gerhardt, Sie sprachen eben davon, dass die meisten Zuwanderer in Europa nach Deutschland kämen. Wären Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, dass nach den offiziellen Zahlen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge bezogen auf die Zahl der Bevölkerung immer bezogen auf die Zahl der Bevölkerung - die Schweiz mit 5,68 Prozent an der Spitze liegt, gefolgt von den Niederlanden mit 2,86 Prozent sowie Belgien, Norwegen, Österreich, Schweden und Irland, und dass Deutschland mit 1,2 Prozent Asyl-Erstanträgen im europäischen Vergleich erst auf Platz acht steht?

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn Sie die gesamte Wanderungsbewegung betrachten, Herr Kollege Veit, wissen Sie so gut wie ich - wenn Sie einmal die Kontingente derjenigen abgrenzen, die aus spezifischen Erwägungen in die Schweiz und in andere Länder gehen -, dass der größte Wanderungsdruck auf Deutschland gerichtet ist, wegen des Erwartungshorizonts und der Kraft seiner Volkswirtschaft. Das gilt insbesondere auch in den Bereichen derjenigen Menschen, die zu uns kommen, ohne dass wir die Chance hätten, die Zuwanderung zu regeln, und die dann am Ende in unserem sozialen Sicherungssystem landen. Das ist eine ganz andere Situation, als sie die Schweiz hat, als sie Belgien hat und als sie die Niederlande haben. ({0}) An unserem Gesetz ist kritisiert worden, dass große Gruppen, wie die Asylbewerber, davon nicht erfasst würden. Dazu muss ich Ihnen sagen: Das Argument ist völlig falsch. Die Asylbewerber stehen bei uns wegen der humanitären Erfordernisse völlig außen vor. Sie werden nur zugerechnet, weil sie nur dann in einer Belastungsgrenze einbezogen werden können. Gerade das bietet eher die Chance, das individuelle Grundrecht auf Asyl zu halten. Denn der Hauptvorwurf bei diesem Grundrecht war immer die fehlende Praktikabilität. Wenn ich aber jemandem sage, er könne nur einen Weg nach Deutschland wählen, entweder als Zuwanderer zum Arbeitsmarkt oder als Asylbewerber, dann kann ich zu Recht den Asylbewerbern, die bisher über Asyl zum Arbeitsmarkt zugewandert sind, sagen, dass das nicht geht und dass sie sich im Herkunftsland entscheiden müssen, welches Argument sie im Schilde führen. ({1}) Dann können sie sich von der deutschen Botschaft als Zuwanderer eintragen lassen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Dieses Gesetz hält auseinander und gliedert wieder die Sachverhalte.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Gerhardt, bevor Sie darauf kommen, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass es eine weitere Zwischenfrage gibt, und zwar des Kollegen Edathy.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Gerhardt, können Sie mir bestätigen, dass Sie seit Wochen die Aufsetzung Ihres so genannten Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages aufschieben, obwohl Sie dazu die Möglichkeit gehabt hätten? Können Sie mir ferner zustimmen, dass wir hier über einen Antrag der CDU/CSU sprechen, über den bisher allerdings weder die CDU/CSU noch Sie gesprochen haben? Und können Sie mir drittens vielleicht bestätigen, dass es wenig Sinn macht, einerseits Erwartungen und andererseits Befürchtungen aufgrund eines Zuwanderungsgesetzes zu wecken, wenn Sie hier selber einräumen, dass vor dem Hintergrund von 4 Millionen Arbeitslosen in Deutschland eine grundsätzliche Regelung letztlich keinen Effekt haben würde, weil wir angesichts dessen zusätzliche Zuwanderung zum Zwecke der Arbeitsaufnahme auf breiter Basis gar nicht werden realisieren können? ({0})

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zu Ihrer ersten Frage, warum wir den Gesetzentwurf bisher nicht aufgesetzt haben: Die heutige Debatte zeigt, dass das sogar klug war. Denn wenn Sie weitere Erkenntnisse gewinnen wollen, können wir auf der Grundlage unseres Gesetzentwurfs erneut in die Ausschussberatung eintreten. Wenn Sie darauf bestehen, dass unser Entwurf hier aufgesetzt wird, damit Sie ihn ablehnen können, tue ich Ihnen auch diesen Gefallen. Aber dann müssen Sie mir, angesichts der Debatte, die Ihre Partei führt, begründen, warum Sie ihn ablehnen. ({0}) Die Staatssekretärin Sonntag-Wolgast hat erklärt, dass eine zuwanderungsgesetzliche Regelung notwendig wäre. Ich kann Ihnen Bundesinnenminister Schily in seiner früheren Eigenschaft mit Zwischenrufen zitieren, um deutlich zu machen, dass auch er sie für notwendig hält. Aus Ihrer Fraktion gibt es dieselben Äußerungen. Ebenso hat die Fraktion der CDU/CSU erkennen lassen, dass sie solche Erwägungen hat. Das heißt, wenn die Chance besteht, hier etwas zustande zu bringen, war es doch nicht weniger als nützlich, dass wir hier etwas gewartet haben. Zum zweiten Punkt Ihrer Fragestellung, warum ich nicht über den Vorschlag und die Initiative der CDU/CSU diskutiere. Das ist bei mir eingebettet. Ich sehe keinen Sinn, dass wir uns jetzt wieder dauernd mit Asyldebatten und europäischen Regelungen beschäftigen, die wir bereits in der Vergangenheit hin und her debattiert haben. ({1}) Wir müssen das jetzt in einen Gesamtkontext bringen. Die Zahl von 4 Millionen Arbeitslosen auf dem deutschen Arbeitsmarkt erscheint mir differenzierter als manchem Sozialdemokraten. Darunter befinden sich solche, die dringlichst Arbeit suchen, aber keine Chance haben. Darunter befinden sich ebenso solche, die nicht dringlichst Arbeit suchen und sehr auskömmlich von der Kombination aus sozialen Stützmaßnahmen und Schwarzarbeit leben. ({2}) - Aber wenn Sie sie nicht vermitteln können und die Branchen trotz dreimaliger Aufforderung jemanden nicht bewegen können, von Bruchsal nach Karlsruhe umzuziehen, aber jemanden dazu bewegen können, von Kalkutta nach Karlsruhe umzuziehen, den wir als Arbeitskraft im gesamtwirtschaftlichen Interesse brauchen, dann bin ich, wie auch der Bundeskanzler, bereit, diesen Menschen hier eine Lebensperspektive zu geben, die beiden Seiten nutzt. ({3}) Deshalb ist das mit dem Arbeitsmarkt so einfach nicht. Ich lese doch in Ihren Programmen, dass Sie jetzt über Zuwanderungssteuerung offener reden, als das früher der Fall war. Bei der CDU/CSU höre ich das Gleiche. Bei den Grünen höre ich es noch nicht. ({4}) Ich kann nur die Ausländerbeauftragte bitten: Ihre Vorgängerin im Amt hat den Gesetzentwurf mit bearbeitet; ich glaube, Sie könnten ihn mittragen. ({5}) Wenn es noch Bedenken gibt, dann sind wir gesprächsbereit, um einiges zu ändern.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Gerhardt, es gibt noch eine Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Marschewski.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Gerhardt, Sie werden mir sicherlich bestätigen, dass die Schaffung eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes auch uraltes Gedankengut der CDU/CSU ist. Sie werden mir aber sicherlich auch bestätigen, dass Ihr Gesetzentwurf deswegen Probleme aufweist, weil Sie nur Erfolg haben könnten, wenn Sie Art. 16 a des Grundgesetzes, das Asylrecht, verändern und wenn Sie über Art. 6, Familiennachzug, und über Art. 116 nachdenken. Nur so können Sie legal eine Begrenzung einführen. Alles andere würde - auch das können Sie mir sicherlich bestätigen -, wenn Ihr Gesetzentwurf Wirklichkeit würde, zu einer Quote null führen. Das ist bei Ihrem Gesetzentwurf - das können Sie mir sicherlich nochmals bestätigen - das Problem. Deswegen meine ich: Ihr Versuch ist in Ordnung; aber Sie müssten auch zu der Auffassung kommen, das Grundgesetz zu ändern und zu einer Änderung dieser wichtigen Bestimmungen Ja zu sagen.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Marschewski, ich schlage Ihnen Folgendes vor: Lassen wir doch unsere unterschiedliche persönliche Auffassung hinsichtlich des Grundrechts auf Asyl bestehen. Das ist nicht der Knoten, der jetzt durchschlagen werden muss. Ich würde ihn auch nicht vor einer europäischen Regelung angehen, wenn wir denn dereinst wirklich eine solche bekämen. ({0}) Wenn wir angesichts der jetzigen Chance bzw. der Bemerkungen, die Sie ansonsten zu unserem Gesetzentwurf machen - darauf reagieren wir gerne -, arbeitstechnisch überhaupt weiterkommen und eine gesetzliche Einwanderungsregelung beschließen wollen und wenn wir die weiteren europäischen Verhandlungen hinsichtlich des Themas Asyl abwarten, wäre das ein Gewinn für die Bundesrepublik Deutschland und würde zu einer Kalkulierbarkeit der Wanderungsbewegungen nach Deutschland führen. Ich habe nicht vor, jemandem vorzuhalten, dass er sich in seiner Meinung, es gebe keine Chance zur Einigung, getäuscht hat. Ich begrüße die Entwicklung bei der Christlich Demokratischen Union, zu einer gesetzlichen Grundlage hinsichtlich der Zuwanderung zu kommen. Hätten wir diese in der letzten Legislaturperiode schon gehabt, hätten wir gemeinsam ein Gesetz verabschieden können; diese Bemerkung darf ich mir gestatten. ({1}) - Ich spreche heute sehr bewusst zu diesem Tagesordnungspunkt. Der vorliegende Antrag gibt Gelegenheit, jetzt noch einmal über eine solche Gesetzgebungschance nachzudenken. Ich werde zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen der F.D.P.-Fraktion im Hinblick auf unseren Gesetzentwurf so verfahren, dass diese Chance nicht zunichte gemacht, sondern neu eröffnet wird. ({2}) Deshalb gehen wir am besten wieder zu den entsprechenden Ausschussberatungen über und machen uns daran, Ihre Einwände gegenüber unserem Gesetzentwurf zu bearbeiten. Denn es macht am Ende keinen Sinn - damit will ich abschließen -, zum einen, wie es der Bundesinnenminister tut, über die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands im Hinblick auf Zuwanderung zu sprechen, zum anderen aber, wie es der Bundeskanzler tut, die Zuwanderung von Arbeitskräften im Rahmen einer so genannten Green Card zu ermöglichen und über den Individualgrundsatz des Grundrechts auf Asyl zu diskutieren, ohne eine Einwanderungssteuerung vorzunehmen. Erkenntnis in allen Fraktionen muss jetzt sein: Mit den bisherigen Debatten kommen wir nicht mehr weiter. In der nächsten Woche eine Debatte über die Green Card, in dieser Woche eine Asyldebatte, das hilft uns jetzt nicht weiter. Ich glaube, dass die Öffentlichkeit erwartet, dass wir jetzt darlegen, wie wir uns künftig in Deutschland eine Regelung der Zuwanderung vorstellen. Ich schlage Ihnen deshalb ernsthaft vor, parteiübergreifend - denn dies ist eine wichtige gesellschaftliche Frage; daher sollte man Verwerfungen zwischen den Parteien vermeiden und in der Wortwahl abwägen - diese Gelegenheit zu nutzen. Wir haben im letzten Jahr ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht geschaffen; wir sollten in diesem Jahr ein modernes Einwanderungsgesetz schaffen. Wir sollten uns dann bemühen - denn dies ist ein massives Interesse von uns -, eine europäische Regelung der Asylpolitik zu erzielen. Wenn es eine solche gibt, ist bei uns die Diskussion über das Grundrecht auf Asyl vielleicht viel einfacher und klarer zu führen, ohne dass man wesentliche humanitäre Grundsätze verletzt. Denn wir sind ja von anderen großen Demokratien umgeben, die für uns beispielhaft sind. Dann könnte unser Land endlich einmal diese gesellschaftspolitische Frage lösen, ohne sie nur dem parteipolitischen Schlagabtausch zu überlassen. Dazu ist die Fraktion der Freien Demokraten bereit. Wir werden mit unserem Gesetzentwurf so verfahren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Marieluise Beck.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Bosbach, es ist gut, dass Sie hier das Angebot einer sachlichen Diskussion machen. Das kann ich nur begrüßen. Denn gerade die Schlacht um den Doppel-Pass im vergangenen Jahr hat im Lande eine Stimmung hervorgerufen, die sehr bedenklich war. Ich bin froh, wenn wir uns auf einen gewissen Grundkonsens einigen können. Die Diskussion über alle Fragen, die mit Migration zu tun haben, also Migration sowohl aufgrund von Flucht und Asyl als auch aufgrund einer anderen Art der Zuwanderung, darf nicht mit der Grundhaltung der Abwehr geführt werden. ({0}) Als Sie heute Morgen über § 19 des Ausländergesetzes gesprochen haben, so muss ich feststellen, war dies kein guter Einstand von Ihnen im Hinblick darauf, dass Sie von einer modernen CDU/CSU sprechen wollen. Es kann in Zeiten, in denen wir alle wissen, dass es zu Migration, ob wir sie wollen oder nicht, kommt, nicht um die Perspektive der Abwehr gehen. Jeder, der zur Europäischen Union und auch zu deren Erweiterung Ja sagt, sagt damit Ja zum Hin- und Herwandern von Menschen, zu Mobilität. Demnächst wird Europa aus 27 Ländern bestehen. Das wird Wanderungsbewegungen nach sich ziehen und damit die Notwendigkeit, diese Zuwanderung zu gestalten und integrationspolitisch zu begleiten, sowohl innerhalb der Europäischen Union als auch darüber hinausgreifend. Wir alle sprechen von der Globalisierung der Ökonomie, davon, dass sich Ökonomien vernetzen, und merken, dass wir diesen Fragestellungen mit dem nationalstaatlichen Denken des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr gewachsen sind. ({1}) Was wir aber übernommen haben, Herr Kollege Bosbach, ist ein absolutes Chaos in integrationspolitischen Fragen, weil in den vergangenen 20 Jahren an dem Diktum festgehalten worden ist, Deutschland sei kein Einwanderungsland, und zwar wider besseres Wissen, wie meine Kollegin Schmalz-Jacobsen immer betont hat. Es gibt keine wirklich gestaltete Sprachförderung auf Bundesebene. Die Zugänge sind zwar gesetzlich geregelt, aber verstreut in unterschiedlichen Gesetzeswerken. Es gibt also sehr viel Aufräumarbeit zu leisten; das kann ich Ihnen versichern. Wenn Sie jetzt den pragmatischen Schritt „Green Card“, der vorgeschlagen worden ist, um einen Arbeitskräftemangel zu heilen, angreifen, dann doch auch, weil Sie überdecken müssen, was Sie in den vergangenen Jahren versäumt haben. Der so genannte Zukunftsminister hat es eben nicht geschafft, die Universitäten in die Lage zu versetzen, so auszubilden, dass uns diese Arbeitskräfte hier zur Verfügung stehen. ({2}) Das gilt für Bildung und Ausbildung genauso wie für Qualifikation. Nehmen Sie sich also bitte zurück! Sie übertünchen nur die Versäumnisse der vergangenen Jahre. Allerdings sagen auch wir, dass die Debatte um die Green Card dazu genutzt werden muss, um eine vernünftige, sachliche Debatte über die Gestaltung - nicht die Begrenzung, Herr Kollege Gerhardt; das ist der Unterton, der bei Ihnen mitschwingt - der Zuwanderung ({3}) in diesem Hause zu führen. ({4}) Denn angesichts der Vorschläge, die gemacht worden sind, gibt es viele Fragen, zum Beispiel in Bezug auf die Verfestigung des Aufenthalts, die Regelung zum Familiennachzug und die Integrationsperspektive, die auch das Green-Card-Modell beinhalten muss. ({5}) Wir werden die Zuwanderung also auf eine neue gesetzliche Grundlage stellen müssen, wobei ich daran erinnern möchte, dass wir jetzt keinen ungeregelten Zuzug haben. Dazu gibt es Gesetze: das Recht auf Schutz, abgesichert durch das Grundgesetz und das Völkerrecht, das Recht auf Familiennachzug und die EUFreizügigkeit. Es gibt politisch gewollte Zuwanderer wie die Spätaussiedler und die jüdischen Kontingentzuwanderer. Das alles ist ein Strauß gesetzlich normierten Zuzugs. Insofern geht es um eine Erweiterung der Zuwanderung, und zwar aus humanen Gründen und aus Gründen der Arbeitsmigration, wie es jetzt mit der Green Card kurzfristig noch einmal organisiert werden soll. Es geht aber nicht an - genau das ist das Infame, was die Union versucht -, diese neu aufgebrochene Zuwanderungsdebatte mit der Abwehr von Asyl und Schutz zu verknüpfen. Sie wollen unter dem Deckmantel einer Zuwanderungsdebatte das Grundrecht auf Asyl schleifen und damit den Schutz für politisch Verfolgte aufheben. Das geht nicht, wenn man sich auf dem Boden europäischer Gemeinsamkeit bewegen möchte. ({6}) Ich möchte noch einmal festhalten, dass der Europäische Rat die Bedeutung bekräftigt hat, die der unbedingten Achtung des Rechts auf Asyl zukommt. Er hat gesagt, es sei auf „ein gemeinsames europäisches Asylsystem hinzuwirken, das sich auf die uneinge-schränkte und allumfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention stützt“. ({7}) Das bedeutet: Wir haben eine gemeinsame Grundlage. Die Genfer Flüchtlingskonvention und die europäische Menschenrechtskonvention geben Deutschland eher einen Nachbesserungsbedarf auf, ({8}) zum Beispiel bei der Anerkennung innerstaatlicher Verfolgung, also nicht staatlicher Verfolgung. ({9}) Hier stehen wir vor großen nationalen Problemen. Es ist auch so, dass Deutschland nicht mehr auf Platz 1, sondern auf Platz 8 der aufnehmenden Staaten steht. Es ist ein Mythos, mit dem hier gearbeitet wird. Wichtig ist, zu erkennen, dass wir in Teilen unseres Schutzsystems gerade wegen der Nichtanerkennung der nicht staatlichen Verfolgung unter den europäischen Standard gesunken sind. ({10}) Es ist bedenklich, wenn im Vereinigten Königreich der Court of Appeal in seiner Entscheidung vom 23. Juli 1999 darauf hingewiesen hat, dass die Bundesrepublik kein sicheres Drittland sei, weil es für die Ausgrenzung nicht staatlicher Verfolgung aus dem Flüchtlingsbegriff keine Rechtfertigung gebe. Deswegen hat das Gericht die Rücküberstellung nach der Dubliner Konvention untersagt. Das ist eine große Herausforderung auf dem Weg der Harmonisierung des europäischen Rechts. Die Genfer Flüchtlingskonvention begründet das Recht auf Schutz und auf Nachprüfbarkeit von Schutz. Damit sind wir bei Art. 19 Abs. 4 unseres Grundgesetzes, nach dem Verwaltungsakte über das Gerichtswesen nachprüfbar sein müssen. Insofern bewegen wir uns mit Art. 16 a des Grundgesetzes und § 51 des Ausländergesetzes sehr wohl auf dem Boden der Genfer Flüchtlingskonvention. Der Eindruck, der immer wieder erweckt wird, dass uns die europäische Harmonisierung dazu bringen würde, diese deutsche Gesetzgebung beiseite zu schieben, ist falsch. Im Gegenteil: Sowohl Art. 16 a des Grundgesetzes als auch § 51 des Ausländergesetzes sind faktisch die Umsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention. Wer jetzt wie Sie von der Union - wieder unter dem Deckmantel der Zuwanderungsdebatte ({11}) von einer Institutsgarantie spricht, der muss auch deutlich sagen, dass er sich damit von der europäischen Vereinbarung, die Genfer Flüchtlinskonvention zur Grundlage der europäischen Harmonisierung zu machen, verabschiedet. ({12}) Die Institutsgarantie passt nicht zur Genfer Flüchtlingskonvention. Wir haben durch die Beschlüsse von Tampere eine gute Grundlage für die europäische Harmonisierung. Es gibt Herausforderungen für Deutschland. Wir alle wissen, dass die historische Idee für unser Schutzrecht, vor allem für Art. 16 des Grundgesetzes, die gewesen ist, dass Menschen vor staatlicher Verfolgung geschützt werden müssen. Das war die Lehre, die aus dem deutschen Faschismus gezogen worden ist. Marieluise Beck ({13}) Aber die Verfolgungsbedingungen in anderen Ländern haben sich geändert. Dass wir den Bosniern selbst dann, wenn wir wussten, dass sie aus Konzentrationslagern kamen, hier kein Asylrecht zuerkennen konnten, weil sie nicht von einem Staat verfolgt wurden, entspricht - dessen bin ich sicher - nicht der Idee der Väter des Grundgesetzes, die eigentlich mit der Gewährung von Schutz und der Festschreibung dieses Schutzes im Grundgesetz als Grundrecht eine ganz hohe Hürde und damit auch einen hohen Schutz aufbauen wollten. Ich bin mir sicher, dass dies nicht mehr der eigentlichen Idee des Grundgesetzes entspricht. Deswegen haben wir mit der Schaffung eines modernen Schutzrechtes eine Aufgabe vor uns, der wir uns - ohne immer nur den Abwehrgedanken im Hinterkopf zu haben - in diesem Parlament gemeinsam sorgsam widmen sollten. Wir müssen Regelungen finden, die der Würde und den Schutzbedürfnissen der Menschen angemessen Rechnung tragen. Schönen Dank. ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDSFraktion spricht jetzt die Kollegin Ulla Jelpke.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU hat meiner Meinung nach in einem Punkt ihres Antrages tatsächlich Recht: Die Vorstellungen der Bundesregierung zum Asyl- und Ausländerrecht in der EU liegen uns bisher in der Tat nicht vor. Ich meine, Kollege Veit, dass man hier auch die eigene Politik mit zur Diskussion stellen sollte, wenn ein solcher Antrag vorliegt. Doch zu Beginn lassen Sie mich einige Bemerkungen zur Green Card machen: Eine Politik, die eine vermeintliche Elite aus anderen Ländern zum Wohle der deutschen Wirtschaft anheuert, die weiterhin arme Menschen, Menschen in Not feuert, ist inhuman und kann meines Erachtens von uns nicht mitgetragen werden, ({0}) zumal Sie in diesem konkreten Fall genau wissen, dass Sie die 20 000 Menschen, die Sie mithilfe der Green Cards hierher holen wollen, wahrscheinlich dann, wenn sie älter als 40 Jahre alt geworden sind, unter unmenschlichsten Bedingungen wieder zurückschicken werden, weil sie hier keine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Ich finde eine solche Politik abstoßend, mit der in der öffentlichen Diskussion eine neue Hierarchie von Menschen produziert wird. Auf einmal sollen zehntausend junge Leute aus dem Ausland die Zukunft der deutschen Wirtschaft sichern, während auf der anderen Seite Flüchtlinge nach wie vor dem Arbeitsverbot unterliegen. Ich möchte hier jetzt nicht auf die weiteren sozialen Probleme von Jugendlichen und gerade auch älteren Menschen eingehen, die im Computerbereich arbeiten. Jahrelang - darauf ist heute schon hingewiesen worden - haben wir die Sprüche von der Union gehört: Das Boot ist voll! ({1}) Was ist jetzt? Jetzt wackelt die CDU/CSU, wie wir heute hier gesehen haben, weil die IT-Branche nach jungen Leuten zu Dumpinglöhnen ruft. Die SPD wackelt gleich mit. Der Innenminister, der uns noch vor kurzem erzählte, die Grenzen der Belastbarkeit seien erreicht, weiß wahrscheinlich selbst nicht mehr, wie voll bzw. leer sein Boot ist. Wir dagegen bleiben dabei: Dieses Land ist ein Einwanderungsland und es soll und wird auch in Zukunft ein Einwanderungsland bleiben. ({2}) Nötig ist - das fordern wir von der PDS schon lange eine Asyl- und Migrationspolitik, die den Menschen hilft und ihre Menschenrechte stärkt. Nicht die Wirtschaft, sondern die Menschen müssen im Zentrum der Politik stehen. ({3}) Das sollte auch für die Harmonisierung der Asyl- und Ausländerpolitik der EU die Richtschnur sein. Jetzt zum Antrag der CDU/CSU: Herr Bosbach, ich habe in Ihren Ausführungen sehr wohl Ihre Bemühungen um Differenzierung beim Thema Einwanderungsland erkannt. Ich meine aber, dass sowohl angesichts der Debatte zu § 19 des Ausländergesetzes heute Morgen als auch bei genauerer Betrachtung Ihres Antrags der Begriff „Modernisierung“ fehl am Platze ist. Im Grunde genommen sind Sie im Wesentlichen bei Ihrer alten Politik geblieben. Es wird Abschottung gefordert und vor allen Dingen eine regressive Politik bei der Flüchtlingsverfolgung. Was mich immer wieder stört, ist die Tatsache, dass Sie versuchen, die Flüchtlinge per se als Risiko darzustellen. Ein einziger Punkt in Ihrem Antrag hat mir ein bisschen Hoffnung gegeben, nämlich der Punkt 1. Dort heißt es, dass der Flüchtlingsbegriff unter Berücksichtigung der Genfer Flüchtlingskonvention einheitlich zu definieren sei. Das hört sich in der Tat gut an. Aber was meinen Sie praktisch damit? Meine Kollegin Beck hat es eben schon angesprochen. Heißt das tatsächlich, dass Sie die Genfer Flüchtlingskonvention endlich umsetzen wollen? Das würde bedeuten, nicht staatliche Verfolgung und frauenspezifische Fluchtgründe anzuerkennen. Es wäre ein echter Fortschritt, wenn die rot-grüne Regierung diesen Antrag umsetzen würde. Der UN-Flüchtlingskommissar sagt, dass die Bundesrepublik im Umgang mit Flüchtlingen, die vor nicht staatlicher Verfolgung fliehen, gegenwärtig das restriktivste Land in ganz Europa sei. Das oberste Gericht in Großbritannien - auch das ist hier schon erwähnt worden - hat die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr als sicheres Drittland eingestuft. Ich vermisse Marieluise Beck ({4}) tatsächlich, vor allem von der Regierung, ein entsprechendes Verhalten. In Ihrem Antrag begrüßen Sie zum Beispiel Eurodac. Eurodac soll ein System werden, das dazu berechtigt, jedem Flüchtling Fingerabdrücke abzunehmen. Das bedeutet, dass Sie - unter anderem mit den repressiven Forderungen in Ihrem Antrag - beispielsweise vierzehn Jahre alte Jugendliche ganz pauschal verdächtigen und unter Umständen in Abschiebehaft stecken wollen. Ihre Warndatei haben wir hier schon ausführlich diskutiert und abgelehnt. Auch hier haben Sie eine Datenerfassung vor, die per se einer Kriminalisierung von Ausländerinnen und Ausländern gleicht. Es wird mehr als deutlich, dass Ihre Ausländer- und Asylpolitik nur eine Bezeichnung verdient: Sie ist Menschen verachtend und inhuman. Das muss ich ganz deutlich sagen. Herr Bosbach hat heute die Zahlen richtig dargestellt. Wir haben in der Tat mehr Abwanderung als Zuwanderung. Im gleichen Atemzug behaupten Sie - Herr Merz und Herr Schäuble haben es heute wieder getan -, dass 700 000 Ausländer im letzten Jahr erneut ins Land gekommen sind. Ich meine, wer von Zuwanderung redet, sollte die Auswanderung nicht verschweigen. Sie picken sich immer die Zahlen heraus, die Sie gerade brauchen, um Ihre Politik zu begründen. Ich erspare mir hier Ihre Zahlen im Einzelnen zu nennen, bin aber bereit, sie jedem Kollegen zur Verfügung zu stellen. Leider ist - auch das muss man hier diskutieren - die Politik der alten Regierung auch die Politik der rotgrünen Regierung. Herr Schily ist in vielen Punkten mit Ihnen einig. Dass er dabei nicht nur die Grünen vor den Kopf stößt, sondern auch die Beschlüsse der SPDParteitage missachtet, interessiert diesen Minister überhaupt nicht. Ich erinnere an die Ausführungen von Herrn Schily, das Asylrecht lasse sich in der EU nicht halten. Ich erinnere an seinen Plan, den Rechtsweg für Flüchtlinge zu verkürzen. Ich erinnere daran, dass sich Herr Schily trotz Bundestagsbeschlusses weiter weigert, die UN-Kinderrechtskonvention ohne Vorbehalt anzuwenden. Jugendliche werden deshalb weiter in Abschiebehaft gesperrt. Das ist ein klarer Verstoß gegen die Kinderrechtskonvention. Auch das Bild, das diese Regierung und die Union von der deutschen Asyl- und Ausländerpolitik im Vergleich zu anderen EU-Staaten verbreiten, stimmt hinten und vorne nicht. Sie sagen zum Beispiel, Deutschland nehme die meisten Flüchtlinge auf. Das ist seit langer Zeit schlicht falsch. Tatsache ist, dass Länder wie die Niederlande, Großbritannien, die Schweiz und Belgien einen immer größeren Teil der Flüchtlinge aufnehmen. Diese Länder, deren Einwohnerzahl etwa der Deutschlands entspricht, nehmen im Moment mehr als die Hälfte der Flüchtlinge in Europa auf. Auch in der Hinsicht muss man die Wahrheit sagen. So sieht es nämlich wirklich aus. Bei anderen Fragen tritt Innenminister Schily ebenfalls auf die Bremse, wenn es um die Harmonisierung der europäischen Asyl- und Migrationspolitik geht. Auch in Sachen Staatsbürgerschaftsrecht, das hier immer wieder so hoch gelobt wird und mit Sicherheit auch einige fortschrittliche Punkte enthält, tritt diese Regierung europaweit auf die Bremse. Seit 1997 gibt es eine Konvention des Europarates zum Staatsbürgerschaftsrecht, die einheitliche Regelungen zum Beispiel für die doppelte Staatsbürgerschaft aufstellt. Diese Konvention wurde von Innenminister Schily bis heute nicht unterzeichnet. Und warum nicht? Ganz einfach deshalb, weil diese Konvention ihm verbieten würde, Menschen - beispielsweise Jugendlichen, die sich mit 23 Jahren nicht für eine Staatsbürgerschaft entschieden haben -, wie es mit dieser Staatsbürgerschaftsreform geplant ist, die deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen. Das ist nach dieser Konvention einfach nicht erlaubt.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Jelpke, Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, ich komme gleich zum Schluss. - Sie werden sich auch damit auseinander setzen müssen, dass immerhin 41 Staaten diese Konvention unterzeichnet haben. Es ist wohl klar: Der Antrag der CDU/CSU hat mit Modernisierung nichts zu tun. Deswegen werden wir ihn ablehnen. Aber wir werden mit Sicherheit weiter eine Debatte um die Modernisierung des Asylrechts in der EU führen und hier unsere Initiativen einbringen. Danke. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die Bundesregierung hat die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002191

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Frau Jelpke, um bei Ihnen anzufangen: Gedulden Sie sich etwas! Dann werden Sie sehen, wie die Bundesregierung mit der Frage der Unterzeichnung der Konvention umgeht. ({0}) Meine Damen und Herren, der Antrag, den wir heute in erster Lesung beraten, hat drei Kennzeichen: Erstens. In einigen Teilen - etwa bei den Mindeststandards und dem einheitlichen Flüchtlingsbegriff rennt er offene Scheunentore ein. Zweitens. In anderen Teilen entfernt er sich von internationalen Vereinbarungen zum Menschen- und Flüchtlingsrecht und wird im zusammenwachsenden Europa ganz gewiss nicht als Basis für eine einheitliche Asylpolitik dienen können. Drittens. Modern ist er auch nicht. Deshalb stelle ich die Frage: Was soll das? Da sich der Kollege Bosbach mehr in allgemeinen migrationspolitischen Fragen ergangen hat, möchte ich erst einmal näher auf Ihren Antrag eingehen. Die CDU/CSU fordert die Bundesregierung auf, die Harmonisierung des Asyl- und Ausländerrechts voranzutreiben, illegale Einwanderung einzudämmen, die Zahl unberechtigter Asylanträge zu verringern, eine gerechte Lastenteilung unter den Mitgliedstaaten zu erreichen und die Bekämpfung der Fluchtursachen zum Ziel der EU-Politik zu machen. Meine Damen und Herren, haben Sie eigentlich über all die Monate, angefangen von der EU-Ratspräsidentschaft der Bundesrepublik bis hin zum heutigen Tage, nicht gemerkt - oder vielleicht nicht bemerken wollen dass diese Bundesregierung in allen von Ihnen genannten Punkten, und zwar sehr umfassend, längst tätig ist ({1}) und weiter vorangeschritten ist, als Sie es wahrhaben wollen? Ich weiß ja, dass Sie in den zurückliegenden Wochen andere Probleme zu behandeln hatten, intern und auch nach außen. Aber selbst einem abgelenkten, zerstreuten und verunsicherten Unionspolitiker können doch nicht die wesentlichen Etappen der vergangenen 15 Monate auf dem Gebiet der europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik verborgen geblieben sein. ({2}) Ich darf die wichtigsten Stufen einmal nennen: Rat und Kommission haben im Dezember 1998 einen Aktionsplan mit Schwerpunkten für die Arbeit und mit zeitlichen Vorgaben verabschiedet. Am 1. Mai 1999 ging mit Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages die Ausländer- und Asylpolitik in die Kompetenz der Gemeinschaft über. Seit ihrer Amtsübernahme hat sich die Bundesregierung konsequent für eine Angleichung in diesem Politikbereich stark gemacht. Auf dem Europäischen Rat in Tampere im letzten Oktober hat die Bundesregierung die Initiative ergriffen - begleitet von sehr skeptischen Prognosen, was den Ausgang dieser Veranstaltung betraf -, gemeinsam mit ihren französischen und britischen Freunden die wesentlichen Prinzipien formuliert und allen Unkenrufen zum Trotz - auch durchgesetzt. Als Beispiele nenne ich die Partnerschaft mit den Herkunftsländern der Flüchtlinge, ein gemeinsames europäisches Asylsystem, die gerechte Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die Steuerung von Wanderungsbewegungen und last not least die Bestätigung der Genfer Flüchtlingskonvention als gemeinsame Basis der Asylpolitik. Das war ein echter Erfolg und ist eine tragfähige Startrampe für die weiteren Bemühungen. ({3}) Weiter verlangen Sie einheitliche Standards für Asylverfahren. Diese Forderung ist überflüssig, denn schon der EG-Vertrag in der Fassung des Amsterdamer Vertrages erteilt dazu den Auftrag. Mindestgarantien im Asylverfahren sind ebenfalls längst in der Diskussion. Mit einem Vorschlag für den EG-Rechtsakt können wir noch in diesem Jahr rechnen. Auch Rückübernahmevereinbarungen mit Dritt- und Transitstaaten sind längst konkrete Politik der Bundesregierung. Ich könnte diese Revue der Selbstverständlichkeiten fortsetzen, aber das ist nicht nötig. Nötig sind vielmehr einige Bemerkungen zu Forderungen, die - jedenfalls bis auf weiteres - in der Europäischen Union nicht mehrheitsfähig sind oder nicht den menschenrechtlichen Normen der Gemeinschaft entsprechen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, Herr Kollege Marschewski möchte eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002191

Bitte.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, Sie machen hier sehr interessante Ausführungen zum Kernbereich deutscher Innenpolitik. Gestatten Sie mir die Frage: Warum ist der Bundesinnenminister heute bei diesem wichtigen Punkt nicht anwesend? Befürchtet er vielleicht, dass die Diskrepanz zwischen ihm und seiner Fraktion und zwischen ihm und den Grünen heute offenkundig wird? Ist er deswegen zu Hause geblieben? ({0})

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002191

Herr Kollege Marschewski, Sie wissen sehr genau - auch aufgrund der langjährigen Regierungszeit der CDU/CSU -, dass Minister neben der Pflicht zur Anwesenheit im Parlament sehr viele andere dringende Verpflichtungen haben. Sie können sich darauf verlassen, dass das, was ich hier vortrage, den Ansichten und den Überzeugungen des Bundesinnenministers entspricht. Sie sind also bei mir gut aufgehoben, zumal Sie mir ja schon zugebilligt haben, dass ich hier interessante Ausführungen zu Kernbereichen der deutschen Innenpolitik mache. Ich möchte damit gern fortfahren. ({0}) Sie fordern die in der Diskussion der vergangenen Zeit sehr wichtige so genannte quotenmäßige Verteilung der Bürgerkriegsflüchtlinge und der Asylbewerber innerhalb Europas, also das viel beschworene Burdensharing. Wenn sich jemand darum bemüht hat, dann dieser Bundesminister des Innern. Das wissen Sie doch auch, zum Beispiel aus der Zeit, als wir die Kosovo-Albaner hier aufgenommen haben. Ein starres Verteilungssystem mit festgelegten Quoten war nicht erreichbar. Stattdessen schlug die Bundesregierung seinerzeit das so genannte Pledging-Verfahren vor, mit dem sich die jeweiligen Staaten freiwillig bereit erklärten, eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen. Die Flüchtlinge ihrerseits erklärten sich bereit, ihre Zuflucht dort zu suchen. Dieses Prinzip der doppelten Freiwilligkeit hat innerhalb der EU eine viel positivere Resonanz gefunden als das alte Modell der früheren Bundesregierung mit festen Aufnahmequoten, die Sie jetzt wieder in Ihrem Antrag aufwärmen. Die Bundesregierung sieht sich jedenfalls durch den Erfolg bei der Aufnahme der geflüchteten Kosovaren vor einem Jahr in ihren Bemühungen um eine faire Aufgaben- und Lastenteilung innerhalb der EU bestätigt. Sie möchte in ihren Bemühungen nicht nachlassen und wird das Konzept des vorübergehenden Schutzes von Menschen aus Bürgerkriegsregionen weiterverfolgen. Schlicht und einfach zu leicht machen Sie es sich mit der Forderung, Flüchtlinge mit offensichtlich unbegründeten Asylanträgen generell sofort abzuschieben. Das ist wahrscheinlich populistisch, aber mindestens ebenso verantwortungslos; denn die Abschiebung kann nur erfolgen, wenn sie im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Genfer Flüchtlingskonvention steht. Darüber setzen Sie sich offenbar hinweg. Jetzt möchte ich auf den letzten Punkt Ihres Forderungskatalogs eingehen, der in den letzten Tagen zu neuer Aktualität gelangt ist, nämlich auf die von Ihnen verlangten einheitlichen Regelungen für legale Einwanderung. ({1}) Sie erwähnen Wissenschaft, Kunst, Sport und Kapitalinvestoren.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage. ({0})

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002191

In Ihren Reihen ich merke es an der Unruhe, die im Moment bei Ihnen und auch bei den Kollegen von der F.D.P. herrscht - hat die begrüßenswerte Initiative des Bundeskanzlers, für einen begrenzten Zeitraum ausländische Computerspezialisten ins Land zu holen, offenbar beträchtliche Verwirrung erzeugt. Das ist kein Wunder, wenn man auf eigene frühere Versäumnisse in der langen Regierungszeit hingewiesen, ja gestoßen wird. Jetzt geht bei Ihnen alles durcheinander. Die CSU fühlte sich zunächst einmal bemüßigt, vor neuer und kontinuierlicher Einwanderung warnend den Finger zu erheben. Danach klang es schon ein bisschen positiver. Kollegen aus der CDU - zum Beispiel der Kollege Merz und heute der Kollege Wolfgang Bosbach - brachen aus der alten Allianz der Gegner jeglicher Einwanderungsgesetze aus und wandelten sich zu Befürwortern.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002191

Gut.

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, die Unruhe bei uns ist entstanden, als Sie gesagt haben, der Innenminister sei bei einer bedeutenden Veranstaltung. Bei uns geht das Gerücht um, er sei bei einem Starkbierfest. Trifft das zu?

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002191

Ich habe gesagt, dass ein Innenminister wie alle Minister der Regierung neben der Pflicht, im Parlament anwesend zu sein, auch noch andere Pflichten hat. ({0}) - Ich glaube, die Antwort war erschöpfend genug. ({1}) - Ich bitte Sie um Ruhe. Sie können noch heute den Innenminister treffen. Er kommt noch ins Haus. Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass das, was ich hier vortrage, die Position meines Hauses ist und mit dem Innenminister abgestimmt ist. Wenn er kommt, dann werden Sie selber feststellen, dass er damit einverstanden ist.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Uhl hat eine Zwischenfrage.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002191

Er darf sie stellen.

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In meiner Eigenschaft als Stadtrat in München hatte ich 20 Jahre lang die Ehre, beim Starkbieranstich auf dem Nockherberg dabei zu sein. Heute ist es das erste Mal, dass ich hier sitzen muss und nicht dabei sein kann. Ich sehe es mit etwas Neid, dass der Herr Innenminister - das ist wohl wahr - seit 11.30 Uhr - zu diesem Zeitpunkt ist immer der Starkbieranstich - auf dem Nockherberg in München weilt. Stimmt das oder nicht? Nach meiner Meinung hat er wie wir alle die Pflicht, bei der jetzigen Diskussion anwesend zu sein und den Termin in München dieses Jahr sausen zu lassen. ({0})

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002191

Herr Kollege Uhl, es tut mir Leid, dass Sie das offenbar mit Bedauern zur Kenntnis nehmen. ({0}) - Doch, er bedauert es; es tut ihm Leid. ({1}) - Herr Kollege Uhl hat gesagt, er nehme mit Bedauern wahr, dass er heute erstmalig an einem bestimmten Ereignis, bei dem er schon sehr oft war, nicht teilnehmen könne. Ich würde jetzt gern zu dem hier zu diskutierenden ernsten Thema zurückkehren. Herr Kollege Gerhardt, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Auch Sie haben sich für ein Zuwanderungsgesetz stark gemacht und sehr wortreich für dieses geworben. Ich muss sagen: Das, was die Freien Demokraten uns vorgelegt haben, begrenzt praktisch die Migration, ja greift sogar in Rechtsansprüche ein, etwa in den auf Familiennachzug von Ausländern, und eröffnet keinerlei neue Perspektiven. Deswegen kann dieser Ansatz, Herr Kollege Gerhardt, unsere Billigung nicht finden. ({2}) - Ich komme noch darauf. Am peinlichsten, meine Damen und Herren, gebärdet sich der ehemalige Zukunftsminister, der in der Vergangenheit die Chance zu einer Offensive zur Aus- und Fortbildung einheimischer Hightech-Experten verpasst hat und jetzt mit dem törichten Spruch „Kinder statt Inder“ Feindseligkeiten schürt. Lothar Späth, nachweislich kein Parteigänger der rot-grünen Koalition, fand dafür ein treffendes Wort: Schwachsinn. Dem ist nichts hinzuzufügen. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wirbt auswärtige Spezialisten an, weil es dafür einen akuten Bedarf gibt; sie tut das befristet. Gleichzeitig unternimmt sie verstärkt Anstrengungen, um hier im Lande junge, aber auch ältere Kräfte in der Informationstechnologie zu schulen. Was das mit Unmenschlichkeit, Frau Jelpke, zu tun haben soll, das müssten Sie mir schon erklären. Davon sorgfältig zu trennen ist die Diskussion um das Für und Wider eines Einwanderungsgesetzes etwa mit jährlichen Aufnahmequoten. Ein solches Gesetz steht in der Tat kurzfristig nicht auf der Tagesordnung. Dazu brauchen wir Zeit und möglichst die Einbettung in den europäischen Rahmen. Fazit: Wir setzen den Schwerpunkt darauf, die Integration unserer nichtdeutschen Mitbürger zu verstärken. Wir haben die Einbürgerung deutlich erleichtert und hoffen, dass diese gesetzliche Regelung positiv gewürdigt wird. Wir treiben die Harmonisierung des Asylrechts in Europa voran. Wir verbessern das Ausländergesetz da, wo es notwendig ist, zum Beispiel bei den Verwaltungsvorschriften, damit etwa die geschlechtsspezifische Verfolgung im Asylverfahren besser und sensibler beachtet wird. Bei § 19 des Ausländergesetzes haben wir heute wirklich einen Schritt nach vorne gemacht. Ich kann nur noch einmal sehr lebhaft meiner Freude darüber Ausdruck verleihen, dass wir die Frist für die Erlangung des eigenständigen Aufenthaltsrechts für ausländische Ehepartner deutlich verkürzt und damit vor allen Dingen etwas für die Verbesserung der Lage der Frauen getan haben. ({3}) Mit alledem, meine Damen und Herren, sind wir auf gutem Weg. Ich bin sicher, dass wir auf diesem Wege gut vorankommen können. Einer sachlichen Debatte ich betone das - über all die Fragen, die heute angeklungen sind, stehen wir offen gegenüber. Danke schön. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort zur Geschäftsordnung hat die Kollegin Birgit SchnieberJastram.

Birgit Schnieber-Jastram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002785, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, wir sind uns einig, dass das, was hier eben an Frage und Antwort stattgefunden hat mit der Bedeutung dieses Parlaments nicht gerecht wird. ({0}) Deswegen möchte ich Ihnen sagen, dass die CDU/CSUFraktion beantragt, gemäß § 42 unserer Geschäftsordnung die Herbeirufung des Ministers zu beschließen. Ich glaube, die Selbstachtung des Parlamentes gebietet dies. Es gibt keinen anderen Weg. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort zur Geschäftsordnung hat die Kollegin Angelica SchwallDüren.

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Frau Staatssekretärin hat ausgeführt, dass ein Minister auch anderweitig wichtige Veranstaltungen zu besuchen hat. ({0}) Wir beantragen jetzt eine einstündige Sitzungsunterbrechung; um eine Sondersitzung unserer Fraktion durchzuführen, in der wir über die Vorfälle, die hier stattgefunden haben, beraten werden

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn eine Fraktion für eine Fraktionssitzung Sitzungsunterbrechung beantragt, ist es in diesem Haus üblich, dass diesem Antrag stattgegeben wird. Deshalb unterbreche ich die Sitzung des Deutschen Bundestages für circa eine Stunde. Sie werden rechtzeitig informiert, wann die Plenarsitzung fortgesetzt wird. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Wir haben, wie geplant, zunächst noch über den von der CDU/CSU-Fraktion gestellten Antrag auf Herbeirufung des Bundesministers des Innern abzustimmen. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt ({0}) mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P., während die PDS sich enthalten hat. Damit können wir nun mit der Aussprache zum Antrag der CDU/CSU-Fraktion zum Asyl- und Ausländerrecht fortfahren. Als nächstem Redner in der Debatte erteile ich das Wort dem Abgeordneten Wolfgang Zeitlmann.

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es könnte jetzt durchaus jemand den Vorwurf erheben, wir hätten irgendeine Werbevereinbarung mit der Paulaner-Brauerei, die jenes Starkbierfest veranstaltet, an dem der Innenminister teilnimmt. ({0}) Ich habe heute den ganzen Vormittag an den Debatten einschließlich der zur Änderung des § 19 des Ausländergesetzes teilgenommen und mich hier informiert. Eines möchte ich vor diesem Hintergrund sagen: Es ist schon ein besonderes Zeichen parlamentarischer Diskussionskultur, dass niemand von uns, obwohl die Medien in den letzten Tagen vom Thema Green Card, Zuwanderungsbegrenzungsgesetz und anderen Dingen voll waren, dieses zum Gegenstand parlamentarischer Debatten machte. Mir muss einmal einer erklären, wie wir im Ansehen in der öffentlichen Meinung steigen sollen, wenn wir so inaktuell über Themen debattieren. ({1}) Ich glaube deshalb, dass der Zeitpunkt für die Beratung des Antrages der CDU/CSU für ein modernes Asylrecht genau richtig war und dabei von den Kollegen mit guten Gründen auf die eigentlichen Themen, die jetzt draußen debattiert werden, eingegangen wurde. Der Kollege Bosbach hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass es eine Riesenkluft zwischen dem gibt, was die Regierung erklärt, und dem, was sie tatsächlich macht. Die Äußerungen Schilys über die Belastbarkeit dieser Republik in Bezug auf die Zuwanderung wurden schon erwähnt. Es gibt ja noch weitere Äußerungen, die er in der Vergangenheit von sich gegeben hat, die bei seinen eigenen Regierungsgenossen meistens auf heftige Kritik gestoßen sind. So hat er zum Beispiel im Oktober 1999 in der „Zeit“ erklärt, dass nicht jede Wohltat, die wir den Menschen gewähren, einklagbar sein müsse. Damit sind wir genau beim Kern der Debatte. Ich fand es sehr gut, dass wir hier einmal breiter darüber diskutiert haben und von der engen Sicht der Begrenzung von Zuwanderung weggekommen sind. Heute Vormittag wurde von einem Teil der Abgeordneten hier ganz deutlich gesagt -das ist unbestreitbar - das ist im Protokoll auch nachlesbar -, dass ein Teil dieses Hauses ein Mehr an Zuwanderung will. Sie haben gesagt, dass das Ausländerrecht in frauenspezifischen Belangen und in anderen Bereichen geöffnet werden solle. Jetzt kommt in diese Debatte der Vorschlag einer Green Card hinein. Heute Vormittag ist auch gesagt worden, die Regierung bereite Rechtsänderungen vor. Ich weiß nicht, ob der Auswärtige Ausschuss Detailinformationen darüber hat, wie die Visaerteilung erleichtert wird. In einer Mitteilung des Auswärtigen Amtes im Internet wird bedauernd darauf hingewiesen, dass die Zahl der Visaerteilungen zurückgegangen sei, weshalb es hier Erleichterungen geben müsse. Dann steht dort noch folgender schöner Satz: Im Zweifel sollte man sich immer für die Einreise aussprechen. ({2}) Im Februar dieses Jahres haben Sie den Bundesratsvorschlag zur Begrenzung asylbewerberleistungsgesetzlicher Regelungen abgelehnt, gleichzeitig wollen Sie die Arbeitserlaubnis für Asylbewerber erleichtern. Daraus wird schon ein gewisses Konzert: Man will in Zukunft ein Mehr an Zuwanderung; eine Verringerung der jetzigen Probleme der Kommunen ist nicht in Sicht. Wir können jederzeit parteienübergreifend eine Debatte beginnen, sofern es von keiner Seite irgendwelche heiligen Kühe gibt. Herr Gerhardt, bei Ihnen gab es immer eine solche heilige Kuh, nämlich das Asylgrundrecht. In der letzten Wahlperiode hat Ihre Ausländerbeauftragte stets gesagt, man wolle ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz, sei aber nicht bereit, die derzeitige Zuwanderung in Frage zu stellen. Das hat auch Ihr Exkollege Hirsch viele Jahre lang gesagt. Daher sage ich: Wir können über alles debattieren, sofern keine Vorbedingungen gestellt werden. ({3}) Eine Vorbedingung, die ich von der linken Seite höre, ist, dass das Grundrecht auf Asyl als heilige Kuh angesehen wird. ({4}) - Sie können doch nicht so tun, als sei ohne ein solches subjektives Grundrecht Asyl nicht denkbar. Anderenfalls müssten Sie doch einem Teil der europäischen Staaten den Vorwurf machen, dass sie zutiefst undemokratisch seien. Das tun Sie aber nicht. Sie wissen genau, dass es verschiedene Formen gibt -

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Zeitlmann, darf ich Sie einmal unterbrechen? Es besteht bei Ihrem Kollegen Belle der Wunsch nach einer Zwischenfrage. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dem Kollegen Belle gestatte ich sie immer.

