Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Ehrentribüne haben der Präsident der Saeima der Republik
Lettland, Herr Jãnis Straume, und seine Delegation
Platz genommen. Ich begrüße Sie und die begleitenden
Mitglieder auch von diesem Platz aus noch einmal sehr
herzlich im Namen des Deutschen Bundestages.
({0})
Herr Präsident, es ist uns eine große Freude, Sie und
Ihre Begleitung zu einem offiziellen Besuch zu Gast zu
haben. Der Deutsche Bundestag misst der zukunftsträchtigen Zusammenarbeit unserer Parlamente insbesondere
bei der Gestaltung eines gemeinsamen Europa große
Bedeutung zu. Wir verfolgen mit Aufmerksamkeit die
Entwicklung in Ihrem Lande auf dem Wege zu demokratischer Souveränität, wirtschaftlicher Stabilität und
finanzpolitischer Eigenständigkeit. Umso mehr freut uns
die Aufnahme Lettlands in den engen Kreis der EUBeitrittskandidaten. Seien Sie versichert, dass wir alle
Bemühungen um die EU-Beitrittsfähigkeit Ihres Landes
und dessen Annäherung an die NATO mit freundschaftlicher Anteilnahme begleiten und weiterhin nach besten
Kräften unterstützen werden. Fühlen Sie sich herzlich
willkommen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland sind bestürzt über die Hochwasserkatastrophe, die Mosambik in den letzten Wochen
heimgesucht hat.
({2})
Nach bislang vorliegenden Angaben wurden 80 000
Familien obdachlos. Noch ist unbekannt, wie vielen
Menschen dieses Unglück ihr Leben gekostet hat. Unvorstellbar ist das Ausmaß der Katastrophe, allenfalls
biblische Darstellungen vermögen uns einen Eindruck
zu vermitteln von der gigantischen Zerstörung, die die
gerade erst herangereiften Hoffnungen eines der ärmsten
Länder der Welt zunichte zu machen droht.
Wir alle sind aufgerufen, über die dringend notwendige Soforthilfe hinaus diesen Menschen, die alles verloren haben, über den Tag hinaus zu helfen, auch wenn die
Bilder dieser Tragödie nicht mehr auf den Bildschirmen
erscheinen. Den Frauen und Männern des Bundesgrenzschutzes und der Bundeswehr, die vermutlich noch länger als ursprünglich geplant in Mosambik Hilfe leisten
werden, danke ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich für
ihre aufopfernde und gefahrvolle Arbeit.
Wir gedenken mit Anteilnahme der Toten in Mosambik. -
Ich danke Ihnen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
einer Reihe von Kollegen zu einem runden Geburtstag
gratulieren:
Heute, am 16. März 2000, feiert der Kollege
Dr. Rainer Jork seinen 60. Geburtstag. Herzlichen
Glückwunsch!
({3})
Nachträglich gratuliere ich den Kollegen Albrecht
Feibel und Horst Schmidbauer ({4}) ebenfalls
zum 60. Geburtstag, dem Kollegen Heinz Schemken
zum 65. Geburtstag und dem Kollegen Dr. Heiner
Geißler zu seinem 70. Geburtstag.
({5})
Im Namen des ganzen Hauses spreche ich Ihnen unsere herzlichen Glückwünsche aus.
Die Fraktion der SPD teilt mit, dass der Kollege
Frank Hofmann sein Amt als Schriftführer niedergelegt
hat. Als Nachfolger wird der Kollege Reinhold Strobl
({6}) vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Strobl als Schriftführer gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der
folgenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD: Bundespolitische Auswirkung der neuerlichen Parteispendensammelaktion
({7})
2. Weitere Überweisungen im Vereinfachten Verfahren
({8}):
a) Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
einer Steuerreform für Wachstum und Beschäftigung
- Drucksache 14/2903 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Rolf Kutzmutz, Heidemarie Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Besteuerung der
Unternehmen nach deren Leistungsfähigkeit - Drucksache 14/2912 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung
des Mitgliederkreises von Bundesknappschaft und
See-Krankenkasse - Drucksache 14/2904 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({11})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Hilsberg, Brigitte Wimmer ({12}), Klaus Barthel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Matthias Berninger, Hans-Josef Fell,
Kerstin Müller ({13}), Rezzo Schlauch und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine Modernisierung der Ausbildungsförderung für Studierende
- Drucksache 14/2905 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({14})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
3. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({15})
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übergangsgesetzes aus Anlass des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und anderer handwerksrechtlicher Vorschriften - Drucksache 14/2809 - ({16})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie - Drucksache 14/2922 Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Lange ({17})
4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Kritische Bewertung der Umweltpolitik der Bundesregierung durch den Umwelt-Sachverständigenrat
5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Mertens,
Hans-Günter Bruckmann, Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Albert Schmidt ({18}), Franziska Eichstädt-Bohlig,
Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur Thüringen/Nordbayern im Rahmen des
Verkehrsprojektes „Deutsche Einheit“ ({19}) Nr. 8
Schienenneubaustrecke Nürnberg-Erfurt-Halle/LeipzigBerlin - Drucksache 14/2906 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({20})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich,
Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P: Ja zur
Schienenneubaustrecke Nürnberg-Erfurt-Halle/LeipzigBerlin - Drucksache 14/2914 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({21})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf,
Christine Ostrowski, Eva-Maria Bulling-Schröter, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Flächenhafter Ausbau der Schienenwege im Bereich Nordbayern, Hessen,
Thüringen und Sachsen - Drucksache 14/2525 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({22})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
8. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Umweltcontrolling und Umweltmanagement in Bundesbehörden und Liegenschaften - Drucksache 14/2907 Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 87. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Innenausschuss zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Birgit
Homburger, Hildebrecht Braun ({23}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.:
Nordseeküste schützen, Küstenwache einrichten, international besser zusammenarbeiten
- Drucksache 14/548 überwiesen:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({24})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Der in der 88. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und
dem Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Eine Steuerreform für mehr Wachstum und Beschäftigung - Drucksache 14/2688 Präsident Wolfgang Thierse
überwiesen:
Finanzausschuss ({25})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
Der in der 88. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Innenausschuss zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Fraktion SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung ({26})
- Drucksache 14/2683 überwiesen:
Finanzausschuss ({27})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Der in der 90. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie zur
Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der
Steuerberater ({28}) - Drucksache
14/2667 überwiesen:
Finanzausschuss ({29})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Die in der 91. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesenen nachfolgenden Gesetzentwürfe sollen zusätzlich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Forsten zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Abgeordneten Eva BullingSchröter, Rolf Kutzmutz, Ursula Lötzer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS zur Sicherung und zum Ausbau der gekoppelten
Strom- und Wärmeerzeugung ({30})
- Drucksache 14/2693 überwiesen:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({31})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Gesetzentwurf der Fraktion SPD und BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN zum Schutz der Stromerzeugung aus Kraft-Wärme-Kopplung ({32}) - Drucksache 14/2765 überwiesen:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({33})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? -
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 4 a und
4 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Aktionsplan der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
- Drucksache 14/2812 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({34})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hanna Wolf ({35}), Lilo
Friedrich ({36}), Dr. Cornelie SonntagWolgast, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Irmgard Schewe-Gerigk, Marieluise Beck
({37}), Claudia Roth ({38}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Ausländergesetztes
- Drucksache 14/2368 ({39})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses
({40})
- Drucksache 14/2902 Berichterstattung:
Abgeordnete Rüdiger Veit
Erwin Marschewski ({41})
Marieluise Beck ({42})
Ulla Jelpke
Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein Änderungsantrag
der Fraktion der F.D.P. vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Christine Bergmann.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!
Gewalt gehört für viele Frauen in Deutschland leider
noch immer zum Alltag. Mehr als 50 000 Frauen flüchten jährlich mit ihren Kindern ins Frauenhaus. Nach
Schätzungen ist jede dritte Frau in Deutschland von
häuslicher Gewalt betroffen und jede siebte Frau ist bereits einmal in ihrem Leben Opfer einer Vergewaltigung
oder sexueller Nötigung geworden.
Ein weiteres großes Problem in Deutschland ist der
Frauenhandel. 1998 registrierte die Polizei etwa 1 300
weibliche Opfer des Menschenhandels. Wie wir wissen,
liegt die Dunkelziffer aber weitaus höher.
Präsident Wolfgang Thierse
Gewalt verletzt die Integrität, die Würde von Frauen
und ihr Recht auf Selbstbestimmung in eklatanter Weise. Dieser Gewalt vorzubeugen und von Gewalt betroffenen Frauen Schutz und Hilfe zu bieten sind Aufgaben,
die der Staat besser als bisher wahrzunehmen hat.
({0})
Über lange Jahre war Gewalt gegen Frauen ein Thema, das weitgehend tabuisiert und als Privatsache behandelt wurde. Das hieß natürlich auch, dass Täter nicht
konsequent zur Rechenschaft gezogen und Opfer nicht
ausreichend geschützt wurden. Damit muss endlich
Schluss sein.
({1})
Deshalb hat diese Bundesregierung den Aktionsplan
zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen beschlossen.
Damit liegt erstmals ein umfassendes und ressortübergreifendes Programm vor, ein Gesamtkonzept, eine
langfristige Strategie. Daran sind viele beteiligt. Die Regierung hat damit klargestellt: Die Bekämpfung von
Gewalt, insbesondere von Gewalt gegen Frauen, ist für
sie ein vordringliches politisches Ziel. Ich denke, das ist
eine gute und ganz wichtige Botschaft an die vielen
Frauen im Lande, die von Gewalt betroffen sind.
({2})
Das ist eine wichtige Botschaft auch an die vielen
Frauen und Männer, die versuchen, von Gewalt betroffenen Frauen und Kindern zu helfen. Die Arbeit dieser
Frauen und Männer ist nicht immer ganz einfach. Aber
es ist auch eine gute und wichtige Botschaft an die Gesellschaft insgesamt, dass es eine Regierung gibt, die
angetreten ist, Gewalt in der Gesellschaft wirklich auf
allen Ebenen wirksam zu bekämpfen.
({3})
Wir wollen mit diesem Aktionsplan strukturelle Veränderungen erreichen, und zwar in allen Bereichen, von
der Prävention über die Täterarbeit und die bessere Vernetzung von Hilfsangeboten bis hin zu rechtlichen Maßnahmen und einer stärkeren Sensibilisierung der Öffentlichkeit.
Ich sage ganz klar: Gewalt gegen Frauen ist kein
Frauenproblem. Es ist ein Problem patriarchalischer
Strukturen, ein Problem von Männern; es ist ein Problem unserer gesamten Gesellschaft und unseres Rechtsstaats.
Wir wollen mit diesem Aktionsplan einen Paradigmenwechsel in der Antigewaltarbeit in Deutschland herbeiführen. Das ist dringend nötig.
({4})
Es geht eben nicht mehr ausschließlich um die natürlich
wichtigen und unverzichtbaren Anlaufstellen für betroffene Frauen. Es geht nicht nur darum, betroffenen Frauen in dieser schwierigen Situation eine Anlaufstelle, einen Platz, wo sie hingehen können, zu bieten; vielmehr
geht es um eine gesamtgesellschaftliche Ächtung und
Verfolgung von Gewalt gegen Frauen. Gewalt im häuslichen Bereich ist keine Privatsache und danach muss
gehandelt werden. Der Rechtsstaat hat dafür zu sorgen,
dass seine Bürgerinnen und Bürger so gut wie möglich
vor Gewalt geschützt werden.
Am häufigsten erfahren Frauen Gewalt in sozialem
Nahraum, durch Bekannte und Verwandte. Und was geschieht? Die Täter werden häufig nicht angezeigt, weil
die betroffenen Frauen auf ein staatliches Eingreifen zu
ihren Gunsten nicht vertrauen. Sie haben zum Teil wirklich sehr negative Erfahrungen gemacht. Alle, die sich in
diesem Bereich einmal umgesehen haben, kennen die
unsäglichen Leidensgeschichten vieler Frauen und die
mangelnde Hilfe, die Frauen in dieser Situation erfahren
haben.
Das heißt dann in der Folge eben auch: Viele Täter
bleiben ohne Strafe und die von Gewalt betroffenen
Frauen müssen mit ihren Kindern - häufig, nachdem sie
dieser Gewalt über Monate oder Jahre ausgesetzt waren - aus dem vertrauten Umfeld in ein Frauenhaus
oder zu Bekannten flüchten. Das kann von einem
Rechtsstaat nicht hingenommen werden. Es muss das
Ziel sein, die gegen die Frau gerichtete Gewalt zu beenden und ihr Sicherheit zu gewähren. Ich denke, dass wir
dazu nachher von der Bundesjustizministerin noch sehr
viel ausführlicher etwas hören werden.
Meine Damen und Herren, ein solches umfassendes
Gesamtkonzept, wie wir es mit dem Aktionsplan zur
Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen verfolgen, umfasst natürlich auch Zuständigkeitsbereiche der Länder
und Kommunen. Das betrifft neben den Bereichen, über
die die Justizministerin sprechen wird, vor allen Dingen
auch den Erhalt eines möglichst flächendeckenden Netzes an Hilfsangeboten, seien es Frauenhäuser, Frauenberatungsstellen, Notrufe, spezielle Therapieeinrichtungen oder Interventionsstellen.
Mit einer engen Kooperation vor Ort zwischen den
beteiligten Institutionen und Beratungsstellen haben wir
bisher sehr gute Erfahrungen gemacht. Deswegen fördern wir solche Kooperationen auch. Es gibt ja schon
zwei Interventionsprojekte - wir haben darüber bereits
gesprochen - in Berlin und in Schleswig-Holstein. Die
positiven Erfahrungen, die hier gemacht worden sind,
sind übertragbar; deswegen werden die Ergebnisse aus
diesen Interventionsprojekten auch allen anderen Ländern und Kommunen zur Verfügung gestellt.
Und natürlich geht es bei der Vernetzung von Hilfseinrichtungen auch darum, diese Vernetzung zu fördern.
Das tun wir. Wir fördern finanziell die Vernetzung der
Frauenhäuser, der Notrufe, der Beratungsstellen gegen
Frauenhandel, weil wir nur über diese Vernetzung eine
zielgenaue effektive Arbeit zugunsten der betroffenen
Frauen erreichen können.
Meine Damen und Herren, ich sagte schon, dass die
Umsetzung des Gesamtkonzepts eine sehr enge Kooperation zwischen Bund und Ländern erfordert. Wir
werden deshalb neben der bereits bestehenden Arbeitsgruppe zur Bekämpfung von Frauenhandel eine BundLänder-Arbeitsgruppe einrichten, die den gesamten Umsetzungsprozess begleitet und in der natürlich auch die
Frauenprojekte mit vertreten sind. Dadurch versprechen
wir uns eine sehr gute Kooperation.
Wenn wir aber Gewalt gegen Frauen wirksam bekämpfen wollen, meine Damen und Herren, dann brauchen wir auch einen anderen Umgang mit den Tätern.
Dazu gehört neben einer konsequenten - auch strafrechtlichen - Verfolgung ein Prozess, der zur Änderung des
gewalttätigen Verhaltens dieser Täter gewissermaßen
auffordert oder diese Änderung bewirkt. Wir haben deshalb in unserem Gesamtkonzept auch täterorientierte
Maßnahmen vorgesehen, die diese Verhaltensänderungen bei Tätern initiieren müssen. In diesem Bereich haben wir in Deutschland noch sehr wenig eigene Erfahrungen; es gibt Konzepte, aber noch nicht viele Erfahrungen. Wir werden in der nächsten Zeit verstärkt auf
die europäischen Erfahrungen, die es in dem einen oder
anderen Fall schon gibt, zurückgreifen und auf dem Weg
über eine Konferenz die Kooperation mit anderen Ländern ausbauen.
Aber, meine Damen und Herren, nicht nur deutsche
Frauen sind von Gewalt betroffen, wie wir wissen - wir
reden ja heute auch über die Änderung des § 19 des
Ausländergesetzes -; für viele ausländische Frauen ist
die Situation dramatisch, wenn sie - aufgrund der Tatsache, dass sie sich und ihre Kinder vor ihrem prügelnden
Ehemann in Sicherheit bringen wollen - nicht vor einer
Beendigung des Aufenthaltsrechtes geschützt sind, wenn
also nicht die Täter bestraft werden, sondern die Opfer.
Daher ist die Novellierung des § 19 Ausländergesetz so
wichtig.
Um diese Reform ist ja lange gerungen worden. Ich
habe das auf unterschiedlichen Ebenen mit unterstützt
und denke, das ist heute wirklich eine gute Botschaft an
viele in diesem Land. Viele Frauen - über die Parteigrenzen hinweg - in Organisationen, Verbänden und
Kirchen haben dieses Thema zu ihrer eigenen Sache
gemacht. Hier muss man den vielen danken, die immer
mitgezogen haben
({5})
- nicht zuletzt natürlich auch dem Innenministerium -,
die wirklich in vorbildlicher Weise versucht haben, diese Rechtsänderung zu erreichen. Das ist ein Beitrag zur
Stärkung der Menschenrechte von Frauen und es ist
auch ein Beitrag zum Abbau von Gewalt.
Meine Damen und Herren, Gewalt gegen Frauen zu
bekämpfen ist eine Aufgabe, die über nationalstaatliche
Grenzen hinausgeht und internationale Kooperation
erfordert. Wir haben unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft auf unserem Kongress in Köln schon die
EU-Kampagne zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt initiiert. Wir stehen hier in einer sehr engen Kooperation. Es ist sehr wichtig, dass die EU-Staaten und auch
die assoziierten Staaten, die in diesem Bereich mitarbeiten, hier nicht locker lassen und dass sie kooperieren.
Wir haben übrigens auch festgelegt, in den jeweiligen
Mitgliedstaaten Aktionspläne umzusetzen. Dadurch ist
es uns in unserer Ratspräsidentschaft auch gelungen, das
DAPHNE-Programm, das seit dem 1. Januar 2000
läuft, im Rat durchzusetzen, was nicht ganz einfach war.
Damit haben wir die Chance, insbesondere die Nichtregierungsorganisationen bei der präventiven Arbeit und
der Arbeit der Beratungsstellen zu unterstützen, dort
neue Möglichkeiten zu schaffen.
Wir wissen alle, dass bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen nur ein gemeinsames und konsequentes Vorgehen langfristig Erfolg verspricht. Wir haben
diesen Weg mit der Verabschiedung des Aktionsprogrammes im Dezember ganz konsequent beschritten. Ich
sage noch einmal: Das ist ein Programm der gesamten
Bundesregierung; alle stehen hinter diesem Programm.
Ich habe in den letzten Wochen und Monaten bei meinen Besuchen in Frauenhäusern und Beratungsstellen erlebt, dass die Frauen, die dort arbeiten, sehr froh sind,
dass sie endlich die notwendige Unterstützung und Hilfe
bekommen, die sie für ihre Arbeit brauchen. Ich höre
auch von Bürgerinnen und Bürgern, dass sie froh sind,
dass diese Regierung endlich an vielen Stellen Ernst
damit macht, die Gewalt in der Gesellschaft ganz konsequent zu bekämpfen.
({6})
Es muss klar sein - das sollen auch die betroffenen
misshandelten Frauen wissen -, dass die Bekämpfung
der Gewalt, dass der Schutz dieser Frauen ein vordringliches Anliegen dieser Bundesregierung ist.
Danke schön.
({7})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Ilse Falk, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von all den Themen, die uns jedes Jahr anlässlich des Internationalen Frauentages
näher gebracht werden, ist eines der wichtigsten die
Gewalt gegen Frauen. Es ist auch eines der bedrückendsten Themen. Wir können uns nicht hinter der Tatsache verstecken und darauf verweisen, dass im Wesentlichen Frauen in anderen Ländern davon betroffen sind
und wie schrecklich jene Frauen dran sind, sondern es
geht wirklich um Gewalt an Frauen in unserem eigenen
Land. Es geht um körperliche, seelische und sexuelle
Gewalt gegen die, die in der Regel von ihren Misshandlern abhängig und kräftemäßig die Unterlegenen sind.
Wir haben von der Ministerin Zahlen gehört, die erschrecken und zugleich deutlich machen, dass wir, wie
wir es heute tun, öffentlich darüber reden müssen und
dass wir die Öffentlichkeit für das sensibilisieren müssen, was nebenan geschieht. Denn überwiegend finden
diese Gewalttaten gegen Frauen und Kinder in der eigenen Nachbarschaft, im eigenen Umfeld, meist zu Hause
statt, an dem Ort, an dem sich Frauen und Kinder am sichersten fühlen sollten.
Es ist also eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich diese Hoffnung nicht in immer
mehr Fällen als trügerisch erweist. Daher begrüßen wir
es, dass die Bundesregierung die von unserer Regierung
bereits begonnenen Maßnahmen jetzt weiterentwickelt
und mit dem Aktionsplan ein dickes Bündel sinnvoller
Handlungsvorschläge vorlegt.
({0})
Ich will daran erinnern, dass der Weg dieses Themas
ein langer Weg ist. Als man vor gut 20 Jahren daranging, häusliche Gewalt zu enttabuisieren, konnte man
dies zunächst nur in kleinen Schritten tun, denn kaum
jemand konnte sich vorstellen, was da mit Frauen und
Kindern passierte. Sexueller Missbrauch und Vergewaltigung waren unaussprechbar. Genauso haben wir erst
seit wenigen Jahren Gewalt gegen Behinderte und gegen
alte Menschen realisiert. Auch hier geht es um Tabus,
die wir aufbrechen müssen, um den Betroffenen wirkungsvoll zu helfen.
({1})
Weil im Laufe der Jahre aus kleinen Schritten größere
und mutigere geworden sind, können wir heute auf langjährige und vielfältige Erfahrungen in Frauenhäusern
und Beratungsstellen zurückblicken. Wir können uns
diese Erfahrungen politisch nutzbar machen, notwendige
Gesetze auf den Weg bringen und die bundesweite Vernetzung dieser Einrichtungen vorantreiben.
Aber eines will ich hier ganz deutlich sagen: Nicht
die jetzige Bundesregierung hat sich das Thema „Gewalt
gegen Frauen“ auf die Fahnen geschrieben und vorangebracht. Das ist schon vor Einsetzung der jetzigen Bundesregierung geschehen. Wir als Frauen haben das
schon früher thematisiert. Zusammen mit vielen Männern haben wir zahlreiche Anliegen auf den Weg gebracht.
({2})
An einigen Beispielen aus den letzten beiden Legislaturperioden, aus der Zeit von 1990 bis 1998, will ich
zeigen, dass wir uns intensiv damit befasst haben und
welche Schwerpunkte wir gesetzt haben. Im Zeitraum
von 1993 bis 1996 gab es unter unserer Regierung die
Aufklärungskampagne „Gewalt gegen Frauen hat viele
Gesichter“ und im Jahre 1996 einen entsprechenden Aktionsplan. Wir haben in diesem Bereich auch eine Reihe
wichtiger Gesetzesänderungen verabschiedet: im Jahre
1992 die Novellierung der Strafvorschriften gegen den
Menschenhandel, im Jahre 1994 das Beschäftigungsgesetz, das vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz
schützen soll, die Verschärfung der Strafandrohung für
pornographische Darstellungen mit Kindern im Jahre
1993 und im Jahre 1997 die Novellierung des § 177 des
Strafgesetzbuches, der die Vergewaltigung in der Ehe
unter Strafe stellt.
Frau Kollegin Wolf, Sie lachen. Diese Maßnahmen
sind natürlich von den meisten Frauen in diesem Parlament sehr unterstützt worden, auch von vielen Frauen
aus meiner Fraktion.
({3})
Ebenfalls 1997 haben wir § 19 des Ausländergesetzes
dahin gehend geändert, dass ausländische Ehegatten im
Falle außergewöhnlicher Härte bei Ehescheidungen ein
eigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten, und zwar unabhängig von der Ehedauer; darauf komme ich nachher
noch zu sprechen.
Auch hat bereits die alte Bundesregierung auf eine
bessere Vernetzung aller auf diesem Feld tätigen Institutionen und Organisationen und ebenso auf eine effektive
Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Gemeinden
hingearbeitet. Die damalige Familienministerin Claudia
Nolte brachte 1996 auf dem Fachkongress für Polizei
und Justiz zur Gewalt gegen Frauen in Ehe und
Partnerschaft Vertreterinnen und Vertreter von Polizei,
Justiz und Politik mit den Frauen und Männern zusammen, die vor Ort in Antigewaltprojekten arbeiteten. Sie
diskutierten über Möglichkeiten, wie man die Zusammenarbeit von staatlichen und nicht staatlichen Stellen
verbessern, den Schutz für die Opfer ausbauen und die
Täter noch stärker zur Verantwortung ziehen kann.
Schon damals war uns das In-die-VerantwortungNehmen der Täter wichtig, zum Beispiel durch soziale
Trainingskurse, die darauf abzielen, das Verhalten der
Männer zu ändern.
Denkbare Präventivmaßnahmen waren der Jugendwettbewerb „Wo hört der Spaß auf? - bei Anmache, Beziehungen, Freundschaften“ und das Aktionsprogramm
gegen Aggression und Gewalt.
Das Berliner Interventionsprojekt gegen häusliche
Gewalt, BIG, das durch gemeinsame Förderung von
Bund und Stadt Berlin auf den Weg gebracht wurde,
kann heute in der Tat als Vorbild für alle Projekte dienen, die eine Vernetzung der im Gewaltbereich tätigen
Institutionen und Organisationen anstreben. BIG führte
über die reinen Anlaufstellen für betroffene Frauen hinaus zu einer gesamtgesellschaftlichen Befassung und
Ächtung von Gewalt gegen Frauen.
Auch auf europäischer Ebene sind wir nicht untätig
gewesen. Ich erinnere zum Beispiel an den diesbezüglichen Aktionsplan des Europarates.
Nun zu einzelnen Punkten, zunächst zum Stichwort
Prävention: Wir stimmen Ihnen zu, dass natürlich bei
der Bekämpfung von Gewalt präventive Maßnahmen
von höchster Priorität sind. Eltern, Erzieherinnen und
Erzieher sowie Lehrerinnen und Lehrer müssen hier zusammenwirken. Da wissenschaftlich erwiesen ist, dass
Kinder, die Gewalt erlebt haben, mit hoher Wahrscheinlichkeit später selber Gewalt anwenden, muss diese Spirale - je früher, desto besser - unterbrochen werden.
Was mir aber an Ihrem Katalog fehlt, ist die konkrete
Benennung der Kernursachen dieses Problems. Sie drücken sich darum herum, die Wertevermittlung in Familie
und Schule sowie die Stärkung der Erziehungsfähigkeit
der Eltern aufzulisten.
({4})
Ein ganz großes Problem ist doch das mangelnde Unrechtsbewusstsein bei Anwendung von Gewalt. Es ist
notwendig, dies schon sehr früh in der Familie zu entwickeln. Viele Eltern sind heute selbst nicht mehr in der
Lage, Alltagskonflikte zu lösen. Wie sollen ihre Kinder
lernen, auf welche Weise angemessen mit Konflikten
umgegangen werden kann? Viele Eltern vermitteln - oft
aus Unvermögen, oft aus Bequemlichkeit - ihren Kindern keine Spielregeln hinsichtlich des Zusammenlebens, sondern erwarten, dass dies an anderer Stelle geleistet wird, zum Beispiel in der Schule. Die Fähigkeit
zu reden und zuzuhören, Argumente gegeneinander abzuwägen, geht langsam verloren. Viele Jugendliche
werden schweigend groß, nämlich vor dem Fernseher,
über den sie Probleme vorgeführt bekommen; sie reden
nicht mehr darüber. Sie lernen einfach nicht, sich zu artikulieren, und lösen Konflikte lieber mit dem Ellenbogen, so wie sie es vielleicht auch von ihren Eltern kennen.
Folglich sind viele Kinder fast ausschließlich ichbezogen orientiert. Sie glauben, ihre Umwelt stets nach ihrem Willen gestalten zu können, sei es auch mit Gewalt,
akzeptieren keine Grenzsetzungen für ihr eigenes Handeln und können mit Verboten und Misserfolgen nicht
mehr umgehen. Ich will es ganz deutlich sagen: Grenzziehungen und richtig verstandene Autorität sind doch
keine Unterdrückungsinstrumente.
Ein Weiteres fehlt mir im Aktionsplan, nämlich ein
Wort zur Rolle der Medien. Auch Presse, Funk, Fernsehen und Videoverleiher sind aufgefordert, sich immer
wieder ihren Einfluss und ihre negative Vorbildwirkung
auf die Entstehung von Gewalt gegen Frauen bewusst zu
machen. Wir sollten mit Nachdruck fordern, dass die
Verantwortlichen der freiwilligen Selbstkontrolle zu
mehr Wirksamkeit verhelfen und darüber hinaus über
Inhalte ihren Einfluss positiv geltend machen und Kampagnen gegen Gewalt fördern.
({5})
Ein ganz wichtiges Kapitel des Aktionsplans befasst
sich mit der Rechtsetzung des Bundes. Dabei geht es
nicht nur um neue Gesetze, sondern immer wieder auch
um die Überprüfung bestehender Gesetze auf ihre Wirksamkeit hin und gegebenenfalls um Verbesserungsmöglichkeiten. Vielleicht ist es gerade in diesem sensiblen
Bereich wichtig, uns der kritischen Auseinandersetzung
zu stellen und die Frage zu beantworten, ob die Gesetze
tatsächlich die an sie gestellten Erwartungen erfüllen.
Da ist zum einen das Gesetz zur gewaltfreien Erziehung, das von Ihnen sehr stark in den Vordergrund gestellt wird. Hier propagieren Sie das Recht des Kindes
auf eine gewaltfreie Erziehung. Dass die Anwendung
von körperlicher und psychischer Gewalt nicht mehr zu
den zulässigen Mitteln angemessener Erziehung gehört,
ist völlig unstrittig. Wir meinen allerdings, dass ein solcher Rechtsanspruch des Kindes in der Praxis weder
einklagbar noch justiziabel ist. Deshalb halten wir die
Bundesratsformulierung für besser, die da lautet: Kinder
sind gewaltfrei zu erziehen. Aber dieser Gesetzentwurf
befindet sich zurzeit in der parlamentarischen Beratung.
Wir werden noch Gelegenheit haben, die Argumente
auszutauschen.
Mit dem vom Bundesjustizministerium lange angekündigten Gesetzentwurf zum Schutz vor Gewalt sollen
künftig nach österreichischem Vorbild über die vereinfachte Zuweisung der Ehewohnung gewalttätige Ehegatten gezwungen werden, die gemeinsame Wohnung zu
verlassen. Daneben soll ein Kontakt-, Belästigungs- und
Näherungsverbot die Frau umfassend vor dem gewalttätigen Ehemann schützen; ohne dies wäre die Beibehaltung der Wohnung auch gar nicht sinnvoll. Aber
damit dieser Schutz überhaupt gewährleistet werden
kann, bedarf es der Absprache mit den Innenministern
und den Polizeibehörden der Bundesländer. Das ist natürlich nicht ganz einfach.
({6})
- Ach!
Aber Sie haben diesen Gesetzentwurf in Ihren Koalitionsvereinbarungen in Aussicht gestellt und sich zugetraut, diese Abstimmung ganz schnell - sowieso viel
schneller als wir - zu vollziehen.
({7})
Immer wieder wurde der Gesetzentwurf angekündigt.
Bei der Vorstellung des Aktionsplans im Dezember hieß
es, er werde in Kürze vorliegen. In der letzten Woche
haben Sie, Frau Justizministerin, aus Anlass des Internationalen Frauentages in einer Presseerklärung erneut gesagt, dass der neue Gesetzentwurf zum Schutz vor Gewalt zügig in das Gesetzgebungsverfahren gebracht
wird.
({8})
- Wunderbar! Wir fordern Sie also auf, diese Abstimmung zu vollziehen. Dann erübrigt sich das Weitere.
Zum Thema Täter-Opfer-Ausgleich kennen Sie unsere Auffassung. Grundsätzlich ist das eine gute Sache.
Doch so, wie Sie ihn handhaben wollen, geht es nicht.
Das bloße Bemühen des Täters soll zukünftig zur Beendigung des Strafverfahrens ausreichen. Doch gerade
wenn es um die Interessen des Opfers von Gewalttaten
geht, muss die Wiedergutmachung auch von diesem abhängig gemacht werden. Ansonsten stehen nicht die Interessen des Opfers, sondern die des Täters im Mittelpunkt. Und das kann nicht sein.
Zur geplanten Änderung des § 19 des Ausländergesetzes
wird der Kollege Uhl ausführlich Stellung nehmen.
Deshalb will ich mich hier auf eine Bemerkung beschränken: Ich bedaure sehr - das habe ich auch im
Ausschuss gesagt -, dass dieser Gesetzentwurf so
durchgepaukt wird, denn ich hätte gern mit Ihnen zusammen geprüft, ob die Beispiele für das Vorliegen einer besonderen Härte nicht besser im Gesetz statt in der
Begründung stehen sollten, wo sie sich ganz offensichtlich nicht bewährt haben, weil sie von den Ländern unterschiedlich ausgelegt werden. Aber gut, Sie meinen, in
der Vergangenheit sei darüber ausführlich diskutiert
worden, und gehen nun Ihren eigenen Weg.
Ich hoffe sehr, dass diese Erleichterungen wirklich
die richtigen Frauen treffen und damit das gemeinsame
Ziel des besseren Schutzes von ausländischen Ehefrauen
vor ihren misshandelnden Ehemännern tatsächlich erreicht wird.
Es wären noch viele Punkte zu nennen, die eine nähere Betrachtung verdienen. Dabei denke ich an das
schwierige Thema der geschlechtsspezifischen Verfolgung, der Genitalverstümmelung, an Menschenhandel
und an das Zeugenschutzgesetz. Das sind alles Bereiche,
für die in besonderem Maße die Forderung nach kompetenten, sensibilisierten Mitarbeitern in Verwaltungen,
Gerichten, bei Polizeibehörden usw. gilt. Leider reicht
für eine Behandlung meine Redezeit nicht. Aber ich bin
sicher, dass im Laufe der Umsetzung der vielen Vorhaben des Aktionsplans noch Gelegenheit sein wird, sich
dazu zu äußern. Ich hoffe, dass er tatsächlich in allen
Punkten umgesetzt wird. Es gibt eine Fülle von Ankündigungen, von Maßnahmen, die in Aussicht gestellt
werden, von Prüfvermerken und Ähnlichem, sodass wir
nur hoffen können, dass aus dem „Plan“ wirklich „Aktion“ wird.
So möchte ich mich zum Schluss noch mit einer Bitte
an Sie alle wenden, nämlich dass Sie zu Hause in Ihren
Wahlkreisen Ihre Möglichkeiten nutzen, dieses wichtige
Thema noch stärker in die Öffentlichkeit zu bringen, sofern Sie das nicht ohnehin bereits tun. Sensibilisieren Sie
die Menschen, stellen Sie Modellprojekte vor und helfen
Sie mit, diese auf örtlicher Ebene wirklich umzusetzen!
Aufgrund meiner sehr guten Erfahrungen aus meinem
Heimatkreis Wesel mit dem runden Tisch gegen Gewalt
an Frauen weiß ich, dass vor Ort oft die Vernetzung
zwischen all denjenigen fehlt, die Gewalt bekämpfen
wollen. Sie haben unsere Unterstützung für ihre wichtige Aufgabe verdient.
({9})
Ich erteile der Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen,
das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Gäste auf der Tribüne! Es war die
Frauenbewegung, die mit dem Slogan „Das Private ist
politisch“ bereits vor 25 Jahren das Thema häusliche
Gewalt gegen Frauen aus der Tabuzone herausgeholt
und den Schutz des Staates eingefordert hat. Einzelne
Punkte wie die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der
Ehe wurden in der letzten Legislaturperiode - Frau Falk
hat es gerade gesagt - mithilfe der damaligen Opposition umgesetzt. Aber ein umfassendes Aktionsprogramm
mit einem Gesamtkonzept liegt erst heute, ein Vierteljahrhundert später, vor.
Gewalt hat viele Gesichter und trifft bestimmte Frauengruppen wie Migrantinnen oder Behinderte zusätzlich in einer besonderen Art. Mit einer frauenverachtenden Praxis wird heute Schluss gemacht: Misshandelte
ausländische Ehefrauen müssen sich nicht mehr dazwischen entscheiden, entweder vier Jahre lang bei ihrem
gewalttätigen Ehemann auszuharren oder in ihr Heimatland ausgewiesen zu werden, wo sie häufig Ausgrenzungen oder lebensbedrohenden Handlungen ausgesetzt
sind. Diese Frauen erhalten ein eigenständiges Aufenthaltsrecht und damit den Schutz des Staates, den sie verdienen.
({0})
Auch das Kindeswohl wird endlich als schutzwürdig
berücksichtigt. Eine inhumane Abschiebepraxis, wie sie
insbesondere in Bayern stattfand, wird beendet. Ich danke an dieser Stelle ganz besonders den - zum Teil auch
hier anwesenden - Frauen- und Migrantinneninitiativen,
die nicht locker gelassen und die unzumutbare Situation
immer wieder zum Thema gemacht haben.
({1})
Ich freue mich, dass auch die F.D.P. das Gesetz nicht
ablehnen wird und es somit eine breite Unterstützung im
Parlament findet. Dies ist die erste konkrete Umsetzung
eines Vorhabens aus dem gesamten Aktionsplan, bei
dem der Paradigmenwechsel deutlich wird: Es werden
nicht mehr die Täter, sondern die Opfer geschützt. Dies
wird auch bei den Maßnahmen zur Bekämpfung einer
besonderen Form der modernen Sklaverei, des Frauenhandels, deutlich. Frauen - zumeist aus Osteuropa werden mit falschen Versprechen und einem Reisevisum
nach Deutschland gebracht und nach der Wegnahme ihrer Pässe zur Prostitution gezwungen. Nach EUAngaben sind das allein eine halbe Million in Westeuropa. Wenn diese Frauen entdeckt wurden, galten sie
bisher als Täterinnen, weil sie keine Aufenthaltsberechtigung besaßen. Sie wurden meist mit dem nächsten
Flugzeug in ihr Heimatland zurückgeschickt. Das geschah häufig ohne anwaltliche Unterstützung.
Erst in letzter Zeit werden diese Frauen nicht mehr
als Täterinnen, sondern als Opfer des Menschenhandels betrachtet. Erst seit kurzem haben Polizei und Justiz
erkannt: Die Rechtlosigkeit dieser Opfer ist der beste
Täterschutz. Wenn die Frauen nicht wenigstens so lange
hier bleiben können, bis sie in einem Prozess aussagen,
werden die Täter nie ermittelt. Nirgendwo ist die Aufklärungsquote so gering wie hier. Das Geschäft ist lukrativ: 1,8 Milliarden DM werden auf diese Weise in
Deutschland „verdient“ - mehr als im Drogenhandel.
Einen wirksamen bundeseinheitlichen Abschiebeschutz, Zeuginnenschutzprogramme, sichere Unterkünfte und ein Bleiberecht stärken die Opfer und tragen auch
dazu bei, die Täter zu finden und zu bestrafen. Eine Beschlagnahme der Gewinne aus dem Frauenhandel würde
zudem die Menschenhändler empfindlich treffen. Wo es
um organisierte Kriminalität geht, ist eine internationale
Zusammenarbeit unabdingbar.
Die Opfer schützen und die Täter bestrafen - dieses
Prinzip zieht sich auch durch das nächste Thema: Gewalt im sozialen Nahbereich. „My home is my castle“ - mein Zuhause ist mein Königreich -: Wer wünscht
sich das nicht? Dieser Satz drückt den Wunsch nach Sicherheit und Geborgenheit im eigenen Zuhause aus.
Aber dieser Wunsch geht für viele Frauen, für viel zu
viele Frauen, nicht in Erfüllung. So unglaublich es
klingt: Die eigenen vier Wände sind der unsicherste Ort
für Frauen, und zwar nicht nur, weil die meisten Unfälle
im Hause passieren, sondern auch, weil sie der Gewalt
durch ihren Partner ausgeliefert sind.
Die Zahlen sprechen für sich: In den Jahren 1987 bis
1991 wurden 350 000 Frauen Opfer einer Vergewaltigung durch ihren Ehemann. Die Dunkelziffer ist um ein
Vielfaches höher. Jährlich suchen Zehntausende von
Frauen mit ihren Kindern Schutz in Frauenhäusern. Die
gesellschaftlichen Folgekosten für diese Gewalttaten
sind enorm: Sie belaufen sich nach einer Aussage der
Bundesregierung auf jährlich 29 Milliarden DM. Das
wäre doch für Herrn Eichel ein wunderbares Sparpotenzial.
Rechtliche Konsequenzen für diese Straftaten sind jedoch immer noch sehr selten. In der akuten Gefährdungssituation ist aber für die Frauen eine strafrechtliche
Verfolgung der Täter manchmal zweitrangig. An erster
Stelle steht für sie der gegenwärtige und zukünftige
Schutz vor der Gewalt des Partners. Diesem Bedürfnis nach effektivem Schutz müssen wir nachkommen.
Opfer von Gewalt müssen sich mit Aussicht auf Erfolg
wehren können. Die bisherige Rechtslage und die Anwendung des Rechts in Deutschland lassen einen ausreichenden Schutz vor häuslicher Gewalt immer noch vermissen. Viel zu lange haben Justiz und Polizei Gewalt
im sozialen Nahraum als Privatangelegenheit zwischen
den Beteiligen angesehen, in die sich der Staat nicht
einzumischen habe.
Erst allmählich wird hier ein Bewusstseinswandel
deutlich. Dies ist unter anderem auf die erfolgreiche Arbeit von Interventionsprojekten wie zum Beispiel der
Berliner Initiative „ Gewalt gegen Frauen“ sowie von
Frauenhäusern, Notrufen und Beratungsstellen zurückzuführen. Bis heute müssen geschlagene und vergewaltigte Ehefrauen ihr gewohntes Lebensumfeld verlassen.
Die gewalttätigen Ehemänner hingegen verbleiben in
der ehelichen Wohnung. Deshalb brauchen wir ein Gesetz, mit dem der gewalttätige Ehemann und Partner des
Hauses verwiesen werden kann.
({2})
Nun ist unser Nachbarland Österreich in den letzten
Monaten nicht gerade positiv in den Schlagzeilen gewesen. Dort wurde aber in der letzten Legislaturperiode ein
Wegweisungs-Recht verabschiedet, das seit Jahren erfolgreich ist. Nach dem dort seit 1997 geltenden Sicherheitspolizeigesetz steht der Polizei die Befugnis zu, einen Gewalttäter von einer Wohnung fern zu halten, in
der sich eine gefährdete Person aufhält. Kurz gesagt:
Das Opfer kann bleiben, der Täter muss gehen. Dies gilt
für zunächst sieben Tage.
Es kommen dann gleich die Fragen: Wo bleiben denn
nun die Männer? Müssen wir nicht besondere Häuser für
die Männer schaffen? In Österreich ist die Obdachlosigkeit nicht signifikant gestiegen. Die Frage, wo die Männer bleiben, lässt sich so beantworten: die meisten bei
ihren Müttern oder ihren Freundinnen. Ich denke, das
können wir auch den deutschen Männern zumuten.
({3})
Noch bevor über eine erleichterte Wohnungszuweisung entschieden wird, wird so den betroffenen Frauen
in der akuten Gefährdung geholfen.
Daneben brauchen wir auch Kontakt, Belästigungsund Näherungsverbote sowie gesetzliche Regelungen für
den Erlass von Schutzanordnungen. Eine enge Zusammenarbeit mit den Ländern ist notwendig - dies dauert, Frau Kollegin Falk, natürlich lange und Sie unterstützen uns ja auch jetzt darin - , und zwar nicht nur bei
der polizeilichen und juristischen Aus- und Fortbildung,
sondern auch bei einer Änderung der Polizeigesetze der
Länder. Das ist ein Problem. Das geben wir zu. Aber
auch das werden wir lösen.
({4})
Justizministerin Däubler-Gmelin hat zum Internationalen Frauentag angekündigt, dass ein neues Gewaltschutzgesetz zügig in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht wird. Die Grünen haben Eckpunkte dazu entwickelt. Ich finde, es ist höchste Zeit, dass wir endlich
die Persönlichkeitsrechte der Frauen besser schützen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zum Schluss auf die Situation widerstandsunfähiger - in
den meisten Fällen behinderter - Frauen zurückkommen. Sie brauchen einen besonderen Schutz vor sexuellem Missbrauch. Es ist nicht länger hinnehmbar, dass
die Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung dieser Personen mit einer niedrigeren Strafe geahndet werden
kann als bei so genannten widerstandsfähigen Opfern.
({5})
Wir hatten bei der Verabschiedung des § 177 StGB vereinbart, die Rechtsprechung zu § 179 bis zum Mai 2000
zu beobachten. Danach müssen wir sehr schnell entscheiden, ob wir entweder diesen Paragraphen ganz aus
dem Gesetz streichen oder das Strafmaß an das des
§ 177 anpassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Gewalt gegen
Frauen ist die schwerste Form der Benachteiligung von
Frauen in unserer Gesellschaft. Sie stellt einen Angriff
auf die körperliche und seelische Unversehrtheit dar und
ist eine Verletzung der Menschenwürde. Dies muss ganz
deutlich gesagt werden: Das ist kein Kavaliersdelikt,
sondern eine Verletzung der Menschenwürde.
({6})
Es ist höchste Zeit, dass wir in den verschiedenen Bereichen entsprechende Gesetzesänderungen vornehmen,
damit wir der Gewalt, die tagtäglich gegen Frauen ausgeübt wird, Einhalt gebieten können.
Heute machen wir einen ersten großen Schritt. Es wäre schön, wenn auch einige CDU-Kolleginnen der Änderung des Ausländergesetzes zustimmen würden. Frau
Falk, aus Ihrer Rede kann ich eigentlich nur schließen,
dass Sie ihr zustimmen werden. Es gibt auch noch einige
andere Kolleginnen in Ihrer Fraktion, von denen ich
weiß, dass sie inhaltlich mit diesem Gesetzesvorschlag
übereinstimmen. Es wäre schön, wenn auch sie diesem
Gesetz zustimmen, damit wir hier im Parlament eine
breite Mehrheit dafür haben. Das würde uns auch in der
Bevölkerung stärken.
Ich danke Ihnen.
({7})
Ich erteile das Wort
Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion.
Der innere Frieden einer Gesellschaft beruht auf der Freiheitlichkeit ihrer Rechtsordnung, auf dem Schutz von Eigentum und auf dem
Schutz von Leib und Leben.
Meine Damen und Herren, wenn wir in unserer Gesellschaft von Gewalt reden, dann sind Frauen häufig
Opfer. Sie sind überproportional von Gewalt betroffen.
Ich war kürzlich in der niedersächsischen Justizvollzugsanstalt Vechta. Dort sind Frauen in Haft. Sind sie
alle Täterinnen? Dort wurde mir gesagt, dass nur
4 Prozent der Täterinnen und Täter Frauen sind. Das
heißt, hier ist nicht Gewalt im Spiel, sondern Drogendelikte und andere Straftaten, die wenig mit Gewalt zu tun
haben.
Wir wissen das ist schmerzlich -, dass Gewalt sich
nicht nur außerhalb der Familie, sondern auch innerhalb
der Familie abspielt. Bei der Bekämpfung hat auch in
der Vergangenheit die F.D.P.-Bundestagsfraktion ihren
Part im Parlament dieser Gewalt gespielt. Sie hat durch
unsere Kollegin Frau Leutheusser-Schnarrenberger auch
die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt.
Das ist jetzt Allgemeingut des gesamten Bundestages.
({0})
- Ich war in der letzten Legislaturperiode noch nicht
Mitglied dieses Hohen Hauses. Aber ich denke, dass alle
dieses Gesetz unterstützt haben bis auf die Hardliner; die
wird es auch gegeben haben, nicht in unserer Fraktion,
aber sicher in anderen.
({1})
Dabei haben wir den ersten Schritt getan. Es wird weitere Schritte geben, die wir natürlich auch unterstützen
werden.
Wir haben jetzt den Schutz von Frauen und Kindern in der eigenen Wohnung in der politischen Diskussion. Das entsprechende Gesetz werden auch wir unterstützen. Wir werden sehen, ob wir dazu eine eigene
Initiative in den Bundestag einbringen. Ich und meine
Fraktion finden es richtig, dass der, der jemand anderem
Gewalt antut, aus der Wohnung verschwinden muss
({2})
und die Opfer - das sind meist Frauen mit ihren Kindern - ihr Lebensumfeld behalten. Dafür müssen wir uns
alle hier im Parlament einsetzen. Ich denke, das gilt
nicht nur für die Frauen, sondern auch für die Männer.
({3})
In dem Aktionsplan gegen Gewalt sind die Prävention und die Hilfsangebote sehr hoch angesiedelt. Alle,
die auch auf der kommunalen Ebene oder auf der Landesebene arbeiten, wissen, dass hier doch ein Wandlungsprozess stattgefunden hat.
Es gibt allerorten, auch im Landkreis Verden, aus
dem ich komme, Präventionsräte, die sich zusammensetzen und diese Art der Strategie fahren. Gerade auf der
örtlichen Ebene kann direkt geholfen werden. Das können wir natürlich von Berlin aus nicht tun. Von hier aus
können wir nur Gesetze ändern. Da ist jeder Einzelne
von uns gefragt, auch die Kommunalpolitiker und alle,
die vor Ort tätig sind. Das sind wir ja auch, denn wir haben unsere Wahlkreise und da sollten wir auch etwas
machen.
Weiter wird im Aktionsplan ausgeführt, dass die Vernetzung von Hilfsangeboten stattfinden soll. Ich muss
sagen: Auf Landesebene und auf kommunaler Ebene hat
das längst stattgefunden. Für die Bundesebene kann ich
das nicht beurteilen. Wir werden uns als Fraktion sicher
mit Ihnen auch im zuständigen Ausschuss ins Benehmen
setzen. Wenn das effektiver gestaltet werden kann, kann
das nur hilfreich sein. Das wollen wir natürlich auch unterstützen.
In dieser Diskussion heute haben wir auch über § 19
des Ausländergesetzes zu beraten. Die F.D.P. hat durch
einen Änderungsantrag maßgeblich und sehr gut - ich
hoffe, Frau Schewe-Gerigk, auch in Ihrem Sinne - dazu
beigetragen, dass ausländische Frauen, die mit Deutschen verheiratet sind und hier in Deutschland leben,
auch dann die Möglichkeit haben, ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht zu bekommen, wenn sie Gewalt in der
Ehe und anderes erfahren müssen und die Ehe vor Ablauf einer bestimmten Dauer geschieden wird.
Wir haben gesehen, dass das Gesetz mit der Härtefallregelung in der letzten Legislaturperiode nicht gegriffen hat, gerade nicht in Bayern und vielleicht auch
nicht in anderen Bundesländern.
({4})
Das ist halt manchmal so. Man muss das überprüfen und
dann auch zu neuen Ergebnissen kommen.
Ich denke, dass dieses Gesetz durch unsere konstruktive Mitarbeit daran verbessert worden ist. Ich werde
diesem Gesetz heute zustimmen,
({5})
weil ich es für richtig halte, dass hier etwas gemacht
wird. Ich hoffe deshalb auch, Sie werden das nicht parteipolitisch ausschlachten, meine Damen und Herren.
({6})
Ein besonderes Anliegen ist die Bekämpfung des
Frauenhandels. In dieses Gebiet muss ich mich als
neue Abgeordnete erst noch einarbeiten. Ich werde das
aber mit Frau Schwaetzer und Frau LeutheusserSchnarrenberger und anderen Frauen in meiner Fraktion
tun. Wir werden - natürlich auch zusammen mit unseren
Kollegen - versuchen, diesbezüglich initiativ zu werden.