Meinrad Belle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000138, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Zeitlmann, wie beurteilen Sie das großzügige und umfassende Gesprächsangebot des Herrn Kollegen Gerhardt von der F.D.P., der das individuelle Asylgrundrecht beibehalten will, unter dem Gesichtspunkt, dass die beiden F.D.P.-Minister Döring und Goll aus Baden-Württem-berg ganz intensiv die Abschaffung des subjektiven Asylgrundrechts fordern? ({0})

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Belle, als ich auf den Kollegen Hirsch einging, wollte ich schon Herrn Gerhardt sagen, er müsse sich von Hirsch freischwimmen und auf Dörings Position zubewegen. Dann können wir ganz offen über dieses Thema diskutieren. Der linken Seite des Hauses sage ich, sie soll sich von den linken Träumern freischwimmen, ({0}) die der deutschen Bevölkerung ein Mehr an Zuwanderung zumuten wollen. Dann können wir miteinander ringen, Herr Wiefelspütz. ({1}) Meine Damen und Herren, die Frau Staatssekretärin sprach hier davon, es müsse in Europa Mindeststandards geben. Das ist ein bisschen gefährlich, da dieser Begriff bedeuten könnte, dass Länder im Rahmen der EU auch über diese Mindeststandards hinausgehen. Ich halte es für sinnvoller, dass man sich für einheitliche Standards einsetzt. Es soll gleiches Recht für alle in allen Bereichen Europas gelten. Eine Debatte macht nur Sinn, wenn wir uns nicht gegenseitig sozusagen an den Pranger stellen und so tun, als wenn jeweils der andere Unrecht habe. Herr Veit, Sie haben es gemacht, indem Sie gesagt haben, wir würden uns abschotten. Wer in die Republik schaut, der weiß genau, dass sich unser Land nicht abschottet. Es macht auch keinen Sinn, Frau Kollegin Beer, wenn Sie hier so tun, als ob die Flüchtlingskonvention ein Einreiserecht gibt. Sie schützt vor Abschiebung und Zurückweisung, aber sie gibt kein Einreiserecht. Ich sage das, damit die Sachverhalte nicht verwischt werden. Frau Kollegin Beer, auch Sie sagten, die Union habe eine Abwehrgrundhaltung. Dies ist in einer Gesellschaft legitim. Wiefelspütz schreibt, dass in den letzten Jahren 700 000 bis 900 000 Menschen zu uns gekommen sind ({2}) - ich wollte diesen Punkt gerade erwähnen - und derzeit in etwa gleicher Zahl gehen. ({3}) Aber jeder weiß, dass dieser Prozess des Gehens damit zusammenhängt, dass der Staat mit großer Kraftanstrengung abschiebt. Wenn es diese Abschiebungen nicht gäbe, hätten wir eine hohe Zuwanderung. Angesichts der Tatsache, dass diese Zuwanderung Probleme im kommunalen Bereich erzeugt, etwa in Schulen und bezüglich der Einteilung der Schulbuslinien, und dass die Integration in manchen Städten wirklich nicht funktioniert, kann man doch unsere Position nicht verunglimpfen und so tun, als ob eine Abwehrhaltung etwas Negatives sei. Es ist legitim, dass sich eine Gesellschaft vor zu viel Zuwanderung schützt. ({4}) Es hilft auch nichts, wenn wir den Eindruck erwecken, als seien die, die sich vor zu viel Zuwanderung schützen wollen, leicht asoziale Elemente, die für die Nöte der Welt kein Herz haben. In diesem Zusammenhang ist diese Meinung unfair, denn unser Land tut sehr viel im Rahmen der Zuwanderung. Denken Sie nur an die Lasten der letzten acht Jahre, die Deutschland im Fall der Hilfe für Bürgerkriegsflüchtlinge erbracht hat! Das ist bemerkenswert und rechtfertigt solche Vorwürfe nicht. ({5}) Ich halte es auch für bemerkenswert, dass wir heute erstmalig im Parlament dieses Thema diskutieren, nachdem der Bundeskanzler mit der Green Card sozusagen einen Versuchsballon gestartet hat. Ohne den Antrag der CDU/CSU hätte es die Mehrheit dieses Hauses anscheinend nicht für notwendig gehalten, das Parlament mit diesem Thema zu befassen. ({6}) Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Sie können die Probleme der Republik nicht auf diese Weise abhandeln und andererseits den Vorwurf erheben, die Union schneide Themen an, die mit ihrem eigenen Antrag nichts zu tun haben. ({7}) - Ich gebe gern zu, dass es nicht unbedingt mit dem Wortlaut übereinstimmt. In Anbetracht Ihrer relativ unparlamentarischen Haltung erscheint es mir aber voll gerechtfertigt, Ihren Kanzler sozusagen sausen zu lassen, weil Sie das Parlament nicht einmal darüber diskutieren lassen wollen. ({8}) - Herr Kollege Wiefelspütz, bitte schön.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Zeitlmann, es gibt doch so etwas wie bayerischen Liberalismus. Warum sind Sie kein toleranter, liberaler bayerischer Mensch? ({0}) Die zweite Frage: Sind Sie bereit, mir zuzustimmen, dass das gesamte Haus auch in Zukunft immer wieder die wichtigen Fragen dieses Landes erörtern wird? Dazu gehört beispielsweise selbstverständlich auch die wichtige Frage hinsichtlich der Zuwanderung, Migration, Asyl und alles, was - wie die Green Cards - damit zusammenhängt. Sie sind bereit anzuerkennen, dass der heutige Tag selbstverständlich nicht der letzte Tag ist, an dem eine Debatte auf diesem Felde geführt wird?

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Wiefelspütz, wer mich kennt, zweifelt nicht an einer gewissen Liberalität. ({0}) Herr Kollege Wiefelspütz, es kommt natürlich immer auf den Standpunkt an. Sie haben wahrscheinlich relativ wenig Detailkenntnis von bayerischer Liberalität. Das muss man Ihnen nicht vorwerfen. Ich bleibe dabei: Es ist bemerkenswert, dass die Mehrheitsfraktionen ihren Kanzler etwas sagen lassen und es in der Woche darauf nicht zum Gegenstand einer Debatte machen. Entweder kennen Sie sich selber noch nicht aus, was damit gemeint ist, oder Sie haben ein schlechtes Gewissen, weil Sie kalt erwischt wurden. Das mag alles sein. Aber das wird man doch feststellen dürfen, ohne dass man von Ihnen Kritik erfährt. ({1}) Meine Damen und Herren, ich würde es begrüßen, wenn die heutige Diskussion zu dem Ergebnis käme, dass sich die Parteien zu einem neuen Diskurs zusammenfinden, um das Thema Zuwanderung wirklich einmal aufzuarbeiten. ({2}) Es ist doch festzustellen, dass wir derzeit eine zu hohe Zuwanderung haben, die ungesteuert ist - es ist zigmal über die Anerkennungsquoten und dergleichen mehr gesprochen worden -, und dass es in der Republik viele gibt, die gerne Ausländer beschäftigen würden. Ich behaupte, nicht nur die IT-Industrie, sondern auch viele Unternehmen würden Ausländer beschäftigen. Jeder von Ihnen hat die Fälle in seiner Praxis, dass KosovoAlbaner, Bosnier zurückgeschoben werden sollen und irgendjemand erklärt, wie wichtig, notwendig und sinnvoll sie sind. Das Arbeitsamt erklärt fünfmal, dass sie keine deutsche Arbeitskraft für diesen Bereich haben, und trotzdem schieben wir ab. Diskutieren wir doch einmal ganz unvoreingenommen, wie wir zu einer Steuerung kommen. Dann dürfen Sie aber keine Vorbehalte geltend machen und sagen: Im Ergebnis muss eine größere Zahl der Zuwanderung herauskommen. Dieses höre ich immer wieder bei Ihnen - nicht bei Ihnen, Herr Wiefelspütz; ich habe Sie nicht persönlich gemeint, sondern die Gesamtheit der Stimmen, die aus dem Regierungslager kommen. Auch die Kritik, die Sie an dem Innenminister Schily üben, macht es deutlich. Ich sage Ihnen: Offene Debatte ja, aber zur rechten Zeit. Dann könnte vielleicht einmal etwas Sinnvolles herauskommen. Eines müssen Sie auch akzeptieren: Wenn wir unsere Hausaufgaben in Deutschland nicht machen, wird eine europäische Lösung wahrscheinlich nicht möglich sein. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Claudia Roth.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist mir ein Vergnügen, nach dem bayerischen Abgeordneten Zeitlmann zu sprechen, ({0}) weil auch ich aus Bayern bin und es hoffentlich klar wird, dass es ein anderes Bayern gibt, dass Bayern zumindest sehr pluralistisch ist. Manchmal gibt es Vorurteile, gegen die ich mich wenden möchte. ({1}) Der Antrag, über den wir heute debattieren - das wird in der Debatte manchmal vergessen -, trägt den Titel „Modernes europäisches Asyl- und Ausländerrecht“. Wenn modern heißt: Ausbau und Schutz von Grundund Menschenrechten, wenn modern heißt: Europäisierung auf dem höchsten Niveau im Sinne derer, die Hilfe und Zuflucht suchen, wenn modern heißt: liberale Interpretation der einschlägigen Konventionen, dann ist das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, was Sie vorschlagen, nicht modern, sondern entsetzlich altmodisch, überholt, mit sehr entdemokratisierenden Zügen. ({2}) - Herr Merz, ich bitte, dass Sie hier bleiben. ({3}) Ich wollte Sie als alten Europäer ansprechen. Ich erzähle es Ihnen später. Sie treiben in alter, wohl bekannter Manier Schindluder mit Europa, wenn Sie die europäische Harmonisierung als Vehikel zum Abbau nationaler Standards und rechtsstaatlicher Errungenschaften missbrauchen wollen. Modernität ist für mich der Ausbau und Schutz von Grundrechten, zum Beispiel im Rahmen der Grundrechtecharta der Europäischen Union. Ein modernes europäisches Asylrecht setzt auch bei uns Veränderungen voraus - das stimmt. Meine Kollegin Frau Beck hat darauf hingewiesen, dass eine Veränderung bei uns zum Beispiel heißt: eine weitergehende Interpretation der Genfer Flüchtlingskonvention im Sinne des UNHCR, also die Anerkennung geschlechtsspezifischer und nicht staatlicher Verfolgung. Wir wollen auf keinen Fall einen europäischen Wettlauf der Schäbigkeit, die Harmonisierung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Wir wollen vielmehr die Sicherheit von Standards auf einem sehr hohen Niveau. In meiner Interpretation ist Modernität nicht die Fortsetzung dessen, was in 16 Jahren Kohl-Regierung praktiziert wurde. In dieser Zeit wurde das Grundgesetz Stück für Stück demontiert und es ist zu einem regelrechten Steinbruch verkommen. Mit Ihrem Antrag verfolgen Sie wirklich nichts anderes als die Demontage eines rechtsstaatlichen Asylverfahrens. Wer fordert, dass Asylanträge bereits an der Grenze beschieden werden, der schlägt ein Prüfungsverfahren vor, das kein Verfahren, sondern ein juristisch kaschierter Fußtritt ist. Wer Rechtsschutz suchende Flüchtlinge ins Ausland abschieben will, der entzieht ihnen die Möglichkeit, effektiv Rechtsmittel einzulegen. Er verweigert damit die Rechtsweggarantie. Wer das Beweisantragsrecht in Asylverfahren, das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, auf Vereinigungsfreiheit, auf Versammlungsfreiheit für Asyl Suchende einschränken will, der entrechtet systematisch das Recht. Lieber Herr Kollege Zeitlmann, ganz nebenbei gesagt: Das hat auch mit christlichen Werten, so wie ich sie verstehe, nicht mehr viel zu tun. ({4}) In der aktuellen Debatte - wir haben es in den Medien gehört, wir haben es gelesen, wir haben es aber auch heute im Plenum gehört - gehen Ihre Vorstellungen weit über das hinaus, was im Antrag vorgeschlagen wird. Es geht tatsächlich darum - das haben Sie gesagt, Herr Zeitlmann -, das individuelle Grundrecht auf Asyl abzuschaffen. Auch Herr Merz hat sich im „Spiegel“ dazu geäußert. Er hat erklärt, das Asylrecht zugunsten einer Zuwanderungsregelung ablösen zu wollen, die sich - ich zitiere - „ausschließlich an den Interessen des Staates“ orientieren solle. Die Nöte derjenigen Menschen, die vor Todesgefahr, vor Folter, vor Misshandlung fliehen wollen, sollen also volks- und betriebswirtschaftlichen Erwägungen untergeordnet werden. Mit Verlaub, liebe Kollegen: Das ist der untaugliche Versuch der Entsorgung unserer historischen Verantwortung, wie sie als Konsequenz des Naziterrors in Art. 16 des Grundgesetzes formuliert wurde. ({5}) Das Grundrecht auf Asyl ist ein subjektives Recht und eben kein Gnadenrecht des Staates. So ist es und so muss es bleiben, ganz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, auch auf europäischer Ebene. Herr Zeitlmann, seien Sie sicher: Das wird von uns auch europäisch so eingefordert. Ich möchte gerne noch auf Punkt 10 Ihres Antrags eingehen, in dem Sie eine so genannte Lastenverteilung fordern, die in erster Linie nach Quoten erfolgen soll. Die Kommission hat einen Richtlinienvorschlag vorgelegt, der von mir in den Grundzügen voll geteilt wird. Ich begrüße sehr, dass der geplante Aufbau von Asylsystemen in Ländern, die in diesem Bereich noch einen Nachholbedarf haben, stattfinden soll. Ich finde es lobenswert, dass diejenigen Flüchtlinge, die nur einen so genannten subsidiären Schutz genießen, in staatliche Integrationsprogramme aufgenommen werden sollen. Außerdem - darum geht es in dem Streit über Quote und Flüchtlingsfonds - begrüße ich das sehr, dass die Kommission vorschlägt, dass in Massenfluchtsituationen diejenigen EU-Länder einen finanziellen Ausgleich erhalten sollen, die mehr Flüchtlinge als andere aufgenommen haben. Also: Bitte keine Blockaden! Ich wollte Herrn Merz - leider ist er hinausgegangen - viel Glück und Kraft in seinem neuen Amt wünschen. Das kann er sicherlich gebrauchen. ({6}) Ich wollte ihn an seine Ankündigung erinnern, Europapolitik zu einem Schwerpunkt der politischen Auseinandersetzung zu machen. Das halte ich für eine gute und positive Ankündigung. Nur, die Tonlage, mit der von Unionsvertretern die Themen „Asyl“ und „Türkei“ angestimmt werden, macht mich sehr skeptisch, weil ich nicht glaube, Herr Bosbach - auch er ist nicht mehr da -, dass es wirklich eine verantwortungsvolle Debatte ist; vielmehr geht es um eine rechtspopulistische Stimmungsmache. Ich glaube, dass billige Polemik und neue Kampagnen, die Flüchtlinge kriminalisieren und sie zur Bedrohung erklären, sehr gefährlich sind. Wie brandgefährlich das ist, haben wir - im wahrsten Sinne des Wortes - in der Ära Kanther erlebt. Also: Bitte keine Stammtisch- und Starkbierparolen, sondern eine wirklich verantwortungsvolle Diskussion. Zum Schluss: Ich glaube, dass wir die allerbesten Europäer sind, wenn wir dafür kämpfen, dass die europäische Harmonisierung am besten auf der Basis des unveräußerlichen Schutzes und Respektes gegenüber Grundrechten geschieht, weil die Grundrechte das Allermodernste sind, was wir haben und was Europa hat. Ohne Grundrechte, ohne das individuelle Grundrecht auf Asyl wäre dieses Europa sehr viel ärmer. ({7}) Und dies, Herr Zeitlmann, sagt eine Dame aus Bayern! ({8}) Claudia Roth ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt Herr Kollege Barthel.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe es ein bisschen bedauert, dass durch dieses - ich nenne es einmal so Zwischenspiel eine Debatte, die teilweise Aussagen hervorgebracht hat, über die man reden sollte, unterbrochen wurde. Es fielen in der Tat einige Bemerkungen - ich denke besonders an die von Herrn Gerhardt -, von denen man sagen kann, dass man darüber weiter reden müsste. Ich habe mir auch von Herrn Bosbach einen Satz aufgeschrieben, der mich doch tief beeindruckt hat. Der Satz lautet: Wir reden nicht über seelenlose Roboter, sondern über Menschen. Herr Bosbach, dieser Satz wird bestimmt auch im Zusammenhang mit Ihrem Namen häufig zitiert werden und ich kann Ihnen auch sagen: Er wird nicht nur zitiert werden, sondern daran wird sich auch vieles messen lassen müssen, was Sie in der konkreten Politik in diesen Bereichen, über die wir heute reden, tun. Es ist ein wichtiger Satz - manche behaupten, es sei ein Bischofswort -, aber er steht völlig im luftleeren Raum im Verhältnis zu allem, was wir bisher ansonsten hierzu gehört haben. Mich wundert auch, dass alle Debatten, die bei Ihnen geführt werden, offensichtlich immer mit der Aussage enden: Wir müssen das individuelle Asylgrundrecht abschaffen. - Komisch, immer läuft das darauf hinaus, angefangen mit der Green Card bis zu allem Möglichen; es läuft immer auf diesen Punkt hinaus. Wie hieß es aber noch? Wir reden nicht über seelenlose Roboter, sondern über Menschen. Meine Damen und Herren, was mich ebenfalls gewundert hat, ist Folgendes. Der Antrag lautet „Modernes europäisches Asyl- und Ausländerrecht“ und Sie wollen damit die Bundesregierung auffordern, die Harmonisierung voranzutreiben. Gesagt haben Sie zu Ihrem eigenen Antrag nichts. Nun könnte man das damit abtun, dass man sagt: Jeder Schüler hat es schon einmal erlebt, dass unter einem Aufsatz stand „Thema verfehlt“. Aber ich denke, hier liegt der Grund ein bisschen tiefer. Warum bringen Sie einen solchen Antrag ein, reden aber nicht über das eigentliche Ziel des Antrages, nämlich die europäische Ebene, die hiermit doch gemeint ist? Dafür gibt es eine Erklärung: Sie nehmen den Antrag selbst nicht ernst, weil Sie meinen, das Thema liege bei der jetzigen Bundesregierung schon in guten Händen. Die Staatssekretärin hat vorhin ja auch vorgetragen, was alles in diesem Bereich bereits getan wurde. Ich gehe davon aus, dass Sie das auch wissen. Also müsste es dafür einen anderen Grund geben. Ich werde Ihnen anhand eines kleinen Beispiels aus Ihrem eigenen Antrag zu begründen versuchen, weshalb das nach meiner Ansicht stimmt. Ich habe das Gefühl, dass es Ihnen gar nicht um die Harmonisierung auf europäischer Ebene geht, sondern dass für Sie das Ziel „Harmonisierung“ eigentlich nur ein Instrument ist, um die Standards, die wir in der Bundesrepublik haben, abzubauen. Nach meinem Eindruck ist also Ihr Interesse gar nicht auf das gerichtet, was wir eigentlich alle wollen und was wichtig ist, nämlich in der Tat zu einer Harmonisierung des Ausländer- und Asylrechts auf europäischer Ebene zu kommen, sondern auf eine Senkung der Standards, die wir heute in Deutschland haben. Dabei ist es meines Erachtens doch so wichtig, dass wir uns auch einmal mit den Problemen beschäftigen, die vor der Harmonisierung stehen und die wir zu lösen haben. Jeder versteht unter Harmonisierung eigentlich ein bisschen etwas anderes. Wer versteht aber was darunter? Welche Positionen sollen überhaupt harmonisiert werden? Gibt es nicht auch Unterschiede, die weiterhin als Unterschiede behandelt werden müssen? Nach dem Gleichheitsgrundsatz, den wir einmal gelernt haben, war ja nicht alles gleich zu machen, sondern unterschiedliche Tatbestände waren entsprechend ungleich zu behandeln. Alle diese Fragen bleiben aus und für mich ist die wichtigste Frage: Was ist am Ende? Werden wir ein liberales, ein liberaleres europäisches Asyl- und Ausländerrecht haben oder wird der Vorwurf, der immer zu hören ist, vom „Ausbau der Festung Europa“ bestätigt? Meine Damen und Herren, wie wichtig die Einheitlichkeit in bestimmten Bereichen und auch die Harmonisierung ist, geht aus dem Punkt 10 Ihres Antrags, den ich einmal als Beispiel herausgreife, hervor, nämlich aus dem, was Sie als „Lastenverteilung“ bezeichnet haben. Man könnte auch von „gemeinsamer Verantwortung für Flüchtlinge“ reden, aber der Begriff „Lastenverteilung“ hat sich in diesem Zusammenhang wohl eingebürgert. Es kann in der Tat nicht sein, dass die Partner humanitäre Hilfen aus purem Eigeninteresse anderen Ländern überlassen. Das kann nicht so bleiben. Ich glaube, wir sollten versuchen - hier liegen wohl die größten Probleme -, zu einer Harmonisierung zu kommen, damit ein „Lastenausgleich“ zustande kommt. Lassen Sie mich ein Problem benennen: Wir werden in dieser Frage auf europäischer Ebene erst dann glaubwürdig sein, wenn wir das auch innerhalb Deutschlands geregelt haben. Wir haben doch innerhalb Deutschlands zwischen den Bundesländern ebenfalls das Problem, dass wir diesen Ausgleich nicht schaffen. Ich nenne das Stichwort: Bosnien-Flüchtlinge. Es gab Länder, in denen eine große Anzahl von Flüchtlingen war, und es gab Länder, in denen nur wenige Flüchtlinge waren. Bevor wir auf europäischer Ebene einen Ausgleich fordern, müssen wir es erst schaffen, den Ausgleich zwischen den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland hinzubekommen. Es war eine Leistung - jedenfalls bewerte ich das sehr hoch -, dass es die jetzige Bundesregierung geschafft hat, bei den Kosovo-Flüchtlingen diesen Ausgleich in der Bundesrepublik Deutschland endlich zustande zu bringen. Ein Kompliment; das ist gut. Mit dieser Position haben wir auf europäischer Ebene sicher größere Chancen, dieses sinnvolle Ziel des Lastenausgleichs hinzubekommen und in diesem Bereich eine Harmonisierung zu erreichen. Im Kern geht es bei der Harmonisierung darum, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Hier ist nun die Frage: Will man den kleinsten gemeinsamen Nenner oder will man einen größeren Nenner auf humanitärer Basis? Der kleinste gemeinsame Nenner darf es wohl nicht sein. Ich vermute, dass dies das Ziel der CDU/CSU ist: Sie wollen nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner auf europäischer Ebene, sondern es sollen auch die Möglichkeiten gedeckelt werden, dass einzelne Ländern in dieser Frage einen größeren Spielraum haben. Wir haben vor einiger Zeit in diesem Hause über einen Antrag der CDU/CSU gesprochen, und zwar über die so genannte Warndatei. Er ist von allen Fraktionen, außer der der CDU/CSU - ich erinnere mich noch an Ihre Rede -, abgelehnt worden, auch von der F.D.P. Das hat mich gewundert. Hier sieht man nun eine gewisse Methode. In Punkt 12 Ihres heutigen Antrages zur Harmonisierung des Ausländer- und Asylrechts taucht genau dieser Punkt als Forderung wieder auf. Mit anderen Worten: Das, was Sie hier nicht erreichen, wollen Sie jetzt auf europäischer Ebene durchsetzen, damit es auch in Deutschland gültig wird. Das ist nicht unser Ansatz für eine notwendige Harmonisierung des europäischen Ausländer- und Asylrechts. ({0}) Die Bereiche, die bereits von der Bundesregierung genannt worden sind, möchte ich jetzt nicht wiederholen. Ich möchte nur abschließend eines sagen: Ich bin nach den Vorläufen, den Diskussionen, Anträgen und Entscheidungen seitens der CDU/CSU-Opposition, die wir in diesem Bereich bisher hatten, eigentlich froh, dass die Verhandlungen über die notwendige Harmonisierung auf europäischer Ebene nicht weiter von Ihnen geführt werden, sondern von der jetzigen Bundesregierung. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Sebastian Edathy.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gegenstand dieser Debatte ist ein Antrag der Unionsfraktion mit dem Titel - man muss das vielleicht sagen, weil heute über den Antrag selber wenig gesprochen worden ist -: „Modernes europäisches Asyl- und Ausländerrecht“. Ich habe allerdings als jemand, der die Debatte, die ja doch ein bisschen länger geworden ist als geplant, verfolgt hat, seitens der Unionsfraktion von Modernisierung wenig gehört. Ich habe mich daran erinnert, dass ich vor einigen Wochen Herrn Bosbach nach seiner Wahl zum stellvertretenden Unionsfraktionsvorsitzenden - Nachfolger von Herrn Rüttgers - zuständig für den Bereich Inneres und Recht, ausdrücklich gratuliert habe, weil ich ihn im Vergleich zu Herrn Rüttgers als sehr sachlich auftretenden Kollegen, gerade im Innenausschuss dieses Hauses, erlebt habe. Aber es scheint wirklich so zu sein, dass unter den Blinden der Einäugige König ist und dass auch der Einäugige, wenn er hier ans Rednerpult tritt, offenbar dem Rechnung tragen muss, was bei Ihnen Methode zu sein scheint, nämlich Ausländerpolitik so zu gestalten, dass man erst einmal schaut, wie man sie parteipolitisch instrumentalisieren und nutzen kann. Das wird dem Anspruch, den wir als Parlamentarier haben sollten, nicht gerecht. ({0}) Wer zudem in diesen Tagen die Nachrichten aufmerksam verfolgt, der kann eigentlich nur zu der Schlussfolgerung gelangen, dass wieder einmal das Thema Ausländer dafür herhalten soll, zum Zwecke parteipolitischen Vorteils unberechtigte Ängste in der Bevölkerung zu wecken. Wenn man etwa die Äußerungen des Kollegen Marschewski in diversen Interviews nachliest, dann kann man fast den Eindruck gewinnen, dass wir das bestehende Recht am besten durch die Abschaffung des Rechtes modernisieren, in diesem Falle also das Asylrecht am besten dadurch modernisieren, dass wir das Grundrecht auf Asyl abschaffen, von dem der Generalsekretär der CSU, Herr Goppel, gesagt hat, es dürfe keine heilige Kuh darstellen. Dies macht ein bisschen verständlicher, warum Herr Rüttgers etwas gegen Hindus hat. Denn die haben ja bekanntlich Respekt vor heiligen Kühen. ({1}) - Das stünde Ihnen auch gut an. ({2}) - Herr Ramsauer, wollen Sie eine Zwischenfrage stellen?

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, in diesem Falle tue ich das gerne.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Herr Kollege Edathy. Ich habe einen schönen Namen: Ich heiße Erwin Marschewski und nicht Otto Schily. Wer hat denn jetzt gesagt, die Grenze der Belastbarkeit sei überschritten? Ich frage das nun zum wiederholten Male. Wer hat denn gesagt, wir müssten das subjektive Asylgrundrecht abschaffen? Doch nicht primär ich, sondern der Kollege Schily! Eckhardt Barthel ({0}) ({1}) Herr Kollege Edathy, geben Sie mir da Recht? Was sagt denn Ihre Fraktion zu dieser Äußerung des Herrn Bundesinnenministers? Fordert sie ihn endlich zum Rücktritt auf? Wir würden dies gerne tun; denn er sagt und verspricht viel, verwirklicht aber nichts. Angesichts dessen, dass seine Haltung im Widerspruch zu Ihrer politischen Meinung und auch zu der Ihres verehrten Vorredners steht, müssten Sie ihn doch konsequenterweise auffordern - ich erinnere an seine Äußerungen hinsichtlich der Abschaffung des Asylrechts und der Grenze der Belastbarkeit -, nun endlich zurückzutreten. Warum tun Sie das nicht, Herr Kollege? ({2})

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Marschewski, ich nehme zunächst einmal zur Kenntnis, dass Sie offenkundig in jede Debatte mit dem Vorsatz gehen, ein und dieselbe Zwischenfrage mindestens fünfmal zu stellen. Die mir soeben gestellte Frage haben Sie - wahrscheinlich in der Hoffnung, dass es inzwischen vergessen worden ist - bereits an den Kollegen Veit gerichtet. Ich kann Ihnen hier nur sagen: Ich trete an dieses Rednerpult als Parlamentarier, als direkt gewählter Vertreter des deutschen Volkes und ich erlaube mir als Parlamentarier, darauf hinzuweisen - da befinde ich mich in großer Übereinstimmung mit der SPDFraktion -, dass für uns die Verfassung nicht zur Disposition steht, ({0}) sondern dass wir ganz im Gegenteil stolz darauf sind, Herr Marschewski, ein Land zu sein, das aus seiner leidvollen Geschichte gelernt hat und das dementsprechend verfolgten und bedrängten Menschen Zuflucht gewährt. ({1}) - Das war eine eindeutige Antwort, so denke ich.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Marschewski? ({0}) Es steht Ihnen frei. ({1})

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn es der Erkenntnisgewinnung des Herrn Marschewski dient, dann darf er gerne noch eine weitere Frage stellen.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte das Gleiche noch einmal fragen; denn ich habe erneut keine Antwort bekommen. Meine Frage lautet: Warum halten Sie diese politische Ansicht - wenn Sie eine andere Meinung vertreten, akzeptiere ich das ununterbrochen mir vor und nicht dem Bundesinnenminister?

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Marschewski, ich will jetzt nicht vertieft in Debatten einsteigen, die wir unter anderem im letzten Herbst miteinander geführt haben. Aber ich will Sie doch darauf hinweisen, dass der Bundesinnenminister über mögliche Änderungen des Asylrechtes stets nur perspektivisch in Bezug auf die Weiterentwicklung des europäischen Rechtes gesprochen hat. Sie versuchen jetzt im Grunde genommen, eine aktuelle Debatte, nämlich die hinsichtlich der Computerspezialisten, zu missbrauchen, die mit dem Thema Zuwanderung grundsätzlich nicht viel zu tun hat. ({0}) Ich komme darauf noch zu sprechen. Ich bin sehr dankbar, dass ich meine Redezeit ein bisschen erweitern kann, weil Herr Marschewski so kluge Fragen an mich stellt. Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken, als bestehe im Asylrecht ein kurzfristiger Handlungsbedarf. Ich kann nur feststellen: Das deutsche Asylrecht ist in Ordnung. In den letzten Jahren haben, wenn man sich die entsprechenden Zahlen ansieht, in Deutschland jährlich etwa 100 000 Menschen Asyl beantragt. Die Zahl der Antragsteller lag 1992 bei 400 000 und 1993 bei 300 000. Jetzt aufgrund dieses Datenmaterials zu behaupten, es gebe einen kurzfristigen Handlungsbedarf, das halte ich vor allen Dingen für eines - Herr Marschewski, das will ich Ihnen so deutlich sagen -, nämlich für völlig unverantwortlich. Denn Sie wecken in der Bevölkerung Ängste, obwohl es gar keinen Grund für diese Ängste gibt. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ich habe vorhin mit Freude gehört, dass Sie in Bezug auf die Bereiche Ausländerpolitik und Migrationspolitik ein Gesprächsangebot gemacht haben. Ich will aber noch einmal deutlich machen, was ich schon in meiner Antwort auf die Frage von Herr Marschewski kurz betont habe: Für uns kann es, wenn Herr Zeitlmann davon spricht, man dürfe keine Vorbedingungen stellen, nicht heißen, dass wir als deutsche Parlamentarier auf die Vorbedingung verzichten, die Verfassung zur Grundlage unseres Handelns zu machen. Die Verfassung zur Disposition bzw. infrage zu stellen ist für uns keine Vorbedingung, die wir erfüllen könnten. Vielleicht sollten Sie noch einmal über Ihr Selbstverständnis als Bundespolitiker, als Mitglieder dieses Hauses nachdenken, wenn Sie hier solche abenteuerlichen Forderungen stellen. ({2}) Kolleginnen und Kollegen, wir werden sicherlich darin übereinstimmen, dass das europäische Recht weiterentwickelt werden muss, nicht zuletzt dahin gehend, zunehmend gemeinsame Regelungen für die Asyl- und Migrationspolitik zu schaffen. Der im Mai 1999 in Erwin Marschewski ({3})w Kraft getretene Vertrag von Amsterdam und die Ratstagung in Tampere - die Staatssekretärin hat das gerade hinreichend erläutert - zielen genau in diese Richtung. Sie fordern in Ihrem Antrag zum großen Teil Leistungen, die von der Regierung bzw. der Parlamentsmehrheit längst erbracht worden sind. Umso dringender ist mein Appell an Sie, der Versuchung zu widerstehen, die Ausländerpolitik, die Frage des Umgangs mit denen, die hierher kommen, erneut - wie bei der Debatte über das Staatsbürgerschaftsrecht - parteipolitisch zu missbrauchen. Wenn man sich den aktuellen Bericht der Ausländerbeauftragten über Zu- und Abwanderung nach und aus Deutschland ansieht - darauf ist bereits hingewiesen worden; ich möchte es aber wiederholen, weil mir dies sehr wichtig erscheint -, stellt man fest, dass 1997 und 1998 die Zahl der Ausländer, die dieses Land verlassen haben, höher war als die Zahl der Ausländer, die zu uns gekommen sind. Es gehört zu einer sachlichen und nüchternen Politik, auch dieses Stück Realität zur Kenntnis zu nehmen. Wir tun in jeder Hinsicht gut daran, gerade den sensiblen und behutsam zu behandelnden Bereich der Ausländerpolitik mit Vernunft und ideologiefrei anzugehen. Gerade weil die Europäisierung des Rechtes fortschreiten wird, ist ein Konsens über die Grundzüge der Ausländerpolitik in Deutschland aus drei Gründen wichtig: erstens für den inneren Frieden in unserem Land, zweitens, weil wir in Europa gewiss besser fahren, wenn wir eine einheitliche Position entwickeln, und drittens, weil wir uns bei der Gestaltung der Zuwanderung mittel- und langfristig die Hypothek einer irrationalen Haltung überhaupt nicht leisten können. ({4}) Im Antrag der Union wird unter Punkt 14 ein „einheitliches Regelungssystem hinsichtlich legaler sonstiger Einwanderung“ gefordert. Diese Forderung besteht völlig zu Recht. Dann aber habe ich an Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Union, die Bitte, auch konsequent zu sein und damit aufzuhören, die Zuwanderung ständig als Bedrohung darzustellen. Mit Schwarz-Weiß-Malerei, mit Ideologie kommen wir nicht weiter; denn Zuwanderer sind weder die besseren Deutschen, noch stellen sie die Lebensgrundlagen der Einheimischen infrage. Deshalb meine Bitte an Sie: Kommen Sie weg von dem Gedanken der Abwehr und hin zu dem Gedanken der Gestaltung von Zuwanderung! Wir sind darauf angewiesen, die damit verbundenen Chancen zu nutzen. ({5}) Ich war ausgesprochen überrascht - ich bin es nach der heutigen Debatte umso mehr -, als wir Ende letzten Jahres im Innenausschuss einen Entschließungsantrag der Union vorgelegt bekamen, in dem folgender Satz abgedruckt war: Die demographische Überalterung unserer Gesellschaft erfordert eine Zuwanderung jüngerer Menschen. Ich weiß nicht, ob Herr Rüttgers diesen Entschließungsantrag kennt. ({6}) Herr Zeitlmann jedenfalls scheint ihn nicht zu kennen. Sonst hätte er nicht so gesprochen, wie er es heute getan hat. Meine Damen und Herren, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung veröffentlichte erst vor wenigen Monaten eine Studie zur Bevölkerungsentwicklung mit dem Fazit, dass angesichts rückläufiger Bevölkerungszahlen und steigender Lebenserwartung Zuwanderer mittel- und langfristig dringend benötigt werden, um Arbeitsplätze in Deutschland nicht verwaisen zu lassen und den Sozialstaat auch in Zukunft finanzieren zu können. Insofern sind wir gut beraten, eine sachliche Debatte zu führen. Gerade weil wir perspektivisch auf Zuwanderung angewiesen sein werden, brauchen wir eine parteiübergreifende Verständigung über ihre Gestaltung. Zu dieser Verständigung gehört meines Erachtens auch, dass wir uns neben der stattfindenden Zuwanderung basierend auf gesetzlichen Verpflichtungen und humanitären Gründen auch Gedanken darüber machen, welche Gruppen wir langfristig mit Blick auf den Arbeitsmarkt in Deutschland benötigen. Hierzu ein klares Wort an Herrn Gerhardt, der vorhin für die F.D.P. gesprochen hat: Angesichts von 4 Millionen Arbeitslosen ist die Frage eines Zuwanderungsgesetzes nicht Gegenstand einer tagesaktuellen Debatte. Dies unterscheidet sie meines Erachtens ganz deutlich vom Staatsbürgerschaftsrecht, das wir dringend reformieren mussten, weil Handlungsbedarf gegeben war. Wir haben die Zeit, das Vorhaben eines Einwanderungsgesetzes in aller Ruhe, vielleicht in der nächsten Wahlperiode unter Beteiligung möglichst vieler Kolleginnen und Kollegen sowie unter Beteiligung vieler Wissenschaftler, in Angriff zu nehmen. Das sollten wir auch machen. Ein Letztes will ich noch zu dem Herrn Kollegen Rüttgers sagen, der nun leider nicht hier ist. Er hat meines Erachtens billige und ausländerfeindliche Sprüche geklopft, als er darauf hinwies, man bräuchte Kinder und nicht Inder an den Computern. Dazu will ich Ihnen einmal ausdrücklich etwas als jemand sagen, der Kind eines gebürtigen Inders ist, der schon Anfang der 60erJahre nach Deutschland gekommen ist: Ich hoffe, Herr Rüttgers hat es nicht nötig, bald einmal ins Krankenhaus zu gehen. Aber wenn er dies machen würde, könnte er sich dort ein Bild davon machen, was für eine gute Arbeit schon seit langer Zeit gerade indisches Personal als Ärzte, Krankenschwestern oder Pfleger in deutschen Krankenhäusern leistet. ({7}) Der Erfolg dieses Landes, meine Damen und Herren, beruht auch auf der Arbeit von Menschen, die vor geraumer Zeit hierher gekommen sind. Die Bedeutung des Engagements solcher Menschen, die zu uns gekommen sind, um mit uns für den Erfolg dieses Landes zu arbeiten, wird noch zunehmen. Ich wünsche mir eine ideologiefreie Debatte über diese Fragen. Schaufensterreden, wie wir sie heute vielfach von der Opposition gehört haben, sollten wir uns schenken. Die Sache, um die es geht, ist viel zu wichtig, um sie hier billigen tagespolitischen Effekten zu opfern. Vielen Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überwei- sung der Vorlage auf Drucksache 14/2695 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie zusätz- lich an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenar- beit und Entwicklung vorgeschlagen. Sind Sie einver- standen? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b so- wie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf: 12. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Futtermittelgesetzes - Drucksache 14/2636 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0}) Ausschuss für Gesundheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Dr. Ilja Seifert und der Fraktion der PDS Strukurelle Erneuerung der Ausbildungsförderung - Drucksache 14/2789 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss ZP 2 a) Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung einer Steuerreform für Wachstum und Beschäftigung - Drucksache 14/2903 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, Heidemarie Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Besteuerung der Unternehmen nach deren Leistungsfähigkeit - Drucksache 14/2912 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie c) Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung des Mitgliederkreises von Bundesknappenschaft und SeeKrankenkasse - Drucksache 14/2904 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({4}) Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan Hilsberg, Brigitte Wimmer ({5}), Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Matthias Berninger, Hans-Josef Fell, Kerstin Müller ({6}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine Modernisierung der Ausbildungsförderung für Studierende - Drucksache 14/2905 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({7}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zu einigen Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 a auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Geltungsdauer des Internationalen Kaffee-Übereinkommens von 1994 - Drucksache 14/2125 ({8}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie - Drucksache 14/2744 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Wir kommen gleich zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/2744, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der KoalitiSebastian Edathy onsfraktionen und der CDU gegen die F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen worden. Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 13 b: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Körperschaftsteuer- und Gewerbesteuergesetzes - Drucksache 14/1520 ({9}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses - Drucksache 14/2780 Berichterstattung: Abgeordnete Nicolette Kressl Norbert Barthle Der Ausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf auf Drucksache 14/1520 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 13 c: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Investitionszulagengesetzes 1999 Drucksache 14/2270 ({10}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses - Drucksache 14/2818 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Mathias Schubert Hans Seiffert Heidemarie Ehlert Der Ausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf auf Drucksache 14/2270 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 13 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses Übersicht 3 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 14/2779 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/2779? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Wir kommen nun zu Zusatzpunkt 3: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übergangsgesetzes aus Anlass des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften - Drucksache 14/2809 ({11}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie - Drucksache 14/2922 Berichterstattung: Abgeordneter Christian Lange ({12}) Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/2922, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch dieser Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitten Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Sollte jemand dagegen stimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Lesung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf: ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Kritische Bewertung der Umweltpolitik der Bundesregierung durch den Umwelt-Sachverständigenrat Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Grill.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung hat in seiner jüngsten Bilanz eine vernichtende Kritik an der Umweltpolitik der jetzigen Bundesregierung ausgesprochen. Man könnte diese Kritik auch damit überschreiben, dass man sagt: Stell dir vor, ein Grüner wird Umweltminister und keiner merkt was. ({0}) Es ist so, dass der Sachverständigenrat in seiner Bilanz deutlich macht, dass das, was sozusagen als Markenzeichen der Grünen in den Wahlkämpfen wie eine Monstranz vorweggetragen worden ist, gar nicht wahrgenommen wird. Sie sind schlicht und einfach dabei, auf dem klassischen, Ihnen im Parteienspektrum zugewiesenen Kompetenzfeld zu versagen. Umweltpolitik ist in dieser Bundesregierung, in dieser Koalition eher ein Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer fünftes Rad am Wagen und sie ist kein zentraler, integrativer Bestandteil der Politik. Sie haben sich das sehr einfach gemacht, indem Sie gesagt haben: Ökosteuern rauf, raus aus der Kernenergie. Das war die Bilanz der letzten Monate. Das wird der Komplexität von Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik in keiner Weise gerecht. Ihre Politik ist mehr an Prestigeobjekten orientiert als an der Frage, wie komplexe Sachverhalte Lösungen zugeführt und Interessen miteinander versöhnt werden können. Ganz nebenbei haben Sie die internationale Kompetenz der Bundesrepublik aufs Spiel gesetzt und zum Teil sogar zerstört, weil Sie sowohl im europäischen als auch im globalen Geleitzug nicht mehr als Lokomotive vorne sind. Sie hängen vielmehr hintendran und halten das Ganze eher auf. Ich nenne nur die Blamage, die Sie in Sachen Altautoverordnung der Bundesrepublik Deutschland - sozusagen von Wolfsburg aus über das Bundeskanzleramt - in der europäischen Umweltpolitik zugefügt haben. ({1}) Hinzu kommt, dass Sie in einem der Felder, in dem Sie massivste Kritik an der alten Koalition geübt haben - im Bereich des Naturschutzes -, bis heute den Beweis einer besseren, anderen Politik schuldig geblieben sind. Es herrscht Funkstille statt Aufbruch im Naturschutz und in der Klimapolitik. Herr Loske hat vor wenigen Monaten in der „Zeit“ ganz richtig festgestellt, es bestehe die Gefahr, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre Leitbildfunktion verliere. Es besteht nicht nur die Gefahr, Herr Loske, sondern es ist Realität, dass die Bundesregierung in Sachen Klimapolitik die Leitbildfunktion verloren hat. ({2}) Der Sachverständigenrat stellt zu Recht fest - damit entlarvt er die Ökosteuer als das, was sie ist -, dass die Ökosteuer kein ökologisches Instrument, sondern ein Beitrag zur Finanzierung der Sozialpolitik ohne ökologische Wirkung ist. Wenn wenigstens eine ökologische Wirkung festzustellen wäre, könnten wir das andere noch besser akzeptieren. Aber dass sie nur ein fiskalisches Instrument sein soll, das kann es wohl nicht sein: Belastungen statt Fortschritt. Das Ozongesetz ist eher das Vehikel, das schon immer zentrale Thema der Grünen in der Verkehrspolitik alle Autos fahren nur noch 30 km/h - durchzusetzen, als dass es zur Lösung der Ozonproblematik dient. Wenn man einmal fragt, wo das klimapolitische Konzept dieser Bundesregierung ist, dann können Sie eigentlich nichts vorweisen. Das sieht man auch an der Antwort auf die Große Anfrage zur Energiepolitik. Sowohl die Klimakonferenz in Bonn als auch viele andere Ereignisse machen deutlich, dass weder der Bundeskanzler noch der Umweltminister in der globalen und europäischen Politik eine Meinungsführerschaft haben. Das ist eine fundamentale Veränderung. Denn wenn wir heute Verpflichtungen haben - Rio plus 10, Agenda 21 und Ähnliches -, dann sind sie der globalen Politik von Helmut Kohl, Klaus Töpfer und Angela Merkel zu verdanken, aber nicht Ihrer Politik, meine Damen und Herren. ({3}) Sie haben keine Konzepte und verschärfen das CO2Problem. Was Sie in den letzten Wochen hier vorgelegt haben, ist keine Energiewende, sondern Stückwerk. Das wird daran deutlich, dass der Bundeskanzler in einem seiner entscheidenden Beiträge zur Umweltpolitik gesagt hat: Kernenergie raus, Kohlekraftwerke rein. Dies ist eine Antiklimapolitik und kein Beitrag zur Klimapolitik. Das gilt auch für die UVP und Ähnliches. ({4}) Meine Damen und Herren, auch ich hätte selber formuliert: Umweltpolitik ist eine Sache von Herz und Verstand. Ich hätte das aber gar nicht so gut ausdrücken können wie Sie es, Herr Loske, jüngst auf die Frage, was grüne Umweltpolitik sei, gesagt haben.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, nur fünf Minuten!

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben gesagt: Es fehlt das grüne Herz. Bei vielen unserer Spitzenleute spielt das Thema Umweltpolitik keine große Rolle oder ist zumindest keine Herzensangelegenheit. - Dann sagen Sie: Der enge Zuschnitt des Umweltministeriums ist völlig falsch, er garantiert die immanente Impotenz. Hier muss sich in der nächsten Legislaturperiode ... etwas ändern. - Ich rufe Ihnen zu: Herr Loske, ändern Sie jetzt die Tatsache, dass dieser Umweltminister und Ihre Koalition nach Ihrer eigenen Aussage eine impotente Umweltveranstaltung sind. Das ist die Bilanz. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat die Abgeordnete Ulrike Mehl.