Ich denke, da ist jede Bundestagsfraktion gefragt, nicht
nur die Fraktionen, die die Regierung unterstützen.
Ich finde es in Ordnung, dass wir uns zum Beispiel
für eine Frist von vier Wochen als Abschiebungshindernis für Frauen, die Zeuginnen gegen potenzielle Täter
sein sollen, einsetzen. Ob diese Frist vier Wochen oder
einen anderen Zeitraum betragen soll, das werden wir zu
prüfen haben. Diese Prüfung wird dann auch in den parlamentarischen Beratungen stattfinden.
Es ist wichtig, dass wir uns um all diese Dinge kümmern. Zum Schluss möchte ich sagen: Die Debatte zeigt,
dass immer wieder und immer noch politischer Handlungsbedarf besteht, Frauen vor Gewalt zu schützen. Die
F.D.P. wird sich wie in der Vergangenheit konstruktiv
an diesen Initiativen beteiligen. Wir wollen das zum
Wohl der Frauen und zum Wohl der Gesellschaft tun.
Wir wollen uns sehr intensiv daran beteiligen. Das Parlament, auch die Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Deutschland haben unsere Unterstützung.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun
Kollegin Petra Bläss, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesrepublik gehört zu den
reichsten Ländern der Erde. Umso erstaunlicher ist es,
immer noch darauf verweisen zu müssen, dass Frauenrechte Menschenrechte sind.
Die Bundesregierung musste sich vor kurzem bei den
Vereinten Nationen bescheinigen lassen, dass es hierzulande eklatante Defizite bei der Umsetzung dieses Anspruches gibt. Der Ausschuss, der die Einhaltung des
UNO-Übereinkommens zur Beseitigung aller Formen
der Diskriminierung von Frauen - übrigens das einzige
diesbezüglich völkerrechtlich verbindliche Dokument kontrolliert, hat der Bundesregierung vorgeworfen, zu
wenig für die Gleichstellung von Frauen zu tun. Das
CEDAW-Komitee begrüßt zwar ausdrücklich den vorliegenden Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, aber es ist
… besorgt über die bleibenden Lücken beim Schutz
von Frauen gegen Gewalt in der Familie und in der
Gesellschaft.
Das gelte besonders für ausländische Frauen. Die Regierung soll deshalb dafür sorgen, dass Gewalt gegen
Frauen gesellschaftlich und moralisch nicht akzeptiert
wird.
Viele Frauen leben in Gewaltverhältnissen. Jede dritte Frau in der Welt hat mindestens einmal im Leben
Gewalt erfahren, sei es als sexualisierter Missbrauch,
Vergewaltigung, seien es Schläge oder sonstige Misshandlungen. Gewalt an Frauen findet in der Familie, im
Kollegen-, Freundes- und Bekanntenkreis statt. Diese
Gewalt muss aus der privaten Sphäre herausgezogen, öffentlich und zum gesellschaftlichen Problem gemacht
werden, ohne die Täter dadurch zu entlasten. Nach meinem Eindruck zeigt die heutige Debatte, dass es hier einen parteiübergreifenden Konsens gibt. Die konkreten
Maßnahmen, die die Bundesregierung vorschlägt, zielen
in die richtige Richtung. Aber sie sind nicht konsequent
genug.
Die Bundesregierung will Polizei, Justiz, Sozial- und
Ausländerbehörden sowie Beratungsstellen und Notrufe
an einen Tisch holen und mit ihnen gemeinsame Konzepte erarbeiten. Das ist richtig und hört sich gut an.
Doch die Polizei zum Beispiel steht dabei vor einem
Glaubwürdigkeitsproblem; denn in ihren eigenen Reihen
erfahren Polizistinnen massiv sexuelle Belästigung und
Nötigung. Im Übrigen hat der in dieser Woche veröffentlichte Bericht der Wehrbeauftragten bestätigt, dass
auch die Frauen in der Bundeswehr damit konfrontiert
sind.
Obwohl das Sexualstrafrecht in der letzten Legislaturperiode verschärft wurde, gelten sexueller Missbrauch und Vergewaltigung von Frauen bei Gerichten
noch immer als Kavaliersdelikt. Wir brauchen eine richtige Fortbildungskampagne für die Polizei und die Justiz. Die Bundesregierung fördert seit Ende des Jahres die
bundesweite Vernetzung der Notrufe im Rahmen eines
Modellprojektes für drei Jahre. Das begrüßen wir, das ist
gut so. Aber was geschieht nach diesen drei Jahren? Wer
kontinuierlich mit Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten will, muss deren Arbeit institutionell
absichern. Wir müssen in diesem Bereich von der bloßen Projekt- und Modellförderung wegkommen.
({0})
Ein anderes Beispiel dafür, dass der Aktionsplan noch
nicht weit genug geht: Die Bundesregierung hat angekündigt, sie wolle Opfer von Frauenhandel besser stellen. Die betroffenen Frauen sollen eine Abschiebefrist
von mindestens vier Wochen erhalten. Der Deutsche
Frauenrat hat in seiner Stellungnahme zum Aktionsplan
eindringlich darauf hingewiesen, dass diese Regelung
höchstens 1 bis 2 Prozent der betroffenen Frauen zugute
kommt. Es genügt auch nicht, den Frauen eine vierwöchige Abschiebefrist zu gewähren und den wenigen
Fachberatungsstellen die Betreuung zu überlassen.
Wir brauchen wirksamere Maßnahmen zur Bekämpfung des Frauenhandels. Das setzt zuerst einen exakteren Begriff von Frauen- und Menschenhandel voraus. Es
geht nicht an, dass als Opfer von Menschenhandel nur
gilt, wer in die Zwangsprostitution verkauft wurde.
Auch Frauen, die zu Sklavinnen gemacht werden oder
auf dem Heiratsmarkt feilgeboten werden, müssen als
Menschenhandelsopfer gelten.
({1})
Wir müssen den Frauen, die sich zur Aussage entscheiden, Möglichkeiten bieten, in Zeuginnenschutzprogramme aufgenommen zu werden. Ferner müssen sie
einen dauerhaften Abschiebeschutz bekommen; denn sie
werden immer wieder durch Racheakte gefährdet sein.
Wir müssen ein dichtes Netz von Beratungsstellen
für die Opfer von Frauenhandel, aber auch für Migrantinnen allgemein ausbauen und fördern. Die Beraterinnen und Berater müssen dringend ein Zeugnisverweigerungsrecht bekommen, damit sie in der Lage sind, zu ihren Klientinnen tatsächlich ein Vertrauensverhältnis
aufbauen zu können.
({2})
Sie können sich vielleicht vorstellen, dass es für
Beratungsstellen, die durchaus mit der Polizei kooperieren, ohnehin problematisch ist, den Frauen, die zu ihnen kommen, Vertrauen einzuflößen. Aber wenn die betroffenen Frauen dann erfahren, dass die Beraterinnen
möglicherweise gezwungen werden, ihre Informationen
den Ermittlungsbehörden preiszugeben, wird es noch
schwieriger.
Zu Recht hat der UNO-Ausschuss die Bundesregierung gemahnt, die Situation ausländischer Frauen
dringend zu verbessern; denn sie sind besonders von
Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt betroffen.
Die Änderung des § 19 Ausländergesetz , die wir heute
beschließen wollen, geht zweifellos in die richtige Richtung und wir werden ihr zustimmen. Dennoch werden
wir weiter darum kämpfen, dass Frauen bereits mit der
Eheschließung hier ein eigenständiges Aufenthaltsrecht
bekommen.
Völlig unzureichend ist indessen das Vorhaben der
Bundesregierung, bei der Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung lediglich die Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz ein bisschen zu ändern.
Wir brauchen stattdessen klare Regelungen im
Asylverfahrensgesetz und im Ausländergesetz.
({3})
Die Beamtinnen und Beamten im Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge müssen genauso
Rechtssicherheit haben wie die betroffenen Frauen, dass
geschlechtsspezifische Verfolgung hier künftig als
Asylgrund gilt, und zwar unabhängig davon, ob es sich
um staatliche oder nichtstaatliche Verfolgung handelt.
({4})
Das ist menschenrechtlich orientierte Frauenpolitik. Die
brauchen wir.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in anderen Bereichen der Frauenpolitik geht der CEDAW-Ausschuss
der UNO mit der Bundesregierung hart ins Gericht. Ich
denke, das geschieht zu Recht, wobei man immer wieder
darauf hinweisen muss, dass die Hauptverantwortung
bei der abgewählten Bundesregierung liegt. Das betrifft
insbesondere die anhaltende Lohndiskriminierung von
Frauen, die Defizite bei der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Elternschaft, die nach wie vor zögerliche Politik bei der Gleichstellung von Frauen in der Privatwirtschaft und die besondere Benachteiligung ostdeutscher
Frauen.
Ich garantiere Ihnen: Solange all diese Formen geschlechtsspezifischer Diskriminierung existieren, wird
es keine Ruhe geben, weder bei den Betroffenen noch
bei denen, die ihre Interessen vertreten und sich konsequent auf die Forderung „Frauenrechte sind Menschenrechte“ berufen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Ich erteile das Wort
nun der Kollegin Ulla Schmidt, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich ganz besonders, dass wir heute im Deutschen Bundestag ein Gesetz
in zweiter und dritter Lesung verabschieden, das den
hier lebenden Migrantinnen einen besseren Schutz vor
gewalttätigen Ehemännern verschafft.
({0})
Ich freue mich, weil dieses in sehr engem Zusammenhang zur Nachfolgekonferenz der Weltfrauenkonferenz von Peking geschieht, die im Juni in New York
stattfindet. Dort wird überprüft, was die einzelnen Länder zur Umsetzung der Plattform getan haben. Ich freue
mich auch, dass dies in zeitlicher Nähe zum Internationalen Frauentag geschieht, weil es eine wiederholte Forderung der Frauenbewegung und der Frauen am InterPetra Bläss
nationalen Frauentag gewesen ist, dass endlich der § 19
des Ausländergesetzes mit Blick auf die ausländischen
Frauen geändert wird.
({1})
Es ist noch nicht einmal drei Jahre her, dass ich im
Deutschen Bundestag zur Novellierung des § 19 geredet
habe. Es ging damals um einen mühsam gefundenen
Kompromiss, den die SPD-geführten Bundesländer über
den Bundestag im Vermittlungsausschuss durchgesetzt
hatten. Das war vor drei Jahren ein Erfolg, weil erstmals
Ehegatten - hier ging es insbesondere um Ehefrauen unabhängig von der Aufenthaltsdauer und der Ehebestandszeit ein eigenständiges Aufenthaltsrecht im Falle außergewöhnlicher Härte in Aussicht gestellt wurde.
Es ist uns leider nicht gelungen, das, was außergewöhnliche Härte ist, im Gesetz zu definieren. Es war eben ein
Kompromiss. Die Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen. Wir - die damalige Opposition, aber auch viele in
den Fraktionen der damaligen Regierungsparteien - waren bereit, einen Weg mit zu gehen in der Hoffnung,
mehr Schutz für Migrantinnen zu schaffen.
Auch die Frauen- und Menschenrechtsorganisationen,
die uns beraten haben, waren skeptisch. Es war ein
Kompromiss. Es ging um eine Güterabwägung zwischen
dem, was wir erreichen wollten, und dem, was unter den
damaligen Mehrheitsverhältnissen möglich war.
Wir in der SPD haben nie einen Zweifel daran gelassen: Wenn wir endlich die Mehrheit haben, dann werden
wir Gesetze verabschieden, die den Frauen in unserem
Lande einen besseren Schutz gewährleisten.
({2})
Mit dem jetzt zur zweiten und dritten Lesung anstehenden Gesetzentwurf lösen wir dieses Versprechen ein.
Ich sage hier einmal ganz deutlich: Der Schutz vor
Menschenrechtsverletzungen darf nicht durch Angst
eingeschränkt werden. Es kann nicht sein, dass die im
Grundgesetz verankerten Werte wie die Würde des
Menschen, das Recht auf körperliche Unversehrtheit,
Gleichheit vor dem Gesetz und das Selbstbestimmungsrecht nicht für alle unabhängig von ihrer Nationalität,
von ihrem Geschlecht oder von ihrer religiösen Zugehörigkeit gelten sollen. Deshalb müssen wir in unserem
Lande auch Migrantinnen, so gut es geht, vor ihren gewalttätigen Ehemännern schützen und ihnen ein hohes
Maß an Rechtssicherheit gewähren.
({3})
Ich bestreite nicht, dass sich auch mit dem im Vermittlungsausschuss gefundenen Kompromiss die Bedingungen für Migrantinnen in einer Reihe von Fällen verbessert haben. Es gab aber in der Praxis nicht in jedem Fall
eine Verbesserung. Für uns ist jeder einzelne Fall, für
den keine Verbesserung erreicht wurde, ein Fall zu viel.
Ich erinnere hier an den tragischen Fall einer misshandelten Kurdin aus Kempten in Bayern. Sie verlor ihr
Aufenthaltsrecht und wurde zusammen mit ihren zwei
Kindern abgeschoben, weil sie sich von ihrem Peiniger
hatte scheiden lassen. Nach gerichtlichen Aussagen war
die Frau regelmäßig massiv geschlagen, an den Haaren
gezogen sowie mit Fußtritten und Faustschlägen malträtiert worden. Der Mann habe sie mit vorgehaltenem
Messer gezwungen, die Sozialhilfe herauszurücken. In
der leeren Wohnung sei sie mit ihren Kindern ohne Essen zurückgelassen worden. Es hat uns schon alle erschüttert, dass dies dem bayerischen Innenstaatssekretär
Hermann Regensburger nicht genug war, um diese Situation als Härtefall anzuerkennen. Er hat gesagt: Eine
sehr unglückliche Ehe alleine begründet keine besondere
Härte.
Wenn wir dann hören, dass die Eingriffe in die Integrität der Betroffenen durch ihren Ehemann in ihrer Intensität nicht das entsprechende Ausmaß erreicht hätten,
fällt es schon schwer, hier jetzt auszusprechen, wie die
Bayern besondere Härte definierten: Ein schwerer Fall
oder eine schwere Körperverletzung läge im Sinne des
Strafgesetzes nur „bei Verlust eines wichtigen Gliedes,
bei Verfallen in Siechtum, Lähmung oder Geisteskrankheit oder auch bei dauernder Entstellung“ vor. Ich glaube, Kolleginnen und Kollegen, dies alleine reicht, um zu
sagen: Damit muss endlich Schluss sein. So darf Härte
nicht definiert werden. Das wollen wir den Frauen nicht
zumuten.
({4})
Hilfsorganisationen, Beraterinnen, Mitarbeiterinnen
aus den Frauenhäusern und auch wir mussten viel zu oft
hilflos zusehen, wie Migrantinnen trotz der Neuregelung
aus der Bundesrepublik ausgewiesen wurden. Brutal
misshandelte Migrantinnen lebten nicht nur weiterhin in
Angst vor ihrem gewalttätigen Ehemann, sondern auch
in Angst vor dem Staat, der sie je nach Auslegung des
Härtefallbegriffs und je nach Bundesland auch noch in
ein Heimatland abschob, in dem ihnen erneut Verfolgung und auch körperliche Misshandlungen drohten.
Genau in diesem letzten Bereich, in dem, was der
Staat tun kann, muss gehandelt werden. Wir können
nicht jede Frau vor ihrem gewalttätigen Ehemann schützen. Wir können aber Rahmenbedingungen schaffen,
damit die Frauen in diesem Lande wissen, dass sie,
wenn sie Gewalt ausgesetzt wurden, hier uneingeschränkten Schutz finden und wir ihren Schutz höher
ansetzen als eventuelle Furcht vor Missbrauch eines Gesetzes. Ich glaube, da sind wir uns alle einig.
({5})
Wir beraten heute die Neuregelung des § 19 des Ausländergesetzes, damit endlich bundeseinheitlich geregelt
wird, wann ein Härtefall gegeben ist, sodass Frauen im
ganzen Bundesgebiet vor Gewalt geschützt werden und
willkürliche Entscheidungen der Vergangenheit angehören. Trotz der früheren Neuregelung wurde von Land zu
Ulla Schmidt ({6})
Land unterschiedliches Recht gesprochen. Eine Umfrage
in den Frauenhäusern aus dem Jahre 1997 ergab, dass
von 67 Anträgen auf Anerkennung eines Härtefalls lediglich 16 Anträge positiv entschieden wurden, davon
entfielen allein 12 auf Nordrhein-Westfalen, das von
Anfang an durch eine Verwaltungsvorschrift außergewöhnliche Härte im Interesse der betroffenen Frauen so
bestimmt hat, wie wir es damals - ich sehe gerade den
Kollegen Marschewski - im Deutschen Bundestag intendiert hatten. Es war unser Wille, dafür zu sorgen,
dass die Definition, die wir in der Begründung des Gesetzes hatten, auch eine bundeseinheitliche Auslegung
möglich macht. Leider hat es die alte Bundesregierung
versäumt, dafür zu sorgen, dass die Definition des Härtefalls in einer Verwaltungsvorschrift überall gültig ist.
Das holen wir heute mit der neuen gesetzlichen Regelung nach.
({7})
Die Umfrage, die ich eben genannt habe, ist aber
auch ein Beispiel dafür, wie engagierte Frauenorganisationen, Initiativen, Verbände, Beratungsstellen und
Frauenhäuser die Auswirkungen des § 19 Abs. 1 Ausländergesetz verfolgten. Deshalb freue ich mich ganz
besonders, dass viele dieser engagierten Frauen heute
auf der Besuchertribüne der zweiten und dritten Lesung
der Novellierung des § 19 Ausländergesetz folgen. Ich
kann ihnen von dieser Stelle aus sagen: Wir sind Ihnen
für Ihr Engagement dankbar, das uns Frauen im Parlament jahrelang begleitet und den Rücken gestärkt hat.
Auch das hat uns geholfen, dass wir heute im Deutschen
Bundestag zu der Verabschiedung der Novelle kommen.
({8})
Zukünftig erhalten Migrantinnen ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht bereits nach zwei Ehejahren. In Fällen
besonderer - nicht mehr außergewöhnlicher - Härte
müssen sie nicht mehr in einer unzumutbaren ehelichen
Gemeinschaft ausharren. Wenn sie die Rückkehr in ihr
Herkunftsland härter als andere mit einer vergleichbar
kurzen Dauer des Aufenthalts in Deutschland trifft, dann
bekommen sie hier ein Aufenthaltsrecht. Besonders
wichtig ist uns, dass auch der Bezug von Sozialhilfe in
Fällen, in denen Frauen mit ihren Kindern in ein Frauenhaus gehen müssen und keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können, einer Aufenthaltsgenehmigung nicht entgegensteht. Die Frauen dürfen dann hier bleiben, wenn
sie die Umstände nicht selbst zu verantworten haben.
({9})
Gewalt gegen Frauen und Kinder müssen wir bekämpfen. Wir alle wissen, dass Gewalt immer individuelle und gesellschaftliche Ursachen hat. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben uns zum
Ziel gesetzt, ein Klima zu schaffen, in dem Gewalt gegen Frauen und Kinder geächtet wird. Uns ist damit
ernst. Das sehen Sie an dem heute vorgelegten Aktionsplan und auch nicht zuletzt an dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des § 19 Ausländergesetz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSUFraktion, ich wünsche mir, dass Sie mit derselben Ernsthaftigkeit, wie es auch schon die Kollegin Lenke für die
F.D.P. vorgetragen hat, an dieses Thema herangehen
und mit uns gemeinsam den Gesetzentwurf verabschieden. Wir alle sollten den hier lebenden Migrantinnen ein
Stück mehr Sicherheit und Schutz in Deutschland geben.
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile dem Kollegen Peter Uhl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen! Ich bitte um Nachsicht,
dass ich als Mann zu diesem Thema heute spreche.
({0})
Ich habe aber gehört, dass ich von der F.D.P. Verstärkung bekomme: Herr Stadler beabsichtigt, als zweiter
Mann zu diesem Thema zu sprechen. Gleichwohl werde
ich mich bemühen, mit der gehörigen Sensibilität mit
dem Thema umzugehen.
Sie haben heute einen Aktionsplan zur Bekämpfung
der Gewalt gegen Frauen präsentiert. Das ist ein gutes
Ziel, in dem wir uns alle einig sein könnten. Denn: Benachteiligt sind bestimmte Gruppen von Frauen, insbesondere ausländische Frauen, die zum Teil auf schändliche Weise behandelt werden, die gedemütigt, geschlagen und vergewaltigt werden. Denen muss geholfen
werden. Das ist auch unser Anliegen. Deswegen waren
wir in der Union, insbesondere die Frauen in der Union,
sehr bemüht, einen Kompromiss zu finden. Leider kam
es zu diesem Kompromiss nicht. Ich werde erläutern,
warum.
Es kam nicht zum Kompromiss, weil Sie das Ziel, das
richtig ist, mit den falschen Mitteln angehen. Sie haben
sich nämlich § 19 des Ausländergesetzes herausgesucht. Ein flüchtiger Blick in das Gesetz hätte Sie eigentlich schon belehren müssen. In § 19 wird von einem
eigenständigen Aufenthaltsrecht für ausländische Ehegatten - geschlechtsneutral formuliert - gesprochen,
({1})
für Männer und Frauen, für gewalttätige Männer und für
nicht gewalttätige Männer aus dem Ausland, für Gute
und für Schlechte. Das ist der Gegenstand des § 19.
Aufgrund ihrer Undifferenziertheit ist diese Vorschrift
für das angestrebte Ziel untauglich.
Ulla Schmidt ({2})
Mit Ihrem Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt
gegen Frauen verbessern Sie unweigerlich, ob Sie es
wollen oder nicht, auch den Aufenthaltsstatus des ausländischen Ehegatten, der ein gewalttätiger Schläger ist.
Ob Sie es wollen oder nicht, verbessern Sie auch den
Aufenthaltsstatus des Strolches, der eine Ehe erschleicht. Sie verbessern auch den Aufenthaltsstatus des
Betrügers, der Scheinehen eingeht. Das wollen Sie zwar
nicht, aber Sie tun es.
({3})
Sie verbessern also unfreiwillig auch die Rechte von
ausländischen kriminellen Männern. Sie machen sie
mächtiger und geben ihnen die Möglichkeit, leichter als
zuvor ein eigenständiges Aufenthaltsrecht durch Instrumentalisierung von Frauen zu erlangen. Das nennen Sie,
Frau Sonntag-Wolgast, pathetisch einen „Aktionsplan
der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“.
Es gibt zwei Regelungen, zum einen eine Härtefallregelung und zum anderen eine Fristenregelung. Gegen die Härtefallregelung hätten wir nichts einzuwenden. In diesem Punkt könnten wir uns rasch einigen - kein Problem. Wir haben immer ganz offen im Innenausschuss darüber diskutiert, an welcher Stelle diese
Regelung verbesserungsfähig und verbesserungswürdig
ist. Aber die Verkürzung der Ehezeit von vier auf zwei
Jahre ist der Punkt, an dem wir aus Gründen, die ich Ihnen jetzt nennen werde, nicht mitmachen können und
wollen.
Diese Regelung öffnet nämlich dem Missbrauch Tür
und Tor, weil bei einer Verkürzung auf zwei Jahre eine
Einzelfallprüfung bekanntlich nicht mehr stattfinden
kann und nicht mehr stattfinden darf. Ich muss Sie aus
meiner Praxis und aus meiner Erfahrung im Gesetzesvollzug leider mit konkreten Einzelfällen belästigen. Ich
weiß, Sie wollen nicht hören, dass in der Praxis auch
diese Fälle vorkommen. Aber ich muss es tun.
Ein ausreisepflichtiges bosnisches Ehepaar hat gesagt: Wir wandern weiter in die USA. Daraufhin hat die
Ausländerbehörde den Aufenthalt hier für mehrere Jahre
geduldet. Plötzlich lässt sich das Ehepaar scheiden. Die
Bosnierin überlässt die Kinder dem bosnischen Mann
und heiratet einen Deutschen. Sie kann also hier bleiben,
muss nicht mehr weiterwandern und auch nicht mehr zurück nach Bosnien.
({4})
Die Ausländerbehörde erkundigt sich, ob der Bosnier
mit den Kindern nach Bosnien zurückgekehrt ist oder ob
er in die USA weitergewandert ist. Siehe da, sie stellt
fest, dass auch der bosnische Ehemann eine Deutsche
geheiratet hat. Jetzt haben wir also zwei Verheiratungen
mit Deutschen, keine Weiterwanderung und keine
Rückkehr nach Bosnien.
({5})
- Fragen Sie einmal Ihre Praktiker in der Fraktion; sie
wissen, wie es zugeht. Der Herr Landrat Veit aus Gießen
weiß, was in seiner Praxis alles vorgekommen ist.
({6})
Die Ausländerbehörde muss jetzt innerhalb von zwei
Jahren prüfen - das ist Ihr Gesetzesvorschlag -, ob hier
zwei Scheinehen vorliegen. Ich sage Ihnen: Das gelingt
der Ausländerbehörde nicht.
({7})
Man kann in zwei Jahren in aller Regel diese Prüfung
nicht gerichtsfest abschließen. Scheinehen wird man im
Falle einer Zwei-Jahre-Frist nur noch aufdecken können,
wenn es zur Selbstanzeige eines Partners kommt, weil
der andere seiner Unterhaltspflicht nicht mehr genügt.
Das ist die Wirklichkeit in Deutschland.
({8})
Ich möchte Sie auf einen weiteren Umstand hinweisen. Wir alle wissen, dass es immer mehr Schleuser gibt,
die ausländische Frauen nach Deutschland einschleusen,
sie pro forma verheiraten, sie zur Prostitution zwingen
und sie - nach Ihrer Zwei-Jahre-Regelung - nach zwei
Jahren legalisieren. Die Schleuser können dann neue
Frauen hereinschleusen, um sie auch auf diese Weise zu
legalisieren.
({9})
Insofern ermöglichen und begünstigen Sie kriminellen
Menschenhandel, ohne es zu wollen.
Ein dritter Gedanke. Vielleicht kennen Sie die Entschließung des EU-Rates - sie stammt vom 4. Dezember
1997 - über Maßnahmen zur Bekämpfung von Scheinehen. Dort wird genau aufgezählt, welche Faktoren bei
Scheinehen typischerweise vorliegen. Die EU verpflichtet alle Mitgliedstaaten, dagegen vorzugehen. Das heißt,
die Behörden müssen diesen Verdachtsmomenten nachgehen. Die EU verpflichtet uns, die nationalen Gesetzgeber, dafür zu sorgen, dass die Entschließung des EURates zur Bekämpfung von Scheinehen in nationales
Recht umgesetzt wird. Sie machen heute genau das Gegenteil. Mit der Änderung der Fristenregelung von vier
auf zwei Jahre sorgen Sie dafür, dass die Behörden in
Deutschland Scheinehen nicht mehr aufdecken können,
das heißt, dass Scheinehen nicht bekämpft, sondern erleichtert werden. Das verstößt gegen europäisches
Recht.
Wenn Sie schon die Härtefallregelung erleichtert haben, wofür wir Sympathie haben und dem wir zustimmen könnten, dann sollten Sie zugleich nicht die Verkürzung auf zwei Jahre vornehmen, weil Sie mit dem
Automatismus von zwei Jahren jedem Ausländer - ob
gut oder böse, ob Mann oder Frau - ein Aufenthaltsrecht
geben.
({10})
Das wollen wir nicht, weil auch Fälle begünstigt werden, die nicht begünstigt gehören. Wenn sich ein
Mensch nach einer zweijährigen Ehe scheiden lässt und
auf diese Weise lebenslang zu einem Sozialfall wird, ist
dies eine Belastung des deutschen Steuerzahlers, die wir
nicht einsehen. Dies führt zu einem Wohlstandsgefälle
zwischen Deutschland und Entwicklungsländern, zu einem Anreiz, auf diese Weise nach Deutschland zu
kommen.
Jedes Jahr kommen Hunderttausende Armutsflüchtlinge, Ausländer im Wege des Familiennachzugs oder
gleich illegal nach Deutschland. Sie wollen heute mit
dieser Zwei-Jahre-Frist einen zusätzlichen, neuen Einwanderungstatbestand durch Scheineheschließung erreichen.
({11})
Ich möchte Ihnen noch einmal zwei Beispiele aus
der Praxis nennen, damit Sie wissen, was Sie heute tun.
Ich hatte in meiner Zeit einmal einen gewalttätigen Tunesier, der aus Deutschland wegen seiner Kriminalität
zu Recht ausgewiesen wurde. Wir waren froh, dass er
weg war. In Tunis heiratete er eine Deutsche. Er durfte
also wieder nach München einreisen. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor. Unvorhersehbar hat er diese
Kinder und die deutsche Ehefrau fortlaufend belästigt,
im betrunkenen Zustand geschlagen und vergewaltigt.
Die Strafverfahren wegen Trunkenheit im Verkehr,
Diebstahls und sexueller Nötigung reihten sich aneinander. Aber er war ja deutsch verheiratet. Die Ehefrau hat
jeglichen Kontakt zu ihm abgebrochen. Die gepeinigte
Frau hat die Scheidung eingereicht - was sonst? Jetzt hat
sie natürlich nur ein Ziel: Sie möchte vor diesem Menschen geschützt werden. Wissen Sie, was Sie machen?
Sie belohnen ihn, indem Sie ihm nach zwei Jahren Ehe die Scheidung war danach - ein eigenständiges Aufenthaltsrecht geben, sodass er sie weiter peinigen, belästigen und vergewaltigen kann.
({12})
Sie müssen sich damit anfreunden, meine Damen und
Herren. Sie können sich den Menschen nicht so schnitzen, wie Sie ihn haben wollen. Sie schaffen Gesetze.
Gesetze wirken abstrakt und generell: für Gute, für Böse, für Deutsche, für Ausländer, für Männer, für Frauen.
Deswegen muss ich Sie mit der rauen Wirklichkeit konfrontieren, damit Sie darüber noch einmal nachdenken.
Ich nenne Ihnen noch einen weiteren Fall, vielleicht
wachen Sie dann auf. Ein Nigerianer wurde als Asylbewerber abgelehnt und deswegen abgeschoben.
Kollege Uhl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Larcher?
Ich möchte diese
Fälle vortragen. Im Anschluss gerne.
Ein Jahr nach dieser Abschiebung kam er doch zu
seiner Aufenthaltserlaubnis; er hat nämlich eine deutsche Touristin in Nigeria, im Standesamt in Lagos, geheiratet. Gleich nach seiner Wiedereinreise nach
Deutschland erinnerte er sich: Ich habe hier ja noch eine
Freundin aus der Heimat Nigeria; sie ist Asylbewerberin
und ist noch nicht abgeschoben. Er hat darauf bestanden,
dass seine nigerianische Freundin in die Wohnung, die
er mit seiner deutschen Ehefrau teilte, mit einzieht; also
lebten sie zu dritt.
Die deutsche Ehefrau hat diesen Zustand natürlich
abgelehnt - ich hoffe, Sie würden sich auch als Beschützerin dieser Frau bewähren -; aber sie war erfolglos. Der
Mann war der Stärkere. Am Schluss ging die Deutsche
zur Polizei und reichte die Scheidung ein, nachdem sie
mehrmals geschlagen worden war. Das Ergebnis: Nach
zweijähriger Ehe bekäme dieser Nigerianer ein eigenständiges unbefristetes Aufenthaltsrecht in Deutschland.
Das hätten Sie mit Ihrem Gesetz erreicht. Herzlichen
Glückwunsch!
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Noch einmal:
Sie haben hier einen Aktionsplan vorgelegt und wollen
Frauen helfen. Das wollen auch wir. Aber mit diesem
Gesetzentwurf helfen Sie eben nicht nur Frauen, sondern
auch den männlichen ausländischen Peinigern. Um diesen Punkt geht es mir.
Ich habe aufmerksam dem zugehört, was die Staatssekretärin Sonntag-Wolgast zur Begründung der Fristverkürzung auf zwei Jahre gesagt hat.
({0})
- In der Innenausschusssitzung. - Sie, Frau SonntagWolgast, sagten, es sei bedeutsam, dass auch bei einer
intakten Ehe die Begründung der Eigenständigkeit einer
Seite erfolgen soll.
Meine verehrte Frau Staatssekretärin, sicherlich ist es
bedeutsam, dass man eine Eigenständigkeit bekommt.
Aber, wie gesagt, das geschieht für beide: Auch der peinigende ausländische Ehemann bekommt eine Eigenständigkeit. Wollen Sie das wirklich? Haben Sie das zu
Ende gedacht? Was Sie hier machen, das ist doch grober
Unfug.
Ihr Vorschlag ist keine Reform; stattdessen öffnen
Sie dem Missbrauch Tür und Tor. Sie verletzen europäisches Recht. Sie betreiben eine verkappte Einwanderungserleichterung. Von ihren ausländischen Ehemännern gepeinigte deutsche Frauen lassen Sie gänzlich im
Stich.
({1})
Anscheinend gehören diese Frauen nicht zum Kreis
ihrer Interessensgruppen, weswegen Sie sie außer Acht
lassen. Denken Sie daran: Es gibt deutsche Frauen, die
von ausländischen Ehemännern gepeinigt werden können. Haben Sie davon schon einmal gehört?
({2})
Die Welt ist leider nicht so, dass es nur böse deutsche
Männer und gute ausländische Frauen gibt. Ich habe
schon von anderen Fällen gehört.
({3})
Ich hoffe, auch Sie. Wir machen hier Gesetze für alle:
für die Guten und für die Bösen, für die Frauen und für
die Männer, für die Deutschen und für die Ausländer.
Denken Sie an den Ausgang und verharren Sie nicht bei
einer einseitigen Fallgestaltung. Wir wollen in echten
Härtefällen helfen. Wo Frauen gepeinigt werden, da sind
wir dabei zu helfen. Aber so, wie Sie vorgehen, geht es
leider nicht.
({4})
- Indem wir die Härtefallregelung, so wie sie jetzt vorgeschlagen wurde, übernehmen, es aber bei der Frist von
vier Jahren belassen. Das ist die Antwort auf Ihren Zwischenruf.
({5})
- Auf vier Jahre. Härtefallregelung plus vier Jahre, das
ist die beste Lösung. Das ist unser Kompromissangebot.
({6})
Ein kluger Mann hat einmal gesagt, dass das Recht
angewandte Macht ist. Sie wenden heute - wir können
Sie davon nicht abhalten - Ihre Mehrheitsmacht an, weil
Sie ausländischen Frauen mehr Rechte geben wollen.
({7})
In Wirklichkeit geben Sie aber auch kriminellen ausländischen Männern mehr Macht über Frauen. Das wollen
wir nicht; deswegen lehnen wir diesen Gesetzentwurf
ab.
({8})
Ich erteile nun der
Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Ihre Rede, Herr Dr. Uhl, hat
uns einen sehr tiefen Einblick in das finstere Denken
und in den Hintergrund gegeben, mit dem Sie an die
Frage des Verhältnisses von Ausländern und Deutschen
herangehen.
({0})
Sehr deutlich wurde das genau an den Fällen, die Sie
geschildert haben. Hier lebt eine bosnische Flüchtlingsfamilie - oft seit vielen Jahren; wir wissen, dass der
Krieg schon vor zehn Jahren begonnen hat -, die Menschen trennen sich und es passiert das Normalste von der
Welt: Es finden sich neue Partner und sie finden sich weil diese Menschen nun einmal in diesem Land leben mit Deutschen. Es werden neue Ehen geschlossen - das
Normalste von der Welt.
Dieser Sachverhalt wird nun von Ihnen von vornherein zu einer Scheinehen-Tatsache umdefiniert.
({1})
Das bedeutet, dass Sie gegenüber Migrantinnen und
Migranten schon vom Grundsatz her mit einer Verdachtshaltung auftreten. Genau in diesem Punkte trennen wir uns wirklich voneinander. Wir gehen davon
aus - die Kollegin Schmidt hat das sehr schön ausgedrückt -, dass die Menschenrechte und die Würde des
Menschen für alle Menschen - unabhängig von der Nationalität - von Anfang an angenommen werden müssen
und sich auch in unserer Rechtsordnung niederschlagen
müssen.
({2})
Deswegen ist es sehr gut, wenn wir heute im Zusammenhang mit einem nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen auch darüber reden, welche neuen Rechte Migrantinnen und Migranten
zugestanden werden müssen, denn eines wissen wir:
Gewalt wird vornehmlich gegen Abhängige ausgeübt
und unser Ausländerrecht führt so, wie es jetzt aussieht,
immer auch dazu, dass sich Frauen - und Migrantinnen
dann auch noch doppelt - in Abhängigkeiten befinden.
Diese Abhängigkeiten so weit wie möglich zu lockern
ist das Ziel und der Inhalt des § 19 des Ausländergesetzes in der Form, wie er jetzt in der zweiten und dritten
Lesung debattiert wird.
({3})
Sie denken in Kategorien von Scheinehen. Wir wissen, dass die Realität im Wesentlichen anders ist. Mich
beunruhigen die Katalogehen, die es hier gibt - darüber
haben Sie nichts gesagt, Herr Kollege Uhl -, also die
Fälle, in denen Männer Frauen missbrauchen. Ich habe
noch nicht gehört, dass es Kataloge gibt, in denen Männer als Ehemänner angeboten werden. Ich meine also die
Katalogehen, bei denen Männer ausländische Frauen
missbrauchen und bei denen diesen Männern mit dem
bisherigen § 19 die Knute in die Hand gegeben wird, die
Ehe aufrechtzuerhalten, der Frau zu sagen: Wenn du
nicht aushältst, was ich dir antue, dann kann ich dich
wegschicken!
({4})
Das ist die Knute, die ich in der Hand habe. - Da wir in
Kategorien der Gleichheit von Männern und Frauen
denken, da wir auch Frauen Rechte geben wollen, wollen wir den Männern diese Knute aus der Hand nehmen
und deswegen wird die Bestandszeit dieser Ehen von
vier auf zwei Jahre verkürzt.
({5})
Wir gehen davon aus, dass Partnerschaften und Ehen
gleichberechtigt sein müssen, und zwar egal, welche Nationalitäten zusammenkommen. Es geht um die Gleichheit von Mann und Frau. Das heißt, dass Ehen auf der
Basis von Freiheit aufrechterhalten werden müssen; erst
dann kann eine Partnerschaft gleichberechtigt werden.
Zu der Freiheit gehört auch das Recht zu gehen, Herr
Dr. Uhl. Ich weiß sehr gut, warum bei den Männern
immer diese Nervosität aufkommt, wenn es um das
Recht von Frauen geht zu gehen.
({6})
Deswegen sind Sie so starr gegen eine Reform des § 19:
Es geht Ihnen nicht wirklich um den Schutz der Frauen,
sondern es trifft viele Männer ins Mark, wenn sie anerkennen müssen, dass das Recht auch für die Frauen so
gestrickt ist, dass sie Freiheiten bekommen, dass sie
Entscheidungsfreiheiten bekommen, dass sie in der Ehe
nicht alles aushalten müssen, weder eine physische noch
eine psychische Misshandlung. Das ist der Inhalt dieses
neuen § 19: die Freiheit zu bleiben, aber auch die Freiheit zu gehen, wenn eine Ehe unerträglich wird - nicht
nur für deutsche Frauen, sondern auch für Migrantinnen
in diesem Land.
({7})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Hanna Wolf, SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Uhl, nur
einen Satz zu Ihnen: Es stört nicht, wenn Männer in dieser Debatte das Wort ergreifen. Unerträglich ist nur, was
Sie gesagt haben.
({0})
Ich finde es sehr schlimm, dass die CDU/CSU-Fraktion
Sie heute hier hat reden lassen.
({1})
Mit dem Aktionsprogramm zur Bekämpfung von
Gewalt gegen Frauen haben die Bundesregierung und
die sie tragenden Fraktionen ein Zeichen gesetzt. Damit
will die Bundesregierung in dieser Republik zum Ausdruck bringen, dass - es stimmt, Frau Falk, dass wir diese Themen immer sehr engagiert zusammen beraten haben - sie endlich etwas auf den Weg bringt und Gesetze
macht. Deshalb möchte ich meinen Dank an die Beteiligten zum Ausdruck bringen: an die Frauenministerin
Christine Bergmann, die Justizministerin Herta DäublerGmelin, den Innenminister Otto Schily, die Bildungsministerin Edelgard Bulmahn, die Entwicklungsministerin
Heidemarie Wieczorek-Zeul und auch den Arbeitsminister Walter Riester. Alle haben ihren Beitrag zu diesem
Aktionsprogramm geleistet und Gesetzesvorschläge
unterbreitet. Deswegen mein herzlicher Dank, dass
dieser Aktionsplan heute so einmütig von dieser
Bundesregierung getragen wird!
({2})
Es ist für mich eine besondere Freude, dass wir mit
großer Mehrheit in diesem Haus § 19 des Ausländergesetzes in der neuen Form verabschieden. Ich freue mich
auch sehr, dass die F.D.P. dies nach einer intensiven
Diskussion - ich gebe zu, dass sie eine Verdeutlichung
in das Gesetz hineingebracht hat - ebenfalls mitträgt.
Frau Falk, es tut mir ein bisschen weh, dass Sie heute
nicht mitstimmen,
({3})
obwohl wir in vielen Punkten, wenn auch nicht in allen,
übereinstimmen. Aber wenn Herr Uhl hier eine solche
Rede halten darf, gibt es, glaube ich, keine Chance für
Frauen aus Ihrer Fraktion, heute mit uns zu stimmen.
Das finde ich schlimm!
({4})
Frau Falk, ich kann Ihnen leider nicht ersparen, dass
ich hier einmal der Wahrheit die Ehre gebe. Herr Merz
ist leider gegangen. Trotzdem muss ich sagen: Ja, es gab
eine sehr dramatische, aber doch eindrucksvolle Debatte
im Deutschen Bundestag, bevor wir für die Bestrafung
der Vergewaltigung in der Ehe ein Gesetz verabschieden konnten, wie es auch für die Bestrafung der Vergewaltigung außerhalb der Ehe eines gibt. Viele von Ihnen
haben sehr mutig mitgestimmt, gerade viele Frauen. Ich
sehe einige, die dabei waren. Ich nenne einmal Frau
Karwatzki, die das Gesetz mit vorangebracht hat. Aber
Ihr neuer Hoffnungsträger und jetzt Fraktionsvorsitzender, Herr Friedrich Merz,
({5})
hat bei der Abstimmung über die Sanktionierung der
Vergewaltigung von Ehefrauen mit Nein gestimmt. Das
finde ich ziemlich schlimm. Dass er nun auch noch Ihr
Fraktionsvorsitzender ist, lässt befürchten, dass von diesem Thema bei Ihnen noch nichts angekommen ist.
({6})
Eigentlich sollte er seine Meinung korrigieren und sich
entschuldigen.
Wir bringen heute Gesetze auf den Weg, einschließlich der Reform des § 19. Praktisch kurz vor dem
Marieluise Beck ({7})
Abschluss steht das Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung. Es ist für uns sehr wichtig, dass es
wirklich als Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung bezeichnet wird. Ich hoffe, dass wir da noch einen
Kompromiss finden werden. Die häusliche Gewalt soll
endlich sanktioniert werden. Sie ist nämlich nicht eine
Privatsache, sondern eine gesellschaftliche Angelegenheit. Unsere Justizministerin wird sicherlich noch etwas
dazu sagen.
Frau Ministerin Bergmann hat klar und eindeutig darauf aufmerksam gemacht, dass Prävention, also Verhütung von Gewalt, eine große Aufgabe für uns alle in
dieser Gesellschaft ist: in den Schulen, um die alten Rollenklischees zu überwinden, in den Jugendzentren; überall muss thematisiert werden, dass Gewalt geächtet gehört.
({8})
Wir haben auch angesprochen, dass wir endlich etwas
gegen den Frauenhandel unternehmen wollen. Dieses
Thema wird auch von der Reform des § 19 des Ausländergesetzes mit erfasst. Wir brauchen das Zeugenschutzprogramm und deswegen eine Abschiebefrist von
mindestens vier Wochen. Aber wir brauchen ebenso Hilfen für die Frauen, die man nach Deutschland gelockt
und dann in die Prostitution gezwungen hat. Ihnen muss
auch in ihrem Heimatland geholfen werden. Es gibt ja
die Zusammenarbeit zwischen den nicht staatlichen Organisationen. Diese müssen wir stärken.
({9})
Wir brauchen - auch da waren wir in diesem Parlament einig - eine Gesetzgebung, die auch das Asylrecht
dahin gehend präzisiert, dass Genitalverstümmelung als
Grund für das Recht auf Asyl anerkannt wird. Wir hoffen, dass dies durch die europäische Gesetzgebung und
die Novellierung des Asylrechts ermöglicht wird. Ich
denke, dass wir uns darin einig sind.
({10})
Frau Kollegin Wolf,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Marschewski?
({0})
Ja.
Frau Kollegin, ich möchte folgende Frage stellen: Wie
können Sie durch die Neuformulierung des § 19 des
Ausländergesetzes Frauenhandel verhindern? Diese Frage würde ich gerne von Ihnen beantwortet haben. Öffnet
nicht vielmehr Ihre neue Formulierung dem Missbrauch
Tür und Tor, und ist es nicht richtig, dass mit der derzeitigen Regelung des § 19 alle schwierigen Fälle - es mag
Fälle geben, die verwaltungsmäßig problematisch entschieden worden sind - gelöst werden?
Alle Fälle werden
sicherlich nicht gelöst. Marieluise Beck hat ja darauf
hingewiesen, dass dieser Kataloghandel, also das Recht,
Frauen umzutauschen, oft deswegen ermöglicht wird,
weil die betroffenen Frauen kein eigenständiges Aufenthaltsrecht haben. Das heißt, die Ehemänner kündigen
einfach die Ehe auf, wenn ihnen die Ehe nicht passt.
Damit erledigt sich für den Mann das Problem, und die
Frau wird ausgewiesen. Halten Sie das für richtig? Ich
denke, die Neuformulierung des § 19 des Ausländergesetzes ist ein Schritt, um ein solches Vorgehen zu bekämpfen.
({0})
Sind Sie denn nicht wie ich der Auffassung, dass gerade
dieser Fall des Frauenhandels durch den bestehenden
§ 19 des Ausländergesetzes voll und ganz geregelt wird,
und zwar zur Zufriedenheit der misshandelten Frau?
Frau Kollegin, es ist wirklich so. Deswegen ist der § 19
in der neuen Form überflüssig. Das wird Ihnen jeder
Fachmann, jeder Jurist sagen.
Daher frage ich Sie: Sind Sie nicht der Meinung, dass
die bestehende Regelung gerade im Hinblick auf die
Verhinderung des Frauenhandels voll und ganz ausreicht? Ich bitte darum, diese Frage ganz konkret zu beantworten.
Wir gehen davon
aus, dass sie nicht ausreicht. Wenn Sie meinen, sie reiche aus, dann sehen Sie das eben anders; aber auch dann
schadet die Neuregelung nicht.
Kollegin Wolf, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen
Beck?
Ja.
Frau Kollegin, sind Sie mit mir der Auffassung, dass im
Gegensatz zu den Missbrauchsbefürchtungen von Herrn
Marschewski der eigentliche Missbrauch dann besteht,
wenn Männer mit ihren ausländischen Frauen, die sie
sich in einem Katalog ausgesucht haben, zum Notar gehen, die jeweilige Frau notariell auf alle Unterhaltsrechte verzichtet, der Mann mit der Ehe faktisch keine
Verpflichtung eingeht und die betroffene Frau finanziell,
aber auch ausländerrechtlich völlig schutzlos gestellt ist,
wenn ihr Mann seine Machtstellung in der Ehe auslebt?
Sollten wir nicht noch einmal darüber nachdenken, ob
damit die Ehe sittenwidrigerweise ausgehöhlt wird und
ob in diesem Zusammenhang nicht eine Missbrauchsregelung notwendig ist, die vielleicht auch von der
CDU/CSU im Sinne eines Schutzes der Ehe bzw. in diesen Fällen der Ehefrauen unterstützt wird?
Hanna Wolf ({0})
Herr Kollege Beck,
ich stimme voll mit Ihnen überein. Es wäre wirklich
angemessen - damit möchte ich auf den Vorwurf von
Herrn Uhl an sich selber dahin gehend, dass er hier als
Mann spricht, eingehen -, wenn sich angesichts dieses
Themas mehr Männer engagieren würden.
({0})
Letztendlich geht nämlich die Gewalt von den Männern
aus. Wer könnte Männern besser klarmachen, dass Gewalt geächtet werden muss? Männer können Männern
sehr viel besser sagen, dass es sich nicht gehört, so mit
Frauen umzugehen.
({1})
Das wäre eine große Hilfe. Folgenden Appell möchte
ich an das gesamte Parlament, an die Öffentlichkeit und
auch an alle Männer richten: Helft mit, dass Männer
Frauen nicht mehr mit Gewalt begegnen! Das wäre heute ein gutes Signal, das wir nach außen geben können.
({2})
Ich möchte mit folgendem Hinweis schließen: Mit
der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen bekämpfen
wir Gewalt als solche auch in unserer Gesellschaft. Ich
glaube, das bringt dieses Parlament heute mit dieser Debatte zum Ausdruck.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Max Stadler, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst
daran erinnern, dass die geltende Fassung des § 19 des
Ausländergesetzes in der letzten Legislaturperiode vom
Vermittlungsausschuss gestaltet worden ist, also faktisch
von einer großen Koalition. Entsprechend sah das Ergebnis aus: ein Zwitter, ein Formelkompromiss. SPD
und Grüne konnten Verbesserungen des eigenständigen
Aufenthaltsrechts von geschiedenen Ehegatten für sich
reklamieren, aber die Union, insbesondere die CSU,
konnte mit gleichem Recht gegenüber ihrer Wählerklientel behaupten, dass ausländische Ehegatten nach einer Scheidung weiterhin ausgewiesen und abgeschoben
werden. Kurzum: Dies war eine in sich widersprüchliche
Regelung mit unklarem Inhalt, die in den Ländern zu einer unterschiedlichen Verwaltungspraxis geführt hat.
Das kann so nicht bleiben.
({0})
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion unterstützt daher die
vorliegende Novelle des Ausländergesetzes insofern, als
die so genannten Härtefälle, bei denen ein eigenständiges Aufenthaltsrecht unabhängig von Fristen zuerkannt
wird, nunmehr präziser definiert sind. Fälle, wie in
Kempten geschehen - dieser Fall ist heute schon angesprochen worden -, sind künftig nicht mehr möglich.
Dies ist gegenüber der Gesetzeslage von 1996 eindeutig
ein Fortschritt.
({1})
Der Koalitionsentwurf in seiner ursprünglichen Fassung hatte aber eine Widersprüchlichkeit der alten Regelung beibehalten wollen. Auf Betreiben Bayerns war
1996 im Vermittlungsausschuss festgelegt worden, dass
trotz Vorliegens eines Härtefalls geschiedene ausländische Ehegatten ausgewiesen und abgeschoben werden
können, wenn sie sozialhilfeberechtigt sind. Graf
Lambsdorff hat dies damals als kleinlich und menschlich
schäbig kritisiert. Wir schließen an seine Kritik an.
Deswegen hat die F.D.P. im jetzigen Gesetzgebungsverfahren darauf hingewirkt, dass diese Sozialhilfeklausel
nur noch gilt, wenn der oder die Betroffene die Sozialhilfebedürftigkeit selbst zu vertreten hat, also etwa bei
grundloser Verweigerung der Annahme angebotener
Arbeit.
Dieser Änderungsantrag der F.D.P. war notwendig,
weil man den Frauen - um diese geht es im Wesentlichen - ansonsten Steine statt Brot gegeben hätte. Dann
nämlich wäre es zwar zu einer auf dem Papier großzügigeren Härtefallregelung gekommen, was aber durch
Beibehaltung der alten Sozialhilfeklausel sofort wieder
konterkariert worden wäre; denn in den kritischen Fällen
liegt meistens unverschuldete Sozialhilfebedürftigkeit
vor. Den betroffenen Frauen hätte daher weiterhin Ausweisung und Abschiebung gedroht.
Wir stellen mit Befriedigung fest, dass unser Änderungsantrag in den Ausschüssen von allen Fraktionen
mit Ausnahme der CDU/CSU unterstützt worden ist und
dieser Gesetzentwurf somit gegenüber der Fassung aus
der ersten Lesung im Interesse der Frauen in einem
Punkt entscheidend verbessert worden ist.
({2})
Von einer Zustimmung zur gesamten Neuregelung
trennt uns aber die Frage, wie einem denkbaren Missbrauch des eigenständigen Aufenthaltsrechts entgegengewirkt werden kann. Die Koalition ist der Meinung,
dass man einem solchen, immerhin denkbaren Missbrauch in Normalfällen, nicht also in Härtefällen, mit einer Fristsetzung von zwei Jahren Bestandsdauer der Ehe
in Deutschland entgegenwirken muss. Die F.D.P.Fraktion meint, diese Frist sei zu kurz bemessen und
sollte auf drei Jahre ausgeweitet werden.
Dieser Teil unseres Änderungsantrages ist in den
Ausschüssen abgelehnt worden. Wir wiederholen ihn
daher im Plenum in zweiter Lesung. Die F.D.P.-Fraktion
macht ihr Gesamtvotum vom Ausgang der Abstimmung
über diesen Änderungsantrag abhängig.
({3})
Nun erteile ich der
Bundesministerin Herta Däubler-Gmelin das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, es ist gut, wenn wir an einem Tag wie heute, in
einer Debatte, in der es insbesondere um die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen geht, gemeinsam und öffentlich drei Feststellungen treffen. Erste Feststellung:
Wir lehnen Gewalt ab, Gewalt ist unzulässig. Wir gehen
alle gemeinsam entschlossen gegen sie vor.
({0})
Wir wissen genau, dass dies nicht nur eine Frage der
Moral ist. Das betrifft vielmehr den Kern unseres
Selbstverständnisses in unserem Rechtsstaat und auch
unsere Rechtskultur.
Zweite Feststellung: Der Staat hat zentral die Aufgabe, Schwächere zu schützen, ihnen gegen Gewalt zu helfen und damit dazu beizutragen, dass Gewalt allgemein
zurückgedrängt wird.
({1})
Die dritte Feststellung, die wir alle gemeinsam treffen
sollten, ist, dass Opfern von Gewalt und Schwächeren
geholfen werden muss, dass das viel zu häufig Frauen,
Kinder und in zunehmendem Maße auch Ältere sind und
dass Gewalt viel zu häufig auch heute noch bzw. heute
wieder in Familien stattfindet.
Meine Damen und Herren, der Aktionsplan der Bundesregierung macht sehr gut deutlich, dass wir Gewalt,
gerade auch Gewalt in der Familie, mit unterschiedlichen Instrumenten, mit unterschiedlichen Mitteln und
auf unterschiedlichen Wegen bekämpfen müssen, wenn
wir erfolgreich sein wollen. Diese rot-grüne Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, erfolgreich zu sein.
Das sind wir den Schwächeren und den Opfern schuldig.
({2})
Meine Damen und Herren, ich habe mich über das,
was die Kollegin Falk zur Gewalt in der Familie gesagt
hat, sehr gefreut. Ich denke, das ist ein richtiger Ansatz.
Darauf sollten wir unsere gemeinsame Politik über die
Parteigrenzen hinweg aufbauen. Aber lassen Sie mich
eines hinzufügen: Gewalt in den Familien ist aus mehreren Gründen besonders problematisch. Sie ist über das
Leiden der Opfer hinaus problematisch. Warum ist sie
das? Sie ist es, weil wir ganz genau wissen, dass Gewalt
dort gelernt und weitergegeben wird. Frau Falk, Kinder
werden nicht gewalttätig oder als Schläger geboren,
sondern sie werden durch eigene leidvolle Erfahrungen
und schlechte Vorbilder zu Gewalt gebracht, sie werden
durch Gewalttätige und Schläger zu Gewalt und auf die
schiefe Ebene gezogen. Genau deshalb müssen wir hier
eingreifen.
({3})
Wir müssen auf verschiedenen Ebenen aber auch dadurch eingreifen, dass wir Gewalt in der Erziehung,
Gewalt als Erziehungsmittel durch Gesetz ächten. Wir
müssen dies allen Menschen, die dies noch nicht wissen
und uns zuhören, klarmachen und mit ihnen besprechen.
Wir zielen damit auf das Bewusstsein der Öffentlichkeit,
wir zielen auf den guten Willen der Eltern, zu erkennen,
dass man mit Gewalt nichts erreicht, außer Menschen
gewaltgeneigter zu machen. Erziehung findet dadurch
nicht statt. Es ist richtig, die Fähigkeit zur Erziehung zu
stärken. Auch das ist Teil der Politik dieser Bundesregierung. Dazu brauchen wir natürlich auch die Eltern.
Wir brauchen aber auch die Jugendämter, wir brauchen
alle, die guten Willens sind. Aber Erziehung und Erziehungsfähigkeit zu stärken ist das eine, deutlich zu machen, dass Gewalt nicht zur Erziehung gehört, ist das
andere. Das können wir als Bundesgesetzgeber sehr
deutlich machen.
({4})
Wir wollen auch deutlich machen, dass Erziehung
Fördern und Fordern bedeutet, dass Erziehung bedeutet
Vorbild zu sein, dass Erziehung bedeutet, das Selbstbewusstsein von Kindern zu stärken, und dass Erziehung
hin zu Solidarität, zu Menschlichkeit, aber auch zu
Selbstbewusstsein und demokratischem Verhalten führen muss. Gerade darauf, meine Damen und Herren von
der Opposition, müssen Kinder ein Recht haben, wenn
es wirksam sein soll.
({5})
Deshalb werben wir auch bei Ihnen für das Gesetz zur
Ächtung von Gewalt in der Erziehung.
Wir müssen auch auf anderen Wegen gegen Gewalt
vorgehen. Wir müssen den Opfern helfen. Deshalb haben wir das Gesetz zum Täter-Opfer-Ausgleich gemacht. Deswegen haben die Justizministerinnen und
Justizminister auf europäischer Ebene endlich Maßnahmen zur Verhinderung und Bekämpfung des Frauenhandels eingeleitet. Natürlich dauert das lange. Natürlich ist das kompliziert. Aber wir haben einen Anfang
gemacht, und mit der Unterstützung des gesamten Hauses, des gesamten Parlaments, werden wir ein Stück
weiter kommen.
({6})
Das Nächste ist deshalb der Gesetzentwurf, den ich
heute hier vorstelle und der jetzt in das parlamentarische
Gesetzgebungsverfahren kommt. Frau Falk, ich dachte
übrigens, dass heute der richtige Zeitpunkt und der
Deutsche Bundestag der richtige Ort ist, um das zu tun.
Gerade deswegen haben wir unser Gewaltschutzgesetz
vorgelegt und wollen es als Teil des Aktionsplans, der
von der Kollegin Bergmann vorgestellt wurde, gegen
Gewalt einsetzen.
Was erreichen wir damit? Wir verstärken den zivilrechtlichen Schutz für gequälte und geschlagene Frauen. Wir haben im Zivilrecht heute schon einige Möglichkeiten. Ansprüche auf Unterlassung, auf Schadenersatz, auf Schmerzensgeld und bisweilen auch - bei Vorliegen der Voraussetzungen - auf Zuweisung der gemeinsamen Wohnung. Aber wir wissen genau, dass die
Durchsetzung dieser Ansprüche im täglichen Leben
bisweilen zu viel Mühe erfordert. Die Durchsetzung der
Ansprüche müssen wir erleichtern und ergänzen und das
versuchen wir.
Wie machen wir das? Unser Gesetzentwurf sieht zwei
wesentliche Dinge vor: einmal die Erleichterung der
Wohnungszuweisung - -
({7})
Liebe Kollegen und
Kolleginnen, wir werden offensichtlich darüber informiert, was wir gerade behandeln. Ein herzliches Dankeschön!
({0})
Lassen Sie mich noch einmal da beginnen, wo
wir von der Stimme aus dem Hintergrund unterbrochen
wurden. Wie machen wir das? Wir tun das durch zwei
wesentliche Neuerungen. Einmal erleichtern wir die
Wohnungszuweisung. Das ist gut und richtig. Bisher seit in den siebziger Jahren; und es war schwer, das damals durchzusetzen, - hatten geschlagene Frauen und
deren Kinder letztlich nur noch die Möglichkeit, ins
Frauenhaus zu gehen. Es ist ein Glück, dass es die gibt.
Frauenhäuser sind dringend nötig und jeder, der seinen
Beitrag dazu leisten kann, sie zu unterstützen, muss dies
tun.
({0})
Aber eigentlich empört sich da doch unser Rechtsbewusstsein. Ich bin ganz sicher, dass auch das über die
Fraktionen und Parteien dieses Hauses hinweg so ist. Es
empört unser Rechtsbewusstsein, wenn das Opfer, die
geschlagene Frau, ins Frauenhaus flüchten muss, während der Täter, der Schläger, der prügelnde Mann, der
den Mietvertrag unterschrieben hat, die Wohnung behalten darf.
({1})
Weil uns das empört und weil es nicht richtig ist und der
Aufgabe des Staates, Schwächeren zu helfen, geradezu
ins Gesicht schlägt, sagen wir: Wir drehen das um und
verpflichten den Schläger zu gehen, während die Geschlagene bleibt.
({2})
Das ist das Ziel. Dazu brauchen wir die Möglichkeit der
Erleichterung der Wohnungszuweisung.
Als Zweites schaffen wir die Möglichkeit für neue
gerichtliche Anordnungen, Menschen, insbesondere
prügelnden Männern, vorzuschreiben, wie sie sich in
Zukunft nicht mehr verhalten dürfen. Wir schaffen die
Möglichkeit, durch Anordnung Hausverbote und Belästigungsverbote sowie Verbote, sich geschlagenen Ehefrauen oder den Kindern zu nähern, auszusprechen. Wir
sanktionieren das bei Nichteinhaltung der Anordnung
mit Ordnungsgeld und unter Umständen Ordnungshaft.
Ich sage hier ganz offen: Es steht noch nicht fest, ob
wir nicht später, wenn die Praxis das verlangt, mit Bußgeld - oder Strafvorschriften nachlegen müssen. Das alles wird noch zu diskutieren sein. Eines ist aber auf jeden Fall wichtig: Solche Anordnungen werden nicht nur
dann ergehen, wenn bereits geschlagen wurde bzw. wie die Juristen es nennen - die Verletzung bereits erfolgt ist. Wir setzen die Bedrohung mit der Verletzung
gleich. Deswegen soll es auch vorbeugend Anordnungen
treffen. Ich glaube, dass ist genau das, was wir brauchen.
({3})
Wir wissen genau: Die Österreicher haben damit gute
Erfahrungen gemacht. Sie haben auch deshalb gute Erfahrungen gemacht, weil sie nicht nur Gesetze geändert
haben, sondern weil es ihnen gelungen ist, mit der Öffentlichkeit und auch mit gutwilligen Männern - also
genau auf die Weise, die die Kolleginnen Schmidt und
Wolf hier vorgetragen haben - in das Bewusstsein der
Menschen und der Männer hinein zu wirken und Änderungen zu erreichen. Das haben auch wir vor.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden jetzt einen Teil vermissen, den Frau Falk angesprochen hat.
Auch ich will dazu etwas sagen. In Österreich sind Justiz und Polizei Aufgaben der zentralen Regierung. Dort
können vorläufige polizeiliche Wegweisungsrechte auf
Bundesebene geregelt werden. Wir können das nicht.
Wir haben den Ländern schon vor mehr als einem halben Jahr geschrieben und sie gebeten, zu überprüfen, ob
und gegebenenfalls wie polizeiliche Wegweisungsrechte
rechtsstaatlich verwirklicht werden können. Ich schließe
mich Ihrem Appell an die Länder, so wie ich ihn verstanden habe, an, sehr schnell in die Prüfung einzutreten.
Selbstverständlich helfen wir gern dabei.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erfahrungen
sind, wie gesagt, gut. Wir möchten, dass dieser Aktionsplan über den heutigen Tag hinaus ernst genommen
wird, dass darüber beraten wird und dass wir mit einer
möglichst breiten Unterstützung des Deutschen Bundestages in der Öffentlichkeit sagen können: Wir schützen
Schwächere und wir sind gegen Gewalt. Das ist das Signal für die Öffentlichkeit, das wir brauchen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen zur Änderung des Ausländergesetzes.
Zur Abstimmung hat die Kollegin Jelpke eine schrift-
liche Erklärung abgegeben.*)
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P.
auf Drucksache 14/2917 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der
F.D.P.-Fraktion? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist der Änderungsantrag mit den
Stimmen der SPD, von Bündnis 90/Die Grünen, der
Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion und der PDS-Fraktion
gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion und einige
Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.
Wer stimmt nun für den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und der PDS-Fraktion sowie einigen Stimmen aus der F.D.P.-Fraktion und einer Stimme aus der
CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der Mehrheit
der CDU/CSU-Fraktion bei einigen Stimmenthaltungen
aus der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
({0})
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der SPD-Fraktion, von
Bündnis 90/Die Grünen, der PDS-Fraktion, einigen
Stimmen aus der F.D.P.-Fraktion und zwei Stimmen aus
der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der großen
Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion bei einigen Stimmenthaltungen aus der F.D.P.-Fraktion angenommen worden.
({1})
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/2812 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Jürgen Rüttgers, Erwin Marschewski ({2}), Norbert Geis, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Modernes europäisches Asyl- und Ausländer-
recht
*) Anlage 4
- Drucksache 14/2695 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheit der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aufgrund einer Initiative der CDU/CSU-Bundestagsfraktion debattieren wir
heute über die Frage, was die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit den anderen Ländern der Europäischen Union unternehmen muss, um die dringend notwendige Harmonisierung des Asyl- und Ausländerrechts zügig voranzutreiben.
({0})
Die Erörterung unseres Antrages kann jedoch nicht isoliert von anderen ausländer- und asylrechtlichen Fragen
erfolgen, die uns hier im Parlament, aber auch und vor
allem die Menschen im Lande intensiv beschäftigen.
Wir haben uns in den vergangenen Jahren viel zu
lange mit der Erörterung der Frage beschäftigt, ob
Deutschland nun ein Einwanderungsland sei oder
nicht. Ob man die Bundesrepublik als Einwanderungsland bezeichnet oder nicht, ist ausschließlich eine Frage
der Definition, ohne dass mit der Beantwortung der Frage mit Ja oder Nein irgendein Erkenntnisfortschritt oder
gar eine sachliche Problemlösung verbunden wäre. Im
Gegenteil: Wer sich ständig nur mit dieser Frage beschäftigt und sie je nach politischer Interessenlage mit Ja
oder Nein beantwortet, gerät leicht in die Gefahr, die
wirklich wichtigen Fragen des deutschen Asyl- und Ausländerrechts sowie einer europäischen Harmonisierung
auf diesem Gebiet zu vernachlässigen.
Man kann diese Frage deskriptiv oder normativ beantworten. Wer die Ansicht vertritt, dass jedes Land ein
Einwanderungsland ist, in das Angehörige ausländischer
Staaten einreisen, um sich dort auf Dauer niederzulassen, der wird bei einer Zahl von über 7 Millionen Ausländern selbstverständlich behaupten, dass Deutschland
ein Einwanderungsland ist. Wer mit guten Argumenten
die Auffassung vertritt, dass man richtigerweise nur solche Länder als Einwanderungsländer bezeichnen könne,
die sich gezielt und nachhaltig um Einwanderung bemühen, der kann die Bundesrepublik selbstverständlich
nicht als Einwanderungsland bezeichnen,
({1})
da wir spätestens seit dem Anwerbestopp aus dem Jahre
1973 aus guten innerstaatlichen Gründen nicht mehr um
Zuwanderung werben.
Angesichts des Umstandes, dass wir uns durch die
Erörterung dieser Frage seit langer Zeit rhetorisch immer wieder im Kreise drehen, plädiere ich mit Nachdruck dafür, dass wir uns alle gemeinsam von Schlagworten und Überschriften lösen
({2})
und uns stattdessen mit Inhalten, also mit den Problemen
und Chancen unseres Landes beschäftigen.
({3})
Eine ähnlich skurrile Debatte führen wir derzeit zu
dem Thema Videoüberwachung von öffentlichen Räumen. Niemand in der Union denkt daran, die Republik
einer flächendeckenden Videoüberwachung zu unterziehen. Es geht nur um die Frage, ob Videoeinsatz an einigen ausgewählten Kriminalitätsbrennpunkten sinnvoll
sein könnte - und wenn ja, wie man datenschutzrechtlichen Bedenken Rechnung tragen kann. Um alles andere geht es bei dieser Frage nicht. Ich bin der festen Überzeugung: Die Menschen in der Republik sind es leid,
dass wir uns nicht selten um des Streites willen streiten;
sie verlangen stattdessen von uns, dass wir Probleme
nicht nur analysieren, sondern auch lösen.
({4})
Was wir gerade auf dem ebenso wichtigen wie sensiblen Gebiet des Ausländer- und Asylrechts benötigen,
ist eine von jeder Ideologie befreite Erörterung der Frage: Was ist gut und notwendig für die Zukunft unseres
Landes und die Menschen, die hier leben? Ich bin sehr
dafür, dass wir Debatten zur Ausländerpolitik zwar nicht
emotionslos, aber dass wir sie ruhig und sachlich führen.
({5})
Aber es kann nicht sein, dass bestimmte Sachverhalte
nur von Sozialdemokraten, aber nicht von den Mitgliedern der Union erwähnt werden dürfen, weil es dann sofort eine straff organisierte Empörung der politisch Korrekten gibt.
({6})
Der Bundesinnenminister hat vor einigen Monaten
völlig zutreffend festgestellt - ich zitiere -:
Die Grenze der Belastbarkeit der Bundesrepublik
durch Zuwanderung ist überschritten.
Rustikal formuliert: Das Boot ist nicht nur voll, sondern
überfüllt.
Meine Damen und Herren, was wäre eigentlich passiert, wenn sich ein Innenminister von CDU oder CSU
derart geäußert hätte? - Mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit wäre eine Welle der Empörung
durch unser Land gegangen, vorneweg die Sozialdemokraten, und vermutlich wäre Ausländerfeindlichkeit der
allermildeste Vorwurf gewesen.
({7})
Doch wenn der Kollege Jürgen Rüttgers nur zutreffend darauf hinweist, dass es wesentlich sinnvoller ist, in
die Ausbildung unserer Kinder und die Qualifizierung
von Erwerbslosen zu investieren, statt in den Entwicklungs- und Schwellenländern dringend benötigte
Fachkräfte abzuwerben, muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, dies sei - so Müntefering wörtlich - „Hetze
gegen Minderheiten“.
({8})
Auf diesem Niveau kann man auf SPD-Parteitagen Erregungszustände organisieren, aber man löst kein einziges Problem.
({9})
Es ist für uns immer von Interesse, was ein Innenminister öffentlich äußert. Aber uns und die deutsche Öffentlichkeit interessiert viel mehr, was er eigentlich unternimmt, um unser Land von der von ihm persönlich
diagnostizierten Überbelastung zu entlasten. All das,
was wir an konkreter Politik erleben oder an Planungen
erfahren, deutet nicht auf Begrenzung, sondern auf einen
stärkeren Zuzug hin.
Beispielhaft erwähnen möchte ich die so genannte liberalere Visapolitik. Sie soll eine Abkehr von der Politik der Union sein, unter deren Regierung - so Ihr Vorwurf - das Verhindern illegaler Einreise sehr stark im
Vordergrund gestanden habe. Jawohl, wir wollten nicht,
dass Besuchsvisa für einen illegalen Daueraufenthalt
missbraucht werden. Das soll jetzt geändert werden. Im
Klartext: Der Innenminister stellt fest, dass die Grenze
der Belastbarkeit überschritten ist. Der Kollege Außenminister organisiert gleichzeitig eine Abkehr von dem
Ziel, die illegale Einwanderung durch Visamissbrauch
so weit wie eben möglich zu unterbinden.
Zum Themenkomplex „Straffälligkeit von Ausländern und deren Konsequenzen“ steuerte unser heutiger
Bundeskanzler als damaliger Ministerpräsident von Niedersachsen mit der ihm eigenen Präzision und Sensibilität unter anderem Folgendes bei:
Beim organisierten Autodiebstahl sind die Polen
nun einmal besonders aktiv. Das Geschäft mit der
Prostitution wird beherrscht von der Russenmafia.
Wer das Gastrecht missbraucht, für den gibt es nur
eins: Raus, und zwar schnell.
Bleiben Sie ruhig. Er ist Ihr Kanzler.
Man darf gar nicht daran denken, was in unserem
Land geschehen wäre, wenn sich ein Politiker der Union
so geäußert hätte. Wie hat sich der Bundeskanzler tatsächlich verhalten? Unsere Vorschläge für ein strengeres
Recht zur Ausweisung von ausländischen Straftätern
wurde auch von ihm im Parlament abgelehnt. Wir brauchen eine ruhige, ideologiefreie Istanalyse, mit dem
Ziel, Ursachen von Fehlentwicklungen zu vermeiden.
({10})
Durch die seit Jahrzehnten andauernde starke Zuwanderung, insbesondere von Asyl begehrenden
Ausländern und Bürgerkriegsflüchtlingen, trägt unser
Land eine Last, die es auf Dauer nicht tragen kann. Frau
Kollegin Beck, Sie können ganz entspannt bleiben. Ich
kenne die Zahlen und weiß, dass der Fortzug von Ausländern in den beiden letzten Jahren sogar stärker war
als der Zuzug. Ich möchte keine falschen Sachverhalte
vortäuschen. Aber unter den - im Saldo - 90 000 Auswanderern waren 89 000 bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge, die man nur einmal in ihr Heimatland zurückführen kann. In den letzten zehn Jahren betrug der durchschnittliche Nettozuzug 200 000. Das macht nach Adam
Riese einen Nettozuzug von 2 Millionen innerhalb eines
Zeitraumes von zehn Jahren. Das muss man sagen dürfen. Das hat mit latentem Rassismus überhaupt nichts zu
tun.
({11})
Dies ist insbesondere nachteilig für die Menschen, die
zu uns kommen und von denen die meisten auf Dauer
mit uns gemeinsam leben werden. Ein starker Zuzug ist
in aller Regel nicht integrationsfördernd, sondern integrationshemmend. Wenn für die Zukunft unseres Landes
irgendetwas von überragender Bedeutung ist, dann ist es
eine gelungene Integration aller Migranten, die dauerhaft und rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland
leben möchten. Deshalb wollen wir den Zuzug von
Nicht-EU-Ausländern weiter begrenzen.
Wir wollen innerhalb der EU eine gerechtere Verteilung derjenigen Belastungen, die mit der Aufnahme einer großen Zahl von Asyl begehrenden Ausländern und
Bürgerkriegsflüchtlingen zwangsläufig verbunden sind.
Wir wollen und müssen auf allen staatlichen Ebenen die
Bemühungen um eine bessere und schnellere Integration
der hier rechtmäßig und dauerhaft lebenden Ausländern
verstärken. Dazu haben wir im vergangenen Jahr ein
schlüssiges und kluges Konzept vorgelegt. Es wurde ohne inhaltliche Auseinandersetzung oder fundierte Sachkritik von Rot-Grün niedergestimmt. Von Alternativen
fehlt derzeit jede Spur.
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition, unsere Sorgen hinsichtlich einer Überbelastung der Aufnahme- und Integrationskapazität unseres
Landes nicht teilen, so darf ich an ein Zitat von Willy
Brandt erinnern:
Es ist notwendig geworden, dass wir uns sorgsam
überlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft und
Verantwortung Halt gebieten.
Dieses Zitat stammt aus dem Jahre 1973, als der Ausländeranteil in der Bundesrepublik Deutschland um ein
Drittel geringer war als heute.
Natürlich muss und wird ein reiches Land wie die
Bundesrepublik Deutschland auch zukünftig aus humanitären Gründen politisch Verfolgten oder von Krieg
und anderen Katastrophen Heimgesuchten Zuflucht bieten. Das ist gar keine Frage. Es geht doch nur um die
Größenordnung und darum, dass wir nicht alleine und
auf Dauer eine Last tragen können, die die meisten europäischen Länder nicht tragen können oder nicht tragen
wollen. Wir können nicht alle Probleme dieser Welt auf
dem Boden der Bundesrepublik lösen, ohne unser Land
und die hier lebenden Menschen zu überfordern.
Deshalb sagen wir in unserem Antrag: Es muss vorrangiges Ziel der EU-Politik sein, die Fluchtursachen
vorbeugend in den Herkunftsländern, in den Krisenregionen zu bekämpfen. Das hilft den betroffenen Menschen und es vermeidet unkontrollierte Wanderungsbewegungen.
Es wird höchste Zeit, dass wir uns nicht heute mit jener und morgen mit einer ganz anderen ausländerrechtlichen Frage beschäftigen. Vielmehr müssen wir uns einmal ideologiefrei mit der Beantwortung der Frage befassen: Welche Ausländer- und Zuwanderungspolitik ist im
Interesse der Bundesrepublik Deutschland und der Menschen, die hier leben? Ich füge hinzu: Es ist ganz gleich,
welche Staatsangehörigkeit sie haben.
In diesem Zusammenhang muss auch die Frage erlaubt sein, ob wir uns auf Dauer unser derzeitiges weltweit einzigartiges Asylrecht erlauben können, obwohl
wir genau wissen, dass die Anerkennungsquote bei nur
circa drei Prozent liegt und dass die Rückführung der
rechtmäßig abgelehnten Asylbewerber oft mit großen
Problemen verbunden oder ganz und gar unmöglich ist von den Vorkommnissen in Bremen, über die sich die
Menschen zu Recht empören, ganz zu schweigen.
Niemand in der Union will das Asylrecht abschaffen.
Aber wer es auf Dauer für die wirklich politisch Verfolgten erhalten will, muss bereit sein, es so zu reformieren, dass ein ganz überwiegender Missbrauch von
97 Prozent so weit wie eben möglich verhindert werden
kann.
({12})
Deshalb sollten wir einmal in aller Ruhe ohne gegenseitige Schuldzuweisungen darüber nachdenken, ob es
aus vielfältigen Gründen nicht wirklich notwendig wäre,
das derzeitige individuelle Asylgrundrecht in eine institutionelle Garantie abzuändern. Ich halte es für möglich,
dass wir dann, wenn wir die gerade geschilderten Probleme einer Lösung zuführen, neue Spielräume für Zuwanderung aus einem wohlverstandenen eigenen nationalen Interesse gewinnen: zur Behebung eines Fachkräftemangels für Investoren und Wachstumschancen für
Forschung und Lehre.
Aber wir können nicht gleichzeitig - das ist unser
Punkt - einen ungesteuerten und unsteuerbaren Zuzug
beibehalten, im europäischen Vergleich überproportionale Lasten tragen, durch Verwaltungsvollzug Einreiseanreize schaffen und darüber hinaus weltweit 10 000
oder mehr Arbeitnehmer anwerben.
Wir wollen auch vorurteilsfrei die Absicht - unter der
Überschrift Green Card - diskutieren, eine neue Zuwanderung von Fachkräften im Interesse der deutschen
Wirtschaft zu organisieren, wohl wissend, dass diese
Idee nichts mit der US-amerikanischen Green Card zu
tun hat. Der Kanzler hat sich das wohl so vorgestellt,
dass EDV-Spezialisten aus Osteuropa oder dem indischen Subkontinent für fünf Jahre in die Bundesrepublik
einreisen - ob mit oder ohne Familie, schauen wir mal.
Während dieser Zeit legt sich die Wirtschaft mächtig ins
Zeug und bildet aus. Wenn dann die Aus- und Fortgebildeten dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, gehen
die Angeworbenen am nächsten Tag wieder nach Osteuropa oder Indien zurück.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen hier
nicht über seelenlose Roboter, sondern über Menschen.
({13})
Die Erfahrungen der Vergangenheit lehren uns, dass
nicht alle, aber sehr viele Arbeitsmigranten bei Fristablauf nur einen einzigen Wunsch haben, nämlich den,
auf Dauer in der Bundesrepublik bleiben zu können. Der
Wunsch ist menschlich verständlich. Er kollidiert aber
mit der richtigen Feststellung des Innenministers, dass
die Grenzen der Belastbarkeit durch Zuwanderung überschritten sind.
Will die Bundesregierung, dass sich die Menschen
und die Familien bei uns integrieren? Wenn ja, wie kann
man sie dann nach Fristablauf - nach dem Motto: Der
Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen - wieder nach Hause schicken? Wenn nein, kann eine Desintegration in unserem Interesse sein? Wir sind
nicht aus Prinzip oder Ideologie gegen die Initiative.
Aber wir haben viele Fragen und wir erwarten, dass sie
hier im Parlament erörtert und entschieden werden, bevor die Bundesregierung Fakten schafft, die nicht mehr
zu ändern sind.
({14})
Welche Institution hat wann und auf welche Art und
Weise präzise ermittelt, welche Computerspezialisten
genau und wie viele Fachkräfte in der Branche fehlen,
die auf absehbare Zeit weder in der Bundesrepublik
noch in der EU für die Besetzung freier Arbeitsplätze
gewonnen oder ausgebildet werden können?
Welche geradezu revolutionäre Entwicklung hat es
eigentlich in den vergangenen sechs Wochen - sechs
Wochen, nicht sechs Jahren! - auf dem deutschen Arbeitsmarkt gegeben? Die Frage stellt sich deshalb, weil
der Kollege Johannes Singhammer Anfang des Jahres
die Bundesregierung gefragt hat, ob sie daran denke, irgendwelche Änderungen bei der Zulassungsbeschränkung für ausländische Arbeitskräfte vorzunehmen.
Anfang Februar 2000 hat die Bundesregierung diese
Frage verneint: Es sei gegenwärtig nicht daran gedacht,
irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen, die den Zugang
zum deutschen Arbeitsmarkt erleichtern können. Ich
frage also: Was hat sich in den letzten sechs Wochen
Revolutionäres ereignet?
({15})
Die „Rheinpfalz“ hat in der Ausgabe vom 10. März
gemeldet, dass in Rheinland-Pfalz 500 offenen Stellen in
der informationsverarbeitenden Wirtschaft 1 100 arbeitssuchende Datenverarbeitungsfachleute gegenüberstünden. Warum ist die Arbeitsmarktlage in RheinlandPfalz auf diesem Sektor eine völlig andere als im Rest
der Republik?
Welche Argumente gibt es dafür, dass die Beschäftigung von ausländischen Arbeitnehmern nur einer einzigen Branche gestattet werden soll, nicht jedoch gleichzeitig anderen Branchen, die ebenfalls über Fachkräftemangel klagen? Anders formuliert: Warum soll ein Zuzug für die Pflege von EDV-Programmen möglich sein,
nicht aber ein Zuzug zur Pflege von alten und kranken
Menschen?
({16})
An einem einzigen Tag konnte man in drei verschiedenen Zeitungen drei verschiedene Zahlen über den
Fachkräftemangel auf dem Computersektor lesen. An
diesem Tag waren beispielsweise 60 000, 70 000 bzw.
100 000 im Angebot. Nach Lage der Dinge ist davon
auszugehen, dass die Zahl der fehlenden Fachkräfte mit
der Dauer der Debatte steigt.
Angenommen, die Zahl 60 000 ist richtig: Wenn aber,
wie angekündigt, zunächst nur 10 000 Einwanderungserlaubnisse erteilt werden sollen, wer bzw. welche Behörde entscheidet dann nach welchen Kriterien, welcher
Betrieb wie viele Zuwanderungs- und Arbeitserlaubnisse
erhalten soll? Wer garantiert, dass kleine und mittelständische Unternehmen im Wettlauf um die Spezialisten
die gleichen Chancen haben wie IBM?
Angenommen, dass nach Fristablauf viele Arbeitsmigranten auf Dauer in der Bundesrepublik bleiben wollen, aber nicht mehr benötigt werden: Wer soll dann die
Rückführung organisieren? Machen das die Betriebe
oder handelt auch hier der Bundeskanzler höchstpersönlich? Wieso kann das Bildungssystem Osteuropas oder
Indiens etwas leisten, was angeblich weder das deutsche
noch die Bildungssysteme in allen anderen EU-Ländern
leisten können?
({17})
Kann es im Interesse der Entwicklungs- oder Schwellenländer sein, wenn eine reiche Industrienation wie
Deutschland dort die besten Fachkräfte abwirbt?
({18})
Meine Damen und Herren, im Jahre 1973 betrug die
Zahl der Arbeitslosen im Durchschnitt 274 000. Diese
Zahl war so hoch, dass sich die sozialliberale Bundesregierung veranlasst sah, einen Anwerbestopp zu erlassen.
Heute registrieren wir 4 Millionen Arbeitslose, darunter
32 000 Computerfachkräfte. Wir wollen gar nicht verhehlen, dass es auch gute Argumente für die Aktion geben kann. Es gibt aber auch berechtigte Zweifel an der
Sinnhaftigkeit. Von daher sollte dieses Thema im Deutschen Bundestag und nicht im Verwaltungsvollzug entschieden werden. Es mag zulässig sein, die gewünschte
Novellierung der so genannten AnwerbestoppausnahWolfgang Bosbach
nahmeverordnung am Parlament vorbei zu organisieren.
Das entspräche jedoch nicht der Intention des Gesetzgebers und auch nicht dem Sinn und Zweck dieser Verordnung.
Der Kollege Wiefelspütz hat in der Zeitung „Die
Welt“ auf die zukunftsweisende Bedeutung der Initiative
hingewiesen; er wird in diesem Zusammenhang wie
folgt zitiert:
Sie macht klar, dass Ausländer für die deutsche Gesellschaft sehr nützlich sein können.
Dann zieht er folgenden Vergleich:
Im Fußball haben wir das schon lange begriffen.
Lieber Herr Wiefelspütz, ich greife Ihren Vergleich gerne auf. Wir beide sind begeisterte Fußballfans, wir freuen uns beide, wenn Giovane Elber oder Zé Roberto am
Ball sind. Ihre sportlichen Leistungen haben dazu beigetragen, dass Bayern München und Bayer Leverkusen die
Tabelle anführen.
({19})
Aber, Herr Wiefelspütz, der Vergleich hinkt. Sie können
nicht ernsthaft behaupten, dass die hohe Zahl ausländischer Fußballspieler in der Bundesliga dazu beigetragen
hat, dass auch unsere Nationalmannschaft stärker geworden ist.
Das Gegenteil ist der Fall. Aber auch unsere Nationalmannschaft müsste Ihnen am Herzen liegen.
Deswegen dürfen wir die Diskussion nicht auf die
Frage verkürzen, was in einer bestimmten Situation für
ein bestimmtes Wirtschaftsunternehmen oder, um bei Ihrem Beispiel zu bleiben, für einen Fussballklub vorteilhaft sein kann, sondern wir müssen immer auch die Frage stellen, welches Interesse unser Land und die hier lebenden Menschen haben.
({20})
In diesem Sinne bieten wir der Bundesregierung und
den Koalitionsfraktionen eine offene und ehrliche Debatte und eine konstruktive Zusammenarbeit über alle
Fragen an, die für die Zukunft unseres Landes wichtig
sind.
Danke fürs Zuhören.
({21})
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Rüdiger Veit.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wenn dieses Angebot noch so
freundlich gemeint und formuliert wurde, können wir
nicht darauf zurückkommen; ich bitte dafür um Nachsicht. Die von der CDU/CSU für die Harmonisierung
des Asyl- und Ausländerrechts auf europäischer Ebene
genannten Gesichtspunkte offenbaren nicht nur einige
knackige Widersprüche in sich und untereinander, sondern sie beinhalten auch eine Reihe von auffällig unauffälligen Selbstverständlichkeiten, etwa Regelungen, die
entweder schon im geltenden deutschen Recht vorhanden sind oder aber sich in vielen europäischen Dokumenten wiederfinden, seien es nun Beschlüsse des Europäischen Parlaments, des Rates, der Kommission oder
seien es Bestimmungen des Amsterdamer Vertrages
vom 2. Oktober 1997 oder die Schlussfolgerungen von
Tampere aus dem Oktober 1999.
Was also ist das politische Ziel und mithin die wahre
Absicht dieser, wie ich finde, etwas zweifelhaften parlamentarischen Initiative der CDU/CSU? Es deutet sich
in der Begründung des Antrags an, aber auch in den
Ausführungen des Kollegen Bosbach, soweit er sich
nicht mit dem aktuellen Thema Green Card oder mit
Fußball befasst hat. Von der neu gewählten Fraktionsspitze, von den Herren Merz und Bosbach, ist Ihre Intention laut „Tagesspiegel“ von gestern ausdrücklich angesprochen worden. Das gilt auch für die Äußerungen Ihres innenpolitischen Sprechers Marschewski von gestern.
Es geht der CDU/CSU nicht um etwas wirklich „Modernes“, wie es in dem Antrag steht, auch nicht um eine
echte „Harmonisierung“ im positiven Sinne und offenbar schon gar nicht um die wirksame Verwirklichung
von Flüchtlings- und Menschenrechten nach europäischen Maßstäben oder denjenigen des Grundgesetzes.
Ganz offensichtlich geht es der CDU/CSU um die Abschaffung des individuellen, subjektiven und damit auch
einklagbaren Grundrechtes auf Gewährung von politischem Asyl, um eine radikale Abschottung gegenüber
Flüchtlingen und Zuwanderern und um ein Abdrücken
eines Teils unserer historisch bedingten Verantwortung
für Verfolgte in aller Welt in andere Staaten der Europäischen Union. Das ist inakzeptabel.
({0})
Das wird unsere Billigung nicht finden, sondern ebenso
abgelehnt, wie andere Initiativen im letzten Jahr abgelehnt worden sind, die Sie, Herr Bosbach, angesprochen
haben. Das haben wir nicht getan, weil wir parlamentarische Macht ausüben wollten, sondern weil wir Inhalte
zurückweisen mussten, die Sie für richtig halten.
Offenbar will nach dem Vorbild des einzigen Lügners
unter den derzeit amtierenden deutschen Ministerpräsidenten, den man in voller Legitimität so bezeichnen
kann und muss, also des Herrn Koch, der mithilfe einer
an Ausländerfeindlichkeit appellierenden Unterschriftenaktion zum Thema doppelte Staatsbürgerschaft an die
Macht gekommen ist, nunmehr Herr Rüttgers, der als
erster den Antrag unterschrieben hat - er hat auch das
Stichwort „Kinder statt Inder“ gegeben, das wir beanstandet haben -, den Wolf der ausländerfeindlichen Gesinnung unter dem Schafspelz der Europafreundlichkeit
verbergen. Aber man kann den Wolf noch erkennen.
Man merkt die Absicht und man ist verstimmt, meine
Damen und Herren.
({1})
Ja, es ist wahr: Deutschland hat im europäischen
Vergleich bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem
früheren Jugoslawien Beispielhaftes geleistet, sehr viel
mehr als viele andere europäischen Staaten getan. Das
war gut und richtig.
({2})
Insgesamt muss man natürlich im europäischen Konzert
irgendwann einmal zu vernünftigen Lastenverteilungen
kommen.
Genauso wahr ist aber auch - das sage ich an die
Adresse von Herrn Dr. Uhl, der in der Debatte vorhin
von Hunderttausenden gesprochen hat, die zu uns gekommen sind -, dass zwar in den Jahren 1991, 1992 und
1993 300 000 bis 400 000 Asylsuchende zu uns gekommen sind, dass aber diese Zahlen in der Zeit danach
drastisch und ständig rückläufig waren und bis zum heutigen Tage sind. In 1998 und 1999 lag die Zahl, Herr Dr.
Uhl, unter 100 000. Sie betrug im Jahr 1999 93 000.
Und auch dieser Punkt muss richtig gestellt werden:
3 bis 4 Prozent wurden in diesen Jahren als Asylberechtigte durch das Bundesamt anerkannt. Alle Erfahrung
lehrt, dass ungefähr noch einmal die gleiche Zahl vor
deutschen Gerichten anerkannt wird. Darüber hinaus
wird gerne verschwiegen, dass der Abschiebeschutz
nach den §§ 51 und 53 des Ausländergesetzes etwa
6 Prozent der Menschen zugesprochen wird. Dieser Anteil erhöht sich noch einmal im Laufe der gerichtlichen
Verfahren.
Wenn man dann noch die Zuwanderungen berücksichtigt, die mit Genehmigungen nach dem Ausländergesetz oder die im Rahmen der Freizügigkeit aus EUStaaten erfolgen, dann verstehe ich nicht, lieber Herr
Marschewski, wie Sie in der „Berliner Zeitung“ von gestern behaupten können, dass 95 Prozent - so war Ihre
Aussage - aller Ausländer illegal nach Deutschland kämen. Wie Sie auf diese Zahl kommen, bleibt Ihr Geheimnis.
Wann werden Sie in der CDU/CSU-Fraktion endlich
einmal erkennen - der erste Ansatz ist eben von Herrn
Bosbach gemacht worden -, dass wir einen so genannten
Negativsaldo in der Wanderungsbilanz haben, und zwar
dergestalt, dass in den beiden zurückliegenden Jahren
einige Zigtausende Menschen mit ausländischem Pass
mehr Deutschland verlassen haben, als zu uns gekommen sind? Wie wollen Sie denn mit Ihren Abschottungstendenzen diesem Umstand Rechnung tragen?
Sie sind, wie ich eingangs sagte, dabei auch noch in
sich widersprüchlich. Sie verlangen zwar in Ihrem Antrag - ich finde, zu Recht - die Definition des Flüchtlingsbegriffes nach Maßgabe der Genfer Flüchtlingskonvention, aber dabei ist vermutlich Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, dass zwar das europäische Regelwerk keinen individuell einklagbaren Rechtsanspruch
auf Asyl enthält, dass aber der Flüchtlingsbegriff nach
der Genfer Flüchtlingskonvention sehr wohl erheblich
weiter geht als geltendes deutsches Recht. Dies gilt im
Hinblick auf die Frage, ob subjektive Verfolgungsfurcht
als Asylgrund ausreichen kann, wenn sie objektiv begründbar ist, und ob nicht staatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung als Grund anerkannt werden.
Herr Kollege Veit,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Marschewski?
Ja, bitte sehr.
Herr Kollege, Sie sprechen von Widersprüchen bei der
CDU/CSU-Fraktion. Was sagen Sie aber zu den Äußerungen unseres verehrten Herrn Bundesinnenministers, der gesagt hat - Kollege Bosbach hat zu Recht darauf hingewiesen -, erstens sei die Grenze der Belastbarkeit überschritten und zweitens müsse das subjektive
Asylrecht geändert werden? Was sagen Sie zu dieser
Äußerung? Welche Auffassung hat die SPD-Fraktion zu
dieser Äußerung des Herrn Bundesinnenministers?
Ich halte diese Äußerung des
Bundesinnenministers nicht für zutreffend und teile sie
nicht. Mit Ihrer Erlaubnis wende ich mich wieder Ihren
Widersprüchen zu. Unsere Widersprüche lassen Sie unsere Sorge sein.
({0})
Gestatten Sie eine
zweite Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?
Ja.
Wollen Sie damit sagen, dass die Äußerung von Herrn
Schily falsch ist und dass Sie diese Äußerung verurteilen? Ist auch die SPD-Fraktion dieser Meinung? Welche
Konsequenzen wird die SPD-Fraktion aus der Diskrepanz zwischen den Auffassungen von Schily und von
Ihnen ziehen?
Ich sage dazu hier und auch an
anderer Stelle meine Meinung und werde auch nicht
müde, diese Meinung zu wiederholen. Ich respektiere
auch andere Auffassungen; auch mit Ihrer Auffassung
muss ich mich ja auseinander setzen.
({0})
Herr Kollege Veit, es
gibt vom Kollegen Uhl den Wunsch nach einer weiteren
Zwischenfrage.
Ja, bitte. Aber das ist die letzte
Frage, die ich zulasse.
Herr Kollege Veit,
Sie sind ja ein Mann der Praxis. Sie waren 13 Jahre
Landrat im Landkreis Gießen. Dort hatten Sie mit Ausländerrecht im Vollzug zu tun.
So ist es.
Innenminister
Schily hat gesagt, das Problem liege im Asylverfahren,
in der subjektiven Einklagbarkeit des Grundrechts auf
Asyl, in der Möglichkeit, das Verfahren zu verschleppen, Folgeanträge zu stellen und damit das Verfahren
über Jahre hinauszuziehen.
Wenn Sie die Meinung des Innenministers Schily nicht
teilen, frage ich Sie: Sind Sie der Meinung, dass Ihre
hier vertretene abweichende Position die Meinung Ihrer
früheren Mitarbeiter im Landratsamt Gießen ist?
Ich darf Ihnen sagen, dass es
von Seiten der SPD einen eindeutigen Beschluss des
Bundesparteitages in Berlin gibt, der besagt: Wir halten
an dem individuell einklagbaren Rechtsanspruch auf
Gewährung von politischem Asyl in Deutschland fest.
Das ist gut so. Das ist richtig so. Das sieht die SPDFraktion insgesamt auch so. Von daher bin ich der
Überzeugung, dass auch meine früheren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das genauso sehen, die sich im Übrigen im Landratsamt und in der zentralen Abschiebebehörde auch mit anderen Fluchtgründen und Flüchtlingen
haben auseinander setzen müssen.
({0})
- Sie waren nicht alle Sozialdemokraten, aber unter
meiner Führung wurden es ständig mehr, wenn Sie das
beruhigt.
({1})
- Ich warte noch auf das Ende Ihrer Zurufe, weil es vielleicht noch etwas Lustiges zu erwidern gibt.
Ich komme auf den zweiten Widerspruch zurück, von
dem ich meine, ihn in Ihrem Antrag zu erkennen, und
über den der Kollege Bosbach wenig geredet hat. Ich
nehme aber an, dass wir das im Ausschuss tun werden.
Der zweite Widerspruch liegt darin, dass Sie Flüchtlinge möglichst bereits außerhalb der Grenzen der EU
zurückhalten wollen, sie dort Asylanträge stellen sollen,
womöglich dann abgelehnt werden und gar nicht mehr
in das Gebiet der EU einreisen dürfen. Ist Ihnen dabei
entgangen, dass Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention das so genannte Refoulmentverbot enthält, also
das Zurückweisungsverbot, um es auch für die Zuhörer
einzudeutschen? Das beinhaltet den Rechtsanspruch
auch eines hier Asyl suchenden Flüchtlings, in Europa
einzureisen und seinen Anspruch geltend zu machen,
und zwar egal woher er kommt.
Außerdem - das möchte ich Ihnen auch vorhalten sprechen Sie in der Begründung von der Menschenrechtskonvention. Haben Sie übersehen, dass der Europäische Gerichtshof gerade in der jüngsten Zeit - das
halte ich für sehr beachtlich und für sehr wichtig - den
einklagbaren Abschiebeschutz für Flüchtlinge unter Berufung auf die Art. 3 und 8 der Menschenrechtskonvention eindeutig ausgeweitet hat?
({2})
Schließlich muss ich Sie noch daran erinnern, dass
der Amsterdamer Vertrag - den hat bekanntlich der
frühere Bundeskanzler und nicht Gerhard Schröder unterschrieben - ausdrücklich festlegt: Wir brauchen auf
europäischer Ebene Mindestnormen für die Aufnahme
von Asylbewerbern.
Herr Kollege Veit,
Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Danke sehr. Ich komme sofort
zum Ende. - Wir brauchen Mindestnormen für die Anerkennung als Flüchtling, Mindestnormen für das Asylverfahren, Mindestnormen für den vorübergehenden
Schutz. Das ist unsere Aufgabe, nicht etwa der Abbruch
weiter gehender nationaler Rechte. Diesen Bemühungen
erteilen wir jedenfalls eine klare Absage.
Ich muss zum Schluss kommen: Wir werden daher
Ihren Antrag ablehnen.
({0})
Wir werden uns darum bemühen, dass auch auf europäischer Ebene, wo es das nicht gibt, das individuelle,
subjektive Recht eines Einzelnen, Asyl zu gewähren,
verankert werden kann.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort für die
F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wir führen in diesem Hause
seit Jahren Ausländer-, Asyl- und Zuwanderungsdebatten. Der Bundesinnenminister hat ein Vokabular gebraucht, das der Herr Kollege Bosbach vorhin zu Recht
mit der kritischen Bemerkung belegt hat: Hätte sich jemand aus dem konservativen Spektrum der Bundesrepublik dieser Wortwahl bedient, wäre er öffentlich angeklagt worden.
({0})
Der Bundeskanzler hat dem Bundesinnenminister zuweilen assistiert. Seine Politik schwankt eigentlich zwischen grüner und roter Karte, je nach Belieben.
({1})
Die Grünen haben das Scheunentor Bundesrepublik
Deutschland immer offen gehalten und wissen genauso
wie wir, dass die Probleme aller Welt nicht auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland gelöst werden
können.
({2})
Die Kollegen der CDU/CSU haben aus meiner Sicht
in den letzten Jahren eine Debatte geführt, die überflüssig war. Herr Bosbach hat das heute Morgen zum ersten
Mal zugegeben. Wir brauchen nicht darüber zu diskutieren, ob wir ein Einwanderungsland sind. Die Debatte
ist gänzlich überflüssig. Die Menschen kommen zu uns.
Deshalb ist das Vokabular nicht die Streitfrage.
({3})
Wir diskutieren - das hat der Kollege Veit wieder getan - seit Jahren das Thema: Wie gestalten wir das
Grundrecht auf Asyl aus, wenn es manche gibt, die es
anders denn als Individualrecht ausgeprägt sehen wollen?
Jeder hier weiß: Asylverfahren in Deutschland dauern
lange. Die Unerträglichkeit des Bewerberverfahrens ist
jedem klar vor Augen geführt worden. Wir halten uns
mit Flughafenregelungen und mit Widersprüchen auf.
Unser Rechtsmittelstaat ist bis zum Ende ausgefeilt.
Manchmal bescheiden wir einem Menschen, dass er hier
kein Asyl genießt, obwohl er schon so lange bei uns ist,
dass es fast menschenunwürdig ist, dies zu tun.
Es herrscht überhaupt keine Klarheit. Die letzte Aktion des Bundeskanzlers mit der Green Card zeigt das im
Übrigen. Er hat wohl in Hannover gestanden und für die
informationstechnologische Branche etwas zugesagt,
über dessen bildungspolitische, zahlenmäßige und
menschliche Konsequenzen er sich gar nicht im Klaren
gewesen sein kann, als er die Zusage gegeben hat.
({4})
Wir haben 1998 und danach diesem Hohen Hause einen Gesetzentwurf über eine Zuwanderungsbegrenzung vorgelegt, den Sie alle im Innenausschuss abgelehnt haben, obwohl Sie genauso wie ich wissen: Wir
brauchen ein Einwanderungsgesetz.
({5})
- Es ist völlig egal, wie Sie das nennen. Nennen Sie es
„Einwanderungssteuerungsgesetz“! Die Bundesrepublik
Deutschland braucht eine gesetzliche Grundlage, um
nicht in solchen Mechanismen wie der Green Card zu
landen. Diejenigen Menschen, die zu uns kommen wollen, müssen wissen, woran sie sind.