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieses Spielchen kennen wir: wie man solche Gelegenheiten nutzt, um irgendjemanden vorzuführen. ({0}) Da machen Sie es sich ein wenig einfach. Denn Sie ziehen einiges heran, was im Sachverständigengutachten steht, nämlich das, was Ihnen passt. Aber das, was Ihnen nicht passt, übergehen Sie natürlich: dass die Sachverständigen den Ausstieg aus der Atomenergie befürworten und darin keinen Widerspruch zum Klimaschutz sehen. Deswegen hoffe ich sehr, dass mit dieser Aktuellen Stunde das Sachverständigengutachten für Sie nicht erledigt ist, sondern dass Sie sich damit zukünftig noch ein bisschen intensiver auseinander setzen. Hätten Sie das schon getan, dann wäre Ihnen sicherlich aufgefallen, dass das, was in der Presse über das Gutachten verbreitet worden ist, nicht dem entspricht, was im Gutachten steht. Es ist im Übrigen ein Werk von fast 1 000 Seiten. Es lohnt sich, hier und da etwas genauer hinzusehen. Grundsätzlich ist der Sachverständigenrat natürlich berechtigt, Kritik zu üben. Das ist sicherlich ein Teil seiner Aufgabe. Das heißt aber nicht, dass wir alle Vorschläge, die er macht, befürworten müssen. Ich darf Sie daran erinnern, dass Ihre Seite genau dies in den letzten Legislaturperioden, wo das Spielchen andersherum gelaufen ist, gesagt hat, übrigens auch die damalige Umweltministerin. Davon abgesehen kann man dem Umweltgutachten 2000 entnehmen, dass die meisten Probleme, die dort angesprochen sind, nicht erst in der Zeit der rot-grünen Regierung entstanden sind, sondern wesentlich früher. ({1}) Dort werden eine ganze Reihe von Problemen angesprochen, die man nicht, wie Herr Grill es eben dargestellt hat, damit in Verbindung bringen kann, dass vorher die Welt in Ordnung war. Vielmehr werden dort viele alte Positionen des Sachverständigenrates wiederholt, die er auch heute noch vertritt; aber er hat diese Positionen, weil Sie nichts gemacht haben. Jetzt wird erwartet, dass innerhalb von anderthalb oder zwei Jahren die Welt umgekrempelt wird; aber ich glaube, dass dabei ein kleines bisschen auch das schlechte Gewissen bei Ihnen eine Rolle spielt. Sie haben sich nämlich bisher eines öffentlichen Kommentars enthalten. Ich bin davon überzeugt: Wir wären in vielen Punkten sehr viel weiter, wenn Sie wirklich eine Umweltpolitik umgesetzt hätten und nicht nur Projekte angekündigt und auf Papieren zusammengetragen hätten, wenn also die Regierung Kohl das getan hätte, was sie immer angekündigt hat; aber das hat sie nicht getan. Wenn sie nur halb so viel Umweltpolitik realisiert hätte, wie wir in der kurzen Zeit bisher angefangen haben, wären wir ein ganzes Stück weiter. ({2}) Natürlich kann man als Umweltpolitiker ungeduldig werden. Das werde ich und viele meiner Kollegen werden es auch. Wir hätten es gern, wenn das eine oder andere sehr viel schneller umgesetzt werden würde; aber wir können ja nicht so tun, als wären die Probleme, die Sie 16 Jahre lang auflaufen ließen, in zwei Jahren zu lösen. In diesem Punkt hätte ich mir auch etwas mehr Realitätssinn beim Sachverständigenrat gewünscht. ({3}) Vielleicht könnte sich der Sachverständigenrat ja auch einmal damit beschäftigen, warum in den Medien ganz bestimmte Themen die Überschriften dominieren, andere Themen aber nicht. Das hat nämlich häufig damit zu tun, dass es um Auflagen und nicht um die Vermittlung besonders wichtiger Inhalte geht. Das hat der Sachverständigenrat in diesem Falle für sich genutzt, um diskutiert zu werden. Wie gesagt, wir bleiben hoffentlich nicht bei dieser Diskussion in der Aktuellen Stunde stehen. Einiges, was in diesen Ausführungen steht, sind Positionen, die wir teilen. Es sind aber auch Positionen enthalten, die wir nicht teilen. Ich habe mich zum Beispiel darüber gewundert, dass es eine uneingeschränkt positive Bewertung von handelbaren Emissionslizenzen oder handelbaren Flächenverbrauchsregelungen gibt. Als ich mir ansah, was dort vorgeschlagen wird, habe ich mir erst einmal die Augen gerieben. Vielleicht muss man darüber noch einmal intensiver diskutieren. Natürlich muss die Flächenversiegelung zurückgeführt werden da brennt es in der Tat -, aber das, was dort vorgeschlagen ist, fand ich nicht sehr überzeugend. Im Übrigen halten die Sachverständigen weiter an einer emissionsbezogenen Energiesteuer fest, die wir aus vielen Gründen ablehnen. Diese Steuer lehnen nicht nur wir ab, sondern auch die meisten Wissenschaftler und die Umweltverbände lehnen sie ab. Das ist politisch ad acta gelegt. Deswegen wundere ich mich, dass so etwas überhaupt noch darin steht. ({4}) Immerhin hat der Sachverständigenrat die Ökosteuer nicht so niedergemacht, wie Herr Grill das sagte, sondern - im Gegenteil - dessen Mitglieder haben sie vom Grundsatz her für richtig gehalten. Die Sachverständigen sagen, es muss eine im Voraus angekündigte schrittweise Energieverteuerung geben, sodass sich alle Bürgerinnen und Bürger, Gewerbe, Industrie usw. darauf einstellen können; und genau das haben wir gemacht. In einer ganzen Reihe von Schlussfolgerungen kommt der Sachverständigenrat zu Ergebnissen, die wir unterstützen. Deshalb ist es durchaus nicht nur eine Floskel, wenn wir sagen: Wir fühlen uns bei einer ganzen Reihe von Positionen, die der Sachverständigenrat in dem Gutachten vertreten hat, unterstützt. Über diejenigen, die wir nicht teilen, müssen wir uns noch einmal auseinander setzen. Wir werden uns sicherlich im Ausschuss mit diesem Gutachten befassen, aber bitte erst dann, wenn es gewissenhaft studiert worden ist und wir auch in der Lage sind, darüber eingehend zu sprechen. Wir sollten uns nicht nach ganz kurzem Studium des Sachverständigenratsgutachtens in Pressemitteilungen verbreiten. Ich bitte dann doch wirklich um eine inhaltliche Auseinandersetzung. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt Kollegin Homburger.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern im Umweltausschuss hat der Staatssekretär im Umweltministerium die Sache auf den Punkt gebracht. Ich zitiere Herrn Baake, er sagte: Es ist Aufgabe der Räte, zu beraten - Aufgabe der Regierung ist es, zu regieren. Eine kluge Erkenntnis! Ich frage: Warum handeln Sie eigentlich nicht danach? ({0}) Ich zitiere aus dem Erlass über die Einrichtung des Sachverständigenrats für Umweltfragen: Seine Gutachten legt er vor, um bei allen verantwortlichen Instanzen die umweltpolitische Urteilsbildung zu erleichtern. Nun also legt dieses Gremium sein neues Gutachten vor. Das Urteil der Experten ist absolut einhellig: Die Umweltpolitik des Ministers Trittin ist ein Debakel. Hohe Erwartungen wurden enttäuscht; mangelhaft ist die Umsetzung wichtiger Maßnahmen; einseitig und ideologisch ist die Fixierung auf Ökosteuer und Atomausstieg. Selbst im Energiebereich gab es eine Blamage: Sämtliche Maßnahmen, so die Experten, seien ergänzungsbedürftig. Schlimmer noch: Alles, was bisher angekündigt und eingeleitet wurde, verlangt nach Korrektur, und zwar in mehrfacher Hinsicht. ({1}) Liebe Frau Mehl, Sie haben gerade davon gesprochen, dass man das Spielchen kenne. In Kenntnis der Umweltgutachten der letzten Jahre, die ich alle begleitet, mitdiskutiert und gelesen habe, kann ich nur eines sagen: Das jetzt vorliegende Umweltgutachten ist ein Armutszeugnis, wie man es selten liest. ({2}) Wie reagiert der Bundesumweltminister? Er begegnet allen Ernstes der Kritik mit der Bemerkung, er freue sich, nicht nur gelobt, sondern auch kritisch unter die Lupe genommen zu werden. Einen fachlichen K.-o.Schlag so zu kommentieren ist schon Arroganz, Herr Minister Trittin. ({3}) Ich frage Sie, Herr Minister: Wo bleibt die ökologische Modernisierung? Dem Wähler wurde vorgegaukelt, nach dem Regierungswechsel würde Rot-Grün schon bald Konzepte für eine tragfähige, umfassende und konsistente Umweltpolitik vorlegen. Nichts ist passiert! ({4}) Der Sachverständigenrat sagt eindeutig, er habe das Gutachten auch unter Berücksichtigung dessen, was Sie versprochen haben, erarbeitet. An dem, was Sie versprochen haben, müssen Sie sich nun einmal messen lassen. Jetzt ist Ihnen die Enttäuschung schriftlich bestätigt worden. ({5}) Frau Kollegin Mehl, Sie können nicht immer wieder alles auf die alte Regierung schieben. Was haben Sie denn gemacht? Sie haben eine Ökosteuer ohne Wirkung eingeführt, wie Sie festgestellt haben. Über den Ausstieg aus der Kernenergie streiten Sie nach wie vor. Beim UGB ist nichts passiert, ({6}) ebenso wenig wie beim Bodenschutz- und Naturschutzgesetz. Den Nachhaltigkeitsrat, dessen Einsetzung Sie innerhalb eines Jahres versprochen hatten, haben Sie immer noch nicht auf den Weg gebracht. ({7}) Ich kann Ihnen nur eines sagen: Sie müssen sich zuerst das vor Augen führen, was Sie vorher angekündigt haben und dann das, was Sie erreicht haben. Wenn Sie das tun, dann werden Sie uns zustimmen müssen und dann können wir weiterdiskutieren. Durch Ihre einseitige Beschränkung auf Atomausstieg und Ökosteuer - wir von der F.D.P. haben das immer gesagt; dies hat uns jetzt der Sachverständigenrat bestätigt - haben Sie die Umweltpolitik verstümmelt. ({8}) Sie erreichen damit - das liegt auf der Hand - die geistige Verödung der politischen Ideenlandschaft. Geistige Verarmung als Leitmotiv! Der Umweltschutz verliert den letzten Rest seiner Glaubwürdigkeit, den er besaß. Umweltpolitik à la Trittin ist die ständige Wiederholung des immer Gleichen. Umweltschutz wird kaum noch ernst genommen. Die schlimmste der traurigen Folgen Ihrer Umweltpolitik ist, dass die Bürger das Interesse an ihr verlieren. ({9}) Schon Ihre so genannte ökologische Steuerreform hatte nichts mit Umweltschutz zu tun. Die Bürger haben längst gemerkt, dass Herr Trittin sie nur auf den Arm nimmt. Es geht um das Abkassieren und das Eintreiben zusätzlicher Steuern. Gerade erst gestern konnte man lesen, was das für die Kasse bringt. Der politische Vertrauensschaden ist ungeheuer. Ein weiteres deprimierendes Beispiel, das Sie sich vorhalten lassen müssen, ist der Klimaschutz. Die Bundesregierung hat nichts Konkretes geleistet, um das Kioto-Protokoll in Deutschland rechtzeitig in Kraft treten zu lassen. Der Sachverständigenrat stellt jetzt fest, dass das Klimaschutzziel aller Voraussicht nach verfehlt wird. Den Bundesumweltminister kümmert es offensichtlich nicht. Wo bleibt eigentlich der seit langem angekündigte Entwurf einer umfassenden nationalen Strategie zur Minderung der Treibhausgase? ({10}) Statt einen solchen Entwurf vorzulegen, führt die Bundesregierung eine ideologische Debatte über den Ausstieg aus der Kernkraft. Aber es fehlt ein schlüssiges Energiekonzept. Die Antwort auf die Frage, wie Sie unter solchen Bedingungen auf den verstärkten Einsatz klimaschädlicher fossiler Brennstoffe verzichten wollen, sind Sie nach wie vor schuldig geblieben. ({11}) Der Deutsche Bundestag nimmt im Gegensatz zu Ihnen, Herr Minister, das Sachverständigengutachten ernst. Die F.D.P. fordert das ein, was der Sachverständigenrat verlangt: Entwickeln Sie endlich ein klares und verlässliches Handlungsprofil in der Umweltpolitik! Geben Sie dem Umweltschutz die Ernsthaftigkeit, die Seriosität und den politischen Rang zurück, die ihm gebühren! Fragen Sie einfach einmal Ihren Staatssekretär: Regieren ist Aufgabe der Regierung. Das, Herr Minister, hat mit Verantwortung zu tun. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Reinhard Loske.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Ich möchte jetzt nicht in einen Potenzwettbewerb mit Herrn Grill eintreten. Ich glaube, da hätte ich gute Aussichten. ({0}) Ich habe mit diesem Punkt etwas sehr Wichtiges angesprochen: Wir brauchen institutionelle Reformen. Wenn man Umweltpolitik betreiben will, muss das seinen Niederschlag im Zuschnitt der Häuser finden; denn Umweltpolitik ist eine Aufgabe der Gesamtregierung. ({1}) Jetzt aber zum Umweltgutachten 2000. Ich glaube das kann ich für meine ganze Fraktion sagen -, dass dieses Gutachten ein wichtiger Beitrag zur umweltpolitischen Diskussion ist. Wir begrüßen ihn und nehmen ihn als Ansporn, um besser zu werden. Das muss man sagen. ({2}) Es ist natürlich völlig klar, dass ein Sachverständigenrat dazu da ist, die große Perspektive einzunehmen und nicht gleich die politischen Restriktionen, also beispielsweise Leute wie Sie, im Kopf zu haben. Wir müssen schauen, was nötig ist und nicht, was geht. Denn mit Ihnen geht gar nichts. Das wissen wir. ({3}) Wenn ich mir das Gutachten anschaue - manche auf der rechten Seite des Hauses haben es offenbar gar nicht gelesen -, dann kann ich sagen: Es ist eine Mischung aus Unterstützung, der Aufforderung, mutiger zu sein, und auch partieller Kritik. Wenn wir uns jetzt den beiden Themen ökologische Steuerreform und Atomausstieg zuwenden, dann muss man erstens zur ökologischen Steuerreform festhalten - ich zitiere wörtlich -: Sie ist ein wichtiges Signal, um die Kosten der Umweltinanspruchnahme verursachungsgerecht anzulasten. Zweitens: Sie muss über das Jahr 2003 hinaus fortgesetzt werden. Mal schauen, wo Herr Grill und die anderen UmweltHelden der CDU sind, wenn es 2003 um die Weiterentwicklung geht. Ich glaube, Sie werden nicht da sein. Zum Atomausstieg - jetzt bitte zuhören - zitiere ich den Umweltrat: Der Umweltrat hält eine weitere Nutzung der Atomenergie für nicht verantwortbar. Herr Grill, das sollten Sie sich hinter die Ohren schreiben; Platz genug ist ja da. ({4}) Jetzt zur ökologischen Steuerreform. Es heißt in dem Gutachten in der Tat: Die ökologische Lenkungswirkung soll erhöht werden. Wir teilen das. Es gibt noch Dinge nachzuarbeiten; das ist völlig klar. Wir müssen bei der Behandlung der Wirtschaft, des produzierenden Gewerbes bis 2002 eine Lösung vorlegen, die zielführender ist. Daran arbeiten wir. Wir müssen uns auch bemühen, so schnell wie möglich die erneuerbaren Energien hiervon auszunehmen, um diese offene Flanke zu schließen. ({5}) In diesem Punkt möchte ich dem Sachverständigenrat aufgrund eigener langjähriger Forschungstätigkeit durchaus widersprechen. Genauso viele Gründe, die es für einer CO2-Steuer gibt, gibt es für eine allgemeine Energiesteuer; denn Energieverbrauch ist nicht nur ein Klimaproblem, sondern er verursacht verschiedene Probleme, von Bergbaufolgeschäden über klimaverändernde Spurengase, Säure bildende Schadstoffe usw., bis hin zu Endlagern. Das heißt, wir wähnen uns auf der richtigen Seite und sind im internationalen Geleitzug. Da möchte ich dem Rat widersprechen. ({6}) Vielleicht ein Punkt zur Aktualität der Kritik. Wenn der Rat diese Kritik im Oktober 1999 geäußert hätte, hätte ich gesagt: Okay, sie ist zu einem guten Teil berechtigt. Aber wenn man sich anschaut, was seitdem geschehen ist, so kann man sagen: Manches hat der Rat leider übersehen. Wir haben das Erneuerbare-EnergienGesetz durch den Bundestag gebracht. Wir werden sehr bald eine dauerhafte Regelung für die Kraft-WärmeKopplung durch den Bundestag bringen. Wir haben einen klaren Fahrplan - Frau Homburger, offensichtlich hören Sie nicht zu - zur Entwicklung einer nationalen Klimaschutzstrategie vereinbart. Sie soll im Juli im Kabinett verabschiedet werden. Das wissen Sie ganz genau. ({7}) Wir haben eine Nachhaltigkeitsstrategie verabschiedet. Den Zukunftsrat wird der Bundeskanzler in wenigen Wochen selber einsetzen. Das sind die Fakten. Bitte, wenden Sie sich den Fakten zu und reden Sie nicht nur so wirr daher. ({8}) Was die berechtigte Kritik betrifft, glaube ich, bei der Bundesnaturschutzgesetznovelle müssen wir jetzt in der Tat handeln. Es wird zu Recht moniert, dass da etwas geschieht. Wir haben die Ziele im Koalitionsvertrag klar formuliert. Wichtig ist eben auch, dass wir mit den Ländern gemeinsam zu einer vernünftigen Lösung kommen. Ich glaube, Mitte dieses Jahres ist die Zeit dafür reif. Auch bei der Abfallpolitik müssen wir handeln. Das haben wir gerade heute wieder vom Umweltministerium erfahren. Wir müssen den Trend zur Wegwerfgesellschaft, zur Ex-und-hopp-Gesellschaft stoppen. Die Quote wurde mittlerweile zweimal unterschritten. Wir müssen bei der Verpackungsverordnung jetzt eine Lösung finden, die aktuelle Aspekte und neue Ökobilanzen einbezieht. Wir müssen die Scheidelinie zwischen Gut und Böse neu ziehen und eine klare Wachstumsperspektive für umweltverträgliche Verpackungssysteme aufzeigen. Jetzt zum letzten Punkt - meine Redezeit ist gleich um -: Die einzige Kritik, die man am Rat üben kann, ist, dass man sich das politische Erwachen der älteren Herren ein wenig früher gewünscht hätte. ({9}) Während der Amtszeit von Frau Merkel haben sie ganz brav auf ihrem Schoß gesessen. ({10}) Es ist manchmal nicht wirklich mutig, erst dann Mut zu zeigen, wenn man sich zurückzieht. Trotzdem wären die Sachverständigen mit ihren Ansichten bei den Grünen bestens aufgehoben. Danke schön. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein „miserables Zeugnis für die Umweltpolitik der Regierung Schröder“ hat es Jochen Flasbarth vom NABU genannt; „es hat also nicht so geklappt mit der ökologischen Wende“, umschreibt es das Herzblatt der Grünen, die „taz“. Das Gutachten des Umweltrates wird in der Schärfe abgestuft, in der Richtung aber einmütig kommentiert: Der umweltpolitische Aufbruch der Koalition ist in weiten Teilen zum Stillstand gekommen, wenn er denn je stattgefunden hat. Rot-Grün wurde das erste Mal wissenschaftlich und umfänglich evaluiert. Es drängt sich im Ergebnis das Bild auf, dass im Schatten der alles überragenden Debatten um Ökosteuer und Atomausstieg einiges im klassischen Umwelt- und Naturschutz sowie bei der Ausarbeitung und Umsetzung einer Nachhaltigkeitsstrategie an die Seite gedrängt wurde: beispielsweise die Weiterentwicklung des stellenweise durchaus respektablen Entwurfs eines umweltpolitischen Schwerpunktprogrammes von 1998, die seit bald 20 Jahren überfällige Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes, die umwelt- und entwicklungspolitische Neuausrichtung der Hermeskredite, der gesetzliche Stopp der Privatisierung ostdeutscher Naturschutzflächen oder das Aus des ökologisch wahnwitzigen Ausbaus von Havel und Elbe. Das alles gibt es aber nicht. Das Kleinkochen dieser Aufgaben hat sich noch nicht einmal gelohnt, denn die vermeintlichen Schwerpunkte Ökosteuer und Atomausstieg sind ja kräftig vergeigt worden! Letzte Woche bestätigte beispielsweise eine Expertise des Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstituts Köln für das Bundesumweltministerium alle wesentlichen Argumente der PDS gegen die irrwitzige Konstruktion der ökologischen Steuerreform unter Rot-Grün. Der umweltpolitische Lenkungseffekt sei unterentwickelt und die Beschäftigungseffekte seien zu vernachlässigen, analysiert das Institut in seinem vernichtenden Gutachten. Die Reform trage kaum zur Minderung des Treibhauseffektes bei. Der Anreizeffekt für den ökologischen Umbau tendiere gegen Null. Auch der Umweltrat kritisiert die zahlreichen Sonderregelungen, die die Wirtschaft von den Steuern entlasten, und Sozialverbände weisen nach, dass Familien umso stärker belastet werden, je ärmer sie sind. Zum Thema Atom durften wir gerade erst vorgestern in der Zeitung lesen, dass der Ausstieg jetzt erst einmal mit einem Einstieg beginnt, nämlich durch die Hermesabsicherung von Siemens-Technik für ein neues Atomkraftwerk in China. Ich bin einmal gespannt, wie dieses Thema am Wochenende auf Ihrem Parteitag diskutiert wird. Zurück zum Gutachten. Besonders pikant wird die Tatsache dadurch, dass die Professoren des Umweltrates erstmalig feststellten, das Entsorgungsproblem sei objektiv nicht zu lösen, weil irgendwann radioaktive Gase auch durch die besten Behälter diffundieren und in die Atmosphäre eindringen werden. Während für die Antiatomfront ungeahnte Rückendeckung vom bekanntermaßen mehrheitlich konservativen Umweltrat kommt, schießt sich die Koalition selber ins Knie. Manchmal tut es wirklich weh zu sehen, wie Sie bestimmte Dinge in den Sand setzen. Wie es mit der Berücksichtigung von Menschenrechten und Umweltschutz bei der Vergabe von Hermeskrediten aussieht, zeigt auch Ihr Ja zum Drei-Schluchten-Staudamm und zu anderen Vorhaben in China. Beim Klimaschutz befinde sich Deutschland nicht auf einem CO2-Reduktionspfad, der die nationale Zielerreichung bis 2005 ermöglichen würde, steht im Gutachten geschrieben; einschneidende Maßnahmen seien notwendig. Doch das Antistauprogramm von Herrn Klimmt ist nichts anderes als ein Klimakillerprogramm. Jeder, der verkehrspolitisch die Pubertät hinter sich gelassen hat, weiß das. Allein mit der Förderung erneuerbarer Energien ist bei der CO2-Reduktion kein Blumentopf zu gewinnen, zumal nicht, wenn die Strompreise durch die überstürzte Liberalisierung sinken, was Rot-Grün ja begrüßt, der Stromverbrauch also nach allen Regeln der Marktwirtschaft steigen wird. Noch ein Wort zum Naturschutz: Darauf, dass die FFH-Ausweisungen in Deutschland um den Faktor 5 unter dem Durchschnitt der anderen EU-Länder liegen, hat der Rat hingewiesen. Zum Thema Schutzgebiete möchte ich hinzufügen, dass es eine Schande ist, mit welcher Penetranz sich das Bundesfinanzministerium gegen eine kostenlose Übergabe von Naturschutzflächen an die Länder und Naturschutzverbände wendet. Eines seiner Hauptargumente war der so genannte Vorbehalt der EUKommission. Diesen Vorbehalt gibt es aber gar nicht, schreibt die „Financial Times Deutschland“. Eine Erfindung des Berliner Finanzministeriums sei das, zitiert das Blatt die Kommission. Hier wurde von Potenz gesprochen. Ich wünsche Ihnen, Herr Loske, ein gutes Frühlingserwachen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Heute scheint der Frühling ja häufiger in die Debatte hineinzuspielen. Das Wort hat jetzt Herr Bundesminister Jürgen Trittin.

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! So eine nette Opposition wie die von links wünscht sich natürlich jede Regierung. Vielen Dank, Frau Bulling-Schröter. ({0}) Da ich gerade beim Danken bin, möchte ich nun dem Sachverständigenrat für Umweltfragen für sein Gutachten danken. Dieses Gutachten fordert die Umsetzung ökologisch anspruchsvoller Ziele konsequent ein und steht auch zu den dafür notwendigen, teilweise sehr unbequemen Maßnahmen. Obwohl der Rat - das ist seine Aufgabe, dafür haben wir ihn - mit Kritik in Einzelfällen nicht sparsam umgeht, bestätigt er den Weg, den die Bundesregierung in der Umweltpolitik eingeschlagen hat. Selbst in den Punkten, in denen er uns kritisiert, muss ich ihm Recht geben. Der Rat hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass die Auseinandersetzung um Ökosteuer und Atomausstieg die Regierung viel Kraft kostet. Aber sind dies nicht zentrale Voraussetzungen für eine moderne Energieversorgung, für eine ökologische Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft? Sind dies nicht genau die Forderungen, die der SRU bereits in seinen Gutachten 1994, 1995, 1996, 1998 immer wieder erhoben hat? Wir haben das, was in diesem Gutachten gefordert worden ist, mit dem Einstieg in die ökologische Steuerreform, mit dem Erneuerbare-EnergienGesetz, mit dem 100 000-Dächer-Programm und mit dem Markteinführungsprogramm für erneuerbare Energien vorangebracht und damit tatsächlich etwas für den Klimaschutz getan. ({1}) Frau Bulling-Schröter, erlauben Sie mir folgende Anmerkung: Dass das Erneuerbare-Energien-Gesetz heute noch im Bundesrat hängt, liegt daran, dass die von Ihnen mitgetragene Regierung in Mecklenburg-Vorpommern noch nicht Ja sagt. Das erklären Sie einmal den Photovoltaikbetreibern und den Windenergieleuten! ({2}) Wir haben das umgesetzt, was Sie auf der rechten Seite des Hauses sich über Jahre hinweg haben abhandeln lassen. Deswegen, Herr Grill, haben Sie auch ein Problem: Die Kostümierung als Ökologe steht Ihnen nicht. Sie ist selbst für Sie zu klein. Unter dem grünen Wams guckt überall der schwarze CDUler hervor. ({3}) Das merkt man spätestens, wenn es um die konkreten Forderungen der Gutachter geht. Dann stehen Sie nämlich ziemlich nackt da. Uns hält der SRU nicht vor, die Bundesregierung solle umkehren, sondern er verlangt, dass wir den von uns eingeschlagenen Weg schneller gehen sollen. Das ist eine Mahnung für uns, aber eine Ohrfeige für Sie, denen die ganze Richtung nicht passt. ({4}) Wenn Sie sich auf dieses Gutachten berufen, dann ist das ungefähr so glaubwürdig, als würde sich der Beelzebub als heiliger Samariter ausgeben. ({5}) Ich will das an ein paar Beispielen verdeutlichen. Ich zitiere das Gutachten: Angesichts der Dringlichkeit ... und der richtungsweisenden Wirkung des deutschen Klimaschutzziels bei den internationalen Klimaverhandlungen begrüßt der Umweltrat das Festhalten der Bundesregierung am 25-Prozent-Ziel. ({6}) Wir haben die Emissionen im vergangenen Jahr um 3 Prozent, klimabereinigt um 1,8 Prozent gesenkt. Wir wissen auch, dass wir das Ziel von 25 Prozent noch nicht erreicht haben. Mit den heutigen Maßnahmen werden wir ungefähr 18 Prozent im Jahre 2005 erreichen. Das ist der Grund, weswegen wir erklärt haben, dass wir zusätzlich zu den eingeleiteten Maßnahmen, die ich genannt habe, eine neue Klimaschutzstrategie vorlegen. Neben den erneuerbaren Energien wird der Schwerpunkt auf der Steigerung der Energieeffizienz liegen. Es geht beispielsweise um die Frage, wie der Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung an der Stromerzeugung bis zum Jahre 2010 verdoppelt werden kann. Übrigens werden wir auch in dieser Frage von den Gutachtern unterstützt, die „eine zeitlich befristete staatliche Förderung umweltfreundlicher Energieerzeugungsformen ... für erforderlich ...“ halten. Sie aber versuchen, den Menschen im Land weiszumachen, dass die Frage von Energie ausschließlich eine Frage von Preisen und Preissteigerung ist. ({7}) Ich habe in diesem Zusammenhang noch Herrn Lippold vor Augen, der voller Empörung sagte, die Bundesregierung wollte über das Jahr 2003 hinaus die ökologische Steuerreform fortschreiben. Was schreiben die Gutachter? Sie schreiben über die Notwendigkeit eines „stufenweisen Anstiegs der Steuersätze über das Jahr 2003 hinaus, und zwar so lange, bis das Klimaschutzziel erreicht ist“ und über „den Abbau ökologisch schädlicher Subventionen“. Das betrachte ich nicht als Kritik an dieser Bundesregierung, sondern als Aufforderung, den eingeschlagenen Weg nachdrücklich und zielgenau weiterzugehen. ({8}): Zielgenau ist er nicht!) Ein anderes Beispiel, gnädige Frau: Bodenschutz. Die Gutachter schreiben: Dem Schutz von Böden ist in der Vergangenheit zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. In diesem Punkt kritisiere ich die Gutachter. Es handelt sich nämlich um eine verharmlosende Darstellung. ({9}): Was haben Sie denn gemacht?) Wer ist denn dafür verantwortlich, dass jedes Jahr in diesem Land bis zu 100 Hektar pro Tag versiegelt werden? Werden diese Flächen vom Bundesumweltminister ausgewiesen? Nein. Wer ist denn verantwortlich für das Überangebot an Gewerbeflächen in West- und Ostdeutschland? Sie haben im Zuge der deutschen Einheit das blinde Ausweisen von Gewerbeflächen durch Steuersubventionen begünstigt. Sie sind verantwortlich für diese Form der Bodenversiegelung. Sie sind verantwortlich für dieses Überangebot. ({10}) Sie sind verantwortlich dafür, dass ostdeutsche Städte heute Probleme haben, ihre Innenstädte zu beleben. ({11}): Wer ist „Sie“? Lächerlich!) Jetzt kommt der entscheidende Punkt. Wir gehen daran, in Europa solchen Entwicklungen künftig vorzubeugen, indem schon bei der Aufstellung solcher Pläne Umweltverträglichkeitsprüfungen durchgeführt werden. ({12}) Was machen CDU/CSU und F.D.P.? Sie laufen Sturm selbst gegen ein so vorbeugendes Instrument wie die Plan-UVP. Erzählen Sie mir doch nichts vom Bodenschutz! Sie machen doch das glatte Gegenteil. ({13}) Zum Naturschutz. Die Gutachter fordern, dass Naturschutz auf 10 bis 15 Prozent der Fläche „absoluten Vorrang“ genießt. Wir haben einen Anteil von 10 Prozent genannt. Da gibt es eine Differenz. Aber diese Differenz ist doch lächerlich, wenn man sich einmal Ihre Praxis ansieht. Ich habe mir einmal den Anteil an FFHGebieten in den von Ihnen lange regierten Ländern herausgesucht: Bayern 1,7 Prozent und Baden-Württemberg 1,5 Prozent. Nur 0,67 Prozent der Landesfläche sind in Baden-Württemberg, im Schwarzwald und in der Schwäbischen Alb, als Vogelschutzgebiet ausgewiesen. Das müssen Sie sich sagen lassen. ({14}) Sie aber sagen, Deutschland war einmal Spitzenreiter in Europa. Deutschland und besonders die von Ihnen regierten Länder sind aber das absolute Schlusslicht in Bezug auf Naturschutzgebiete. Der europäische Durchschnitt liegt nämlich bei 12,3 Prozent. Das ist die Realität. ({15}) Meine Damen und Herren, während Sie den Naturschutz klein machen, betreiben Sie eine riesige Kampagne gegen die weitere Ausweisung von FFHGebieten. ({16}) Dazu kann ich nur sagen: Der Bock versucht sich als Gärtner. So geht es nicht. ({17}) Letzter Punkt. In einem hat der SRU die Bundesregierung besonders nachdrücklich unterstützt, offensichtlich zu Ihrem besonderen Ärger. Er hat nicht nur darauf verwiesen, dass die Nutzung der Atomenergie aufgrund der Entsorgungsprobleme unverantwortlich ist. Er hat auch nachdrücklich gesagt: Der Umweltrat befürwortet wegen der bestehenden rechtlichen Unsicherheit die Strategie der Bundesregierung, die Möglichkeiten einer entschädigungsfreien Beendigung der Nutzung der Atomenergie ...zu suchen .... Nach Auffassung des Umweltrates dürfte den berechtigten Belangen der Betreiber von Atomkraftwerken durch eine Gesamtlaufzeit von 25 bis 30 Jahren hinreichend Rechnung getragen worden sein. ({18}) Meine Damen und Herren, lieber Herr Koppelin, diesen Ausführungen des Sachverständigenrates habe ich nichts hinzuzufügen. ({19}) Sie sprechen für sich. Aus diesem Grunde fällt es mir auch leicht, zum Abschluss dem Herrn Rehbinder, der zum letzten Mal diesem Gremium vorgesessen hat, dessen Amtszeit ausgelaufen ist, für sein Gutachten, für seine Arbeit zu danken und ihm zu bescheinigen, dass diese Arbeit wegweisend für die kommenden Gutachten und für den neu zu berufenden Rat ist. Vielen Dank, Herr Rehbinder! ({20})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Christian Ruck.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir, nach den Nebelkerzen und den rhetorischen Kunststücken des Herrn Trittin wieder zur Realität zurückzukommen. Die Realität ist, dass Sie, Herr Minister, und niemand anders die Ohrfeige des Umweltgutachtens bekommen haben. ({0}) Die „Berliner Zeitung“ hat das am Freitag ironisch auf den Punkt gebracht - ich zitiere -: Jürgen Trittin neigt nicht zur Selbstkritik, doch wenn er in diesem Bereich noch über einen RestReflex verfügen sollte, dann muss der grüne Umweltminister nach der Lektüre des Sachverständigen-Gutachtens für Umweltfragen rot anlaufen. ({1}) So ist es. ({2}) Die Versäumnisse Ihrer Politik werden von den Gutachtern bis ins Detail dargestellt. Hier noch einige Kostproben für die, die behaupten, wir hätten es vielleicht oberflächlich gelesen. Die neue Bundesregierung - so haben Sie versprochen, meine Damen und Herren von Rot-Grün wird eine Nachhaltigkeitsstrategie mit konkreten Zielen erarbeiten. Dazu die Einschätzung der Sachverständigen: Deutschland gehört bei der Entwicklung einer Nachhaltigkeitsstrategie inzwischen zu den Nachzüglern. ({3}) Weiterhin haben Sie versprochen: Das zersplitterte Umweltrecht wird in einem Umweltgesetzbuch zusammengeführt. Die Einschätzung der Sachverständigen ist: Bereits die Umsetzung der IVU- und der UVP-Richtlinie ist 1999 endgültig gescheitert. Sie haben versprochen: Im Bodenschutz muss der Vorsorgegedanke ein stärkeres Gewicht erhalten. Was, Herr Trittin, sagen die Sachverständigen dazu? Man höre und staune: Nach den besonders intensiven Sanierungsanstrengungen im Altlastenbereich zu Beginn der 90er-Jahre ist inzwischen ein, „Sanierungsminimalismus“ eingetreten. Das ist das, was dort steht. Sie haben natürlich auch versprochen, die Artenvielfalt zu schützen. Der Sachverständigenrat urteilt, dass der Zustand von Natur und Landschaft unverändert Besorgniserregend ist. ({4}) Meine Damen und Herren, Frau Mehl, man muss auch in diesem Bereich bei der Wahrheit bleiben. Sie sind doch auch so stolz auf die Existenz unseres Programms für die gesamtstaatlichen Gebiete. Es war die letzte Bundesregierung, die dieses Programm mit 40 Millionen DM eingebracht hat. Sie haben eines getan: Sie haben es gekürzt. Herr Trittin, es ist auch nicht wahr, dass Bayern bei 1,7 Prozent landet. Bayern wird in allen Tranchen zusammengenommen bei mindestens 7 Prozent landen, Thüringen bei 9 Prozent. ({5}) Im Gegensatz zu Rot-Grün allerdings sprechen wir die Ausweisung mit der Bevölkerung ab und machen sie nicht gegen die Bauern und nicht gegen die Landwirtschaft. ({6}) Eine Energiesparverordnung haben Sie versprochen. Wort gebrochen! Sie kommt erst im Jahr 2001 - vielleicht. Ich möchte bei all der billigen Rhetorik, die jetzt wieder gegen die letzte Bundesregierung aufgetaucht ist, noch einmal sagen, was die letzte Bundesregierung wirklich geleistet hat. Herr Loske, Sie tun doch immer so, als würden Sie das Thema seriös angehen. Wir haben große konkrete Erfolge bei der Luftreinhaltung erzielt, siehe zum Beispiel Schwefeldioxid. Wir haben große Erfolge bei der Gewässerreinhaltung erzielt. Sogar Herr Töpfer konnte wieder aus dem Rhein trinken. ({7}) - Getrunken hat er auch. - Ohne Helmut Kohl - das möchte ich an dieser Stelle auch einmal sagen - wäre der Rio-Prozess gar nicht erst in Gang gekommen und er wäre spätestens bei Rio de Janeiro, Frau Ganseforth, geplatzt. ({8}) Es bleibt dabei: Dort, wo dringender Handlungsbedarf besteht, haben Sie wenig bis gar nichts zustande gebracht. Stattdessen haben Sie vieles getan, was Sie besser gelassen hätten, zum Beispiel die Entwicklungshilfe zum Steinbruch zu machen und die Umweltmittel im Entwicklungshaushalt zusammenzustreichen. Bei der Förderung der regenerativen Energien geben Sie das Geld der Bürger mit vollen Händen aus und erreichen ein Maximum an Umverteilung, aber nur ein Minimum an ökologischer Wirkung. Bei den anstehenden Gesetzesberatungen zur Kraft-Wärme-Kopplung machen Sie einseitig Klientelpolitik für die öffentliche KWK und lassen die hocheffizienten Anlagen der Industrie außen vor. Das Maß an Flickschusterei und Unvernunft wird nur noch durch Ihre Ökosteuer übertroffen. Auch das steht übrigens im Umweltgutachten, weil Sie wahllos CO2-intensive und nicht CO2-intensive Tatbestände treffen. Besonders gefährlich ist Ihr Versagen beim Klimaschutz. Auch das steht übrigens in dem Umweltgutachten. Deutschland befindet sich nicht mehr auf einem Reduktionspfad. Nicht zuletzt die Beendigung der Nutzung der Atomenergie - auch das steht in dem Gutachten setzt dabei zunehmend enger werdende Grenzen. Die von Ihnen betriebene Ausstiegspolitik wird jeden Tag unsinniger. ({9}) Sie, Herr Trittin, haben bei uns im Ausschuss behauptet, die Atomkraft sei für die Entwicklungsländer kein Thema. Bundeswirtschaftsminister Müller hat noch am Sonntag im Fernsehen, also öffentlich, bekräftigt, es werde keine Bürgschaften für ausländische Kernkraftwerke geben. Zwei Tage später bewilligt die Bundesregierung Hermes-Bürgschaften über 300 Millionen DM für den Neubau von Atomkraftwerken in China und für die Nachrüstung in Argentinien. ({10}) Wie wollen Sie den Bürgern eigentlich erklären, dass Sie bei uns die Atomenergie verteufeln, während Sie sie in anderen Ländern finanzieren? Oder wie wollen Sie den Bürgern erklären, dass bei uns Castorbehälter als Transporter gefährlich, aber als Zwischenlager harmlos sind? Das ist doch keine Politik mehr, das ist realpolitische Satire. Auch das steht in dem Umweltgutachten. Herr Trittin, Sie haben etwas von Weismachen gesagt. Sie wollten den Menschen weismachen, dass Sie für Umweltschutz angetreten sind und dass die Menschen Sie für den Umweltschutz gewählt haben. In Wirklichkeit ist Ihre bisherige Arbeit ein Einbruch und kein Aufbruch. Es ist ein Raubbau und kein Umbau. Es ist ein Ausstieg aus der Vernunft. Herr Trittin, für uns und für die Umwelt wäre es am besten, wenn Sie endgültig aussteigen würden, und zwar mit Ihrer gesamten Crew. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe der Kollegin Marion Caspers-Merk von der sozialdemokratischen Fraktion das Wort.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Herr Kollege Ruck, ich muss mich etwas wundern, weil Sie uns einige Schlagzeilen vorgelesen haben, aus denen Sie eine Fundamentalkritik des Sachverständigenrats an der rot-grünen Bundesregierung abgeleitet haben. Dies haben Sie mit einigen Zitaten garniert. Genau dasselbe kann man natürlich in umgekehrter Weise tun und man kommt dann zu ganz anderen Ergebnissen. Auch ich darf Ihnen einige Schlagzeilen vorlesen: „Umwelt-Sachverständige legen Gutachten vor - Warnung vor Selbstverpflichtungen“, „Sachverständige beklagen Reformstau in der Umweltpolitik“, „Umwelt-Weise rügen Reformstau“, „Merkel Reformstau vorgehalten“. Sie sehen: Es sind Überschriften aus der öffentlichen Würdigung des Sachverständigengutachtens 1998. Es ist ganz richtig, dass Sachverständige dazu da sind, uns kritisch den Spiegel vorzuhalten. Dass einiges, was schon 1998 gerügt wurde, bis jetzt noch nicht umgesetzt wurde, hängt auch damit zusammen, dass viele Dinge Altlasten sind, die wir nach und nach abarbeiten. Aber Sie sollten ein Stück weit reeller und ehrlicher in der Wertung sein. ({0}) Ich lese Ihnen auch noch etwas anderes vor, was im Gutachten des Jahres 1998 steht. Dort wurde schon damals gerügt, dass zum Beispiel die Neufassung des Bundesnaturschutzgesetzes auf sich warten lasse. Wer war damals an der Regierung? Sie waren es! Ebenso wurde beklagt, dass Ausführungsbestimmungen zum Kreislaufwirtschaftsgesetz fehlen. Außerdem wurde ein modernes Abfallwirtschaftsrecht ausdrücklich eingefordert. Wenn man sich das alles ansieht und die öffentliche Aufgeregtheit etwas beiseite lässt, muss man sagen: Das Umweltgutachten ist eine kritische Würdigung der Politik. Das war es aber auch schon immer; der SachDr. Christian Ruck verständigenrat hat schon immer kritische Schlagzeilen gemacht. ({1}) Damals haben wir den Sachverständigenrat als Kronzeugen gegen die damalige Regierung verwendet, jetzt ist die Situation in Teilen umgekehrt. Aber auch hierbei sollten wir mit größerer Gelassenheit reagieren, einfach einmal in das Gutachten einsteigen und uns damit auseinander setzen, denn es lohnt die Auseinandersetzung. Diesmal ist zu Recht das Thema „Nachhaltigkeit“ ein Stück weit aufgearbeitet worden. Dabei kommt der Sachverständigenrat zu folgenden Ergebnissen. Er sagt, dass er seit 1994 eine Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung einfordert. Ich erinnere daran: 1994 war nun wirklich noch nicht Herr Trittin in der Bundesregierung. ({2}) Wenn aber Ihre Wertung, die Sie vorhin zitiert haben, richtig ist, dass wir auf diesem Sektor international nicht zu den Vorreitern gehören, dann sind doch Sie es, die das zu verantworten haben, weil Sie dieses Thema jahrelang überhaupt nicht besetzt haben. Erst nachdem wir Ihnen das in der Enquete-Kommission vorgehalten haben, sind überhaupt zögerlich erste Schritte getan worden. ({3}) - Das ist doch die Wahrheit, Herr Kollege Grill und Herr Kollege Ruck! ({4}) Das muss auch einmal gesagt werden. ({5}) In dem Gutachten ist zum Thema der Nachhaltigkeit und zu dem, was wir dazu fordern, Folgendes zu lesen: Insgesamt ist das Konzept einer ökologischen Modernisierung im Sinne einer innovativen und beschäftigungsorientierten Strategie grundsätzlich zu begrüßen. Es ist also nicht so, dass alles nur Schatten ist, sondern der eingeschlagene Weg wird ausdrücklich begrüßt. Wenn man sich dann ansieht, welche Vorschläge zum Thema „Nachhaltigkeitsstrategie“ gemacht werden, stellt man fest, dass wir uns doch auf einem guten Weg befinden. So soll das Sachverständigengutachten doch auch gewertet werden, nämlich dass es uns Hinweise gibt, wie wir künftig damit umzugehen haben. Es wird die Politikintegration gefordert - jawohl, da sind wir uns einig -, es wird gefordert, dass wir modernes Umweltmanagement betreiben, indem wir weniger unklare Ziele setzen und genaue Instrumente vorschreiben, sondern umgekehrt klare Umwelthandlungsziele festlegen und Flexibilität bei den Instrumenten zulassen. Genau dies tun wir im Übrigen durch einen Antrag der beiden Regierungsfraktionen zum Thema Umweltcontrolling in Bundesbehörden. Wir fordern das Öko-Audit nicht nur von Betrieben ein, sondern fordern es jetzt für die gesamte Bundesregierung ein. ({6}) Das sind doch moderne Politikkonzepte, in denen Sie uns weit unterstützen sollten, wobei Sie erkennen müssen, dass genau dies in dem Sachverständigengutachten eingefordert wird, wenn Sie die Seiten, die zum Thema EMAS darin stehen, richtig würdigen. ({7}) Wenn ich mir die einzelnen Punkte genauer ansehe, möchte ich auch zum Thema „Abfallpolitik“ noch einiges sagen. Dazu hätte ich mehr erwartet, denn das, was das Sachverständigengutachten hier tut, ist im Wesentlichen eine Wiederholung der kritischen Punkte, die die Sachverständigen schon in mehreren Gutachten immer aufgelistet haben, ohne dass - nach meinem Empfinden - neuere Entwicklungen in der Abfallwirtschaft ausreichend berücksichtigt worden sind. So wird in diesem Gutachten zum Beispiel mehr Marktwirtschaft in der Abfallwirtschaft eingefordert, und es wird - wie ich finde, sehr naiv - gefragt, ob eigentlich Mehrwegsysteme heute noch geschützt werden müssen. Wir erleben doch gerade mit dem Unterschreiten der Quote und mit den Konsequenzen daraus, dass Mehrwegsysteme sehr wohl geschützt werden müssen. ({8}) - Ja, doch, dann müssen Sie einmal genau hineingucken, nicht nur in die Pressemitteilungen, Frau Kollegin Homburger. ({9}) Wenn man dort einmal hineinguckt, liest man, dass einige Punkte im Bereich der Abfallwirtschaft kritisch bewertet worden sind - zum Beispiel auch von uns damals noch aus der Opposition heraus, weil wir meinen, dass nicht die Forderung nach mehr Marktwirtschaft in der Abfallwirtschaft der entscheidende Punkt ist. Wir haben es doch heute mit der Situation zu tun: Der Abfall sucht sich den billigsten Weg -, und zwar ohne ökologische Standards. ({10}) Genau diese Dinge, für die es keine ökologischen Standards gibt, die vielen Billig-Deponien, die werden verfüllt. ({11}) Wir haben nicht mehr einen Müllnotstand, sondern wir erleben das Leerlaufen der hohen ökologischen Standards, die wir bei einigen Verbrennungsanlagen oder Deponien vorfinden. Das ist heute unser Problem. Vielleicht ist dies beim Sachverständigenrat für Umweltfragen noch nicht ausreichend angekommen. Für die kritischen Anmerkungen danke ich dem Sachverständigenrat ausdrücklich. Ich weiß, dass es nicht immer einfach ist, ein solches Gutachten zu erstellen. Mit den Punkten, zu denen Ideen und Wegweisungen gegeben werden, werden wir uns - seriöser, als es in einer Aktuellen Stunde möglich ist - im Ausschuss und natürlich auch in den Fraktionen auseinander setzen. Für uns ist dieses Gutachten Auftrag und Wegweisung zugleich. Ich finde, wir sollten Ihre Polemik nicht zum Anlass nehmen, das Gutachten wegzulegen, sondern wir werden es studieren ({12}) und es dort, wo wir die richtige Richtung sehen, Stück für Stück umsetzen. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Paziorek für die Fraktion der CDU/CSU.