({6})
Herr Veit, das heißt, dieses Land braucht eine Einwanderungspolitik, egal ob wir es als Einwanderungsland bezeichnen oder nicht.
({7})
- Ich habe nie behauptet, dass die letzte Regierung trotz
unserer Anstrengungen eine glückliche Einwanderungspolitik gemacht hätte. Aber Ihnen darf ich vorhalten: Sie
machen überhaupt keine!
({8})
Deshalb sollten wir ganz vorurteilsfrei diskutieren können, meine Damen und Herren von der parlamentarischen Linken.
Sie wissen genauso wie ich: Es gibt in Deutschland
eine begrenzte Anzahl von Wohnungen; es gibt eine begrenzte Aufnahmekapazität von Schulen in Deutschland
und es gibt einen begrenzten Arbeitsmarkt in Deutschland. Wer das nicht beachtet, der legt sozialen Sprengstoff. Wir haben das an verschiedenen Orten schon gespürt.
({9})
Daher ist es doch gut, wenn wir einmal Trennendes
beiseite legen und jetzt den Versuch unternehmen, uns
auf eine gesetzgeberische Beratung zu konzentrieren, die
nicht immer beim Asylrecht, bei der grünen Karte oder
bei Segmenten endet, sondern parteiübergreifend eine
Regelung für die Einwanderung nach Deutschland auf
den Weg bringt, in die die Arbeitsmarktlage plus die
Asylbewerberzahl eingebettet ist. Anders kann man
nicht verfahren.
Da unser Gesetzentwurf noch im Ausschuss liegt,
können wir ihn jederzeit wieder hervorholen. Wenn er
auf Bedenken stößt, dann gehen wir darauf ein. Die Zeit
ist reif für ein solches Gesetz. Ich sage das auch, weil
wir im letzten Jahr unter großen Anstrengungen die gesellschaftlich wichtige Frage einer modernen Staatsangehörigkeit gesetzlich geregelt haben. Lassen Sie uns in
diesem Jahr die gesellschaftlich wichtige Frage der
Wanderungsbewegung nach Deutschland unter eine klare gesetzliche Norm stellen.
({10})
Es wäre gut, wenn wir das täten, weil es im legitimen Interesse unseres Landes liegt, zu bestimmen, wie viele zu
uns kommen können und wer zu uns kommen kann.
({11})
Auch jede andere große Demokratie dieser Welt behandelt das so.
Dieses Vorgehen beinhaltet im Übrigen den größten
Respekt vor den Zukunftschancen derer, die zu uns
kommen. Sie kommen nicht nur mit der Green Card für
ein paar Jährchen, und dann als isolierte Arbeitnehmer;
vielmehr stehen deren Familien im Hintergrund, sie
entwickeln gesellschaftliche Bezüge und sie können nur
kommen, wenn die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft in der Schule, beim Wohnen und auf dem Arbeitsmarkt kräftig genug ist, um ihnen eine Integration
anzubieten.
Deshalb ist die isolierte Diskussion - heute über das
Individualrecht auf Asyl, morgen über die Green Card,
überhaupt über alles, aber bei Gott und der Welt nicht
über das Wichtigste, nämlich über eine gesetzliche Einwanderungssteuerungsregelung - so kurzatmig und so
falsch.
({12})
Ich biete allen Fraktionen namens der Freien Demokraten an, dass wir uns jetzt auf eine Einwanderungsregelung verständigen. Sie liegt ja auch vor.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz?
Ja, klar.
Herr Gerhardt, erkennen
Sie nicht an, dass wir die Chance der Initiative des
Kanzlers - bei einem Thema, das in Deutschland sehr
polarisierend debattiert wird, das verständlicherweise
und vielleicht auch, leider Gottes, angstbesetzt ist - zu
einer rationalen Debatte auf diesem Sektor nutzen sollten?
Herr Gerhardt, ich anerkenne, dass Sie aus der Opposition heute auf eine rationale Ausländerpolitik ganz offenbar mehr Einfluss haben, als Sie in der Regierung
hatten. Ich danke Ihnen ausdrücklich für Ihren Beitrag
zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Sie haben
aus der Opposition einen wichtigen Beitrag geleistet. Sie
könnten dies auch jetzt tun. Aber bitte: Nicht die Sache
zerreden! Die Initiative des Kanzlers hat, wie ich finde,
ein Denkverbot aufgebrochen, das sich viele auferlegt
haben, vielleicht auch der eine oder andere von uns.
Es ist die Chance, rational darüber zu reden: Was
bringt dieses Land weiter? Was nutzt diesem Land? Das
dürfen wir genau so tun, wie andere Gesellschaften es
auch tun, aber bitte nicht im Zusammenhang mit Asyl
und sonstigen Fragen. Und bitte - Sie sind ein erfahrener Politiker, Herr Gerhardt - überfrachten Sie nicht die
Debatte,
Kollege Wiefelspütz,
würden Sie bitte Ihre Frage formulieren?
- damit sie nicht vor die
Wand gefahren wird.
Ja, ich bin gegen
alle diese Vermutungen, die Sie mir gegenüber äußern,
wirklich gefeit, Herr Kollege Wiefelspütz. Ich überfordere die Debatte nicht; ich will sie nur auf den Kern
bringen. Ich nehme auch gern die Green-Card-Initiative
des Bundeskanzlers mit Ihrem Hinweis auf, er habe eine
Art Denkverbot durchbrochen, und bemühe mich, weiter
zu denken als der Herr Bundeskanzler.
({0})
Deshalb führt mich das Ende der Debatte eben nicht zu
einer isolierten Green-Card-Regelung. Wir gehen ja fair
miteinander um; Sie können ruhig wieder Platz nehmen.
Ich möchte die Gelegenheit Ihrer Frage auch nutzen,
um zu sagen, was mich zu meiner Wortmeldung heute
Morgen veranlasst hat. Es geht mir darum, die Debatte
nicht allein den Fachsprechern der Fraktionen zu überlassen, die sich immer mit Asylfragen beschäftigen,
({1})
sie nicht allein den Arbeitsmarktpolitikern zu überlassen, die nur den Arbeitsmarkt betrachten. Dieses Haus
muss jetzt mit einer politischen Debatte über die Einwanderung nach Deutschland reagieren und muss dann
über ein Gesetz reden. Das ist unser Angebot. Darauf
will ich hinaus.
({2})
Deshalb möchte ich Ihnen in dieser Debatte aber noch
einmal erläutern, dass einige Argumente, die bisher vorgebracht worden sind, nicht stimmen. Sie haben in den
Ausschussberatungen gesagt - das hat mich bei Rotgrün
gewundert; diese kleine Polemik gestatten Sie mir
wohl -, das Gesetz bringe zu viel Bürokratie mit sich.
Wer die Scheinselbstständigkeitsgesetzgebung und die
630-DM-Gesetze gemacht hat, bei dem wundert mich
dieses Argument doch.
({3})
Aber sei es, wie es ist. Wir machen es natürlich gern
schlanker und erwarten Anregungen.
Sie sagen, für die Zuwanderung empfehle es sich
nicht, jetzt eine nationale Regelung zu treffen; man müsse ohnehin nach dem Amsterdamer Vertrag auch mit
vielen anderen Mechanismen auf europäischer Ebene
rechnen. Das ist ja auch richtig, nur: Ich warte schon
lange auf europäische Regelungen, und die Menschen
kümmern sich nicht darum, ob es europäische Regelungen gibt. Sie kommen vorzugsweise nach Deutschland.
Deshalb sollten wir doch das eine tun und das andere
nicht lassen. Lassen Sie uns doch über eine nationale
Regelung reden, die Kontingente umfasst und die im
Grunde genommen auch die Arbeitszuwanderung klärt!
Ich möchte nicht dauernd Verschiebebahnhöfe. Ich freue
mich, wenn das in Europa gelingt, aber ich bin skeptisch, ob es in einem Zeitraum gelingt, in dem wir Deutschen dauernd mit diesen Problemen beschäftigt sind
({4})
und in dem wir innenpolitische Probleme bekommen
und beobachten, wie sich die politische Landschaft entwickelt. Ich möchte einfach - wenn wir parteiübergreifend reden -, dass Sozialdemokraten wie Grüne, wie
auch Christdemokraten und meine Fraktion den Menschen in Deutschland eindeutig und klar sagen, wo es
auch Grenzen der Zuwanderung gibt, und dass wir nicht
jeweils in der Auseinandersetzung meinen, der eine sei
der bessere Menschenfreund und der andere nicht. Sie
wissen nämlich als Sozialdemokratische Partei ebenfalls - Sie haben auch Elternvertreter in Ihren Reihen -,
dass Sie an der Grenze der Zumutbarkeit angekommen
sind, wenn Sie Ihre Kinder in Klassen schicken, die einen überwiegenden Ausländeranteil haben, ohne dass
deren Familien die Integrationsbemühungen annehmen
und auf richtige Kenntnisse der deutschen Sprache Wert
legen. Das sind Wahrheiten, die man gesellschaftlich zur
Kenntnis nehmen muss.
({5})
Herr Kollege Gerhardt, es gibt eine weitere Zwischenfrage des Kollegen
Veit.
Herr Kollege Gerhardt, Sie
sprachen eben davon, dass die meisten Zuwanderer in
Europa nach Deutschland kämen. Wären Sie bereit zur
Kenntnis zu nehmen, dass nach den offiziellen Zahlen
des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge bezogen auf die Zahl der Bevölkerung immer bezogen auf die Zahl der Bevölkerung - die
Schweiz mit 5,68 Prozent an der Spitze liegt, gefolgt
von den Niederlanden mit 2,86 Prozent sowie Belgien,
Norwegen, Österreich, Schweden und Irland, und dass
Deutschland mit 1,2 Prozent Asyl-Erstanträgen im europäischen Vergleich erst auf Platz acht steht?
Wenn Sie die gesamte Wanderungsbewegung betrachten, Herr Kollege
Veit, wissen Sie so gut wie ich - wenn Sie einmal die
Kontingente derjenigen abgrenzen, die aus spezifischen
Erwägungen in die Schweiz und in andere Länder gehen -, dass der größte Wanderungsdruck auf Deutschland gerichtet ist, wegen des Erwartungshorizonts und
der Kraft seiner Volkswirtschaft. Das gilt insbesondere
auch in den Bereichen derjenigen Menschen, die zu uns
kommen, ohne dass wir die Chance hätten, die Zuwanderung zu regeln, und die dann am Ende in unserem sozialen Sicherungssystem landen. Das ist eine ganz andere Situation, als sie die Schweiz hat, als sie Belgien hat
und als sie die Niederlande haben.
({0})
An unserem Gesetz ist kritisiert worden, dass große
Gruppen, wie die Asylbewerber, davon nicht erfasst
würden. Dazu muss ich Ihnen sagen: Das Argument ist
völlig falsch. Die Asylbewerber stehen bei uns wegen
der humanitären Erfordernisse völlig außen vor. Sie
werden nur zugerechnet, weil sie nur dann in einer Belastungsgrenze einbezogen werden können. Gerade das
bietet eher die Chance, das individuelle Grundrecht auf
Asyl zu halten. Denn der Hauptvorwurf bei diesem
Grundrecht war immer die fehlende Praktikabilität.
Wenn ich aber jemandem sage, er könne nur einen Weg
nach Deutschland wählen, entweder als Zuwanderer
zum Arbeitsmarkt oder als Asylbewerber, dann kann ich
zu Recht den Asylbewerbern, die bisher über Asyl zum
Arbeitsmarkt zugewandert sind, sagen, dass das nicht
geht und dass sie sich im Herkunftsland entscheiden
müssen, welches Argument sie im Schilde führen.
({1})
Dann können sie sich von der deutschen Botschaft als
Zuwanderer eintragen lassen. Umgekehrt wird ein Schuh
daraus. Dieses Gesetz hält auseinander und gliedert wieder die Sachverhalte.
Herr Kollege
Gerhardt, bevor Sie darauf kommen, möchte ich Sie
darauf aufmerksam machen, dass es eine weitere Zwischenfrage gibt, und zwar des Kollegen Edathy.
Gerne.
Herr Kollege Gerhardt,
können Sie mir bestätigen, dass Sie seit Wochen die
Aufsetzung Ihres so genannten Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes auf die Tagesordnung des Deutschen
Bundestages aufschieben, obwohl Sie dazu die Möglichkeit gehabt hätten? Können Sie mir ferner zustimmen, dass wir hier über einen Antrag der CDU/CSU
sprechen, über den bisher allerdings weder die
CDU/CSU noch Sie gesprochen haben? Und können Sie
mir drittens vielleicht bestätigen, dass es wenig Sinn
macht, einerseits Erwartungen und andererseits Befürchtungen aufgrund eines Zuwanderungsgesetzes zu wecken, wenn Sie hier selber einräumen, dass vor dem
Hintergrund von 4 Millionen Arbeitslosen in Deutschland eine grundsätzliche Regelung letztlich keinen Effekt haben würde, weil wir angesichts dessen zusätzliche
Zuwanderung zum Zwecke der Arbeitsaufnahme auf
breiter Basis gar nicht werden realisieren können?
({0})
Zu Ihrer ersten
Frage, warum wir den Gesetzentwurf bisher nicht aufgesetzt haben: Die heutige Debatte zeigt, dass das sogar
klug war. Denn wenn Sie weitere Erkenntnisse gewinnen wollen, können wir auf der Grundlage unseres Gesetzentwurfs erneut in die Ausschussberatung eintreten.
Wenn Sie darauf bestehen, dass unser Entwurf hier aufgesetzt wird, damit Sie ihn ablehnen können, tue ich Ihnen auch diesen Gefallen. Aber dann müssen Sie mir,
angesichts der Debatte, die Ihre Partei führt, begründen,
warum Sie ihn ablehnen.
({0})
Die Staatssekretärin Sonntag-Wolgast hat erklärt,
dass eine zuwanderungsgesetzliche Regelung notwendig
wäre. Ich kann Ihnen Bundesinnenminister Schily in
seiner früheren Eigenschaft mit Zwischenrufen zitieren,
um deutlich zu machen, dass auch er sie für notwendig
hält. Aus Ihrer Fraktion gibt es dieselben Äußerungen.
Ebenso hat die Fraktion der CDU/CSU erkennen lassen,
dass sie solche Erwägungen hat. Das heißt, wenn die
Chance besteht, hier etwas zustande zu bringen, war es
doch nicht weniger als nützlich, dass wir hier etwas gewartet haben.
Zum zweiten Punkt Ihrer Fragestellung, warum ich
nicht über den Vorschlag und die Initiative der
CDU/CSU diskutiere. Das ist bei mir eingebettet. Ich
sehe keinen Sinn, dass wir uns jetzt wieder dauernd mit
Asyldebatten und europäischen Regelungen beschäftigen, die wir bereits in der Vergangenheit hin und her
debattiert haben.
({1})
Wir müssen das jetzt in einen Gesamtkontext bringen.
Die Zahl von 4 Millionen Arbeitslosen auf dem deutschen Arbeitsmarkt erscheint mir differenzierter als
manchem Sozialdemokraten. Darunter befinden sich
solche, die dringlichst Arbeit suchen, aber keine Chance
haben. Darunter befinden sich ebenso solche, die nicht
dringlichst Arbeit suchen und sehr auskömmlich von der
Kombination aus sozialen Stützmaßnahmen und
Schwarzarbeit leben.
({2})
- Aber wenn Sie sie nicht vermitteln können und die
Branchen trotz dreimaliger Aufforderung jemanden
nicht bewegen können, von Bruchsal nach Karlsruhe
umzuziehen, aber jemanden dazu bewegen können, von
Kalkutta nach Karlsruhe umzuziehen, den wir als Arbeitskraft im gesamtwirtschaftlichen Interesse brauchen,
dann bin ich, wie auch der Bundeskanzler, bereit, diesen
Menschen hier eine Lebensperspektive zu geben, die
beiden Seiten nutzt.
({3})
Deshalb ist das mit dem Arbeitsmarkt so einfach nicht.
Ich lese doch in Ihren Programmen, dass Sie jetzt
über Zuwanderungssteuerung offener reden, als das
früher der Fall war. Bei der CDU/CSU höre ich das
Gleiche. Bei den Grünen höre ich es noch nicht.
({4})
Ich kann nur die Ausländerbeauftragte bitten: Ihre Vorgängerin im Amt hat den Gesetzentwurf mit bearbeitet;
ich glaube, Sie könnten ihn mittragen.
({5})
Wenn es noch Bedenken gibt, dann sind wir gesprächsbereit, um einiges zu ändern.
Herr Kollege
Gerhardt, es gibt noch eine Zwischenfrage, und zwar des
Kollegen Marschewski.
Ja.
Herr Gerhardt, Sie werden mir sicherlich bestätigen,
dass die Schaffung eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes auch uraltes Gedankengut der CDU/CSU ist.
Sie werden mir aber sicherlich auch bestätigen, dass Ihr
Gesetzentwurf deswegen Probleme aufweist, weil Sie
nur Erfolg haben könnten, wenn Sie Art. 16 a des
Grundgesetzes, das Asylrecht, verändern und wenn Sie
über Art. 6, Familiennachzug, und über Art. 116 nachdenken. Nur so können Sie legal eine Begrenzung einführen. Alles andere würde - auch das können Sie mir
sicherlich bestätigen -, wenn Ihr Gesetzentwurf Wirklichkeit würde, zu einer Quote null führen. Das ist bei
Ihrem Gesetzentwurf - das können Sie mir sicherlich
nochmals bestätigen - das Problem. Deswegen meine
ich: Ihr Versuch ist in Ordnung; aber Sie müssten auch
zu der Auffassung kommen, das Grundgesetz zu ändern
und zu einer Änderung dieser wichtigen Bestimmungen
Ja zu sagen.
Herr Marschewski, ich schlage Ihnen Folgendes vor: Lassen wir doch
unsere unterschiedliche persönliche Auffassung hinsichtlich des Grundrechts auf Asyl bestehen. Das ist
nicht der Knoten, der jetzt durchschlagen werden muss.
Ich würde ihn auch nicht vor einer europäischen Regelung angehen, wenn wir denn dereinst wirklich eine solche bekämen.
({0})
Wenn wir angesichts der jetzigen Chance bzw. der Bemerkungen, die Sie ansonsten zu unserem Gesetzentwurf machen - darauf reagieren wir gerne -, arbeitstechnisch überhaupt weiterkommen und eine gesetzliche
Einwanderungsregelung beschließen wollen und wenn
wir die weiteren europäischen Verhandlungen hinsichtlich des Themas Asyl abwarten, wäre das ein Gewinn
für die Bundesrepublik Deutschland und würde zu einer
Kalkulierbarkeit der Wanderungsbewegungen nach
Deutschland führen.
Ich habe nicht vor, jemandem vorzuhalten, dass er
sich in seiner Meinung, es gebe keine Chance zur Einigung, getäuscht hat. Ich begrüße die Entwicklung bei
der Christlich Demokratischen Union, zu einer gesetzlichen Grundlage hinsichtlich der Zuwanderung zu kommen. Hätten wir diese in der letzten Legislaturperiode
schon gehabt, hätten wir gemeinsam ein Gesetz verabschieden können; diese Bemerkung darf ich mir gestatten.
({1})
- Ich spreche heute sehr bewusst zu diesem Tagesordnungspunkt. Der vorliegende Antrag gibt Gelegenheit,
jetzt noch einmal über eine solche Gesetzgebungschance
nachzudenken. Ich werde zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen der F.D.P.-Fraktion im Hinblick
auf unseren Gesetzentwurf so verfahren, dass diese
Chance nicht zunichte gemacht, sondern neu eröffnet
wird.
({2})
Deshalb gehen wir am besten wieder zu den entsprechenden Ausschussberatungen über und machen uns
daran, Ihre Einwände gegenüber unserem Gesetzentwurf
zu bearbeiten.
Denn es macht am Ende keinen Sinn - damit will ich
abschließen -, zum einen, wie es der Bundesinnenminister tut, über die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands
im Hinblick auf Zuwanderung zu sprechen, zum anderen
aber, wie es der Bundeskanzler tut, die Zuwanderung
von Arbeitskräften im Rahmen einer so genannten
Green Card zu ermöglichen und über den Individualgrundsatz des Grundrechts auf Asyl zu diskutieren, ohne
eine Einwanderungssteuerung vorzunehmen.
Erkenntnis in allen Fraktionen muss jetzt sein: Mit
den bisherigen Debatten kommen wir nicht mehr weiter.
In der nächsten Woche eine Debatte über die Green
Card, in dieser Woche eine Asyldebatte, das hilft uns
jetzt nicht weiter. Ich glaube, dass die Öffentlichkeit erwartet, dass wir jetzt darlegen, wie wir uns künftig in
Deutschland eine Regelung der Zuwanderung vorstellen.
Ich schlage Ihnen deshalb ernsthaft vor, parteiübergreifend - denn dies ist eine wichtige gesellschaftliche
Frage; daher sollte man Verwerfungen zwischen den
Parteien vermeiden und in der Wortwahl abwägen - diese Gelegenheit zu nutzen. Wir haben im letzten Jahr ein
modernes Staatsangehörigkeitsrecht geschaffen; wir
sollten in diesem Jahr ein modernes Einwanderungsgesetz schaffen.
Wir sollten uns dann bemühen - denn dies ist ein
massives Interesse von uns -, eine europäische Regelung der Asylpolitik zu erzielen. Wenn es eine solche
gibt, ist bei uns die Diskussion über das Grundrecht auf
Asyl vielleicht viel einfacher und klarer zu führen, ohne
dass man wesentliche humanitäre Grundsätze verletzt.
Denn wir sind ja von anderen großen Demokratien umgeben, die für uns beispielhaft sind. Dann könnte unser
Land endlich einmal diese gesellschaftspolitische Frage
lösen, ohne sie nur dem parteipolitischen Schlagabtausch zu überlassen.
Dazu ist die Fraktion der Freien Demokraten bereit.
Wir werden mit unserem Gesetzentwurf so verfahren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin
Marieluise Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Bosbach, es ist gut, dass Sie hier das
Angebot einer sachlichen Diskussion machen. Das kann
ich nur begrüßen. Denn gerade die Schlacht um den
Doppel-Pass im vergangenen Jahr hat im Lande eine
Stimmung hervorgerufen, die sehr bedenklich war. Ich
bin froh, wenn wir uns auf einen gewissen Grundkonsens einigen können.
Die Diskussion über alle Fragen, die mit Migration zu
tun haben, also Migration sowohl aufgrund von Flucht
und Asyl als auch aufgrund einer anderen Art der Zuwanderung, darf nicht mit der Grundhaltung der Abwehr
geführt werden.
({0})
Als Sie heute Morgen über § 19 des Ausländergesetzes
gesprochen haben, so muss ich feststellen, war dies kein
guter Einstand von Ihnen im Hinblick darauf, dass Sie
von einer modernen CDU/CSU sprechen wollen.
Es kann in Zeiten, in denen wir alle wissen, dass es
zu Migration, ob wir sie wollen oder nicht, kommt, nicht
um die Perspektive der Abwehr gehen. Jeder, der zur
Europäischen Union und auch zu deren Erweiterung Ja
sagt, sagt damit Ja zum Hin- und Herwandern von Menschen, zu Mobilität. Demnächst wird Europa aus 27
Ländern bestehen. Das wird Wanderungsbewegungen
nach sich ziehen und damit die Notwendigkeit, diese
Zuwanderung zu gestalten und integrationspolitisch zu
begleiten, sowohl innerhalb der Europäischen Union als
auch darüber hinausgreifend.
Wir alle sprechen von der Globalisierung der Ökonomie, davon, dass sich Ökonomien vernetzen, und
merken, dass wir diesen Fragestellungen mit dem nationalstaatlichen Denken des vergangenen Jahrhunderts
nicht mehr gewachsen sind.
({1})
Was wir aber übernommen haben, Herr Kollege
Bosbach, ist ein absolutes Chaos in integrationspolitischen Fragen, weil in den vergangenen 20 Jahren an
dem Diktum festgehalten worden ist, Deutschland sei
kein Einwanderungsland, und zwar wider besseres Wissen, wie meine Kollegin Schmalz-Jacobsen immer betont hat. Es gibt keine wirklich gestaltete Sprachförderung auf Bundesebene. Die Zugänge sind zwar gesetzlich geregelt, aber verstreut in unterschiedlichen Gesetzeswerken. Es gibt also sehr viel Aufräumarbeit zu leisten; das kann ich Ihnen versichern.
Wenn Sie jetzt den pragmatischen Schritt „Green
Card“, der vorgeschlagen worden ist, um einen Arbeitskräftemangel zu heilen, angreifen, dann doch auch,
weil Sie überdecken müssen, was Sie in den vergangenen Jahren versäumt haben. Der so genannte Zukunftsminister hat es eben nicht geschafft, die Universitäten in
die Lage zu versetzen, so auszubilden, dass uns diese
Arbeitskräfte hier zur Verfügung stehen.
({2})
Das gilt für Bildung und Ausbildung genauso wie für
Qualifikation. Nehmen Sie sich also bitte zurück! Sie
übertünchen nur die Versäumnisse der vergangenen Jahre.
Allerdings sagen auch wir, dass die Debatte um die
Green Card dazu genutzt werden muss, um eine vernünftige, sachliche Debatte über die Gestaltung - nicht
die Begrenzung, Herr Kollege Gerhardt; das ist der Unterton, der bei Ihnen mitschwingt - der Zuwanderung
({3})
in diesem Hause zu führen.
({4})
Denn angesichts der Vorschläge, die gemacht worden
sind, gibt es viele Fragen, zum Beispiel in Bezug auf die
Verfestigung des Aufenthalts, die Regelung zum
Familiennachzug und die Integrationsperspektive, die
auch das Green-Card-Modell beinhalten muss.
({5})
Wir werden die Zuwanderung also auf eine neue gesetzliche Grundlage stellen müssen, wobei ich daran
erinnern möchte, dass wir jetzt keinen ungeregelten Zuzug haben. Dazu gibt es Gesetze: das Recht auf Schutz,
abgesichert durch das Grundgesetz und das Völkerrecht,
das Recht auf Familiennachzug und die EUFreizügigkeit. Es gibt politisch gewollte Zuwanderer wie
die Spätaussiedler und die jüdischen Kontingentzuwanderer. Das alles ist ein Strauß gesetzlich normierten Zuzugs. Insofern geht es um eine Erweiterung der Zuwanderung, und zwar aus humanen Gründen und aus
Gründen der Arbeitsmigration, wie es jetzt mit der
Green Card kurzfristig noch einmal organisiert werden
soll.
Es geht aber nicht an - genau das ist das Infame, was
die Union versucht -, diese neu aufgebrochene Zuwanderungsdebatte mit der Abwehr von Asyl und Schutz zu
verknüpfen. Sie wollen unter dem Deckmantel einer Zuwanderungsdebatte das Grundrecht auf Asyl schleifen
und damit den Schutz für politisch Verfolgte aufheben.
Das geht nicht, wenn man sich auf dem Boden europäischer Gemeinsamkeit bewegen möchte.
({6})
Ich möchte noch einmal festhalten, dass der Europäische Rat die Bedeutung bekräftigt hat, die der unbedingten Achtung des Rechts auf Asyl zukommt. Er hat
gesagt, es sei auf „ein gemeinsames europäisches Asylsystem hinzuwirken, das sich auf die uneinge-schränkte
und allumfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention stützt“.
({7})
Das bedeutet: Wir haben eine gemeinsame Grundlage.
Die Genfer Flüchtlingskonvention und die europäische
Menschenrechtskonvention geben Deutschland eher einen Nachbesserungsbedarf auf,
({8})
zum Beispiel bei der Anerkennung innerstaatlicher Verfolgung, also nicht staatlicher Verfolgung.
({9})
Hier stehen wir vor großen nationalen Problemen.
Es ist auch so, dass Deutschland nicht mehr auf
Platz 1, sondern auf Platz 8 der aufnehmenden Staaten
steht. Es ist ein Mythos, mit dem hier gearbeitet wird.
Wichtig ist, zu erkennen, dass wir in Teilen unseres
Schutzsystems gerade wegen der Nichtanerkennung der
nicht staatlichen Verfolgung unter den europäischen
Standard gesunken sind.
({10})
Es ist bedenklich, wenn im Vereinigten Königreich
der Court of Appeal in seiner Entscheidung vom 23. Juli
1999 darauf hingewiesen hat, dass die Bundesrepublik
kein sicheres Drittland sei, weil es für die Ausgrenzung
nicht staatlicher Verfolgung aus dem Flüchtlingsbegriff
keine Rechtfertigung gebe. Deswegen hat das Gericht
die Rücküberstellung nach der Dubliner Konvention untersagt. Das ist eine große Herausforderung auf dem
Weg der Harmonisierung des europäischen Rechts.
Die Genfer Flüchtlingskonvention begründet das
Recht auf Schutz und auf Nachprüfbarkeit von Schutz.
Damit sind wir bei Art. 19 Abs. 4 unseres Grundgesetzes, nach dem Verwaltungsakte über das Gerichtswesen
nachprüfbar sein müssen. Insofern bewegen wir uns mit
Art. 16 a des Grundgesetzes und § 51 des Ausländergesetzes sehr wohl auf dem Boden der Genfer Flüchtlingskonvention. Der Eindruck, der immer wieder erweckt wird, dass uns die europäische Harmonisierung
dazu bringen würde, diese deutsche Gesetzgebung beiseite zu schieben, ist falsch. Im Gegenteil: Sowohl
Art. 16 a des Grundgesetzes als auch § 51 des Ausländergesetzes sind faktisch die Umsetzung der Genfer
Flüchtlingskonvention. Wer jetzt wie Sie von der Union - wieder unter dem Deckmantel der Zuwanderungsdebatte ({11})
von einer Institutsgarantie spricht, der muss auch deutlich sagen, dass er sich damit von der europäischen Vereinbarung, die Genfer Flüchtlinskonvention zur Grundlage der europäischen Harmonisierung zu machen, verabschiedet.
({12})
Die Institutsgarantie passt nicht zur Genfer Flüchtlingskonvention.
Wir haben durch die Beschlüsse von Tampere eine
gute Grundlage für die europäische Harmonisierung. Es
gibt Herausforderungen für Deutschland. Wir alle wissen, dass die historische Idee für unser Schutzrecht, vor
allem für Art. 16 des Grundgesetzes, die gewesen ist,
dass Menschen vor staatlicher Verfolgung geschützt
werden müssen. Das war die Lehre, die aus dem deutschen Faschismus gezogen worden ist.
Marieluise Beck ({13})
Aber die Verfolgungsbedingungen in anderen Ländern haben sich geändert. Dass wir den Bosniern selbst
dann, wenn wir wussten, dass sie aus Konzentrationslagern kamen, hier kein Asylrecht zuerkennen konnten,
weil sie nicht von einem Staat verfolgt wurden, entspricht - dessen bin ich sicher - nicht der Idee der Väter
des Grundgesetzes, die eigentlich mit der Gewährung
von Schutz und der Festschreibung dieses Schutzes im
Grundgesetz als Grundrecht eine ganz hohe Hürde und
damit auch einen hohen Schutz aufbauen wollten. Ich
bin mir sicher, dass dies nicht mehr der eigentlichen
Idee des Grundgesetzes entspricht.
Deswegen haben wir mit der Schaffung eines modernen Schutzrechtes eine Aufgabe vor uns, der wir
uns - ohne immer nur den Abwehrgedanken im Hinterkopf zu haben - in diesem Parlament gemeinsam sorgsam widmen sollten. Wir müssen Regelungen finden,
die der Würde und den Schutzbedürfnissen der Menschen angemessen Rechnung tragen.
Schönen Dank.
({14})
Für die PDSFraktion spricht jetzt die Kollegin Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU
hat meiner Meinung nach in einem Punkt ihres Antrages
tatsächlich Recht: Die Vorstellungen der Bundesregierung zum Asyl- und Ausländerrecht in der EU liegen
uns bisher in der Tat nicht vor. Ich meine, Kollege Veit,
dass man hier auch die eigene Politik mit zur Diskussion
stellen sollte, wenn ein solcher Antrag vorliegt.
Doch zu Beginn lassen Sie mich einige Bemerkungen
zur Green Card machen: Eine Politik, die eine vermeintliche Elite aus anderen Ländern zum Wohle der
deutschen Wirtschaft anheuert, die weiterhin arme Menschen, Menschen in Not feuert, ist inhuman und kann
meines Erachtens von uns nicht mitgetragen werden,
({0})
zumal Sie in diesem konkreten Fall genau wissen, dass
Sie die 20 000 Menschen, die Sie mithilfe der Green
Cards hierher holen wollen, wahrscheinlich dann, wenn
sie älter als 40 Jahre alt geworden sind, unter unmenschlichsten Bedingungen wieder zurückschicken werden,
weil sie hier keine Aufenthaltsgenehmigung bekommen.
Ich finde eine solche Politik abstoßend, mit der in der
öffentlichen Diskussion eine neue Hierarchie von Menschen produziert wird. Auf einmal sollen zehntausend
junge Leute aus dem Ausland die Zukunft der deutschen
Wirtschaft sichern, während auf der anderen Seite
Flüchtlinge nach wie vor dem Arbeitsverbot unterliegen.
Ich möchte hier jetzt nicht auf die weiteren sozialen
Probleme von Jugendlichen und gerade auch älteren
Menschen eingehen, die im Computerbereich arbeiten.
Jahrelang - darauf ist heute schon hingewiesen worden - haben wir die Sprüche von der Union gehört: Das
Boot ist voll!
({1})
Was ist jetzt? Jetzt wackelt die CDU/CSU, wie wir heute hier gesehen haben, weil die IT-Branche nach jungen
Leuten zu Dumpinglöhnen ruft. Die SPD wackelt gleich
mit. Der Innenminister, der uns noch vor kurzem erzählte, die Grenzen der Belastbarkeit seien erreicht, weiß
wahrscheinlich selbst nicht mehr, wie voll bzw. leer sein
Boot ist.
Wir dagegen bleiben dabei: Dieses Land ist ein Einwanderungsland und es soll und wird auch in Zukunft
ein Einwanderungsland bleiben.
({2})
Nötig ist - das fordern wir von der PDS schon lange eine Asyl- und Migrationspolitik, die den Menschen
hilft und ihre Menschenrechte stärkt. Nicht die Wirtschaft, sondern die Menschen müssen im Zentrum der
Politik stehen.
({3})
Das sollte auch für die Harmonisierung der Asyl- und
Ausländerpolitik der EU die Richtschnur sein.
Jetzt zum Antrag der CDU/CSU: Herr Bosbach, ich
habe in Ihren Ausführungen sehr wohl Ihre Bemühungen um Differenzierung beim Thema Einwanderungsland erkannt. Ich meine aber, dass sowohl angesichts
der Debatte zu § 19 des Ausländergesetzes heute Morgen als auch bei genauerer Betrachtung Ihres Antrags
der Begriff „Modernisierung“ fehl am Platze ist. Im
Grunde genommen sind Sie im Wesentlichen bei Ihrer
alten Politik geblieben. Es wird Abschottung gefordert
und vor allen Dingen eine regressive Politik bei der
Flüchtlingsverfolgung. Was mich immer wieder stört, ist
die Tatsache, dass Sie versuchen, die Flüchtlinge per se
als Risiko darzustellen.
Ein einziger Punkt in Ihrem Antrag hat mir ein bisschen Hoffnung gegeben, nämlich der Punkt 1. Dort heißt
es, dass der Flüchtlingsbegriff unter Berücksichtigung
der Genfer Flüchtlingskonvention einheitlich zu definieren sei. Das hört sich in der Tat gut an. Aber was
meinen Sie praktisch damit? Meine Kollegin Beck hat es
eben schon angesprochen. Heißt das tatsächlich, dass Sie
die Genfer Flüchtlingskonvention endlich umsetzen wollen? Das würde bedeuten, nicht staatliche Verfolgung
und frauenspezifische Fluchtgründe anzuerkennen. Es
wäre ein echter Fortschritt, wenn die rot-grüne Regierung diesen Antrag umsetzen würde.
Der UN-Flüchtlingskommissar sagt, dass die Bundesrepublik im Umgang mit Flüchtlingen, die vor nicht
staatlicher Verfolgung fliehen, gegenwärtig das restriktivste Land in ganz Europa sei. Das oberste Gericht in
Großbritannien - auch das ist hier schon erwähnt worden - hat die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr
als sicheres Drittland eingestuft. Ich vermisse
Marieluise Beck ({4})
tatsächlich, vor allem von der Regierung, ein entsprechendes Verhalten.
In Ihrem Antrag begrüßen Sie zum Beispiel Eurodac.
Eurodac soll ein System werden, das dazu berechtigt,
jedem Flüchtling Fingerabdrücke abzunehmen. Das bedeutet, dass Sie - unter anderem mit den repressiven
Forderungen in Ihrem Antrag - beispielsweise vierzehn
Jahre alte Jugendliche ganz pauschal verdächtigen und
unter Umständen in Abschiebehaft stecken wollen. Ihre
Warndatei haben wir hier schon ausführlich diskutiert
und abgelehnt. Auch hier haben Sie eine Datenerfassung
vor, die per se einer Kriminalisierung von Ausländerinnen und Ausländern gleicht.
Es wird mehr als deutlich, dass Ihre Ausländer- und
Asylpolitik nur eine Bezeichnung verdient: Sie ist Menschen verachtend und inhuman. Das muss ich ganz deutlich sagen. Herr Bosbach hat heute die Zahlen richtig
dargestellt. Wir haben in der Tat mehr Abwanderung
als Zuwanderung. Im gleichen Atemzug behaupten
Sie - Herr Merz und Herr Schäuble haben es heute wieder getan -, dass 700 000 Ausländer im letzten Jahr erneut ins Land gekommen sind. Ich meine, wer von Zuwanderung redet, sollte die Auswanderung nicht verschweigen. Sie picken sich immer die Zahlen heraus, die
Sie gerade brauchen, um Ihre Politik zu begründen. Ich
erspare mir hier Ihre Zahlen im Einzelnen zu nennen,
bin aber bereit, sie jedem Kollegen zur Verfügung zu
stellen.
Leider ist - auch das muss man hier diskutieren - die
Politik der alten Regierung auch die Politik der rotgrünen Regierung. Herr Schily ist in vielen Punkten mit
Ihnen einig. Dass er dabei nicht nur die Grünen vor den
Kopf stößt, sondern auch die Beschlüsse der SPDParteitage missachtet, interessiert diesen Minister überhaupt nicht. Ich erinnere an die Ausführungen von Herrn
Schily, das Asylrecht lasse sich in der EU nicht halten.
Ich erinnere an seinen Plan, den Rechtsweg für Flüchtlinge zu verkürzen. Ich erinnere daran, dass sich Herr
Schily trotz Bundestagsbeschlusses weiter weigert, die
UN-Kinderrechtskonvention ohne Vorbehalt anzuwenden. Jugendliche werden deshalb weiter in Abschiebehaft gesperrt. Das ist ein klarer Verstoß gegen die Kinderrechtskonvention.
Auch das Bild, das diese Regierung und die Union
von der deutschen Asyl- und Ausländerpolitik im Vergleich zu anderen EU-Staaten verbreiten, stimmt hinten
und vorne nicht. Sie sagen zum Beispiel, Deutschland
nehme die meisten Flüchtlinge auf. Das ist seit langer
Zeit schlicht falsch. Tatsache ist, dass Länder wie die
Niederlande, Großbritannien, die Schweiz und Belgien
einen immer größeren Teil der Flüchtlinge aufnehmen.
Diese Länder, deren Einwohnerzahl etwa der Deutschlands entspricht, nehmen im Moment mehr als die Hälfte
der Flüchtlinge in Europa auf. Auch in der Hinsicht
muss man die Wahrheit sagen. So sieht es nämlich wirklich aus.
Bei anderen Fragen tritt Innenminister Schily ebenfalls auf die Bremse, wenn es um die Harmonisierung
der europäischen Asyl- und Migrationspolitik geht.
Auch in Sachen Staatsbürgerschaftsrecht, das hier
immer wieder so hoch gelobt wird und mit Sicherheit
auch einige fortschrittliche Punkte enthält, tritt diese
Regierung europaweit auf die Bremse. Seit 1997 gibt es
eine Konvention des Europarates zum Staatsbürgerschaftsrecht, die einheitliche Regelungen zum Beispiel
für die doppelte Staatsbürgerschaft aufstellt. Diese Konvention wurde von Innenminister Schily bis heute nicht
unterzeichnet. Und warum nicht? Ganz einfach deshalb,
weil diese Konvention ihm verbieten würde, Menschen - beispielsweise Jugendlichen, die sich mit
23 Jahren nicht für eine Staatsbürgerschaft entschieden
haben -, wie es mit dieser Staatsbürgerschaftsreform
geplant ist, die deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen.
Das ist nach dieser Konvention einfach nicht erlaubt.
Frau Kollegin Jelpke,
Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.
Ja, ich komme gleich zum
Schluss. - Sie werden sich auch damit auseinander setzen müssen, dass immerhin 41 Staaten diese Konvention
unterzeichnet haben.
Es ist wohl klar: Der Antrag der CDU/CSU hat mit
Modernisierung nichts zu tun. Deswegen werden wir ihn
ablehnen. Aber wir werden mit Sicherheit weiter eine
Debatte um die Modernisierung des Asylrechts in der
EU führen und hier unsere Initiativen einbringen.
Danke.
({0})
Das Wort für die
Bundesregierung hat die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast.
Frau Präsidentin!
Liebe Kollegen und Kolleginnen! Frau Jelpke, um bei
Ihnen anzufangen: Gedulden Sie sich etwas! Dann werden Sie sehen, wie die Bundesregierung mit der Frage
der Unterzeichnung der Konvention umgeht.
({0})
Meine Damen und Herren, der Antrag, den wir heute
in erster Lesung beraten, hat drei Kennzeichen:
Erstens. In einigen Teilen - etwa bei den Mindeststandards und dem einheitlichen Flüchtlingsbegriff rennt er offene Scheunentore ein.
Zweitens. In anderen Teilen entfernt er sich von internationalen Vereinbarungen zum Menschen- und
Flüchtlingsrecht und wird im zusammenwachsenden Europa ganz gewiss nicht als Basis für eine einheitliche
Asylpolitik dienen können.
Drittens. Modern ist er auch nicht.
Deshalb stelle ich die Frage: Was soll das?
Da sich der Kollege Bosbach mehr in allgemeinen
migrationspolitischen Fragen ergangen hat, möchte ich
erst einmal näher auf Ihren Antrag eingehen.
Die CDU/CSU fordert die Bundesregierung auf, die
Harmonisierung des Asyl- und Ausländerrechts voranzutreiben, illegale Einwanderung einzudämmen, die
Zahl unberechtigter Asylanträge zu verringern, eine gerechte Lastenteilung unter den Mitgliedstaaten zu erreichen und die Bekämpfung der Fluchtursachen zum Ziel
der EU-Politik zu machen.
Meine Damen und Herren, haben Sie eigentlich über
all die Monate, angefangen von der EU-Ratspräsidentschaft der Bundesrepublik bis hin zum heutigen Tage,
nicht gemerkt - oder vielleicht nicht bemerken wollen dass diese Bundesregierung in allen von Ihnen genannten Punkten, und zwar sehr umfassend, längst tätig ist
({1})
und weiter vorangeschritten ist, als Sie es wahrhaben
wollen?
Ich weiß ja, dass Sie in den zurückliegenden Wochen
andere Probleme zu behandeln hatten, intern und auch
nach außen. Aber selbst einem abgelenkten, zerstreuten
und verunsicherten Unionspolitiker können doch nicht
die wesentlichen Etappen der vergangenen 15 Monate
auf dem Gebiet der europäischen Migrations- und
Flüchtlingspolitik verborgen geblieben sein.
({2})
Ich darf die wichtigsten Stufen einmal nennen: Rat
und Kommission haben im Dezember 1998 einen Aktionsplan mit Schwerpunkten für die Arbeit und mit zeitlichen Vorgaben verabschiedet. Am 1. Mai 1999 ging
mit Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages die Ausländer- und Asylpolitik in die Kompetenz der Gemeinschaft über.
Seit ihrer Amtsübernahme hat sich die Bundesregierung konsequent für eine Angleichung in diesem Politikbereich stark gemacht. Auf dem Europäischen Rat in
Tampere im letzten Oktober hat die Bundesregierung die
Initiative ergriffen - begleitet von sehr skeptischen
Prognosen, was den Ausgang dieser Veranstaltung betraf -, gemeinsam mit ihren französischen und britischen
Freunden die wesentlichen Prinzipien formuliert und allen Unkenrufen zum Trotz - auch durchgesetzt. Als
Beispiele nenne ich die Partnerschaft mit den Herkunftsländern der Flüchtlinge, ein gemeinsames europäisches
Asylsystem, die gerechte Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die Steuerung von Wanderungsbewegungen
und last not least die Bestätigung der Genfer Flüchtlingskonvention als gemeinsame Basis der Asylpolitik.
Das war ein echter Erfolg und ist eine tragfähige
Startrampe für die weiteren Bemühungen.
({3})
Weiter verlangen Sie einheitliche Standards für
Asylverfahren. Diese Forderung ist überflüssig, denn
schon der EG-Vertrag in der Fassung des Amsterdamer
Vertrages erteilt dazu den Auftrag.
Mindestgarantien im Asylverfahren sind ebenfalls
längst in der Diskussion. Mit einem Vorschlag für den
EG-Rechtsakt können wir noch in diesem Jahr rechnen.
Auch Rückübernahmevereinbarungen mit Dritt- und
Transitstaaten sind längst konkrete Politik der Bundesregierung.
Ich könnte diese Revue der Selbstverständlichkeiten
fortsetzen, aber das ist nicht nötig. Nötig sind vielmehr
einige Bemerkungen zu Forderungen, die - jedenfalls
bis auf weiteres - in der Europäischen Union nicht
mehrheitsfähig sind oder nicht den menschenrechtlichen
Normen der Gemeinschaft entsprechen.
Frau Kollegin, Herr
Kollege Marschewski möchte eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie machen hier sehr interessante
Ausführungen zum Kernbereich deutscher Innenpolitik.
Gestatten Sie mir die Frage: Warum ist der Bundesinnenminister heute bei diesem wichtigen Punkt nicht
anwesend? Befürchtet er vielleicht, dass die Diskrepanz
zwischen ihm und seiner Fraktion und zwischen ihm
und den Grünen heute offenkundig wird? Ist er deswegen zu Hause geblieben?
({0})
Herr Kollege
Marschewski, Sie wissen sehr genau - auch aufgrund
der langjährigen Regierungszeit der CDU/CSU -, dass
Minister neben der Pflicht zur Anwesenheit im Parlament sehr viele andere dringende Verpflichtungen haben. Sie können sich darauf verlassen, dass das, was ich
hier vortrage, den Ansichten und den Überzeugungen
des Bundesinnenministers entspricht. Sie sind also bei
mir gut aufgehoben, zumal Sie mir ja schon zugebilligt
haben, dass ich hier interessante Ausführungen zu Kernbereichen der deutschen Innenpolitik mache. Ich möchte
damit gern fortfahren.
({0})
Sie fordern die in der Diskussion der vergangenen
Zeit sehr wichtige so genannte quotenmäßige Verteilung der Bürgerkriegsflüchtlinge und der Asylbewerber innerhalb Europas, also das viel beschworene
Burdensharing. Wenn sich jemand darum bemüht hat,
dann dieser Bundesminister des Innern. Das wissen Sie
doch auch, zum Beispiel aus der Zeit, als wir die Kosovo-Albaner hier aufgenommen haben. Ein starres Verteilungssystem mit festgelegten Quoten war nicht erreichbar. Stattdessen schlug die Bundesregierung seinerzeit das so genannte Pledging-Verfahren vor, mit dem
sich die jeweiligen Staaten freiwillig bereit erklärten, eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen.
Die Flüchtlinge ihrerseits erklärten sich bereit, ihre Zuflucht dort zu suchen.
Dieses Prinzip der doppelten Freiwilligkeit hat innerhalb der EU eine viel positivere Resonanz gefunden als
das alte Modell der früheren Bundesregierung mit festen
Aufnahmequoten, die Sie jetzt wieder in Ihrem Antrag
aufwärmen. Die Bundesregierung sieht sich jedenfalls
durch den Erfolg bei der Aufnahme der geflüchteten
Kosovaren vor einem Jahr in ihren Bemühungen um eine faire Aufgaben- und Lastenteilung innerhalb der EU
bestätigt. Sie möchte in ihren Bemühungen nicht nachlassen und wird das Konzept des vorübergehenden
Schutzes von Menschen aus Bürgerkriegsregionen weiterverfolgen.
Schlicht und einfach zu leicht machen Sie es sich mit
der Forderung, Flüchtlinge mit offensichtlich unbegründeten Asylanträgen generell sofort abzuschieben.
Das ist wahrscheinlich populistisch, aber mindestens
ebenso verantwortungslos; denn die Abschiebung kann
nur erfolgen, wenn sie im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Genfer
Flüchtlingskonvention steht. Darüber setzen Sie sich offenbar hinweg.
Jetzt möchte ich auf den letzten Punkt Ihres Forderungskatalogs eingehen, der in den letzten Tagen zu
neuer Aktualität gelangt ist, nämlich auf die von Ihnen
verlangten einheitlichen Regelungen für legale Einwanderung.
({1})
Sie erwähnen Wissenschaft, Kunst, Sport und Kapitalinvestoren.
Frau Kollegin, es
gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage.
({0})
In Ihren Reihen ich merke es an der Unruhe, die im Moment bei Ihnen
und auch bei den Kollegen von der F.D.P. herrscht - hat
die begrüßenswerte Initiative des Bundeskanzlers, für
einen begrenzten Zeitraum ausländische Computerspezialisten ins Land zu holen, offenbar beträchtliche Verwirrung erzeugt. Das ist kein Wunder, wenn man auf eigene frühere Versäumnisse in der langen Regierungszeit
hingewiesen, ja gestoßen wird. Jetzt geht bei Ihnen alles
durcheinander.
Die CSU fühlte sich zunächst einmal bemüßigt, vor
neuer und kontinuierlicher Einwanderung warnend den
Finger zu erheben. Danach klang es schon ein bisschen
positiver. Kollegen aus der CDU - zum Beispiel der
Kollege Merz und heute der Kollege Wolfgang
Bosbach - brachen aus der alten Allianz der Gegner jeglicher Einwanderungsgesetze aus und wandelten sich zu
Befürwortern.
Frau Kollegin, es
gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.
Gut.
Frau
Staatssekretärin, die Unruhe bei uns ist entstanden, als
Sie gesagt haben, der Innenminister sei bei einer
bedeutenden Veranstaltung. Bei uns geht das Gerücht
um, er sei bei einem Starkbierfest. Trifft das zu?
Ich habe gesagt,
dass ein Innenminister wie alle Minister der Regierung
neben der Pflicht, im Parlament anwesend zu sein, auch
noch andere Pflichten hat.
({0})
- Ich glaube, die Antwort war erschöpfend genug.
({1})
- Ich bitte Sie um Ruhe. Sie können noch heute den Innenminister treffen. Er kommt noch ins Haus. Ich habe
Ihnen bereits gesagt, dass das, was ich hier vortrage, die
Position meines Hauses ist und mit dem Innenminister
abgestimmt ist. Wenn er kommt, dann werden Sie selber
feststellen, dass er damit einverstanden ist.
Herr Kollege Uhl hat
eine Zwischenfrage.
Er darf sie stellen.
In meiner Eigenschaft als Stadtrat in München hatte ich 20 Jahre lang
die Ehre, beim Starkbieranstich auf dem Nockherberg
dabei zu sein. Heute ist es das erste Mal, dass ich hier
sitzen muss und nicht dabei sein kann. Ich sehe es mit
etwas Neid, dass der Herr Innenminister - das ist wohl
wahr - seit 11.30 Uhr - zu diesem Zeitpunkt ist immer
der Starkbieranstich - auf dem Nockherberg in München
weilt. Stimmt das oder nicht? Nach meiner Meinung hat
er wie wir alle die Pflicht, bei der jetzigen Diskussion
anwesend zu sein und den Termin in München dieses
Jahr sausen zu lassen.
({0})
Herr Kollege Uhl,
es tut mir Leid, dass Sie das offenbar mit Bedauern zur
Kenntnis nehmen.
({0})
- Doch, er bedauert es; es tut ihm Leid.
({1})
- Herr Kollege Uhl hat gesagt, er nehme mit Bedauern
wahr, dass er heute erstmalig an einem bestimmten Ereignis, bei dem er schon sehr oft war, nicht teilnehmen
könne. Ich würde jetzt gern zu dem hier zu diskutierenden ernsten Thema zurückkehren.
Herr Kollege Gerhardt, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Auch Sie haben sich für ein Zuwanderungsgesetz stark gemacht und sehr wortreich für dieses
geworben. Ich muss sagen: Das, was die Freien Demokraten uns vorgelegt haben, begrenzt praktisch die Migration, ja greift sogar in Rechtsansprüche ein, etwa in
den auf Familiennachzug von Ausländern, und eröffnet
keinerlei neue Perspektiven. Deswegen kann dieser Ansatz, Herr Kollege Gerhardt, unsere Billigung nicht finden.
({2})
- Ich komme noch darauf.
Am peinlichsten, meine Damen und Herren, gebärdet
sich der ehemalige Zukunftsminister, der in der Vergangenheit die Chance zu einer Offensive zur Aus- und
Fortbildung einheimischer Hightech-Experten verpasst
hat und jetzt mit dem törichten Spruch „Kinder statt Inder“ Feindseligkeiten schürt. Lothar Späth, nachweislich
kein Parteigänger der rot-grünen Koalition, fand dafür
ein treffendes Wort: Schwachsinn. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wirbt
auswärtige Spezialisten an, weil es dafür einen akuten
Bedarf gibt; sie tut das befristet. Gleichzeitig unternimmt sie verstärkt Anstrengungen, um hier im Lande
junge, aber auch ältere Kräfte in der Informationstechnologie zu schulen. Was das mit Unmenschlichkeit,
Frau Jelpke, zu tun haben soll, das müssten Sie mir
schon erklären.
Davon sorgfältig zu trennen ist die Diskussion um das
Für und Wider eines Einwanderungsgesetzes etwa mit
jährlichen Aufnahmequoten. Ein solches Gesetz steht in
der Tat kurzfristig nicht auf der Tagesordnung. Dazu
brauchen wir Zeit und möglichst die Einbettung in den
europäischen Rahmen.
Fazit: Wir setzen den Schwerpunkt darauf, die Integration unserer nichtdeutschen Mitbürger zu verstärken.
Wir haben die Einbürgerung deutlich erleichtert und
hoffen, dass diese gesetzliche Regelung positiv gewürdigt wird. Wir treiben die Harmonisierung des Asylrechts in Europa voran. Wir verbessern das Ausländergesetz da, wo es notwendig ist, zum Beispiel bei den
Verwaltungsvorschriften, damit etwa die geschlechtsspezifische Verfolgung im Asylverfahren besser und
sensibler beachtet wird.
Bei § 19 des Ausländergesetzes haben wir heute
wirklich einen Schritt nach vorne gemacht. Ich kann nur
noch einmal sehr lebhaft meiner Freude darüber Ausdruck verleihen, dass wir die Frist für die Erlangung des
eigenständigen Aufenthaltsrechts für ausländische Ehepartner deutlich verkürzt und damit vor allen Dingen
etwas für die Verbesserung der Lage der Frauen getan
haben.
({3})
Mit alledem, meine Damen und Herren, sind wir auf
gutem Weg. Ich bin sicher, dass wir auf diesem Wege
gut vorankommen können. Einer sachlichen Debatte ich betone das - über all die Fragen, die heute angeklungen sind, stehen wir offen gegenüber.
Danke schön.
({4})
Das Wort zur Geschäftsordnung hat die Kollegin Birgit SchnieberJastram.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, wir sind
uns einig, dass das, was hier eben an Frage und Antwort
stattgefunden hat mit der Bedeutung dieses Parlaments
nicht gerecht wird.
({0})
Deswegen möchte ich Ihnen sagen, dass die CDU/CSUFraktion beantragt, gemäß § 42 unserer Geschäftsordnung die Herbeirufung des Ministers zu beschließen.
Ich glaube, die Selbstachtung des Parlamentes gebietet
dies. Es gibt keinen anderen Weg.
({1})
Das Wort zur Geschäftsordnung hat die Kollegin Angelica SchwallDüren.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Frau
Staatssekretärin hat ausgeführt, dass ein Minister auch
anderweitig wichtige Veranstaltungen zu besuchen hat.
({0})
Wir beantragen jetzt eine einstündige Sitzungsunterbrechung; um eine Sondersitzung unserer Fraktion
durchzuführen, in der wir über die Vorfälle, die hier
stattgefunden haben, beraten werden
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wenn eine Fraktion für eine Fraktionssitzung Sitzungsunterbrechung beantragt, ist es in diesem
Haus üblich, dass diesem Antrag stattgegeben wird.
Deshalb unterbreche ich die Sitzung des Deutschen
Bundestages für circa eine Stunde. Sie werden rechtzeitig informiert, wann die Plenarsitzung fortgesetzt wird.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir haben, wie geplant, zunächst noch über den von
der CDU/CSU-Fraktion gestellten Antrag auf Herbeirufung des Bundesministers des Innern abzustimmen. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt
({0})
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P., während die PDS
sich enthalten hat.
Damit können wir nun mit der Aussprache zum Antrag der CDU/CSU-Fraktion zum Asyl- und Ausländerrecht fortfahren. Als nächstem Redner in der Debatte erteile ich das Wort dem Abgeordneten Wolfgang
Zeitlmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es könnte
jetzt durchaus jemand den Vorwurf erheben, wir hätten
irgendeine Werbevereinbarung mit der Paulaner-Brauerei, die jenes Starkbierfest veranstaltet, an dem der Innenminister teilnimmt.
({0})
Ich habe heute den ganzen Vormittag an den Debatten einschließlich der zur Änderung des § 19 des Ausländergesetzes teilgenommen und mich hier informiert.
Eines möchte ich vor diesem Hintergrund sagen: Es ist
schon ein besonderes Zeichen parlamentarischer Diskussionskultur, dass niemand von uns, obwohl die Medien
in den letzten Tagen vom Thema Green Card, Zuwanderungsbegrenzungsgesetz und anderen Dingen voll waren, dieses zum Gegenstand parlamentarischer Debatten
machte. Mir muss einmal einer erklären, wie wir im Ansehen in der öffentlichen Meinung steigen sollen, wenn
wir so inaktuell über Themen debattieren.
({1})
Ich glaube deshalb, dass der Zeitpunkt für die Beratung des Antrages der CDU/CSU für ein modernes
Asylrecht genau richtig war und dabei von den Kollegen
mit guten Gründen auf die eigentlichen Themen, die
jetzt draußen debattiert werden, eingegangen wurde.
Der Kollege Bosbach hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass es eine Riesenkluft zwischen dem gibt,
was die Regierung erklärt, und dem, was sie tatsächlich
macht.
Die Äußerungen Schilys über die Belastbarkeit dieser
Republik in Bezug auf die Zuwanderung wurden schon
erwähnt. Es gibt ja noch weitere Äußerungen, die er in
der Vergangenheit von sich gegeben hat, die bei seinen
eigenen Regierungsgenossen meistens auf heftige Kritik
gestoßen sind.
So hat er zum Beispiel im Oktober 1999 in der „Zeit“
erklärt, dass nicht jede Wohltat, die wir den Menschen
gewähren, einklagbar sein müsse. Damit sind wir genau
beim Kern der Debatte. Ich fand es sehr gut, dass wir
hier einmal breiter darüber diskutiert haben und von der
engen Sicht der Begrenzung von Zuwanderung weggekommen sind. Heute Vormittag wurde von einem Teil
der Abgeordneten hier ganz deutlich gesagt -das ist unbestreitbar - das ist im Protokoll auch nachlesbar -, dass
ein Teil dieses Hauses ein Mehr an Zuwanderung will.
Sie haben gesagt, dass das Ausländerrecht in frauenspezifischen Belangen und in anderen Bereichen geöffnet
werden solle. Jetzt kommt in diese Debatte der Vorschlag einer Green Card hinein.
Heute Vormittag ist auch gesagt worden, die Regierung bereite Rechtsänderungen vor. Ich weiß nicht, ob
der Auswärtige Ausschuss Detailinformationen darüber
hat, wie die Visaerteilung erleichtert wird. In einer Mitteilung des Auswärtigen Amtes im Internet wird bedauernd darauf hingewiesen, dass die Zahl der Visaerteilungen zurückgegangen sei, weshalb es hier Erleichterungen geben müsse. Dann steht dort noch folgender schöner Satz: Im Zweifel sollte man sich immer für die Einreise aussprechen.
({2})
Im Februar dieses Jahres haben Sie den Bundesratsvorschlag zur Begrenzung asylbewerberleistungsgesetzlicher Regelungen abgelehnt, gleichzeitig wollen Sie die
Arbeitserlaubnis für Asylbewerber erleichtern. Daraus
wird schon ein gewisses Konzert: Man will in Zukunft
ein Mehr an Zuwanderung; eine Verringerung der jetzigen Probleme der Kommunen ist nicht in Sicht.
Wir können jederzeit parteienübergreifend eine Debatte beginnen, sofern es von keiner Seite irgendwelche
heiligen Kühe gibt. Herr Gerhardt, bei Ihnen gab es immer eine solche heilige Kuh, nämlich das Asylgrundrecht. In der letzten Wahlperiode hat Ihre Ausländerbeauftragte stets gesagt, man wolle ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz, sei aber nicht bereit, die derzeitige
Zuwanderung in Frage zu stellen. Das hat auch Ihr Exkollege Hirsch viele Jahre lang gesagt. Daher sage ich:
Wir können über alles debattieren, sofern keine Vorbedingungen gestellt werden.
({3})
Eine Vorbedingung, die ich von der linken Seite höre,
ist, dass das Grundrecht auf Asyl als heilige Kuh angesehen wird.
({4})
- Sie können doch nicht so tun, als sei ohne ein solches
subjektives Grundrecht Asyl nicht denkbar. Anderenfalls müssten Sie doch einem Teil der europäischen
Staaten den Vorwurf machen, dass sie zutiefst undemokratisch seien. Das tun Sie aber nicht. Sie wissen genau,
dass es verschiedene Formen gibt -
Herr Kollege
Zeitlmann, darf ich Sie einmal unterbrechen? Es besteht
bei Ihrem Kollegen Belle der Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Dem Kollegen
Belle gestatte ich sie immer.
Herr Kollege
Zeitlmann, wie beurteilen Sie das großzügige und umfassende Gesprächsangebot des Herrn Kollegen
Gerhardt von der F.D.P., der das individuelle Asylgrundrecht beibehalten will, unter dem Gesichtspunkt,
dass die beiden F.D.P.-Minister Döring und Goll aus
Baden-Württem-berg ganz intensiv die Abschaffung des
subjektiven Asylgrundrechts fordern?
({0})
Herr Kollege
Belle, als ich auf den Kollegen Hirsch einging, wollte
ich schon Herrn Gerhardt sagen, er müsse sich von
Hirsch freischwimmen und auf Dörings Position zubewegen. Dann können wir ganz offen über dieses Thema
diskutieren. Der linken Seite des Hauses sage ich, sie
soll sich von den linken Träumern freischwimmen,
({0})
die der deutschen Bevölkerung ein Mehr an Zuwanderung zumuten wollen. Dann können wir miteinander
ringen, Herr Wiefelspütz.
({1})
Meine Damen und Herren, die Frau Staatssekretärin
sprach hier davon, es müsse in Europa Mindeststandards geben. Das ist ein bisschen gefährlich, da dieser
Begriff bedeuten könnte, dass Länder im Rahmen der
EU auch über diese Mindeststandards hinausgehen. Ich
halte es für sinnvoller, dass man sich für einheitliche
Standards einsetzt. Es soll gleiches Recht für alle in allen Bereichen Europas gelten.
Eine Debatte macht nur Sinn, wenn wir uns nicht gegenseitig sozusagen an den Pranger stellen und so tun,
als wenn jeweils der andere Unrecht habe. Herr Veit, Sie
haben es gemacht, indem Sie gesagt haben, wir würden
uns abschotten. Wer in die Republik schaut, der weiß
genau, dass sich unser Land nicht abschottet. Es macht
auch keinen Sinn, Frau Kollegin Beer, wenn Sie hier so
tun, als ob die Flüchtlingskonvention ein Einreiserecht
gibt. Sie schützt vor Abschiebung und Zurückweisung,
aber sie gibt kein Einreiserecht. Ich sage das, damit die
Sachverhalte nicht verwischt werden.
Frau Kollegin Beer, auch Sie sagten, die Union habe
eine Abwehrgrundhaltung. Dies ist in einer Gesellschaft
legitim. Wiefelspütz schreibt, dass in den letzten Jahren
700 000 bis 900 000 Menschen zu uns gekommen sind
({2})
- ich wollte diesen Punkt gerade erwähnen - und derzeit
in etwa gleicher Zahl gehen.
({3})
Aber jeder weiß, dass dieser Prozess des Gehens damit
zusammenhängt, dass der Staat mit großer Kraftanstrengung abschiebt. Wenn es diese Abschiebungen nicht
gäbe, hätten wir eine hohe Zuwanderung.
Angesichts der Tatsache, dass diese Zuwanderung
Probleme im kommunalen Bereich erzeugt, etwa in
Schulen und bezüglich der Einteilung der Schulbuslinien, und dass die Integration in manchen Städten
wirklich nicht funktioniert, kann man doch unsere Position nicht verunglimpfen und so tun, als ob eine Abwehrhaltung etwas Negatives sei. Es ist legitim, dass
sich eine Gesellschaft vor zu viel Zuwanderung schützt.
({4})
Es hilft auch nichts, wenn wir den Eindruck erwecken, als seien die, die sich vor zu viel Zuwanderung
schützen wollen, leicht asoziale Elemente, die für die
Nöte der Welt kein Herz haben. In diesem Zusammenhang ist diese Meinung unfair, denn unser Land tut sehr
viel im Rahmen der Zuwanderung. Denken Sie nur an
die Lasten der letzten acht Jahre, die Deutschland im
Fall der Hilfe für Bürgerkriegsflüchtlinge erbracht hat!
Das ist bemerkenswert und rechtfertigt solche Vorwürfe
nicht.
({5})
Ich halte es auch für bemerkenswert, dass wir heute
erstmalig im Parlament dieses Thema diskutieren, nachdem der Bundeskanzler mit der Green Card sozusagen
einen Versuchsballon gestartet hat. Ohne den Antrag der
CDU/CSU hätte es die Mehrheit dieses Hauses anscheinend nicht für notwendig gehalten, das Parlament mit
diesem Thema zu befassen.
({6})
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Sie können die Probleme der Republik nicht auf diese
Weise abhandeln und andererseits den Vorwurf erheben,
die Union schneide Themen an, die mit ihrem eigenen
Antrag nichts zu tun haben.
({7})
- Ich gebe gern zu, dass es nicht unbedingt mit dem
Wortlaut übereinstimmt. In Anbetracht Ihrer relativ unparlamentarischen Haltung erscheint es mir aber voll gerechtfertigt, Ihren Kanzler sozusagen sausen zu lassen,
weil Sie das Parlament nicht einmal darüber diskutieren
lassen wollen.
({8})
- Herr Kollege Wiefelspütz, bitte schön.
Herr Zeitlmann, es gibt
doch so etwas wie bayerischen Liberalismus. Warum
sind Sie kein toleranter, liberaler bayerischer Mensch?
({0})
Die zweite Frage: Sind Sie bereit, mir zuzustimmen,
dass das gesamte Haus auch in Zukunft immer wieder
die wichtigen Fragen dieses Landes erörtern wird? Dazu
gehört beispielsweise selbstverständlich auch die wichtige Frage hinsichtlich der Zuwanderung, Migration,
Asyl und alles, was - wie die Green Cards - damit zusammenhängt. Sie sind bereit anzuerkennen, dass der
heutige Tag selbstverständlich nicht der letzte Tag ist, an
dem eine Debatte auf diesem Felde geführt wird?
Herr Kollege
Wiefelspütz, wer mich kennt, zweifelt nicht an einer
gewissen Liberalität.
({0})
Herr Kollege Wiefelspütz, es kommt natürlich immer
auf den Standpunkt an. Sie haben wahrscheinlich relativ
wenig Detailkenntnis von bayerischer Liberalität. Das
muss man Ihnen nicht vorwerfen. Ich bleibe dabei: Es ist
bemerkenswert, dass die Mehrheitsfraktionen ihren
Kanzler etwas sagen lassen und es in der Woche darauf
nicht zum Gegenstand einer Debatte machen. Entweder
kennen Sie sich selber noch nicht aus, was damit gemeint ist, oder Sie haben ein schlechtes Gewissen, weil
Sie kalt erwischt wurden. Das mag alles sein. Aber das
wird man doch feststellen dürfen, ohne dass man von
Ihnen Kritik erfährt.
({1})
Meine Damen und Herren, ich würde es begrüßen,
wenn die heutige Diskussion zu dem Ergebnis käme,
dass sich die Parteien zu einem neuen Diskurs zusammenfinden, um das Thema Zuwanderung wirklich einmal aufzuarbeiten.
({2})
Es ist doch festzustellen, dass wir derzeit eine zu hohe Zuwanderung haben, die ungesteuert ist - es ist zigmal über die Anerkennungsquoten und dergleichen mehr
gesprochen worden -, und dass es in der Republik viele
gibt, die gerne Ausländer beschäftigen würden. Ich behaupte, nicht nur die IT-Industrie, sondern auch viele
Unternehmen würden Ausländer beschäftigen. Jeder von
Ihnen hat die Fälle in seiner Praxis, dass KosovoAlbaner, Bosnier zurückgeschoben werden sollen und
irgendjemand erklärt, wie wichtig, notwendig und sinnvoll sie sind. Das Arbeitsamt erklärt fünfmal, dass sie
keine deutsche Arbeitskraft für diesen Bereich haben,
und trotzdem schieben wir ab.
Diskutieren wir doch einmal ganz unvoreingenommen, wie wir zu einer Steuerung kommen. Dann dürfen
Sie aber keine Vorbehalte geltend machen und sagen:
Im Ergebnis muss eine größere Zahl der Zuwanderung
herauskommen. Dieses höre ich immer wieder bei Ihnen
- nicht bei Ihnen, Herr Wiefelspütz; ich habe Sie nicht
persönlich gemeint, sondern die Gesamtheit der Stimmen, die aus dem Regierungslager kommen. Auch die
Kritik, die Sie an dem Innenminister Schily üben, macht
es deutlich. Ich sage Ihnen: Offene Debatte ja, aber zur
rechten Zeit. Dann könnte vielleicht einmal etwas Sinnvolles herauskommen. Eines müssen Sie auch akzeptieren: Wenn wir unsere Hausaufgaben in Deutschland
nicht machen, wird eine europäische Lösung wahrscheinlich nicht möglich sein.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Claudia Roth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist mir ein Vergnügen, nach dem bayerischen Abgeordneten Zeitlmann zu sprechen,
({0})
weil auch ich aus Bayern bin und es hoffentlich klar
wird, dass es ein anderes Bayern gibt, dass Bayern zumindest sehr pluralistisch ist. Manchmal gibt es Vorurteile, gegen die ich mich wenden möchte.
({1})
Der Antrag, über den wir heute debattieren - das wird
in der Debatte manchmal vergessen -, trägt den Titel
„Modernes europäisches Asyl- und Ausländerrecht“.
Wenn modern heißt: Ausbau und Schutz von Grundund Menschenrechten, wenn modern heißt: Europäisierung auf dem höchsten Niveau im Sinne derer, die Hilfe
und Zuflucht suchen, wenn modern heißt: liberale Interpretation der einschlägigen Konventionen, dann ist das,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, was
Sie vorschlagen, nicht modern, sondern entsetzlich altmodisch, überholt, mit sehr entdemokratisierenden Zügen.
({2})
- Herr Merz, ich bitte, dass Sie hier bleiben.
({3})
Ich wollte Sie als alten Europäer ansprechen. Ich erzähle
es Ihnen später.
Sie treiben in alter, wohl bekannter Manier Schindluder mit Europa, wenn Sie die europäische Harmonisierung als Vehikel zum Abbau nationaler Standards und
rechtsstaatlicher Errungenschaften missbrauchen wollen.
Modernität ist für mich der Ausbau und Schutz von
Grundrechten, zum Beispiel im Rahmen der
Grundrechtecharta der Europäischen Union. Ein modernes europäisches Asylrecht setzt auch bei uns
Veränderungen voraus - das stimmt. Meine Kollegin Frau
Beck hat darauf hingewiesen, dass eine Veränderung bei
uns zum Beispiel heißt: eine weitergehende Interpretation der Genfer Flüchtlingskonvention im Sinne des
UNHCR, also die Anerkennung geschlechtsspezifischer
und nicht staatlicher Verfolgung. Wir wollen auf keinen
Fall einen europäischen Wettlauf der Schäbigkeit, die
Harmonisierung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Wir wollen vielmehr die Sicherheit von Standards
auf einem sehr hohen Niveau.
In meiner Interpretation ist Modernität nicht die Fortsetzung dessen, was in 16 Jahren Kohl-Regierung praktiziert wurde. In dieser Zeit wurde das Grundgesetz
Stück für Stück demontiert und es ist zu einem regelrechten Steinbruch verkommen.
Mit Ihrem Antrag verfolgen Sie wirklich nichts anderes als die Demontage eines rechtsstaatlichen Asylverfahrens. Wer fordert, dass Asylanträge bereits an der
Grenze beschieden werden, der schlägt ein Prüfungsverfahren vor, das kein Verfahren, sondern ein juristisch
kaschierter Fußtritt ist. Wer Rechtsschutz suchende
Flüchtlinge ins Ausland abschieben will, der entzieht ihnen die Möglichkeit, effektiv Rechtsmittel einzulegen.
Er verweigert damit die Rechtsweggarantie. Wer das
Beweisantragsrecht in Asylverfahren, das Grundrecht
auf freie Meinungsäußerung, auf Vereinigungsfreiheit,
auf Versammlungsfreiheit für Asyl Suchende einschränken will, der entrechtet systematisch das Recht.
Lieber Herr Kollege Zeitlmann, ganz nebenbei gesagt: Das hat auch mit christlichen Werten, so wie ich
sie verstehe, nicht mehr viel zu tun.
({4})
In der aktuellen Debatte - wir haben es in den Medien
gehört, wir haben es gelesen, wir haben es aber auch
heute im Plenum gehört - gehen Ihre Vorstellungen weit
über das hinaus, was im Antrag vorgeschlagen wird. Es
geht tatsächlich darum - das haben Sie gesagt, Herr
Zeitlmann -, das individuelle Grundrecht auf Asyl abzuschaffen. Auch Herr Merz hat sich im „Spiegel“ dazu
geäußert. Er hat erklärt, das Asylrecht zugunsten einer
Zuwanderungsregelung ablösen zu wollen, die sich - ich
zitiere - „ausschließlich an den Interessen des Staates“
orientieren solle.
Die Nöte derjenigen Menschen, die vor Todesgefahr,
vor Folter, vor Misshandlung fliehen wollen, sollen also
volks- und betriebswirtschaftlichen Erwägungen untergeordnet werden. Mit Verlaub, liebe Kollegen: Das ist
der untaugliche Versuch der Entsorgung unserer historischen Verantwortung, wie sie als Konsequenz des Naziterrors in Art. 16 des Grundgesetzes formuliert wurde.
({5})
Das Grundrecht auf Asyl ist ein subjektives Recht
und eben kein Gnadenrecht des Staates. So ist es und so
muss es bleiben, ganz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, auch auf europäischer Ebene. Herr
Zeitlmann, seien Sie sicher: Das wird von uns auch europäisch so eingefordert.
Ich möchte gerne noch auf Punkt 10 Ihres Antrags
eingehen, in dem Sie eine so genannte Lastenverteilung
fordern, die in erster Linie nach Quoten erfolgen soll.
Die Kommission hat einen Richtlinienvorschlag vorgelegt, der von mir in den Grundzügen voll geteilt wird.
Ich begrüße sehr, dass der geplante Aufbau von Asylsystemen in Ländern, die in diesem Bereich noch einen
Nachholbedarf haben, stattfinden soll. Ich finde es lobenswert, dass diejenigen Flüchtlinge, die nur einen so
genannten subsidiären Schutz genießen, in staatliche Integrationsprogramme aufgenommen werden sollen.
Außerdem - darum geht es in dem Streit über Quote
und Flüchtlingsfonds - begrüße ich das sehr, dass die
Kommission vorschlägt, dass in Massenfluchtsituationen
diejenigen EU-Länder einen finanziellen Ausgleich erhalten sollen, die mehr Flüchtlinge als andere aufgenommen haben. Also: Bitte keine Blockaden!
Ich wollte Herrn Merz - leider ist er hinausgegangen
- viel Glück und Kraft in seinem neuen Amt wünschen.
Das kann er sicherlich gebrauchen.
({6})
Ich wollte ihn an seine Ankündigung erinnern, Europapolitik zu einem Schwerpunkt der politischen Auseinandersetzung zu machen. Das halte ich für eine gute und
positive Ankündigung.
Nur, die Tonlage, mit der von Unionsvertretern die
Themen „Asyl“ und „Türkei“ angestimmt werden,
macht mich sehr skeptisch, weil ich nicht glaube, Herr
Bosbach - auch er ist nicht mehr da -, dass es wirklich
eine verantwortungsvolle Debatte ist; vielmehr geht es
um eine rechtspopulistische Stimmungsmache. Ich glaube, dass billige Polemik und neue Kampagnen, die
Flüchtlinge kriminalisieren und sie zur Bedrohung erklären, sehr gefährlich sind. Wie brandgefährlich das ist,
haben wir - im wahrsten Sinne des Wortes - in der Ära
Kanther erlebt. Also: Bitte keine Stammtisch- und
Starkbierparolen, sondern eine wirklich verantwortungsvolle Diskussion.
Zum Schluss: Ich glaube, dass wir die allerbesten Europäer sind, wenn wir dafür kämpfen, dass die europäische Harmonisierung am besten auf der Basis des unveräußerlichen Schutzes und Respektes gegenüber
Grundrechten geschieht, weil die Grundrechte das Allermodernste sind, was wir haben und was Europa hat.
Ohne Grundrechte, ohne das individuelle Grundrecht auf
Asyl wäre dieses Europa sehr viel ärmer.
({7})
Und dies, Herr Zeitlmann, sagt eine Dame aus Bayern!
({8})
Claudia Roth ({9})
Das Wort hat
jetzt Herr Kollege Barthel.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ich habe es ein bisschen bedauert, dass durch dieses - ich nenne es einmal so Zwischenspiel eine Debatte, die teilweise Aussagen hervorgebracht hat, über die man reden sollte, unterbrochen
wurde. Es fielen in der Tat einige Bemerkungen - ich
denke besonders an die von Herrn Gerhardt -, von denen man sagen kann, dass man darüber weiter reden
müsste.
Ich habe mir auch von Herrn Bosbach einen Satz aufgeschrieben, der mich doch tief beeindruckt hat. Der
Satz lautet:
Wir reden nicht über seelenlose Roboter, sondern
über Menschen.
Herr Bosbach, dieser Satz wird bestimmt auch im Zusammenhang mit Ihrem Namen häufig zitiert werden
und ich kann Ihnen auch sagen: Er wird nicht nur zitiert
werden, sondern daran wird sich auch vieles messen lassen müssen, was Sie in der konkreten Politik in diesen
Bereichen, über die wir heute reden, tun.
Es ist ein wichtiger Satz - manche behaupten, es sei
ein Bischofswort -, aber er steht völlig im luftleeren
Raum im Verhältnis zu allem, was wir bisher ansonsten
hierzu gehört haben.
Mich wundert auch, dass alle Debatten, die bei Ihnen
geführt werden, offensichtlich immer mit der Aussage
enden: Wir müssen das individuelle Asylgrundrecht
abschaffen. - Komisch, immer läuft das darauf hinaus,
angefangen mit der Green Card bis zu allem Möglichen;
es läuft immer auf diesen Punkt hinaus. Wie hieß es aber
noch? Wir reden nicht über seelenlose Roboter, sondern
über Menschen.
Meine Damen und Herren, was mich ebenfalls gewundert hat, ist Folgendes. Der Antrag lautet „Modernes
europäisches Asyl- und Ausländerrecht“ und Sie wollen
damit die Bundesregierung auffordern, die Harmonisierung voranzutreiben. Gesagt haben Sie zu Ihrem eigenen
Antrag nichts. Nun könnte man das damit abtun, dass
man sagt: Jeder Schüler hat es schon einmal erlebt, dass
unter einem Aufsatz stand „Thema verfehlt“. Aber ich
denke, hier liegt der Grund ein bisschen tiefer.
Warum bringen Sie einen solchen Antrag ein, reden
aber nicht über das eigentliche Ziel des Antrages, nämlich die europäische Ebene, die hiermit doch gemeint
ist? Dafür gibt es eine Erklärung: Sie nehmen den Antrag selbst nicht ernst, weil Sie meinen, das Thema liege
bei der jetzigen Bundesregierung schon in guten Händen. Die Staatssekretärin hat vorhin ja auch vorgetragen,
was alles in diesem Bereich bereits getan wurde. Ich
gehe davon aus, dass Sie das auch wissen. Also müsste
es dafür einen anderen Grund geben.
Ich werde Ihnen anhand eines kleinen Beispiels aus
Ihrem eigenen Antrag zu begründen versuchen, weshalb
das nach meiner Ansicht stimmt. Ich habe das Gefühl,
dass es Ihnen gar nicht um die Harmonisierung auf europäischer Ebene geht, sondern dass für Sie das Ziel
„Harmonisierung“ eigentlich nur ein Instrument ist, um
die Standards, die wir in der Bundesrepublik haben, abzubauen. Nach meinem Eindruck ist also Ihr Interesse
gar nicht auf das gerichtet, was wir eigentlich alle wollen und was wichtig ist, nämlich in der Tat zu einer
Harmonisierung des Ausländer- und Asylrechts auf europäischer Ebene zu kommen, sondern auf eine Senkung
der Standards, die wir heute in Deutschland haben. Dabei ist es meines Erachtens doch so wichtig, dass wir uns
auch einmal mit den Problemen beschäftigen, die vor
der Harmonisierung stehen und die wir zu lösen haben.
Jeder versteht unter Harmonisierung eigentlich ein
bisschen etwas anderes. Wer versteht aber was darunter?
Welche Positionen sollen überhaupt harmonisiert werden? Gibt es nicht auch Unterschiede, die weiterhin als
Unterschiede behandelt werden müssen? Nach dem
Gleichheitsgrundsatz, den wir einmal gelernt haben, war
ja nicht alles gleich zu machen, sondern unterschiedliche
Tatbestände waren entsprechend ungleich zu behandeln.
Alle diese Fragen bleiben aus und für mich ist die
wichtigste Frage: Was ist am Ende? Werden wir ein liberales, ein liberaleres europäisches Asyl- und Ausländerrecht haben oder wird der Vorwurf, der immer zu hören ist, vom „Ausbau der Festung Europa“ bestätigt?
Meine Damen und Herren, wie wichtig die Einheitlichkeit in bestimmten Bereichen und auch die Harmonisierung ist, geht aus dem Punkt 10 Ihres Antrags, den
ich einmal als Beispiel herausgreife, hervor, nämlich aus
dem, was Sie als „Lastenverteilung“ bezeichnet haben.
Man könnte auch von „gemeinsamer Verantwortung für
Flüchtlinge“ reden, aber der Begriff „Lastenverteilung“
hat sich in diesem Zusammenhang wohl eingebürgert.
Es kann in der Tat nicht sein, dass die Partner humanitäre Hilfen aus purem Eigeninteresse anderen Ländern
überlassen. Das kann nicht so bleiben. Ich glaube, wir
sollten versuchen - hier liegen wohl die größten Probleme -, zu einer Harmonisierung zu kommen, damit
ein „Lastenausgleich“ zustande kommt.
Lassen Sie mich ein Problem benennen: Wir werden
in dieser Frage auf europäischer Ebene erst dann
glaubwürdig sein, wenn wir das auch innerhalb Deutschlands geregelt haben. Wir haben doch innerhalb
Deutschlands zwischen den Bundesländern ebenfalls das
Problem, dass wir diesen Ausgleich nicht schaffen. Ich
nenne das Stichwort: Bosnien-Flüchtlinge. Es gab Länder, in denen eine große Anzahl von Flüchtlingen war,
und es gab Länder, in denen nur wenige Flüchtlinge waren. Bevor wir auf europäischer Ebene einen Ausgleich
fordern, müssen wir es erst schaffen, den Ausgleich zwischen den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland
hinzubekommen.
Es war eine Leistung - jedenfalls bewerte ich das
sehr hoch -, dass es die jetzige Bundesregierung geschafft hat, bei den Kosovo-Flüchtlingen diesen Ausgleich in der Bundesrepublik Deutschland endlich zustande zu bringen. Ein Kompliment; das ist gut. Mit dieser Position haben wir auf europäischer Ebene sicher größere Chancen, dieses sinnvolle Ziel des
Lastenausgleichs hinzubekommen und in diesem
Bereich eine Harmonisierung zu erreichen.
Im Kern geht es bei der Harmonisierung darum, einen
gemeinsamen Nenner zu finden. Hier ist nun die Frage:
Will man den kleinsten gemeinsamen Nenner oder will
man einen größeren Nenner auf humanitärer Basis? Der
kleinste gemeinsame Nenner darf es wohl nicht sein. Ich
vermute, dass dies das Ziel der CDU/CSU ist: Sie wollen nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner auf europäischer Ebene, sondern es sollen auch die Möglichkeiten gedeckelt werden, dass einzelne Ländern in dieser
Frage einen größeren Spielraum haben.
Wir haben vor einiger Zeit in diesem Hause über einen Antrag der CDU/CSU gesprochen, und zwar über
die so genannte Warndatei. Er ist von allen Fraktionen,
außer der der CDU/CSU - ich erinnere mich noch an Ihre Rede -, abgelehnt worden, auch von der F.D.P. Das
hat mich gewundert. Hier sieht man nun eine gewisse
Methode. In Punkt 12 Ihres heutigen Antrages zur Harmonisierung des Ausländer- und Asylrechts taucht genau dieser Punkt als Forderung wieder auf. Mit anderen
Worten: Das, was Sie hier nicht erreichen, wollen Sie
jetzt auf europäischer Ebene durchsetzen, damit es auch
in Deutschland gültig wird. Das ist nicht unser Ansatz
für eine notwendige Harmonisierung des europäischen
Ausländer- und Asylrechts.
({0})
Die Bereiche, die bereits von der Bundesregierung
genannt worden sind, möchte ich jetzt nicht wiederholen. Ich möchte nur abschließend eines sagen: Ich bin
nach den Vorläufen, den Diskussionen, Anträgen und
Entscheidungen seitens der CDU/CSU-Opposition, die
wir in diesem Bereich bisher hatten, eigentlich froh, dass
die Verhandlungen über die notwendige Harmonisierung
auf europäischer Ebene nicht weiter von Ihnen geführt
werden, sondern von der jetzigen Bundesregierung.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Sebastian Edathy.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Gegenstand dieser Debatte ist ein
Antrag der Unionsfraktion mit dem Titel - man muss
das vielleicht sagen, weil heute über den Antrag selber
wenig gesprochen worden ist -: „Modernes europäisches Asyl- und Ausländerrecht“. Ich habe allerdings als
jemand, der die Debatte, die ja doch ein bisschen länger
geworden ist als geplant, verfolgt hat, seitens der Unionsfraktion von Modernisierung wenig gehört. Ich habe
mich daran erinnert, dass ich vor einigen Wochen Herrn
Bosbach nach seiner Wahl zum stellvertretenden
Unionsfraktionsvorsitzenden - Nachfolger von Herrn
Rüttgers - zuständig für den Bereich Inneres und Recht,
ausdrücklich gratuliert habe, weil ich ihn im Vergleich
zu Herrn Rüttgers als sehr sachlich auftretenden Kollegen, gerade im Innenausschuss dieses Hauses, erlebt habe. Aber es scheint wirklich so zu sein, dass unter den
Blinden der Einäugige König ist und dass auch der Einäugige, wenn er hier ans Rednerpult tritt, offenbar dem
Rechnung tragen muss, was bei Ihnen Methode zu sein
scheint, nämlich Ausländerpolitik so zu gestalten, dass
man erst einmal schaut, wie man sie parteipolitisch instrumentalisieren und nutzen kann. Das wird dem Anspruch, den wir als Parlamentarier haben sollten, nicht
gerecht.
({0})
Wer zudem in diesen Tagen die Nachrichten aufmerksam verfolgt, der kann eigentlich nur zu der
Schlussfolgerung gelangen, dass wieder einmal das
Thema Ausländer dafür herhalten soll, zum Zwecke parteipolitischen Vorteils unberechtigte Ängste in der Bevölkerung zu wecken. Wenn man etwa die Äußerungen
des Kollegen Marschewski in diversen Interviews nachliest, dann kann man fast den Eindruck gewinnen, dass
wir das bestehende Recht am besten durch die Abschaffung des Rechtes modernisieren, in diesem Falle also
das Asylrecht am besten dadurch modernisieren, dass
wir das Grundrecht auf Asyl abschaffen, von dem der
Generalsekretär der CSU, Herr Goppel, gesagt hat, es
dürfe keine heilige Kuh darstellen. Dies macht ein bisschen verständlicher, warum Herr Rüttgers etwas gegen
Hindus hat. Denn die haben ja bekanntlich Respekt vor
heiligen Kühen.
({1})
- Das stünde Ihnen auch gut an.
({2})
- Herr Ramsauer, wollen Sie eine Zwischenfrage stellen?
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?
Ja, in diesem Falle tue ich
das gerne.
Herzlichen Dank, Herr Kollege Edathy. Ich habe einen
schönen Namen: Ich heiße Erwin Marschewski und
nicht Otto Schily. Wer hat denn jetzt gesagt, die Grenze
der Belastbarkeit sei überschritten? Ich frage das nun
zum wiederholten Male. Wer hat denn gesagt, wir müssten das subjektive Asylgrundrecht abschaffen? Doch
nicht primär ich, sondern der Kollege Schily!
Eckhardt Barthel ({0})
({1})
Herr Kollege Edathy, geben Sie mir da Recht?
Was sagt denn Ihre Fraktion zu dieser Äußerung des
Herrn Bundesinnenministers? Fordert sie ihn endlich
zum Rücktritt auf? Wir würden dies gerne tun; denn er
sagt und verspricht viel, verwirklicht aber nichts. Angesichts dessen, dass seine Haltung im Widerspruch zu Ihrer politischen Meinung und auch zu der Ihres verehrten
Vorredners steht, müssten Sie ihn doch konsequenterweise auffordern - ich erinnere an seine Äußerungen
hinsichtlich der Abschaffung des Asylrechts und der
Grenze der Belastbarkeit -, nun endlich zurückzutreten.
Warum tun Sie das nicht, Herr Kollege?
({2})
Herr Kollege
Marschewski, ich nehme zunächst einmal zur Kenntnis,
dass Sie offenkundig in jede Debatte mit dem Vorsatz
gehen, ein und dieselbe Zwischenfrage mindestens
fünfmal zu stellen. Die mir soeben gestellte Frage haben
Sie - wahrscheinlich in der Hoffnung, dass es inzwischen vergessen worden ist - bereits an den Kollegen
Veit gerichtet. Ich kann Ihnen hier nur sagen: Ich trete
an dieses Rednerpult als Parlamentarier, als direkt gewählter Vertreter des deutschen Volkes und ich erlaube
mir als Parlamentarier, darauf hinzuweisen - da befinde
ich mich in großer Übereinstimmung mit der SPDFraktion -, dass für uns die Verfassung nicht zur Disposition steht,
({0})
sondern dass wir ganz im Gegenteil stolz darauf sind,
Herr Marschewski, ein Land zu sein, das aus seiner leidvollen Geschichte gelernt hat und das dementsprechend
verfolgten und bedrängten Menschen Zuflucht gewährt.
({1})
- Das war eine eindeutige Antwort, so denke ich.
Gestatten Sie
eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?
({0})
Es steht Ihnen frei.
({1})
Wenn es der Erkenntnisgewinnung des Herrn Marschewski dient, dann darf er
gerne noch eine weitere Frage stellen.
Ich möchte das Gleiche noch einmal fragen; denn ich
habe erneut keine Antwort bekommen. Meine Frage lautet: Warum halten Sie diese politische Ansicht - wenn
Sie eine andere Meinung vertreten, akzeptiere ich das ununterbrochen mir vor und nicht dem Bundesinnenminister?
Herr Marschewski, ich
will jetzt nicht vertieft in Debatten einsteigen, die wir
unter anderem im letzten Herbst miteinander geführt haben. Aber ich will Sie doch darauf hinweisen, dass der
Bundesinnenminister über mögliche Änderungen des
Asylrechtes stets nur perspektivisch in Bezug auf die
Weiterentwicklung des europäischen Rechtes gesprochen hat. Sie versuchen jetzt im Grunde genommen, eine aktuelle Debatte, nämlich die hinsichtlich der Computerspezialisten, zu missbrauchen, die mit dem Thema
Zuwanderung grundsätzlich nicht viel zu tun hat.
({0})
Ich komme darauf noch zu sprechen. Ich bin sehr dankbar, dass ich meine Redezeit ein bisschen erweitern
kann, weil Herr Marschewski so kluge Fragen an mich
stellt.
Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken, als bestehe
im Asylrecht ein kurzfristiger Handlungsbedarf. Ich
kann nur feststellen: Das deutsche Asylrecht ist in Ordnung. In den letzten Jahren haben, wenn man sich die
entsprechenden Zahlen ansieht, in Deutschland jährlich
etwa 100 000 Menschen Asyl beantragt. Die Zahl der
Antragsteller lag 1992 bei 400 000 und 1993 bei
300 000. Jetzt aufgrund dieses Datenmaterials zu behaupten, es gebe einen kurzfristigen Handlungsbedarf,
das halte ich vor allen Dingen für eines - Herr
Marschewski, das will ich Ihnen so deutlich sagen -,
nämlich für völlig unverantwortlich. Denn Sie wecken
in der Bevölkerung Ängste, obwohl es gar keinen Grund
für diese Ängste gibt.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
ich habe vorhin mit Freude gehört, dass Sie in Bezug auf
die Bereiche Ausländerpolitik und Migrationspolitik ein
Gesprächsangebot gemacht haben. Ich will aber noch
einmal deutlich machen, was ich schon in meiner Antwort auf die Frage von Herr Marschewski kurz betont
habe: Für uns kann es, wenn Herr Zeitlmann davon
spricht, man dürfe keine Vorbedingungen stellen, nicht
heißen, dass wir als deutsche Parlamentarier auf die
Vorbedingung verzichten, die Verfassung zur Grundlage
unseres Handelns zu machen. Die Verfassung zur Disposition bzw. infrage zu stellen ist für uns keine Vorbedingung, die wir erfüllen könnten. Vielleicht sollten Sie
noch einmal über Ihr Selbstverständnis als Bundespolitiker, als Mitglieder dieses Hauses nachdenken, wenn
Sie hier solche abenteuerlichen Forderungen stellen.
({2})
Kolleginnen und Kollegen, wir werden sicherlich darin übereinstimmen, dass das europäische Recht weiterentwickelt werden muss, nicht zuletzt dahin gehend, zunehmend gemeinsame Regelungen für die Asyl- und
Migrationspolitik zu schaffen. Der im Mai 1999 in
Erwin Marschewski ({3})w
Kraft getretene Vertrag von Amsterdam und die Ratstagung in Tampere - die Staatssekretärin hat das gerade
hinreichend erläutert - zielen genau in diese Richtung.
Sie fordern in Ihrem Antrag zum großen Teil Leistungen, die von der Regierung bzw. der Parlamentsmehrheit
längst erbracht worden sind. Umso dringender ist mein
Appell an Sie, der Versuchung zu widerstehen, die Ausländerpolitik, die Frage des Umgangs mit denen, die
hierher kommen, erneut - wie bei der Debatte über das
Staatsbürgerschaftsrecht - parteipolitisch zu missbrauchen.
Wenn man sich den aktuellen Bericht der Ausländerbeauftragten über Zu- und Abwanderung nach und aus
Deutschland ansieht - darauf ist bereits hingewiesen
worden; ich möchte es aber wiederholen, weil mir dies
sehr wichtig erscheint -, stellt man fest, dass 1997 und
1998 die Zahl der Ausländer, die dieses Land verlassen
haben, höher war als die Zahl der Ausländer, die zu uns
gekommen sind. Es gehört zu einer sachlichen und
nüchternen Politik, auch dieses Stück Realität zur
Kenntnis zu nehmen.
Wir tun in jeder Hinsicht gut daran, gerade den sensiblen und behutsam zu behandelnden Bereich der Ausländerpolitik mit Vernunft und ideologiefrei anzugehen.
Gerade weil die Europäisierung des Rechtes fortschreiten wird, ist ein Konsens über die Grundzüge der Ausländerpolitik in Deutschland aus drei Gründen wichtig:
erstens für den inneren Frieden in unserem Land, zweitens, weil wir in Europa gewiss besser fahren, wenn wir
eine einheitliche Position entwickeln, und drittens, weil
wir uns bei der Gestaltung der Zuwanderung mittel- und
langfristig die Hypothek einer irrationalen Haltung
überhaupt nicht leisten können.
({4})
Im Antrag der Union wird unter Punkt 14 ein „einheitliches Regelungssystem hinsichtlich legaler sonstiger Einwanderung“ gefordert. Diese Forderung besteht
völlig zu Recht. Dann aber habe ich an Sie, Kolleginnen
und Kollegen von der Union, die Bitte, auch konsequent
zu sein und damit aufzuhören, die Zuwanderung ständig
als Bedrohung darzustellen. Mit Schwarz-Weiß-Malerei,
mit Ideologie kommen wir nicht weiter; denn Zuwanderer sind weder die besseren Deutschen, noch stellen sie
die Lebensgrundlagen der Einheimischen infrage. Deshalb meine Bitte an Sie: Kommen Sie weg von dem Gedanken der Abwehr und hin zu dem Gedanken der Gestaltung von Zuwanderung! Wir sind darauf angewiesen,
die damit verbundenen Chancen zu nutzen.
({5})
Ich war ausgesprochen überrascht - ich bin es nach
der heutigen Debatte umso mehr -, als wir Ende letzten
Jahres im Innenausschuss einen Entschließungsantrag
der Union vorgelegt bekamen, in dem folgender Satz
abgedruckt war:
Die demographische Überalterung unserer Gesellschaft erfordert eine Zuwanderung jüngerer Menschen.
Ich weiß nicht, ob Herr Rüttgers diesen Entschließungsantrag kennt.
({6})
Herr Zeitlmann jedenfalls scheint ihn nicht zu kennen.
Sonst hätte er nicht so gesprochen, wie er es heute getan
hat.
Meine Damen und Herren, das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung veröffentlichte erst vor wenigen
Monaten eine Studie zur Bevölkerungsentwicklung mit
dem Fazit, dass angesichts rückläufiger Bevölkerungszahlen und steigender Lebenserwartung Zuwanderer
mittel- und langfristig dringend benötigt werden, um
Arbeitsplätze in Deutschland nicht verwaisen zu lassen
und den Sozialstaat auch in Zukunft finanzieren zu können. Insofern sind wir gut beraten, eine sachliche Debatte zu führen. Gerade weil wir perspektivisch auf Zuwanderung angewiesen sein werden, brauchen wir eine
parteiübergreifende Verständigung über ihre Gestaltung.
Zu dieser Verständigung gehört meines Erachtens auch,
dass wir uns neben der stattfindenden Zuwanderung basierend auf gesetzlichen Verpflichtungen und humanitären Gründen auch Gedanken darüber machen, welche
Gruppen wir langfristig mit Blick auf den Arbeitsmarkt
in Deutschland benötigen.
Hierzu ein klares Wort an Herrn Gerhardt, der vorhin
für die F.D.P. gesprochen hat: Angesichts von
4 Millionen Arbeitslosen ist die Frage eines Zuwanderungsgesetzes nicht Gegenstand einer tagesaktuellen Debatte. Dies unterscheidet sie meines Erachtens
ganz deutlich vom Staatsbürgerschaftsrecht, das wir
dringend reformieren mussten, weil Handlungsbedarf
gegeben war. Wir haben die Zeit, das Vorhaben eines
Einwanderungsgesetzes in aller Ruhe, vielleicht in der
nächsten Wahlperiode unter Beteiligung möglichst vieler Kolleginnen und Kollegen sowie unter Beteiligung
vieler Wissenschaftler, in Angriff zu nehmen. Das sollten wir auch machen.
Ein Letztes will ich noch zu dem Herrn Kollegen
Rüttgers sagen, der nun leider nicht hier ist. Er hat meines Erachtens billige und ausländerfeindliche Sprüche
geklopft, als er darauf hinwies, man bräuchte Kinder
und nicht Inder an den Computern. Dazu will ich Ihnen
einmal ausdrücklich etwas als jemand sagen, der Kind
eines gebürtigen Inders ist, der schon Anfang der 60erJahre nach Deutschland gekommen ist: Ich hoffe, Herr
Rüttgers hat es nicht nötig, bald einmal ins Krankenhaus
zu gehen. Aber wenn er dies machen würde, könnte er
sich dort ein Bild davon machen, was für eine gute Arbeit schon seit langer Zeit gerade indisches Personal als
Ärzte, Krankenschwestern oder Pfleger in deutschen
Krankenhäusern leistet.
({7})
Der Erfolg dieses Landes, meine Damen und Herren,
beruht auch auf der Arbeit von Menschen, die vor geraumer Zeit hierher gekommen sind. Die Bedeutung des
Engagements solcher Menschen, die zu uns gekommen
sind, um mit uns für den Erfolg dieses Landes zu arbeiten, wird noch zunehmen.
Ich wünsche mir eine ideologiefreie Debatte über diese Fragen. Schaufensterreden, wie wir sie heute vielfach
von der Opposition gehört haben, sollten wir uns schenken. Die Sache, um die es geht, ist viel zu wichtig, um
sie hier billigen tagespolitischen Effekten zu opfern.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe
damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überwei-
sung der Vorlage auf Drucksache 14/2695 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie zusätz-
lich an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenar-
beit und Entwicklung vorgeschlagen. Sind Sie einver-
standen? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b so-
wie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf:
12. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Futtermittelgesetzes
- Drucksache 14/2636 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0})
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Dr. Ilja
Seifert und der Fraktion der PDS
Strukurelle Erneuerung der Ausbildungsförderung
- Drucksache 14/2789 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
ZP 2 a) Erste Beratung des von der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung einer Steuerreform
für Wachstum und Beschäftigung
- Drucksache 14/2903 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, Heidemarie
Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Besteuerung der Unternehmen nach deren
Leistungsfähigkeit
- Drucksache 14/2912 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Erste Beratung des von der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung des Mitgliederkreises von Bundesknappenschaft und SeeKrankenkasse
- Drucksache 14/2904 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({4})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Stephan Hilsberg, Brigitte Wimmer ({5}), Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Matthias Berninger, Hans-Josef Fell,
Kerstin Müller ({6}), Rezzo Schlauch und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine Modernisierung der Ausbildungsförderung für Studierende
- Drucksache 14/2905 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({7})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu einigen Beschlussfassungen zu
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 a auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Verlängerung der Geltungsdauer des Internationalen Kaffee-Übereinkommens von 1994
- Drucksache 14/2125 ({8})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
- Drucksache 14/2744 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Wir kommen gleich zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/2744, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem zustimmen wollen,
sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der KoalitiSebastian Edathy
onsfraktionen und der CDU gegen die F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 13 b:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Körperschaftsteuer- und Gewerbesteuergesetzes
- Drucksache 14/1520 ({9})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
- Drucksache 14/2780 Berichterstattung:
Abgeordnete Nicolette Kressl
Norbert Barthle
Der Ausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf auf
Drucksache 14/1520 für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall.