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach Einschätzung des Sachverständigenrates für Umweltfragen ist die Umweltpolitik der rot-grünen Bundesregierung bislang als völlig unzureichend anzusehen. So erklärte der Sachverständigenrat, dass durch die Konzentration auf den Atomausstieg und die Ökosteuer leider andere wichtige Themen in der Umweltpolitik zurückgedrängt worden seien. Am 12. Dezember 1996 sagte die damalige umweltpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Frau Hustedt: ({0}) Es ist abgrundtief falsch, sich nur auf die Lösung eines Problemfeldes oder auch zweier zu konzentrieren, so wie es zur Zeit die Bundesregierung tut, die anderen dabei aber zu vernachlässigen. Damals war die Aussage von Frau Hustedt sicherlich falsch. Aber sie hatte wohl nicht vorhergesehen, dass sie damit ganz treffend die Problemlage der heutigen rotgrünen Umweltpolitik beschrieben hat. Für ihre hellseherischen Fähigkeiten kann man ihr nur ein Kompliment aussprechen. ({1}) Anders ausgedrückt: Von den vielen Versprechungen aus der Oppositionszeit ist bei der rot-grünen Umweltpolitik nicht viel übrig geblieben. Was haben Sie in den damaligen Legislaturperioden nicht alles angemahnt? So hat zum Beispiel Frau Hustedt am 29. Mai 1998, ebenfalls im Plenum, erklärt, um nur einige Beispiele zu nennen: Wir wollen ein Altbausanierungsprogramm für die Umwelt und für die Bauwirtschaft. Wir wollen eine Sommersmogverordnung ... Wir wollen einen nationalen Umweltplan ... Nichts ist bis jetzt daraus geworden. Sie haben vieles angekündigt, aber Sie haben tatsächlich kaum etwas angepackt, kaum etwas auf den Weg gebracht und kaum etwas in der Umweltpolitik einer Lösung näher gebracht. Wenn Sie, Herr Minister Trittin, sich nur hier hinstellen und sagen, was die jetzige Bundesregierung bisher im Bodenschutz getan hat, kann ich nur darauf verweisen - ich habe die Diskussion hier im Bundestag ja, im Gegensatz zu Ihnen, seit 1990 verfolgt -: Das erste Bodenschutzgesetz ist von der CDU/CSU/ - F.D.P. - Regierung, auch unter Mitwirkung von Frau Homburger, auf den Weg gebracht worden. ({2}) Die ganze Diskussion in Sachen Ausgleichsregelung bei neuen Bauvorhaben in Bauplangebieten haben wir von der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung auf den Weg gebracht, gegen den massiven Widerstand zum Beispiel von sozialdemokratisch bestimmten kommunalen Spitzenverbänden, die diese Regelung nicht wollten. Wenn Sie sich jetzt hier hinstellen und fragen, was wir in den Ländern, in denen wir das Sagen haben, hinsichtlich FFH auf den Weg gebracht haben, muss ich entgegnen: Die FFH-Richtlinie in Europa ist deshalb zustande gekommen, weil der damalige Bundesumweltminister Töpfer maßgeblich mit dafür gesorgt hat, dass es auf europäischer Ebene überhaupt eine FFH-Richtlinie gibt. ({3}) Sie versagen jetzt bei der Umsetzung dessen, was die damalige Regierung auf den Weg gebracht hat. ({4}) - Sie lachen gerade. Nehmen wir als Beispiel das Umweltgesetzbuch. Das Umweltgesetzbuch war im Referentenentwurf praktisch fast fertig. ({5}) Dann haben Sie festgestellt, dass das Umweltgesetzbuch aufgrund einer wasserrechtlichen Problematik nach der Rahmengesetzgebung des Grundgesetzes doch nicht Realität werden kann. Ich kann nur eines sagen: Sie haben gar nicht genügend Mühe und Kraft darauf verwandt, diese rechtliche Problematik zu diskutieren und daranzugehen, sondern Sie haben dies als Vorwand benutzt, das Umweltgesetzbuch erst einmal in die Schublade zu legen. ({6}) Warum wird Umweltpolitik bei dieser Regierung nicht erfolgreich betrieben? Die Antwort ist ziemlich klar: Sie wird deshalb nicht erfolgreich betrieben, weil niemand von den Spitzenleuten, egal ob es Herr Fischer oder Herr Trittin von den Grünen oder der parteilose Wirtschaftsminister Müller ist, ernsthaft und konsequent Umweltpolitik betreiben will. Der umweltpolitische Sprecher der Grünen, Herr Loske, hat Recht, wenn er sagt: Für unsere Spitzenleute ist die Umweltpolitik leider keine Herzensangelegenheit mehr. - Das ist der wahre Grund, warum es in der Umweltpolitik so nicht weitergeht. ({7}) Dann haben Sie, Herr Trittin, bei Ihren Ausführungen gerade gesagt: Der Umweltrat warnt davor, zu dem zurückzukehren, was vorher in der Umweltpolitik gelaufen ist. - Ich weiß gar nicht, wie Sie zu dieser Aussage kommen. Schauen Sie sich nur einmal Seite 5 der Kurzfassung dieses Gutachtens an. ({8}) - Diese Stelle liegt mir gerade vor. Ob Sie sie gehabt hätten, ist fraglich, Frau Caspers-Merk. Ich zitiere: Insgesamt sollte - auch um weitere Zeitverzögerungen zu vermeiden - an den Schritteprozess der bisherigen Bundesregierung angeknüpft und die hier angelegte Möglichkeit der Entwicklung einer parteiübergreifenden Nachhaltigkeitsstrategie ausgelotet werden. Der Sachverständigenrat fordert Sie also ausdrücklich dazu auf, zur entsprechenden Methodik der früheren Bundesregierung zurückzukehren. Sie aber stellen sich hier hin und warnen geradezu davor, Instrumente der alten Bundesregierung aufzugreifen. ({9}) Zu einer weiteren in diesem Bericht gemachten Äußerung: Das Umweltindikatorsystem, das von Frau Merkel entwickelt worden ist, ist ausdrücklich gelobt worden. Man hat die Empfehlung ausgesprochen, darauf zurückzugreifen. Frau Mehl aber erklärt, es gebe deshalb eine Beunruhigung an der Umweltfront, weil vieles vorher unerledigt geblieben ist. Liebe Frau Mehl, der Sachverständigenrat sieht das genauso wie wir. Die Umweltpolitik hat heute einen aus unserer Sicht leider - so muss man feststellen - nicht sehr hohen Stellenwert, weil in vielen dramatischen Bereichen Entwarnungen - dieses Wort gebraucht der Umweltrat - ausgesprochen worden sind. Denn viele Probleme in der Umweltpolitik sind gelöst worden. Wodurch denn? Durch die Aktivitäten der von CDU/CSU und F.D.P. geführten Bundesregierung. ({10}) Der Umweltrat hat Recht. Denn er erklärt, dass vieles, was in der Umweltpolitik zu einer Effektivitätssteigerung führen kann, von der jetzigen Regierung bisher nicht aufgegriffen worden ist. Sie haben zu diesen Fragen kein Konzept vorgelegt. Sie haben keine realistische Prioritätensetzung vorgenommen. Sie haben in vielen konzeptionellen langfristigen Umweltfragen eindeutig versagt. Die kritische Bewertung ist zu Recht erfolgt. Machen Sie endlich eine gute und damit in sich schlüssige Umweltpolitik! ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun der Kollege Winfried Hermann. ({0})

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Damen und Herren von der Opposition, nach dieser Debatte bin auch ich versucht, polemisch noch eins draufzusetzen. Das sage ich Ihnen ganz offen. ({0}) Ich glaube aber nicht, dass wir auf dieses Gutachten und die damit zusammenhängende Problematik angemessen reagieren, wenn wir weiter polemisieren. Ich möchte einen Punkt von Herrn Paziorek aufgreifen. Er hat kritisiert, dass meine Fraktion und auch die Spitzen der Grünen heute nicht in genügender Zahl vertreten sind. Sie haben vollkommen Recht. Auch mich ärgert das. ({1}) Ich würde aber auch gerne den Fraktionsvorsitzenden der SPD, den Fraktionsvorsitzenden der PDS und den Hoffnungsträger der CDU, Herrn Merz, ({2}) Frau Merkel, die ehemalige Umweltministerin, und andere begrüßen. ({3}) - Natürlich auch Herrn Gerhardt. Warum sage ich das so deutlich, dass Sie lachen müssen? Wir haben in der Umweltpolitik ein gemeinsames Problem, nämlich das Problem, dass wir zwar untereinander sozusagen streiten und jeder von uns noch bessere ökologische Vorschläge hat, dass aber bereits jeweils in unseren Fraktionen die Probleme und Schwierigkeiten beginnen, sich durchzusetzen. Das gilt übrigens sowohl für die vergangene als auch für die jetzige Regierungspolitik. ({4}) Insofern haben wir keinen Grund, Kritik nicht ernst zu nehmen, und niemand hat einen Grund, sich hier selbstgerecht hinzustellen, wie Sie das getan haben. Wenn man das Umweltgutachten richtig liest, und nicht nur die Überschriften und das Vorwort, dann muss man feststellen, dass es eine sehr differenzierte Beschreibung der Umweltsituation in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa ist. Es ist eine differenzierte Beschreibung der Probleme sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene und auf kommunaler Ebene. Es ist kein Gutachten, das sich nur an die Bundesregierung richtet nach dem Motto: Wir kritisieren einmal die Bundesregierung. Es ist vielmehr eine ausgesprochen kritische Auseinandersetzung mit der Umweltsituation und der Umweltpolitik auf allen Ebenen Deutschlands und Europas. Insofern sind wir alle Adressaten dieser kritischen Auseinandersetzung. ({5}) Ich möchte Ihre Kritik und auch die des Gutachtens an einigen Punkten aufgreifen; man kann dies ja nur in aller Kürze tun. Hinsichtlich der Nachhaltigkeitsstrategie gebe ich Ihnen Recht. In dem Gutachten steht, wir seien inzwischen von einem Vorläuferland in den 70er-Jahren - so ist dort übrigens zu lesen - in den frühen 90er-Jahren zu Nachzüglern geworden. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich selber wäre heute gerne weiter. Aber Sie können sich nicht hier hinstellen und sagen, dass Sie etwas geleistet haben. ({6}) Denn das Schritteprogramm von Umweltministerin Merkel ist rechtzeitig in der Schublade versenkt worden. Sie haben nicht den Mut gehabt, daraus eine Strategie zu entwickeln. ({7}) Das ist doch der Punkt: Immer dann, wenn es konkret werden sollte, hatten auch Sie Ihre Schwierigkeiten. Übrigens wird ausdrücklich erwähnt, wie man sich die nationale Nachhaltigkeitsstrategie vorzustellen hat. Wenn Sie sich einmal unseren Antrag anschauen - dem haben Sie übrigens zugestimmt -, dann werden Sie feststellen, dass auch wir das in vielen Punkten tun: Zielorientierung, Konzentration, Angabe klarer Schritte. Ich habe in der Debatte deutlich gemacht, dass wir das Schriftkonzept von Ihnen und Angela Merkel mit aufnehmen werden; denn wir fangen nicht bei Null an. Also bitte, wir haben bereits kritische Punkte aufgenommen. Zum nationalen Nachhaltigkeitsrat: Hier wird eine plurale Zusammensetzung aus den Kräften der Gesellschaft vorgeschlagen. Genau das ist es, was wir vorschlagen und in den nächsten Wochen durch Berufungen auch klarstellen werden. Nächster Punkt: Umweltgesetzbuch. Sie haben es angesprochen, Herr Paziorek. Auch hier finde ich keinen Grund zur Selbstgerechtigkeit. Natürlich ärgert es mich ungeheuer, dass wir dieses Projekt, das wir als großes Modernisierungsprojekt angesehen haben, nicht vorangebracht haben. Aber dasselbe Problem hatten Sie als Umweltpolitiker. Frau Merkel hatte einen Entwurf, der wieder um rechtzeitig in der Schublade, in der Versenkung verschwand, der nicht an die Öffentlichkeit kam. ({8}) Wir haben erneut einen Entwurf erarbeitet. Er geriet in die Kritik; es gab verfassungsrechtliche Bedenken und Bedenken seitens der Länder. Ich habe mit Herrn Grill - er ist jetzt nicht da - ganz offen darüber geredet: Wenn man in Deutschland kein Umweltgesetzbuch erarbeiten kann, weil Länderkompetenzen berührt werden und die Länder mit einer verfassungsmäßigen Einschränkung ihrer Kompetenzen nicht einverstanden sind und deshalb drohen, ({9}) dann muss es eine Allparteienkoalition geben, dann müssen Bund und Länder gemeinsam dieses große Modernisierungsvorhaben durchsetzen. Das ist uns nicht gelungen. Übrigens hat mir Herr Grill ganz deutlich gesagt: Unsere Leute in den Ländern sind dagegen. Es ist auch nicht so, als seien bei uns alle von der Idee eines Umweltgesetzbuches begeistert. ({10}) Also auch hier haben wir das Problem, mit den Mitteln, die wir haben, komplexe Gesetzgebungsprozesse wie etwa ein Umweltgesetzbuch nur sehr schlecht umsetzen zu können. Es gibt noch einige andere Punkte, wo die kritischen Anmerkungen der Gutachter, wie ich glaube, wirklich angemessen sind. Aber im Grunde genommen treffen sie alle, die in diesem Bereich Verantwortung tragen. Alle sollten sich aufgefordert fühlen, daraus mehr und Besseres zu machen. Ich sage Ihnen zum Schluss eines: Für mich ist eine solche kritische Schrift eine Ermutigung, hart und geduldig weiterzukämpfen und dort, wo wir gemeinsam etwas machen müssten, weiter nach einem Konsens zu suchen, Ihnen aber auch zu sagen, dass Sie nicht viel dazu beitragen, in diesem Bereich voranzukommen. Sie haben heute nur Ihre alten Platten aufgelegt, die Sie schon seit einem Jahr spielen. Sie haben sich aber nicht mit diesem Gutachten auseinander gesetzt. Ich hoffe, dass wir darüber im Ausschuss eine kritische Debatte führen können, und danke den Gutachtern für diesen kritischen Anstoß. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht die Kollegin Vera Lengsfeld.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Trittin, Sie hatten anderthalb Jahre Zeit, zu beweisen, dass Sie Umweltpolitik besser machen können als die von Ihnen viel geschmähte Kohl-Regierung. Worin Sie allerdings am erfolgreichsten waren, war, den Eindruck zu erwecken, als würden die Grünen in ihrem krampfhaften Versuch, ihrer Ein-Punkt-Kompetenz zu entkommen, die Zwischenbilanz ihrer Umweltpolitik am liebsten verstecken, weil sie ihnen peinlich ist. Hauptsächlich ging es der Koalition um die Frage - damit hat sie sich medienwirksam gequält -, ob die Atomkraftwerke nun früher oder später abgeschaltet werden - als ob das der ganze Inhalt der Umweltpolitik wäre. In der Schule hieße es: Thema verfehlt - fünf! ({0}) Ähnlich ist es beim Gutachten des Umweltsachverständigenrates. Herr Kollege Loske, Sie haben vorhin gesagt, wir hätten dieses Gutachten nicht gelesen. Sie können ganz sicher sein, dass wir lesen können und das Gutachten auch gelesen haben. ({1}) Wenn ich allerdings die Redner der Koalition so höre, dann frage ich mich manchmal, ob wir eigentlich das gleiche Gutachten gelesen haben. ({2}) Ich lese aus diesem Gutachten etwas ganz anderes heraus. Nehmen wir einmal das Thema Ökosteuer. In dem Gutachten steht - das hat der Umweltrat so formuliert -: Welche Beanspruchung der Umwelt durch das Gesetz in erster Linie vermieden werden soll, ist völlig unklar. Zur Reduktion von Treibhausemissionen, insbesondere CO2-Emissionen, wären der Ökosteuer andere Optionen vorzuziehen. Der Umweltrat hat zwei Optionen aufgeführt: die CO2-Lizenzen und die emissionsbezogene Energiesteuer. ({3}) Er hat dann eine verheerende Bilanz gezogen: Die Stromsteuer der Bundesregierung belastet die Wirtschaft und die Haushalte unnötig und sorgt für zusätzliche Kosten durch die Notwendigkeit kompensierender Förderprogramme für erneuerbare Energien und KraftWärme-Koppelung. Dies heißt: Die Ökosteuer ist keine Ökosteuer. Auch sonst haben Sie es natürlich schwer, denn die umweltpolitische Bilanz der Regierung Kohl war hervorragend. Wir haben vorhin schon über die Luft- und Wasserreinheitswerte geredet. ({4}) - Herr Loske, das muss ich Ihnen doch nun wirklich nicht sagen. Unsere Oberflächengewässer sind inzwischen schon so sauber, (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Waren es CDU-OberflächenGewässer? dass es zu einem Schwund der Arten kommt, die auf eine gewisse Trübung und einen gewissen Nährstoffreichtum angewiesen sind. Das sind Tatsachen. Wir haben auch die höchste Reaktorsicherheit der Welt. Die Regierung weiß, dass sie auf diesen Gebieten nichts verbessern kann und will deshalb aussteigen. Also bleiben an Themen für die Umweltpolitik eigentlich nur die Artenerhaltung, der Naturschutz sowie das große Problem der Landwirtschaft und des Verkehrs als Verursacher der größten Beeinträchtigung der Umwelt. Hierzu allerdings ist die Bilanz Ihrer Regierungstätigkeit, Herr Minister Trittin, sehr mager. Sie haben bisher nicht einmal im Ansatz erkennen lassen, dass Sie sich der politischen Dimension des Artenschutzes auch nur annähernd bewusst sind. Ein Atomkraftwerk hört irgendwann auf zu strahlen, aber eine Art, die ausgestorben ist, ist samt ihrem genetischen Potenzial für immer verloren. ({5}) Stattdessen üben Sie sich lieber in überholten Glaubensbekenntnissen: Erstens. Gentechnik ist des Teufels, obwohl die Neukombination von Erbgut eines der Erfolgsrezepte der Natur ist. Zweitens. Atomkraft - nein danke. Wir lassen uns auch nicht davon verwirren, dass es inzwischen revolutionäre wissenschaftliche Erkenntnisse über neue Endlagermöglichkeiten gibt. ({6}) Drittens - Frau Caspers-Merk hat es vorhin wieder bestätigt - sagen Sie sogar: Einweggut ist schädlich, Mehrweggut ist umweltfreundlich, obwohl inzwischen sogar der NABU einräumt, dass dies so nicht stimmt. Aber Sie wollen an Ihrem Glauben festhalten und Quoten einführen, statt der Realität Rechnung zu tragen. ({7}) Der Mensch wird immer noch als Störfaktor für die Natur angesehen. Deshalb hat die Naturschutzpolitik der Regierung vor allen Dingen etwas mit gelben Verbotsschildern zu tun. Dass die Menschen dann Schutzgebiete nicht attraktiv finden, ist eine bedauerliche Folge dieser Politik. Meine Damen und Herren, die Regierung hat die positive wirtschaftliche Dimension der Umweltpolitik überhaupt nicht erkannt. ({8}) Sie versucht, den Markt zu knebeln, statt ihn seine Kräfte zum Wohle der Umwelt entfalten zu lassen. Der deutsche Umweltrat ist da viel weiter. Er hat die Chancen der Privatisierung für die Verbesserung der Umwelt erkannt. Er fordert zum Beispiel eine Privatisierung der Wasser- und Abwasserversorgung und sagt: Das könnte dazu führen, dass überfällige Investitionen in die Infrastruktur getätigt und dass deutsche Anbieter wettbewerbsfähig werden. Auch an die private Betreuung von Schutzgebieten sollte gedacht werden. Vorbild ist hier die USA, wo „wildlife-related activities“ längst ein Wirtschaftsfaktor und Nationalparks Katalysatoren für die Entwicklung ganzer Regionen geworden sind. Aber die Bundesregierung hat nicht einmal ansatzweise versucht, entsprechende Strategien zu entwickeln. Stattdessen gibt es eine ganze Menge umweltschädigender Subventionen; auch unter Ihnen als Umweltminister. Uneffektive kommunale Trink- und Abwasserverbände werden alimentiert. Der Umweltrat empfiehlt, das abzuschaffen. Der Preis für Fischfilets beruht zu einem Drittel auf Steuern. Mit staatlichen Subventionen werden tierquälerische Produktionsfirmen in der Landwirtschaft am Laufen gehalten und unsere Umwelt mit Herbiziden und Pestiziden belastet. Allen vollmundigen Ankündigungen in den langen Oppositionsjahren zum Trotz hat die rot-grüne Regierung nicht erkennen lassen, dass sie einen Ausweg aus dieser umweltpolitischen Sackgasse sucht.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss!

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wer die Umwelt nachhaltig schützen will, kommt um den Abbau von umweltschädigenden Subventionen nicht herum. Was hat denn Ihr Herr Funke kürzlich gemacht? Das Gegenteil davon. Jeder Grüne wusste, als er noch nicht in Regierungsverantwortung war, was „perverse subsidies“ sind. Heute muss der Umweltrat Sie auffordern, umweltschädigende Subventionen abzubauen. Ich frage mich, ob das nicht ein Zeichen von „reverse politics“ ist.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Lengsfeld, ich muss Sie jetzt doch bitten.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gleich, sofort. Ich bin sofort fertig.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nein, Sie haben lange genug gesprochen. Ich muss Sie jetzt doch bitten, zum Schluss zu kommen.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte noch einen Punkt zum Schluss anbringen. Ein Blick über die Grenze würde ab und zu gut tun. Ich meine in diesem Falle den Blick nach Österreich. Österreich hat die höchste Biobauerndichte Europas. Da könnte es nicht schaden, einmal hinzufahren und nachzufragen, wie Österreich dazu gekommen ist. Dass man dabei einen FPÖ-Landwirtschaftsminister fragen muss, sollte einen extremismuserfahrenen Umweltminister nicht abschrecken; ({0}) denn er hat ja genügend Erfahrungen auf der Seite der Linken.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Lengsfeld, ich muss Sie wirklich bitten. Kommen Sie jetzt bitte zum Schluss! Ich kann Ihnen jetzt keine weitere Redezeit geben.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Okay, ich bin beim letzten Satz.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nein, bitte!

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Tut mir Leid. Der letzte Satz wäre der beste. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich will an alle Fraktionen sagen, dass bisher alle Redner in der Aktuellen Stunde überzogen haben. Wir haben das großzügigerweise auch zugelassen. Aber irgendwo ist die Grenze. Deswegen bitte ich um Verständnis, dass man irgendwann eingreifen muss. Wir haben eine Aktuelle Stunde und noch drei Redner. Diese sollen nicht darunter leiden, dass ich jetzt eingegriffen habe. Aber im Wesentlichen möge man sich an die Redezeiten halten! Frau Kollegin Monika Ganseforth spricht jetzt für die SPD-Fraktion.

Prof. Monika Ganseforth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Schritte ins nächste Jahrtausend“ heißt das Gutachten des Sachverständigenrates, über das wir heute debattieren. Die Empfehlungen richten sich eindeutig an Regierung und Parlament. Deswegen ist es richtig, dass wir uns damit befassen, und zwar gründlich. Die Tatsache, dass die CDU/CSU eine Aktuelle Stunde dazu beantragt hat, scheint mir aber aus anderen Gründen zu resultieren. Es geschieht nicht, weil sie sich damit gründlich befassen will oder weil wir das diskutieren wollen. Das Gutachten ist noch nicht einmal eine Woche alt. Ich habe es nur geschafft, die Kurzfassung zu lesen, und diese ist schon 150 Seiten stark. Ich habe den Eindruck, dass viele von Ihnen nur die Presseerklärung gelesen haben, und die noch nicht einmal richtig. ({0}) Für eine gründliche Befassung mit einem so umfangreichen Werk braucht man ein bisschen mehr Zeit als eine halbe Woche. Ich hoffe, wir werden noch dazu kommen. Aber Sie haben vielleicht gute Gründe, sich hinter einem solchen Gutachten zu verstecken, anstatt sich mit Ihren eigenen Konzepten - die es immer noch nicht gibt - auseinander zu setzen. Ich möchte etwas zu einem Schwerpunktthema des Gutachtens sagen, nämlich zu den energiewirtschaftlichen Fragen. Diese nehmen einen großen Raum ein. Deswegen möchte ich mich sehr wohl mit den Empfehlungen auseinander setzen, aber nicht mehr mit der Ökosteuer. Das hieße nur, Schlachten von gestern zu schlagen. Wir erwarten von den Sachverständigen, dass sie wie heißt es so schön - „Schritte ins nächste Jahrtausend“ weisen und nicht die verlorenen Schlachten von gestern schlagen. Die Argumente dazu sind widerlegt worden; das muss nicht wiederholt werden. Der Sachverständigenrat spricht sich wie eh und je ich finde, manchmal etwas zu euphorisch - für die Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte aus. Das ist ja Ihr Erbe. Er weist auf das „ungelöste Problem einer ausreichenden umweltpolitischen Flankierung der liberalisierungsbedingt sinkenden Preise“ hin. Er spricht also davon, dass die sinkenden Preise insofern ein ungelöstes Problem sind, als sie sich auf die erneuerbaren Energien und die Kraft-Wärme-Kopplung negativ auswirken. Er sagt, die im Energiewirtschaftsrecht vorhandenen Möglichkeiten zum Schutz und zur Förderung dieser Energieformen seien „kein taugliches Instrument“. Ich finde, hier wird sehr deutlich, dass man vorher hätte überlegen müssen, ehe man so ein gravierendes Instrument etwas leichtfertig - ohne die Folgen zu bedenken - auf den Markt bringt. Der Sachverständigenrat sagt ganz eindeutig, dass wir hier noch ganz am Anfang stehen. Wir schlagen uns jetzt mit diesen Altlasten herum. Sie wissen, dass wir in fast jeder Woche damit zu tun haben, wie man diese schädlichen Nebenwirkungen in den Griff bekommen kann, die wir von Ihnen, vor allen Dingen der F.D.P., aber auch der CDU/CSU, und Ihrer Gesetzgebung, geerbt haben. Der Umweltrat ist mit uns der Ansicht, dass die Kraft-Wärme-Kopplung bei der rationellen Energienutzung eine besondere Rolle spielen muss. Er kritisiert, dass die Kraft-Wärme-Kopplung bisher diskriminiert worden ist - das bezieht sich auf Ihre Regierungszeit -, sodass sich nicht eine kleinräumige flächendeckende Versorgungsstruktur auf der Basis von BHKWs, also von Blockheizkraftwerken, aufbauen konnte. Wir werden das ändern und wir haben schon damit begonnen. Wir haben die Blockheizkraftwerke von der Ökosteuer ausgenommen. Das hat inzwischen Wirkung. Dies zeigt, dass flankierende Maßnahmen getroffen werden können. Das hätte früher passieren müssen. ({1}) Wir sind in der Kraft-Wärme-Kopplung beim Vorschaltgesetz. Das wissen Sie. Im Übrigen teilen wir die Ansicht des Umweltrates, dass durch Quoten der Marktzugang für die Kraft-Wärme-Kopplung geöffnet und deren Nutzung so ausgebaut werden muss. Dass der Umweltrat klipp und klar ausführt, dass eine Atomenergienutzung nicht verantwortbar ist und dass die Bundesregierung mit ihrem Konzept auf dem richtigen Wege ist, ist hier schon gesagt worden. Zu einem der Instrumente, die in Ihrer Regierungszeit im Zusammenhang mit dem Klimaschutz das Heil sein sollten, nämlich die Selbstverpflichtung, hätte das Urteil nicht vernichtender ausfallen können. Aber auch hier ist es so: Wir werden nicht die Schlachten der Vergangenheit schlagen, sondern auf dem Vorhandenen aufbauen. Aber das Instrument der Selbstverpflichtung ist ungeeignet - darauf weist der Umweltrat hin -, vor allen Dingen weil Sie nur spezifische und keine absoluten Reduktionsziele eingegangen sind. Was der Sachverständigenrat zur Energieeinsparverordnung sagt, ist nur richtig. Er ist gegen das vereinfachte Verfahren für kleine Wohngebäude. Er spricht sich mit Recht gegen die Bevorzugung elektrischer Wärmebereitstellung aus, weil sie hinsichtlich der Primärenergie und ökologisch unsinnig ist. Und er fordert, dass für den Gebäudebestand Instrumente wie Energiebedarfsausweis und Heizkostenspiegel eingeführt werden. Auch das sind alles Altlasten, mit denen wir uns herumzuschlagen haben. Zu den erneuerbaren Energien führt der Sachverständigenrat interessanterweise aus, dass es nicht richtig ist, immer nur die Nachteile zu diskutieren, zum Beispiel bei der Windenergie die Auswirkungen auf die angebliche Störung des Landschaftsbildes, den Düngemitteleinsatz bei Biogas oder den Abfall bei der Photovoltaik. Vielmehr seien bei den anderen Energieformen die Auswirkungen wesentlich gravierender und spielten in der öffentlichen Diskussion, aber auch in der Politik eine viel zu geringe Rolle. Was die erneuerbaren Energien anbelangt, haben wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das 100 000-DächerPhotovoltaik-Programm und das Markteinführungsprogramm auf den Weg gebracht. Hier sind wir also auf dem Weg, der vom Umweltrat vorgeschlagen wird. Hier blinkt die Lampe, die das Ende meiner Redezeit signalisiert. Ich will nicht das nachmachen, was meine Vorgängerin gemacht hat. Deswegen werde ich zum Schluss kommen. Ich hoffe, dass wir noch eine gründliche Diskussion der umfangreichen Empfehlungen führen werden, die ein bisschen mehr Substanz als das hat, was heute nach der kurzen Zeit besprochen werden konnte. Schönen Dank. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Kurt-Dieter Grill.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will noch einmal auf Folgendes hinweisen, verehrte Frau Caspers-Merk: Die Tatsache, dass wir die Kritik des Sachverständigenrates aufgreifen und sie auch in der Öffentlichkeit so diskutiert und dargestellt worden ist, wie Sie es hier beklagt haben, hängt nicht damit zusammen, dass der Sachverständigenrat für Umweltfragen einen Vergleich zwischen der alten und der neuen Regierung vorgenommen hat. Ich nehme vielmehr das auf, was Christian Ruck gesagt hat: Die Differenz zwischen dem Anspruch, den Sie vor dem Regierungswechsel auf dem Feld der Umweltpolitik gestellt haben, und der Wirklichkeit einer rot-grünen Umweltpolitik beschreibt das Versagen. Das heißt, Sie sind an Ihren eigenen Ansprüchen gescheitert. Weil es in der Umweltpolitik nicht nur um Geld oder um technische oder um sonstige Lösungen geht, kann ich Ihnen nur raten: Sie sollten auch immer einkalkulieren - das kann man an den 16 Jahren der CDU/CSUF.D.P.-Koalition hervorragend beweisen -, dass der Faktor Zeit für den Wandel eine unabdingbare Voraussetzung ist. Das würden wir Ihnen ja sogar zugestehen, wenn Sie nicht so täten, als könne man das alles in einem Jahr verändern. Insofern ist es immer auch eine Frage, unter welchen zeitlichen Perspektiven wir diskutieren. Wenn heute verschiedene Redner der Koalition meinten, sie müssten noch einmal behaupten, dass in 16 Jahren nichts passiert ist, dann will ich Ihnen nur sagen: Ein Stück der Existenz der Grünen hängt auch damit zusammen, dass es bis zu Beginn der 80er-Jahre und bis zum Regierungswechsel am Ende der sozialliberalen Koalition - die F.D.P. könnte da vielleicht beredter als die CDU/CSU Zeugnis ablegen - eine Blockade von Sozialdemokraten und DGB gab, nach dem Motto: Umweltpolitik vernichtet Arbeitsplätze. Am Ende der Regierungszeit von Helmut Kohl waren wir Weltmeister im Export von Umwelttechnologien. Das ist doch nicht ein Ergebnis, das die Wirtschaft selber produziert hat, sondern das ist eine Folge der Herausforderungen von Umweltpolitik an die Wirtschaft, die sie dann an den Stellen, an denen technische Lösungen erforderlich waren, auf diese Weise gemeistert hat. ({0}) Nur so konnte die global akzeptierte Leistung der Führerschaft - der einzigen übrigens - im Bereich der Umwelttechniken entstehen. Ich brauche ja nur einmal in Ihre Papiere zu schauen; dann weiß ich, dass Sie das Problem viel differenzierter angehen, als Sie das hier am Podium darstellen. Ich nehme einmal Bezug auf den Kollegen Loske, der ja selber gesagt hat, dass akute Umweltprobleme wie die Luft- und Wasserverschmutzung nicht mehr so gravierend sind. Ja, meine Damen und Herren, das lag an der Tatsache, dass 1983 nach dem Regierungswechsel kein anderer als Herr Zimmermann, der nun wirklich nicht originär vom Stamme der Umweltpolitiker war, innerhalb von wenigen Monaten die TA Luft, den Katalysator und viele andere Dinge mehr umgesetzt hat. Herr Loske, es kann doch wohl nicht wahr sein, dass Sie sich hier hinstellen und sagen, im Oktober 1999 war die Kritik des Sachverständigenrates noch richtig, und im März 2000 ist das alles erledigt. ({1}) Im Übrigen, Herr Loske, würde ich Ihnen dringend etwas mehr Bescheidenheit empfehlen. Es fällt mir auf, dass Sie in jeder Debatte in einer geradezu banalen, aber auch nicht mehr akzeptablen Art Wissenschaftler kritisieren, die anderer Meinung sind als Sie. Das unterscheidet den Umweltminister, wenn er es vielleicht auch nur aus taktischen Gründen gesagt hat, sehr deutlich von Ihnen. Sie sollten sich etwas mehr Bescheidenheit angewöhnen, denn die alten Herren, die Sie hier am Schluss so polemisch kritisieren zu müssen glaubten, gehören zu der Garde der Leute, die für die Umweltpolitik in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Entwicklung, auch wenn man nicht alle ihre Wünsche erfüllt hat, einen unschätzbaren Dienst geleistet haben. (Birgit Homburger [F.D.P.]: Einen größeren Dienst als die Grünen! Deswegen ist das vollkommen unangemessen. ({2}) Und ein Letztes, Herr Trittin, da Sie heute hier sozusagen die Wettbewerbsphilosophie der Union kritisiert haben: Ich muss doch davon ausgehen, dass Sie als Bundesumweltminister es waren, der im Kabinett in der Antwort auf die Große Anfrage zur Energiepolitik dargestellt hat: Die Bundesregierung ist für einen Wettbewerb in der Energie, sie ist für Staatsferne und sie ist für subventionsfreie Energie. Unsere Kritik setzt doch da an, dass Sie die Spielräume, die wir mit der Energiepolitik, mit der Liberalisierung, mit den Standortvorteilen geschaffen haben, durch Stromsteuer und zusätzliche Subventionen „verfrühstücken“ und sich für Ihre Politik zunutze machen, anstatt sie bei den Verbrauchern zu lassen. Das ist auch genau die Kritik, die der Sachverständigenrat übt. ({3}) Sie müssen versuchen, einen Teil Ihrer Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Ich kann nur sagen: Wer in Deutschland so über den Ausstieg aus der Kernenergie diskutiert und gleichzeitig in China neue Kernkraftwerke baut, der sollte sich an diesem Pult etwas bescheidener gerieren. ({4}) Wenn Sie der Meinung sind, dass ich ein Ökologe sei, bei dem das Schwarze durchschimmere, dann sage ich Ihnen, Herr Trittin: Die Konservativen sind der Ursprung der Umweltpolitik. ({5}) Leute wie Sie, die vom linken und sozialistischen Flügel stammen, haben die Umweltpolitik eher als Vehikel zur Macht denn aus Überzeugung eingesetzt. Das ist der zentrale Punkt, warum Sie als Umweltpolitiker scheitern werden: ({6}) nicht deshalb, weil mir das Schwarze nicht gut zu Gesichte steht, sondern deshalb, weil Ihnen das Grüne der Umweltpolitik so schlecht zu Gesichte steht. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde spricht nun für die SPDFraktion der Kollege Michael Müller.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nicht das erste Mal, dass wir im Plenum über Jahresberichte des Sachverständigenrates diskutieren. Ich kann mich an keinen Bericht erinnern, in dem nicht die Bundesregierung kritisiert worden ist. Ich halte es für legitim und sogar notwendig, dass ein solches Gremium Anstöße gibt und Kritik übt. Es ist auch legitim, diese Kritik zu bewerten und aufzugreifen. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass diejenigen, die diese Kritik aufnehmen, auch die Meinung des Sachverständigenrats vertreten. Das ist der eigentlich entscheidende Punkt. Ich möchte das an drei Punkten deutlich machen: Herr Ewers, der Mitglied des Sachverständigenrates ist, vertritt beispielsweise die Auffassung, dass sich der Preis pro Liter Mineralöl auf 4,50 DM bis 5 DM durch eine entsprechende Besteuerung einpendeln soll. Mir ist nicht bekannt, dass irgendjemand von der heutigen Opposition je eine solche Forderung erhoben hat - oder etwa doch? -, im Gegenteil! Das ist der entscheidende Punkt. Herr Ewers, der das entsprechende Kapitel der ökologischen Steuerreform nachdrücklich geprägt hat, hat in der Vergangenheit im Rahmen der Diskussion über die Ökosteuer immer wieder einen solchen Preis für Mineralöl verlangt. Ich bitte Sie darum, ehrlich zu sein. Ein weiteres Beispiel. Der Sachverständigenrat plädiert in seinem Gutachten für höhere Strompreise. Herr Grill hat soeben genau das Gegenteil vertreten. Er hat gefordert, man müsse die Strompreissenkungen nutzen, die sich durch die Liberalisierung ergeben haben. Aber wofür sollen sie genutzt werden? Sollen sie etwa beibehalten werden? Wir haben diese Senkungen zum Teil genutzt, um die Ökosteuer durchzusetzen. Aber man kann nicht eine Kritik aufgreifen, gleichzeitig hinter der Kritik zurückbleiben und behaupten, das sei die Kritik an der Bundesregierung. Das passt doch überhaupt nicht zusammen. ({0}) Ich halte es für völlig legitim, die Kritik des Sachverständigenrates zu übernehmen. Aber zur Ehrlichkeit gehört auch dazu, dass man sich mit dieser Kritik auseinander setzt und eine eigene Position bestimmt. Das ist hier nicht erfolgt. Aus meiner Sicht ist ein Teil der Kritik des Gutachtens berechtigt. Zum großen Teil werden in ihm allerdings lange beklagte Altlasten im Umweltbereich aufgeführt, die zu unserem Bedauern nicht schneller abgearbeitet werden können. Zum Teil sind sie auch umstritten. Manches ist auch falsch. Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen, über das der Bundestag diskutiert hat, nämlich am Beispiel der emissionsbezogenen Besteuerung. Wir haben über sie in diesem Haus sehr intensiv im Zusammenhang mit Maßnahmen zum Klimaschutz diskutiert. Es war damals übereinstimmende Meinung - einschließlich der CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion -, dass eine emissionsbezogene Besteuerung des Energieverbrauchs nicht sinnvoll sei. Im Gegenteil: Wir alle haben damals übereinstimmend die These vertreten, es gehe vor allem um die Senkung des gesamten Energieverbrauchs und deshalb müsse der gesamte Energieverbrauch besteuert werden. Das war die übereinstimmende Position. ({1}) Ich halte das nach wie vor für eine richtige Position. Ich möchte dies an einem weiteren Punkt illustrieren: Nach meiner Meinung macht es keinen Sinn, ein Solarenergiehaus zu bauen, das schlecht gedämmt ist. Das würde nichts bringen. Man kann für emissionsbezogene Kriterien eintreten. Aber die Logik, die Besteuerung auf die Senkung des Energieverbrauchs auszurichten, ist auch legitim und vielleicht sogar die richtigere Strategie. Insofern sollten wir hier keine falschen Fronten aufbauen. ({2}) Hierüber gab es immer Streit. Zumindest damals - vielleicht ist dies heute nicht mehr der Fall - hat sich der Bundestag einmütig für eine andere Linie ausgesprochen. Sie können natürlich sagen: Der Sachverständigenrat kritisiert, dass die ökologische Steuerreform nicht den Lenkungseffekt hat, den sich vielleicht die einzelnen Mitglieder dieses Sachverständigenrates gewünscht hätten. Ich will jedoch darauf hinweisen, dass sich bei der Präsentation des Berichtes die Sachverständigen, die das vorgetragen haben, in ihren Aussagen zum Teil ganz schön widersprochen haben. So eindeutig ist deren Linie auch nicht. Aber auch bei diesem Ausgangspunkt muss man sagen: Die Opposition hat bei der Ökosteuer überhaupt nichts zuwege gebracht. Auf welcher Basis kritisieren Sie uns eigentlich? Soll uns das eine Hilfe sein? Wollen Sie, dass wir bei der nächsten Stufe der Ökosteuer noch sehr viel mutiger sind, und wollen Sie das Ganze unterstützen? Heißt das, Sie machen keine Kampagne mehr gegen die Ökosteuer? Dazu müssten Sie sich einmal äußern. Das ist doch völlig unklar, wenn man ehrlich ist. Was wir an Kritikpunkten deutlich sehen und wo wir nachbessern müssen, sind die Fragen betreffend Bodenschutz, Abfallpolitik, Altlasten, Naturschutz. Nur weise ich darauf hin: In der Vergangenheit hat die damalige Opposition immer die Bereitschaft geäußert, hier im Bundestag sehr viel weitergehende Positionen durchzusetzen. Sie waren es, die blockiert haben. Sie können sich jetzt nicht hier hinstellen und dies auch noch kritisieren. Das passt nicht zusammen. ({3}) Meine Damen und Herren, ich glaube, dass dieses Dokument eher der Nachläufer eines verlorenen Jahrzehnts ist. Eine in der Substanz schon die neue Regierung treffende Kritik sehe ich nicht. Ich sehe das aber sehr wohl als einen Hinweis und Ansatzpunkt dafür, dass wir unsere Anstrengungen verstärken. Ich glaube, das sollte unser aller Anliegen sein. Unter den Bedingungen der Globalisierung und, der Veränderung der Wirtschaftsstrukturen darf die Umwelt- und Naturschutzpolitik nicht auf ein Nebengleis gestellt werden. Wenn der Sachverständigenrat dazu einen Beitrag geleistet hat, dieses wieder stärker ins Zentrum zu rücken, dann danken wir ihm sehr dafür. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Damit ist die Aktu- elle Stunde beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. zu der Regierungserklärung des Bundeskanzlers zum bevorstehenden Europäischen Rat in Helsinki am 10./11. Dezember 1999 - Drucksachen 14/2279, 14/2757 Berichterstattung: Abgeordnete Gert Weisskirchen ({1}) Karl Lamers Ulrich Irmer Dr. Dietmar Bartsch b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der PDS zu der Regierungserklärung des Bundeskanzlers zum bevorstehenden Europäischen Rat in Helsinki am 10./11. Dezember 1999 - Drucksachen 14/2289, 14/2756 Berichterstattung: Abgeordnete Gert Weisskirchen ({3}) Karl Lamers Ulrich Irmer Dr. Dietmar Bartsch Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe zunächst dem Kollegen Rudolf Bindig für die Fraktion der SPD das Wort.

Rudolf Bindig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Im Zentrum dieser Debatte steht der Tschetschenienkonflikt. Ich möchte mich vor allem mit der humanitären Situation und der menschenrechtlichen Lage in der Krisenregion im Kaukasus und besonders in Tschetschenien befassen sowie mit einigen politischen Folgerungen, die daraus zu ziehen sind. Durch die heftigen Kämpfe, die in Tschetschenien, vor allem in Grosny, in einigen umliegenden Städten und den Dörfern der Bergregionen des Kaukasus stattgefunden haben und noch stattfinden, sind große Teile der Zivilbevölkerung Tschetscheniens in Not und Elend gekommen und als Flüchtlinge innerhalb Tschetscheniens und in die Nachbarrepubliken zerstreut worden. Grosny ist total zerstört, die Stadt ist ein Trümmerfeld. Als Mitglied einer Delegation der Parlamentarischen Versammlung des Europarates bin ich am vergangenen Wochenende an mehreren Stellen in Tschetschenien und auch in der Innenstadt von Grosny gewesen. Diese besteht nur noch aus Mauerresten, Ruinen, Schuttbergen und Geschosskratern. Nur wenige MilitärLKWs und Panzer fuhren durch diese Trümmerlandschaft. Die Innenstadt ist weitgehend menschenleer. Etwas außerhalb des Zentrums wurde aus Feldküchen heißes Essen an ältere Leute, Frauen und Kinder verteilt, die mit vielen Personen in den wenigen heil gebliebenen Kellern und Räumen hausen. Sie dürfen ihr jeweiliges Stadtviertel nicht verlassen. Etwa 12 000 bis 14 000 Menschen sollen sich unter diesen Bedingungen noch in Grosny aufhalten. Sammelpunkte für Flüchtlinge innerhalb Tschetscheniens gibt es in Sernovodsk, Argun und Gudermes. Es soll sich um etwa 100 000 Flüchtlinge handeln. Die Verantwortung für diese geschundene Bevölkerung fällt in den Aufgabenbereich des russischen Ministeriums für Notlagen, das sich um den Transport der vertriebenen Personen und die Versorgung der Flüchtlinge in den Lagern kümmern muss. Die Versorgung mit Nahrung, Unterkunft und medizinischer Hilfe für die innerhalb Tschetscheniens Vertriebenen ist extrem prekär. Hier muss der dringende Appell an die staatlichen russischen Organe gerichtet werden, ihre humanitäre Hilfe zu verstärken und internationale humanitäre Hilfe der dafür zuständigen UN-Organisationen und von erfahrenen Nichtregierungsorganisationen zuzulassen. ({0}) In einem von mir besuchten Krankenhaus in Argun waren Medikamente nur für absolute Notbehandlungen verfügbar. Jede weitere Medizin muss von den Kranken mitgebracht, das heißt zuvor auf lokalen Märkten gekauft werden, wozu die meisten Patienten nicht in der Lage sind. Da es grundsätzlich ein international verfügbares medizinisches Hilfspotenzial gibt, kommt es hauptsächlich auf die Erlaubnis durch die russischen Michael Müller ({1}) Behörden und natürlich auf die Sicherheitslage an, um auch vor Ort Hilfe für die Patienten erbringen zu können. Der Großteil der Flüchtlinge ist allerdings aus Tschetschenien in die Nachbarrepubliken Dagestan, Nordossetien und vor allem nach Inguschetien geflohen. Inguschetien unterhält traditionell vielfältige und gute Kontakte nach Tschetschenien. Der inguschetische Präsident Aushev nannte uns die Zahl von 210 000 Flüchtlingen, von denen circa 80 Prozent bei Verwandten oder Bekannten untergekommen sind. Die verbleibenden circa 42 000 leben in drei Flüchtlingslagern. Dort sind sie teils in Zelten, teils in Eisenbahnwaggons untergebracht. Mit Unterstützung internationaler humanitärer Hilfsorganisationen ist für registrierte Flüchtlinge die Grundversorgung mit Nahrung und Wasser sowie mit Unterkunft und Hygiene einigermaßen gesichert. Unter schwierigsten Bedingungen leben allerdings nicht registrierte Flüchtlinge. Auch für die von der lokalen Bevölkerung aufgenommenen Flüchtlinge gibt es keine oder nur unzureichende Unterstützung. Am bedrückendsten ist die Perspektivlosigkeit der Flüchtlinge, weil wegen der Zerstörungen eine Rückkehr nach Grosny auch mittelfristig unmöglich sein wird. Auch ist nicht erkennbar, dass die russischen Regierungsstellen Vorstellungen darüber haben, wie es mit den Flüchtlingen einmal weitergehen soll. Hier ist der dringende Appell an die russischen Regierungsstellen zu richten, in Zusammenarbeit mit den internationalen humanitären Hilfsorganisationen Konzepte nicht nur für eine kurzfristige Notversorgung zu erarbeiten, sondern auch eine mittelfristige Perspektive für den Verbleib und die Versorgung der Flüchtlinge und ihre gesicherte Rückkehr nach Tschetschenien aufzuzeigen. ({2}) Internationale Unterstützung kann und muss es geben. Die Hauptverantwortung aber liegt bei der Russischen Föderation, welche durch ihr gewaltsames Vorgehen in Tschetschenien, also gegen die eigene Bevölkerung, Verursacher der humanitären Katastrophe gewesen ist. Außer Frage steht allerdings auch, dass es nicht akzeptable Akte der Gewalt auch durch die tschetschenischen Kämpfer gegeben hat, zum Beispiel bei der Anwendung des Scharia-Rechtes, durch Geiselnahmen und durch den Einsatz von Zivilisten als menschliche Schutzschilder. Eng verknüpft mit der humanitären Notlage ist die menschenrechtliche Situation in der Krisenregion in und um Tschetschenien. Durch den unterschiedslosen und unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt leidet in besonderem Maße die Zivilbevölkerung. Das russische Militär hat dabei das humanitäre Kriegsvölkerrecht, wie es in den Zusatzprotokollen zum Genfer Rot-Kreuz-Abkommen niedergelegt ist, und die UN-Resolutionen zum Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten aufs Schwerste missachtet. Berichte über Gewalttaten an Zivilisten durch russisches Militär sind vor allem von Human Rights Watch dokumentiert worden. Russische Soldaten sollen Zivilisten willkürlich hingerichtet haben: 38 Menschen im grosnischen Stadtteil Staropromyslovski und 17 Menschen in der Nähe des Ortes Alkhan-Yurt. Die internationale Gemeinschaft muss von den staatlichen Organen Russlands verlangen, dass diese von Zeugen gut dokumentierten Kriegsverbrechen untersucht und die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. ({3}) Zu Menschenrechtsverletzungen kommt es insbesondere immer dort, wo Menschen gefangen gehalten werden. In der Region gibt es unter der Verantwortung des russischen Justiz-, Innen- oder Verteidigungsministeriums bzw. der Sicherheitsdienste wahrscheinlich Einrichtungen, in denen Menschen inhaftiert sind. Über das Schicksal der Menschen in diesen Gefängnissen ist wenig bekannt. Ich hatte mit der Europaratsdelegation in Tschetschenien Gelegenheit, das Gefängnis in Tschernokosowo und in der örtlichen Polizeistation in Naurskaya zu besuchen. Dort berichteten die Gefangenen, dass sie „angemessen“ behandelt würden. Sie beklagten lediglich, dass sie keinen Zugang zu Rechtsanwälten hätten. Hier muss allerdings bedacht werden, dass diese Haftanstalten bereits vom Europäischen Kommissar für Menschenrechte, von der Europäischen Antifolterkommission und von Journalisten besucht worden sind, sodass es sich um Vorzeigegefängnisse nach potemkinschen Muster handeln könnte. Nicht zuletzt wegen der starken internationalen Kritik an den schweren Menschenrechtsverletzungen in der Kaukasusregion ist vom amtierenden Präsidenten das Amt eines speziellen Beauftragten für Menschenrechte und Freiheiten in Tschetschenien eingerichtet und mit dem durchaus einflussreichen russischen Politiker Wladimir Kalamanov besetzt worden ist. Dieser hat nach eigenen Angaben bereits alle staatlichen Organe in Russland aufgefordert, ihn über Zahl, Haftdauer und erhobene Anschuldigungen gegen alle in ihrem Bereich inhaftierten Personen zu informieren. Er kündigte an, dass er auch den von Nichtregierungsorganisationen vorgetragenen Fällen von Menschenrechtsverletzungen nachgehen wolle. Ob diese Aufgabe ernsthaft wahrgenommen wird, und ob die Schuldigen auch bestraft werden, kann sich nicht durch Worte, Absichtserklärungen und Planungen, sondern nur durch Taten erweisen. ({4}) Der Europarat bemüht sich intensiv darum, einige Experten als Beobachter im Büro des Menschenrechtsbeauftragten mitwirken zu lassen. Über das Mandat der internationalen Beobachter wird allerdings noch verhandelt, da noch ungeklärt ist, ob und wie sie nicht nur dem russischen Beauftragten, sondern auch selbstständig der internationalen Öffentlichkeit berichten können. Auf keinen Fall dürfen diese Leute in eine Strategie der Russischen Föderation eingebunden werden. Viel politische Bemühung sollte darauf verwendet werden, jene politischen Kräfte in der Duma und in der Zivilgesellschaft der Russischen Föderation zu stärken, die für die Beachtung der Menschenrechte in Russland eintreten. In der Duma könnte und sollte ein besonderer Ausschuss eingesetzt werden, der sich mit der humanitären und menschenrechtlichen Lage in Tschetschenien befasst. Wichtige Beiträge zur Aufklärung können auch die vorhandenen Menschenrechtsorganisationen wie Memorial und die Soldatenmütter erbringen. Gerade für die Nichtregierungsorganisationen müssten allerdings die Bedingungen geschaffen werden, in der Region selbst tätig sein zu können. ({5}) Von einigen Parlamentariern des Europarates ist auch der Vorschlag in die Diskussion gebracht worden, in Russland ein nationales Komitee nach dem Vorbild der Wahrheitskommission in Südafrika und entsprechenden Kommissionen in einigen Ländern Zentral- und Südamerikas einzusetzen. Dieser Vorschlag birgt jedoch ein großes Problem in sich, weil bei einer solchen Kommission das Aufklärungsinteresse, also das Interesse an Wahrheit, mit Vorstellungen von Versöhnung, Amnestie und Straflosigkeit verbunden wird. Dazu bedarf es einer zeitlichen Distanz zum Geschehen. In Tschetschenien muss jedoch Aufklärung und zugleich eine Bestrafung der Schuldigen gefordert werden. ({6}) Deshalb ist dieses Modell wohl noch zu durchdenken. Damit habe ich einige menschenrechtliche und humanitäre Aspekte des Konfliktes dargestellt. Der Kollege Weisskirchen wird die übergreifenden außenpolitischen Aspekte darstellen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff.