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen
worden.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 13 c:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Investitionszulagengesetzes 1999
Drucksache 14/2270 ({10})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
- Drucksache 14/2818 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Mathias Schubert
Hans Seiffert
Heidemarie Ehlert
Der Ausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf auf
Drucksache 14/2270 für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 13 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses
Übersicht 3 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 14/2779 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/2779? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen worden.
Wir kommen nun zu Zusatzpunkt 3:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Übergangsgesetzes
aus Anlass des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Handwerksordnung und anderer
handwerksrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/2809 ({11})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
- Drucksache 14/2922 Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Lange ({12})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/2922, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch dieser Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung.
Ich bitten Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Sollte jemand dagegen
stimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Lesung mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen worden.
Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:
ZP 4 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Kritische Bewertung der Umweltpolitik der
Bundesregierung durch den Umwelt-Sachverständigenrat
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Abgeordnete Grill.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung hat
in seiner jüngsten Bilanz eine vernichtende Kritik an der
Umweltpolitik der jetzigen Bundesregierung ausgesprochen. Man könnte diese Kritik auch damit überschreiben, dass man sagt: Stell dir vor, ein Grüner wird Umweltminister und keiner merkt was.
({0})
Es ist so, dass der Sachverständigenrat in seiner Bilanz deutlich macht, dass das, was sozusagen als Markenzeichen der Grünen in den Wahlkämpfen wie eine
Monstranz vorweggetragen worden ist, gar nicht wahrgenommen wird. Sie sind schlicht und einfach dabei, auf
dem klassischen, Ihnen im Parteienspektrum zugewiesenen Kompetenzfeld zu versagen. Umweltpolitik ist in
dieser Bundesregierung, in dieser Koalition eher ein
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
fünftes Rad am Wagen und sie ist kein zentraler, integrativer Bestandteil der Politik.
Sie haben sich das sehr einfach gemacht, indem Sie
gesagt haben: Ökosteuern rauf, raus aus der Kernenergie. Das war die Bilanz der letzten Monate. Das wird der
Komplexität von Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik in keiner Weise gerecht. Ihre Politik ist mehr an Prestigeobjekten orientiert als an der Frage, wie komplexe
Sachverhalte Lösungen zugeführt und Interessen miteinander versöhnt werden können.
Ganz nebenbei haben Sie die internationale Kompetenz der Bundesrepublik aufs Spiel gesetzt und zum Teil
sogar zerstört, weil Sie sowohl im europäischen als auch
im globalen Geleitzug nicht mehr als Lokomotive vorne
sind. Sie hängen vielmehr hintendran und halten das
Ganze eher auf. Ich nenne nur die Blamage, die Sie in
Sachen Altautoverordnung der Bundesrepublik Deutschland - sozusagen von Wolfsburg aus über das Bundeskanzleramt - in der europäischen Umweltpolitik zugefügt haben.
({1})
Hinzu kommt, dass Sie in einem der Felder, in dem
Sie massivste Kritik an der alten Koalition geübt haben
- im Bereich des Naturschutzes -, bis heute den Beweis
einer besseren, anderen Politik schuldig geblieben sind.
Es herrscht Funkstille statt Aufbruch im Naturschutz
und in der Klimapolitik. Herr Loske hat vor wenigen
Monaten in der „Zeit“ ganz richtig festgestellt, es bestehe die Gefahr, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre
Leitbildfunktion verliere. Es besteht nicht nur die Gefahr, Herr Loske, sondern es ist Realität, dass die Bundesregierung in Sachen Klimapolitik die Leitbildfunktion verloren hat.
({2})
Der Sachverständigenrat stellt zu Recht fest - damit
entlarvt er die Ökosteuer als das, was sie ist -, dass die
Ökosteuer kein ökologisches Instrument, sondern ein
Beitrag zur Finanzierung der Sozialpolitik ohne ökologische Wirkung ist. Wenn wenigstens eine ökologische
Wirkung festzustellen wäre, könnten wir das andere
noch besser akzeptieren. Aber dass sie nur ein fiskalisches Instrument sein soll, das kann es wohl nicht sein:
Belastungen statt Fortschritt.
Das Ozongesetz ist eher das Vehikel, das schon immer zentrale Thema der Grünen in der Verkehrspolitik alle Autos fahren nur noch 30 km/h - durchzusetzen, als
dass es zur Lösung der Ozonproblematik dient.
Wenn man einmal fragt, wo das klimapolitische Konzept dieser Bundesregierung ist, dann können Sie eigentlich nichts vorweisen. Das sieht man auch an der Antwort auf die Große Anfrage zur Energiepolitik. Sowohl
die Klimakonferenz in Bonn als auch viele andere Ereignisse machen deutlich, dass weder der Bundeskanzler
noch der Umweltminister in der globalen und europäischen Politik eine Meinungsführerschaft haben. Das ist
eine fundamentale Veränderung. Denn wenn wir heute
Verpflichtungen haben - Rio plus 10, Agenda 21 und
Ähnliches -, dann sind sie der globalen Politik von
Helmut Kohl, Klaus Töpfer und Angela Merkel zu verdanken, aber nicht Ihrer Politik, meine Damen und Herren.
({3})
Sie haben keine Konzepte und verschärfen das CO2Problem. Was Sie in den letzten Wochen hier vorgelegt
haben, ist keine Energiewende, sondern Stückwerk. Das
wird daran deutlich, dass der Bundeskanzler in einem
seiner entscheidenden Beiträge zur Umweltpolitik gesagt hat: Kernenergie raus, Kohlekraftwerke rein. Dies
ist eine Antiklimapolitik und kein Beitrag zur
Klimapolitik. Das gilt auch für die UVP und Ähnliches.
({4})
Meine Damen und Herren, auch ich hätte selber formuliert: Umweltpolitik ist eine Sache von Herz und
Verstand. Ich hätte das aber gar nicht so gut ausdrücken
können wie Sie es, Herr Loske, jüngst auf die Frage, was
grüne Umweltpolitik sei, gesagt haben.
Herr Kollege,
nur fünf Minuten!
Sie haben gesagt: Es
fehlt das grüne Herz. Bei vielen unserer Spitzenleute
spielt das Thema Umweltpolitik keine große Rolle oder
ist zumindest keine Herzensangelegenheit. - Dann sagen
Sie: Der enge Zuschnitt des Umweltministeriums ist völlig falsch, er garantiert die immanente Impotenz. Hier
muss sich in der nächsten Legislaturperiode ... etwas ändern. - Ich rufe Ihnen zu: Herr Loske, ändern Sie jetzt
die Tatsache, dass dieser Umweltminister und Ihre Koalition nach Ihrer eigenen Aussage eine impotente Umweltveranstaltung sind. Das ist die Bilanz.
({0})
Das Wort hat
die Abgeordnete Ulrike Mehl.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieses Spielchen kennen wir: wie
man solche Gelegenheiten nutzt, um irgendjemanden
vorzuführen.
({0})
Da machen Sie es sich ein wenig einfach. Denn Sie ziehen einiges heran, was im Sachverständigengutachten
steht, nämlich das, was Ihnen passt. Aber das, was Ihnen
nicht passt, übergehen Sie natürlich: dass die Sachverständigen den Ausstieg aus der Atomenergie befürworten und darin keinen Widerspruch zum Klimaschutz sehen. Deswegen hoffe ich sehr, dass mit dieser Aktuellen
Stunde das Sachverständigengutachten für Sie nicht erledigt ist, sondern dass Sie sich damit zukünftig noch ein
bisschen intensiver auseinander setzen.
Hätten Sie das schon getan, dann wäre Ihnen sicherlich aufgefallen, dass das, was in der Presse über das
Gutachten verbreitet worden ist, nicht dem entspricht,
was im Gutachten steht. Es ist im Übrigen ein Werk von
fast 1 000 Seiten. Es lohnt sich, hier und da etwas genauer hinzusehen.
Grundsätzlich ist der Sachverständigenrat natürlich
berechtigt, Kritik zu üben. Das ist sicherlich ein Teil
seiner Aufgabe. Das heißt aber nicht, dass wir alle Vorschläge, die er macht, befürworten müssen. Ich darf Sie
daran erinnern, dass Ihre Seite genau dies in den letzten
Legislaturperioden, wo das Spielchen andersherum gelaufen ist, gesagt hat, übrigens auch die damalige Umweltministerin.
Davon abgesehen kann man dem Umweltgutachten
2000 entnehmen, dass die meisten Probleme, die dort
angesprochen sind, nicht erst in der Zeit der rot-grünen
Regierung entstanden sind, sondern wesentlich früher.
({1})
Dort werden eine ganze Reihe von Problemen angesprochen, die man nicht, wie Herr Grill es eben dargestellt
hat, damit in Verbindung bringen kann, dass vorher die
Welt in Ordnung war. Vielmehr werden dort viele alte
Positionen des Sachverständigenrates wiederholt, die er
auch heute noch vertritt; aber er hat diese Positionen,
weil Sie nichts gemacht haben.
Jetzt wird erwartet, dass innerhalb von anderthalb
oder zwei Jahren die Welt umgekrempelt wird; aber ich
glaube, dass dabei ein kleines bisschen auch das
schlechte Gewissen bei Ihnen eine Rolle spielt. Sie haben sich nämlich bisher eines öffentlichen Kommentars
enthalten.
Ich bin davon überzeugt: Wir wären in vielen Punkten sehr viel weiter, wenn Sie wirklich eine Umweltpolitik umgesetzt hätten und nicht nur Projekte angekündigt
und auf Papieren zusammengetragen hätten, wenn also
die Regierung Kohl das getan hätte, was sie immer angekündigt hat; aber das hat sie nicht getan. Wenn sie nur
halb so viel Umweltpolitik realisiert hätte, wie wir in der
kurzen Zeit bisher angefangen haben, wären wir ein
ganzes Stück weiter.
({2})
Natürlich kann man als Umweltpolitiker ungeduldig
werden. Das werde ich und viele meiner Kollegen werden es auch. Wir hätten es gern, wenn das eine oder andere sehr viel schneller umgesetzt werden würde; aber
wir können ja nicht so tun, als wären die Probleme, die
Sie 16 Jahre lang auflaufen ließen, in zwei Jahren zu lösen. In diesem Punkt hätte ich mir auch etwas mehr Realitätssinn beim Sachverständigenrat gewünscht.
({3})
Vielleicht könnte sich der Sachverständigenrat ja
auch einmal damit beschäftigen, warum in den Medien
ganz bestimmte Themen die Überschriften dominieren,
andere Themen aber nicht. Das hat nämlich häufig damit
zu tun, dass es um Auflagen und nicht um die Vermittlung besonders wichtiger Inhalte geht. Das hat der Sachverständigenrat in diesem Falle für sich genutzt, um diskutiert zu werden. Wie gesagt, wir bleiben hoffentlich
nicht bei dieser Diskussion in der Aktuellen Stunde stehen.
Einiges, was in diesen Ausführungen steht, sind Positionen, die wir teilen. Es sind aber auch Positionen enthalten, die wir nicht teilen. Ich habe mich zum Beispiel
darüber gewundert, dass es eine uneingeschränkt positive Bewertung von handelbaren Emissionslizenzen oder
handelbaren Flächenverbrauchsregelungen gibt. Als ich
mir ansah, was dort vorgeschlagen wird, habe ich mir
erst einmal die Augen gerieben. Vielleicht muss man
darüber noch einmal intensiver diskutieren. Natürlich
muss die Flächenversiegelung zurückgeführt werden da brennt es in der Tat -, aber das, was dort vorgeschlagen ist, fand ich nicht sehr überzeugend.
Im Übrigen halten die Sachverständigen weiter an einer emissionsbezogenen Energiesteuer fest, die wir aus
vielen Gründen ablehnen. Diese Steuer lehnen nicht nur
wir ab, sondern auch die meisten Wissenschaftler und
die Umweltverbände lehnen sie ab. Das ist politisch ad
acta gelegt. Deswegen wundere ich mich, dass so etwas
überhaupt noch darin steht.
({4})
Immerhin hat der Sachverständigenrat die Ökosteuer
nicht so niedergemacht, wie Herr Grill das sagte, sondern - im Gegenteil - dessen Mitglieder haben sie vom
Grundsatz her für richtig gehalten. Die Sachverständigen
sagen, es muss eine im Voraus angekündigte schrittweise Energieverteuerung geben, sodass sich alle Bürgerinnen und Bürger, Gewerbe, Industrie usw. darauf einstellen können; und genau das haben wir gemacht.
In einer ganzen Reihe von Schlussfolgerungen
kommt der Sachverständigenrat zu Ergebnissen, die wir
unterstützen. Deshalb ist es durchaus nicht nur eine
Floskel, wenn wir sagen: Wir fühlen uns bei einer ganzen Reihe von Positionen, die der Sachverständigenrat
in dem Gutachten vertreten hat, unterstützt. Über diejenigen, die wir nicht teilen, müssen wir uns noch einmal
auseinander setzen. Wir werden uns sicherlich im Ausschuss mit diesem Gutachten befassen, aber bitte erst
dann, wenn es gewissenhaft studiert worden ist und wir
auch in der Lage sind, darüber eingehend zu sprechen.
Wir sollten uns nicht nach ganz kurzem Studium des
Sachverständigenratsgutachtens in Pressemitteilungen
verbreiten. Ich bitte dann doch wirklich um eine inhaltliche Auseinandersetzung.
({5})
Das Wort hat
jetzt Kollegin Homburger.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Gestern im Umweltausschuss hat der Staatssekretär im Umweltministerium die
Sache auf den Punkt gebracht. Ich zitiere Herrn Baake,
er sagte:
Es ist Aufgabe der Räte, zu beraten - Aufgabe der
Regierung ist es, zu regieren.
Eine kluge Erkenntnis! Ich frage: Warum handeln Sie
eigentlich nicht danach?
({0})
Ich zitiere aus dem Erlass über die Einrichtung des
Sachverständigenrats für Umweltfragen: Seine Gutachten legt er vor, um bei allen verantwortlichen Instanzen
die umweltpolitische Urteilsbildung zu erleichtern. Nun also legt dieses Gremium sein neues Gutachten vor.
Das Urteil der Experten ist absolut einhellig: Die Umweltpolitik des Ministers Trittin ist ein Debakel. Hohe
Erwartungen wurden enttäuscht; mangelhaft ist die Umsetzung wichtiger Maßnahmen; einseitig und ideologisch ist die Fixierung auf Ökosteuer und Atomausstieg.
Selbst im Energiebereich gab es eine Blamage: Sämtliche Maßnahmen, so die Experten, seien ergänzungsbedürftig. Schlimmer noch: Alles, was bisher angekündigt
und eingeleitet wurde, verlangt nach Korrektur, und
zwar in mehrfacher Hinsicht.
({1})
Liebe Frau Mehl, Sie haben gerade davon gesprochen, dass man das Spielchen kenne. In Kenntnis der
Umweltgutachten der letzten Jahre, die ich alle begleitet,
mitdiskutiert und gelesen habe, kann ich nur eines sagen: Das jetzt vorliegende Umweltgutachten ist ein Armutszeugnis, wie man es selten liest.
({2})
Wie reagiert der Bundesumweltminister? Er begegnet
allen Ernstes der Kritik mit der Bemerkung, er freue
sich, nicht nur gelobt, sondern auch kritisch unter die
Lupe genommen zu werden. Einen fachlichen K.-o.Schlag so zu kommentieren ist schon Arroganz, Herr
Minister Trittin.
({3})
Ich frage Sie, Herr Minister: Wo bleibt die ökologische Modernisierung? Dem Wähler wurde vorgegaukelt,
nach dem Regierungswechsel würde Rot-Grün schon
bald Konzepte für eine tragfähige, umfassende und konsistente Umweltpolitik vorlegen. Nichts ist passiert!
({4})
Der Sachverständigenrat sagt eindeutig, er habe das
Gutachten auch unter Berücksichtigung dessen, was Sie
versprochen haben, erarbeitet. An dem, was Sie versprochen haben, müssen Sie sich nun einmal messen lassen.
Jetzt ist Ihnen die Enttäuschung schriftlich bestätigt
worden.
({5})
Frau Kollegin Mehl, Sie können nicht immer wieder
alles auf die alte Regierung schieben. Was haben Sie
denn gemacht? Sie haben eine Ökosteuer ohne Wirkung
eingeführt, wie Sie festgestellt haben. Über den Ausstieg
aus der Kernenergie streiten Sie nach wie vor. Beim
UGB ist nichts passiert,
({6})
ebenso wenig wie beim Bodenschutz- und Naturschutzgesetz. Den Nachhaltigkeitsrat, dessen Einsetzung Sie
innerhalb eines Jahres versprochen hatten, haben Sie
immer noch nicht auf den Weg gebracht.
({7})
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Sie müssen sich zuerst
das vor Augen führen, was Sie vorher angekündigt haben und dann das, was Sie erreicht haben. Wenn Sie das
tun, dann werden Sie uns zustimmen müssen und dann
können wir weiterdiskutieren.
Durch Ihre einseitige Beschränkung auf Atomausstieg und Ökosteuer - wir von der F.D.P. haben das immer gesagt; dies hat uns jetzt der Sachverständigenrat
bestätigt - haben Sie die Umweltpolitik verstümmelt.
({8})
Sie erreichen damit - das liegt auf der Hand - die geistige Verödung der politischen Ideenlandschaft. Geistige
Verarmung als Leitmotiv! Der Umweltschutz verliert
den letzten Rest seiner Glaubwürdigkeit, den er besaß.
Umweltpolitik à la Trittin ist die ständige Wiederholung
des immer Gleichen. Umweltschutz wird kaum noch
ernst genommen. Die schlimmste der traurigen Folgen
Ihrer Umweltpolitik ist, dass die Bürger das Interesse an
ihr verlieren.
({9})
Schon Ihre so genannte ökologische Steuerreform
hatte nichts mit Umweltschutz zu tun. Die Bürger haben
längst gemerkt, dass Herr Trittin sie nur auf den Arm
nimmt. Es geht um das Abkassieren und das Eintreiben
zusätzlicher Steuern. Gerade erst gestern konnte man lesen, was das für die Kasse bringt. Der politische Vertrauensschaden ist ungeheuer.
Ein weiteres deprimierendes Beispiel, das Sie sich
vorhalten lassen müssen, ist der Klimaschutz. Die Bundesregierung hat nichts Konkretes geleistet, um das Kioto-Protokoll in Deutschland rechtzeitig in Kraft treten zu
lassen. Der Sachverständigenrat stellt jetzt fest, dass das
Klimaschutzziel aller Voraussicht nach verfehlt wird.
Den Bundesumweltminister kümmert es offensichtlich
nicht. Wo bleibt eigentlich der seit langem angekündigte
Entwurf einer umfassenden nationalen Strategie zur
Minderung der Treibhausgase?
({10})
Statt einen solchen Entwurf vorzulegen, führt die Bundesregierung eine ideologische Debatte über den Ausstieg aus der Kernkraft. Aber es fehlt ein schlüssiges
Energiekonzept. Die Antwort auf die Frage, wie Sie unter solchen Bedingungen auf den verstärkten Einsatz
klimaschädlicher fossiler Brennstoffe verzichten wollen,
sind Sie nach wie vor schuldig geblieben.
({11})
Der Deutsche Bundestag nimmt im Gegensatz zu Ihnen, Herr Minister, das Sachverständigengutachten
ernst. Die F.D.P. fordert das ein, was der Sachverständigenrat verlangt: Entwickeln Sie endlich ein klares und
verlässliches Handlungsprofil in der Umweltpolitik! Geben Sie dem Umweltschutz die Ernsthaftigkeit, die Seriosität und den politischen Rang zurück, die ihm gebühren! Fragen Sie einfach einmal Ihren Staatssekretär: Regieren ist Aufgabe der Regierung. Das, Herr Minister,
hat mit Verantwortung zu tun.
({12})
Jetzt hat das
Wort der Abgeordnete Reinhard Loske.
Frau Präsidentin! Ich möchte jetzt nicht in einen
Potenzwettbewerb mit Herrn Grill eintreten. Ich glaube,
da hätte ich gute Aussichten.
({0})
Ich habe mit diesem Punkt etwas sehr Wichtiges angesprochen: Wir brauchen institutionelle Reformen.
Wenn man Umweltpolitik betreiben will, muss das seinen Niederschlag im Zuschnitt der Häuser finden; denn
Umweltpolitik ist eine Aufgabe der Gesamtregierung.
({1})
Jetzt aber zum Umweltgutachten 2000. Ich glaube das kann ich für meine ganze Fraktion sagen -, dass dieses Gutachten ein wichtiger Beitrag zur umweltpolitischen Diskussion ist. Wir begrüßen ihn und nehmen ihn
als Ansporn, um besser zu werden. Das muss man sagen.
({2})
Es ist natürlich völlig klar, dass ein Sachverständigenrat dazu da ist, die große Perspektive einzunehmen
und nicht gleich die politischen Restriktionen, also beispielsweise Leute wie Sie, im Kopf zu haben. Wir müssen schauen, was nötig ist und nicht, was geht. Denn mit
Ihnen geht gar nichts. Das wissen wir.
({3})
Wenn ich mir das Gutachten anschaue - manche auf
der rechten Seite des Hauses haben es offenbar gar nicht
gelesen -, dann kann ich sagen: Es ist eine Mischung
aus Unterstützung, der Aufforderung, mutiger zu sein,
und auch partieller Kritik. Wenn wir uns jetzt den beiden Themen ökologische Steuerreform und Atomausstieg zuwenden, dann muss man erstens zur ökologischen Steuerreform festhalten - ich zitiere wörtlich -:
Sie ist ein wichtiges Signal, um die Kosten der
Umweltinanspruchnahme verursachungsgerecht anzulasten.
Zweitens:
Sie muss über das Jahr 2003 hinaus fortgesetzt
werden.
Mal schauen, wo Herr Grill und die anderen UmweltHelden der CDU sind, wenn es 2003 um die Weiterentwicklung geht. Ich glaube, Sie werden nicht da sein.
Zum Atomausstieg - jetzt bitte zuhören - zitiere ich
den Umweltrat:
Der Umweltrat hält eine weitere Nutzung der
Atomenergie für nicht verantwortbar.
Herr Grill, das sollten Sie sich hinter die Ohren schreiben; Platz genug ist ja da.
({4})
Jetzt zur ökologischen Steuerreform. Es heißt in dem
Gutachten in der Tat: Die ökologische Lenkungswirkung soll erhöht werden. Wir teilen das. Es gibt noch
Dinge nachzuarbeiten; das ist völlig klar. Wir müssen
bei der Behandlung der Wirtschaft, des produzierenden
Gewerbes bis 2002 eine Lösung vorlegen, die zielführender ist. Daran arbeiten wir. Wir müssen uns auch bemühen, so schnell wie möglich die erneuerbaren Energien hiervon auszunehmen, um diese offene Flanke zu
schließen.
({5})
In diesem Punkt möchte ich dem Sachverständigenrat aufgrund eigener langjähriger Forschungstätigkeit
durchaus widersprechen. Genauso viele Gründe, die es
für einer CO2-Steuer gibt, gibt es für eine allgemeine
Energiesteuer; denn Energieverbrauch ist nicht nur
ein Klimaproblem, sondern er verursacht verschiedene
Probleme, von Bergbaufolgeschäden über klimaverändernde Spurengase, Säure bildende Schadstoffe usw., bis
hin zu Endlagern. Das heißt, wir wähnen uns auf der
richtigen Seite und sind im internationalen Geleitzug.
Da möchte ich dem Rat widersprechen.
({6})
Vielleicht ein Punkt zur Aktualität der Kritik. Wenn
der Rat diese Kritik im Oktober 1999 geäußert hätte,
hätte ich gesagt: Okay, sie ist zu einem guten Teil berechtigt. Aber wenn man sich anschaut, was seitdem geschehen ist, so kann man sagen: Manches hat der Rat
leider übersehen. Wir haben das Erneuerbare-EnergienGesetz durch den Bundestag gebracht. Wir werden sehr
bald eine dauerhafte Regelung für die Kraft-WärmeKopplung durch den Bundestag bringen. Wir haben einen klaren Fahrplan - Frau Homburger, offensichtlich
hören Sie nicht zu - zur Entwicklung einer nationalen
Klimaschutzstrategie vereinbart. Sie soll im Juli im Kabinett verabschiedet werden. Das wissen Sie ganz genau.
({7})
Wir haben eine Nachhaltigkeitsstrategie verabschiedet. Den Zukunftsrat wird der Bundeskanzler in wenigen
Wochen selber einsetzen. Das sind die Fakten. Bitte,
wenden Sie sich den Fakten zu und reden Sie nicht nur
so wirr daher.
({8})
Was die berechtigte Kritik betrifft, glaube ich, bei der
Bundesnaturschutzgesetznovelle müssen wir jetzt in der
Tat handeln. Es wird zu Recht moniert, dass da etwas
geschieht. Wir haben die Ziele im Koalitionsvertrag klar
formuliert. Wichtig ist eben auch, dass wir mit den Ländern gemeinsam zu einer vernünftigen Lösung kommen.
Ich glaube, Mitte dieses Jahres ist die Zeit dafür reif.
Auch bei der Abfallpolitik müssen wir handeln. Das
haben wir gerade heute wieder vom Umweltministerium
erfahren. Wir müssen den Trend zur Wegwerfgesellschaft, zur Ex-und-hopp-Gesellschaft stoppen. Die Quote wurde mittlerweile zweimal unterschritten.
Wir müssen bei der Verpackungsverordnung jetzt eine Lösung finden, die aktuelle Aspekte und neue Ökobilanzen einbezieht. Wir müssen die Scheidelinie zwischen Gut und Böse neu ziehen und eine klare Wachstumsperspektive für umweltverträgliche Verpackungssysteme aufzeigen.
Jetzt zum letzten Punkt - meine Redezeit ist gleich
um -: Die einzige Kritik, die man am Rat üben kann, ist,
dass man sich das politische Erwachen der älteren Herren ein wenig früher gewünscht hätte.
({9})
Während der Amtszeit von Frau Merkel haben sie ganz
brav auf ihrem Schoß gesessen.
({10})
Es ist manchmal nicht wirklich mutig, erst dann Mut zu
zeigen, wenn man sich zurückzieht. Trotzdem wären die
Sachverständigen mit ihren Ansichten bei den Grünen
bestens aufgehoben.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein „miserables Zeugnis
für die Umweltpolitik der Regierung Schröder“ hat es
Jochen Flasbarth vom NABU genannt; „es hat also nicht
so geklappt mit der ökologischen Wende“, umschreibt
es das Herzblatt der Grünen, die „taz“. Das Gutachten
des Umweltrates wird in der Schärfe abgestuft, in der
Richtung aber einmütig kommentiert: Der umweltpolitische Aufbruch der Koalition ist in weiten Teilen zum
Stillstand gekommen, wenn er denn je stattgefunden hat.
Rot-Grün wurde das erste Mal wissenschaftlich und
umfänglich evaluiert. Es drängt sich im Ergebnis das
Bild auf, dass im Schatten der alles überragenden Debatten um Ökosteuer und Atomausstieg einiges im klassischen Umwelt- und Naturschutz sowie bei der Ausarbeitung und Umsetzung einer Nachhaltigkeitsstrategie an
die Seite gedrängt wurde: beispielsweise die Weiterentwicklung des stellenweise durchaus respektablen Entwurfs eines umweltpolitischen Schwerpunktprogrammes
von 1998, die seit bald 20 Jahren überfällige Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes, die umwelt- und
entwicklungspolitische Neuausrichtung der Hermeskredite, der gesetzliche Stopp der Privatisierung ostdeutscher Naturschutzflächen oder das Aus des ökologisch
wahnwitzigen Ausbaus von Havel und Elbe. Das alles
gibt es aber nicht. Das Kleinkochen dieser Aufgaben hat
sich noch nicht einmal gelohnt, denn die vermeintlichen
Schwerpunkte Ökosteuer und Atomausstieg sind ja kräftig vergeigt worden!
Letzte Woche bestätigte beispielsweise eine Expertise
des Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstituts Köln
für das Bundesumweltministerium alle wesentlichen Argumente der PDS gegen die irrwitzige Konstruktion der
ökologischen Steuerreform unter Rot-Grün. Der umweltpolitische Lenkungseffekt sei unterentwickelt und
die Beschäftigungseffekte seien zu vernachlässigen, analysiert das Institut in seinem vernichtenden Gutachten.
Die Reform trage kaum zur Minderung des Treibhauseffektes bei. Der Anreizeffekt für den ökologischen Umbau tendiere gegen Null. Auch der Umweltrat kritisiert
die zahlreichen Sonderregelungen, die die Wirtschaft
von den Steuern entlasten, und Sozialverbände weisen
nach, dass Familien umso stärker belastet werden, je
ärmer sie sind.
Zum Thema Atom durften wir gerade erst vorgestern
in der Zeitung lesen, dass der Ausstieg jetzt erst einmal
mit einem Einstieg beginnt, nämlich durch die Hermesabsicherung von Siemens-Technik für ein neues Atomkraftwerk in China. Ich bin einmal gespannt, wie dieses
Thema am Wochenende auf Ihrem Parteitag diskutiert
wird.
Zurück zum Gutachten. Besonders pikant wird die
Tatsache dadurch, dass die Professoren des Umweltrates
erstmalig feststellten, das Entsorgungsproblem sei objektiv nicht zu lösen, weil irgendwann radioaktive Gase
auch durch die besten Behälter diffundieren und in die
Atmosphäre eindringen werden. Während für die Antiatomfront ungeahnte Rückendeckung vom bekanntermaßen mehrheitlich konservativen Umweltrat kommt,
schießt sich die Koalition selber ins Knie. Manchmal tut
es wirklich weh zu sehen, wie Sie bestimmte Dinge in
den Sand setzen. Wie es mit der Berücksichtigung von
Menschenrechten und Umweltschutz bei der Vergabe
von Hermeskrediten aussieht, zeigt auch Ihr Ja zum
Drei-Schluchten-Staudamm und zu anderen Vorhaben in
China.
Beim Klimaschutz befinde sich Deutschland nicht auf
einem CO2-Reduktionspfad, der die nationale Zielerreichung bis 2005 ermöglichen würde, steht im Gutachten
geschrieben; einschneidende Maßnahmen seien notwendig. Doch das Antistauprogramm von Herrn Klimmt ist
nichts anderes als ein Klimakillerprogramm. Jeder, der
verkehrspolitisch die Pubertät hinter sich gelassen hat,
weiß das. Allein mit der Förderung erneuerbarer Energien ist bei der CO2-Reduktion kein Blumentopf zu gewinnen, zumal nicht, wenn die Strompreise durch die
überstürzte Liberalisierung sinken, was Rot-Grün ja begrüßt, der Stromverbrauch also nach allen Regeln der
Marktwirtschaft steigen wird.
Noch ein Wort zum Naturschutz: Darauf, dass die
FFH-Ausweisungen in Deutschland um den Faktor 5 unter dem Durchschnitt der anderen EU-Länder liegen, hat
der Rat hingewiesen. Zum Thema Schutzgebiete möchte
ich hinzufügen, dass es eine Schande ist, mit welcher
Penetranz sich das Bundesfinanzministerium gegen eine
kostenlose Übergabe von Naturschutzflächen an die
Länder und Naturschutzverbände wendet. Eines seiner
Hauptargumente war der so genannte Vorbehalt der EUKommission. Diesen Vorbehalt gibt es aber gar nicht,
schreibt die „Financial Times Deutschland“. Eine Erfindung des Berliner Finanzministeriums sei das, zitiert das
Blatt die Kommission.
Hier wurde von Potenz gesprochen. Ich wünsche Ihnen, Herr Loske, ein gutes Frühlingserwachen.
({0})
Heute scheint
der Frühling ja häufiger in die Debatte hineinzuspielen.
Das Wort hat jetzt Herr Bundesminister Jürgen
Trittin.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! So eine nette Opposition wie die
von links wünscht sich natürlich jede Regierung. Vielen
Dank, Frau Bulling-Schröter.
({0})
Da ich gerade beim Danken bin, möchte ich nun dem
Sachverständigenrat für Umweltfragen für sein Gutachten danken. Dieses Gutachten fordert die Umsetzung
ökologisch anspruchsvoller Ziele konsequent ein und
steht auch zu den dafür notwendigen, teilweise sehr unbequemen Maßnahmen. Obwohl der Rat - das ist seine
Aufgabe, dafür haben wir ihn - mit Kritik in Einzelfällen nicht sparsam umgeht, bestätigt er den Weg, den die
Bundesregierung in der Umweltpolitik eingeschlagen
hat.
Selbst in den Punkten, in denen er uns kritisiert, muss
ich ihm Recht geben. Der Rat hat Recht, wenn er darauf
hinweist, dass die Auseinandersetzung um Ökosteuer
und Atomausstieg die Regierung viel Kraft kostet. Aber
sind dies nicht zentrale Voraussetzungen für eine moderne Energieversorgung, für eine ökologische Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft? Sind dies
nicht genau die Forderungen, die der SRU bereits in seinen Gutachten 1994, 1995, 1996, 1998 immer wieder
erhoben hat? Wir haben das, was in diesem Gutachten
gefordert worden ist, mit dem Einstieg in die ökologische Steuerreform, mit dem Erneuerbare-EnergienGesetz, mit dem 100 000-Dächer-Programm und mit
dem Markteinführungsprogramm für erneuerbare Energien vorangebracht und damit tatsächlich etwas für den
Klimaschutz getan.
({1})
Frau Bulling-Schröter, erlauben Sie mir folgende
Anmerkung: Dass das Erneuerbare-Energien-Gesetz
heute noch im Bundesrat hängt, liegt daran, dass die von
Ihnen mitgetragene Regierung in Mecklenburg-Vorpommern noch nicht Ja sagt. Das erklären Sie einmal
den Photovoltaikbetreibern und den Windenergieleuten!
({2})
Wir haben das umgesetzt, was Sie auf der rechten
Seite des Hauses sich über Jahre hinweg haben abhandeln lassen. Deswegen, Herr Grill, haben Sie auch ein
Problem: Die Kostümierung als Ökologe steht Ihnen
nicht. Sie ist selbst für Sie zu klein. Unter dem grünen
Wams guckt überall der schwarze CDUler hervor.
({3})
Das merkt man spätestens, wenn es um die konkreten
Forderungen der Gutachter geht. Dann stehen Sie nämlich ziemlich nackt da. Uns hält der SRU nicht vor, die
Bundesregierung solle umkehren, sondern er verlangt,
dass wir den von uns eingeschlagenen Weg schneller
gehen sollen. Das ist eine Mahnung für uns, aber eine
Ohrfeige für Sie, denen die ganze Richtung nicht passt.
({4})
Wenn Sie sich auf dieses Gutachten berufen, dann ist
das ungefähr so glaubwürdig, als würde sich der Beelzebub als heiliger Samariter ausgeben.
({5})
Ich will das an ein paar Beispielen verdeutlichen. Ich
zitiere das Gutachten:
Angesichts der Dringlichkeit ... und der richtungsweisenden Wirkung des deutschen Klimaschutzziels bei den internationalen Klimaverhandlungen
begrüßt der Umweltrat das Festhalten der Bundesregierung am 25-Prozent-Ziel.
({6})
Wir haben die Emissionen im vergangenen Jahr um
3 Prozent, klimabereinigt um 1,8 Prozent gesenkt. Wir
wissen auch, dass wir das Ziel von 25 Prozent noch
nicht erreicht haben. Mit den heutigen Maßnahmen werden wir ungefähr 18 Prozent im Jahre 2005 erreichen.
Das ist der Grund, weswegen wir erklärt haben, dass wir
zusätzlich zu den eingeleiteten Maßnahmen, die ich genannt habe, eine neue Klimaschutzstrategie vorlegen.
Neben den erneuerbaren Energien wird der Schwerpunkt auf der Steigerung der Energieeffizienz liegen. Es
geht beispielsweise um die Frage, wie der Anteil der
Kraft-Wärme-Kopplung an der Stromerzeugung bis zum
Jahre 2010 verdoppelt werden kann. Übrigens werden
wir auch in dieser Frage von den Gutachtern unterstützt,
die „eine zeitlich befristete staatliche Förderung umweltfreundlicher Energieerzeugungsformen ... für erforderlich ...“ halten. Sie aber versuchen, den Menschen im
Land weiszumachen, dass die Frage von Energie ausschließlich eine Frage von Preisen und Preissteigerung
ist.
({7})
Ich habe in diesem Zusammenhang noch Herrn
Lippold vor Augen, der voller Empörung sagte, die
Bundesregierung wollte über das Jahr 2003 hinaus die
ökologische Steuerreform fortschreiben. Was schreiben
die Gutachter? Sie schreiben über die Notwendigkeit eines „stufenweisen Anstiegs der Steuersätze über das
Jahr 2003 hinaus, und zwar so lange, bis das Klimaschutzziel erreicht ist“ und über „den Abbau ökologisch
schädlicher Subventionen“. Das betrachte ich nicht als
Kritik an dieser Bundesregierung, sondern als Aufforderung, den eingeschlagenen Weg nachdrücklich und zielgenau weiterzugehen.
({8}): Zielgenau ist er nicht!)
Ein anderes Beispiel, gnädige Frau: Bodenschutz. Die
Gutachter schreiben:
Dem Schutz von Böden ist in der Vergangenheit zu
wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden.
In diesem Punkt kritisiere ich die Gutachter. Es handelt sich nämlich um eine verharmlosende Darstellung.
({9}): Was haben Sie
denn gemacht?)
Wer ist denn dafür verantwortlich, dass jedes Jahr in
diesem Land bis zu 100 Hektar pro Tag versiegelt werden? Werden diese Flächen vom Bundesumweltminister
ausgewiesen? Nein. Wer ist denn verantwortlich für das
Überangebot an Gewerbeflächen in West- und Ostdeutschland? Sie haben im Zuge der deutschen Einheit
das blinde Ausweisen von Gewerbeflächen durch Steuersubventionen begünstigt. Sie sind verantwortlich für
diese Form der Bodenversiegelung. Sie sind verantwortlich für dieses Überangebot.
({10})
Sie sind verantwortlich dafür, dass ostdeutsche Städte
heute Probleme haben, ihre Innenstädte zu beleben.
({11}): Wer ist „Sie“?
Lächerlich!)
Jetzt kommt der entscheidende Punkt. Wir gehen daran, in Europa solchen Entwicklungen künftig vorzubeugen, indem schon bei der Aufstellung solcher Pläne
Umweltverträglichkeitsprüfungen durchgeführt werden.
({12})
Was machen CDU/CSU und F.D.P.? Sie laufen Sturm
selbst gegen ein so vorbeugendes Instrument wie die
Plan-UVP. Erzählen Sie mir doch nichts vom Bodenschutz! Sie machen doch das glatte Gegenteil.
({13})
Zum Naturschutz. Die Gutachter fordern, dass Naturschutz auf 10 bis 15 Prozent der Fläche „absoluten Vorrang“ genießt. Wir haben einen Anteil von 10 Prozent
genannt. Da gibt es eine Differenz. Aber diese Differenz
ist doch lächerlich, wenn man sich einmal Ihre Praxis
ansieht. Ich habe mir einmal den Anteil an FFHGebieten in den von Ihnen lange regierten Ländern herausgesucht: Bayern 1,7 Prozent und Baden-Württemberg 1,5 Prozent. Nur 0,67 Prozent der Landesfläche
sind in Baden-Württemberg, im Schwarzwald und in der
Schwäbischen Alb, als Vogelschutzgebiet ausgewiesen.
Das müssen Sie sich sagen lassen.
({14})
Sie aber sagen, Deutschland war einmal Spitzenreiter
in Europa. Deutschland und besonders die von Ihnen regierten Länder sind aber das absolute Schlusslicht in
Bezug auf Naturschutzgebiete. Der europäische Durchschnitt liegt nämlich bei 12,3 Prozent. Das ist die Realität.
({15})
Meine Damen und Herren, während Sie den Naturschutz klein machen, betreiben Sie eine riesige Kampagne gegen die weitere Ausweisung von FFHGebieten.
({16})
Dazu kann ich nur sagen: Der Bock versucht sich als
Gärtner. So geht es nicht.
({17})
Letzter Punkt. In einem hat der SRU die Bundesregierung besonders nachdrücklich unterstützt, offensichtlich zu Ihrem besonderen Ärger. Er hat nicht nur darauf
verwiesen, dass die Nutzung der Atomenergie aufgrund
der Entsorgungsprobleme unverantwortlich ist. Er hat
auch nachdrücklich gesagt:
Der Umweltrat befürwortet wegen der bestehenden
rechtlichen Unsicherheit die Strategie der Bundesregierung, die Möglichkeiten einer entschädigungsfreien Beendigung der Nutzung der Atomenergie
...zu suchen .... Nach Auffassung des Umweltrates
dürfte den berechtigten Belangen der Betreiber von
Atomkraftwerken durch eine Gesamtlaufzeit von
25 bis 30 Jahren hinreichend Rechnung getragen
worden sein.
({18})
Meine Damen und Herren, lieber Herr Koppelin, diesen
Ausführungen des Sachverständigenrates habe ich nichts
hinzuzufügen.
({19})
Sie sprechen für sich. Aus diesem Grunde fällt es mir
auch leicht, zum Abschluss dem Herrn Rehbinder, der
zum letzten Mal diesem Gremium vorgesessen hat, dessen Amtszeit ausgelaufen ist, für sein Gutachten, für
seine Arbeit zu danken und ihm zu bescheinigen, dass
diese Arbeit wegweisend für die kommenden Gutachten
und für den neu zu berufenden Rat ist. Vielen Dank,
Herr Rehbinder!
({20})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Christian Ruck.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie
mir, nach den Nebelkerzen und den rhetorischen Kunststücken des Herrn Trittin wieder zur Realität zurückzukommen. Die Realität ist, dass Sie, Herr Minister, und
niemand anders die Ohrfeige des Umweltgutachtens bekommen haben.
({0})
Die „Berliner Zeitung“ hat das am Freitag ironisch
auf den Punkt gebracht - ich zitiere -:
Jürgen Trittin neigt nicht zur Selbstkritik, doch
wenn er in diesem Bereich noch über einen RestReflex verfügen sollte, dann muss der grüne Umweltminister nach der Lektüre des Sachverständigen-Gutachtens für Umweltfragen rot anlaufen.
({1})
So ist es.
({2})
Die Versäumnisse Ihrer Politik werden von den Gutachtern bis ins Detail dargestellt. Hier noch einige Kostproben für die, die behaupten, wir hätten es vielleicht
oberflächlich gelesen.
Die neue Bundesregierung
- so haben Sie versprochen, meine Damen und Herren
von Rot-Grün wird eine Nachhaltigkeitsstrategie mit konkreten
Zielen erarbeiten.
Dazu die Einschätzung der Sachverständigen:
Deutschland gehört bei der Entwicklung einer
Nachhaltigkeitsstrategie inzwischen zu den
Nachzüglern.
({3})
Weiterhin haben Sie versprochen:
Das zersplitterte Umweltrecht wird in einem Umweltgesetzbuch zusammengeführt.
Die Einschätzung der Sachverständigen ist: Bereits
die Umsetzung der IVU- und der UVP-Richtlinie ist
1999 endgültig gescheitert.
Sie haben versprochen:
Im Bodenschutz muss der Vorsorgegedanke ein
stärkeres Gewicht erhalten. Was, Herr Trittin, sagen die Sachverständigen dazu? Man höre und
staune: Nach den besonders intensiven Sanierungsanstrengungen im Altlastenbereich zu Beginn der
90er-Jahre ist inzwischen ein, „Sanierungsminimalismus“ eingetreten. Das ist das, was dort steht.
Sie haben natürlich auch versprochen, die Artenvielfalt zu schützen. Der Sachverständigenrat urteilt, dass
der Zustand von Natur und Landschaft unverändert Besorgniserregend ist.
({4})
Meine Damen und Herren, Frau Mehl, man muss
auch in diesem Bereich bei der Wahrheit bleiben. Sie
sind doch auch so stolz auf die Existenz unseres Programms für die gesamtstaatlichen Gebiete. Es war die
letzte Bundesregierung, die dieses Programm mit
40 Millionen DM eingebracht hat. Sie haben eines getan: Sie haben es gekürzt.
Herr Trittin, es ist auch nicht wahr, dass Bayern bei
1,7 Prozent landet. Bayern wird in allen Tranchen zusammengenommen bei mindestens 7 Prozent landen,
Thüringen bei 9 Prozent.
({5})
Im Gegensatz zu Rot-Grün allerdings sprechen wir die
Ausweisung mit der Bevölkerung ab und machen sie
nicht gegen die Bauern und nicht gegen die Landwirtschaft.
({6})
Eine Energiesparverordnung haben Sie versprochen.
Wort gebrochen! Sie kommt erst im Jahr 2001 - vielleicht.
Ich möchte bei all der billigen Rhetorik, die jetzt wieder gegen die letzte Bundesregierung aufgetaucht ist,
noch einmal sagen, was die letzte Bundesregierung
wirklich geleistet hat. Herr Loske, Sie tun doch immer
so, als würden Sie das Thema seriös angehen. Wir haben
große konkrete Erfolge bei der Luftreinhaltung erzielt,
siehe zum Beispiel Schwefeldioxid.
Wir haben große Erfolge bei der Gewässerreinhaltung
erzielt. Sogar Herr Töpfer konnte wieder aus dem Rhein
trinken.
({7})
- Getrunken hat er auch. - Ohne Helmut Kohl - das
möchte ich an dieser Stelle auch einmal sagen - wäre
der Rio-Prozess gar nicht erst in Gang gekommen und er
wäre spätestens bei Rio de Janeiro, Frau Ganseforth, geplatzt.
({8})
Es bleibt dabei: Dort, wo dringender Handlungsbedarf besteht, haben Sie wenig bis gar nichts zustande
gebracht. Stattdessen haben Sie vieles getan, was Sie
besser gelassen hätten, zum Beispiel die Entwicklungshilfe zum Steinbruch zu machen und die Umweltmittel
im Entwicklungshaushalt zusammenzustreichen.
Bei der Förderung der regenerativen Energien geben
Sie das Geld der Bürger mit vollen Händen aus und erreichen ein Maximum an Umverteilung, aber nur ein
Minimum an ökologischer Wirkung. Bei den anstehenden Gesetzesberatungen zur Kraft-Wärme-Kopplung
machen Sie einseitig Klientelpolitik für die öffentliche
KWK und lassen die hocheffizienten Anlagen der Industrie außen vor. Das Maß an Flickschusterei und Unvernunft wird nur noch durch Ihre Ökosteuer übertroffen. Auch das steht übrigens im Umweltgutachten, weil
Sie wahllos CO2-intensive und nicht CO2-intensive Tatbestände treffen.
Besonders gefährlich ist Ihr Versagen beim Klimaschutz. Auch das steht übrigens in dem Umweltgutachten. Deutschland befindet sich nicht mehr auf einem Reduktionspfad. Nicht zuletzt die Beendigung der Nutzung
der Atomenergie - auch das steht in dem Gutachten setzt dabei zunehmend enger werdende Grenzen.
Die von Ihnen betriebene Ausstiegspolitik wird jeden
Tag unsinniger.
({9})
Sie, Herr Trittin, haben bei uns im Ausschuss behauptet,
die Atomkraft sei für die Entwicklungsländer kein Thema. Bundeswirtschaftsminister Müller hat noch am
Sonntag im Fernsehen, also öffentlich, bekräftigt, es
werde keine Bürgschaften für ausländische Kernkraftwerke geben. Zwei Tage später bewilligt die Bundesregierung Hermes-Bürgschaften über 300 Millionen DM
für den Neubau von Atomkraftwerken in China und für
die Nachrüstung in Argentinien.
({10})
Wie wollen Sie den Bürgern eigentlich erklären, dass
Sie bei uns die Atomenergie verteufeln, während Sie sie
in anderen Ländern finanzieren? Oder wie wollen Sie
den Bürgern erklären, dass bei uns Castorbehälter als
Transporter gefährlich, aber als Zwischenlager harmlos
sind? Das ist doch keine Politik mehr, das ist realpolitische Satire. Auch das steht in dem Umweltgutachten.
Herr Trittin, Sie haben etwas von Weismachen gesagt. Sie wollten den Menschen weismachen, dass Sie
für Umweltschutz angetreten sind und dass die Menschen Sie für den Umweltschutz gewählt haben. In
Wirklichkeit ist Ihre bisherige Arbeit ein Einbruch und
kein Aufbruch. Es ist ein Raubbau und kein Umbau. Es
ist ein Ausstieg aus der Vernunft. Herr Trittin, für uns
und für die Umwelt wäre es am besten, wenn Sie endgültig aussteigen würden, und zwar mit Ihrer gesamten
Crew.
({11})
Ich gebe der Kollegin Marion Caspers-Merk von der sozialdemokratischen
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Herr
Kollege Ruck, ich muss mich etwas wundern, weil Sie
uns einige Schlagzeilen vorgelesen haben, aus denen Sie
eine Fundamentalkritik des Sachverständigenrats an der
rot-grünen Bundesregierung abgeleitet haben. Dies haben Sie mit einigen Zitaten garniert. Genau dasselbe
kann man natürlich in umgekehrter Weise tun und man
kommt dann zu ganz anderen Ergebnissen.
Auch ich darf Ihnen einige Schlagzeilen vorlesen:
„Umwelt-Sachverständige legen Gutachten vor - Warnung vor Selbstverpflichtungen“, „Sachverständige beklagen Reformstau in der Umweltpolitik“, „Umwelt-Weise rügen Reformstau“, „Merkel Reformstau
vorgehalten“. Sie sehen: Es sind Überschriften aus der
öffentlichen Würdigung des Sachverständigengutachtens
1998.
Es ist ganz richtig, dass Sachverständige dazu da
sind, uns kritisch den Spiegel vorzuhalten. Dass einiges,
was schon 1998 gerügt wurde, bis jetzt noch nicht umgesetzt wurde, hängt auch damit zusammen, dass viele
Dinge Altlasten sind, die wir nach und nach abarbeiten.
Aber Sie sollten ein Stück weit reeller und ehrlicher in
der Wertung sein.
({0})
Ich lese Ihnen auch noch etwas anderes vor, was im
Gutachten des Jahres 1998 steht. Dort wurde schon damals gerügt, dass zum Beispiel die Neufassung des
Bundesnaturschutzgesetzes auf sich warten lasse. Wer
war damals an der Regierung? Sie waren es! Ebenso
wurde beklagt, dass Ausführungsbestimmungen zum
Kreislaufwirtschaftsgesetz fehlen. Außerdem wurde ein
modernes Abfallwirtschaftsrecht ausdrücklich eingefordert.
Wenn man sich das alles ansieht und die öffentliche
Aufgeregtheit etwas beiseite lässt, muss man sagen: Das
Umweltgutachten ist eine kritische Würdigung der Politik. Das war es aber auch schon immer; der SachDr. Christian Ruck
verständigenrat hat schon immer kritische Schlagzeilen
gemacht.