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns hier im Plenum des Deutschen Bundestages schon wiederholt mit dem Krieg in Tschetschenien beschäftigt, der von russischer Seite mit großer Brutalität und ganz gezielt gegen die Zivilbevölkerung geführt wird. Die Bundesregierung hat praktisch keine Möglichkeit gehabt, politisch in den Konflikt einzugreifen oder auf die russische Kriegsführung Einfluss zu nehmen. Sie hat den russischen Machthabern wiederholt Gelegenheit geboten, das auch öffentlich zu dokumentieren. Herr Außenminister, man kann geteilter Meinung sein, ob Ihre Aufwartung in Moskau auf dem Höhepunkt der Kampfhandlungen in Tschetschenien angemessen und hilfreich war. Der Kreml hat diesen Krieg gezielt eskaliert und zu Wahlkampfzwecken in den russischen Medien inszeniert. Natürlich wurde auch Ihr Besuch für dieses Propagandaspektakel benutzt; Sie haben das in Kauf genommen. Der amtierende russische Präsident hat demonstrativ zur Schau gestellt, dass er sich in seiner Tschetschenienpolitik überhaupt nicht beeinflussen lässt. Sie haben nichts erreicht, Herr Außenminister. Wir konnten das bei realistischer Betrachtung auch nicht anders erwarten. Deshalb machen wir Ihnen auch keinen Vorwurf. Das Problem der Bundesregierung ist vielmehr der krasse Gegensatz zwischen ihrer öffentlichen Zurückhaltung im Kaukasuskonflikt und ihren emotionalisierenden Auftritten im Balkankonflikt. ({0}) Sie sind in Tschetschenien von Ihrer überzogenen und martialischen Kosovorhetorik eingeholt worden. Im Kosovokonflikt hatte der Außenminister Fischer wiederholt auf Auschwitz angespielt, ein unangemessener Vergleich, der sich uns Deutschen verbietet. Im Kosovokonflikt hatte Minister Scharping in großer Erregung Bilder von Gräueltaten an Zivilisten präsentiert - Bilder, die es auch aus Tschetschenien gegeben hätte -, um seine moralische Betroffenheit und die Grausamkeit des Krieges zu dokumentieren. Wir waren damals genauso moralisch betroffen wie die Bundesregierung. Wir sind in Grosny genauso moralisch betroffen wie in Sarajevo und Pristina. Herr Kollege Bindig, Ihr Augenzeugenbericht spricht wahrlich eine deutliche und beeindruckende Sprache. Aber - darin unterscheiden wir uns von manchen Kollegen auf der linken Seite des Hauses - Betroffenheit reicht eben nicht aus, um eine Außenpolitik zu gestalten, die unseren Interessen und unserer Verantwortung gerecht wird. Es war richtig und notwendig, im Kosovokonflikt einzugreifen, auch militärisch, weil dieser Konflikt die Stabilität Deutschlands beeinträchtigt hat: von den unmittelbaren Auswirkungen auf unsere Bündnispartner und Nachbarn bis zu der Bedrohung unserer eigenen inneren Stabilität und dem Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland. In Tschetschenien war ein direktes Eingreifen der deutschen Politik nicht nur nicht möglich, sondern auch nicht zu verantworten, weil eine offene Konfrontation mit Russland die Stabilität unseres Kontinents und insbesondere die Stabilität Deutschlands beeinträchtigen würde. Die Einbindung Russlands in die künftige europäische Sicherheitsordnung ist ein vorrangiges strategisches Ziel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Unsere Russlandpolitik ist um so wirkungsvoller, je weniger wir Dissonanzen und Interessenkonflikte öffentlich inszenieren, erst recht, wenn es aus innenpolitischen Motiven geschieht. Tschetschenien ist ein Musterbeispiel dafür, dass die Unterscheidung zwischen wertorientierter Außenpolitik und interessenorientierter Außenpolitik einer politischen Ideologie entspricht, aber nicht der politischen Wirklichkeit. Zu unseren Interessen gegenüber Russland gehört das klare Bekenntnis zu den Prinzipien von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten, selbstverständlich auch in Tschetschenien. ({1}) Zu unseren Interessen gehören die diplomatische Einbindung Russlands und der kontinuierliche Dialog mit diesem schwierigen Nachbarn. Umgekehrt müssen wir auch dem Interesse Russlands an einer Verankerung in Europa und in internationalen Sicherheitsstrukturen Rechnung tragen. Ausgrenzung und Isolierung sind kein dauerhafter Beitrag zur Stabilität in Europa und in der Welt, wie die jüngsten Beispiele zeigen. Der Deutsche Bundestag muss noch intensiver als bisher den Dialog mit der neuen Staatsduma suchen und unseren Kollegen verdeutlichen, dass die Russische Föderation Gefahr läuft, sich selbst außerhalb des europäischen Fundamentes zu stellen und international zu isolieren. Mit öffentlichen Appellen ist es nicht getan. Die strategische Diskussion über die künftigen Beziehungen zwischen der NATO und Russland, zwischen der Europäischen Union und Russland hat für die deutsche Außenpolitik erste Priorität. Herr Außenminister, zu dieser Diskussion hat die Bundesregierung bisher so gut wie keinen Beitrag geleistet. Wir fordern Sie auf, diese wichtige Debatte gemeinsam mit unseren Partnern zu intensivieren und dazu eigene Vorschläge einzubringen. Die CDU/CSU-Fraktion wird sich an dieser Debatte konstruktiv beteiligen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gebe ich nunmehr das Wort dem Kollegen Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag, den wir nach langem Zögern heute endlich verabschieden, kommt fast schon zu spät. Er ist fast ein Nachruf auf die furchtbare Tragödie, die Herr Bindig eben geschildert hat; eine Tragödie, für die neue Worte aus dem „Wörterbuch des Unmenschen“ entstanden sind, wie beispielsweise „Filtrationslager“, und wo wir auch auf eigene Wörter zurückgreifen können, wenn wir Aufnahmen davon sehen oder vorgeführt bekommen, die dann „potemkinsche Dörfer“ heißen, weil sie zwischendurch wieder umgemodelt wurden. Wir müssen uns hier mit Tschetschenien auseinander setzen, nicht weil wir gegen, sondern weil wir für ein europäisches Russland sind, weil wir mit Russland das europäische Haus bauen wollen, allerdings mit einem Russland, das die Menschenrechte achtet, selbst wenn es zur Wahrung seiner Integrität meint, gegen Separatisten vorgehen zu müssen, und doch die Normen des humanitären Kriegsvölkerrechts achtet. All das geschieht nicht. Vor vier Wochen - Sie haben Recht, Herr Schockenhoff - haben wir hierüber schon einmal diskutiert, fraktionsübergreifend. Ich habe dann festgestellt, dass Sie auch da von der Kritik an der Rhetorik zur Zustimmung in der Sache zurückkamen. Fraktionsübergreifend haben wir die Reise des Außenministers für richtig gehalten. Fraktionsübergreifend haben wir gefunden, dass er sie richtig und gut durchgeführt hat. Trotzdem müssen wir darüber intensiver und länger nachdenken, denn schon die Folge der europäischen Reise, die von Moskau aus gesehen - hier war erst der Anfang - fast den Eindruck eines Wettlaufs zum Hofe von Herrn Putin machte, ist mehr oder weniger eine massive Wahlkampfhilfe für einen Kandidaten geworden. Das muss man sehen. Da muss man sich fragen: Ist das der Kandidat wirklich wert? Da muss man dann ein bisschen genauer hinsehen. Eines fällt inzwischen auf und wird immer deutlicher: Der amtierende Präsident sagt zu allen das, was sie hören wollen. Er ist darin sehr geschickt. Er sagt sehr genau abgestimmt den Europäern das, was sie hören wollen, nach innen aber sagt er etwas ganz anderes. Das ist der Unterschied zwischen Worten und Taten. Das bedarf einer Analyse. Schon in den Worten tauchen solche Widersprüche auf, wie in dem Brief an die Wähler, in dem er von der Notwendigkeit, die „Diktatur des Rechts“ durchsetzen zu müssen, schreibt. Wir alle fragen uns: Dürfen wir uns nun die Hoffnungen auf die Entwicklung eines russischen Rechtsstaates machen oder müssen wir vor der Diktatur Angst haben? Deshalb werden an Tschetschenien nicht nur die Tragödie und die Zerstörung eines Volkes deutlich, es wird auch sehr deutlich, dass es geradezu ein Lackmustest ist für die Entwicklung russischer Innenpolitik und die Frage, wohin Russland geht. Das hat schon mit der Pressefreiheit zu tun. Am Dienstag voriger Woche hat auf einer Pressekonferenz der beste russische Tschetschenienkenner, der Journalist Babitzky, unter dem Schutz des PEN-Clubs erzählt, wieso und wo er drei Monate verschütt gegangen ist. Zuerst - das wussten wir ja - ist er von den Generälen festgenommen worden, weil er zu viel über die Kriegsführung wusste. Dann ist er aber in einer dramatischen Aktion an tschetschenische Freunde ausgeliefert worden. Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass es keine tschetschenischen Freunde waren, sondern dass es der FSB war, der mit tschetschenischen Kollaborateuren kooperierte. Die konnten ihn allerdings so unterbringen, dass er für eine ganze Zeit von der Bildfläche verschwunden war. Das heißt, wenn wir über Tschetschenien sprechen, dann müssen wir über einen Raum sprechen, in dem früher schreckliche Dinge geschehen sind. Ich muss das nicht wiederholen. Über all das Negative der Tschetschenen Scharia, Geiselhandel und anderes - haben wir viel gesprochen. Wir müssen jetzt in der nachträglichen Betrachtung intensiver über Russland reden. Wir müssen uns natürlich damit beschäftigen, dass es noch nie eine so massive Informationsblockade wie in diesem zweiten Tschetschenienkrieg gegeben hat, dass diese Informationsblockade durchbrochen werden muss, wie es der Europarat jetzt tut. Ich hoffe allerdings, dass die beiden Personen, die unter dem Schutz von Kalamanov dorthin können, vor allem dem Europarat berichten werden. Ich hoffe, dass sie nicht etwa nur auf dem Weg über Kalamanov inforDr. Andreas Schockenhoff mieren. Wenn das so wäre, dann sollten wir sie nicht hinschicken. Die Klärung dieser Fragen steht dringend an. Ich sage etwas zum Gespräch mit den DumaAbgeordneten. Ich habe vor kurzem eine ganze Woche lang mit Duma-Abgeordneten gesprochen. Es gab welche, die in Tschernokosovo, in diesem schrecklichen „Filtrationslager“, waren. Sie haben mir diesen Ort wie ein Sanatorium geschildert. Wenn einem das widerfahren ist, dann kommt man dahinter, dass ein tapferer, mutiger russischer Journalist herausgefunden hat, dass die Gefolterten und Gebrochenen in Tschernokosovo in einen Güterzug gepackt worden sind, der auf dem Abstellgleis bei Piatigorsk steht. Die Informationsblockade in diesem Fall ist massiv, sodass selbst Duma-Abgeordnete einem ganz glaubwürdig erzählen, wie schön die Verhältnisse und wie weiß die Kittel der Ärzte sind. Vom FSB ist ein potemkinsches Dorf gebaut worden, und unsere Gesprächspartner fallen darauf herein. Das ist alles gar nicht so einfach. Wir haben erfahren, dass eine der in Russland bekanntesten Eliteeinheiten, die Fallschirmjäger von Pskor, beim Eindringen in das Argun-Tal erleben musste, dass von 90 nur sechs Fallschirmjäger übrig geblieben sind. Es war wiederum Babitzky, der die Nachricht als Erster überbrachte; deshalb ließ es sich nicht länger verheimlichen. Das heißt, wir erleben im Moment den Übergang in einen Guerillakrieg. Gleichzeitig haben wir erlebt, dass es auch innerhalb des so genannten befriedeten Tschetscheniens Guerilla-Aktionen gegeben hat. Wir stehen also an einem ganz wichtigen Wendepunkt in diesem Krieg, der nicht so bald zu Ende geht. Umso wichtiger wird es sein, dass Russland von der falschen Vorstellung, eine Großmacht dürfe auf ihrem Territorium keinen Einblick von außen nehmen lassen, abgeht. Russland muss begreifen, dass das Eingeständnis von Schwierigkeiten keine Schande ist, sondern dass es geradezu ein Merkmal europäischer Politik ist. Russland, das uns bei der Beendigung des Kosovokrieges geholfen hat, muss lernen, dass ihm genauso durch Vermittlung europäisch geholfen werden könnte und sollte. Wenn das aber geschieht, dann muss dieser ganze graue Schleier, der vom FSB und vom Militär über Tschetschenien ausgebreitet wird, wirklich zerstört werden. Es gilt für Russland, sich darüber im Europarat und auch mit der OSZE zu einigen. Es geht darum, Russland zu sagen, dass es zum Kriterium europäischen Verhaltens gehört, Hilfe von Freunden auch anzunehmen, sodass wir bei der Beendigung des Krieges mithelfen können und wenigstens noch ein paar Menschen gerettet werden können. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Ulrich Irmer für die F.D.P.-Fraktion das Wort.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Lippelt hat die Meinung vertreten, bei dem Antrag, über den wir heute beschließen, handele es sich wegen des Zeitablaufs fast schon um einen Nachruf auf eine Tragödie. Ich fürchte, er hat Unrecht; denn wenn ich es richtig einschätze, dann werden sich die Kämpfe, und sei es als Guerillakrieg, über Monate, wenn nicht über Jahre hinziehen. Das Thema Tschetschenien wird uns in den Gremien der westlichen Länder weiterhin beschäftigen, auch wenn es vielleicht nicht die Schlagzeilen beherrschen wird. Ich fürchte, es wird so sein. Ich fürchte weiter, dass Tschetschenien möglicherweise - wenn wir die Russische Föderation betrachten - nur die Spitze eines Eisbergs sein könnte, denn wir haben es bei der Russischen Föderation ja mit einem Vielvölkerstaat zu tun, in dem es brodelt und gärt und in dem sich viele Völker durch die russische Vorherrschaft bevormundet fühlen. Es wäre also gut, wenn man sich rechtzeitig darauf einstellte, dass es in diesem Riesenreich auch an anderen Stellen zu Schwierigkeiten, zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommen könnte. Wir sind uns alle darüber einig, dass wir Russland nicht isolieren dürfen - wir sind auf Russland angewiesen, aber genauso ist Russland auf uns angewiesen -, und zwar im Interesse eines gesamteuropäischen Friedens und gesamteuropäischer Sicherheitsperspektiven. Russland ist ja nicht nur Atommacht, es ist nicht nur nach wie vor eine Großmacht, sondern es ist auch - wir haben immer wieder gemerkt, wie wichtig das ist - eines der Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Wir haben im Falle Kosovo schmerzlich erfahren, wie lähmend sich dies auf die internationale Handlungsfähigkeit auswirken kann, wir haben zum Schluss aber auch erfahren, wie konstruktiv Russland dann handeln kann, wenn man es einzubinden versucht und an seine Verantwortung appelliert. ({0}) Insgesamt ist es außerordentlich schwierig, mit einem Land wie Russland angemessen umzugehen. Wie behandelt man ein solches Land? Auch ich bin der Meinung, Herr Bundesaußenminister, dass es richtig war, dass Sie zu Putin gereist sind. Ebenso bin ich mit Ihnen der Meinung, dass es relativ wenig Sinn machen würde, an das Verhängen von Wirtschaftssanktionen gegen Russland zu denken. Ich halte es aber für falsch, dass Sie in öffentlichen Erklärungen von vornherein gesagt haben, Sanktionen kämen nicht in Frage. ({1}) Man begibt sich damit einer möglichen Waffe. Sanktionen sind immer nur so lange wirksam, wie man mit ihnen drohen kann. In dem Moment, in dem man sie anwendet, verlieren sie ihre Wirkung. Deshalb ist es falsch, diese Waffe aus der Hand zu geben und von vornherein zu erklären, Sanktionen kämen nicht in Frage. ({2}) Außerdem möchte ich Sie an dieser Stelle noch einmal auf das eigentlich Schlimme hinweisen, das mir immer wieder auffällt. Das ist dieser himmelweite AbDr. Helmut Lippelt Abgrund, der sich zwischen Anspruch und Wirklichkeit auftut. Ich will gar nicht so hämisch sein, Ihnen hier Zitate aus der Zeit des ersten Tschetschenienkriegs vorzuhalten, als Sie von dem entsprechenden Rednerpult in Bonn aus die damalige Bundesregierung attackiert haben. Da war die Wendung „Wandel durch Anbiederung“ noch eine der vornehmeren Formulierungen; man hat damals auch viel Härteres gehört. Ich bin ja froh, Herr Fischer, dass Sie jetzt der harten Realität ausgesetzt sind und endlich einmal als Politiker, der verantwortlich handeln muss, sehen, wie schwierig und unausweichlich so etwas in manchen Fällen ist. ({3}) Sie merken eben jetzt plötzlich, dass es mit verbalen Bekundungen nicht mehr getan ist. In Ihrer Partei, die ja insgesamt das Organigramm der Gutmenschen bildet, ist ja die Sparte der Fernethiker ganz besonders stark ausgeprägt. ({4}) Sie werden es auf Ihrem Parteitag am kommenden Wochenende wieder erleben, dass Sie Prügel für Dinge beziehen werden, die Sie wahrscheinlich gar nicht anders tun konnten. Aber ich sage es noch einmal: Diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist erschreckend. Davon müssen Sie herunter kommen. Wir stehen auf Ihrer Seite, wenn Sie uns erklären, dass man aus Gründen des Pragmatismus und um Russland nicht zu isolieren bestimmte Dinge eben einfach nicht tun kann. Dann soll man sich aber bitte auch der hochtrabenden Rhetorik enthalten. ({5}) Die beiden Anträge beziehen sich auf den Gipfel von Helsinki. Die Bundesregierung sollte aufgefordert werden, dafür zu sorgen, dass Russland verurteilt würde, dass auf Russland Einfluss genommen würde. Dazu ist von dem Gipfel auch eine harte Erklärung herausgegeben worden. Aber geschehen ist nachher nichts! Wenn man seine eigene Machtlosigkeit noch in aller Öffentlichkeit dokumentieren will, dann tut man das natürlich auf die Weise, dass man erst große Worte findet und nachher einräumt: Ja, ja, weil das mit Russland alles so schwierig ist, konnten wir leider nichts tun. Was Sie aber jetzt tun können und wozu ich Sie auffordere, ist, dass Sie, zusammen mit den anderen Europäern und mit Herrn Solana, den Versuch unternehmen, eine gemeinsame Aktion der Europäischen Union in die Wege zu leiten, wie man auf Russland zugeht und mit Russland zusammen versucht, das, was es in Tschetschenien an Problemen gibt, zu lösen, und wie man vielleicht mit Russland gemeinsam Konflikt verhütende Strategien entwickelt und überlegt, wie sich Europa verhalten soll, wenn in anderen Gegenden der Russischen Föderation Auseinandersetzungen aufbrechen sollten. Ich erwarte von der Bundesregierung auch, dass sie jetzt massiv darauf drängt, dass die Zusagen eingehalten werden, die Russland, die Präsident Putin zum Beispiel gegenüber dem Europarat gemacht hat, dass er nämlich eine ständige Beobachtermission in Tschetschenien zulässt. Meines Wissens ist das noch nicht geschehen. Der Kollege Bindig hat ja im Übrigen in eindrucksvoller Weise nicht nur die Lage geschildert, sondern auch gesagt, was zur Bewältigung der schwierigsten Menschenrechtsprobleme jetzt dort geschehen müsste. ({6}) Die Vorwürfe an die Bundesregierung hinsichtlich ihres Verhaltens in der Tschetschenienfrage halten sich auch Kollege Schockenhoff hat das gesagt - in Grenzen. Wir sind hier moderat und zurückhaltend. Aber wir sagen noch einmal: Wir erwarten, dass die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit verkleinert wird. Bitte versprechen Sie in Zukunft nur noch das, was Sie auch wirklich einhalten können. Vielleicht hilft es ja, Herr Fischer, dass Sie sich jetzt aus der inoffiziellen Führung Ihrer Partei etwas zurückziehen wollen. Ich habe heute früh in der Zeitung gelesen, dass Sie mit der Partei eigentlich nichts mehr zu tun haben wollen. Ich verstehe das ganz genau, ich fühle mit Ihnen. Auch ich möchte mit dieser Partei nichts zu tun haben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht nun der Kollege Wolfgang Gehrcke.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist und es bleibt bitter, hier im Parlament und anderswo gegen Kriege zu reden und sich zugleich der Grenzen der eigenen Einwirkung bewusst zu sein. Trotzdem: Angesichts vernichteter Städte und leidender Menschen, angesichts von Not, Hunger und Flüchtlingselend ist Schweigen unmoralisch und ein deutliches Nein dieses Parlamentes nötig und letztlich auch nicht vergeblich. ({0}) Ich werde mich nicht damit abfinden, dass Krieg mittlerweile zur Ultima Ratio erklärt wird, weder wenn dies die russische Regierung mit dem Hinweis auf Terroristenbekämpfung tut noch wenn dies vonseiten der NATO mit dem Wort „Menschenrechte“ begründet wird. Krieg und Vernunft sind einander ausschließende Begriffe. Russland versucht nach eigenem Bekunden in einer scheinbar alternativlosen Situation die Souveränität über Tschetschenien mit massivem militärischen Einsatz gegen Abtrennungsversuche zu erhalten. Ich halte, wenn man darüber nachdenkt, das Ziel, einen drohenden Zerfall Russlands zu stoppen, für legitim. Die Mittel indes lehne ich kategorisch ab. Sie sind völkerrechtswidrig. ({1}) Ich verstehe, dass Russland Sorge um seine Sicherheit hat, dass auch die Fragen aufzuwerfen sind, wer denn die Rebellen in Tschetschenien finanziert und ausrüstet oder wessen und welche Interessen in der Region aufeinander stoßen. All das darf nicht außer Acht gelassen werden. Aber kein Argument rechtfertigt es, ein Land zu verwüsten, es in die Steinzeit zurückzubomben, Flüchtlingselend und Übergriffe der geschilderten Art und Weise zuzulassen. ({2}) Der entscheidende, tragische Punkt ist, dass auch dieser Krieg die Probleme Russlands nicht lösen wird. Dieser Krieg wird noch nicht einmal die Voraussetzungen für die Lösung der Probleme schaffen. Die Ausgangssituation verschlechtert sich eher dramatisch, auch im Vergleich zum ersten Krieg in Tschetschenien. Russland zahlt einen hohen Preis für diesen Krieg: Innenpolitisch, demokratisch, sozial und auch in der Außenpolitik. Wir werden heute über zwei Anträge zu entscheiden haben, über einen Antrag der PDS-Fraktion und einen der Regierungskoalition plus F.D.P. Ich finde unseren natürlich besser, ist er auch. ({3}) - Wir bekommen ja, auch wenn wir in der Sache übereinstimmen, aufgrund mancher bornierter Haltung noch nicht einmal hin, auch nur die Uhrzeit gemeinsam zu unterschreiben. Das haben Sie mir ein paar Mal gesagt, was ich immer bedaure. Im Antrag der Koalitionsfraktionen wird die Bundesregierung neben vielem Richtigen - deswegen kann man ihm auch zustimmen - für ihr außenpolitisches Engagement bei der Einflussnahme auf Russland gelobt. Ich möchte die Frage aufwerfen, ob es wirklich Anlass für ein solches Lob gibt. Ich hatte angesichts der breit getragenen gesellschaftlichen und parlamentarischen Zustimmung in Russland zu Putins harter Haltung keine übertriebenen Erwartungen an die Einwirkungsmöglichkeiten deutscher Politik im Rahmen der Reise des Außenministers nach Moskau; ich habe das hier bereits ausgeführt. Aber ich halte es - das will ich hier betonen - für einen unglaublichen Vorgang, der die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung mehr als nur infrage stellt, wenn der deutsche Verteidigungsminister Ende Februar dieses Jahres in Moskau - kurz nach der Übertragung der schrecklichen Bilder aus Grosny und aus den Flüchtlingslagern - eine Zusammenarbeit zwischen der russischen Armee und der Bundeswehr in 33 Projekten vereinbart, unter anderem auch bei der Ausbildung von Soldaten. Der Presse war zu entnehmen, dass der russische Marschall Sergejew auf die Frage, ob Scharping das Problem Tschetschenien angesprochen habe, betont eindeutig antwortete, über „innere Angelegenheiten Russlands“ sei nicht gesprochen worden. Wie nennt man das - der Verteidigungsminister ist leider nicht anwesend -: unterlassene Hilfeleistung? Ermutigung? Wegschauen? Heuchelei? Oder welchen Begriff kann man dafür verwenden? In einer Situation, in der Grosny so zerstört wird, wie Sie es hier geschildert haben, vereinbart der Verteidigungsminister eine Zusammenarbeit mit der russischen Armee! Wie nennen Sie das? Das möchte ich hier erklärt haben. ({4}) Der Außenminister spricht von Menschenrechten und der Verteidigungsminister von militärischer Zusammenarbeit - zur gleichen Zeit. Ich habe mich hier in diesem Hause immer gegen die Ausgrenzung Russlands gewandt. Ich verteidige die Zusammenarbeit und den Dialog mit Russland; dafür gibt es viele Felder. Aber muss es ausgerechnet der militärische Bereich sein, in dem diese Zusammenarbeit konkret entwickelt wird? Ich kenne viele Felder, auf denen dies dringender notwendig wäre. ({5}) Krieg ist kein Mittel der Politik, auch kein letztrangiges, und wird es auch nicht sein. Krieg ist immer ein Versagen der Politik. Krieg - im Kaukasus und anderswo - ist aber immer auch Kampf um Macht und Machtanspruch und die Verteidigung von Ressourcen, geostrategischen Interessen und Ansprüchen. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, ich will es auch hier aussprechen: Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien war der Freifahrtschein für den zweiten Tschetschenienkrieg. Ich glaube, auch das kann man mittlerweile beweisen. Dem durch besonnene Politik vorzubeugen und entgegenzuwirken müsste Aufgabe deutscher Politik sein. Wir müssen das ernst zu nehmende Interesse verdeutlichen, dass wir Gleichgewicht und Stabilität für Russland befürworten und dass uns an einer Zusammenarbeit mit Russland viel liegt, dass wir sie für wichtig halten. Das müssen wir dokumentieren; das muss eindeutig sein. Deswegen müssen auch die Signale eindeutig sein. Zu allem, was Russland in Richtung Demokratie und Modernisierung führt, ist Ja zu sagen. Alles, was dazu geeignet ist, zu glauben, man könne sich mit dem Tschetschenienkrieg abfinden, muss von uns deutlich kritisiert und abgelehnt werden. Ich möchte, dass Sie sich dazu erklären, was der Verteidigungsminister in Moskau vereinbart hat. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Christian Schmidt.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorweg ist zu sagen: Wir stimmen der Beschlussempfehlung zum Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. auf Drucksache 14/2279 zu, aber nicht deswegen, Herr Kollege Lippelt, weil das Verfahren, mit dem dieser Antrag damals eingebracht worden ist, besonders glücklich gewesen ist. Das sind zwar nur formale Aspekte; sie sind aber, parlamentarisch gesehen, durchaus von Bedeutung. Darüber sollten wir uns noch einmal gesondert unterhalten. Inhaltlich müssen wir aber - gerade unter dem Eindruck des Berichts des Kollegen Bindig; das will ich ausdrücklich unterstreichen - trotz mancher Punkte, über die wir streiten könnten, feststellen: Dieses Haus ist verpflichtet, gemeinsam eine klare Botschaft auszusprechen, und zwar in dem Sinne, dass dieser Krieg, dieser Konflikt weder in der Art und Weise, wie er geführt worden ist und noch geführt wird, noch vom Anlass, von der Ursache her ein akzeptabler Weg für ein Mitglied des Europarates ist. ({0}) Russland ist Mitglied des Europarates und damit der europäischen Völkergemeinschaft und hat sich deswegen das wissen wir und hören wir jeden Tag - einer verschärften Beobachtung zu unterziehen. Wir haben hier bereits in den vergangenen Wochen darüber diskutiert, wie es mit diesem Krieg weitergehen wird. Ich habe in der letzten Debatte gesagt, dass er möglicherweise nicht auf Tschetschenien beschränkt bleiben wird, sondern in die Russische Föderation hineingetragen wird, was ich nicht hoffe, dorthin also, von wo er aus Sicht mancher seinen Ausgang genommen hat. Wenn nicht kluge politische Schritte unternommen werden, um den Konflikt dort zu befrieden, wo er gegenwärtig schwelt, und zwar auf dramatische Weise, dann ist dies nicht auszuschließen. Wir sollten das als Anlass für einen sehr ernsten Dialog mit Russland nehmen. Es stimmt mich doch sorgenvoll, dass wir uns so konturenlos gezeigt haben. Herr Fischer, Sie kommen einfach nicht daran vorbei - ich habe es schon wiederholt gesagt -: Realpolitik zu betreiben ist das eine, zu deklamieren im Sinne von Menschenrechten das andere. Es ist notwendig, Konturen auch in den Bereichen zu zeigen, in denen es um Realpolitik geht. Realpolitik bedeutet nicht platte Politik, sondern heißt, Ziele verwirklichen zu wollen. Um welche Ziele geht es? Welche Ziele haben wir? Wir haben im Verhältnis zu Russland viele Interessen. Wir müssen uns allerdings entscheiden, ob wir eine Eindämmung russischer Politik oder eine Kooperation mit russischer Politik wollen. Wenn wir eine Kooperation mit russischer Politik wollen, dann bedarf es gewisser Voraussetzungen auf russischer Seite - darüber ist gesprochen worden -: Dazu gehört ein Verhalten, das gerade in Tschetschenien nicht gezeigt worden ist. Dazu gehört die Bereitschaft zu einer friedlichen Lösung und auch - allerdings nur in diesem Rahmen - die Anerkenntnis berechtigter sicherheitspolitischer Interessen. Ich zucke immer etwas zusammen, wenn die Begründung für den Tschetschenienkrieg mit dem Satz beginnt, man habe Verständnis für Terroristenbekämpfung. Gerade aus manchen Mündern klingt das schal und hohl. Ich glaube aber, dass hier die Dimensionen verschoben werden. Um Sicherheitsinteressen jenseits der Terroristenbekämpfung, über die geredet werden müsste, handelt es sich dann, wenn man den Blick auf die südliche Peripherie Russlands lenkt, auf Zentralasien. Ich glaube in der Tat, dass wir hier in der Lage wären, dortige Interessen mit unseren zu verknüpfen. Herr Fischer, Sie haben auf der Mitgliederversammlung der DGAP - ich glaube, das war im November letzten Jahres - gesagt, erzwingen könne man gegenüber einer atomaren Großmacht nichts. Das ist richtig; dem stimme ich zu. Aber man kann die eigene Interessenlage einbringen, um ein Verhalten einzufordern und möglicherweise durchzusetzen. Darüber hinaus kann man vielleicht auch klarmachen, Herr Lippelt, dass vermeintlich interne Angelegenheiten in Form einer bewaffneten Auseinandersetzung in der Föderation eben keine internen Angelegenheiten sind, wenn sie den Frieden destabilisieren, Menschenrechte verletzen und deswegen auch unsere Interessen betreffen. Wenn man Russland eine Verantwortung für die europäische Stabilität unterstellen will, dann müssen wir gemeinsam mit Russland eine offene Sprache sprechen und unseren Fundus an Interessen, Argumenten und Angeboten gegenüber Russland formulieren und darlegen. Ich bin mir nicht sicher, ob das stattgefunden hat. Putin hat umgekehrt als eine seiner ersten Amtshandlungen ein neues Sicherheitskonzept in Kraft gesetzt. Das hat uns aufhorchen lassen, zum Beispiel weil darin, bezogen auf den Stellenwert der Nuklearkräfte, nicht nur Unbedenkliches steht. Allerdings glaube ich, dass gerade das ein Anknüpfungspunkt für ein Gespräch mit Putin sein kann. Die strategischen Fragen der Partnerschaft, die von den Europäern in ihrem eigenen Interesse definiert werden müssen, sind, soweit ich es sehe, nicht vorgetragen worden, weder bei den Wasserstunden im Kreml noch bei den Teestunden in Sankt Petersburg. Wenn wir über diese Fragen nur reden und gleichzeitig hören, dass unsere amerikanischen Partner bereits fleißig über Fragen verhandeln - Herr Außenminister, Sie können in diesem Hause anschließend noch einmal darlegen, dass es anders ist, ich höre gerne zu, aber bisher habe ich keinerlei Informationen darüber, ganz im Gegenteil -, die sich beispielsweise mit dem verknüpfen, was die strategische Sicherheit an der südlichen Peripherie Russlands betrifft, dann wird klar: Das ist offensichtlich gegenwärtig wieder eine nahezu ausschließlich russisch-amerikanische Angelegenheit. Das kann nicht richtig sein. Hier gibt es eine Anforderung an die Europäer zu definieren, welche Form der gemeinsamen Politik sie in dieser Frage führen wollen. Helsinki hat eine Deklaration gebracht, aber die nachfolgende gemeinsame politische Strategie gegenüber Russland vermisse ich. Im Rahmen der zukünftigen Kooperation - ich nenne das Wort „Kooperation“ im Zusammenhang mit der Krisenbewältigung in den „hot spots“ Europas und Zentralasiens - können die Interessen legitim, vernünftig und maßvoll miteinander verflochten werden. Das ist und muss das Ziel unserer Politik sein. Wir stimmen diesem Antrag nicht deswegen zu, weil all dies darin enthalten ist, sondern weil, darauf aufbauend, die Perspektive dahin entwickelt werden muss. Es Christian Schmidt ({1}) ist Ihre Aufgabe, das in der Europäischen Union in die Realität umzusetzen. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun spricht der Kollege Professor Gert Weisskirchen für die SPDFraktion.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Christian Schmidt, ich glaube, dass wir uns in einem Punkt vielleicht sogar noch „einiger“ sind, als Sie das hier beschrieben haben. ({0}) Kooperation mit Russland ja, aber sogar noch mehr. Was wir wirklich wollen, ist, dass ein demokratisches Russland in Europa einen festen, unverrückbaren Platz findet. Das ist eine Aufgabe, die wir gemeinsam erfüllen müssen. In zehn Tagen - so hoffe ich jedenfalls - wird Herr Putin wohl zum Präsidenten gewählt werden. Er hat jetzt eine Duma zur Seite, die so zusammengesetzt ist, dass er - anders als sein Vorgänger im Amt des Präsidenten, anders als Boris Jelzin - die Chance hat, das, was er politisch will, auch gemeinsam mit der Duma durchzusetzen. Zum ersten Mal also, seit es eine neue Demokratie in Russland gibt, besteht die Chance, dass Präsident und Parlament gemeinsam auf das gleiche Ziel hinsteuern und dies auch in die gesellschaftliche Realität umsetzen werden. Wenn ich von gesellschaftlicher Realität spreche, möchte ich hier heute jemanden begrüßen, Zoran Djindjic, der dafür sorgen wird - so hoffen wir jedenfalls -, dass die gesellschaftliche Realität an einer anderen Stelle in Südosteuropa, in Jugoslawien, endlich so verändert wird, dass Demokratie auch in jenem Teil Europas den Platz findet, der Jugoslawien angemessen ist. Ich hoffe, Zoran Djindjic, dass Sie die Gelegenheit haben, das, was Sie wollen, in Ihrem Land auch durchzusetzen. Wir wünschen Ihnen alles Gute dabei. ({1}) Boris Jelzin hat vor zehn Jahren gesagt: Die Geschichte hat uns gelehrt, dass einem Volk, das über andere herrscht, kein Glück beschieden sein kann. Das hat er zu Beginn jener schrecklichen Auseinandersetzungen, fünf Jahre später und jetzt wieder gesagt. Was für ein Krieg findet in Tschetschenien statt? Ist es ein Krieg gegen Verbrecher, die eine ganze Republik erobert haben, ein Subjekt der Russischen Föderation, wie Wladimir Putin in seinem offenen Brief - er ist zitiert worden - an die Wähler Russlands schreibt? Ist es ein Krieg gegen ein ganzes Volk, wie die, die sich Freiheitskämpfer nennen, behaupten? Verteidigt Russland Europa - wie manche uns in der Administration in Moskau glauben machen wollen - gegen terroristischen Islamismus? Ist der Krieg ein Zeichen des Zerfalls eines Kolonialreiches, vergleichbar mit dem Algerienkrieg, den Frankreich nicht mehr hat gewinnen können, weil ein militärischer Sieg damals das Recht auf Selbstbestimmung vernichtet hätte? Ist es ein Krieg Putins, wie Sergej Kowaljow eben noch einmal geschrieben hat? Ist er, der amtierende Präsident, ein Getriebener? Vollstreckt er, was andere vor ihm geplant, wozu ihnen aber selbst die Kraft ausgegangen war? Ist der zweite Tschetschenienkrieg im letzten Herbst allein Revanche für die Schmach, unter der die Militärs seit dem Ende des ersten Kriegs in den 90er-Jahren leiden? Sieht nicht derjenige, der heute durch die Ruinen Grosnys geht - Kollege Bindig hat es einfühlsam beschrieben -, in den Ruinen die stummen Zeugen all der Demütigungen, durch die Russland, die einstige Supermacht, seit dem inneren Sturz gegangen ist? Warum nur ist Tschetschenien die Fläche, auf die sich alle Ängste, zumal die, die von den Risiken der Transformation ausgehen, projizieren? Warum nur haben - auch das muss gesagt werden - Tschetschenen Vorwände dafür geliefert und Tatsachen geschaffen, leider durch Verbrechen? Sie sind zu Projektionsflächen geworden, in denen sich Ängste brechen. Sind nicht auch die, die dazu beigetragen haben, Gefangene im kaukasischen Kreis der Gewalt? Das alles sind Fragen, die wir gern unseren Kollegen der Duma stellen würden. Wir wissen aber auch, wie die Antworten lauten würden, die sie uns gäben. Sie weisen diese Fragen alle zurück. Sie sind nicht bereit, Antworten auf diese Fragen zu geben, von denen wir erhoffen, dass aus ihnen neue Logiken entstehen könnten, dass endlich die Chance genutzt würde, sich aus der militärischen Logik zu befreien, damit die zivile Logik endlich wieder ihren Platz finden kann. Das ist die Situation, in der sich Russland gegenwärtig befindet. Meine Angst ist, dass Putin die Prägekraft, die er mit seinem Sieg in zehn Tagen erzielen wird - die Duma wird ihm zur Seite stehen -, nicht so nutzen kann, dass die neue Zeit durch Zivilität geprägt sein wird, sondern weiterhin Gewalt und Militär vorherrschen. Ich hatte gehofft, dass wir uns von der Logik des vergangenen Jahrhunderts befreit hätten. Ich wünsche mir sehr, dass wir, soweit es für uns als Parlamentarier in unserer Möglichkeit steht, mit dafür sorgen können - die Regierung hat in diesem Punkt eine andere Aufgabe -, dass die Kolleginnen und Kollegen in der Duma, dass also diejenigen, die in ihrem eigenen Land die politische Verantwortung tragen, mit uns gemeinsam dazu beitragen, dass Russland seinen Platz im gemeinsamen Europa, in dem wir leben, finden kann. Ich hoffe, dass uns dies gelingen wird. Keiner kann uns sagen, ob das möglich ist. Werden diejenigen, die Zeugnis geben können - Soldaten und Journalisten, Kämpfer und Zivilisten -, stumm bleiben gegenüber einer Realität, in die der Schmerz und das Leid eingebrannt sind? Ich nenne Sergej Adamowitsch Kowaljow, der in seinem Artikel sehr präzise beschrieben hat, wo Russland steht: Könnte sich Russland nicht hin zu einem Polizeistaat entChristian Schmidt ({2}) wickeln? Kann nicht das, was Kowaljow befürchtet, Realität werden? Die russische Regierung befindet sich jetzt auf einem gefährlichen Weg, weil sie glaubt, Konflikte nur durch militärische Logik überwinden zu können, und dadurch selbst Gefangener des eigenen Handelns wird. Somit kann sich die zivile Logik nicht durchsetzen. Das ist eine Sorge, die wir ernst nehmen müssen. Ein anderes Beispiel ist Jelena Bonner, die uns aufgerufen hat, auf dass zu sehen, was in diesem Land geschieht. Jelena Bonner ist eine Frau, die zusammen mit ihrem Mann Beispiel dafür war, was Russland sein kann: ein Land der Demokratie und der Menschenrechte. Auch Memorial zeigt ein anderes Russland. Deshalb wünsche ich mir, liebe Kolleginnen und Kollegen, das es uns gelingt, mit dem demokratischen Russland, das es auch gibt, ein Zeichen der Hoffnung für eine andere Zukunft dieses Landes zu setzen. Wir müssen gemeinsam mit Russland versuchen, die Verknüpfungslinien aufzubauen, von denen Christian Schmidt soeben sprach. Wir müssen versuchen, innerhalb der Gesellschaft zwischen den Städte- und Gemeindepartnerschaften, die existieren, und den Gewerkschaften, die miteinander kooperieren, sowie den Künstlern Netzwerke aufzubauen und dafür zu sorgen, dass diese Netzwerke tragfähig gegenüber allen Gefährdungen sind - von welcher Regierung sie auch immer ausgehen. Wenn das ein Ziel werden kann, an dem wir gemeinsam arbeiten, dann glaube ich, dass wir gemeinsam mit ebenjenen Partnerinnen und Partnern mithelfen können, dafür zu sorgen, dass Russland irgendwann einmal, wie es in dem Artikel von Jelena Bonner heißt, ein sicheres und stabiles Land wird: für die eigene Bevölkerung wie auch für andere Länder und Völker. Ich darf am Schluss hinzufügen, dass es mittlerweile noch jemanden gibt, der sich in der praktischen Politik zurückgemeldet hat: Michail Gorbatschow. Michail Gorbatschow hat am letzten Sonntag auf einem Kongress die unterschiedlichen - es sind ein bisschen viele, nämlich 13 an der Zahl - sozialdemokratischen Parteien und Strömungen Russlands zusammengeführt. Er ist der Präsident ebenjener 13 unterschiedlichen Gruppierungen geworden, die nun eine gemeinsame, vereinigte Sozialdemokratie sind. ({3}) Wir hoffen sehr, dass Michail Gorbatschow mit der Sozialdemokratie versuchen kann, in diesem neuen demokratischen Russland einen Akzent zu setzen. Auf diesem Gründungskongress ist ein Beschluss zu Tschetschenien gefasst worden. Die Übersetzung ist etwas spröde, aber ich zitiere sie dennoch: Die Sozialdemokratische Partei Russlands fordert, das Problem Tschetschenien ausschließlich auf der Grundlage der Gesetze und des Humanismus zu lösen. Sie ist sich bewusst, dass die Lösung der großen nationalen Probleme mit gewaltsamen Methoden nicht möglich ist, und hält Folgendes für notwendig: auf dem Territorium Tschetscheniens den Notstand auszurufen und dadurch den Einsatz der Armee legitim zu machen; die Ereignisse in Tschetschenien für die Gesellschaft durchsichtiger zu machen und sie dadurch unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Hiermit ist das entscheidende Problem beschrieben. In diesem Beschluss wird deutlich, dass die Sozialdemokratie in Russland das Vorgehen der Armee in Tschetschenien für illegal hält, um es mit unseren Worten auszudrücken. Das macht klar, dass es andere Kräfte in der politischen Szenerie, in der zivilen Gesellschaft Russlands gibt. Wir hoffen sehr, dass diese Kräfte, auch Grigorij Jawlinskij und viele andere, die das andere Russland repräsentieren, Russland künftig stärker prägen werden als die militärische Logik, in der sich die gegenwärtige Regierung in Russland immer noch verfangen hat. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Dr. Friedbert Pflüger.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle haben die Berichte gehört, auch den Bericht des Kollegen Bindig, über Zerstörung und Gräueltaten, über Lager und über Flucht. Wer wollte angesichts solcher Berichte nicht aufschreien und fordern: Her mit Sanktionen! Kein Geld mehr für Russland! Lasst uns jetzt endlich moralisch deutlich werden und sagen: So nicht! Wir tun das nicht. Wir verbleiben alle miteinander in der Rhetorik. Das fällt uns allen miteinander schwer. Warum tun wir es? Hat die Moral in der Außenpolitik abgedankt? Haben sich realpolitische Interessen so weit nach vorne geschoben, dass wir unsere Werte vergessen? Ich glaube, bei näherem Hinsehen ergibt sich: Das ist nicht der Grund. Der Grund, warum man Moral in der Außenpolitik nicht hundertprozentig einsetzen kann, so wie man sich das wünscht, liegt in zwei Dingen: erstens darin, dass wir eine realistische Einsicht in unsere Möglichkeiten haben. Moral in der Außenpolitik hat dort ihre Grenze, wo wir de facto nicht in der Lage sind, Einfluss zu nehmen, oder wo uns ein so gewaltiges und großes Land gegenübersteht, dass wir keine Hebelwirkung haben. Es gehört in einer solchen Debatte zur Ehrlichkeit, so etwas zuzugeben. Nicht Indifferenz und Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid in Tschetschenien führen uns dazu, auf Sanktionen zu verzichten, sondern Einsicht in die Grenzen unserer Macht. Eine zweite Erwägung: Es gibt auch konkurrierende moralische Ziele. Das eine ist die Not der Flüchtlinge und das Elend in Tschetschenien. Aber würden wir Russland mit Sanktionen überziehen und isolieren, würden dann nicht andere moralische Ziele gefährdet, nämlich zum Beispiel das Ziel, Stabilität in Europa aufrechtzuerhalten, Bürgerkriege auf nuklear hochgerüstetem Territorium zu verhindern oder einen Partner in der Gert Weisskirchen ({0}) Abrüstung von Massenvernichtungswaffen oder bei der Bekämpfung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen nicht zu verlieren? Mit anderen Worten: Es gibt auch konkurrierende moralische Zielsetzungen, die in dieser Situation dazu führen, dass es richtig ist, hier im Parlament der Empörung Ausdruck zu geben und das zu sagen, was wir angesichts der Gräueltaten in Tschetschenien denken, die aber auch dazu führen, gegenüber Russland mit Maß zu reagieren. Ich glaube, dass es, anstatt Sanktionen zu beschließen, viel besser ist, den Versuch zu unternehmen, mit Putin, der am 26. März mit großer Wahrscheinlichkeit gewählt werden wird, einen Dialog aufzubauen und zu versuchen, Moskau wieder in die Strukturen von NATO und EU einzubinden. Wir haben das EU-NATOKooperationsabkommen. Das müssen wir mit neuem Leben erfüllen: Wir müssen gemeinsam Patenschaften aufbauen, das Sozial- und Gesundheitswesen reformieren, Umweltschutz und grenzüberschreitende Zusammenarbeit realisieren. Da gibt es eine ganze Agenda, und diese müssen wir wiederbeleben. Das Gleiche gilt für den NATO-Russland-Rat. Herr Robertson, der NATO-Generalsekretär, ist im Februar in Moskau gewesen. Was würde eigentlich näher liegen, als jetzt in diesen NATO-Russland-Rat Start II und Start III hineinzubringen, also das Weiterarbeiten an der nuklearen Abrüstung, das Thema nationale Raketenverteidigung, das die Amerikaner aufbauen und das die Russen und uns Europäer bewegt, hier in aller Offenheit zu besprechen und einen Weg zu finden, wie man ein Paket schnüren kann, um Start II und Start III zu ratifizieren, weitere nukleare Abrüstung und eine Raketenverteidigung, mit denen Russland und wir leben können? Ich finde es ganz wichtig, dass wir die Instrumente der Sicherheitspolitik, die wir auf europäischer Ebene haben, wiederbeleben und auf diese Weise versuchen, die Regierung Putin dazu zu bringen, sich verantwortlicher zu verhalten. Putin hat gegenüber Robertson erklärt, er wünsche sich, dass sich in Russland die europäische Option durchsetzt. Er blickt in erster Linie nach Westen, übrigens auch nach Deutschland. Er will, so hat er gesagt, dass seine Kinder in einem Russland aufwachsen, das in Europa integriert ist. Dieses Angebot des russischen Präsidenten zur Zusammenarbeit mit uns, so schwammig und diffus das auch noch sein mag, sosehr da noch über andere Optionen nachgedacht wird, müssen wir ernst nehmen, die Russen beim Wort nehmen und ihnen sagen: Wenn ihr denn Integration mit Europa weiter wollt, wenn ihr wirklich Partnerschaft wollt, dann müsst ihr um Himmels willen diesen Krieg, diese Gräueltaten beenden und dann müsst ihr zu einem zivilen Umgang zurückkehren. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist weit überzogen.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, meine Damen und Herren, dass wir uns in einer sehr ernsten Situation befinden. Die moralische Empörung ist wichtig, aber sie kann in einem solchen Fall nicht die Leitschnur und vor allem nicht die einzige Leitschnur unserer politischen Arbeit sein. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun spricht Herr Bundesaußenminister Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist in dieser Debatte viel Richtiges gesagt worden, was sich nicht nur bereits im Ausschuss auf breite Unterstützung aller Fraktionen des Hauses gründen konnte, sondern was auch die Haltung der Bundesregierung wiedergibt. Zum Krieg im Kaukasus: Wer die Geschichte des nördlichen Kaukasus und die dortigen Eroberungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennt und wer sich die heutige Situation anschaut, der muss mit Erschrecken feststellen, wie sehr sich die Geschichte dort wiederholt, wie oft es um Tschetschenien ging und wie bisher weder das zaristische Russland noch die Sowjetunion unter Stalin und auch nicht das heutige Russland, das sich auf dem Weg zur Demokratie befindet, mit den Mitteln der Gewalt in der Lage war, eine Lösung im nördlichen Kaukasus herbeizuführen. Neben den humanitären Erwägungen ist unsere Hauptsorge, dass der Krieg im Kaukasus zu einer dauerhaften Destabilisierung nicht nur der Region, sondern ganz Russlands beitragen kann und dass der Demokratisierungsprozess als solcher durch einen lang anhaltenden Krieg auf unterschiedlichster Ebene gefährdet wird. Wir haben schon jetzt viel zu viele unschuldige Opfer zu beklagen. Die Zerstörung einer Großstadt und der Krieg gegen ein ganzes Volk können und dürfen niemals legitime und verhältnismäßige Mittel im Kampf gegen Terrorismus sein. Dies haben wir der russischen Seite in direkten Gesprächen auf verschiedensten Ebenen immer wieder klargemacht. Wir werden auch in Zukunft klarmachen, dass wir dies nicht akzeptieren können, nicht akzeptieren wollen und nicht akzeptieren dürfen. ({0}) Ich möchte hier vor allen Dingen auf die außenpolitischen Punkte und nicht auf den innenpolitischen Teil der Debatte eingehen. Es ist legitim, dass die heutige Opposition darauf eingeht. An Ihrer Stelle würde ich vermutlich ähnlich handeln. ({1}) - Richtig, aber Sie müssen noch mehr lernen, wenn Sie unser Niveau erreichen wollen. Sie haben ja noch viele Jahre vor sich, um das zu lernen. Ich bin durchaus hoffnungsfroh, dass Sie diese Zeit nutzen werden. ({2}) Ich möchte zur Sache zurückkehren, denn die Sache ist verflucht ernst. Es geht nicht nur um die Frage des nördlichen Kaukasus. Hier macht die PDS einen großen Fehler: Die Parallelität besteht nicht zum Kosovokrieg. Russland bedurfte keiner weiteren Entfesselung oder Enthemmung. Sie können schon an der Vorgehensweise Russlands im ersten Tschetschenienkrieg sehen, dass es hier keinen Zusammenhang gibt. Aber das heutige Problem hat eine ähnliche - um nicht zu sagen: dieselbe Ursache. Gerade Sie müssten aufgrund profunder Schulungskenntnisse aus früheren Tagen noch wissen, dass neben der Agrarfrage die Nationalitätenfrage die entscheidende Frage war, die in vielen Schriften auch von Wladimir Iljitsch Lenin erörtert wurde und die noch immer ihrer Beantwortung harrt. In der Tat ist die Nationalitätenfrage die entscheidende Frage für Russland, im Kaukasus und auf dem Balkan. Ich komme nun, Herr Schmidt, zu den entscheidenden Unterschieden. Wir haben die russische Seite immer wieder gefragt: Wo sind eure politischen Antworten? Wir haben das immer wieder gefragt, weil wir glauben, dass eine militärische Lösung nur noch mehr unschuldige Opfer und eine weitere Destabilisierung bringt. Auf unsere Frage haben wir nur die Antwort bekommen, dass man im Moment jede Autorität akzeptiere, die in der Lage sei, das Gebiet zu kontrollieren und Tschetschenien innerhalb der Grenzen Russlands zu halten. Das ist entschieden zu wenig, um dieses Problem zu lösen. Deswegen ist der Stabilitätspakt nicht irgendeine Kopfgeburt. Der Stabilitätspakt, den wir als präventive Antwort auf die ungelöste Frage des Balkans entwickelt haben, ist von entscheidender Bedeutung, um diese Region an das Europa der Integration heranzuführen und eines fernen Tages - wenn es von den Beteiligten gewünscht wird - in Europa hineinzuführen. Er ist die Antwort, damit die Völker, wenn sie um dasselbe Territorium oder um ihre Unabhängigkeit kämpfen, eben nicht zu den Mitteln der Gewalt greifen und damit sie im Rahmen eines integrativen und kooperativen Prozesses, der Entwicklung, Wohlstand, Frieden und Sicherheit bedeutet, eine Perspektive haben. Auch Russland wird in diese Richtung Antworten geben und sich engagieren müssen. Wenn es das nicht tut, glaube ich nicht an eine politische Lösung in dieser Region. Dann wird sich die Gewaltspirale weiterdrehen. ({3}) Wenn man das Problem so sieht, dann sind aus meiner Sicht nach dem Abschluss des Vertrages von 1996, der bei allen Unzulänglichkeiten gar nicht so schlecht war, entscheidende Fehler gemacht worden, nämlich insofern, als sich die Russische Föderation zurückgezogen hat und sie Tschetschenien sich selbst überlassen hat, mit der Konsequenz, dass man in die Falle der Talibanisierung hineinlief, die mit dem Begriff des islamischen Terrorismus beschrieben werden kann, und dass man eine Entwicklung hat treiben lassen, deren negative Folgen die Russische Föderation in eine Situation gebracht haben, in der nur noch maßlose Gewalt anscheinend einen Ausweg zu bieten schien. Ich halte dieses nicht für einen Ausweg. Ich stimme aber auch jenen zu, die hier zu Recht betonen, dass Deutschland seine Beziehungen zu Russland nicht allein an Tschetschenien festmachen kann. Ich kann Sie beruhigen. Wir haben sehr stark daran gearbeitet, dass der NATO-Russland-Rat in die Gänge gekommen ist. Er hat sich gestern getroffen. Von russischer Seite wurde dort unter anderem über NMD gesprochen und darüber diskutiert. Wir halten das für einen wichtigen Punkt und einen wichtigen Schritt nach vorne. Die strategischen Fragen, die Sie, Herr Abgeordneter Schmidt, angesprochen haben, spielen in allen Gesprächen mit der russischen Seite eine zentrale Rolle. Sie können ganz beruhigt sein. Es ist nichts vergessen worden. Es wäre auch töricht, die Gelegenheit nicht zu nutzen, um die russische Position kennen zu lernen und gleichzeitig unsere Position entsprechend darzustellen. Russland steht auch vor einem ganz entscheidenden Schritt der inneren Demokratisierung und Zivilisierung. Dies bedeutet eine Abkehr von der Geschichte der Gewalt, auch und gerade staatlicher Gewalt, die Russland in den vergangenen Jahrhunderten geprägt hat. Dies bedeutet auch ein Hinwenden zu einem Rechtsstaat, zur Beachtung der Menschenrechte und zur Beachtung von Minderheitenrechten, bei allen legitimen Interessen Russlands an seinem Territorium. Auch wir haben ein Interesse daran, dass Russland nicht zerfällt, sondern ein stabiler und integrierter Faktor bleibt. Aber das heißt auch, dass Russland unter der neuen Regierung einen neuen Schritt in Richtung Westpolitik machen muss. Ich denke, hier besteht eine große Chance, und wir sind bereit, einen solchen Schritt Russlands nicht nur zu unterstützen, sondern mit einem Neuansatz zu beantworten. Ich denke hier nicht nur an eine bilaterale Ostpolitik, sondern in der Tat an eine europäische Ostpolitik, die nach dem In-Kraft-Treten des Vertrages von Amsterdam eine der wichtigen Angebote Europas an Russland ist. Die erste Strategie, die die EU verabschiedet hat, war die Russland-Strategie. Wir sind bereit, hier einen neuen Weg einzuleiten und auch einen Schritt zu machen, um eine neue Epoche unserer Beziehungen zu eröffnen. Gleichzeitig dürfen wir aber in den Fragen der Menschenrechte und dieser humanitären Katastrophe nicht nachlassen, hier mit klarer und eindeutiger Sprache auch wenn unsere Mittel sehr begrenzt sind - Russland klarzumachen, dass dieser Weg ein Weg ist, der in den Irrtum, zu unschuldigen Opfern und zu unhaltbaren Zuständen führt und den wir auf keinen Fall akzeptieren können. Die Bundesregierung hat es an dieser klaren Sprache nicht fehlen lassen. Auf der anderen Seite ist Russland ein entscheidendes Element europäischer Sicherheit. Geopolitisch wird es immer unser Nachbar sein. Wir Deutschen wissen, wie wichtig ein gutes Verhältnis zu Russland für Europa ist. Auch daran sollten wir arbeiten. Ich hoffe, hier die Unterstützung des ganzen Hauses auch für die Zukunft zu haben. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses, zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der F.D.P., Drucksache 14/2757. Der Ausschuss empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/2279 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussfassung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2756. Der Ausschuss empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/2289 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Gegen die Stimmen der PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen worden. Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 8 und 10 von der heutigen Tagesordnung abzusetzen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Die soeben abgesetzten Tagesordnungspunkte sollen in der kommenden Sitzungswoche behandelt werden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie die Zusatzpunkte 5 bis 7 auf. 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Norbert Otto ({0}), Dirk Fischer ({1}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Weiterbau des Verkehrsprojektes Deutsche Einheit ({2}) Nr. 8 - Schienenneubaustrecke Nürnberg-Erfurt-Halle/Leipzig-Berlin - Drucksache 14/2692 ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Mertens, Hans-Günter Bruckmann, Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert Schmidt ({3}), Franziska Eichstädt-Bohlig, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur Thüringen/Nordbayern im Rahmen des Verkehrsprojektes Deutsche Einheit ({4}) Nr. 8 Schienenneubaustrecke Nürnberg-Erfurt-Halle/Leipzig-Berlin Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich, Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Ja zur Schienenneubaustrecke NürnbergErfurt-Halle/Leipzig-Berlin - Drucksache 14/2914 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Christine Ostrowski, Eva Bulling-Schröder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Flächenhafter Ausbau der Schienenwege im Bereich Nordbayern, Hessen, Thüringen und Sachsen - Drucksache 14/2525 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({7}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Norbert Otto, CDU/CSU-Fraktion.

Norbert Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001668, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die verschiedenen Äußerungen der Bundesregierung zum Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 8, also zur ICE-Strecke Nürnberg-Erfurt-Halle/Leipzig-Berlin, ähneln in ihrer Sprunghaftigkeit dem Verlauf einer Achterbahn. Hielt die Vorgängerregierung noch ihre klare Aussage für den Bau der Trasse Nürnberg-Erfurt-Berlin ein, so änderte Rot-Grün alle paar Monate die Meinung. Nach anfänglichen Zusagen und einem knappen Jahr Stillstand folgte im Juli 1999 die Talfahrt. Minister Müntefering stieß den ICE in den freien Fall und begründete dies mit Unwirtschaftlichkeit der Strecke. Seriöse Untersuchungen haben vorher das genaue Gegenteil ausgewiesen. Kaum sechs Monate später - sein Nachfolger, Herr Klimmt, war gerade im Amt - zeigte sich die Regierung wieder gesprächsbereit. Nach diversen Wahlniederlagen in den Ländern hatte die SPD erkannt, dass Menschen und Wirtschaft in Thüringen, Bayern und Berlin die ICE-Verbindung als Lückenschluss im europäischen Netz haben wollen und brauchen. Es gab also wieder Hoffnung. ({0}) Doch auf die ersten positiven Signale von Minister Klimmt, die zahlreiche SPD-Kollegen sogleich mit vollmundigen Zusagen für den Weiterbau der Trasse unterlegten, folgte die Rückrufaktion durch den Kollegen Eichel. Eine eindeutige Aussage für den Weiterbau hat die Regierung seitdem immer wieder geschickt vermieden. Allerdings - und das nehmen wir auch gerne zur Kenntnis - gehen die jüngsten Aussagen von Herrn Klimmt und Bahnchef Mehdorn nun endlich wieder in die richtige Richtung, in die Richtung, welche wir von Anfang an vertreten haben. Auch die unsinnige Saalebahn-Umleitung, die keiner wollte, ist nunmehr zum Glück vom Tisch. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, weitgehende Passagen Ihres Antrages, der heute hier beraten wird - das bitten wir genau zu beachten -, entsprechen auch unserer Intention und der seit geraumer Zeit bekannten Vorlage, die wir ja heute auch beraten. Wenn Sie jedoch die Regierung auffordern zu prüfen, ob und wie die Nord-Süd-Trasse ausgebaut werden kann, dann frage ich mich doch allen Ernstes, was Sie eigentlich in den ersten anderthalb Jahren Ihrer Regierungszeit gemacht haben. ({1}) Sie wollen das Ob und das Wie prüfen; das heißt, Sie stellen das Projekt in Ihrem Antrag wiederum infrage. Das muss hier deutlich gesagt werden. ({2}) Als Ergebnis kam ein Baustopp heraus. Ich hoffe, dass dieser wieder aufgehoben wird. Jetzt wollen Sie aber schon wieder prüfen lassen. Sie wollen wieder prüfen, prüfen, prüfen. ({3}) Vielleicht kommt dabei dann heraus, dass das Ergebnis im Jahre 2002 oder später auf den Tisch des Hauses kommt. Liebe Freunde, das alles ist reine Verzögerungstaktik. Ich möchte Ihnen heute raten: Greifen Sie die Hand, die Ihnen CDU/CSU, das Land Thüringen und der Freistaat Bayern in Form verschiedener Realisierungsvorschläge reichen. Nehmen Sie die positiven Signale auf, die die Thüringer Landesregierung und Bahnchef Mehdorn bei ihrem letzten Gespräch am Montag ausgesandt haben. Bewegen Sie die Bundesregierung dazu, das Projekt umgehend zu realisieren. Nur so lassen sich unter anderem die Ausgaben in Höhe von 15 Millionen DM an Steuergeldern, die pro Jahr durch diesen Baustopp anfallen, vermeiden. Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich mich noch kurz an meine Thüringer SPDKollegen wenden. ({4}) Wir arbeiten hier ja eigentlich zusammen und haben dasselbe Ziel; davon bin ich völlig überzeugt. Lassen Sie bei der kommenden Abstimmung Ihren Worten endlich Taten folgen, indem Sie sich unserem Antrag anschließen und nicht wieder wie beim vergangenen Mal den Saal vor der Abstimmung verlassen! ({5}) Den Menschen in Thüringen würden Sie mit Ihrer Zustimmung ein eindeutiges Zeichen geben. Damit könnten Sie das Vertrauen, das Sie bei der letzten Wahl in Thüringen verloren haben, wieder herstellen. Ausnahmsweise sind wir Ihnen dabei einmal behilflich. Schönen Dank. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun Herr Kollege Wieland Sorge, SPD-Fraktion.

Wieland Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002193, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Norbert Otto, wenn Sie uns unterstellen, wir betrachteten das Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 8 als Achterbahn, dann ist das schon ein tolles Stück. Wir haben uns mit diesem Thema bereits im vergangenen Jahr beschäftigt; seinerzeit lagen dazu Anträge aus allen Fraktionen vor. Damals ging es darum, die Überprüfung durch die Bundesregierung zu beenden und eine Aussage dahin gehend zu treffen, dass weitergebaut wird. In einem zweiten Antrag wurde gefordert, dass der Baustopp durch die Bundesregierung beendet, die Strecke gebaut und der Bau von Erfurt aus in Richtung Ilmenau und Nürnberg fortgesetzt wird. Meine Damen und Herren, was haben wir eigentlich an unterschiedlichen Positionen bisher gehabt? Wir Sozialdemokraten hatten uns von Anfang an für diese Strecke entschieden. ({0}) - Moment, Moment! Was uns immer unterschied, ist, dass wir aus der Verantwortung für dieses Land heraus zu prüfen hatten, ob Einzelprojekte zu finanzieren sind. Wir reden hier ja nicht über Peanuts; es geht immerhin um 15 Milliarden DM. Ich bezweifle, ob wir diese 15 Milliarden DM so ohne Weiteres aufbringen können. In keinem der Anträge steht, wie diese Summe aufzubringen ist. ({1}) Norbert Otto ({2}) Nun stellt sich die Frage, warum wir uns am heutigen Tage erneut mit vier Anträgen zu diesem Thema beschäftigen müssen. Hat sich die Situation in irgendeiner Form geändert? Die Antwort lautet Ja. Die Bundesregierung hat mit der Landesregierung von Thüringen den Beschluss gefasst, auf die Querspange nach Saalfeld zu verzichten und den Bau von Traßdorf in Richtung Ilmenau fortzusetzen, also genau auf der geplanten Strecke. Damit setzt die Bundesregierung das Signal, dass sie auch weiterhin an dieser Strecke interessiert ist. Das Zweite, was sich geändert hat, ist, dass sich Herr Mehdorn, der neue Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG, ebenfalls zu dieser Strecke bekannt hat. Er hat aber, lieber Kollege Norbert Otto, in dem Gespräch mit Ministerpräsident Vogel klipp und klar gesagt - Sie können alle fragen, die bei diesem Gespräch dabei gewesen sind -, für ihn habe das Netz 21 erste Priorität, was in erster Linie bedeute, den Bestand zu sichern und zu entwickeln. ({3}) Er fügte hinzu, erst wenn wir zusätzliche Mittel aufbringen könnten, könne er sich für den Bau dieser Bahnstrecke aussprechen. Er hat nirgends gesagt, dass er diese Strecke sofort bauen wolle. Was hat sich noch geändert? Die beteiligten Landesregierungen haben sich noch einmal in aller Öffentlichkeit dazu geäußert. Es sind im Wesentlichen die Regierungen von Thüringen, Bayern, Sachsen und SachsenAnhalt, die an dieser Bahnstrecke ein riesengroßes Interesse haben. Wie sie die Strecke begründen, deckt sich exakt mit unserer Auffassung: Es ist eine wichtige NordSüd-Verbindung innerhalb Deutschlands. Wir haben natürlich ein Interesse daran, dass die europäischen Netze vollendet werden. Das heißt: Die europäischen Infrastrukturmaßnahmen müssen in dieses System eingebaut werden. Von uns wird eine klare Aussage getroffen, die in diese Richtung geht. Wir haben dazu einen Antrag eingebracht, der genau diesem Ansinnen gerecht wird. Wir wollen diesen Schritt in Richtung des Baus der Strecke Erfurt-Ilmenau machen. Die Kritiker haben früher immer gesagt: Diese Strecke ist nicht sinnvoll, weil der Verkehr erst möglich ist, wenn die letzte Schiene gelegt ist. Wir wollen, dass der Verkehr zwischen Erfurt und Ilmenau sofort aufgenommen wird, wenn der Bau der Strecke beendet wird. ({4}) Wir haben im Rahmen unserer Investitionspolitik, die wir im Investitionsprogramm begründet haben, ganz deutlich gemacht, dass wir in erster Linie für die neuen Bundesländer Sorge tragen ({5}) und dass die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ immer an erster Stelle stehen. Wir haben in unserem Antrag die Bundesregierung aufgefordert, zu prüfen, welche Möglichkeit wir haben, diese Strecke kostengünstig zu bauen, und wie wir zusätzliche Mittel beschaffen können, um so schnell wie möglich diesen Bau zu beginnen und durchzuführen. ({6}) - Das, lieber Kollege Otto, steht für uns eigentlich fest. Wir haben an keiner Stelle gesagt, dass wir uns von dieser Strecke verabschieden ({7}) und dass wir diese Strecke nicht bauen wollen. Wo steht das? ({8}) Es ist völlig falsch, was uns hier unterstellt wird. Wir haben immer ganz klar zum Ausdruck gebracht, wo das Problem liegt: Wir können unter den jetzigen Bedingungen aufgrund der Haushaltssituation die 15 Milliarden DM nicht finanzieren. Diese Tatsache müssen Sie endlich einmal einsehen. Deshalb müssen wir jetzt gemeinsam versuchen, Möglichkeiten zu finden, wie die Strecke von Bund, Ländern und Bahn finanziert und dann gebaut werden kann. Das sollten wir gemeinsam tun. Wenn Sie diese Strecke unbedingt wollen, dann bedeutet das natürlich, meine Damen und Herren von der rechten Seite, dass andere Vorhaben in anderen Ländern zurückgestellt werden müssen und dass es möglicherweise zur Streichung von anderen Strecken kommt. Wir können nicht mehr Geld ausgeben. ({9}) - Das zu fordern ist Ihr gutes Recht.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, ich darf Sie daran erinnern, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.

Wieland Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002193, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich darf kurz zusammenfassen: Liebe Kollegen, wenn Sie uns Wege aufzeigen, wie wir die 15 Milliarden DM aufbringen können, dann sind wir gerne bereit, diese Strecke zu bauen. Dabei bleiben wir. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Koalitionspartner haben von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass bei allen Fragen der weiteren Verkehrsplanung ein Grundsatz gilt: Es wird und darf in diesem Land keine Investitionsruinen geben. Das steht im Koalitionsvertrag; das können Sie nachlesen. Es ist nichts Neues. Dieser Grundsatz gilt generell und auch an dieser Stelle. Deshalb bin ich nachdrücklich dafür, dass die begonnenen Baumaßnahmen, die wir vorgefunden haben und die heute zu besichtigen sind - ich kann Ihnen versichern, ich habe sie mir mehrmals an Ort und Stelle angeschaut -, selbstverständlich einen Verkehrswert erhalten müssen und dass sie nicht sozusagen als Stumpf in der Landschaft ungenutzt täglich Kosten verursachen, ohne einen verkehrlichen Wert zu entwickeln. Von daher haben wir, Bündnis 90/Die Grünen, selbst vorgeschlagen - Sie konnten dies auch öffentlich feststellen -, den bisherigen Neubauabschnitt von Erfurt Richtung Arnstadt weiterzuführen und die aufstrebende Universitätsstadt Ilmenau mit einer Verbindungskurve anzuschließen, sodass künftig auf der Strecke zwischen der Landeshauptstadt Erfurt und der Universitätsstadt Ilmenau gegenüber einer Fahrtzeit von heute 60 Minuten lediglich 20 Minuten Fahrzeit aufzuwenden sind. Dies schließt ausdrücklich ein - das möchte ich deutlich sagen -, dass die Altstrecke, die Bestandsstrecke, weiterhin bedient wird. Denn dies ist notwendig, damit die Fahrgäste im Nahverkehr, die entlang der Altstrecke wohnen, auch künftig ein angemessenes Angebot haben. ({0}) Das hat die Landesregierung von Thüringen ausdrücklich versichert. Durch den Anschluss von Ilmenau wird auch die Landesregierung in die Lage versetzt, einen Nahverkehr in der Größenordnung von 20, 25 Zugpaaren pro Tag durchzuführen, sodass künftig eine attraktive Verbindung hergestellt ist. Diese Entscheidung, die in unserem gemeinsamen Antrag noch einmal ausdrücklich begründet wird, beinhaltet aus meiner Sicht allerdings - das sage ich genauso deutlich - keine terminliche oder sonstige Festlegung hinsichtlich des weiteren Verfahrens. ({1}) Die Finanzierung, die wir derzeit zusagen können, erstreckt sich bis zum Horizont der Jahre 2003, 2004. Bis dann muss der Anschluss an Ilmenau hergestellt sein. Diese Zeit - das ist nach wie vor meine Auffassung - sollten wir intensiv nutzen, um gemeinsam zu prüfen - ich meine hier das Unternehmen Deutsche Bahn AG, das prüfen muss, inwieweit es in deren Konzepte passt; ich meine aber auch die Verkehrspolitik in Bund und Ländern -, ob das Festhalten an der jetzigen Planung südlich von Ilmenau die optimale Lösung darstellt oder nicht. Ich sage Ihnen mit allem Ernst - Sie konnten das in den letzten Tagen in der Presse nachlesen -: Überall dort, wo wir derzeit Großbaustellen im Bahnbau haben das gilt für Köln-Frankfurt, das gilt für den Knoten Berlin und es gilt auch für die im Bau befindliche Neubaustrecke von Nürnberg nach Ingolstadt -, erleben wir eine Kostenexplosion in einer Größenordnung, die sich nach Milliarden und nicht nach Millionen bemisst. Dies führt dazu, dass die Frage immer dringlicher wird - sie wird immer schwerer zu beantworten sein - ob wir überhaupt noch genug Geld haben, um das Bestandsnetz zu sichern. Bei den Projekten VDE 8.1 und 8.2, also Nürnberg-Erfurt und Halle-Leipzig, haben wir summa summarum einen Kostenstand von 15 Milliarden DM. Ich unterstelle, dass auch diese Projekte mit 40 Kilometern Tunnel, bei denen die Sicherheitsauflagen viel strenger sind als vor Jahren, mehr kosten werden. Ich rate dringend dazu, gemeinsam zu überlegen, ob dies wirklich eine Planung ist, die uns an das Ziel führt, oder ob es nicht schädlich ist, dass wir an maximalen Forderungen festhalten und dabei in Kauf nehmen, dass wir diese immer weniger finanzieren können. Deswegen rate ich nach wie vor dazu, die verschiedenen Möglichkeiten für den weiteren Verlauf der schnellen Verbindung Richtung Nürnberg, die wir gemeinsam wollen, auszuloten und zu prüfen: in technischer Hinsicht, in verkehrspolitischer Hinsicht, aber auch in fiskalischer Hinsicht, liebe Frau Kollegin. Denn was Sie gemacht haben, war keine Politik. Sie haben uns diese miserablen Verträge hinterlassen und haben uns garantiert, dass die Kosten der Neubaustrecke zwischen Frankfurt und Köln 7,8 Milliarden DM betragen. Dazu sage ich: Pfeifendeckel! Wir marschieren in Richtung 10 Milliarden DM. Die verlogenen Zahlen, die bei der Berlin-Planung zugrunde gelegt worden sind, waren keine Politik. Sie haben uns falsche Zahlen hinterlassen. Das Unternehmen muss es jetzt ausbaden. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Denken Sie bitte an Ihre Redezeit, Herr Kollege.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum letzten Satz, Frau Präsidentin. Ich kann deshalb nur dringend dazu raten, auch zu prüfen, ob eine Kombination von Nutzung des vorhandenen Neubauabschnittes, Schließen von Lücken, was zweifellos notwendig ist, und Ausbau von Bestandstrassen nicht zielführender, wirtschaftlicher und umweltverträglicher ist als das starre Beharren auf einer Maximalplanung von gestern, die in absehbarer Zeit letztlich nicht bezahlbar sein wird. Ich danke Ihnen. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Dr. Guttmacher von der F.D.P.-Fraktion das Wort. Albert Schmidt ({0})

Dr. Karlheinz Guttmacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die vorhandenen Straßen- und Schienenwege in den neuen Bundesländern sind derzeit in keiner Weise im Hinblick auf Erschließung und Qualität mit denen in den alten Bundesländern vergleichbar. Deswegen muss die Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern als Voraussetzung für eine dynamische Wirtschaftsentwicklung dringend verbessert werden. ({0}) Genau dies war der Grund dafür, dass die Bundesregierung aus CDU/CSU und F.D.P. das Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ Nr. 8 in den Bundesverkehrswegeplan eingebracht hat. ({1}) Wegen der eminenten Bedeutung für den Aufbau der neuen Bundesländer wurde für die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ Nr. 8.1 und Nr. 8.2 unter Anwendung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes in kürzester Zeit Baufreiheit geschaffen. Seit April 1996 wurde die Strecke Leipzig/Halle-Erfurt-Ebersfeld gebaut. Nach mehr als drei Jahren stoppt die Bundesregierung den begonnenen Bau. Insgesamt wurden bisher 1,3 Milliarden DM in dieses Projekt, in die Planung, in die Beschaffung von Grund und Boden und in die Ausführung von Baumaßnahmen, investiert. Sie müssen sich einmal am Erfurter Kreuz anschauen, welche Investruinen hinterlassen worden sind. ({2}) Der Baustopp für die ICE-Strecke bedeutet im Übrigen auch einen Verstoß gegen die gegenüber der EU und dem Europäischen Rat übernommene Verpflichtung, diesen Abschnitt der ICE-Trasse von München bis Berlin als ein Segment der transeuropäischen Strecke zwischen Barcelona und den skandinavischen Ländern zu realisieren. ({3}) Barcelo- na ist links unten!) Der Europäische Rat in Köln hat für dieses Vorhaben die Bereitstellung von 4,6 Milliarden Euro beschlossen. In dieser Pflicht stehen auch Sie. Erfreulich ist die Mitteilung von Herrn Mehdorn, dass er der Strecke Berlin München eine herausragende Bedeutung beimisst. Das Vorhaben, von dem Sie, Herr Sorge, gerade gesprochen haben, nämlich die Priorität auf die MitteDeutschland-Bahn zu setzen, ist mit dem Vorhaben hinsichtlich der Eisenbahnstrecke Nürnberg-ErfurtLeipzig/Halle nicht vergleichbar. Beide Projekte haben eine unterschiedliche Linienführung; insofern können wir diese beiden Linien nicht austauschen. Es ist schon spektakulär, wenn von der Bundesregierung der Ausbau der Mitte-Deutschland-Bahn als ein Ergebnis des Stopps des Baus an der ICE-Trasse München - Berlin bezeichnet wird. Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen. ({4}) Die Aussage, dass das Investitionsvolumen für die Mitte-Deutschland-Bahn im Ergebnis auf 665 Millionen DM angehoben werden könnte, ist schlicht und einfach falsch. Schon im Investitionsprogramm für den Ausbau der Schienenwege des Bundes 1998 bis 2000 wurden diese 665 Millionen DM für den Ausbau der Gesamtstrecke Paderborn - Chemnitz festgeschrieben. Ich halte es für gerechtfertigt und für gut, dass dem Land Thüringen 35 Millionen DM für den Ausbau der MitteDeutschland-Bahn im Abschnitt zwischen Glauchau, Gera und Weimar sofort zur Verfügung stehen. Mit unserem Antrag möchten wir die Bundesregierung auffordern, ihre Fehlentscheidung zu korrigieren, den vorläufigen Baustopp für das Projekt aufzuheben und die Neubaustrecke zügig zu realisieren. Außerdem bitten wir darum, dem Deutschen Bundestag über die Finanzierung und die Ausführungsplanung regelmäßig zu berichten. Ich danke. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile dem Kollegen Winfried Wolf, PDS-Fraktion, das Wort.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es stimmt schon: Es ist grotesk, dass zehn Jahre nach der Vereinigung keine Schienenschnellverbindung zwischen Berlin und München existiert, dass der ICE München - Berlin weiterhin zunächst über Braunschweig nach Osten fährt und dass er 40 Prozent mehr als auf der Direktverbindung zurücklegen muss. Er fährt also in der Form einer Deutschlandrundreise. Richtig ist schließlich: Die neue Bundesregierung hat das Projekt einer Hochgeschwindigkeitsstrecke über Erfurt bis 2002 weitgehend auf Eis gelegt. Dass jetzt aber CDU, CSU und F.D.P. mit roter Schaffnermütze „höchste Eisenbahn“ brüllen, ist höchst demagogisch. Tatsächlich hatten Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von den alten Regierungsparteien, acht Jahre lang Zeit, gewissermaßen Zug um Zug den Osten zu erschließen. ({0}) Während im Deutschen Reich nach 1871 Jahr für Jahr 1 000 Kilometer neue Schienenwege gebaut wurden, wurden in den acht Jahren in den neuen Ländern 1 000 Kilometer Schienenwege abgebaut. Es war doch Herr Wissmann, der beim Bau der Verbindung München Berlin über Erfurt bereits im Bremserhäuschen saß. ({1}) Doch tragischerweise präsentieren sich jetzt SPD und Grüne mit ihrem Antrag zu diesem Thema heute vor allem als Pausenclowns auf leeren Bahnsteigen. Da wird die „Entscheidung der Bundesregierung begrüßt...“, nämlich die Entscheidung, nichts zu tun. Dieser Bundesregierung wird attestiert, sie praktiziere den „Vorrang für den Aufbau Ost“. Das stimmt einfach nicht. Außer Bremsen tut sie gar nichts. Indirekt verfolgen Sie mit dem Prüfauftrag für einen weiteren Ausbau der Nord-Süd-Schienenverbindung genau dieselbe falsche Philosophie wie die alte Bundesregierung: Von München nach Berlin soll es möglichst fix gehen. Gerade das nützt aber den neuen Ländern wenig siehe die Hochgeschwindigkeitsstrecke Hannover - Berlin, die bekanntlich als Interzonenbahn betrieben wird, meist ohne Halt in den neuen Ländern. ({2}) Die anvisierten 3,5 Stunden Fahrzeit für eine Verbindung München-Berlin laufen auf das Folgende hinaus: Erstens. Es wird extrem umweltzerstörend gebaut. Zweitens. Die bevölkerungsdichtesten Regionen werden nicht an einen modernen Schienenverkehr angebunden. Drittens: Wichtige Städte bleiben abgehängt - siehe als abschreckendes Beispiel die aktuelle Debatte darüber, Frankfurt am Main und Stuttgart besser zu verbinden und dabei Mannheim abzuhängen. Der PDS-Antrag fordert stattdessen, umgehend mit dem Ausbau eines halben Dutzends konkret benannter Strecken in der besagten Region zu beginnen. Damit könnten mit denselben Summen Schienenwege von rund dreimal größerer Länge auf den modernsten Stand gebracht werden. Die Fahrzeit zwischen München und Berlin würde von derzeit sechs Stunden auf rund 4,5 Stunden reduziert werden und es würden in erster Linie bestehende Schienenwege ausgebaut, das heißt, die Umwelt würde wenig belastet. Vor allem: Es würden rund fünfmal mehr potenzielle Fahrgäste an ein modernisiertes Schienennetz angebunden als bei dem bisher geplanten Projekt. Wir gestehen - zum Schluss -: Die PDS ist hier extrem konservativ. „Conservare“ heißt „erhalten“, den Bestand erhalten; das heißt in diesem Falle: ausbauen. Uns geht es nicht um Höchstgeschwindigkeit für wenige, sondern uns geht es darum, für einen modernen Schienenverkehr zu sorgen, das heißt für einen Schienenverkehr für viele mit Komfort und mit Reisegenuss. Danke schön. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Renate Blank für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ICE-Trassen-Verwirrspiel zeigt die Unfähigkeit der Bundesregierung und der Koalition. ({0}) Der Bundeskanzler sagt Ja zur Trasse und zur zügigen Realisierung - natürlich insbesondere im Wahlkampf in Thüringen - und jetzt ist er auf Tauchstation. ({1}) Der ehemalige Minister Müntefering wollte die Trasse, die Trasse wird gebaut, und dann haben SPD - Leute vor Ort - ich nenne nur die Namen Verheugen, den Sie nach Europa geschickt haben, die Kollegin Mattischeck usw. - das Aus für die Strecke verkündet. Der Minister Klimmt scheut klare Aussagen, ({2}) obwohl die SPD vor Ort für den Bau dieser Trasse ist und die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands in Nürnberg auf einem Kongress den schnellen Weiterbau der Trasse gefordert hat. Ich hoffe, dass der neue Staatssekretär vielleicht eher auf die Aussagen der Gewerkschaft hört, als es bisher der Fall war. Mittlerweile hat man ja gemerkt - oder scheint gemerkt zu haben -, dass diese Trasse in den transeuropäischen Netzen enthalten ist. Kollege Schmidt von den Grünen, man sollte die transeuropäischen Netze nicht lächerlich machen, denn sie sind geschaffen worden, um in Europa schnell von A nach B zu kommen. ({3}) Man hat nun gemerkt, dass diese Trasse in den transeuropäischen Netzen enthalten ist, und stellt sie jetzt in das so genannte Investitionsprogramm ein - allerdings nur 365 Millionen DM bis zum Jahre 2002; der Rest von 6,4 Milliarden DM kommt danach. Das tut man auch nur deshalb, weil Gelder an die EU hätten zurückgezahlt werden müssen, wenn der Stopp des Baus der Trasse eingetreten wäre. Jetzt hat Bahnchef Mehdorn vor dem Ausschuss ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er eine Schnelltrasse München - Nürnberg - Erfurt - Berlin möchte. Dazu gehört nun einmal der Ausbau, damit man von München nach Berlin in dreieinhalb Stunden kommen kann. Dann kann man auf der Strecke zwischen Nürnberg und Erfurt nicht Blümchen pflücken; das ist nun einmal nicht machbar. ({4}) Die Grünen reden dauernd davon, dass mehr Verkehr auf die Schiene gebracht werden soll. Wenn aber eine Schnelltrasse gebaut werden soll, wird sie von Ihnen und Ihren Anhängern vehement bekämpft. Kollege Schmidt, Sie spielen sich hier ein bisschen auf, ({5}) als der heimliche Verkehrsminister oder auch als Bahnchef. ({6}) Vielleicht denken Sie noch ein bisschen um. Aber die größte Scheinheiligkeit ist der Antrag der Koalitionsfraktionen. Denken Sie eigentlich, dass wir, die Bürger oder die Verbände Ihre Verschleppungstaktik nicht merken? ({7}) Oder sollte plötzlich bei Ihnen Einsicht eingekehrt sein, sodass Sie umdenken? Aber Ihre Halbherzigkeit, Ihre Widersprüche und Ihre Täuschungen ({8}) bezeichnen Sie in Ihrem Antrag als „Politik der verlässlichen und verbindlichen Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur auf höchstmöglichem Niveau“. Diese Bemerkung in Ihrem Antrag ist schon äußerst dreist. ({9}) Denn Sie wollen ja nicht schnell bauen, sondern weiter prüfen, prüfen und prüfen, ({10}) obwohl die Trasse für das Wachstum und die Beschäftigung gerade in den neuen Ländern dringend erforderlich ist. ({11}) Zum Schluss möchte ich mich bei dem aus dem Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs geschiedenen Kollegen Ibrügger ganz herzlich für die gute, sachliche und kompetente Zusammenarbeit sowohl im Ausschuss als auch in seiner Eigenschaft als Parlamentarischer Staatssekretär bedanken. ({12}) Wir wünschen ihm alles Gute und vor allen Dingen gute Gesundheit. Aber, Kolleginnen von der SPD - das kann ich mir jetzt nicht verkneifen -: Ich erinnere mich an eine Diskussion in Bonn, bei der eine Kollegin von der SPD gesagt hat, es sei Zeit, dass endlich ein weibliches Wesen Parlamentarische Staatssekretärin werde. ({13}) - Ich habe von einer Parlamentarischen Staatssekretärin, nicht von einer beamteten gesprochen. ({14}) Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass das gesagt worden ist. ({15}) Meine Damen, fühlen Sie sich seit der Neubesetzung gestern eigentlich nicht ein bisschen übergangen oder sogar abgemeiert bzw. nicht bevorzugt? ({16}) Ich würde mich an Ihrer Stelle schon ein bisschen ärgern. Ich wundere mich, dass Sie keinen Aufschrei loslassen, nachdem Sie uns in Bonn kritisiert haben, ({17}) dass wir keine Parlamentarische Staatssekretärin haben. ({18}) Nehmen Sie sich das einmal zu Herzen und denken Sie darüber nach. ({19}) - Sie können es nie werden, Sie wollen doch Minister oder Bahnchef werden. ({20}) Dieses Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ wird uns sicherlich noch länger beschäftigen. Ich hoffe, dass in diesem Zeitraum, zumindest bis zur Ausschussbehandlung, bei Ihnen noch der Prozess des Nachdenkens einsetzt und dass Sie am Schluss vielleicht einer schnellen Realisierung dieser Strecke zustimmen werden. ({21})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Bundesminister Reinhard Klimmt. ({0})

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005297

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Blank, ich darf Ihnen mitteilen, dass es bei uns in der Sozialdemokratie üblich ist, dass es, wenn man überzeugende personelle und sachliche Lösungen findet, deswegen keinen Aufschrei und keine Kritik gibt, sondern immer den geziemenden Beifall, weil etwas auf die richtige, in diesem Fall personelle, Schiene gebracht worden ist. Dafür herzlichen Dank an die mich unterstützende Fraktion! ({0}) - Das muss jetzt nicht wiederholt werden, den Beifall hat es vorher schon gegeben. Es geht um die Strecke von Berlin nach München. Wir haben in einem wichtigen Schritt entschieden, dass wir die Schienenstrecke Nürnberg-Erfurt nicht ins Saaletal führen werden, sondern sie nach Ilmenau ausbauen. Die Entscheidung, weiter nach Ilmenau zu bauen, ist übrigens in Abstimmung mit den Abgeordneten vor Ort und auch mit der thüringischen Landesregierung getroffen worden, die von sich aus gesagt hat, sie wolle die andere Streckenführung nicht. Es ist ein wichtiger Punkt er betont das Funktionieren des föderalen Systems -, dass wir es geschafft haben, im Rahmen eines Gespräches eine optimale Lösung zu suchen und nach den Gegebenheiten zu finden. Deswegen bin ich froh, dass wir im Rahmen dieser Entscheidung erreicht haben, sowohl die Interessen des Bundes als auch die des Landes Thüringen in Einklang zu bringen. ({1}) Weiterhin wollen wir den Bahnhof IlmenauWolfsberg bauen, der in der zukünftigen Trassenführung eine Rolle spielen wird, und, so wie im Raumordnungsverfahren vorgesehen, eine entsprechende Anbindung an die Innenstadt von Ilmenau schaffen. Wenn dies im Jahre 2004 oder 2005 fertig sein wird, werden wir eine sehr attraktive Verbindung zwischen der Landeshauptstadt Erfurt und der Universitätsstadt Ilmenau haben. Ich hoffe, dass die Landesregierung - denn sie war es, die sich eine entsprechende Lösung gewünscht hat die Kapazitäten im Regionalverkehr und im Nahverkehr entsprechend erhöht, um so zu gewährleisten, dass diese Investition einen Nutzen abwirft und diese Entscheidung als richtig erkannt werden kann. Der Weiterbau nach Süden in Richtung Coburg und Nürnberg ist, wie hier schon ausgeführt worden ist, nur auf Eis gelegt worden. Er ist nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben worden. Er ist nicht Bestandteil des vorliegenden Investitionsprogramms. Das war eine Entscheidung, die Franz Müntefering gefällt hat. Wir werden jetzt im Zuge der Bewertung, die wir im Rahmen der Neufassung des Bundesverkehrswegeplanes zu treffen haben, festlegen, in welcher Schrittfolge der Weiterbau erfolgen wird und erfolgen soll. ({2}) Dafür haben wir die notwendige Sicherung der bereits gemachten Planfeststellungen eingeleitet. Das heißt, es wird keinen Verfall der geplanten Investitionen, wie er befürchtet worden ist, geben. Ich möchte aber noch auf einen anderen Punkt hinweisen, und zwar auf das Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ Nr. 8. Davon ist dieses nur ein Teil, nämlich der Teil 8.1. Wir haben den Teil 8.3, der die Strecke zwischen Berlin und Halle/Leipzig betrifft, mit einem Aufwand von etwa 3 Milliarden DM fast schon fertig gebaut. Es gibt noch einige Ingenieurbauwerke, die fertig gestellt werden müssen. Im Jahre 2002 kann bei diesem Investitionsvorhaben dann der Verkehr starten. ({3}) - Genau, auch das ist eine Leistung, die man einmal unterstreichen und betonen sollte. Wir sind, was die Neubau- und Ausbaustrecke Leipzig/Halle-Erfurt angeht, ebenfalls dabei, Teilabschnitte zu bauen. Auch dort geht die Arbeit weiter. Im Rahmen des Abschnittes 8.1 wird weiter bis Ilmenau gebaut. Ich freue mich, dass es auch vonseiten der Union Unterstützung für dieses Schienenprojekt gibt. ({4}) Denn ansonsten hat sie immer wieder in Richtung meiner Arbeit Vorwürfe dahin gehend gemacht, dass wir uns zu sehr auf die Schiene kaprizieren und die Straße vernachlässigen. An dieser Stelle schönen Dank dafür, dass Sie sagen, dass unsere Ausrichtung auf die Priorität der Schiene von Ihnen - jedenfalls in diesem Fall - mitgetragen und unterstützt wird. ({5}) Ich möchte aber noch darauf hinweisen, dass die Zurückstellung von Investitionen, die wir haben vornehmen müssen, eine Konsequenz aus der bestehenden Finanzsituation ist ({6}) und nicht darauf beruht, dass man diese Strecke möglicherweise nicht so sehr unterstützt wie andere. Diese Konsequenz aus der Finanzsituation hat natürlich etwas mit Ihrer Politik in der Vergangenheit zu tun. Diese Entscheidung hat übrigens auch etwas mit den Prioritäten der Bahn zu tun. Man muss darauf hinweisen, dass es Herr Dürr und Herr Ludewig waren, die hinsichtlich der Prioritätensetzung, wenn es also darum ging, Schieneninvestitionen in eine bestimmte Reihenfolge zu bringen, gesagt haben, man möge diese Strecke bitte zurückstellen. Es sollte nicht vergessen werden, dass wir alle unsere Investitionen in diesem Bereich in Zusammenarbeit mit der Bahn vorantreiben. Wenn Herr Mehdorn jetzt von seiner Seite aus gesagt hat, dass er im Rahmen eines größeren Konzeptes auch diese Strecke verwirklicht sehen möchte, dann steht er nicht im Widerspruch zu uns. Selbstverständlich wollen wir diese Strecke, wenn sie sich verantwortlich realisieren lässt, verwirklichen. Wenn uns die Bahn sagt, welche anderen Projekte sie nicht mehr weiterverfolgen will, dann kann auch noch über eine Veränderung der Prioritätensetzung geredet werden. Aber Herr Mehdorn hat doch eindeutig erklärt, dass es zu dem, was wir in der nächsten Zeit vorhaben, keine Alternativen gibt. Dies wäre nur über eine zusätzliche Finanzierung möglich. Eine zusätzliche Finanzierung scheitert nun einmal an den Haushaltsgegebenheiten, mit denen wir zurechtkommen müssen - als Konsequenz Ihrer Politik in der Zeit, in der Sie die Verantwortung getragen haben. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Minister, ich darf Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005297

Eine letzte Bemerkung sei mir erlaubt: Wenn es darum geht, Investitionen in Verkehrsprojekte zu tätigen, dann kann ich die Thüringer beruhigen. Wenn man die Investitionen auf die Einwohnerzahl umrechnet, wird man feststellen, dass es kein Bundesland gibt, das so gut bedient wird wie Thüringen. ({0}) Wir sind stolz, dass wir auch in ein neues Bundesland so viel Geld sinnvoll investieren können. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 14/2692, 14/2906, 14/2914 und 14/2525 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder, den Ausschuss für Tourismus, den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und den Haushaltsausschuss zu überweisen. Gibt es weitere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 8 ist abgesetzt worden. Ich rufe deswegen den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht - Drucksachen 14/1335, 14/2840 Berichterstattung: Abgeordneter Heinz Schemken Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die F.D.P. sieben Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel, F.D.P.-Fraktion.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte, die wir zu dem Antrag zur Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht während der letzten neun Monate erleben konnten - so lange hat es aufgrund der Verzögerungstaktik der Regierungskoalition gedauert, bis wir im Plenum wieder darüber beraten können -, hat sehr verwundert. Von der Union hätte man es vielleicht noch erwarten können, aber dass auch Rot und Grün in reaktionären Denkmustern gefangen sind, hätte man nach den Äußerungen im Wahlkampf, nach dem Wahlprogramm der Grünen, aber auch nach den Bundesparteitagsbeschlüssen der SPD in Berlin im Dezember letzten Jahres nicht erwartet. Die Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht ist durch den Vorstoß von Herrn Bundeskanzler Schröder noch aktueller geworden. Natürlich gibt es schon Menschen im Land, die arbeiten könnten und wollten, die es aber nicht dürfen, die zwangsweise, aufgrund eines Arbeitsverbotes, an den Tropf der Sozialkassen gehängt werden, obwohl sie die Möglichkeit hätten, selbst für ihren eigenen Lebensunterhalt aufzukommen. ({0}) Mit unserem Antrag auf Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht verfolgen wir fünf Ziele gleichzeitig: Wir wollen Schwarzarbeit verringern, Bürokratie abbauen, offene Arbeitsplätze schneller besetzen, die Verwaltung vereinfachen und nicht zuletzt die Menschenwürde der Betroffenen stärken. Es ist menschenunwürdig, wenn man, obwohl man arbeiten könnte und wollte, wenn es einen Arbeitgeber gibt, der einen einstellen würde, wenn es einen Arbeitsplatz gibt, der nicht anderweitig besetzt werden kann, trotzdem von staatlicher Seite verpflichtet wird, nicht zu arbeiten und Sozialleistungen zu beziehen. Die Argumente, die während dieser neun Monate zu hören waren, waren teilweise grotesk, teilweise spießbürgerlich und unredlich. Der Gewerkschaftsvorsitzende Schulte hat im „Forum Migration“ des DGB im Februar 2000 geschrieben - bei 243 Gewerkschaftsmitgliedern in der SPDFraktion ist das vielleicht nicht ganz uninteressant -: Grundsätzliche Arbeitsverbote für bestimmte Personengruppen ... sind überflüssig. Er schreibt weiter: Befürchtungen, dass es bei einer Öffnung des Arbeitsmarktes für alle, die sich rechtmäßig in Deutschland aufhalten, zu Verdrängungseffekten kommen könnte, teilt der DGB nicht. Sie seien - so Schulte - „auch historisch unbegründet. So sank die allgemeine Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik zwischen den Jahren 1985 und 1990 um 420 000 Menschen bei einem gleichzeitigen Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Ausländer um ca. 260 000.“ Meine sehr verehrten Damen und Herren, kein Nichtdeutscher in diesem Land nimmt einem Deutschen den Arbeitsplatz weg. Alles andere ist ein Ammenmärchen. ({1}) Es gibt viele Arbeitsplätze, die aus vielerlei Gründen nicht besetzt werden können, und zwar auf allen Qualifikationsniveaus, sowohl im Niedriglohnbereich als auch im hoch qualifizierten Bereich. Es gibt Menschen, die wollen für ihren Lebensunterhalt selbst arbeiten, und Sie verhindern das. Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Frau Marieluise Beck, hat laut der „Berliner Zeitung“ vom 2. März 2000 gesagt: Zudem plädiert Beck dafür, das Arbeitsverbot für Asylbewerber und Flüchtlinge aufzuheben. „Unter ihnen befinden sich auch viele Fachleute, beispielsweise indische Software-Spezialisten“, betont die Bundesausländerbeauftragte. Mit der Aufhebung des Arbeitsverbots könnten die unter Fachkräfte-Mangel leidenden Branchen Mitarbeiter gewinnen. Frau Beck, jawohl, Sie haben Recht. Aber dann machen Sie es, Sie regieren. ({2}) Das Einzige, wozu Sie in der Lage sind, ist, einen Arbeitskreis zu gründen, nachdem sich die Kanzlerrunde nicht geeinigt hat, wie sie mit diesem dringenden Problem der Bundesrepublik Deutschland umgeht. Es gibt Menschen in diesem Land, die seit Jahren zwangsweise aus dem Arbeitsprozess ausgeschlossen werden, obwohl es Arbeitsplätze gibt, die nicht anderweitig besetzt werden können. Arbeitsverbote schaden nicht nur den betroffenen Menschen, Arbeitsverbote schaden der deutschen Wirtschaft, Arbeitsverbote erhöhen die Schwarzarbeit und belasten öffentliche Haushalte durch Mindereinnahmen und Mehrausgaben, Arbeitsverbote führen nicht zuletzt dazu, dass Vorurteile in diesem Land gepflegt werden. Es gibt genügend Stammtische, an denen behauptet wird: Ausländer in diesem Land schaffen nichts. Aber dass diese nicht dürfen, wird nicht gesagt. Das ist falsche Politik. Sie haben jetzt die Möglichkeit, das, was Sie im Wahlkampf versprochen haben, zu tun. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich lasse keine Zwischenfragen zu und sage auch, warum. Ich bitte dafür um Verständnis. Wir stehen alle ein bisschen unter Zeitdruck. Alle Fraktionen haben heute Abend noch Verpflichtungen. Wir haben Gäste eingeladen. ({0}) Ich bitte sehr um Nachsicht dafür, dass ich keine Zwischenfragen zulasse. Herr Kollege, Sie haben weiter das Wort. ({1})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich hätte Glück gehabt, wenn die Frau Präsidentin die Frage zugelassen hätte. Dann hätte ich zeigen können, wie scheinheilig grüne Politik ist, seit Sie, Frau Marieluise Beck, in der Regierung sind. ({0}) Das betrifft insbesondere die Ausländerpolitik dieser bündnisgrünen Bundestagsfraktion. Sie haben nichts außer einem Staatsbürgerschaftsrecht zuwege gebracht, das Sie von der F.D.P. vorgesetzt bekommen haben. Sie haben überhaupt nichts geleistet: heiße Luft durch die ganze Bank. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Arbeitsverbot führt zu geradezu grotesken Notwendigkeiten. Ich zitiere noch einmal, und zwar aus der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof zur Haushaltsund Wirtschaftsführung unter der Textziffer 84.3.1. Darin - es geht um die Vorrangprüfung - stellt der Bundesrechnungshof formaljuristisch korrekt fest: Es entspricht nicht dem Willen des Gesetzgebers, wenn Arbeitsämter Fortsetzungserlaubnisse - das sind die bestehenden Beschäftigungsverhältnisse, für die die Arbeitserlaubnis verlängert werden muss - schon deshalb erteilen, um nicht in bestehende Beschäftigungsverhältnisse einzugreifen. Wird die Arbeitserlaubnis ... versagt, muss ... gegebenenfalls auch der Verlust des Arbeitsplatzes hingenommen werden. Die Ausübung einer bisher erlaubten Tätigkeit schafft insoweit keinen Vertrauenstatbestand. Das geltende Recht führt zu nichts anderem als zu einem Stellenbesetzungsmonopol durch eine öffentliche Verwaltung. Hier wird durch Verwaltungsakt ein Arbeitsvertrag zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern verhindert, die miteinander ins Geschäft gekommen sind, die sich geeinigt haben, dass sie zusammen auch zum Wohle dieses Volkes das Wirtschaftswachstum mehren wollen und die Menschen in ihren individuellen Rechten stärken wollen. Dieses Stellenbesetzungsmonopol ist unerträglich und führt zu erheblichen Verwerfungen am Arbeitsmarkt. Wenn die Bundesregierung behauptet, dass sie sich bemüht, Menschenrechte zu stärken, dass sie sich insbesondere auch um Integrationsleistungen für Nichtdeutsche bemüht, die sich legal in diesem Land aufhalten und deswegen auch einen Anspruch auf Leistungen irgendeiner Sozialkasse haben, wenn sie sich bemüht, diese zu integrieren, muss man ihr vorhalten, dass sie in diesem Punkt, nämlich die Menschen, die sich ohnehin schon hier befinden und arbeiten können und wollen, zu integrieren, kläglich versagt hat. Sie haben die Menschen vor der Wahl belogen und betrogen. Sie setzen das fort in einem Arbeitskreis, der auch weiterhin nur heiße Luft produzieren wird, weil Sie vor den Stammtischen Angst haben. Das ist keine zukunftsweisende Politik. Ich persönlich bin sehr von Ihnen enttäuscht. Ich weiß, dass viele Menschen in diesem Land, die mit Ausländerinnen und Ausländern zusammenarbeiten, von Ihnen ähnlich enttäuscht sind und Sie jedes Maß an Glaubwürdigkeit bei diesen Personengruppen verloren haben. Vielen Dank. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kollegin Marieluise Beck fühlt sich so angegriffen, dass sie jetzt um das Wort zu einer Kurzintervention bittet. Ich muss sie zulassen, ich finde sie auch in Ordnung. Kollege Niebel, Sie dürfen darauf antworten. Mein Bemühen, zügig zu verfahren, darf nicht dazu führen, dass wir die Inhalte verschleiern. Frau Kollegin, Sie haben das Wort.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Kollege Niebel, Sie sind in dieser Legislaturperiode neu ins Parlament gekommen, deswegen sollte man vielleicht etwas nachsichtig sein. Sie machen aber nicht erst seit einem Jahr Politik, und deswegen dürfte es Ihnen nicht entgangen sein, dass der Clever-Erlass, das Arbeitsverbot für Flüchtlinge, gegen das ich mich ausspreche, entstanden ist, als die F.D.P. zusammen mit der Union regiert hat. ({0}) Dass Sie sich vor diesem Hintergrund hier hinstellen und die Backen aufblasen, finde ich äußerst verwunderlich. ({1}) In diesem Punkt kann ich nur sagen: Denken Sie an die Zeit, als Sie mitregiert haben und die Ausländerbeauftragte von der F.D.P. den Clever-Erlass nicht verhindert hat. Wir sind jetzt nach Kräften dabei, diesen Erlass beiseite zu räumen. Sie werden auch noch erleben, dass dieser Erlass fallen wird. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege Niebel.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Kollegin Beck, Sie wissen, dass sich die ehemalige Ausländerbeauftragte massiv gegen den Clever-Erlass ausgesprochen hat ({0}) und dass wir das gleiche Problem hatten, das Sie nun alle naselang mit Ihrem großen Koalitionspartner haben. Wir konnten uns nicht durchsetzen. Tun Sie jetzt nicht so, als ob Sie ständig grüne Programmatik umsetzen würden. Sie leisten überhaupt nichts. ({1}) Liebe Frau Kollegin Beck, ich darf auf eines hinweisen: Die Ausländerbeauftragten des Bundes und der Länder haben diesen Antrag auf ihrem Treffen bis zu dem Moment außerordentlich wohlwollend zur Kenntnis genommen, als der Ausländerbeauftragte des Landes Mecklenburg-Vorpommern darauf hingewiesen hat, dass dies ein Antrag der F.D.P. sei und man ihn daher nicht unterstützen könne. Wenn Sie Ausländer so integrieren wollen, sind Sie auf dem falschen Weg.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat das Wort die Kollegin Leyla Onur, SPD-Fraktion.