({1})
Damals haben wir den Sachverständigenrat als Kronzeugen gegen die damalige Regierung verwendet, jetzt
ist die Situation in Teilen umgekehrt. Aber auch hierbei
sollten wir mit größerer Gelassenheit reagieren, einfach
einmal in das Gutachten einsteigen und uns damit auseinander setzen, denn es lohnt die Auseinandersetzung.
Diesmal ist zu Recht das Thema „Nachhaltigkeit“ ein
Stück weit aufgearbeitet worden. Dabei kommt der
Sachverständigenrat zu folgenden Ergebnissen. Er sagt,
dass er seit 1994 eine Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung einfordert. Ich erinnere daran: 1994 war
nun wirklich noch nicht Herr Trittin in der Bundesregierung.
({2})
Wenn aber Ihre Wertung, die Sie vorhin zitiert haben,
richtig ist, dass wir auf diesem Sektor international nicht
zu den Vorreitern gehören, dann sind doch Sie es, die
das zu verantworten haben, weil Sie dieses Thema jahrelang überhaupt nicht besetzt haben. Erst nachdem wir
Ihnen das in der Enquete-Kommission vorgehalten haben, sind überhaupt zögerlich erste Schritte getan worden.
({3})
- Das ist doch die Wahrheit, Herr Kollege Grill und
Herr Kollege Ruck!
({4})
Das muss auch einmal gesagt werden.
({5})
In dem Gutachten ist zum Thema der Nachhaltigkeit
und zu dem, was wir dazu fordern, Folgendes zu lesen:
Insgesamt ist das Konzept einer ökologischen Modernisierung im Sinne einer innovativen und beschäftigungsorientierten Strategie grundsätzlich zu
begrüßen.
Es ist also nicht so, dass alles nur Schatten ist, sondern der eingeschlagene Weg wird ausdrücklich begrüßt.
Wenn man sich dann ansieht, welche Vorschläge zum
Thema „Nachhaltigkeitsstrategie“ gemacht werden,
stellt man fest, dass wir uns doch auf einem guten Weg
befinden. So soll das Sachverständigengutachten doch
auch gewertet werden, nämlich dass es uns Hinweise
gibt, wie wir künftig damit umzugehen haben.
Es wird die Politikintegration gefordert - jawohl, da
sind wir uns einig -, es wird gefordert, dass wir modernes Umweltmanagement betreiben, indem wir weniger
unklare Ziele setzen und genaue Instrumente vorschreiben, sondern umgekehrt klare Umwelthandlungsziele
festlegen und Flexibilität bei den Instrumenten zulassen.
Genau dies tun wir im Übrigen durch einen Antrag der
beiden Regierungsfraktionen zum Thema Umweltcontrolling in Bundesbehörden. Wir fordern das Öko-Audit
nicht nur von Betrieben ein, sondern fordern es jetzt für
die gesamte Bundesregierung ein.
({6})
Das sind doch moderne Politikkonzepte, in denen Sie
uns weit unterstützen sollten, wobei Sie erkennen müssen, dass genau dies in dem Sachverständigengutachten
eingefordert wird, wenn Sie die Seiten, die zum Thema
EMAS darin stehen, richtig würdigen.
({7})
Wenn ich mir die einzelnen Punkte genauer ansehe,
möchte ich auch zum Thema „Abfallpolitik“ noch einiges sagen. Dazu hätte ich mehr erwartet, denn das, was
das Sachverständigengutachten hier tut, ist im Wesentlichen eine Wiederholung der kritischen Punkte, die die
Sachverständigen schon in mehreren Gutachten immer
aufgelistet haben, ohne dass - nach meinem Empfinden - neuere Entwicklungen in der Abfallwirtschaft ausreichend berücksichtigt worden sind.
So wird in diesem Gutachten zum Beispiel mehr
Marktwirtschaft in der Abfallwirtschaft eingefordert,
und es wird - wie ich finde, sehr naiv - gefragt, ob eigentlich Mehrwegsysteme heute noch geschützt werden
müssen. Wir erleben doch gerade mit dem Unterschreiten der Quote und mit den Konsequenzen daraus, dass
Mehrwegsysteme sehr wohl geschützt werden müssen.
({8})
- Ja, doch, dann müssen Sie einmal genau hineingucken,
nicht nur in die Pressemitteilungen, Frau Kollegin Homburger.
({9})
Wenn man dort einmal hineinguckt, liest man, dass einige Punkte im Bereich der Abfallwirtschaft kritisch bewertet worden sind - zum Beispiel auch von uns damals
noch aus der Opposition heraus, weil wir meinen, dass
nicht die Forderung nach mehr Marktwirtschaft in der
Abfallwirtschaft der entscheidende Punkt ist. Wir haben
es doch heute mit der Situation zu tun: Der Abfall sucht
sich den billigsten Weg -, und zwar ohne ökologische
Standards.
({10})
Genau diese Dinge, für die es keine ökologischen Standards gibt, die vielen Billig-Deponien, die werden verfüllt.
({11})
Wir haben nicht mehr einen Müllnotstand, sondern wir
erleben das Leerlaufen der hohen ökologischen Standards, die wir bei einigen Verbrennungsanlagen oder
Deponien vorfinden. Das ist heute unser Problem. Vielleicht ist dies beim Sachverständigenrat für Umweltfragen noch nicht ausreichend angekommen.
Für die kritischen Anmerkungen danke ich dem
Sachverständigenrat ausdrücklich. Ich weiß, dass es
nicht immer einfach ist, ein solches Gutachten zu erstellen. Mit den Punkten, zu denen Ideen und Wegweisungen gegeben werden, werden wir uns - seriöser, als es in
einer Aktuellen Stunde möglich ist - im Ausschuss und
natürlich auch in den Fraktionen auseinander setzen.
Für uns ist dieses Gutachten Auftrag und Wegweisung
zugleich. Ich finde, wir sollten Ihre Polemik nicht zum
Anlass nehmen, das Gutachten wegzulegen, sondern wir
werden es studieren
({12})
und es dort, wo wir die richtige Richtung sehen, Stück
für Stück umsetzen.
({13})
Das Wort hat der
Kollege Dr. Peter Paziorek für die Fraktion der
CDU/CSU.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Nach Einschätzung des
Sachverständigenrates für Umweltfragen ist die Umweltpolitik der rot-grünen Bundesregierung bislang als
völlig unzureichend anzusehen. So erklärte der Sachverständigenrat, dass durch die Konzentration auf den
Atomausstieg und die Ökosteuer leider andere wichtige
Themen in der Umweltpolitik zurückgedrängt worden
seien.
Am 12. Dezember 1996 sagte die damalige umweltpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Frau
Hustedt:
({0})
Es ist abgrundtief falsch, sich nur auf die Lösung
eines Problemfeldes oder auch zweier zu konzentrieren, so wie es zur Zeit die Bundesregierung tut,
die anderen dabei aber zu vernachlässigen.
Damals war die Aussage von Frau Hustedt sicherlich
falsch. Aber sie hatte wohl nicht vorhergesehen, dass sie
damit ganz treffend die Problemlage der heutigen rotgrünen Umweltpolitik beschrieben hat. Für ihre hellseherischen Fähigkeiten kann man ihr nur ein Kompliment
aussprechen.
({1})
Anders ausgedrückt: Von den vielen Versprechungen
aus der Oppositionszeit ist bei der rot-grünen Umweltpolitik nicht viel übrig geblieben.
Was haben Sie in den damaligen Legislaturperioden
nicht alles angemahnt? So hat zum Beispiel Frau
Hustedt am 29. Mai 1998, ebenfalls im Plenum, erklärt,
um nur einige Beispiele zu nennen:
Wir wollen ein Altbausanierungsprogramm für die
Umwelt und für die Bauwirtschaft. Wir wollen eine
Sommersmogverordnung ... Wir wollen einen nationalen Umweltplan ...
Nichts ist bis jetzt daraus geworden. Sie haben vieles
angekündigt, aber Sie haben tatsächlich kaum etwas
angepackt, kaum etwas auf den Weg gebracht und kaum
etwas in der Umweltpolitik einer Lösung näher gebracht.
Wenn Sie, Herr Minister Trittin, sich nur hier hinstellen und sagen, was die jetzige Bundesregierung bisher
im Bodenschutz getan hat, kann ich nur darauf verweisen - ich habe die Diskussion hier im Bundestag ja, im
Gegensatz zu Ihnen, seit 1990 verfolgt -: Das erste Bodenschutzgesetz ist von der CDU/CSU/ - F.D.P. - Regierung, auch unter Mitwirkung von Frau Homburger,
auf den Weg gebracht worden.
({2})
Die ganze Diskussion in Sachen Ausgleichsregelung
bei neuen Bauvorhaben in Bauplangebieten haben wir
von der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung auf den Weg gebracht, gegen den massiven Widerstand zum Beispiel
von sozialdemokratisch bestimmten kommunalen Spitzenverbänden, die diese Regelung nicht wollten.
Wenn Sie sich jetzt hier hinstellen und fragen, was
wir in den Ländern, in denen wir das Sagen haben, hinsichtlich FFH auf den Weg gebracht haben, muss ich
entgegnen: Die FFH-Richtlinie in Europa ist deshalb zustande gekommen, weil der damalige Bundesumweltminister Töpfer maßgeblich mit dafür gesorgt hat, dass es
auf europäischer Ebene überhaupt eine FFH-Richtlinie
gibt.
({3})
Sie versagen jetzt bei der Umsetzung dessen, was die
damalige Regierung auf den Weg gebracht hat.
({4})
- Sie lachen gerade. Nehmen wir als Beispiel das Umweltgesetzbuch. Das Umweltgesetzbuch war im Referentenentwurf praktisch fast fertig.
({5})
Dann haben Sie festgestellt, dass das Umweltgesetzbuch
aufgrund einer wasserrechtlichen Problematik nach der
Rahmengesetzgebung des Grundgesetzes doch nicht Realität werden kann. Ich kann nur eines sagen: Sie haben
gar nicht genügend Mühe und Kraft darauf verwandt,
diese rechtliche Problematik zu diskutieren und daranzugehen, sondern Sie haben dies als Vorwand benutzt,
das Umweltgesetzbuch erst einmal in die Schublade zu
legen.
({6})
Warum wird Umweltpolitik bei dieser Regierung
nicht erfolgreich betrieben? Die Antwort ist ziemlich
klar: Sie wird deshalb nicht erfolgreich betrieben, weil
niemand von den Spitzenleuten, egal ob es Herr Fischer
oder Herr Trittin von den Grünen oder der parteilose
Wirtschaftsminister Müller ist, ernsthaft und konsequent
Umweltpolitik betreiben will.
Der umweltpolitische Sprecher der Grünen, Herr
Loske, hat Recht, wenn er sagt: Für unsere Spitzenleute
ist die Umweltpolitik leider keine Herzensangelegenheit
mehr. - Das ist der wahre Grund, warum es in der Umweltpolitik so nicht weitergeht.
({7})
Dann haben Sie, Herr Trittin, bei Ihren Ausführungen
gerade gesagt: Der Umweltrat warnt davor, zu dem zurückzukehren, was vorher in der Umweltpolitik gelaufen
ist. - Ich weiß gar nicht, wie Sie zu dieser Aussage
kommen. Schauen Sie sich nur einmal Seite 5 der Kurzfassung dieses Gutachtens an.
({8})
- Diese Stelle liegt mir gerade vor. Ob Sie sie gehabt
hätten, ist fraglich, Frau Caspers-Merk.
Ich zitiere:
Insgesamt sollte - auch um weitere Zeitverzögerungen zu vermeiden - an den Schritteprozess der
bisherigen Bundesregierung angeknüpft und die
hier angelegte Möglichkeit der Entwicklung einer
parteiübergreifenden Nachhaltigkeitsstrategie ausgelotet werden.
Der Sachverständigenrat fordert Sie also ausdrücklich
dazu auf, zur entsprechenden Methodik der früheren
Bundesregierung zurückzukehren. Sie aber stellen sich
hier hin und warnen geradezu davor, Instrumente der alten Bundesregierung aufzugreifen.
({9})
Zu einer weiteren in diesem Bericht gemachten Äußerung: Das Umweltindikatorsystem, das von Frau
Merkel entwickelt worden ist, ist ausdrücklich gelobt
worden. Man hat die Empfehlung ausgesprochen, darauf
zurückzugreifen. Frau Mehl aber erklärt, es gebe deshalb
eine Beunruhigung an der Umweltfront, weil vieles vorher unerledigt geblieben ist. Liebe Frau Mehl, der Sachverständigenrat sieht das genauso wie wir. Die Umweltpolitik hat heute einen aus unserer Sicht leider - so muss
man feststellen - nicht sehr hohen Stellenwert, weil in
vielen dramatischen Bereichen Entwarnungen - dieses
Wort gebraucht der Umweltrat - ausgesprochen worden
sind. Denn viele Probleme in der Umweltpolitik sind gelöst worden. Wodurch denn? Durch die Aktivitäten der
von CDU/CSU und F.D.P. geführten Bundesregierung.
({10})
Der Umweltrat hat Recht. Denn er erklärt, dass vieles, was in der Umweltpolitik zu einer Effektivitätssteigerung führen kann, von der jetzigen Regierung bisher
nicht aufgegriffen worden ist. Sie haben zu diesen Fragen kein Konzept vorgelegt. Sie haben keine realistische
Prioritätensetzung vorgenommen. Sie haben in vielen
konzeptionellen langfristigen Umweltfragen eindeutig
versagt. Die kritische Bewertung ist zu Recht erfolgt.
Machen Sie endlich eine gute und damit in sich schlüssige Umweltpolitik!
({11})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht nun der Kollege Winfried Hermann.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Damen und Herren von der Opposition, nach dieser Debatte bin auch ich versucht, polemisch noch eins draufzusetzen. Das sage ich Ihnen ganz offen.
({0})
Ich glaube aber nicht, dass wir auf dieses Gutachten und
die damit zusammenhängende Problematik angemessen
reagieren, wenn wir weiter polemisieren.
Ich möchte einen Punkt von Herrn Paziorek aufgreifen. Er hat kritisiert, dass meine Fraktion und auch die
Spitzen der Grünen heute nicht in genügender Zahl vertreten sind. Sie haben vollkommen Recht. Auch mich
ärgert das.
({1})
Ich würde aber auch gerne den Fraktionsvorsitzenden
der SPD, den Fraktionsvorsitzenden der PDS und den
Hoffnungsträger der CDU, Herrn Merz,
({2})
Frau Merkel, die ehemalige Umweltministerin, und andere begrüßen.
({3})
- Natürlich auch Herrn Gerhardt.
Warum sage ich das so deutlich, dass Sie lachen müssen? Wir haben in der Umweltpolitik ein gemeinsames
Problem, nämlich das Problem, dass wir zwar untereinander sozusagen streiten und jeder von uns noch bessere
ökologische Vorschläge hat, dass aber bereits jeweils in
unseren Fraktionen die Probleme und Schwierigkeiten
beginnen, sich durchzusetzen. Das gilt übrigens sowohl
für die vergangene als auch für die jetzige Regierungspolitik.
({4})
Insofern haben wir keinen Grund, Kritik nicht ernst zu
nehmen, und niemand hat einen Grund, sich hier selbstgerecht hinzustellen, wie Sie das getan haben.
Wenn man das Umweltgutachten richtig liest, und
nicht nur die Überschriften und das Vorwort, dann muss
man feststellen, dass es eine sehr differenzierte Beschreibung der Umweltsituation in der Bundesrepublik
Deutschland und in Europa ist. Es ist eine differenzierte
Beschreibung der Probleme sowohl auf Bundes- als
auch auf Landesebene und auf kommunaler Ebene. Es
ist kein Gutachten, das sich nur an die Bundesregierung
richtet nach dem Motto: Wir kritisieren einmal die Bundesregierung. Es ist vielmehr eine ausgesprochen kritische Auseinandersetzung mit der Umweltsituation und
der Umweltpolitik auf allen Ebenen Deutschlands und
Europas. Insofern sind wir alle Adressaten dieser kritischen Auseinandersetzung.
({5})
Ich möchte Ihre Kritik und auch die des Gutachtens
an einigen Punkten aufgreifen; man kann dies ja nur in
aller Kürze tun. Hinsichtlich der Nachhaltigkeitsstrategie gebe ich Ihnen Recht. In dem Gutachten
steht, wir seien inzwischen von einem Vorläuferland in
den 70er-Jahren - so ist dort übrigens zu lesen - in den
frühen 90er-Jahren zu Nachzüglern geworden. Ich sage
Ihnen ganz offen: Ich selber wäre heute gerne weiter.
Aber Sie können sich nicht hier hinstellen und sagen,
dass Sie etwas geleistet haben.
({6})
Denn das Schritteprogramm von Umweltministerin
Merkel ist rechtzeitig in der Schublade versenkt worden.
Sie haben nicht den Mut gehabt, daraus eine Strategie zu
entwickeln.
({7})
Das ist doch der Punkt: Immer dann, wenn es konkret
werden sollte, hatten auch Sie Ihre Schwierigkeiten.
Übrigens wird ausdrücklich erwähnt, wie man sich
die nationale Nachhaltigkeitsstrategie vorzustellen hat.
Wenn Sie sich einmal unseren Antrag anschauen - dem
haben Sie übrigens zugestimmt -, dann werden Sie feststellen, dass auch wir das in vielen Punkten tun: Zielorientierung, Konzentration, Angabe klarer Schritte. Ich
habe in der Debatte deutlich gemacht, dass wir das
Schriftkonzept von Ihnen und Angela Merkel mit aufnehmen werden; denn wir fangen nicht bei Null an. Also
bitte, wir haben bereits kritische Punkte aufgenommen.
Zum nationalen Nachhaltigkeitsrat: Hier wird eine
plurale Zusammensetzung aus den Kräften der Gesellschaft vorgeschlagen. Genau das ist es, was wir vorschlagen und in den nächsten Wochen durch Berufungen
auch klarstellen werden.
Nächster Punkt: Umweltgesetzbuch. Sie haben es angesprochen, Herr Paziorek. Auch hier finde ich keinen
Grund zur Selbstgerechtigkeit. Natürlich ärgert es mich
ungeheuer, dass wir dieses Projekt, das wir als großes
Modernisierungsprojekt angesehen haben, nicht vorangebracht haben. Aber dasselbe Problem hatten Sie als
Umweltpolitiker. Frau Merkel hatte einen Entwurf, der
wieder um rechtzeitig in der Schublade, in der Versenkung verschwand, der nicht an die Öffentlichkeit kam.
({8})
Wir haben erneut einen Entwurf erarbeitet. Er geriet
in die Kritik; es gab verfassungsrechtliche Bedenken
und Bedenken seitens der Länder. Ich habe mit Herrn
Grill - er ist jetzt nicht da - ganz offen darüber geredet:
Wenn man in Deutschland kein Umweltgesetzbuch erarbeiten kann, weil Länderkompetenzen berührt werden
und die Länder mit einer verfassungsmäßigen Einschränkung ihrer Kompetenzen nicht einverstanden sind
und deshalb drohen,
({9})
dann muss es eine Allparteienkoalition geben, dann
müssen Bund und Länder gemeinsam dieses große Modernisierungsvorhaben durchsetzen. Das ist uns nicht gelungen. Übrigens hat mir Herr Grill ganz deutlich gesagt: Unsere Leute in den Ländern sind dagegen. Es ist
auch nicht so, als seien bei uns alle von der Idee eines
Umweltgesetzbuches begeistert.
({10})
Also auch hier haben wir das Problem, mit den Mitteln,
die wir haben, komplexe Gesetzgebungsprozesse wie
etwa ein Umweltgesetzbuch nur sehr schlecht umsetzen
zu können.
Es gibt noch einige andere Punkte, wo die kritischen
Anmerkungen der Gutachter, wie ich glaube, wirklich
angemessen sind. Aber im Grunde genommen treffen sie
alle, die in diesem Bereich Verantwortung tragen. Alle
sollten sich aufgefordert fühlen, daraus mehr und Besseres zu machen.
Ich sage Ihnen zum Schluss eines: Für mich ist eine
solche kritische Schrift eine Ermutigung, hart und geduldig weiterzukämpfen und dort, wo wir gemeinsam
etwas machen müssten, weiter nach einem Konsens zu
suchen, Ihnen aber auch zu sagen, dass Sie nicht viel dazu beitragen, in diesem Bereich voranzukommen. Sie
haben heute nur Ihre alten Platten aufgelegt, die Sie
schon seit einem Jahr spielen. Sie haben sich aber nicht
mit diesem Gutachten auseinander gesetzt. Ich hoffe,
dass wir darüber im Ausschuss eine kritische Debatte
führen können, und danke den Gutachtern für diesen kritischen Anstoß.
({11})
Für die CDU/CSUFraktion spricht die Kollegin Vera Lengsfeld.
Herr Präsident! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Trittin,
Sie hatten anderthalb Jahre Zeit, zu beweisen, dass Sie
Umweltpolitik besser machen können als die von Ihnen
viel geschmähte Kohl-Regierung. Worin Sie allerdings
am erfolgreichsten waren, war, den Eindruck zu erwecken, als würden die Grünen in ihrem krampfhaften Versuch, ihrer Ein-Punkt-Kompetenz zu entkommen, die
Zwischenbilanz ihrer Umweltpolitik am liebsten verstecken, weil sie ihnen peinlich ist. Hauptsächlich ging es
der Koalition um die Frage - damit hat sie sich medienwirksam gequält -, ob die Atomkraftwerke nun früher
oder später abgeschaltet werden - als ob das der ganze
Inhalt der Umweltpolitik wäre. In der Schule hieße es:
Thema verfehlt - fünf!
({0})
Ähnlich ist es beim Gutachten des Umweltsachverständigenrates. Herr Kollege Loske, Sie haben vorhin
gesagt, wir hätten dieses Gutachten nicht gelesen. Sie
können ganz sicher sein, dass wir lesen können und das
Gutachten auch gelesen haben.
({1})
Wenn ich allerdings die Redner der Koalition so höre,
dann frage ich mich manchmal, ob wir eigentlich das
gleiche Gutachten gelesen haben.
({2})
Ich lese aus diesem Gutachten etwas ganz anderes
heraus. Nehmen wir einmal das Thema Ökosteuer. In
dem Gutachten steht - das hat der Umweltrat so formuliert -: Welche Beanspruchung der Umwelt durch das
Gesetz in erster Linie vermieden werden soll, ist völlig
unklar. Zur Reduktion von Treibhausemissionen, insbesondere CO2-Emissionen, wären der Ökosteuer andere
Optionen vorzuziehen. Der Umweltrat hat zwei Optionen aufgeführt: die CO2-Lizenzen und die emissionsbezogene Energiesteuer.
({3})
Er hat dann eine verheerende Bilanz gezogen: Die
Stromsteuer der Bundesregierung belastet die Wirtschaft
und die Haushalte unnötig und sorgt für zusätzliche
Kosten durch die Notwendigkeit kompensierender Förderprogramme für erneuerbare Energien und KraftWärme-Koppelung. Dies heißt: Die Ökosteuer ist keine
Ökosteuer.
Auch sonst haben Sie es natürlich schwer, denn die
umweltpolitische Bilanz der Regierung Kohl war hervorragend. Wir haben vorhin schon über die Luft- und
Wasserreinheitswerte geredet.
({4})
- Herr Loske, das muss ich Ihnen doch nun wirklich
nicht sagen. Unsere Oberflächengewässer sind inzwischen schon so sauber,
(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Waren es CDU-OberflächenGewässer?
dass es zu einem Schwund der Arten kommt, die auf eine gewisse Trübung und einen gewissen Nährstoffreichtum angewiesen sind. Das sind Tatsachen. Wir haben
auch die höchste Reaktorsicherheit der Welt. Die Regierung weiß, dass sie auf diesen Gebieten nichts verbessern kann und will deshalb aussteigen.
Also bleiben an Themen für die Umweltpolitik eigentlich nur die Artenerhaltung, der Naturschutz sowie
das große Problem der Landwirtschaft und des Verkehrs
als Verursacher der größten Beeinträchtigung der Umwelt. Hierzu allerdings ist die Bilanz Ihrer Regierungstätigkeit, Herr Minister Trittin, sehr mager. Sie haben bisher nicht einmal im Ansatz erkennen lassen, dass Sie
sich der politischen Dimension des Artenschutzes auch
nur annähernd bewusst sind. Ein Atomkraftwerk hört irgendwann auf zu strahlen, aber eine Art, die ausgestorben ist, ist samt ihrem genetischen Potenzial für
immer verloren.
({5})
Stattdessen üben Sie sich lieber in überholten Glaubensbekenntnissen: Erstens. Gentechnik ist des Teufels,
obwohl die Neukombination von Erbgut eines der Erfolgsrezepte der Natur ist. Zweitens. Atomkraft - nein
danke. Wir lassen uns auch nicht davon verwirren, dass
es inzwischen revolutionäre wissenschaftliche Erkenntnisse über neue Endlagermöglichkeiten gibt.
({6})
Drittens - Frau Caspers-Merk hat es vorhin wieder bestätigt - sagen Sie sogar: Einweggut ist schädlich, Mehrweggut ist umweltfreundlich, obwohl inzwischen sogar
der NABU einräumt, dass dies so nicht stimmt. Aber Sie
wollen an Ihrem Glauben festhalten und Quoten
einführen, statt der Realität Rechnung zu tragen.
({7})
Der Mensch wird immer noch als Störfaktor für die
Natur angesehen. Deshalb hat die Naturschutzpolitik der
Regierung vor allen Dingen etwas mit gelben Verbotsschildern zu tun. Dass die Menschen dann Schutzgebiete
nicht attraktiv finden, ist eine bedauerliche Folge dieser
Politik.
Meine Damen und Herren, die Regierung hat die
positive wirtschaftliche Dimension der Umweltpolitik
überhaupt nicht erkannt.
({8})
Sie versucht, den Markt zu knebeln, statt ihn seine Kräfte zum Wohle der Umwelt entfalten zu lassen. Der deutsche Umweltrat ist da viel weiter. Er hat die Chancen
der Privatisierung für die Verbesserung der Umwelt erkannt. Er fordert zum Beispiel eine Privatisierung der
Wasser- und Abwasserversorgung und sagt: Das könnte
dazu führen, dass überfällige Investitionen in die Infrastruktur getätigt und dass deutsche Anbieter wettbewerbsfähig werden. Auch an die private Betreuung von
Schutzgebieten sollte gedacht werden. Vorbild ist hier
die USA, wo „wildlife-related activities“ längst ein
Wirtschaftsfaktor und Nationalparks Katalysatoren für
die Entwicklung ganzer Regionen geworden sind.
Aber die Bundesregierung hat nicht einmal ansatzweise versucht, entsprechende Strategien zu entwickeln.
Stattdessen gibt es eine ganze Menge umweltschädigender Subventionen; auch unter Ihnen als Umweltminister.
Uneffektive kommunale Trink- und Abwasserverbände
werden alimentiert. Der Umweltrat empfiehlt, das abzuschaffen. Der Preis für Fischfilets beruht zu einem Drittel auf Steuern.
Mit staatlichen Subventionen werden tierquälerische
Produktionsfirmen in der Landwirtschaft am Laufen gehalten und unsere Umwelt mit Herbiziden und Pestiziden belastet.
Allen vollmundigen Ankündigungen in den langen
Oppositionsjahren zum Trotz hat die rot-grüne Regierung nicht erkennen lassen, dass sie einen Ausweg aus
dieser umweltpolitischen Sackgasse sucht.
Frau Kollegin,
kommen Sie jetzt bitte zum Schluss!
Wer die Umwelt
nachhaltig schützen will, kommt um den Abbau von
umweltschädigenden Subventionen nicht herum. Was
hat denn Ihr Herr Funke kürzlich gemacht? Das Gegenteil davon. Jeder Grüne wusste, als er noch nicht in Regierungsverantwortung war, was „perverse subsidies“
sind. Heute muss der Umweltrat Sie auffordern, umweltschädigende Subventionen abzubauen. Ich frage mich,
ob das nicht ein Zeichen von „reverse politics“ ist.
Frau Kollegin
Lengsfeld, ich muss Sie jetzt doch bitten.
Ja, gleich, sofort. Ich
bin sofort fertig.
Nein, Sie haben
lange genug gesprochen. Ich muss Sie jetzt doch bitten,
zum Schluss zu kommen.
Ich möchte noch einen
Punkt zum Schluss anbringen. Ein Blick über die Grenze
würde ab und zu gut tun. Ich meine in diesem Falle den
Blick nach Österreich. Österreich hat die höchste Biobauerndichte Europas. Da könnte es nicht schaden, einmal hinzufahren und nachzufragen, wie Österreich dazu
gekommen ist. Dass man dabei einen FPÖ-Landwirtschaftsminister fragen muss, sollte einen extremismuserfahrenen Umweltminister nicht abschrecken;
({0})
denn er hat ja genügend Erfahrungen auf der Seite der
Linken.
Frau Kollegin
Lengsfeld, ich muss Sie wirklich bitten. Kommen Sie
jetzt bitte zum Schluss! Ich kann Ihnen jetzt keine weitere Redezeit geben.
Okay, ich bin beim
letzten Satz.
Nein, bitte!
Tut mir Leid. Der
letzte Satz wäre der beste.
({0})
Ich will an alle
Fraktionen sagen, dass bisher alle Redner in der Aktuellen Stunde überzogen haben. Wir haben das großzügigerweise auch zugelassen. Aber irgendwo ist die Grenze. Deswegen bitte ich um Verständnis, dass man irgendwann eingreifen muss. Wir haben eine Aktuelle
Stunde und noch drei Redner. Diese sollen nicht darunter leiden, dass ich jetzt eingegriffen habe. Aber im Wesentlichen möge man sich an die Redezeiten halten!
Frau Kollegin Monika Ganseforth spricht jetzt für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! „Schritte ins nächste Jahrtausend“ heißt das Gutachten des Sachverständigenrates,
über das wir heute debattieren. Die Empfehlungen richten sich eindeutig an Regierung und Parlament. Deswegen ist es richtig, dass wir uns damit befassen, und zwar
gründlich.
Die Tatsache, dass die CDU/CSU eine Aktuelle
Stunde dazu beantragt hat, scheint mir aber aus anderen
Gründen zu resultieren. Es geschieht nicht, weil sie sich
damit gründlich befassen will oder weil wir das diskutieren wollen. Das Gutachten ist noch nicht einmal eine
Woche alt. Ich habe es nur geschafft, die Kurzfassung zu
lesen, und diese ist schon 150 Seiten stark. Ich habe den
Eindruck, dass viele von Ihnen nur die Presseerklärung
gelesen haben, und die noch nicht einmal richtig.
({0})
Für eine gründliche Befassung mit einem so umfangreichen Werk braucht man ein bisschen mehr Zeit als eine halbe Woche. Ich hoffe, wir werden noch dazu kommen. Aber Sie haben vielleicht gute Gründe, sich hinter
einem solchen Gutachten zu verstecken, anstatt sich mit
Ihren eigenen Konzepten - die es immer noch nicht
gibt - auseinander zu setzen.
Ich möchte etwas zu einem Schwerpunktthema des
Gutachtens sagen, nämlich zu den energiewirtschaftlichen Fragen. Diese nehmen einen großen Raum ein.
Deswegen möchte ich mich sehr wohl mit den Empfehlungen auseinander setzen, aber nicht mehr mit der Ökosteuer. Das hieße nur, Schlachten von gestern zu schlagen. Wir erwarten von den Sachverständigen, dass sie wie heißt es so schön - „Schritte ins nächste Jahrtausend“ weisen und nicht die verlorenen Schlachten von
gestern schlagen. Die Argumente dazu sind widerlegt
worden; das muss nicht wiederholt werden.
Der Sachverständigenrat spricht sich wie eh und je ich finde, manchmal etwas zu euphorisch - für die Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte aus. Das ist ja
Ihr Erbe. Er weist auf das „ungelöste Problem einer ausreichenden umweltpolitischen Flankierung der liberalisierungsbedingt sinkenden Preise“ hin. Er spricht also
davon, dass die sinkenden Preise insofern ein ungelöstes
Problem sind, als sie sich auf die erneuerbaren Energien
und die Kraft-Wärme-Kopplung negativ auswirken. Er
sagt, die im Energiewirtschaftsrecht vorhandenen Möglichkeiten zum Schutz und zur Förderung dieser Energieformen seien „kein taugliches Instrument“.
Ich finde, hier wird sehr deutlich, dass man vorher
hätte überlegen müssen, ehe man so ein gravierendes Instrument etwas leichtfertig - ohne die Folgen zu bedenken - auf den Markt bringt. Der Sachverständigenrat
sagt ganz eindeutig, dass wir hier noch ganz am Anfang
stehen. Wir schlagen uns jetzt mit diesen Altlasten herum. Sie wissen, dass wir in fast jeder Woche damit zu
tun haben, wie man diese schädlichen Nebenwirkungen
in den Griff bekommen kann, die wir von Ihnen, vor allen Dingen der F.D.P., aber auch der CDU/CSU, und Ihrer Gesetzgebung, geerbt haben.
Der Umweltrat ist mit uns der Ansicht, dass die
Kraft-Wärme-Kopplung bei der rationellen Energienutzung eine besondere Rolle spielen muss. Er kritisiert,
dass die Kraft-Wärme-Kopplung bisher diskriminiert
worden ist - das bezieht sich auf Ihre Regierungszeit -,
sodass sich nicht eine kleinräumige flächendeckende
Versorgungsstruktur auf der Basis von BHKWs, also
von Blockheizkraftwerken, aufbauen konnte. Wir werden das ändern und wir haben schon damit begonnen.
Wir haben die Blockheizkraftwerke von der Ökosteuer
ausgenommen. Das hat inzwischen Wirkung. Dies zeigt,
dass flankierende Maßnahmen getroffen werden können.
Das hätte früher passieren müssen.
({1})
Wir sind in der Kraft-Wärme-Kopplung beim Vorschaltgesetz. Das wissen Sie. Im Übrigen teilen wir die
Ansicht des Umweltrates, dass durch Quoten der Marktzugang für die Kraft-Wärme-Kopplung geöffnet und deren Nutzung so ausgebaut werden muss. Dass der Umweltrat klipp und klar ausführt, dass eine Atomenergienutzung nicht verantwortbar ist und dass die Bundesregierung mit ihrem Konzept auf dem richtigen Wege ist,
ist hier schon gesagt worden.
Zu einem der Instrumente, die in Ihrer Regierungszeit
im Zusammenhang mit dem Klimaschutz das Heil sein
sollten, nämlich die Selbstverpflichtung, hätte das Urteil
nicht vernichtender ausfallen können. Aber auch hier ist
es so: Wir werden nicht die Schlachten der Vergangenheit schlagen, sondern auf dem Vorhandenen aufbauen.
Aber das Instrument der Selbstverpflichtung ist ungeeignet - darauf weist der Umweltrat hin -, vor allen
Dingen weil Sie nur spezifische und keine absoluten
Reduktionsziele eingegangen sind.
Was der Sachverständigenrat zur Energieeinsparverordnung sagt, ist nur richtig. Er ist gegen das vereinfachte Verfahren für kleine Wohngebäude. Er spricht sich
mit Recht gegen die Bevorzugung elektrischer Wärmebereitstellung aus, weil sie hinsichtlich der Primärenergie und ökologisch unsinnig ist. Und er fordert, dass für
den Gebäudebestand Instrumente wie Energiebedarfsausweis und Heizkostenspiegel eingeführt werden. Auch
das sind alles Altlasten, mit denen wir uns herumzuschlagen haben.
Zu den erneuerbaren Energien führt der Sachverständigenrat interessanterweise aus, dass es nicht richtig ist,
immer nur die Nachteile zu diskutieren, zum Beispiel
bei der Windenergie die Auswirkungen auf die angebliche Störung des Landschaftsbildes, den Düngemitteleinsatz bei Biogas oder den Abfall bei der Photovoltaik.
Vielmehr seien bei den anderen Energieformen die
Auswirkungen wesentlich gravierender und spielten in
der öffentlichen Diskussion, aber auch in der Politik eine
viel zu geringe Rolle.
Was die erneuerbaren Energien anbelangt, haben wir
das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das 100 000-DächerPhotovoltaik-Programm und das Markteinführungsprogramm auf den Weg gebracht. Hier sind wir also auf
dem Weg, der vom Umweltrat vorgeschlagen wird.
Hier blinkt die Lampe, die das Ende meiner Redezeit
signalisiert. Ich will nicht das nachmachen, was meine
Vorgängerin gemacht hat. Deswegen werde ich zum
Schluss kommen. Ich hoffe, dass wir noch eine gründliche Diskussion der umfangreichen Empfehlungen führen werden, die ein bisschen mehr Substanz als das hat,
was heute nach der kurzen Zeit besprochen werden
konnte.
Schönen Dank.
({2})
Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Kurt-Dieter Grill.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will noch einmal auf Folgendes hinweisen, verehrte Frau Caspers-Merk: Die Tatsache, dass wir die Kritik des Sachverständigenrates aufgreifen und sie auch in der Öffentlichkeit so diskutiert
und dargestellt worden ist, wie Sie es hier beklagt haben,
hängt nicht damit zusammen, dass der Sachverständigenrat für Umweltfragen einen Vergleich zwischen der
alten und der neuen Regierung vorgenommen hat. Ich
nehme vielmehr das auf, was Christian Ruck gesagt hat:
Die Differenz zwischen dem Anspruch, den Sie vor dem
Regierungswechsel auf dem Feld der Umweltpolitik gestellt haben, und der Wirklichkeit einer rot-grünen Umweltpolitik beschreibt das Versagen. Das heißt, Sie sind
an Ihren eigenen Ansprüchen gescheitert.
Weil es in der Umweltpolitik nicht nur um Geld oder
um technische oder um sonstige Lösungen geht, kann
ich Ihnen nur raten: Sie sollten auch immer einkalkulieren - das kann man an den 16 Jahren der CDU/CSUF.D.P.-Koalition hervorragend beweisen -, dass der
Faktor Zeit für den Wandel eine unabdingbare Voraussetzung ist. Das würden wir Ihnen ja sogar zugestehen,
wenn Sie nicht so täten, als könne man das alles in einem Jahr verändern.
Insofern ist es immer auch eine Frage, unter welchen
zeitlichen Perspektiven wir diskutieren. Wenn heute verschiedene Redner der Koalition meinten, sie müssten
noch einmal behaupten, dass in 16 Jahren nichts passiert
ist, dann will ich Ihnen nur sagen: Ein Stück der Existenz der Grünen hängt auch damit zusammen, dass es
bis zu Beginn der 80er-Jahre und bis zum Regierungswechsel am Ende der sozialliberalen Koalition - die
F.D.P. könnte da vielleicht beredter als die CDU/CSU
Zeugnis ablegen - eine Blockade von Sozialdemokraten
und DGB gab, nach dem Motto: Umweltpolitik vernichtet Arbeitsplätze.
Am Ende der Regierungszeit von Helmut Kohl waren
wir Weltmeister im Export von Umwelttechnologien.
Das ist doch nicht ein Ergebnis, das die Wirtschaft selber produziert hat, sondern das ist eine Folge der Herausforderungen von Umweltpolitik an die Wirtschaft,
die sie dann an den Stellen, an denen technische Lösungen erforderlich waren, auf diese Weise gemeistert hat.
({0})
Nur so konnte die global akzeptierte Leistung der Führerschaft - der einzigen übrigens - im Bereich der Umwelttechniken entstehen.
Ich brauche ja nur einmal in Ihre Papiere zu schauen;
dann weiß ich, dass Sie das Problem viel differenzierter
angehen, als Sie das hier am Podium darstellen. Ich
nehme einmal Bezug auf den Kollegen Loske, der ja
selber gesagt hat, dass akute Umweltprobleme wie die
Luft- und Wasserverschmutzung nicht mehr so gravierend sind.
Ja, meine Damen und Herren, das lag an der Tatsache, dass 1983 nach dem Regierungswechsel kein anderer als Herr Zimmermann, der nun wirklich nicht originär vom Stamme der Umweltpolitiker war, innerhalb
von wenigen Monaten die TA Luft, den Katalysator und
viele andere Dinge mehr umgesetzt hat.
Herr Loske, es kann doch wohl nicht wahr sein, dass
Sie sich hier hinstellen und sagen, im Oktober 1999 war
die Kritik des Sachverständigenrates noch richtig, und
im März 2000 ist das alles erledigt.
({1})
Im Übrigen, Herr Loske, würde ich Ihnen dringend etwas mehr Bescheidenheit empfehlen. Es fällt mir auf,
dass Sie in jeder Debatte in einer geradezu banalen, aber
auch nicht mehr akzeptablen Art Wissenschaftler kritisieren, die anderer Meinung sind als Sie. Das unterscheidet den Umweltminister, wenn er es vielleicht auch
nur aus taktischen Gründen gesagt hat, sehr deutlich von
Ihnen.
Sie sollten sich etwas mehr Bescheidenheit angewöhnen, denn die alten Herren, die Sie hier am Schluss so
polemisch kritisieren zu müssen glaubten, gehören zu
der Garde der Leute, die für die Umweltpolitik in der
Bundesrepublik Deutschland und ihre Entwicklung,
auch wenn man nicht alle ihre Wünsche erfüllt hat, einen unschätzbaren Dienst geleistet haben.
(Birgit Homburger [F.D.P.]: Einen größeren
Dienst als die Grünen!
Deswegen ist das vollkommen unangemessen.
({2})
Und ein Letztes, Herr Trittin, da Sie heute hier sozusagen die Wettbewerbsphilosophie der Union kritisiert
haben: Ich muss doch davon ausgehen, dass Sie als
Bundesumweltminister es waren, der im Kabinett in der
Antwort auf die Große Anfrage zur Energiepolitik dargestellt hat: Die Bundesregierung ist für einen Wettbewerb in der Energie, sie ist für Staatsferne und sie ist für
subventionsfreie Energie.
Unsere Kritik setzt doch da an, dass Sie die Spielräume,
die wir mit der Energiepolitik, mit der Liberalisierung,
mit den Standortvorteilen geschaffen haben, durch
Stromsteuer und zusätzliche Subventionen „verfrühstücken“ und sich für Ihre Politik zunutze machen, anstatt
sie bei den Verbrauchern zu lassen. Das ist auch genau
die Kritik, die der Sachverständigenrat übt.
({3})
Sie müssen versuchen, einen Teil Ihrer Glaubwürdigkeit
zurückzugewinnen. Ich kann nur sagen: Wer in Deutschland so über den Ausstieg aus der Kernenergie diskutiert
und gleichzeitig in China neue Kernkraftwerke baut, der
sollte sich an diesem Pult etwas bescheidener gerieren.
({4})
Wenn Sie der Meinung sind, dass ich ein Ökologe
sei, bei dem das Schwarze durchschimmere, dann sage
ich Ihnen, Herr Trittin: Die Konservativen sind der Ursprung der Umweltpolitik.
({5})
Leute wie Sie, die vom linken und sozialistischen Flügel
stammen, haben die Umweltpolitik eher als Vehikel zur
Macht denn aus Überzeugung eingesetzt. Das ist der
zentrale Punkt, warum Sie als Umweltpolitiker scheitern
werden:
({6})
nicht deshalb, weil mir das Schwarze nicht gut zu Gesichte steht, sondern deshalb, weil Ihnen das Grüne der
Umweltpolitik so schlecht zu Gesichte steht.
({7})
Als letzter Redner
in der Aktuellen Stunde spricht nun für die SPDFraktion der Kollege Michael Müller.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Es ist nicht das erste Mal,
dass wir im Plenum über Jahresberichte des Sachverständigenrates diskutieren. Ich kann mich an keinen Bericht erinnern, in dem nicht die Bundesregierung kritisiert worden ist. Ich halte es für legitim und sogar notwendig, dass ein solches Gremium Anstöße gibt und
Kritik übt. Es ist auch legitim, diese Kritik zu bewerten
und aufzugreifen. Aber das bedeutet noch lange nicht,
dass diejenigen, die diese Kritik aufnehmen, auch die
Meinung des Sachverständigenrats vertreten. Das ist der
eigentlich entscheidende Punkt. Ich möchte das an drei
Punkten deutlich machen:
Herr Ewers, der Mitglied des Sachverständigenrates
ist, vertritt beispielsweise die Auffassung, dass sich der
Preis pro Liter Mineralöl auf 4,50 DM bis 5 DM durch
eine entsprechende Besteuerung einpendeln soll. Mir ist
nicht bekannt, dass irgendjemand von der heutigen Opposition je eine solche Forderung erhoben hat - oder etwa doch? -, im Gegenteil! Das ist der entscheidende
Punkt. Herr Ewers, der das entsprechende Kapitel der
ökologischen Steuerreform nachdrücklich geprägt hat,
hat in der Vergangenheit im Rahmen der Diskussion
über die Ökosteuer immer wieder einen solchen Preis
für Mineralöl verlangt. Ich bitte Sie darum, ehrlich zu
sein.
Ein weiteres Beispiel. Der Sachverständigenrat plädiert in seinem Gutachten für höhere Strompreise. Herr
Grill hat soeben genau das Gegenteil vertreten. Er hat
gefordert, man müsse die Strompreissenkungen nutzen,
die sich durch die Liberalisierung ergeben haben. Aber
wofür sollen sie genutzt werden? Sollen sie etwa beibehalten werden? Wir haben diese Senkungen zum Teil
genutzt, um die Ökosteuer durchzusetzen. Aber man
kann nicht eine Kritik aufgreifen, gleichzeitig hinter der
Kritik zurückbleiben und behaupten, das sei die Kritik
an der Bundesregierung. Das passt doch überhaupt nicht
zusammen.
({0})
Ich halte es für völlig legitim, die Kritik des Sachverständigenrates zu übernehmen. Aber zur Ehrlichkeit gehört auch dazu, dass man sich mit dieser Kritik auseinander setzt und eine eigene Position bestimmt. Das ist
hier nicht erfolgt.
Aus meiner Sicht ist ein Teil der Kritik des Gutachtens berechtigt. Zum großen Teil werden in ihm allerdings lange beklagte Altlasten im Umweltbereich aufgeführt, die zu unserem Bedauern nicht schneller abgearbeitet werden können. Zum Teil sind sie auch umstritten. Manches ist auch falsch.
Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen,
über das der Bundestag diskutiert hat, nämlich am Beispiel der emissionsbezogenen Besteuerung. Wir haben
über sie in diesem Haus sehr intensiv im Zusammenhang mit Maßnahmen zum Klimaschutz diskutiert. Es
war damals übereinstimmende Meinung - einschließlich
der CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion -, dass eine emissionsbezogene Besteuerung des Energieverbrauchs nicht
sinnvoll sei. Im Gegenteil: Wir alle haben damals übereinstimmend die These vertreten, es gehe vor allem um
die Senkung des gesamten Energieverbrauchs und deshalb müsse der gesamte Energieverbrauch besteuert
werden. Das war die übereinstimmende Position.
({1})
Ich halte das nach wie vor für eine richtige Position.
Ich möchte dies an einem weiteren Punkt illustrieren:
Nach meiner Meinung macht es keinen Sinn, ein Solarenergiehaus zu bauen, das schlecht gedämmt ist. Das
würde nichts bringen. Man kann für emissionsbezogene
Kriterien eintreten. Aber die Logik, die Besteuerung auf
die Senkung des Energieverbrauchs auszurichten, ist
auch legitim und vielleicht sogar die richtigere Strategie.
Insofern sollten wir hier keine falschen Fronten aufbauen.
({2})
Hierüber gab es immer Streit. Zumindest damals - vielleicht ist dies heute nicht mehr der Fall - hat sich der
Bundestag einmütig für eine andere Linie ausgesprochen.
Sie können natürlich sagen: Der Sachverständigenrat
kritisiert, dass die ökologische Steuerreform nicht den
Lenkungseffekt hat, den sich vielleicht die einzelnen
Mitglieder dieses Sachverständigenrates gewünscht hätten. Ich will jedoch darauf hinweisen, dass sich bei der
Präsentation des Berichtes die Sachverständigen, die das
vorgetragen haben, in ihren Aussagen zum Teil ganz
schön widersprochen haben. So eindeutig ist deren Linie
auch nicht. Aber auch bei diesem Ausgangspunkt muss
man sagen:
Die Opposition hat bei der Ökosteuer überhaupt
nichts zuwege gebracht. Auf welcher Basis kritisieren
Sie uns eigentlich? Soll uns das eine Hilfe sein? Wollen
Sie, dass wir bei der nächsten Stufe der Ökosteuer noch
sehr viel mutiger sind, und wollen Sie das Ganze unterstützen? Heißt das, Sie machen keine Kampagne mehr
gegen die Ökosteuer? Dazu müssten Sie sich einmal äußern. Das ist doch völlig unklar, wenn man ehrlich ist.
Was wir an Kritikpunkten deutlich sehen und wo wir
nachbessern müssen, sind die Fragen betreffend Bodenschutz, Abfallpolitik, Altlasten, Naturschutz. Nur weise
ich darauf hin: In der Vergangenheit hat die damalige
Opposition immer die Bereitschaft geäußert, hier im
Bundestag sehr viel weitergehende Positionen durchzusetzen. Sie waren es, die blockiert haben. Sie können
sich jetzt nicht hier hinstellen und dies auch noch kritisieren. Das passt nicht zusammen.
({3})
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass dieses
Dokument eher der Nachläufer eines verlorenen Jahrzehnts ist. Eine in der Substanz schon die neue Regierung treffende Kritik sehe ich nicht. Ich sehe das aber
sehr wohl als einen Hinweis und Ansatzpunkt dafür,
dass wir unsere Anstrengungen verstärken. Ich glaube,
das sollte unser aller Anliegen sein. Unter den Bedingungen der Globalisierung und, der Veränderung der
Wirtschaftsstrukturen darf die Umwelt- und Naturschutzpolitik nicht auf ein Nebengleis gestellt werden.
Wenn der Sachverständigenrat dazu einen Beitrag geleistet hat, dieses wieder stärker ins Zentrum zu rücken,
dann danken wir ihm sehr dafür.
({4})
Damit ist die Aktu-
elle Stunde beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf.
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses
({0}) zu dem Entschließungsantrag
der Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und F.D.P.
zu der Regierungserklärung des Bundeskanzlers zum bevorstehenden Europäischen Rat in Helsinki am 10./11. Dezember 1999
- Drucksachen 14/2279, 14/2757 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({1})
Karl Lamers
Ulrich Irmer
Dr. Dietmar Bartsch
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Auswärtigen Ausschusses
({2}) zu dem Entschließungsantrag
der Fraktion der PDS
zu der Regierungserklärung des Bundeskanzlers zum bevorstehenden Europäischen Rat in Helsinki am 10./11. Dezember 1999
- Drucksachen 14/2289, 14/2756 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({3})
Karl Lamers
Ulrich Irmer
Dr. Dietmar Bartsch
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe zunächst dem
Kollegen Rudolf Bindig für die Fraktion der SPD das
Wort.
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Im Zentrum dieser Debatte steht der
Tschetschenienkonflikt. Ich möchte mich vor allem mit
der humanitären Situation und der menschenrechtlichen
Lage in der Krisenregion im Kaukasus und besonders in
Tschetschenien befassen sowie mit einigen politischen
Folgerungen, die daraus zu ziehen sind.
Durch die heftigen Kämpfe, die in Tschetschenien,
vor allem in Grosny, in einigen umliegenden Städten
und den Dörfern der Bergregionen des Kaukasus stattgefunden haben und noch stattfinden, sind große Teile der
Zivilbevölkerung Tschetscheniens in Not und Elend gekommen und als Flüchtlinge innerhalb Tschetscheniens
und in die Nachbarrepubliken zerstreut worden.