Leyla Onur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002747, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! An Scheinheiligkeit und insbesondere Vergesslichkeit ist die F.D.P. überhaupt nicht zu übertreffen. ({0}) Sie als neuer, aber nicht frischer Abgeordneter mögen das vielleicht verdrängen. ({1}) Eines sollten Sie aber nicht vergessen: Der F.D.P. ist es, als sie mit an der Regierung war, wenn es ihr wirklich ernst war, immer gelungen, den großen Koalitionspartner so unter Druck zu setzen, dass er bestimmte Dinge nicht umsetzen konnte. Ich kann Ihnen Beispiele aufzählen, die sehr wichtig waren. Das galt zum Beispiel für die Veränderung im Pflege-Versicherungsgesetz. Alles war schon abgesprochen und abgestimmt, und Sie, die Vertreter der F.D.P., haben die CDU so lange geknetet und zurechtgestutzt, bis sie von dieser Vereinbarung zurücktreten musste. Stellen wir doch einfach ehrlich fest: Es war Ihnen gar nicht ernst damit, das Arbeitsverbot für AsylbeDirk Niebel werber, für Flüchtlinge und geduldete Ausländer zu verhindern. Es war Ihnen nicht ernst damit. Vergießen Sie deshalb jetzt keine Krokodilstränen darüber, dass dieses Arbeitsverbot - ich sage ausdrücklich: bedauerlicherweise - immer noch existiert. ({2}) Alle Änderungen in Bezug auf die Arbeitserlaubnispflicht sind in Ihrer Zeit unter Ihrer Verantwortung vorgenommen worden. ({3}) Wenn Sie heute feststellen, das muss anders werden, dann sagen Sie damit klar und deutlich - dabei gebe ich Ihnen sogar zum Teil Recht -, dass Ihre Politik falsch gewesen ist. ({4}) Dann haben Sie Recht. Sie haben nicht immer, nicht in allen, aber in vielen Punkten Recht. Ihre Politik war falsch. Wenn Sie das heute zugeben, könnte man vielleicht sagen: Sie sind auf dem Wege der Besserung. ({5}) Schauen wir uns aber den Antrag genauer an. Worum geht es eigentlich? Geht es wirklich darum, den Menschen etwas Gutes zu tun, wie Sie den Eindruck zu erwecken versuchten? Nein, ganz im Gegenteil. Es geht Ihnen um etwas ganz anderes. Aber der Reihe nach. Ich werde mich nicht all diesen Argumenten zuwenden. So wichtig sind sie nicht. Fangen wir einmal bei der Schwarzarbeit an. Sie wollen mit Ihrem Antrag, die Arbeitserlaubnispflicht abzuschaffen, die Schwarzarbeit bekämpfen. ({6}) Das klingt erst einmal sehr löblich; denn Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung sind in der Tat kriminelle Machenschaften, die einen gesamtwirtschaftlichen Schaden in Milliardenhöhe verursachen. ({7}) - Schwatzen Sie nicht immer dazwischen. Wenn Sie reden wollen, dann nehmen Sie sich gefälligst Redezeit. ({8}) Sie behaupten, das sei nun ein wirksames Instrument, um Schwarzarbeit zu bekämpfen. Das ist natürlich falsch; denn es geht der F.D.P. um etwas anderes. Sie schlagen nicht vor, gegen den massiven Betrug und die Betrüger vorzugehen, also gegen die Arbeitgeber, die illegale Arbeitskräfte beschäftigen, sondern Sie wollen, dass die Regeln, die illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit verbieten, abgeschafft werden. Das kennen wir von Ihnen übrigens schon. ({9}) Wie war das neue Motto der F.D.P.? Wenn eine bestimmte Gruppe der Bevölkerung gegen ein geltendes Gesetz verstößt, dann muss man sie nicht bestrafen, sondern man muss das Gesetz abschaffen. Das ist die neue F.D.P.-Philosophie. ({10}) Demnächst bringen Sie den folgenden Antrag ein: Weil einige Menschen in diesem Land gegen Verkehrsregeln verstoßen, schaffen wir die Verkehrsregeln ab. Dann fährt jeder so, wie er will. Nennen wir einmal das Kind beim Namen. Sie wollen, dass endlich die Arbeitgeber ungehindert und unkontrollierbar willige und natürlich billige Arbeitskräfte zum Heuern und Feuern zur Verfügung gestellt bekommen. ({11}) Das nennen Sie auch noch sozial gerecht. Das ist unerhört. Das ist deswegen mit uns natürlich nicht zu machen. ({12}) Wir wollen und wir werden, Herr Niebel, wie im Koalitionsvertrag festgehalten, gegen illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit vorgehen, und zwar mit einem Gesetz und nicht durch die Abschaffung notwendiger und zum Teil auch richtiger Regeln. ({13}) Lesen wir in Ihrer tollen Begründung weiter. Ich zitiere: Der freie Zugang zum Arbeitsmarkt und damit die Bestreitung des Lebensunterhalts aus eigener Kraft gehören zu den Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens und individueller Freiheit. Da haben Sie völlig Recht. ({14}) Das klingt in der Tat in Ihrem Text edel, hilfreich und gut. Aber Sie meinen etwas ganz anderes. Mit der Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht soll Ausländern in Not - das sollten wir nicht vergessen: in Not - die individuelle Freiheit gewährt werden, körperlich schwere und schmutzige Arbeit mit geringen intellektuellen Ansprüchen zu Niedrigstlöhnen anzunehmen. ({15}) - Die Adjektive stammen aus Ihrem Antrag und aus Ihrer Begründung. Offensichtlich wissen Sie nicht, was in Ihrer Begründung steht. ({16}) Das heißt, Asylbewerber, Flüchtlinge und geduldete Ausländer sollen als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt für Lohn- und Sozialdumping benutzt werden. Das allein ist schon schändlich, aber es ist nicht alles. Wenn sich diese Menschen trotz ihrer Notlage weigern sollten, zu Niedrigstlöhnen, womöglich noch unter dem Sozialhilfesatz, Arbeit abzulehnen, dann endlich kann man Ihnen die Sozialhilfe kürzen. Steht das in Ihrer Begründung oder nicht? Das hat mit Menschenwürde und individueller Freiheit gar nichts zu tun. Ganz im Gegenteil. Es geht aber noch weiter. Ganz nebenbei beleidigen Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P., soweit Sie noch hier sind, in Ihrer Begründung zu diesem Antrag die Menschen in unserem Lande, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, also die Arbeitslosen in unserem Lande, indem Sie sie als unmotiviert, zu gering qualifiziert und nicht bereit zu körperlicher Arbeit abqualifizieren. Das ist eine solche Ungeheuerlichkeit, dass Sie sich dafür schämen sollten, Herr Niebel und meine Damen und Herren von der F.D.P. ({17}) Es gibt sicherlich noch mehr zu diesem Antrag zu sagen. Aber ich meine, er ist es nicht wert, dass man sich mit ihm weiter befasst. Wir werden diesen unsäglichen Antrag heute ablehnen. Aber wir sind nicht untätig und werden es auch in Zukunft nicht sein. Wir werden den Zielkonflikt zwischen hoher Arbeitslosigkeit und Erleichterung des Arbeitsmarktzugangs für Migranten und Migrantinnen auflösen. Wir werden auch den Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge, Asylbewerber und geduldete Ausländer auf eine neue Rechtsgrundlage stellen. Das heißt im Klartext: Der Clever-Erlass mit dem Totalarbeitsverbot kommt weg. ({18}) Abschließend sage ich Ihnen: Die Arbeiten daran sind in der Tat längst im Gange und werden - allerdings mit der gebotenen Sorgfalt und Gründlichkeit - fortgesetzt und zu einem Ergebnis geführt, das allen Menschen, die in unserem Lande leben, unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem Status gerecht wird. Das werden wir auch schaffen. Danke schön. ({19})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege Niebel möchte, weil er sich persönlich angegriffen fühlt, eine Kurzintervention machen. Frau Kollegin Onur, darauf dürfen Sie antworten. Herr Kollege Niebel, bitte. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, ich danke Ihnen. Ich habe um diese Kurzintervention gebeten, weil Frau Onur offenkundig nicht in der Lage ist, im Zusammenhang korrekt zu zitieren. ({0}) Sie hat Bruchstücke der Antragsbegründung mit eigener Meinung vermischt. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat den Antrag unter anderem damit begründet, dass beispielhaft im Niedriglohnsektor trotz 4,3 Millionen Arbeitslosen viele Arbeitsplätze nicht besetzt werden können, unter anderem wegen geringer Bezahlung in diesem Bereich, aber auch, weil es oftmals schmutzige Tätigkeiten sind, ebenso, weil es oftmals keinen attraktiven Anreiz für die deutschen oder bevorrechtigten Arbeitslosen auf dem Arbeitsmarkt gibt, diese Tätigkeiten anzunehmen. Das ist eine beispielhafte Aufzählung. Sie wissen ganz genau, Frau Onur, dass sich die Möglichkeit der Beschäftigung von Nicht-EUAusländern über das gesamte Spektrum des Arbeitsmarktes bewegt. Das zeigt übrigens auch die vom Herrn Bundeskanzler angestoßene Debatte zur so genannten grünen Karte. ({1}) Allerdings wissen Sie ebenso genau wie jeder andere hier im Haus, dass es viele Bereiche gibt, in denen insbesondere Ausländer eine Chance haben, in den Arbeitsmarkt zu kommen, weil Deutsche diese Tätigkeiten nicht ausüben. Das ist kein Ausschließungsgrund; es ist nicht so, wie Sie es dargestellt haben. Des Weiteren haben Sie behauptet, die F.D.P. würde mit diesem Antrag Schwarzarbeit und Lohndumping unterstützen wollen. Das ist falsch. ({2}) Wenn ein Arbeitgeber einen Arbeitsplatz zu besetzen hat und einen Arbeitnehmer findet, der diese Tätigkeit ausüben möchte, und beide können aufgrund rechtlicher Bedingungen nicht zusammenkommen und sind in diesem langwierigen Verfahren, das ich in der ersten Lesung beschrieben habe, sozusagen gefangen, dann finden sie womöglich andere Wege, um ins Geschäft zu kommen. ({3}) Das wäre dann Schwarzarbeit. Das bedeutet, dass wir sowohl den Arbeitgebern als auch den Arbeitnehmern die Möglichkeit geben möchten, miteinander ins Geschäft zu kommen, und zwar auf legale Art und Weise. In dem Antrag steht nirgendwo, so wie Sie behauptet haben, dass wir tarifvertragliche Regelungen außer Kraft setzen wollten, im Gegenteil.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, ich darf Sie bitten, zum Schluss zu kommen.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist der letzte Satz. - Gegen Lohndumping kann sich nur derjenige wehren, der sich in einem legalen Beschäftigungsverhältnis befindet, weil der Illegale, so er gegen das Lohndumping kämpfen würde, als Illegaler erkannt und damit seiner Existenz beraubt werden würde. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich bitte darum, meine Kolleginnen und Kollegen, dass wir diese Intervention zulassen. Jetzt hat Frau Kollegin Onur das Wort, um darauf zu antworten. Bitte sehr.

Leyla Onur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002747, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Niebel, ich habe ja Verständnis dafür, dass Sie noch einmal versuchen, auf diese Weise zusätzliche Redezeit herauszuschlagen, ({0}) aber wir haben alle Argumente ausgetauscht. Ich sage Ihnen noch einmal: Durch die Wiederholung werden Ihre Argumente nicht besser. ({1}) Nur zur Klarstellung: Sie sollten einmal genauer hinhören. Ich kann Ihnen versichern: Ich weiß immer ganz genau, was ich sage. ({2}) Erstens. Ich habe beispielsweise nicht gesagt, Sie hätten in der Begründung Ihres Antrages geschrieben, alle Arbeitslosen in diesem Lande seien unmotiviert, unqualifiziert und zu körperlicher Arbeit nicht bereit. Ich habe gesagt, Arbeitslose in diesem Lande. Das ist ein Unterschied, den ich Ihnen gern bei Gelegenheit ausführlich erkläre. Das habe ich nämlich einmal als Beruf gelernt. ({3}) Zweitens bin ich auch aufgrund dieser beruflichen Ausbildung in der Lage, korrekt zu zitieren, allerdings auch, zwischen Interpretation eines Textes und dem Zitieren eines Textteils zu unterscheiden. Wenn Sie genau zugehört hätten, dann wüssten Sie jetzt, was das eine und was das andere ist. Ansonsten sprechen Ihr Antrag und insbesondere seine Begründung für sich. Die Wiederholung der dort aufgeführten Argumente macht ihn weder besser noch akzeptabler. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat das Wort der Kollege Franz Romer, CDU/CSU-Fraktion.

Franz Romer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001879, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Die F.D.P.Fraktion möchte die Arbeitserlaubnispflicht für NichtEU-Ausländer abschaffen. Damit soll das Recht aufgehoben werden, das - wie es das Bundessozialgericht formuliert - der Sicherung des Vorrangs deutscher und ihnen gleich gestellter Arbeitskräfte auf dem inländischen Arbeitsmarkt dient. Da die Lage auf unserem Arbeitsmarkt nach wie vor sehr angespannt ist, frage ich, welche Gründe für die Aufhebung dieses Schutzes sprechen. ({0}) Die F.D.P. möchte mit ihrem Antrag die Schwarzarbeit verringern, offene Arbeitsplätze besetzen und Bürokratie abbauen. Diese Ziele werden sicherlich parteiübergreifend als wünschenswert angesehen. Aber dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Umsetzung des Antrags der F.D.P.-Fraktion einen zusätzlichen Anreiz für Ausländer bedeuten würde, den Weg in die Bundesrepublik Deutschland zu suchen. Asylbewerber und Flüchtlinge, die wohl die Hauptbegünstigten einer Neuregelung wären, würden sich noch mehr als bisher auf Deutschland konzentrieren; denn in anderen EU-Ländern benötigen Ausländer in der Regel eine Arbeitserlaubnis. Warum sollte die Bundesrepublik im Alleingang mit einer Neuregelung vorpreschen? Wir haben unser Asylrecht bekanntermaßen schon sehr großzügig geregelt. Wenn Asylbewerber während ihres häufig sehr lange dauernden Asylverfahrens von Beginn an arbeiten dürften, dann wäre dies eine zusätzliche Einladung, auf jeden Fall in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag zu stellen. ({1}) Ich schlage vor, einen EU-weiten Konsens zu suchen. Die Europäische Union hat den Mitgliedstaaten bereits Empfehlungen zur Regelung des Arbeitsrechts für Drittstaatler zukommen lassen. ({2}) Es ist vorgesehen, noch in diesem Jahr eine Harmonisierung innerhalb der Europäischen Union herbeizuführen. Ein entsprechender Bericht der Kommission befindet sich in der Vorbereitung. Schon im Hinblick auf die bevorstehenden Regelungen auf EU-Ebene macht es keinen Sinn, unser Arbeitserlaubnisrecht jetzt zu ändern. Im Zusammenhang mit dem Thema Asylbewerber möchte ich auf das Problem der Residenzpflicht hinweisen. Während des Asylverfahrens ist der Aufenthalt räumlich auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, in dem sich der Ausländer aufhält bzw. in dem die Aufnahmeeinrichtung liegt. Nur durch diese Begrenzung der Freizügigkeit kann die ordnungsgemäße Durchführung des Asylverfahrens gewährleistet werden. Ich möchte jetzt auf eine andere Gruppe Ausländer zu sprechen kommen, nämlich auf die, die im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland kommen. Diese Gruppe von Ausländern darf nach § 17 des Ausländergesetzes nur dann einreisen, wenn ihr Lebensunterhalt gesichert ist. Es muss ausreichender Wohnraum zur Verfügung stehen. Das Einkommen der Familie darf rein rechnerisch schon gar nicht unter der Sozialhilfegrenze liegen. Hier ist ein Missbrauch der Sozialleistungen, den die F.D.P. angesprochen hat, von vornherein ausgeschlossen. Diese Gruppe von Ausländern würde nach dem Willen der F.D.P. ebenso wie Asylbewerber und Flüchtlinge direkt bei Feststellung ihres rechtmäßigen Aufenthalts das Recht auf Arbeit bedingungslos erhalten. Bisher ist dafür nach § 286 des Sozialgesetzbuches III ein sechsjähriger ununterbrochener Aufenthalt in Deutschland Voraussetzung. Dass Ausländer, die schon viele Jahre in Deutschland leben, eine Arbeit aufnehmen, ist nicht zuletzt auch unter Integrationsaspekten zu befürworten. Ist dagegen beispielsweise ein Asylverfahren schon negativ abgeschlossen worden und wird der Asylbewerber nur noch geduldet, so würde eine Abschiebung bei Vorliegen eines Arbeitsplatzes für alle Beteiligten, den betroffenen Ausländer, den Arbeitgeber und nicht zuletzt die Behörden, unglaublich erschwert. Die von der F.D.P. aufgelisteten Arbeitsplätze, die nur schwer von inländischen Arbeitskräften besetzt werden können, liegen nicht in unbegrenzter Zahl vor. Früher oder später wäre der Arbeitsmarkt gesättigt, für den überwiegend ausländische Arbeitnehmer gewonnen werden können. Bereits im Jahre 1998 waren über 500 000 Ausländer in Deutschland arbeitslos. Dies entspricht einem Fünftel der abhängig Erwerbstätigen. Es sollten andere Lösungswege vorgezogen werden. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass im Niedriglohnbereich Wege gefunden werden müssen, den Abstand von Löhnen und Sozialleistungen in dem Maße zu wahren, dass Arbeitslose zur Arbeitsaufnahme motiviert werden können. ({3}) Die F.D.P.-Fraktion weist darauf hin, dass Arbeitsplätze in die Schwarzarbeit verlagert werden, wenn eine Arbeitserlaubnis nicht oder nicht rechtzeitig erteilt wird. Es hilft uns nicht weiter, meine Damen und Herren von der F.D.P., einen derart weit reichenden Gesetzesantrag mit dem illegalen Verhalten einiger Arbeitgeber zu begründen. Wie wir alle wissen, beruht die Schwarzarbeit nicht allein auf einer Arbeitserlaubnispflicht für ausländische Arbeitnehmer. Kann für einen Arbeitsplatz kein deutscher Arbeitnehmer gefunden werden, liegt dies möglicherweise auch daran, dass die Arbeitsbedingungen unzureichend sind. Den Arbeitgebern durch eine Befreiung von der Arbeitserlaubnispflicht ausländische Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen, kann keinesfalls im Sinne unserer ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger sein. ({4}) Jährlich wird immerhin in über 1 Million Fällen eine Arbeitserlaubnis erteilt. Dies bedeutet zwar nicht, dass jährlich 1 Million Ausländer neu auf dem Arbeitsmarkt zugelassen werden, da ein Ausländer im Laufe eines Jahres auch mehrfach eine Arbeitserlaubnis erhalten kann. Die deutschen Arbeitgeber können schon nach der heutigen Rechtslage auf eine große Zahl ausländischer Arbeitskräfte zurückgreifen. Ernst zu nehmen ist das Argument der Verfahrensdauer. Eine Verzögerung der Arbeitsplatzbesetzung um mehrere Wochen ist für die deutsche Wirtschaft überaus hinderlich und ruft tatsächlich nach einer Veränderung. Dazu ist aber eine Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht gemäß § 284 SGB III nicht notwendig. Verbesserungen ließen sich durch eine Änderung des für die Erteilung einer Arbeitserlaubnis einschlägigen § 285 SGB III erzielen. Die CDU/CSU-Fraktion befürwortet einen Abbau der Bürokratie und eine Beschleunigung des Verfahrens. Sie kann aber angesichts von über 4 Millionen Arbeitslosen in Deutschland den Antrag der F.D.P. nicht unterstützen. Dies wäre gegenüber den inländischen Arbeitssuchenden unverantwortlich. Wir dürfen nicht vergessen, dass die große Anzahl von ABM-Beschäftigten nicht in der Arbeitslosenstatistik auftaucht. Für diese, wie auch für alle, die sich in Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen befinden, soll langfristig ein Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden werden. Mit Blick auf diese Zahlen darf man nicht, wie die F.D.P. in ihrer Antragsbegründung, lapidar darauf hinweisen, inländische Arbeitskräfte seien zu wenig motiviert, zu wenig qualifiziert, die Arbeit stelle zu geringe intellektuelle Ansprüche oder bringe körperliche Belastungen mit sich. Hier muss bei der Motivation und Flexibilität der Arbeitslosen angesetzt und nicht ein Ersatz durch die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte gesucht werden. Wenn die inländischen Arbeitnehmer zu wenig qualifiziert sind, müssen sie weitergebildet werden. Es muss möglich sein, dass die deutschen Arbeitgeber bei dem großen vorhandenen Potenzial geeignete Arbeitskräfte finden. Wir dürfen nicht vergessen, dass jährlich über 70 000 Anträge auf eine Arbeitserlaubnis abgelehnt werden. Die damit zusammenhängenden 70 000 Arbeitsplätze würden den deutschen und den ihnen gleichgestellten Arbeitsuchenden, zu denen viele Ausländer gehören, zu Unrecht vorenthalten. Ich danke Ihnen. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte gedacht, wir könnten hier eine sachliche Debatte über den Inhalt des Antrages der F.D.P. führen. Wenn es nämlich wirklich die Intention des Antrages ist, Flüchtlingen mit langer Aufenthaltsperspektive eine Arbeitserlaubnis zu gewähren, müssen wir darüber ruhig und sachlich diskutieren, weil diese Intention vernünftig ist. ({0}) Der Beitrag von Herrn Niebel hat uns eben aber gezeigt, mit was für einer scheinheiligen Profilierungssucht hier argumentiert wird. ({1}) Frau Beck hat Ihnen, Herr Niebel, eben schon gesagt, dass Ihre Fraktion, die F.D.P., verantwortlich für den Clever-Erlass ist, der ein eindeutiges Arbeitsverbot beispielsweise für Flüchtlinge mit sich gebracht hat. Sie sind dafür verantwortlich. Wir machen uns daran, diesen Erlass abzuräumen und überflüssig zu machen. Noch etwas anderes kommt dazu, an das Sie wohl auch nicht denken. Sie haben im Jahre 1997 hier einen Entwurf für ein Zuwanderungsgesetz vorgelegt und zur Diskussion gestellt, aus dem deutlich zu entnehmen war, dass Flüchtlinge, die aus humanitären Gründen hierher kommen, bei Ihnen auch unter eine Quotierung fallen sollen, die beispielsweise ökonomisch begründet wird. ({2}) - Das ist richtig; das können Sie nachlesen. - Wenn dieses der Hintergrund für Ihr Konzept ist, dann, meine Damen und Herren, ist es umso richtiger, Ihren Antrag abzulehnen, weil wir diese Art von Politik nicht wollen. ({3}) Es mag sein, Frau Lenke, dass bei Ihnen ein Umdenkungsprozess stattgefunden hat. Die Äußerungen von Herrn Gerhardt in den letzten Tagen deuten jedenfalls darauf hin. Das würden wir begrüßen. Vor dem Hintergrund des Clever-Erlasses, den Sie zu verantworten haben, und Ihrer Zuwanderungsvorstellungen können wir Ihren Vorschlägen aber nicht folgen. ({4}) Richtig ist, dass wir eine Reform des Arbeitsgenehmigungsrechtes brauchen. Auch die Koalition arbeitet genau an dieser Sache. Zielsetzung dabei muss sein, die Integration von Migranten zu fördern und zu beleben. Voraussetzung hierfür ist, die Akzeptanz dafür bei der inländischen Bevölkerung zu steigern. Wir können nämlich darüber nicht einfach hinwegschauen oder davor die Augen verschließen, dass die Debatte um das Arbeitserlaubnisrecht im Spannungsfeld zwischen Integrationspolitik und Arbeitsmarktpolitik geführt wird. Es wird - das wissen Sie alle aus Ihren Wahlkreisen - in dem Zusammenhang immer wieder die Frage nach den arbeitsmarktpolitischen Effekten gestellt. Bei der im Zusammenhang mit der Green Card aufgelebten Debatte wurde sozusagen vieles noch einmal miteinander vermischt. Wir müssen da sehr vorsichtig sein. ({5}) Hier reden wir nämlich über eine ganz andere Personengruppe. ({6}) Es geht nicht um eine Personengruppe, die aus ökonomischen Gründen hereingeholt werden soll, um Qualifikationslücken auf dem Arbeitsmarkt zu schließen, was ja sinnvoll ist, sondern es geht hier um eine Gruppe von Menschen, die hier lebt und ganz unabhängig vom ausländerrechtlichen Status eine langfristige Aufenthaltsperspektive hat. Diese Menschen können nicht zurück und bleiben deswegen hier. Es handelt sich auch um Menschen, die nachgezogen sind, und beispielsweise deswegen nicht in ihre Heimatländer zurückkönnen, weil ihre Angehörigen nicht zurückkönnen. ({7}) Um dieser Situation gerecht zu werden, meine Damen und Herren, brauchen wir aus humanitären Gründen gerade für Flüchtlinge eine Gesamtrevision des Arbeitsgenehmigungsrechtes. Auch daran arbeiten wir. ({8}) Es ist auch notwendig, meine Damen und Herren, weil der Arbeitsmarktzugang von einem ungeheuren Wirrwarr von Maßnahmen und Regelungen bestimmt ist. Die „FAZ“ - ich weiß nicht, ob Sie sie gestern gelesen haben - hat eine ganze Seite gebraucht, um das ein wenig aufzuschlüsseln. Auch da ist deutlich geworden, dass nur Intellektuelle, die sich lange damit beschäftigen, die Chance haben, eine Idee von dem Wirrwarr dieser Rechtsmaterie zu bekommen. Wir müssen hier Klarstellungen vornehmen und entbürokratisieren, weil durch das Arbeitszugangsrecht viele Ungerechtigkeiten entstehen. ({9}) - Wir arbeiten ja daran. Sie haben das Arbeitsverbot eingeführt. ({10}) Wir sind - auch im Sinne der Integration und unter Abwägung arbeitsmarktspolitischer Gesichtspunkte - dabei, das zu korrigieren, was Sie, Herr Niebel, oder Ihre Partei in den Sand gesetzt haben. Wir wollen die Integration in den Arbeitsmarkt, weil wir die Argumentation zum Beispiel der Kirchen und der NGOs richtig finden, dass der Arbeitsmarktzugang auch ein Mittel gegen Fremdenfeindlichkeit ist. ({11}) Meine Damen und Herren, der Clever-Erlass ist nicht nur politisch umstritten; er ist auch rechtlich umstritten. ({12}) Es ist völlig eindeutig, dass er weg muss. Wir brauchen neue rechtliche Regeln. Aber wir brauchen auch das Gleichgewicht und die Auseinandersetzung mit den arbeitsmarktpolitischen Argumenten. Darauf möchte ich noch in aller Kürze eingehen. Für einen Arbeitsmarktzugang kommt hier ein Personenkreis von etwa 100 000 Asylbewerberinnen und Asylbewerbern sowie Geduldeten in Betracht. Grundsätzlich gilt, dass diese Personengruppe aus integrationspolitischen Gründen über den Zugang zum Arbeitsmarkt das Recht und die Chance haben muss den eigenen Lebensunterhalt zu sichern. Die arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkte und Ängste, die hier vor dem Hintergrund von 4 Millionen Arbeitslosen immer wieder vorgetragen werden, haben keine Substanz. Das, was wir durchsetzen wollen, stellt keine Gefahr für den Arbeitsmarkt dar. Das stellt der DGB zu Recht fest und verweist in diesem Zusammenhang auf die Vorrangprüfung. ({13}) - Herr Niebel, Sie haben hier schon zwei oder drei Mal geredet. Akzeptieren Sie bitte, dass auch andere von diesem Pult aus Ausführungen machen. ({14}) Wir reden hier über etwas, was Sie eingeführt haben. Es war ungerecht und arbeitsmarktpolitisch unsinnig. ({15}) Die rot-grüne Koalition macht sich nun daran, den Schrott wegzuräumen, den Sie hinterlassen haben, meine Damen und Herren. ({16})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich denke an die Redezeit. Das Problem ist vielfältig. Es ist ein integrationspolitisches und ein arbeitsmarktpolitisches Problem. ({0}) Wir müssen schrittweise vorgehen. Der erste Schritt ist das habe ich schon gesagt - die Abschaffung des CleverErlasses. Weitere Schritte werden im Zusammenhang mit der Reform des SGB III folgen, weil wir substanzielle Verbesserungen im Hinblick auf die Arbeitsmarktzugangsregelung benötigen. Ferner brauchen wir eine Entbürokratisierung und eine Verbesserung der Integration.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist weit überzogen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Wir müssen vielerlei thematisieren: beispielsweise die Vorrangprüfung bei der Verlängerung von Arbeitserlaubnissen und den Zugang zum Arbeitsmarkt für Studentinnen und Studenten sowie Hochschulabsolventen; Letzeres steht in engem Zusammenhang mit der Green Card. Wir machen uns auf den Weg. Sie dagegen haben uns etwas hinterlassen, was nicht weiter bestehen bleiben darf. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Dr. Klaus Grehn, PDS-Fraktion, das Wort.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Mir kommt die Diskussion wie der Tragödie zweiter Teil vor. Der erste Teil ist vor Jahren abgespult worden, als die rechte Seite des Hauses dieses Gesetz einführte und die linke Seite des Hauses sich dagegen verwahrte. Damals war man in anderen Positionen als heute. Wenn die rechte Seite des Hauses nun ein neues Gesetz einbringt, kann man ihr nicht vorwerfen, dass sie vielleicht lernfähig ist. ({0}) Dass nun aber die linke Seite des Hauses - aus welchen Gründen auch immer - vergisst, dass sie vor Jahren gegen die Einführung dieses Gesetzes war, das geht zulasten der Betroffenen. ({1}) Es gibt noch einen dritten Teil der Tragödie. Diese wird durch jenen eigenartigen Widerspruch eingeleitet, dass Deutschland auf der einen Seite das Brain Drain neu belebt, indem der deutsche Bundeskanzler ausländische Informatiker für deutsche Konzerne und Unternehmen anwirbt, und dass die Arbeitgeberverbände gleich die Messer wetzen und Werber aussenden wollen, um auch für andere Berufe Arbeitskräfte anzuwerben. Auf der anderen Seite verweigert oder erschwert man aber den in Deutschland lebenden ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern das Recht, den Lebensunterhalt durch eigener Hände Arbeit zu verdienen. Was die Green Card auf der einen Seite ist, ist auf der anderen Seite die Red Card für Migrantinnen und Migranten. Das ist nicht hinnehmbar. ({2}) Es ist auch nicht hinnehmbar, Frau Onur, dass bei der Green Card schnell und kurzfristig gehandelt wird, dass man sich aber bei der Red Card fast ein Jahr lang - so lange liegt das auf dem Tisch - Zeit lässt. ({3}) Sie können doch schneller handeln, wenn Sie wollen. In diesem Fall könnten Sie das auch tun. ({4}) Ob das mit Ihren sozialdemokratischen und grünen Wertvorstellungen zu vereinbaren ist, müssen Sie selber entscheiden. Die entwürdigenden Bedingungen, etwa die begrenzte Aufenthaltserlaubnis, unter denen die Einkäufe auf dem internationalen Arbeitsmarkt stattfinden, kennzeichnen erneut die immer größer werdende Entfernung der jetzigen Bundesregierung von sozialen, humanistischen und demokratischen Überzeugungen. Wer bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit die Objektivität und die Unausweichlichkeit der Globalisierung beschwört, kann doch nicht ernsthaft annehmen, dass er diesen Prozess auf dem Arbeitsmarkt und im sozialen Bereich überlisten kann. Das Recht auf Arbeit ist ein Grundrecht. Es steht auch jetzt bei der Diskussion um eine Charta der Grundrechte in der Europäischen Union an vorderster Stelle der sozialen Grundrechte. Grundrechte gelten für alle Menschen - gleich, ob sie Bürger der EU sind oder nicht. Arbeit ist die Grundlage für die Sicherung der menschlichen Existenz. Niemand hat das Recht, das Individuum seiner Möglichkeit zu berauben, mit seiner eigenen Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. ({5}) Genau das aber tut der Zwang, eine Erlaubnis zur Arbeit bei einer Behörde beantragen zu müssen. Wer die Praxis von Ausländerbehörde und Arbeitsamt kennt, der weiß, wie demütigend und erniedrigend die Behandlung für ausländische Mitbürger ist, wenn sie - sich meist erfolglos - in die Schlange einreihen müssen. Was sich in einer Millionenstadt wie Berlin tagtäglich vor der einzigen Ausländerbehörde abspielt, die noch dazu sehr begrenzte Öffnungszeiten hat, ist ein Beispiel für menschenunwürdige Behandlung. ({6}) Die Fraktion der PDS unterstützt den vorliegenden Antrag der F.D.P. Teile der Begründung sind absurd; lassen wir es dabei. Wichtig ist, dass den Menschen eine Zukunft gegeben wird. Es ist aber notwendig, dass wir uns von Relikten der Vergangenheit lösen. Tun Sie dies konsequent! Sie haben es versprochen. Lassen Sie sich nicht so viel Zeit! Dass auch Ämter und Behörden, auch Strafverfolgungsbehörden, entlastet würden, mag nur am Rande erwähnt werden. Die Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung: die Neugestaltung eines gleichberechtigten und selbst gestalteten Lebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft in einem Land. Andere Schritte müssen folgen. Wenn Sie aber zu viel Zeit brauchen, werden die anderen Schritte wahrscheinlich auf den SanktNimmerleins-Tag vertagt. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der F.D.P. ist in allen Ausschüssen zu Recht abgelehnt worden. ({0}) Wer sich die Inhalte und die Begründung dieses Antrages anschaut, der wird feststellen, dass die in ihm enthaltene Behauptung, das Arbeitsgenehmigungsrecht habe sich in der Bundesrepublik Deutschland zu einem Recht der Verhinderung von Arbeit entwickelt, absurd ist. Selbst die Zahlen, die in der Begründung stehen, machen diese Absurdität deutlich. Ich würde sehr empfehlen, darauf zu achten, wie sich mit ganz unterschiedlichen Begründungen die beiden jeweils äußeren Seiten dieses Hauses zu dem Antrag verhalten. Die linke Seite verhält sich wahrscheinlich so, weil sie immer und überall die Gutmenschen spielen will, ohne sich die Inhalte genauer anzuschauen. Die rechte Seite kommt im Gewande der Liberalität daher, so wie sie es schon mit vielen anderen Dingen getan hat; es geht ihr aber eigentlich um nichts anderes als um eine gnadenlose Deregulierung. ({1}) Ich finde das, was Herr Niebel sagt, sehr amüsant: Diejenigen, die er sonst in den Debatten als Gewerkschaftsfunktionäre verunglimpft, zitiert er, wenn es ihm passt. Ich würde ihn an dieser Stelle auch nicht so ernst nehmen. ({2}) Worum geht es eigentlich, meine sehr verehrten Damen und Herren? Wer sich das Arbeitsgenehmigungsrecht ansieht, wird feststellen - Vorredner haben das bereits deutlich gemacht -, dass wir darin ganz unterschiedliche Tatbestände vorfinden. Da geht es um Werkvertragarbeitnehmer, da geht es um Saisonarbeitnehmer, da geht es um Fragen der Genehmigung derer, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt nach Arbeit suchen. Hierzu will ich Ihnen eine Grundposition sagen, von der ich sehr überzeugt bin. Ich finde, dass Menschen, deren Aufenthalt hier auf Dauer angelegt ist, durch ihrer eigener Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen sollen. Das ist zunächst eine Grundposition. Dann muss man aber untersuchen, welche Funktion dieses Arbeitsgenehmigungsrecht hat. Es hat eine doppelte. Es hat die Funktion, einerseits den deutschen und den europäischen Arbeitsmarkt entsprechend zu schützen, andererseits aber so viel Flexibilität zu entwickeln, dass ein notwendiger Arbeitskräftebedarf gedeckt wird oder notwendige zusätzliche Genehmigungen für bestimmte Personengruppen ermöglicht werden. Dies tut das Arbeitserlaubnisrecht in ganz unterschiedlichem Ausmaß. Ich will überhaupt nicht verhehlen - das ist hier schon genannt worden -, dass wir in der Bundesregierung und mit den Koalitionsfraktionen daran arbeiten, bestimmte Regelungen des Arbeitserlaubnisrechtes zu reformieren. Aber, Herr Niebel, wir kommen nicht auf die Idee - da können Sie so viel herumschreien, wie Sie wollen -, das Arbeitserlaubnisrecht abzuschaffen. Wir kommen auch nicht auf die Idee, einen Tatbestand, den Sie benannt haben, die so genannte Vorrangprüfung, abzuschaffen. Warum sollten wir das? Wir sind schon der Meinung, dass man bei bestimmten Fragen genauer hinschauen muss, wie diese Vorrangregelung wirkt. Wir werden aber behutsam und in einer vernünftigen Art und Weise abzuwägen haben, wenn wir in diesem Land gegenwärtig noch mehr als 4 Millionen registrierte Arbeitslose haben und auf der anderen Seite über Arbeitsgenehmigungen bestimmte Entwicklungen zulassen, die auch dazu führen können, dass der Zuzug in die Bundesrepublik Deutschland zunimmt. Das hat gar nichts damit zu tun - das will ich meinem Vorredner noch einmal sagen -, dass es nicht auch möglich ist, bei dem bestehenden Arbeitserlaubnisrecht sehr flexibel zu reagieren. Wer sich die Anwerbestoppausnahmeverordnung ansieht, wird feststellen, dass große Firmen, dass Wissenschaftler, dass Universitäten und Institutionen auch bisher keine Probleme hatten und dass es ohne weiteres möglich ist, dass entsprechend qualifizierte Fachkräfte in die Bundesrepublik kommen. Ein Beweis dafür, dass unser Arbeitsgenehmigungsrecht vernünftig ist und mit kleineren Anpassungen gut genutzt werden kann, ist das Sofortprogramm für die Deckung des Arbeitskräftebedarfs im Bereich der ITIndustrie. Das kann nur nicht nach der Melodie erfolgen - das will ich noch einmal ausdrücklich sagen -, die Sie vorschlagen, nämlich alles abzuschaffen, sondern hier muss in einem vernünftigen Rahmen, mit vernünftigen Verhältnissen ein Bedarf nachgewiesen werden. Es muss auch durch den entsprechenden Wirtschaftsbereich deutlich gemacht werden, dass man selbst etwas tut, um inländische junge Menschen zu qualifizieren, um Fachkräfte, die arbeitslos sind, zu qualifizieren. ({3}) Wenn dieses miteinander einhergeht, dann ist es auch möglich, über Arbeitsgenehmigungen - Herr Niebel, wenn Sie bitte einmal zuhören würden - ({4}) zu ermöglichen, dass der notwendige Fachkräftebedarf in der Bundesrepublik Deutschland für eine solche Branche gedeckt wird. ({5}) - Ich bitte Sie noch einmal zuzuhören. Über Ihrem Antrag steht die Überschrift „Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht“. Das ist doch Unsinn. Wir beschließen im Deutschen Bundestag keinen Antrag, der Unsinn ist, damit Sie das wissen. ({6}) Damit halte ich für die Bundesregierung fest, dass wir in den nächsten Monaten im vernünftigen Ausmaß das, was im Arbeitsgenehmigungsrecht reformiert werden muss, verändern. Das können wir auch über entsprechende Verordnungen und Regelungen tun. Wir werden aber nicht auf die Idee kommen, dieses Arbeitserlaubnisrecht insgesamt abzuschaffen, weil wir davon überzeugt sind, dass vor dem Hintergrund der Arbeitsmarktprobleme auf der einen Seite mit den Arbeitsgenehmigungen auf der anderen Seite in einem vernünftigen Verhältnis umgegangen werden muss. Das bedeutet insbesondere auch, dass man hier Arbeitskräfte zulässt, deren Beschäftigung zusätzliche Arbeitsplatzeffekte in der Bundesrepublik Deutschland erzielt. Das bedeutet zum anderen - ich will es wiederholen -, dass auch Menschen, deren Aufenthalt in dieser Republik auf Dauer angelegt ist, die Möglichkeit haben müssen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, damit sie ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften können. Vor diesem Hintergrund halte ich es nur für logisch, dass dieser unsinnige F.D.P.-Antrag abgelehnt wird. Ich kann Ihnen vorhersagen, trotz all Ihrer Schreiereien, Herr Niebel: Weder die Bundesregierung noch die Koalition werden sich in irgendeiner Weise beirren lassen: Wir werden in den nächsten Wochen mit entsprechenden Regelungen auch hier im deutschen Parlament auftreten und diejenigen Veränderungen vornehmen, die wir für richtig halten. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat der Kollege Heinz Schemken, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/ CSU-Fraktion kann diesem Antrag nicht zustimmen. Ich will das begründen: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist nach wie vor dramatisch; da beißt keine Maus den Faden ab. Nach wie vor sind immerhin über 4,2 Millionen Arbeitslose registriert. In den Ausnahmefällen der Staatssekretär hat schon auf die entsprechenden Felder hingewiesen - sind es immerhin 1,2 Millionen Menschen, die in der Saisonarbeit, ({0}) in der Zeitarbeit oder über Werkverträge beschäftigt sind, ({1}) Herr Niebel. Wenn wir Ihrem Antrag folgen würden, dann würden wir ein zusätzliches Ventil öffnen. ({2}) Wir würden Menschen aus dem Ausland hereinholen, obwohl der Druck auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor sehr stark ist. ({3}) Der Staatssekretär hat angekündigt, dass das SGB III möglicherweise demnächst zur Diskussion steht. Wir können über die Verkürzung der Fristen bei freiwerdenden und bei neu eingerichteten Stellen - ich denke an die Wartezeit - reden. Ich sage hier aber ausdrücklich: Nicht die Arbeitslosenzahlen, sondern die Beschäftigungszahlen sind der eigentliche Gradmesser für die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Bei den Beschäftigungszahlen sieht es noch viel schlechter aus. Wir haben nach wie vor einen großen Aderlass an versicherungspflichtig Beschäftigten. Das war vor allen Dingen im vergangenen Jahr in starkem Maße der Fall. Auch wenn sich die Lage etwas gebessert hat, so ist trotz der positiven Konjunkturdaten und trotz des eigentlich milden Winters ein großes Defizit in der Beschäftigungspolitik festzustellen. Wir wissen, dass das auch dramatische Folgen für unsere Generationenverträge hat. Nur wenn wir das berücksichtigen, können wir den sozialen Rechtsstaat für künftige Generationen so bewahren, wie wir ihn auch für uns reklamieren. Die Lage ist deshalb dramatisch, weil die rot-grüne Bundesregierung in der Steuergesetzgebung genau das Falsche tut. ({4}) Sie vernachlässigt einerseits den Mittelstand, das Handwerk und den Handel - wo in den kleinen, überschaubaren Bereichen Arbeitsplätze entstehen. Andererseits bevorzugt diese Bundesregierung die Großkonzerne durch die Steuerfreiheit der Ausgliederung. Die Ausgliederung richtet sich eindeutig gegen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das haben Sie vor Ort von den Betriebsräten und von denen, mit denen Sie in den Gewerkschaften zu tun haben, gehört. Wenigstens ich habe das erfahren. Damit können wir den Rückgang der Arbeitslosigkeit nicht vorantreiben. Im Übrigen: Wenn dann noch der Herr Bundeskanzler den gigantischen Fusionsbeschluss der Deutschen Bank und der Dresdner Bank befürwortet und damit erkennbar in Kauf nimmt, dass 16 000 Arbeitsplätze verloren gehen - im Inland sind es 14 000 -, dann bedeutet das für die Arbeitsplätze der Beschäftigten nichts Positives. ({5}) - Auch ich kann die Fusion nicht aufhalten. Aber die Reihenfolge der Äußerungen und die dahinter stehende „Denke“ des Bundeskanzlers sind verräterisch. ({6}) Er begrüßt die Fusion. Ich behaupte, dass die Reihenfolge umgekehrt sein muss - erst Arbeitsplätze, dann Fusion. Die Einstellung zu diesem Thema ist das Entscheidende. ({7}) Für die arbeitslosen Menschen - gerade für die, die aus dem Dienstleistungsbereich kommen - ist das keine erklärbare Politik; denn im Dienstleistungsbereich sollen ja Arbeitsplätze entstehen. ({8}) Die Kurzatmigkeit des Handelns wird noch deutlicher, wenn der Herr Bundeskanzler Schröder Computerfachleute aus Asien, aus dem weit entfernten Ostasien hereinholen will, obwohl wir 30 000 Informationstechnologiespezialisten in der Arbeitslosigkeit haben. Wir müssten sie vermitteln. Wenn diese Ankündigung des Bundeskanzlers dann noch bei einem Messebesuch in lockerer Art geschieht, dann ist das eine sehr fragwürdige Sache. Ich sage das deshalb, weil wir auf der anderen Seite mit vielen Milliarden - das ist eben auch aus den Ausführungen des Staatssekretärs deutlich geworden - an Beitragsmitteln völlig zu Recht über das Arbeitsförderungsreformgesetz Menschen gerade in diesen computertechnischen Bereichen qualifizieren. Wenn das einen Sinn machen soll, muss ich für diese Menschen auf der anderen Seite auch die Arbeitsplätze bereithalten. Damit das hier klar ist und noch einmal deutlich wird: Es geht nicht um diejenigen, die von Ferne kommen, die unter Verfolgung oder unter Ausbeutung leiden; es geht wirklich um diejenigen, die in der Tat die Stars sind. Wir nehmen diesen Ländern - das ist im Übrigen ein Nebeneffekt - die Stars, die dort, in den Schwellenländern und den Entwicklungsländern, gebraucht werden, um eine vernünftige Infrastruktur aufzubauen. Ich sage das in allem Ernst. ({9}) Wenn dies noch in einer Zeit geschieht, in der die Bundesregierung für das EU-Gipfeltreffen in Lissabon die „Beschäftigungspolitische Aktion 2000“ mit beschlossen hat - das ist ja auch bei der Berichterstattung am gestrigen Tage deutlich geworden -, die eindeutig sagt, dass im europäischen Raum nationale Initiativen ergriffen werden sollen - und wir wissen, dass es im europäischen Raum weitere arbeitslose Computertechniker gibt -, dann bedeutet das, dass wir erst einmal die Arbeit vor der europäischen Tür leisten sollten. Das ist entscheidend. ({10}) Dafür habe ich einen guten Zeugen; den möchte ich dann auch zitieren. Er nimmt mir das sicherlich nicht übel. Es ist der Parlamentarische Staatssekretär Andres im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Er hat am 28. Januar dieses Jahres erklärt - ich zitiere -: Gegenwärtig ist die Bundesregierung nicht der Auffassung, dass die Erteilung von Arbeitsgenehmigungen an ausländische Spezialisten erleichtert werden soll. ({11}) Wie auch in den anderen Branchen muss auch im Bereich Datenverarbeitung das Problem der ausreichenden Gewinnung von Fachkräften durch Maßnahmen am inländischen Markt gelöst werden. ({12}) Die Zulassung von Arbeitnehmern aus dem Ausland würde die Ursachen des Mangels nicht beheben, sondern allenfalls kurzfristig verdecken. ({13}) Recht hat der Mann! ({14}) Ich kann nur sagen: Recht hat der Mann! - Ja, die Freude ist groß, wenn ich mich mit der F.D.P. auseinander setze. Aber haben Sie bitte Verständnis: Wir haben jetzt ja endlich auch einmal die Gelegenheit, wieder als Opposition so aufzutreten, wie es sich gehört. ({15}) Mit dieser Arbeitsmarktpolitik, wie sie augenblicklich auf diesen beiden Feldern, die ich nannte und die klassisch sind, betrieben wird - Fusionen und bei Ausgliederung von ganzen Produktionsbereichen dann auch noch die Einführung von Steuererleichterungen, um damit das Ganze noch zu beschleunigen, sowie auf der anderen Seite sozusagen die Sterne am Himmel hereinzuholen und damit einen Verdrängungsprozess durchzuführen -, ist eine Antwort auf die Frage nach der Bewältigung der Arbeitslosigkeit sicherlich nicht zu formulieren. Der Kanzler wollte sich ja daran messen lassen, wie er die Arbeitslosigkeit abbaut. Dies ist sicherlich ein Irrweg. In diesem Sinne werden wir auch in Zukunft das sage ich Ihnen noch einmal - den Finger in die Wunde legen. Allerdings muss ich ebenso ausdrücklich sagen: Der Antrag der F.D.P.-Fraktion ist nun auch nicht das Allheilmittel; deshalb können wir ihm nicht zustimmen. ({16}) Schönen Dank. ({17})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. zur Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht, Drucksache 14/2840. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1335 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von PDS und F.D.P. ist die Beschlussempfehlung angenommen. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der PDS Zur Entwicklung und zur Situation in Ostdeutschland - Drucksachen 14/860, 14/2622 Es liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und der PDS vor. Über den Entschließungsantrag der PDS werden wir nachher namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die PDS acht Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Gysi, PDS-Fraktion.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben, wie ich finde, zu einem rechten Zeitpunkt - nicht zu früh, nicht gleich zu Beginn der Legislaturperiode, sondern nachdem eine gewisse Zeit neuer Regierungspolitik über das Land gegangen ist - eine Große Anfrage zur Situation in Ostdeutschland gestellt, um zwei Dinge zu erfahren. Uns hat erstens eine Bestandsaufnahme interessiert, inwieweit die Bundesregierung über Informationen in Bezug auf Ostdeutschland verfügt. Zweitens hat uns interessiert, wie das Konzept der Bundesregierung aussieht, die Entwicklung in Ostdeutschland voranzubringen, immerhin ein Gebiet, das im Wahlkampf und auch noch nach dem Wahlkampf vom Bundeskanzlers zur Chefsache erklärt worden ist. Ich sage Ihnen: Das Beste an dieser Großen Anfrage sind immer noch die Fragen, nicht die Antworten, ({0}) und zwar aus folgendem Grunde: Zunächst einmal - aber da könnten wir uns ja möglicherweise verständigen - fällt die Bestandsaufnahme ausgesprochen ungenau aus. Wenn Sie die Antworten lesen, werden Sie feststellen, wie oft die Bundesregierung mitteilen muss, dass sie diesbezüglich keine Informationen hat, dass es keine Statistik gibt, dass sie nicht auskunftsfähig ist. Ich finde - deshalb spielt das in unserem Entschließungsantrag eine Rolle -, wir sollten uns wenigstens darauf verständigen, die statistischen Erhebungen über Ostdeutschland in Zukunft sehr viel genauer vorzunehmen, weil sie eine Grundlage dafür sind, Fehlentwicklungen zu erkennen und andere Entwicklungen überhaupt einleiten zu können. Wenn wir die Situation nicht kennen, können wir auch nicht darauf reagieren. Dann begeben wir uns in das Gebiet der Spekulation. ({1}) Aber ich hoffe, dass es da nicht so viel Widerspruch gibt; denn das ist ja zum Teil übernommen. Das Zweite ist - danach frage ich Sie ernsthaft -: Wie sieht eigentlich Ihr Konzept zur Herstellung der inneren Einheit Deutschlands, zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West und zur Organisierung eines wirtschaftlichen Aufschwungs in den neuen Bundesländern aus? Ich muss Ihnen sagen: Nachdem Sie das erst zur Chefsache erklärt haben, finde ich, dass sich aus den Antworten ergibt, dass Sie das inzwischen zu einer Nebenrolle degradiert haben. So kann die deutsche Einheit nicht hergestellt werden. ({2}) Ich will versuchen, Ihnen das nachzuweisen. Wir haben noch immer die Situation, dass die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern doppelt so hoch ist wie in den alten Bundesländern. Es geht mir heute nicht um Ursachen. Darüber werden wir uns zum Teil nicht verständigen können; zum Teil wäre dies wahrscheinlich sogar möglich. Auf jeden Fall ist die Situation, wie sie ist. Nun ergibt sich aus den Antworten auf die Große Anfrage überhaupt kein Konzept der Bundesregierung, das spezifisch für den Osten gelten würde, wie man gerade dort die Arbeitsmarktprobleme lösen will. Ein solches Konzept ist nicht erkennbar. Sie hoffen nur auf allgemeine Entwicklungen in der ganzen Bundesrepublik Deutschland und gehen davon aus, dass sich diese irgendwann und irgendwie auch zugunsten des Ostens auswirken werden. Diesen Aberglauben haben wir aber inzwischen eindeutig verloren. Wir brauchen spezifische Maßnahmen für eine regionale und strukturelle Entwicklung im Osten, für eine Reindustrialisierung, für die Schaffung von industriellen Kernbereichen, um die Arbeitsplatzfrage lösen zu können. ({3}) Dabei sind wir uns durchaus darüber im Klaren, dass wir uns im Übergang in eine Dienstleistungsgesellschaft befinden. Aber auch auf diesem Gebiete passiert doch wenig. Natürlich haben wir einzelne Oasen in den neuen Bundesländern, in denen auch einmal ein hochproduktives Unternehmen entsteht. Aber drum herum entwickelt sich viel zu wenig. Lassen Sie mich dazu zwei, drei Bemerkungen machen, die ich für ganz wichtig halte. Das Erste ist: Wir müssen neu über Ausschreibungen nachdenken, und zwar auch - da spreche ich die Grünen an - aus ökologischen Gründen. Es gibt ein europäisches Recht und ein Bundesrecht, das jede Kommune zwingt, bei jedem größeren Auftrag entweder bundesweit oder sogar europaweit auszuschreiben. Die Folge davon ist, dass eine Kommune in Brandenburg dann, wenn ein Angebot aus Südfrankreich oder Norditalien oder aus Bayern kommt, das um 20 000 DM günstiger ist als das Angebot aus der eigenen Region, den Auftrag aus marktwirtschaftlichen Gründen nach den geltenden Gesetzen zwingend nach Bayern oder in andere Länder vergeben muss. Das Problem ist zunächst einmal ein ökologisches. Auf diese Art und Weise werden sinnlos Millionen Kilometer quer durch ganz Europa verfahren. ({4}) Statt den Benzinpreis zu erhöhen, sollten Sie an diesem Ausschreibungsverfahren etwas ändern. Dann könnten Sie die Gütertransporte zu einem großen Teil von der Straße drängen. Zugleich hätten die Kommunen die Chance, wieder eine regionale Wirtschaftspolitik zu betreiben. Ein weiterer Aspekt ist von Bedeutung: Früher, unter der alten Regierung - es tut mir Leid, Sie an dieser Stelle einmal würdigen zu müssen -, gab es zunächst eine vernünftige Maßnahme: Ich meine die Investitionspauschale für die Kommunen. Diese ist ausgelaufen. Ich sage Ihnen: Die müssen wir wieder auflegen; andernfalls haben die Kommunen keine Chance, ein eigener Wirtschaftsfaktor zu werden, der Arbeitsplätze schaffen kann. ({5}) Ich beziehe das im Übrigen nicht nur auf die neuen Bundesländer. Vielmehr werden Sie auch in den struk- turschwachen Regionen Westdeutschlands eine Investi- tionspauschale für die Kommunen benötigen, damit a) eine Kommunalwahl Sinn macht und b) in den strukturschwachen Gegenden auf dem Arbeitsmarkt endlich wieder eine bessere Situation herrscht. ({6}) Natürlich kommen viele andere Dinge hinzu. Wann endlich fördern wir wirklich die Existenzgründerinnen und Existenzgründer gerade in den neuen Bundesländern? Es wird viel von kleinen und mittelständischen Unternehmen gesprochen. Schauen Sie sich einmal deren Schicksal in den neuen Bundesländern an: Die Zahl der Pleiten erhöht sich von Jahr zu Jahr, natürlich auch die Zahl neuer Versuche. Machen wir doch daraus endlich einmal erfolgreiche Versuche, indem wir kleine und mittelständische Unternehmen direkt fördern, damit sie dann auch wirklich wirtschaften können und Arbeitsplätze gesichert werden bzw. neu entstehen. ({7}) Mit dem Gerede muss endlich Schluss sein; es muss nun gehandelt werden. Angesichts dessen, dass angekündigt worden ist, dass die Entwicklung in Ostdeutschland Chefsache ist, wundere ich mich natürlich, dass die Bundesregierung bei einer Sache, die sie mit Priorität versehen wollte, bei dieser Debatte so gut wie überhaupt nicht vertreten ist. Davon ist offensichtlich jetzt keine Rede mehr. ({8}) Natürlich geht es auch um soziale Fragen. In diesem Zusammenhang gibt es ja immer zwei Komponenten. Die eine Komponente ist: Je schwächer die Kaufkraft in Ostdeutschland ist, desto verhaltener ist die Wirtschaftsentwicklung. Die andere Komponente ist: Es handelt sich dabei um eine Gerechtigkeitsfrage. Die Lösung der sozialen Fragen kann man nicht auf den SanktNimmerleins-Tag verschieben. Herr Riester will die Renten ungefähr im Jahre 2030 angleichen. Ganze Generationen von Rentnerinnen und Rentnern sind verstorben, bevor das zur Wahrheit wird. Abgesehen davon könnte man sich über niedrigere Renten, Löhne, Gehälter und Sozialleistungen doch nur unter einer Bedingung verständigen, nämlich unter der Bedingung, dass auch die Preise niedriger sind. Sie können doch nicht zulassen, dass das Preisniveau in Ostdeutschland 100 bis 110 Prozent desjenigen im Westen beträgt, wenn Sie die Löhne, Gehälter, Sozialleistungen und Renten auf einem wesentlich niedrigeren Niveau belassen. Das ist einfach nicht hinnehmbar und nicht mehr nachvollziehbar. ({9}) Die Bundesregierung könnte hier vorangehen, indem sie bei den Beamten endlich einmal eine gleiche Entlohnung vornimmt. Dann könnte man im gesamten öffentlichen Dienst eine Angleichung durchsetzen. Das würde sich dann schrittweise auf die Privatwirtschaft auswirken. Im industriellen Gewerbe liegen die Löhne in Ostdeutschland im Vergleich zu den Löhnen in Westdeutschland bei 65 Prozent. Sie müssen wissen, dass selbst der Haustarif in den neuen Bundesländern eine Ausnahme ist. Das heißt, die westdeutsche Tarifvertragsstruktur gilt in den neuen Bundesländern noch nicht. Das ist, wie ich finde, nicht länger hinnehmbar. Ich erwarte nicht - um das hier ganz deutlich zu sagen - eine Überforderung dergestalt, dass die Bundesregierung sagt, ab 1. Mai dieses Jahres - das wäre natürlich ein besonders geeigneter Tag - wird eine Angleichung durchgeführt. ({10}) - Nein, ich habe extra den 1. Mai genannt. Sie haben andere Daten als ich im Kopf. Sie sollten einmal darüber nachdenken, woher das kommt. Ich spreche darüber aus einem ganz bestimmten Grund, und zwar deswegen, weil wir einen Fahrplan erwarten. Sie müssen den Menschen wenigstens sagen, in welchen Schritten und in welchen Fristen eine Angleichung erfolgen soll, damit sie eine Perspektive haben. Sie dürfen die Antwort auf diese Frage nicht permanent verweigern, wie das in den letzten Jahren der Fall war und auch gegenwärtig der Fall ist. ({11}) Auch zum Aufbau von Wissenschaft, Bildung und Kultur ließe sich eine Menge sagen. Denn solange dieser Bereich in Ostdeutschland mit Nachteilen versehen ist, ist auch eine Perspektive nicht gesichert. Ich möchte, dass das Abitur in den neuen Bundesländern endlich den gleichen Wert hat wie das Abitur in den alten Bundesländern. Ich möchte, dass wir das vorhandene Wissenschafts- und Forschungspotenzial anders nutzen. ({12}) Lassen Sie mich zum Schluss noch auf eine andere Gruppe zu sprechen kommen: Es gibt in Ostdeutschland tatsächlich Verlierer. Das sind die Frauen. Die Arbeitslosigkeit ist bei ihnen am höchsten. Ihr Entgelt ist am geringsten. Sie sind zu einem großen Teil aus dem Erwerbsleben und damit aus dem gesellschaftlichen Leben, wie es sich heute darstellt, verdrängt worden. Keine Ihrer Antworten bietet eine Aussicht darauf, wie Sie diese spezifische Problematik angehen wollen. Ich sage Ihnen: Ohne einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor, -

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege Gysi, denken Sie an Ihre Redezeit!

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

- ohne Arbeitszeitverkürzungen und ohne spezifische Programme für Frauen werden Sie dieses Problem nicht lösen können. Das ist mit Ihre Aufgabe, aber auch eine Aufgabe für uns alle, wenn wir denn die deutsche Einheit wieder herstellen wollen. Die Antworten waren sehr dürftig. Ich hoffe, dass wir hier im Laufe der Beratung noch deutlich weiterkommen. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile dem Kollegen Dr. Mathias Schubert, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. Mathias Schubert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002787, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwischen der Veröffentlichung zweier Bilanzen zum Aufbauwerk in Ostdeutschland mit Daten, Fakten und Perspektiven - einerseits der Bericht zum Stand der Deutschen Einheit, andererseits der Gegenstand dieser Debatte, nämlich die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der PDS - liegen gerade einmal vier Monate und erneut könnte die Interpretation ihrer Inhalte und der daraus resultierenden Forderungen und Appelle an die BundesDr. Gregor Gysi regierung kaum unterschiedlicher ausfallen. Das haben wir auch nicht anders erwartet. Die vorliegenden Entschließungsanträge von PDS und Unionsfraktion sind leider nachhaltiger Beleg dafür, wie sehr der Blick durch die parteipolitische Brille oder ein erstaunliches, offenbar ideologisch motiviertes Rollback zur selektiven Wahrnehmung beitragen. ({0}) Da wird unter Berufung auf soziologische, ökonomische oder haushaltstechnische Daten die Lebenswirklichkeit nicht erkannt, der erreichte Stand beim Aufbau Ost entweder verharmlosend schöngeredet oder dramatisch negativ verzerrt. Da werden uneingestandene eigene Fehler und Versäumnisse nach fast einem Jahrzehnt verantwortlichen Regierungshandelns für den Osten der neuen Bundesregierung untergeschoben, mit scheinbar plakativen Forderungen an die rot-grüne Koalition, die im Übrigen längst Bestandteil unserer Politik sind. Nur ist unsere Politik einfach sinnvoller, effizienter und erfolgsorientierter angelegt. ({1}) - Da haben Sie Recht. Es war schon eine respektable PR-Leistung, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, wie Sie jahrelang mit schöngefärbten Illusionen verführten und in Ost und West erfolgreich Politik verkaufen konnten - nach dem Motto: Es werden weder Opfer, geschweige denn Steuererhöhungen nötig sein; allein durch die wundersamen Kräfte des Marktes entstünden die blühenden Landschaften. Dass sich Menschen nicht auf Dauer durch vollmundige Versprechungen narren lassen, haben Sie dann im September 1998 zu spüren bekommen. Auch heute haben Sie wieder scheinbar griffige Erklärungen parat, mit denen zugleich die Schuldigen für manche Defizite in den ostdeutschen Ländern ausgemacht werden: natürlich die neue Bundesregierung wer auch sonst? -, die dieses und jenes womöglich nicht einfach aus der Westentasche bezahlen kann und auch nicht will. Begreifen Sie endlich: Ein Staat kann mittelfristig nicht ständig mehr ausgeben, als er einnimmt! Noch eine Bemerkung zu dem Entschließungsantrag der CDU/CSU: Wenn man die erste Seite liest, hat man - insbesondere bei dem zweiten Absatz - den Eindruck, dass sich die Erfolgsmeldungen bezogen auf den Aufbau Ost bis 1998 nur so gehäuft haben. Das führt den Leser zu der Vermutung, beim Aufbau Ost seien nur noch Restarbeiten zu erledigen. Liest man aber auf der zweiten Seite weiter, so stößt man auf fundamentale politische Forderungen, woraufhin sich der Leser natürlich fragen muss: Was ist denn nun richtig? Gab es einen so großen Erfolg, dass nur noch Restarbeiten zu erledigen sind? Oder gab es keinen Erfolg, sodass weiterhin fundamentale politische Forderungen gestellt werden müssen? Mit diesem Widerspruch führen Sie im Grunde sich selbst ad absurdum. Sie können nur politisch konstruktiv werden, nachdem Sie entschieden haben, wie Sie Ihre Politik nach Ihrer Niederlage im Jahr 1998 konsistent weiterführen können, ohne dass das, was Sie damals getan haben, unglaubhaft wird. ({2}) Nun ist das aber noch nicht alles. Die PDS hat noch abenteuerlichere Einsichten, die sie zum Besten gibt, wie sich in der nüchternen Bilanz der Antwort der Bundesregierung auf ihre Große Anfrage zeigt. „Back to the roots“ heißt die Botschaft dieser antikapitalistischen Epistel in ihrem Entschließungsantrag - und das ist eher noch zurückhaltend formuliert. ({3}) Die Architektur Ihrer utopischen postsozialistischen Traumschlösser einschließlich der Wiedereinführung von längst vergessen geglaubten Zehnjahresplänen samt Planwirtschaft ({4}) - deshalb, lieber Herr Kollege Gysi, habe ich vorhin vom 7. Oktober und nicht vom 1. Mai gesprochen - ist ein Rückschritt, den ich von Ihnen - wenn ich das so sagen darf - nicht mehr erwartet hätte. Das hat sicherlich auch mit Ihrer innerparteilichen Identitätskrise und dem nahenden Parteitag zu tun. Da macht es sich natürlich gut, wenn die „Zurückdrängung von Kapitaldominanz“ - wie Sie es ausdrücken - und die sichtbare inhaltliche Annäherung an Positionen Ihrer marxistischen Plattform die Reihen zu schließen versuchen. ({5}) Aber hinsichtlich der ostdeutschen Belange outen Sie sich als das konservativste politische Element und überholen damit die rechte Seite dieses Hauses. ({6}) Sie sind - wenn Sie das nicht lernen, kommen Sie zunehmend mehr in große Schwierigkeiten - nicht die einzige und schon gar nicht die genuine Partei oder Fraktion, die Ostinteressen vertritt. Sie sind nur die einzige Partei, die von Ost-West-Gegensätzen, tatsächlichen oder scheinbaren, lebt und die Ostdeutschen gern in vormundschaftliche sozialistische Staatlichkeit zurückführen will. ({7}) Aber wenn natürlich die Chance, in der Bundesrepublik beim Wort genommen zu werden, gleich Null ist, fällt - was ich auch verstehe - ungenierter Populismus relativ leicht. Diese Bundesrepublik ist eben keine Inkarnation des bösen Kapitalismus. Sie ist bei allen unbestrittenen Problemen, die es natürlich gibt, ein gelungener Mix aus rechtsstaatlich demokratischer Grundordnung, sozialer Marktwirtschaft und einem breit gefächerten System sozialer Sicherheit. Solange Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in diesem Land regieren - das wird noch einen Augenblick dauern, liebe Genossinnen und Genossen -, wird diese Mischung auch Bestand haben. ({8}) Meine Damen und Herren, schon bei der Debatte zum Stand der deutschen Einheit im November vergangenen Jahres haben die sozialdemokratische Bundestagsfraktion und mit ihr natürlich der Koalitionspartner der Bundesregierung für die realistische Bestandsaufnahme gedankt. Dies gilt uneingeschränkt auch für die sorgfältig erarbeitete, durch nüchterne Fakten unterlegte Antwort auf die Große Anfrage der PDS. Der Dank ist insbesondere an Sie, Herr Staatsminister Schwanitz, gerichtet. Negative Aspekte der ostdeutschen Realität werden dabei nicht ausgeblendet. Natürlich - das wissen wir alle steht Erfolg neben Misserfolg, lässt sich kein einheitliches Urteil über die ostdeutschen Transformationsprozesse aus dieser Momentaufnahme der Antwort auf die Große Anfrage herausfiltern. Denn in den letzten zehn Jahren ist aus industriellen Ruinen eine ökonomische Landschaft voller Kontraste entstanden, eine Landschaft aus Wachstumszentren und Problemregionen, alles in allem eine bunt gescheckte Landschaft. Der Osten ist weder generell rückständig noch hat er den Westen generell überholt. Insofern war es Zeit für eine realistische Bestandsaufnahme als objektive Grundlage für zukünftiges politisches Handeln. Das gilt für die Arbeitsmarkt- und Forschungspolitik, für das Nachdenken über zukünftige Förderinstrumente, ins besondere in der Wirtschaft, und für den Weiterbau der Infrastruktur einem richtigen und erfolgsorientierten Weg Vielen herzlichen Dank. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Klaus Brähmig, CDU/CSU-Fraktion.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte über die Große Anfrage der PDS zur Entwicklung und zur Situation in Ostdeutschland gilt sicher als Vorspeise auf die morgige Sonderveranstaltung des Deutschen Bundestages zum 10. Jahrestag der ersten freien Wahlen zur Volkskammer in der DDR. Diese Vorspeise lassen wir uns als Unionsfraktion von den Mitgliedern der PDS-Fraktion sicherlich nicht versalzen. ({0}) Am heutigen Tag muss nicht nur an die zehn Jahre der Entwicklung in Deutschland seit dem Fall der Todesgrenze gedacht werden, sondern auch den Frauen und Männern der ersten frei gewählten Volkskammer gedankt werden, die mit ihrem Engagement die Einheit unseres Vaterlandes vorangetrieben haben. Durch ihren Einsatz wurde möglich, was viele nicht mehr für möglich gehalten hätten. Wenn man hier in Berlin ostdeutsche Schülerklassen sieht, die ganz unbefangen und wie selbstverständlich durch das Brandenburger Tor gehen, dann wird mir immer wieder deutlich, dass die ältere Generation der Ostdeutschen die Aufgabe hat, die Erinnerung daran wach zu halten, wie es in der ehemaligen DDR wirklich war. Man muss sich immer wieder die Frage stellen: Was wäre aus dem Land, der Umwelt, den Betrieben, der Infrastruktur, den Städten, Krankenhäusern, Kirchen und Menschen geworden, wenn die deutsche Einheit nicht gekommen wäre? ({1}) Die Gestaltung der deutschen Einheit war und ist unteilbar mit der Regierungskoalition unter der weitsichtigen Führung von Bundeskanzler Helmut Kohl verbunden, dem auch heute noch mein Dank für seine politische Lebensleistung gilt. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, der erste Satz der Großen Anfrage der PDS sticht sofort ins Auge: Mit Blick auf den bereits am Horizont sichtbaren zehnten Jahrestag der staatlichen Vereinigung Deutschlands ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Dem kann man nur zustimmen. Allerdings dürfen wir bei der Bilanz zum Stand der deutschen Einheit nicht die katastrophale Abschlussbilanz für die Zeit von 1949 bis 1989 aus dem Auge verlieren. ({3}) Denn nur dann gelingt es, eine ehrliche und faire Behandlung aller im Zusammenhang stehenden Sachverhalte der Innen- und Außenpolitik vorzunehmen. Die PDS selektiert in ihrer Anfrage nur die politischen Bereiche, die ihre ideologische Ausrichtung unterstützen. Es wäre doch sehr interessant, darüber zu diskutieren, welche Auswirkungen 40 Jahre SED-Diktatur auf das Land und die Menschen gehabt haben. Warum lauten Ihre Fragen nicht: Wie viele Menschen wurde auf dem Weg in die Freiheit erschossen oder in Zuchthäusern der SED-Diktatur diszipliniert? ({4}) Wie viele Betriebe sind verstaatlicht worden, ihre Eigentümer womöglich des Landes vertrieben? Wie viele Menschen wurden im Namen des Sozialismus um die Früchte ihrer ehrlichen Arbeit gebracht und um die Träume und Sehnsüchte ihrer Lebensplanung betrogen? Welche Wirkung haben die Zerschlagung des freien Unternehmertums sowie das Verbot, privates Vermögen aufzubauen, und die damit verbundene Eigenkapitalschwäche, die für die Bemühungen der Privatisierung an ostdeutsche Bürger nach 1989 entscheidend war? ({5}) Wie waren die Lebenserwartung der Bevölkerung und der Zustand des Gesundheitswesens? Wie groß war die ökologische Vergewaltigung der Flüsse, Wälder, der Luft und des Bodens von Rügen bis zum Fichtelberg? ({6}) Ich glaube, bei einer ernsthaften und ehrlichen Bilanz kämen schnell 1000 wirklich sinnhafte Fragen zustande. Am Beispiel der Sanierung des Wismut-Bergbaus in Thüringen und Sachsen lässt sich diese positive Entwicklung der letzten zehn Jahre eindrucksvoll nachvollziehen. Mehrere Milliarden DM wurden in den vergangenen Jahren investiert. Allein in meinem Wahlkreis bei Königstein wurden seit 1991 rund 1 Milliarde DM für die Sanierung bereitgestellt. Von der Wirkung dieses Geldes sieht man allerdings nicht viel, denn es wurde unter Tage für die Verbesserung und Absicherung des Grundwasserhaushaltes für den oberelbischen Raum eingesetzt. Ich frage Sie: Was hätten wir mit diesen Steuergeldern alles an anderer Stelle ausrichten können, zum Beispiel im Schulwesen, in Kindergärten und Jugendeinrichtungen, bei der Städtebausanierung, zugunsten von Kläranlagen, Sportplätzen und Kultur? Das Geld konnte doch nur einmal eingesetzt werden, und in den ersten Jahren musste es eben schwerpunktmäßig in die Altlastensanierung der SED-Diktatur investiert werden. ({7}) Nein, meine Damen und Herren, eine solche Politik, wie sie in der Großen Anfrage der PDS und Ihrem Entschließungsantrag deutlich wird, dürfen wir hier im Deutschen Bundestag nicht durchgehen lassen. Sie ist geprägt von Miesmacherei, Verklärung, Verbreitung von Halbwahrheiten und Verdrängung der eigenen Verantwortung für die SED-Hinterlassenschaft. Sie ist eine Hypothek, die es auch in den nächsten Jahren in Bund, Ländern und Gemeinden abzutragen gilt. Kurt Biedenkopf sprach schon 1991 davon, dass der Aufholprozess etwa 20 Jahre dauern, große finanzielle Anstrengungen unserem gesamten Volk abverlangen und der Bevölkerung der mitteldeutschen Länder große Belastungen und Opferbereitschaft auferlegen würde. Genau diesen Prozess gilt es seitens der Politik zu begleiten. Es gilt, den Menschen, die in Verantwortung stehen, Mut zu machen, und zu helfen, wo persönliche Betroffenheit und krisenhafte Situationen entstanden sind. Meine Damen und Herren, der Weg ist richtig und alternativlos. Wir haben noch eine gute Strecke vor uns; denn eine 40- bis 50-jährige unterschiedliche Entwicklung lässt sich nicht in zehn Jahren auf allen Gebieten ausgleichen. Dabei darf nicht verkannt werden, dass sich beim Einigungsprozess auch Fehlentwicklungen ergeben haben. Diese sind bereits erkannt und werden dort, wo es möglich ist, korrigiert. In Ost und West ist es gerade jetzt notwendig, für gegenseitiges Verständnis und Vertrauen zu werben. Vor einiger Zeit las ich in einer Emnid-Umfrage, dass schon etwa 93 Prozent der Ostdeutschen zumindest einmal dienstlich, privat oder touristisch in den westlichen Bundesländern waren. Umgekehrt liegt die Zahl erst etwa bei circa 50 Prozent. Fast 30 Millionen unserer westdeutschen Mitbürger haben sich also bisher wenig bzw. gar nicht persönlich mit dieser nationalen Aufgabe vertraut gemacht. Ihre Informationen beziehen sie aus den Medien, die leider häufig selektiv und oberflächlich berichten. Einmal gesehen ist besser als hundertmal gehört. Gerade die touristische Entwicklung in den neuen Bundesländern ist eine einzigartige Erfolgsstory, die auch in Zukunft noch über große Potenziale verfügt. Für die Entwicklung der ländlichen Räume und die Zurückführung der Frauenarbeitslosigkeit bergen der Tourismus und der Dienstleistungsbereich in den neuen Bundesländern enorme Reserven. ({8}) Zur Verkehrsinfrastruktur ist festzustellen, dass wir 1991 ein Infrastrukturnetz vorgefunden haben, das in den letzten 50 Jahren nur sehr dürftig instand gehalten wurde. Dass dieser Bereich nicht über Nacht in Ordnung gebracht werden kann, dürfte sogar Ihnen von der PDS einleuchten. ({9}) Dennoch sind seit 1990 mehr als 76 Milliarden DM in Sicherheit, Modernisierung, Erweiterung und den Neubau der Verkehrsinfrastruktur geflossen. Im Entschließungsantrag fordert die PDS mehr Investitionen im Verkehrsbereich. Gleichzeitig lehnen ihre Abgeordneten aber wichtige Verkehrsprojekte ab, wie beispielsweise den Bau der A 17 in Sachsen oder das Zukunftsprojekt Transrapid zwischen Berlin und Hamburg. ({10}) Auch hier zeigt sich die verlogene Politik der PDS. Einen konstruktiven und ganzheitlichen Politikansatz kann man bei der PDS auch zehn Jahre nach der deutschen Einheit weiterhin nicht erkennen. Dennoch möchte ich einen Appell an die rot-grüne Bundesregierung richten: Kommen Sie ohne Wenn und Aber auf den Pfad der Investitionen zurück. Beenden Sie Ihre Sparpolitik im Verkehrsbereich der mitteldeutschen Länder! Diese eignen sich nicht zum Sparschwein der Nation. ({11}) Die schnelle Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur ist wirkliche Zukunftspolitik für Ostdeutschland, Deutschland und Europa. Zur weiteren Bilanz der letzten zehn Jahre gehört auch der Bereich des Gesundheitswesens. Kureinrichtungen, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Behinderten- und Sozialstationen sind durch gewaltige Investitionen in kurzer Zeit auf den Stand gebracht worden, der manchmal sogar über den westlichen Standards liegt. Den PDS-Antragstellern rate ich: Besuchen Sie diese Einrichtungen. Setzen Sie die Brille der Ideologie und Propaganda ab und die Brille der Realität auf! Dann sind wir bereit, mit Ihnen ernsthaft über diese Themen zu diskutieren. Der vorliegende Entschließungsantrag der CDU/ CSU-Fraktion ist ein nachhaltiger und konstruktiver Beitrag, den Aufbau Ost voranzutreiben. Dieser muss wie bis September 1998 wieder ernsthaft zur Chefsache gemacht werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Der Kollege Werner Schulz von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sei- nen Redebeitrag zu Protokoll gegeben.*) Damit erteile ich dem Kollegen Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir begehen morgen den zehnten Jahrestag der ersten freien Wahlen zur Volkskammer der DDR. Ich meine schon, dass dies ein guter Anlass ist, einmal eine Generalinventur zu machen und natürlich auch den Blick nach vorn zu richten. Wie weit sind wir beim Aufbau Ost gekommen? Wo liegen die Erfolge? Wo liegen noch die Defizite? Die PDS hat dazu eine Große - vor allen Dingen aber auch eine lange - Anfrage gestellt. Die Konsequenzen, die sie daraus ableitend in ihrem Entschließungsantrag fordert, können wir allerdings nicht nachvollziehen. Die F.D.P. lehnt den Antrag deshalb ab - nicht weil er von der PDS kommt, sondern weil wir nicht zur Planwirtschaft zurückkehren wollen. Dieser Feldversuch ist bekanntlich gescheitert. ({0}) Die klagende PDS-Feststellung, die SPD setze auf die bereits unter der Kohl-Regierung gescheiterte Politik, über den Marktmechanismus zum Erfolg kommen zu wollen, ist falsch. Wenn die Bundesregierung doch nur auf den Mechanismus des Marktes setzen würde, dann hätte sie nämlich längst strukturelle Veränderungen voranbringen und die entsprechenden Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und Beschäftigung schaffen müssen, wie das zum Beispiel Holland und Schweden erfolgreich getan haben. Die F.D.P. jedenfalls will zurück zu einer wirklich konsequenten sozialen Marktwirtschaft, denn wir haben schon eine halbe Planwirtschaft. Das ist so. Was heißt soziale Marktwirtschaft? - Das bedeutet fairen Wettbewerb. Dazu gehören auch gleiche Startchancen. Wenn jemand wie die neuen Bundesländer eine schlechte Ausgangsbasis hat, ist es nur fair, dass man ihm einen vollen Ausgleich gewährt und nicht bei der Hälfte aufhört. ({1}) Aber statt eine Nettoentlastung zu gewähren, die schon zu unserer Zeit überfällig war - das muss man fairerwei- se sagen -, hat die rot-grüne Regierung das Handwerk ______ *) Anlage 5 und den Mittelstand mit dem so genannten Steuerentlastungsgesetz zusätzlich belastet. ({2}) Natürlich tut das den ostdeutschen Betrieben, die nur über geringes Eigenkapital verfügen, besonders weh. Das so genannte Ökosteuergesetz hat eine ähnliche Wirkung. Höhere Spritpreise sollen dafür sorgen, dass weniger gefahren wird. Das ist völlig realitätsfremd. Die meisten Autofahrer sind auf ihr Auto angewiesen, um zur Arbeit zu kommen oder um Kunden zu besuchen. Das gilt in verstärktem Maße für die neuen Bundesländer mit ihren zahlreichen leider noch notwendigen Westpendlern. Auch die Transportunternehmen sind in Gefahr. Die Nachteile, die sie gegenüber ihren ausländischen Konkurrenten haben, verschärfen sich durch die Ökosteuer deutlich. ({3}) Wenn der Gewinn gegen null geht und man wie die ostdeutschen Spediteure über wenig Kapital verfügt, kann man beim besten Willen nicht mehr in eine umweltfreundliche Fahrzeugtechnik investieren. Sie haben sicherlich auch die Briefe erhalten; das ist nachgerechnet worden. Die geplante Unternehmensteuerreform ist ebenfalls für den noch nicht stabilisierten Mittelstand in Ostdeutschland eine besondere Härte. Statt die kleinen und mittleren Betriebe, also diejenigen, die die Arbeitsplätze bringen, zuerst zu entlasten, können ausgerechnet die großen ab 2001 mit einer Senkung der Körperschaftsteuer auf 37 Prozent rechnen. Der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer für Personengesellschaften, also die kleinen und mittleren Unternehmen, soll nur auf 45 Prozent sinken, und das erst ab 2005. Wir brauchen jetzt Arbeitsplätze. ({4}) Das Argument, man könne für die Körperschaftsteuer „optieren“ - was das schon für ein Wort ist! -, können Sie vergessen. Heißer Tipp: Nehmen Sie unser Steuergesetz! Oskar passt ja nicht mehr auf, Oskar Lafontaine ist ja weg. ({5}) Weil wir gerade bei F.D.P.-Modellen und Hilfe für Benachteiligte sind: Damit der Aufbau Ost den neuen notwendigen Schub erhält, prüfen Sie doch einmal unseren alten, trotzdem noch richtigen Vorschlag einer Niedrigsteuer für benachteiligte Regionen, wenn Sie sie schon nicht in ganz Deutschland einführen. ({6}) Um bei den strukturschwachen Regionen zu bleiben, was unser gemeinsames Hauptproblem ist: Der InnoRegio-Wettbewerb war eine gute Idee von Ihnen. Das ist so. Hier möchte ich nur dringend darum bitten, dass auch diejenigen, die nicht zu den Wettbewerbssiegern gehört haben, noch eine Chance bekommen. Da wir bei neuen Wegen sind, komme ich zum Bündnis für Arbeit: Warum baut man hier von vornherein unsinnige Tabus auf? Es ist doch ganz klar, dass hierbei die Lohnentwicklung und die Lehrlingsentgelte nicht ausgeblendet werden können, denn wichtig ist, dass diese Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze entstehen. Warum, Herr Staatsminister Schwanitz, sprechen Sie nicht in der Arbeitsgruppe Aufbau Ost über Öffnungsklauseln in Tarifverträgen? Wir brauchen eindeutig Betriebsvereinbarungen, um Arbeitsplätze zu schaffen und zu erhalten. ({7}) Noch etwas muss ich fragen: Wo bleibt das Stabilisierungskonzept für den ostdeutschen Braunkohleverstromer Veag? - Ist der Wirtschaftsminister da? - Nein. Die Bundesregierung hat die Moderatorenrolle übernommen. Jetzt kann sie den Prozess nicht einfach so laufen lassen. Das wäre der sichere Tod der Veag, die an sich gute Chancen hat, ein guter Wettbewerber zu werden, wenn sie denn die Durststrecke von fünf Jahren übersteht. Es muss beim Ausbau Ost endlich gehandelt werden. Das heißt, die Bundesregierung braucht nur ihre Versprechungen einzuhalten und wahr zu machen. Vielen Dank. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile Kollegen Dr. Peter Eckardt, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Peter Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000431, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Schwanitz muss ja nicht zu allem reden. Die Große Anfrage der PDS wird von manchen missbraucht, um auf die Sächsische Schweiz hinzuweisen oder über die Ökosteuer zu meckern. Ich versuche mich auf die Große Anfrage zu konzentrieren. Ich habe Verständnis, dass die PDS-Kolleginnen und -Kollegen versuchen, sich als alleinige Vertreterinnen und Vertreter Ostdeutschlands zu definieren ({0}) und sich über die Vertretung vermuteter Interessen der Bürgerinnen und Bürger der neuen Länder öffentlich darzustellen. Der Text der Großen Anfrage zeigt aber: Es geht der PDS offensichtlich ausschließlich um die eigene Profilierung und nicht um den ernsthaften Versuch, die in der Tat vorhandenen Probleme der neuen Länder zu bewältigen. ({1}) Zu den 133 Fragen der Großen Anfrage „Zur Entwicklung und zur Situation in Ostdeutschland“ hat die PDS schon die Antworten bereit, noch ehe sie von der Regierung überhaupt beantwortet wurden. Die Einschätzung der Fragesteller der Großen Anfrage scheint klar zu sein: Die ehemalige DDR sei ein Land mit hoher sozialer Sicherheit gewesen. ({2}) - An dieser Stelle habe ich eigentlich Beifall von der PDS erwartet. Ihren Bürgern seien ab 1990 altbundesdeutsche Strukturen übergestülpt worden. Danach sei es im Osten wesentlich schlechter geworden. Persönliche Freiheiten, ein reichhaltiges Warenangebot und Reisemöglichkeiten gebe es zwar jetzt, dafür sei aber eine eigenständige wirtschaftliche und soziale Erneuerung Ostdeutschlands verhindert worden. Mein Gedächtnis täuscht mich nicht: Gerade diese Entwicklung hat die Mehrheit der Bevölkerung in der ehemaligen DDR Ende der 80er-Jahre im Gegensatz zur PDS gewollt. Dort war damals weder eine wirtschaftliche und soziale Basis noch eine Mehrheit für die von der PDS in der Anfrage gewünschten Experimente zu finden. Auch mit Zehnjahresprogrammen zur Förderung von Arbeit und Ausbildung lässt sich das Tempo der Veränderungen im Jahr 2000 nicht mehr erreichen. Sie würde zwar Unverbesserlichen Sicherheit vorgaukeln, aber keine konkreten Erfolge erzielen. Dazu passt natürlich auch die Ideologie dieser Großen Anfrage, wenn die PDS die Politik der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung von 1990 bis 1998 mit den ehrlichen Bemühungen der neuen Regierung, in der Entwicklung der neuen Länder Illusionen und Fehler der Vergangenheit zu vermeiden, politisch gleichsetzt. Wer die Bemühungen von Rolf Schwanitz seit 1998 verfolgt hat, muss feststellen: Im Kanzleramt wird jetzt endlich weniger Public Relations und mehr konkrete Arbeit ({3}) - da kann man nur lachen? - mithilfe besserer Analysen und wirkungsvollerer Programme gemacht. ({4}) Diese politischen Aktivitäten werden den weiteren wirtschaftlichen Aufbau stabilisieren und den weiteren Erfolg sicherstellen. Die Entwicklung in Ostdeutschland ist noch nicht am Ziel angekommen; denn die neuen Länder sind nicht homogen entwickelt, wenn man zum Beispiel die Grenzgebiete zu Polen und Tschechien mit den ehemaligen Grenzgebieten zur alten Bundesrepublik vergleicht. Es gibt auch keine homogene wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Ländern und keine einheitliche Gesellschaft. Sie hat es auch vor 1990 nicht gegeben. Aber die Hierarchien haben sich im Gegensatz zur PDSMeinung nach 1990 eher abgeflacht und gleichen immer mehr der westdeutschen Struktur. Ich habe als Abgeordneter von 1990 bis 1994, der sein ganzes bisheriges Leben nahe an der innerdeutschen Grenze gewohnt hat, als Bürger von 1994 bis 1998 und jetzt wieder als Abgeordneter die Entwicklung in den neuen Ländern zwar nicht von innen, aber aus der Nähe gut beobachten können. Die Nähe zur ehemaligen Grenze ist für einen Westdeutschen ein guter Seismograph für die Beurteilung der deutschen Befindlichkeit auf beiden Seiten. Als ich am 22. November 1989 zum ersten Mal im heutigen Sachsen-Anhalt war, sah ich mit bloßem Auge: In der ehemaligen DDR gab es nicht nur einige Fehlentwicklungen oder Verwerfungen; vielmehr war ihr Fundament brüchig. Fast alles war zerstört und morsch. Es mussten eben nicht nur Fenster ausgewechselt und eine neue Heizungsanlagen installiert werden. In Quedlinburg gab es 1989 mehr Trümmer als zerstörte Häuser im Jahre 1945 in anderen Kleinstädten. Die Zustände in den Kasernen der NVA und der Westtruppen, in den Feierabendheimen und in den Häusern zur Unterbringung von Behinderten waren für mich ein Schock mit bleibender Wirkung. Trotz berechtigter Kritik an Fehlern und Fehlentwicklungen in Ostdeutschland kann man aber 1999 feststellen: Wenn ich heute über die ehemalige Grenze nach Sachsen-Anhalt fahre, kann ich von dem Zerrbild, das hinter den Fragen der Großen Anfrage steht, fast nichts mehr sehen. Fortschritte halten sich mit Mängeln, die ausschließlich vor der Wende - nicht nach der Wende entstanden sind, die Waage. 1990 gab es nach meiner festen Überzeugung keine Basis für eine experimentelle gesellschaftliche Umorientierung, von der Westdeutschland hätte lernen können. Die Feststellung der PDS, man müsse heute von einem neoliberalen Offenbarungseid der westdeutschen Politik sprechen, geht an den Erfolgen dieser Politik, die es zweifellos gegeben hat, haarscharf vorbei. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, ich darf Sie einen Augenblick unterbrechen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder von uns hat einmal kurz vor einer namentlichen Abstimmung geredet. Das ist für den Redner sehr schwierig. Ich bitte um ein bisschen Fairness. Hören Sie dem Redner zu! Er hat etwas Interessantes oder - aus anderer Sicht - nicht Interessantes zu berichten. Ich bin der Auffassung, wir sollten zuhören, auch im Hinblick darauf, dass noch eine weitere Kollegin sprechen wird. Ich bitte Sie herzlich um ein bisschen Freundschaft gegenüber demjenigen, der redet. ({0}) Herr Kollege, Sie haben das Wort.

Dr. Peter Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000431, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön. Ich bitte, das vor allem auf meine Kollegin Katherina Reiche, die nach mir sprechen wird, auszudehnen. ({0}) - Ja, natürlich. Ich denke, eine Solidarität mit Personen muss erlaubt sein. Diese kommt auch aus Überzeugung. ({1}) Lediglich fünf Fragen beschäftigen sich mit Bildung und Wissenschaft als einem wichtigen Thema für die neuen Länder. Im Gegensatz zu dem, was die Große Anfrage unterstellt, ist Tatsache: Die Dichte an Forschung und Entwicklung ist in Ost und West gleich geworden, die Wissenschaftler-Eingliederungs-Programme haben bei den Leistungsbereiten ihren Zweck erfüllt, innovative Forschungsprojekte sind finanziell gut ausgestattet und gerade diese Bundesregierung versucht, Frauen stärker in Berufsausbildung und Wissenschaft einzubeziehen. Fakt ist aber auch: Die Qualifizierung und Aufstiegschancen von Frauen sind landesweit leider unbefriedigend, nicht nur in Ostdeutschland. Ich vermisse jeden Hinweis auf die erfolgreiche Arbeit von wissenschaftlichen Gesellschaften und anderen wissenschaftlichen Institutionen in Ostdeutschland. Ich vermisse auch einen positiven Hinweis auf das Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit. Natürlich wären betriebliche Ausbildungsplätze besser, aber als Alternative bliebe nur der Weg in die Arbeitslosigkeit. Zusammengefasst: Eine eigenständige wirtschaftliche, soziale und politische Erneuerung Ostdeutschlands wird es nur zusammen mit den alten Bundesländern geben. Und sie wird stattfinden, langsam und mit Geduld. Wir werden daran arbeiten. Danke schön. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zum Abschluss der Aussprache erteile ich der Kollegin Katherina Reiche das Wort und wiederhole meine Bitte, ihr doch zuzuhören.

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anlass der heutigen Debatte zur Situation in den neuen Ländern ist eine Große Anfrage der Fraktion der PDS. Der überwiegende Teil der Debatte beschäftigt sich mit der Antwort der Bundesregierung. Diese Antwort ist überwiegend zutreffend, aber eine emotionslose Beschreibung der Situation. Es entsteht der Eindruck, dass der Erfolg des Aufbau Ost in Metern verlegter Telefonleitungen zu messen sei. Bei aller notwendigen Diskussion über die Antwort der Bundesregierung - wir haben dazu auch einen Entschließungsantrag eingebracht - dürfen die Fragen der PDS, ihre Formulierungen und die darin enthaltenen Tendenzen heute nicht unerwähnt bleiben. Die PDS hat versucht, die Große Anfrage auf fast alle Lebensbereiche der neuen Länder auszurichten. Die PDS hat in der Tat eine große Detailfreude an den Tag gelegt. Mir fallen aber auch die bewussten Auslassungen und Verkürzungen auf. Welche Fragen hat die PDS nicht gestellt? Meine Damen und Herren von der PDS: Wo ist Ihre Frage nach dem Zustand der historisch wertvollen Stadtteile von Potsdam oder Görlitz, die dem Verfall preisgegeben waren? ({0}) Wo ist Ihre Frage nach der Lebenssituation der älteren Generation und nach deren so erheblich verbesserter wirtschaftlicher Lage? Wo ist die Frage nach der heutigen Situation der Kriegsopfer und Kriegswitwen, für die es im DDR-Rentensystem nicht einmal Platz gab? ({1}) Ich vermisse Ihre Fragen zum Quantensprung in den sozialen Standards und in der Gesundheitsversorgung. Sie hätten einmal nach der Anzahl der Dialyseautomaten oder der medizinisch-technischer Geräte fragen sollen. Warum haben Sie nicht nach der Entwicklung eines ökologischen Bewusstseins in den neuen Ländern gefragt, da Umweltschutz in der DDR doch ein Tabuthema war? ({2}) Meine Damen und Herren von der PDS, ich will Ihnen nicht unterstellen, dass Sie diese Fragen aus Vergesslichkeit nicht gestellt haben. Sie wollten sie nicht stellen! Sie wollten die letzten zehn Jahre des Transformationsprozesses als einen großen Misserfolg darstellen, gepaart mit einem gebetsmühlenartig aufgebauten Mythos der Enteignung des ostdeutschen Volkseigentums. Dabei kann man ohne Übertreibung von einem Transformationswunder sprechen. Sie wollen zehn Jahre Ausbau und Aufbau der neuen Länder schlechter aussehen lassen, als sie es verdient haben. Warum machen Sie das? Erstens, weil dieses Schüren von Unzufriedenheit und Zukunftsängsten ihr politisches Überleben sichert. ({3}) Zweitens, weil Ihren Chefideologen bis auf den heutigen Tag der Systemwechsel vom Staatssozialismus zur sozialen Marktwirtschaft ein Dorn im Auge ist. Sie haben dadurch nämlich Ihre Allmacht verloren. ({4}) Ich zitiere aus der Großen Anfrage der PDS: Indem den neuen Bundesländern altbundesdeutsche Strukturen übergestülpt wurden, gingen auch die Möglichkeiten einer eigenständigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Erneuerung Ostdeutschlands verloren. Diesen Satz muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Hier ist es wieder, das müde Klischee vom westlichen Imperialismus, ja vom kapitalistischen Besatzer. ({5}) Was erhoffen Sie sich davon? Sie fördern damit eine Survival-Mentalität gemäß dem Motto: Wir haben den Sozialismusversuch überstanden, jetzt werden wir auch den Kapitalismus überleben. So schaffen Sie gezielt Distanz zur Demokratie, wo Engagement und Partizipation für eine bürgerliche Gesellschaft gefordert wären. Umso verlogener finde ich deshalb die Krokodilstränen der PDS, die sie in ihrer Anfrage über die mangelnde Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie in den neuen Ländern vergießt. Sie schürt diese Attitüde und lebt von ihr; das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren. ({6}) Ich hatte heute Morgen Besuch von einer Gruppe amerikanischer Studenten, die kurz davor auch mit Vertretern der PDS zusammengekommen waren. Die PDSVertreter hatten sich den Studenten als „Partei des Ostens“ vorgestellt. Meine Damen und Herren von der PDS, das sind Sie nicht. ({7}) Wenn dem so wäre, würden Sie nicht krampfhaft versuchen, durch das Aufsammeln versprengter K-Gruppler und verschreckter Fundigrünen im Westen Fuß zu fassen. ({8}) Ihnen geht es darum, durch Ihr großes, aber schrumpfendes Potenzial im Osten Einfluss auf die Bundespolitik zu gewinnen. Gelänge Ihnen dies, bekämen wir, was man in Ihrem heutigen Entschließungsantrag lesen kann: eine Rückkehr zur Planwirtschaft, diesmal basierend auf Zehnjahresplänen. Die Anknüpfung an sozialistische Zeiten wird dort sogar noch deutlicher als bei der immer wieder vom stellvertretenden Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern, Herrn Holter, geforderten „Systemopposition“. Wenn ich die Qualität der Fragen und Antworten der Großen Anfrage vergleiche, wird für mich offensichtlich, wer sich, wenn auch ungenügend, um den Aufbau Ost bemüht und wer nur sein ideologisches Spielchen treibt. Meine Damen und Herren von der SPD, es ist mir deswegen unerklärlich, dass Sie in zwei ostdeutschen Ländern mit der PDS kooperieren. Dies bleibt für mich ein unerträglicher Zustand. Das haben die Menschen in Sachsen-Anhalt und MecklenburgVorpommern nicht verdient. ({9}) Diese Zusammenarbeit belegt Ihre Unfähigkeit zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der PDS. Sie ist verwandtschaftlicher Anpassung gewichen. Sicherlich ist bei der Betrachtung der wirtschaftlichen Situation in den neuen Ländern ein Vergleich mit den alten Ländern statthaft und konstruktiv. Das Bild von der sich öffnenden Schere bei der wirtschaftlichen Entwicklung mahnt zum Handeln. Sorgen bereitet mir natürlich die dünne Kapitaldecke der meisten ostdeutschen Unternehmen, die ein Reagieren bei kritischen SituatioKatherina Reiche nen schwierig macht. Ich finde es auch unverständlich, dass es zehn Jahre nach der Wende Produkte aus den neuen Ländern immer noch schwer haben, auf die Listen westdeutscher Handelsketten zu gelangen, obwohl sie bezüglich Qualität und Preis der westdeutschen Konkurrenz nicht nachstehen. Ich weigere mich jedoch, den Erfolg der letzten zehn Jahre nur an westdeutschen Daten zu messen. Wir müssen uns einmal vor Augen führen, wie die Menschen vor zehn Jahren in Ostdeutschland gelebt haben. Die Produktivität lag bei einem Drittel des Westniveaus, heute liegt sie bei rund 60 Prozent. Der Maschinenpark der Industrie war verschlissen, heute ist er moderner als im Westen. Über Telekommunikation und Verkehrswege wurde bereits gesprochen. Ermutigend ist auch der Vergleich mit den Staaten Osteuropas. Kurz gesagt: Gemessen an der Ausgangslage ist der Aufbauprozess in den neuen Ländern eine Erfolgsgeschichte ohne Beispiel. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass der immense wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale Umbruch, den die Menschen in den neuen Ländern in den vergangenen Jahren erlebt und auch gestaltet haben, ihnen bei den anstehenden Transformationsprozessen im Zusammenhang mit der Globalisierung durchaus hilfreich sein werden. Dies wird sich in Zukunft als ein „Vorteil Ost“ erweisen. Wir sind uns allen im Klaren, dass die Erfolgsgeschichte Aufbau Ost nicht ohne Probleme abgelaufen ist. Es gab Fehlentwicklungen, Sackgassen und Umwege. Eine orientalische Weisheit besagt: Der Weg entsteht beim Gehen. Der Aufbau Ost wird auch in Zukunft noch überraschende Entwicklungen parat haben. Die Politik fährt deshalb am besten, wenn sie bestimmte Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie respektiert. Die Bundesregierung glaubt oft, diese aushebeln oder ungestraft ignorieren zu können. Der vergebliche Versuch, dies zu tun und dabei letztlich immer wieder auf den Staat als ökonomischen Gestalter zurückzugreifen, hat die alte Bundesrepublik schon in den 70-er Jahren zurückgeworfen. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich in der Wirtschaftspolitik auf die Verbesserung der Rahmenbedingungen zu beschränken. Dazu gehört eine Steuerreform, die diesen Namen verdient und im Osten für neue Impulse auf dem Arbeitsmarkt sorgt. Der Siebenpunkteplan unseres Antrages weist dafür den Weg. Stimmen Sie für Ihn! ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/2930. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2921. Die Fraktion der PDS verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich habe das von den Schriftführern und Schriftführe- rinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim- mung über den Entschließungsantrag der PDS zur Gro- ßen Anfrage zur Entwicklung und zur Situation in Ost- deutschland auf Drucksache 14/2921 bekannt zu geben. Abgegebene Stimmen 549. Mit Ja haben gestimmt 30, mit Nein haben gestimmt 519, Enthaltungen keine.*) Die Abstimmungsliste lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Sie wird als Ablage zum Stenographischen Bericht der 94. Sitzung abgedruckt. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 22. März 2000, 13 Uhr ein. Morgen findet, wie Sie wissen, um 9 Uhr die Sonderveranstaltung des Deutschen Bundestages aus Anlass des 10. Jahrestages der freien Wahlen zur Volkskammer der DDR statt. Die Sitzung ist geschlossen.