Grosny ist total zerstört, die Stadt ist ein Trümmerfeld. Als Mitglied einer Delegation der Parlamentarischen Versammlung des Europarates bin ich am vergangenen Wochenende an mehreren Stellen in Tschetschenien und auch in der Innenstadt von Grosny gewesen.
Diese besteht nur noch aus Mauerresten, Ruinen,
Schuttbergen und Geschosskratern. Nur wenige MilitärLKWs und Panzer fuhren durch diese Trümmerlandschaft. Die Innenstadt ist weitgehend menschenleer.
Etwas außerhalb des Zentrums wurde aus Feldküchen
heißes Essen an ältere Leute, Frauen und Kinder verteilt,
die mit vielen Personen in den wenigen heil gebliebenen
Kellern und Räumen hausen. Sie dürfen ihr jeweiliges
Stadtviertel nicht verlassen. Etwa 12 000 bis 14 000
Menschen sollen sich unter diesen Bedingungen noch in
Grosny aufhalten.
Sammelpunkte für Flüchtlinge innerhalb Tschetscheniens gibt es in Sernovodsk, Argun und Gudermes. Es
soll sich um etwa 100 000 Flüchtlinge handeln. Die
Verantwortung für diese geschundene Bevölkerung fällt
in den Aufgabenbereich des russischen Ministeriums für
Notlagen, das sich um den Transport der vertriebenen
Personen und die Versorgung der Flüchtlinge in den Lagern kümmern muss. Die Versorgung mit Nahrung, Unterkunft und medizinischer Hilfe für die innerhalb
Tschetscheniens Vertriebenen ist extrem prekär. Hier
muss der dringende Appell an die staatlichen russischen
Organe gerichtet werden, ihre humanitäre Hilfe zu verstärken und internationale humanitäre Hilfe der dafür
zuständigen UN-Organisationen und von erfahrenen
Nichtregierungsorganisationen zuzulassen.
({0})
In einem von mir besuchten Krankenhaus in Argun waren Medikamente nur für absolute Notbehandlungen
verfügbar. Jede weitere Medizin muss von den Kranken
mitgebracht, das heißt zuvor auf lokalen Märkten gekauft werden, wozu die meisten Patienten nicht in der
Lage sind. Da es grundsätzlich ein international verfügbares medizinisches Hilfspotenzial gibt, kommt es
hauptsächlich auf die Erlaubnis durch die russischen
Michael Müller ({1})
Behörden und natürlich auf die Sicherheitslage an, um
auch vor Ort Hilfe für die Patienten erbringen zu können.
Der Großteil der Flüchtlinge ist allerdings aus Tschetschenien in die Nachbarrepubliken Dagestan, Nordossetien und vor allem nach Inguschetien geflohen. Inguschetien unterhält traditionell vielfältige und gute Kontakte nach Tschetschenien. Der inguschetische Präsident Aushev nannte uns die Zahl von 210 000 Flüchtlingen, von denen circa 80 Prozent bei Verwandten oder
Bekannten untergekommen sind. Die verbleibenden circa 42 000 leben in drei Flüchtlingslagern. Dort sind sie
teils in Zelten, teils in Eisenbahnwaggons untergebracht.
Mit Unterstützung internationaler humanitärer Hilfsorganisationen ist für registrierte Flüchtlinge die Grundversorgung mit Nahrung und Wasser sowie mit Unterkunft und Hygiene einigermaßen gesichert. Unter
schwierigsten Bedingungen leben allerdings nicht registrierte Flüchtlinge. Auch für die von der lokalen Bevölkerung aufgenommenen Flüchtlinge gibt es keine oder
nur unzureichende Unterstützung.
Am bedrückendsten ist die Perspektivlosigkeit der
Flüchtlinge, weil wegen der Zerstörungen eine Rückkehr
nach Grosny auch mittelfristig unmöglich sein wird.
Auch ist nicht erkennbar, dass die russischen Regierungsstellen Vorstellungen darüber haben, wie es mit
den Flüchtlingen einmal weitergehen soll. Hier ist der
dringende Appell an die russischen Regierungsstellen zu
richten, in Zusammenarbeit mit den internationalen humanitären Hilfsorganisationen Konzepte nicht nur für
eine kurzfristige Notversorgung zu erarbeiten, sondern
auch eine mittelfristige Perspektive für den Verbleib und
die Versorgung der Flüchtlinge und ihre gesicherte
Rückkehr nach Tschetschenien aufzuzeigen.
({2})
Internationale Unterstützung kann und muss es geben. Die Hauptverantwortung aber liegt bei der Russischen Föderation, welche durch ihr gewaltsames Vorgehen in Tschetschenien, also gegen die eigene Bevölkerung, Verursacher der humanitären Katastrophe gewesen ist. Außer Frage steht allerdings auch, dass es nicht
akzeptable Akte der Gewalt auch durch die tschetschenischen Kämpfer gegeben hat, zum Beispiel bei der
Anwendung des Scharia-Rechtes, durch Geiselnahmen
und durch den Einsatz von Zivilisten als menschliche
Schutzschilder.
Eng verknüpft mit der humanitären Notlage ist die
menschenrechtliche Situation in der Krisenregion in
und um Tschetschenien. Durch den unterschiedslosen
und unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt leidet in
besonderem Maße die Zivilbevölkerung. Das russische
Militär hat dabei das humanitäre Kriegsvölkerrecht, wie
es in den Zusatzprotokollen zum Genfer Rot-Kreuz-Abkommen niedergelegt ist, und die UN-Resolutionen zum
Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten
aufs Schwerste missachtet. Berichte über Gewalttaten an
Zivilisten durch russisches Militär sind vor allem von
Human Rights Watch dokumentiert worden. Russische
Soldaten sollen Zivilisten willkürlich hingerichtet haben:
38 Menschen im grosnischen Stadtteil Staropromyslovski und 17 Menschen in der Nähe des Ortes Alkhan-Yurt. Die internationale Gemeinschaft muss von
den staatlichen Organen Russlands verlangen, dass diese
von Zeugen gut dokumentierten Kriegsverbrechen untersucht und die Schuldigen zur Verantwortung gezogen
werden.
({3})
Zu Menschenrechtsverletzungen kommt es insbesondere immer dort, wo Menschen gefangen gehalten werden. In der Region gibt es unter der Verantwortung des
russischen Justiz-, Innen- oder Verteidigungsministeriums bzw. der Sicherheitsdienste wahrscheinlich
Einrichtungen, in denen Menschen inhaftiert sind.
Über das Schicksal der Menschen in diesen Gefängnissen ist wenig bekannt. Ich hatte mit der Europaratsdelegation in Tschetschenien Gelegenheit, das Gefängnis
in Tschernokosowo und in der örtlichen Polizeistation in
Naurskaya zu besuchen. Dort berichteten die Gefangenen, dass sie „angemessen“ behandelt würden. Sie beklagten lediglich, dass sie keinen Zugang zu Rechtsanwälten hätten. Hier muss allerdings bedacht werden,
dass diese Haftanstalten bereits vom Europäischen
Kommissar für Menschenrechte, von der Europäischen
Antifolterkommission und von Journalisten besucht
worden sind, sodass es sich um Vorzeigegefängnisse
nach potemkinschen Muster handeln könnte.
Nicht zuletzt wegen der starken internationalen Kritik
an den schweren Menschenrechtsverletzungen in der
Kaukasusregion ist vom amtierenden Präsidenten das
Amt eines speziellen Beauftragten für Menschenrechte und Freiheiten in Tschetschenien eingerichtet und
mit dem durchaus einflussreichen russischen Politiker
Wladimir Kalamanov besetzt worden ist. Dieser hat
nach eigenen Angaben bereits alle staatlichen Organe in
Russland aufgefordert, ihn über Zahl, Haftdauer und erhobene Anschuldigungen gegen alle in ihrem Bereich
inhaftierten Personen zu informieren. Er kündigte an,
dass er auch den von Nichtregierungsorganisationen
vorgetragenen Fällen von Menschenrechtsverletzungen
nachgehen wolle. Ob diese Aufgabe ernsthaft wahrgenommen wird, und ob die Schuldigen auch bestraft werden, kann sich nicht durch Worte, Absichtserklärungen
und Planungen, sondern nur durch Taten erweisen.
({4})
Der Europarat bemüht sich intensiv darum, einige
Experten als Beobachter im Büro des Menschenrechtsbeauftragten mitwirken zu lassen. Über das Mandat der
internationalen Beobachter wird allerdings noch verhandelt, da noch ungeklärt ist, ob und wie sie nicht nur dem
russischen Beauftragten, sondern auch selbstständig der
internationalen Öffentlichkeit berichten können. Auf
keinen Fall dürfen diese Leute in eine Strategie der Russischen Föderation eingebunden werden.
Viel politische Bemühung sollte darauf verwendet
werden, jene politischen Kräfte in der Duma und in der
Zivilgesellschaft der Russischen Föderation zu stärken,
die für die Beachtung der Menschenrechte in Russland
eintreten. In der Duma könnte und sollte ein besonderer
Ausschuss eingesetzt werden, der sich mit der humanitären und menschenrechtlichen Lage in Tschetschenien
befasst. Wichtige Beiträge zur Aufklärung können auch
die vorhandenen Menschenrechtsorganisationen wie
Memorial und die Soldatenmütter erbringen. Gerade für
die Nichtregierungsorganisationen müssten allerdings
die Bedingungen geschaffen werden, in der Region
selbst tätig sein zu können.
({5})
Von einigen Parlamentariern des Europarates ist auch
der Vorschlag in die Diskussion gebracht worden, in
Russland ein nationales Komitee nach dem Vorbild der
Wahrheitskommission in Südafrika und entsprechenden
Kommissionen in einigen Ländern Zentral- und Südamerikas einzusetzen. Dieser Vorschlag birgt jedoch ein
großes Problem in sich, weil bei einer solchen Kommission das Aufklärungsinteresse, also das Interesse an
Wahrheit, mit Vorstellungen von Versöhnung, Amnestie
und Straflosigkeit verbunden wird. Dazu bedarf es einer
zeitlichen Distanz zum Geschehen. In Tschetschenien
muss jedoch Aufklärung und zugleich eine Bestrafung
der Schuldigen gefordert werden.
({6})
Deshalb ist dieses Modell wohl noch zu durchdenken.
Damit habe ich einige menschenrechtliche und humanitäre Aspekte des Konfliktes dargestellt. Der Kollege Weisskirchen wird die übergreifenden außenpolitischen Aspekte darstellen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns
hier im Plenum des Deutschen Bundestages schon wiederholt mit dem Krieg in Tschetschenien beschäftigt, der
von russischer Seite mit großer Brutalität und ganz gezielt gegen die Zivilbevölkerung geführt wird. Die Bundesregierung hat praktisch keine Möglichkeit gehabt,
politisch in den Konflikt einzugreifen oder auf die russische Kriegsführung Einfluss zu nehmen. Sie hat den russischen Machthabern wiederholt Gelegenheit geboten,
das auch öffentlich zu dokumentieren. Herr Außenminister, man kann geteilter Meinung sein, ob Ihre
Aufwartung in Moskau auf dem Höhepunkt der Kampfhandlungen in Tschetschenien angemessen und hilfreich
war. Der Kreml hat diesen Krieg gezielt eskaliert und zu
Wahlkampfzwecken in den russischen Medien inszeniert. Natürlich wurde auch Ihr Besuch für dieses Propagandaspektakel benutzt; Sie haben das in Kauf genommen. Der amtierende russische Präsident hat demonstrativ zur Schau gestellt, dass er sich in seiner
Tschetschenienpolitik überhaupt nicht beeinflussen lässt.
Sie haben nichts erreicht, Herr Außenminister. Wir
konnten das bei realistischer Betrachtung auch nicht anders erwarten. Deshalb machen wir Ihnen auch keinen
Vorwurf. Das Problem der Bundesregierung ist vielmehr
der krasse Gegensatz zwischen ihrer öffentlichen Zurückhaltung im Kaukasuskonflikt und ihren emotionalisierenden Auftritten im Balkankonflikt.
({0})
Sie sind in Tschetschenien von Ihrer überzogenen
und martialischen Kosovorhetorik eingeholt worden. Im
Kosovokonflikt hatte der Außenminister Fischer wiederholt auf Auschwitz angespielt, ein unangemessener
Vergleich, der sich uns Deutschen verbietet. Im Kosovokonflikt hatte Minister Scharping in großer Erregung
Bilder von Gräueltaten an Zivilisten präsentiert - Bilder,
die es auch aus Tschetschenien gegeben hätte -, um seine moralische Betroffenheit und die Grausamkeit des
Krieges zu dokumentieren. Wir waren damals genauso
moralisch betroffen wie die Bundesregierung. Wir sind
in Grosny genauso moralisch betroffen wie in Sarajevo
und Pristina.
Herr Kollege Bindig, Ihr Augenzeugenbericht spricht
wahrlich eine deutliche und beeindruckende Sprache.
Aber - darin unterscheiden wir uns von manchen Kollegen auf der linken Seite des Hauses - Betroffenheit
reicht eben nicht aus, um eine Außenpolitik zu gestalten,
die unseren Interessen und unserer Verantwortung gerecht wird.
Es war richtig und notwendig, im Kosovokonflikt
einzugreifen, auch militärisch, weil dieser Konflikt die
Stabilität Deutschlands beeinträchtigt hat: von den unmittelbaren Auswirkungen auf unsere Bündnispartner
und Nachbarn bis zu der Bedrohung unserer eigenen inneren Stabilität und dem Zustrom von Flüchtlingen nach
Deutschland.
In Tschetschenien war ein direktes Eingreifen der
deutschen Politik nicht nur nicht möglich, sondern auch
nicht zu verantworten, weil eine offene Konfrontation
mit Russland die Stabilität unseres Kontinents und
insbesondere die Stabilität Deutschlands beeinträchtigen
würde. Die Einbindung Russlands in die künftige europäische Sicherheitsordnung ist ein vorrangiges strategisches Ziel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Unsere Russlandpolitik ist um so wirkungsvoller, je weniger wir Dissonanzen und Interessenkonflikte öffentlich
inszenieren, erst recht, wenn es aus innenpolitischen
Motiven geschieht.
Tschetschenien ist ein Musterbeispiel dafür, dass die
Unterscheidung zwischen wertorientierter Außenpolitik
und interessenorientierter Außenpolitik einer politischen
Ideologie entspricht, aber nicht der politischen Wirklichkeit. Zu unseren Interessen gegenüber Russland gehört das klare Bekenntnis zu den Prinzipien von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten, selbstverständlich
auch in Tschetschenien.
({1})
Zu unseren Interessen gehören die diplomatische
Einbindung Russlands und der kontinuierliche Dialog
mit diesem schwierigen Nachbarn. Umgekehrt müssen
wir auch dem Interesse Russlands an einer Verankerung
in Europa und in internationalen Sicherheitsstrukturen
Rechnung tragen. Ausgrenzung und Isolierung sind kein
dauerhafter Beitrag zur Stabilität in Europa und in der
Welt, wie die jüngsten Beispiele zeigen.
Der Deutsche Bundestag muss noch intensiver als
bisher den Dialog mit der neuen Staatsduma suchen und
unseren Kollegen verdeutlichen, dass die Russische Föderation Gefahr läuft, sich selbst außerhalb des europäischen Fundamentes zu stellen und international zu isolieren. Mit öffentlichen Appellen ist es nicht getan.
Die strategische Diskussion über die künftigen Beziehungen zwischen der NATO und Russland, zwischen
der Europäischen Union und Russland hat für die deutsche Außenpolitik erste Priorität. Herr Außenminister,
zu dieser Diskussion hat die Bundesregierung bisher so
gut wie keinen Beitrag geleistet. Wir fordern Sie auf,
diese wichtige Debatte gemeinsam mit unseren Partnern
zu intensivieren und dazu eigene Vorschläge einzubringen. Die CDU/CSU-Fraktion wird sich an dieser Debatte konstruktiv beteiligen.
Vielen Dank.
({2})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gebe ich nunmehr das Wort
dem Kollegen Lippelt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag,
den wir nach langem Zögern heute endlich verabschieden, kommt fast schon zu spät. Er ist fast ein Nachruf
auf die furchtbare Tragödie, die Herr Bindig eben geschildert hat; eine Tragödie, für die neue Worte aus dem
„Wörterbuch des Unmenschen“ entstanden sind, wie
beispielsweise „Filtrationslager“, und wo wir auch auf
eigene Wörter zurückgreifen können, wenn wir Aufnahmen davon sehen oder vorgeführt bekommen, die
dann „potemkinsche Dörfer“ heißen, weil sie zwischendurch wieder umgemodelt wurden.
Wir müssen uns hier mit Tschetschenien auseinander
setzen, nicht weil wir gegen, sondern weil wir für ein
europäisches Russland sind, weil wir mit Russland das
europäische Haus bauen wollen, allerdings mit einem
Russland, das die Menschenrechte achtet, selbst wenn es
zur Wahrung seiner Integrität meint, gegen Separatisten
vorgehen zu müssen, und doch die Normen des humanitären Kriegsvölkerrechts achtet. All das geschieht nicht.
Vor vier Wochen - Sie haben Recht, Herr Schockenhoff - haben wir hierüber schon einmal diskutiert, fraktionsübergreifend. Ich habe dann festgestellt, dass Sie
auch da von der Kritik an der Rhetorik zur Zustimmung
in der Sache zurückkamen. Fraktionsübergreifend haben
wir die Reise des Außenministers für richtig gehalten.
Fraktionsübergreifend haben wir gefunden, dass er sie
richtig und gut durchgeführt hat. Trotzdem müssen wir
darüber intensiver und länger nachdenken, denn schon
die Folge der europäischen Reise, die von Moskau aus
gesehen - hier war erst der Anfang - fast den Eindruck
eines Wettlaufs zum Hofe von Herrn Putin machte, ist
mehr oder weniger eine massive Wahlkampfhilfe für einen Kandidaten geworden. Das muss man sehen. Da
muss man sich fragen: Ist das der Kandidat wirklich
wert? Da muss man dann ein bisschen genauer hinsehen.
Eines fällt inzwischen auf und wird immer deutlicher:
Der amtierende Präsident sagt zu allen das, was sie hören wollen. Er ist darin sehr geschickt. Er sagt sehr genau abgestimmt den Europäern das, was sie hören wollen, nach innen aber sagt er etwas ganz anderes. Das ist
der Unterschied zwischen Worten und Taten. Das bedarf
einer Analyse. Schon in den Worten tauchen solche Widersprüche auf, wie in dem Brief an die Wähler, in dem
er von der Notwendigkeit, die „Diktatur des Rechts“
durchsetzen zu müssen, schreibt. Wir alle fragen uns:
Dürfen wir uns nun die Hoffnungen auf die Entwicklung
eines russischen Rechtsstaates machen oder müssen wir
vor der Diktatur Angst haben?
Deshalb werden an Tschetschenien nicht nur die Tragödie und die Zerstörung eines Volkes deutlich, es wird
auch sehr deutlich, dass es geradezu ein Lackmustest ist
für die Entwicklung russischer Innenpolitik und die Frage, wohin Russland geht. Das hat schon mit der Pressefreiheit zu tun.
Am Dienstag voriger Woche hat auf einer Pressekonferenz der beste russische Tschetschenienkenner, der
Journalist Babitzky, unter dem Schutz des PEN-Clubs
erzählt, wieso und wo er drei Monate verschütt gegangen ist. Zuerst - das wussten wir ja - ist er von den Generälen festgenommen worden, weil er zu viel über die
Kriegsführung wusste. Dann ist er aber in einer dramatischen Aktion an tschetschenische Freunde ausgeliefert
worden. Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass
es keine tschetschenischen Freunde waren, sondern dass
es der FSB war, der mit tschetschenischen Kollaborateuren kooperierte. Die konnten ihn allerdings so unterbringen, dass er für eine ganze Zeit von der Bildfläche verschwunden war.
Das heißt, wenn wir über Tschetschenien sprechen, dann
müssen wir über einen Raum sprechen, in dem früher
schreckliche Dinge geschehen sind. Ich muss das nicht
wiederholen. Über all das Negative der Tschetschenen Scharia, Geiselhandel und anderes - haben wir viel gesprochen.
Wir müssen jetzt in der nachträglichen Betrachtung
intensiver über Russland reden. Wir müssen uns natürlich damit beschäftigen, dass es noch nie eine so massive Informationsblockade wie in diesem zweiten Tschetschenienkrieg gegeben hat, dass diese Informationsblockade durchbrochen werden muss, wie es der Europarat
jetzt tut.
Ich hoffe allerdings, dass die beiden Personen, die unter dem Schutz von Kalamanov dorthin können, vor allem dem Europarat berichten werden. Ich hoffe, dass sie
nicht etwa nur auf dem Weg über Kalamanov inforDr. Andreas Schockenhoff
mieren. Wenn das so wäre, dann sollten wir sie nicht
hinschicken. Die Klärung dieser Fragen steht dringend
an.
Ich sage etwas zum Gespräch mit den DumaAbgeordneten. Ich habe vor kurzem eine ganze Woche
lang mit Duma-Abgeordneten gesprochen. Es gab welche, die in Tschernokosovo, in diesem schrecklichen
„Filtrationslager“, waren. Sie haben mir diesen Ort wie
ein Sanatorium geschildert. Wenn einem das widerfahren ist, dann kommt man dahinter, dass ein tapferer, mutiger russischer Journalist herausgefunden hat, dass die
Gefolterten und Gebrochenen in Tschernokosovo in einen Güterzug gepackt worden sind, der auf dem Abstellgleis bei Piatigorsk steht.
Die Informationsblockade in diesem Fall ist massiv,
sodass selbst Duma-Abgeordnete einem ganz glaubwürdig erzählen, wie schön die Verhältnisse und wie weiß
die Kittel der Ärzte sind. Vom FSB ist ein potemkinsches Dorf gebaut worden, und unsere Gesprächspartner
fallen darauf herein. Das ist alles gar nicht so einfach.
Wir haben erfahren, dass eine der in Russland bekanntesten Eliteeinheiten, die Fallschirmjäger von
Pskor, beim Eindringen in das Argun-Tal erleben musste, dass von 90 nur sechs Fallschirmjäger übrig geblieben sind. Es war wiederum Babitzky, der die Nachricht als Erster überbrachte; deshalb ließ es sich nicht
länger verheimlichen. Das heißt, wir erleben im Moment
den Übergang in einen Guerillakrieg. Gleichzeitig haben
wir erlebt, dass es auch innerhalb des so genannten befriedeten Tschetscheniens Guerilla-Aktionen gegeben
hat. Wir stehen also an einem ganz wichtigen Wendepunkt in diesem Krieg, der nicht so bald zu Ende geht.
Umso wichtiger wird es sein, dass Russland von der
falschen Vorstellung, eine Großmacht dürfe auf ihrem
Territorium keinen Einblick von außen nehmen lassen,
abgeht. Russland muss begreifen, dass das Eingeständnis von Schwierigkeiten keine Schande ist, sondern dass
es geradezu ein Merkmal europäischer Politik ist. Russland, das uns bei der Beendigung des Kosovokrieges geholfen hat, muss lernen, dass ihm genauso durch Vermittlung europäisch geholfen werden könnte und sollte.
Wenn das aber geschieht, dann muss dieser ganze
graue Schleier, der vom FSB und vom Militär über
Tschetschenien ausgebreitet wird, wirklich zerstört werden. Es gilt für Russland, sich darüber im Europarat und
auch mit der OSZE zu einigen. Es geht darum, Russland
zu sagen, dass es zum Kriterium europäischen Verhaltens gehört, Hilfe von Freunden auch anzunehmen, sodass wir bei der Beendigung des Krieges mithelfen können und wenigstens noch ein paar Menschen gerettet
werden können.
({0})
Ich gebe dem Kollegen Ulrich Irmer für die F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Der Kollege Lippelt hat die Meinung vertreten, bei dem Antrag, über den wir heute beschließen,
handele es sich wegen des Zeitablaufs fast schon um einen Nachruf auf eine Tragödie. Ich fürchte, er hat Unrecht; denn wenn ich es richtig einschätze, dann werden
sich die Kämpfe, und sei es als Guerillakrieg, über
Monate, wenn nicht über Jahre hinziehen. Das Thema
Tschetschenien wird uns in den Gremien der westlichen
Länder weiterhin beschäftigen, auch wenn es vielleicht
nicht die Schlagzeilen beherrschen wird. Ich fürchte, es
wird so sein. Ich fürchte weiter, dass Tschetschenien
möglicherweise - wenn wir die Russische Föderation
betrachten - nur die Spitze eines Eisbergs sein könnte,
denn wir haben es bei der Russischen Föderation ja mit
einem Vielvölkerstaat zu tun, in dem es brodelt und gärt
und in dem sich viele Völker durch die russische Vorherrschaft bevormundet fühlen. Es wäre also gut, wenn
man sich rechtzeitig darauf einstellte, dass es in diesem
Riesenreich auch an anderen Stellen zu Schwierigkeiten,
zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommen könnte.
Wir sind uns alle darüber einig, dass wir Russland
nicht isolieren dürfen - wir sind auf Russland angewiesen, aber genauso ist Russland auf uns angewiesen -,
und zwar im Interesse eines gesamteuropäischen Friedens und gesamteuropäischer Sicherheitsperspektiven.
Russland ist ja nicht nur Atommacht, es ist nicht nur
nach wie vor eine Großmacht, sondern es ist auch - wir
haben immer wieder gemerkt, wie wichtig das ist - eines
der Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Wir haben im Falle Kosovo schmerzlich erfahren, wie lähmend sich dies auf die internationale Handlungsfähigkeit auswirken kann, wir haben zum
Schluss aber auch erfahren, wie konstruktiv Russland
dann handeln kann, wenn man es einzubinden versucht
und an seine Verantwortung appelliert.
({0})
Insgesamt ist es außerordentlich schwierig, mit einem
Land wie Russland angemessen umzugehen. Wie behandelt man ein solches Land? Auch ich bin der Meinung, Herr Bundesaußenminister, dass es richtig war,
dass Sie zu Putin gereist sind. Ebenso bin ich mit Ihnen
der Meinung, dass es relativ wenig Sinn machen würde,
an das Verhängen von Wirtschaftssanktionen gegen
Russland zu denken. Ich halte es aber für falsch, dass
Sie in öffentlichen Erklärungen von vornherein gesagt
haben, Sanktionen kämen nicht in Frage.
({1})
Man begibt sich damit einer möglichen Waffe. Sanktionen sind immer nur so lange wirksam, wie man mit ihnen drohen kann. In dem Moment, in dem man sie anwendet, verlieren sie ihre Wirkung. Deshalb ist es
falsch, diese Waffe aus der Hand zu geben und von
vornherein zu erklären, Sanktionen kämen nicht in Frage.
({2})
Außerdem möchte ich Sie an dieser Stelle noch einmal auf das eigentlich Schlimme hinweisen, das mir
immer wieder auffällt. Das ist dieser himmelweite AbDr. Helmut Lippelt
Abgrund, der sich zwischen Anspruch und Wirklichkeit
auftut. Ich will gar nicht so hämisch sein, Ihnen hier Zitate aus der Zeit des ersten Tschetschenienkriegs vorzuhalten, als Sie von dem entsprechenden Rednerpult in
Bonn aus die damalige Bundesregierung attackiert haben. Da war die Wendung „Wandel durch Anbiederung“
noch eine der vornehmeren Formulierungen; man hat
damals auch viel Härteres gehört. Ich bin ja froh, Herr
Fischer, dass Sie jetzt der harten Realität ausgesetzt sind
und endlich einmal als Politiker, der verantwortlich handeln muss, sehen, wie schwierig und unausweichlich so
etwas in manchen Fällen ist.
({3})
Sie merken eben jetzt plötzlich, dass es mit verbalen
Bekundungen nicht mehr getan ist.
In Ihrer Partei, die ja insgesamt das Organigramm der
Gutmenschen bildet, ist ja die Sparte der Fernethiker
ganz besonders stark ausgeprägt.
({4})
Sie werden es auf Ihrem Parteitag am kommenden Wochenende wieder erleben, dass Sie Prügel für Dinge beziehen werden, die Sie wahrscheinlich gar nicht anders
tun konnten. Aber ich sage es noch einmal: Diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist erschreckend. Davon müssen Sie herunter kommen.
Wir stehen auf Ihrer Seite, wenn Sie uns erklären,
dass man aus Gründen des Pragmatismus und um Russland nicht zu isolieren bestimmte Dinge eben einfach
nicht tun kann. Dann soll man sich aber bitte auch der
hochtrabenden Rhetorik enthalten.
({5})
Die beiden Anträge beziehen sich auf den Gipfel von
Helsinki. Die Bundesregierung sollte aufgefordert werden, dafür zu sorgen, dass Russland verurteilt würde,
dass auf Russland Einfluss genommen würde. Dazu ist
von dem Gipfel auch eine harte Erklärung herausgegeben worden. Aber geschehen ist nachher nichts!
Wenn man seine eigene Machtlosigkeit noch in aller
Öffentlichkeit dokumentieren will, dann tut man das natürlich auf die Weise, dass man erst große Worte findet
und nachher einräumt: Ja, ja, weil das mit Russland alles
so schwierig ist, konnten wir leider nichts tun.
Was Sie aber jetzt tun können und wozu ich Sie auffordere, ist, dass Sie, zusammen mit den anderen Europäern und mit Herrn Solana, den Versuch unternehmen,
eine gemeinsame Aktion der Europäischen Union in
die Wege zu leiten, wie man auf Russland zugeht und
mit Russland zusammen versucht, das, was es in Tschetschenien an Problemen gibt, zu lösen, und wie man vielleicht mit Russland gemeinsam Konflikt verhütende
Strategien entwickelt und überlegt, wie sich Europa verhalten soll, wenn in anderen Gegenden der Russischen
Föderation Auseinandersetzungen aufbrechen sollten.
Ich erwarte von der Bundesregierung auch, dass sie
jetzt massiv darauf drängt, dass die Zusagen eingehalten
werden, die Russland, die Präsident Putin zum Beispiel
gegenüber dem Europarat gemacht hat, dass er nämlich
eine ständige Beobachtermission in Tschetschenien
zulässt. Meines Wissens ist das noch nicht geschehen.
Der Kollege Bindig hat ja im Übrigen in eindrucksvoller
Weise nicht nur die Lage geschildert, sondern auch gesagt, was zur Bewältigung der schwierigsten Menschenrechtsprobleme jetzt dort geschehen müsste.
({6})
Die Vorwürfe an die Bundesregierung hinsichtlich ihres Verhaltens in der Tschetschenienfrage halten sich auch Kollege Schockenhoff hat das gesagt - in Grenzen.
Wir sind hier moderat und zurückhaltend. Aber wir sagen noch einmal: Wir erwarten, dass die Kluft zwischen
Anspruch und Wirklichkeit verkleinert wird. Bitte versprechen Sie in Zukunft nur noch das, was Sie auch
wirklich einhalten können.
Vielleicht hilft es ja, Herr Fischer, dass Sie sich jetzt
aus der inoffiziellen Führung Ihrer Partei etwas zurückziehen wollen. Ich habe heute früh in der Zeitung gelesen, dass Sie mit der Partei eigentlich nichts mehr zu tun
haben wollen. Ich verstehe das ganz genau, ich fühle mit
Ihnen. Auch ich möchte mit dieser Partei nichts zu tun
haben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Für die Fraktion der
PDS spricht nun der Kollege Wolfgang Gehrcke.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist und es bleibt bitter,
hier im Parlament und anderswo gegen Kriege zu reden
und sich zugleich der Grenzen der eigenen Einwirkung
bewusst zu sein. Trotzdem: Angesichts vernichteter
Städte und leidender Menschen, angesichts von Not,
Hunger und Flüchtlingselend ist Schweigen unmoralisch
und ein deutliches Nein dieses Parlamentes nötig und
letztlich auch nicht vergeblich.
({0})
Ich werde mich nicht damit abfinden, dass Krieg
mittlerweile zur Ultima Ratio erklärt wird, weder wenn
dies die russische Regierung mit dem Hinweis auf Terroristenbekämpfung tut noch wenn dies vonseiten der
NATO mit dem Wort „Menschenrechte“ begründet
wird. Krieg und Vernunft sind einander ausschließende
Begriffe.
Russland versucht nach eigenem Bekunden in einer
scheinbar alternativlosen Situation die Souveränität über
Tschetschenien mit massivem militärischen Einsatz gegen Abtrennungsversuche zu erhalten. Ich halte, wenn
man darüber nachdenkt, das Ziel, einen drohenden Zerfall Russlands zu stoppen, für legitim. Die Mittel indes
lehne ich kategorisch ab. Sie sind völkerrechtswidrig.
({1})
Ich verstehe, dass Russland Sorge um seine Sicherheit hat, dass auch die Fragen aufzuwerfen sind, wer
denn die Rebellen in Tschetschenien finanziert und ausrüstet oder wessen und welche Interessen in der Region
aufeinander stoßen. All das darf nicht außer Acht gelassen werden. Aber kein Argument rechtfertigt es, ein
Land zu verwüsten, es in die Steinzeit zurückzubomben,
Flüchtlingselend und Übergriffe der geschilderten Art
und Weise zuzulassen.
({2})
Der entscheidende, tragische Punkt ist, dass auch dieser Krieg die Probleme Russlands nicht lösen wird. Dieser Krieg wird noch nicht einmal die Voraussetzungen
für die Lösung der Probleme schaffen. Die Ausgangssituation verschlechtert sich eher dramatisch, auch im
Vergleich zum ersten Krieg in Tschetschenien. Russland
zahlt einen hohen Preis für diesen Krieg: Innenpolitisch,
demokratisch, sozial und auch in der Außenpolitik.
Wir werden heute über zwei Anträge zu entscheiden
haben, über einen Antrag der PDS-Fraktion und einen
der Regierungskoalition plus F.D.P. Ich finde unseren
natürlich besser, ist er auch.
({3})
- Wir bekommen ja, auch wenn wir in der Sache übereinstimmen, aufgrund mancher bornierter Haltung noch
nicht einmal hin, auch nur die Uhrzeit gemeinsam zu unterschreiben. Das haben Sie mir ein paar Mal gesagt,
was ich immer bedaure.
Im Antrag der Koalitionsfraktionen wird die Bundesregierung neben vielem Richtigen - deswegen kann man
ihm auch zustimmen - für ihr außenpolitisches Engagement bei der Einflussnahme auf Russland gelobt. Ich
möchte die Frage aufwerfen, ob es wirklich Anlass für
ein solches Lob gibt. Ich hatte angesichts der breit getragenen gesellschaftlichen und parlamentarischen Zustimmung in Russland zu Putins harter Haltung keine
übertriebenen Erwartungen an die Einwirkungsmöglichkeiten deutscher Politik im Rahmen der Reise des Außenministers nach Moskau; ich habe das hier bereits
ausgeführt.
Aber ich halte es - das will ich hier betonen - für einen unglaublichen Vorgang, der die Glaubwürdigkeit
der Bundesregierung mehr als nur infrage stellt, wenn
der deutsche Verteidigungsminister Ende Februar dieses
Jahres in Moskau - kurz nach der Übertragung der
schrecklichen Bilder aus Grosny und aus den Flüchtlingslagern - eine Zusammenarbeit zwischen der russischen Armee und der Bundeswehr in 33 Projekten vereinbart, unter anderem auch bei der Ausbildung von
Soldaten. Der Presse war zu entnehmen, dass der russische Marschall Sergejew auf die Frage, ob Scharping
das Problem Tschetschenien angesprochen habe, betont
eindeutig antwortete, über „innere Angelegenheiten
Russlands“ sei nicht gesprochen worden. Wie nennt man
das - der Verteidigungsminister ist leider nicht anwesend -: unterlassene Hilfeleistung? Ermutigung? Wegschauen? Heuchelei? Oder welchen Begriff kann man
dafür verwenden? In einer Situation, in der Grosny so
zerstört wird, wie Sie es hier geschildert haben, vereinbart der Verteidigungsminister eine Zusammenarbeit mit
der russischen Armee! Wie nennen Sie das? Das möchte
ich hier erklärt haben.
({4})
Der Außenminister spricht von Menschenrechten und
der Verteidigungsminister von militärischer Zusammenarbeit - zur gleichen Zeit.
Ich habe mich hier in diesem Hause immer gegen die
Ausgrenzung Russlands gewandt. Ich verteidige die Zusammenarbeit und den Dialog mit Russland; dafür
gibt es viele Felder. Aber muss es ausgerechnet der militärische Bereich sein, in dem diese Zusammenarbeit
konkret entwickelt wird? Ich kenne viele Felder, auf denen dies dringender notwendig wäre.
({5})
Krieg ist kein Mittel der Politik, auch kein letztrangiges, und wird es auch nicht sein. Krieg ist immer ein
Versagen der Politik. Krieg - im Kaukasus und anderswo - ist aber immer auch Kampf um Macht und Machtanspruch und die Verteidigung von Ressourcen, geostrategischen Interessen und Ansprüchen. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, ich will es auch hier aussprechen: Der
NATO-Krieg gegen Jugoslawien war der Freifahrtschein
für den zweiten Tschetschenienkrieg. Ich glaube, auch
das kann man mittlerweile beweisen.
Dem durch besonnene Politik vorzubeugen und entgegenzuwirken müsste Aufgabe deutscher Politik sein.
Wir müssen das ernst zu nehmende Interesse verdeutlichen, dass wir Gleichgewicht und Stabilität für Russland befürworten und dass uns an einer Zusammenarbeit
mit Russland viel liegt, dass wir sie für wichtig halten.
Das müssen wir dokumentieren; das muss eindeutig
sein. Deswegen müssen auch die Signale eindeutig sein.
Zu allem, was Russland in Richtung Demokratie und
Modernisierung führt, ist Ja zu sagen. Alles, was dazu
geeignet ist, zu glauben, man könne sich mit dem Tschetschenienkrieg abfinden, muss von uns deutlich kritisiert
und abgelehnt werden. Ich möchte, dass Sie sich dazu
erklären, was der Verteidigungsminister in Moskau vereinbart hat.
({6})
Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Christian Schmidt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorweg
ist zu sagen: Wir stimmen der Beschlussempfehlung
zum Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. auf Drucksache 14/2279 zu, aber nicht deswegen, Herr Kollege
Lippelt, weil das Verfahren, mit dem dieser Antrag damals eingebracht worden ist, besonders glücklich gewesen ist. Das sind zwar nur formale Aspekte; sie sind
aber, parlamentarisch gesehen, durchaus von Bedeutung.
Darüber sollten wir uns noch einmal gesondert unterhalten.
Inhaltlich müssen wir aber - gerade unter dem Eindruck des Berichts des Kollegen Bindig; das will ich
ausdrücklich unterstreichen - trotz mancher Punkte,
über die wir streiten könnten, feststellen: Dieses Haus ist
verpflichtet, gemeinsam eine klare Botschaft auszusprechen, und zwar in dem Sinne, dass dieser Krieg, dieser
Konflikt weder in der Art und Weise, wie er geführt
worden ist und noch geführt wird, noch vom Anlass, von
der Ursache her ein akzeptabler Weg für ein Mitglied
des Europarates ist.
({0})
Russland ist Mitglied des Europarates und damit der europäischen Völkergemeinschaft und hat sich deswegen das wissen wir und hören wir jeden Tag - einer verschärften Beobachtung zu unterziehen.
Wir haben hier bereits in den vergangenen Wochen
darüber diskutiert, wie es mit diesem Krieg weitergehen
wird. Ich habe in der letzten Debatte gesagt, dass er
möglicherweise nicht auf Tschetschenien beschränkt
bleiben wird, sondern in die Russische Föderation hineingetragen wird, was ich nicht hoffe, dorthin also, von
wo er aus Sicht mancher seinen Ausgang genommen
hat. Wenn nicht kluge politische Schritte unternommen
werden, um den Konflikt dort zu befrieden, wo er gegenwärtig schwelt, und zwar auf dramatische Weise,
dann ist dies nicht auszuschließen.
Wir sollten das als Anlass für einen sehr ernsten Dialog mit Russland nehmen. Es stimmt mich doch sorgenvoll, dass wir uns so konturenlos gezeigt haben. Herr
Fischer, Sie kommen einfach nicht daran vorbei - ich
habe es schon wiederholt gesagt -: Realpolitik zu
betreiben ist das eine, zu deklamieren im Sinne von
Menschenrechten das andere. Es ist notwendig, Konturen auch in den Bereichen zu zeigen, in denen es um
Realpolitik geht. Realpolitik bedeutet nicht platte Politik, sondern heißt, Ziele verwirklichen zu wollen.
Um welche Ziele geht es? Welche Ziele haben wir?
Wir haben im Verhältnis zu Russland viele Interessen.
Wir müssen uns allerdings entscheiden, ob wir eine Eindämmung russischer Politik oder eine Kooperation mit
russischer Politik wollen. Wenn wir eine Kooperation
mit russischer Politik wollen, dann bedarf es gewisser
Voraussetzungen auf russischer Seite - darüber ist gesprochen worden -: Dazu gehört ein Verhalten, das gerade in Tschetschenien nicht gezeigt worden ist. Dazu
gehört die Bereitschaft zu einer friedlichen Lösung und
auch - allerdings nur in diesem Rahmen - die Anerkenntnis berechtigter sicherheitspolitischer Interessen.
Ich zucke immer etwas zusammen, wenn die Begründung für den Tschetschenienkrieg mit dem Satz beginnt,
man habe Verständnis für Terroristenbekämpfung. Gerade aus manchen Mündern klingt das schal und hohl.
Ich glaube aber, dass hier die Dimensionen verschoben
werden. Um Sicherheitsinteressen jenseits der Terroristenbekämpfung, über die geredet werden müsste, handelt es sich dann, wenn man den Blick auf die südliche
Peripherie Russlands lenkt, auf Zentralasien. Ich glaube
in der Tat, dass wir hier in der Lage wären, dortige Interessen mit unseren zu verknüpfen.
Herr Fischer, Sie haben auf der Mitgliederversammlung der DGAP - ich glaube, das war im November letzten Jahres - gesagt, erzwingen könne man gegenüber einer atomaren Großmacht nichts. Das ist richtig; dem
stimme ich zu. Aber man kann die eigene Interessenlage
einbringen, um ein Verhalten einzufordern und möglicherweise durchzusetzen. Darüber hinaus kann man
vielleicht auch klarmachen, Herr Lippelt, dass vermeintlich interne Angelegenheiten in Form einer bewaffneten
Auseinandersetzung in der Föderation eben keine internen Angelegenheiten sind, wenn sie den Frieden destabilisieren, Menschenrechte verletzen und deswegen
auch unsere Interessen betreffen.
Wenn man Russland eine Verantwortung für die europäische Stabilität unterstellen will, dann müssen wir
gemeinsam mit Russland eine offene Sprache sprechen
und unseren Fundus an Interessen, Argumenten und Angeboten gegenüber Russland formulieren und darlegen.
Ich bin mir nicht sicher, ob das stattgefunden hat.
Putin hat umgekehrt als eine seiner ersten Amtshandlungen ein neues Sicherheitskonzept in Kraft gesetzt.
Das hat uns aufhorchen lassen, zum Beispiel weil darin,
bezogen auf den Stellenwert der Nuklearkräfte, nicht nur
Unbedenkliches steht. Allerdings glaube ich, dass gerade das ein Anknüpfungspunkt für ein Gespräch mit
Putin sein kann. Die strategischen Fragen der Partnerschaft, die von den Europäern in ihrem eigenen Interesse definiert werden müssen, sind, soweit ich es sehe,
nicht vorgetragen worden, weder bei den Wasserstunden
im Kreml noch bei den Teestunden in Sankt Petersburg.
Wenn wir über diese Fragen nur reden und gleichzeitig hören, dass unsere amerikanischen Partner bereits
fleißig über Fragen verhandeln - Herr Außenminister,
Sie können in diesem Hause anschließend noch einmal
darlegen, dass es anders ist, ich höre gerne zu, aber bisher habe ich keinerlei Informationen darüber, ganz im
Gegenteil -, die sich beispielsweise mit dem verknüpfen, was die strategische Sicherheit an der südlichen Peripherie Russlands betrifft, dann wird klar: Das ist offensichtlich gegenwärtig wieder eine nahezu ausschließlich
russisch-amerikanische Angelegenheit. Das kann nicht
richtig sein. Hier gibt es eine Anforderung an die Europäer zu definieren, welche Form der gemeinsamen Politik sie in dieser Frage führen wollen. Helsinki hat eine
Deklaration gebracht, aber die nachfolgende gemeinsame politische Strategie gegenüber Russland vermisse
ich.
Im Rahmen der zukünftigen Kooperation - ich nenne
das Wort „Kooperation“ im Zusammenhang mit der Krisenbewältigung in den „hot spots“ Europas und Zentralasiens - können die Interessen legitim, vernünftig und
maßvoll miteinander verflochten werden. Das ist und
muss das Ziel unserer Politik sein.
Wir stimmen diesem Antrag nicht deswegen zu, weil
all dies darin enthalten ist, sondern weil, darauf aufbauend, die Perspektive dahin entwickelt werden muss. Es
Christian Schmidt ({1})
ist Ihre Aufgabe, das in der Europäischen Union in die
Realität umzusetzen.
({2})
Nun spricht der
Kollege Professor Gert Weisskirchen für die SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber
Kollege Christian Schmidt, ich glaube, dass wir uns in
einem Punkt vielleicht sogar noch „einiger“ sind, als Sie
das hier beschrieben haben.
({0})
Kooperation mit Russland ja, aber sogar noch mehr.
Was wir wirklich wollen, ist, dass ein demokratisches
Russland in Europa einen festen, unverrückbaren Platz
findet. Das ist eine Aufgabe, die wir gemeinsam erfüllen
müssen.
In zehn Tagen - so hoffe ich jedenfalls - wird Herr
Putin wohl zum Präsidenten gewählt werden. Er hat
jetzt eine Duma zur Seite, die so zusammengesetzt ist,
dass er - anders als sein Vorgänger im Amt des Präsidenten, anders als Boris Jelzin - die Chance hat, das,
was er politisch will, auch gemeinsam mit der Duma
durchzusetzen. Zum ersten Mal also, seit es eine neue
Demokratie in Russland gibt, besteht die Chance, dass
Präsident und Parlament gemeinsam auf das gleiche Ziel
hinsteuern und dies auch in die gesellschaftliche Realität
umsetzen werden.
Wenn ich von gesellschaftlicher Realität spreche,
möchte ich hier heute jemanden begrüßen, Zoran
Djindjic, der dafür sorgen wird - so hoffen wir jedenfalls -, dass die gesellschaftliche Realität an einer anderen Stelle in Südosteuropa, in Jugoslawien, endlich so
verändert wird, dass Demokratie auch in jenem Teil Europas den Platz findet, der Jugoslawien angemessen ist.
Ich hoffe, Zoran Djindjic, dass Sie die Gelegenheit haben, das, was Sie wollen, in Ihrem Land auch durchzusetzen. Wir wünschen Ihnen alles Gute dabei.
({1})
Boris Jelzin hat vor zehn Jahren gesagt:
Die Geschichte hat uns gelehrt, dass einem Volk,
das über andere herrscht, kein Glück beschieden
sein kann.
Das hat er zu Beginn jener schrecklichen Auseinandersetzungen, fünf Jahre später und jetzt wieder gesagt.
Was für ein Krieg findet in Tschetschenien statt? Ist es
ein Krieg gegen Verbrecher, die eine ganze Republik erobert haben, ein Subjekt der Russischen Föderation, wie
Wladimir Putin in seinem offenen Brief - er ist zitiert
worden - an die Wähler Russlands schreibt? Ist es ein
Krieg gegen ein ganzes Volk, wie die, die sich Freiheitskämpfer nennen, behaupten? Verteidigt Russland
Europa - wie manche uns in der Administration in
Moskau glauben machen wollen - gegen terroristischen
Islamismus? Ist der Krieg ein Zeichen des Zerfalls eines
Kolonialreiches, vergleichbar mit dem Algerienkrieg,
den Frankreich nicht mehr hat gewinnen können, weil
ein militärischer Sieg damals das Recht auf Selbstbestimmung vernichtet hätte? Ist es ein Krieg Putins, wie
Sergej Kowaljow eben noch einmal geschrieben hat? Ist
er, der amtierende Präsident, ein Getriebener? Vollstreckt er, was andere vor ihm geplant, wozu ihnen aber
selbst die Kraft ausgegangen war? Ist der zweite Tschetschenienkrieg im letzten Herbst allein Revanche für die
Schmach, unter der die Militärs seit dem Ende des ersten
Kriegs in den 90er-Jahren leiden?
Sieht nicht derjenige, der heute durch die Ruinen
Grosnys geht - Kollege Bindig hat es einfühlsam beschrieben -, in den Ruinen die stummen Zeugen all der
Demütigungen, durch die Russland, die einstige Supermacht, seit dem inneren Sturz gegangen ist? Warum nur
ist Tschetschenien die Fläche, auf die sich alle Ängste,
zumal die, die von den Risiken der Transformation ausgehen, projizieren? Warum nur haben - auch das muss
gesagt werden - Tschetschenen Vorwände dafür geliefert und Tatsachen geschaffen, leider durch Verbrechen?
Sie sind zu Projektionsflächen geworden, in denen sich
Ängste brechen. Sind nicht auch die, die dazu beigetragen haben, Gefangene im kaukasischen Kreis der Gewalt?
Das alles sind Fragen, die wir gern unseren Kollegen
der Duma stellen würden. Wir wissen aber auch, wie die
Antworten lauten würden, die sie uns gäben. Sie weisen
diese Fragen alle zurück. Sie sind nicht bereit, Antworten auf diese Fragen zu geben, von denen wir erhoffen,
dass aus ihnen neue Logiken entstehen könnten, dass
endlich die Chance genutzt würde, sich aus der militärischen Logik zu befreien, damit die zivile Logik endlich
wieder ihren Platz finden kann. Das ist die Situation, in
der sich Russland gegenwärtig befindet.
Meine Angst ist, dass Putin die Prägekraft, die er mit
seinem Sieg in zehn Tagen erzielen wird - die Duma
wird ihm zur Seite stehen -, nicht so nutzen kann, dass
die neue Zeit durch Zivilität geprägt sein wird, sondern
weiterhin Gewalt und Militär vorherrschen. Ich hatte
gehofft, dass wir uns von der Logik des vergangenen
Jahrhunderts befreit hätten. Ich wünsche mir sehr, dass
wir, soweit es für uns als Parlamentarier in unserer Möglichkeit steht, mit dafür sorgen können - die Regierung
hat in diesem Punkt eine andere Aufgabe -, dass die
Kolleginnen und Kollegen in der Duma, dass also diejenigen, die in ihrem eigenen Land die politische Verantwortung tragen, mit uns gemeinsam dazu beitragen, dass
Russland seinen Platz im gemeinsamen Europa, in dem
wir leben, finden kann. Ich hoffe, dass uns dies gelingen
wird. Keiner kann uns sagen, ob das möglich ist.
Werden diejenigen, die Zeugnis geben können -
Soldaten und Journalisten, Kämpfer und Zivilisten -,
stumm bleiben gegenüber einer Realität, in die der
Schmerz und das Leid eingebrannt sind? Ich nenne
Sergej Adamowitsch Kowaljow, der in seinem Artikel
sehr präzise beschrieben hat, wo Russland steht: Könnte
sich Russland nicht hin zu einem Polizeistaat entChristian Schmidt ({2})
wickeln? Kann nicht das, was Kowaljow befürchtet, Realität werden? Die russische Regierung befindet sich
jetzt auf einem gefährlichen Weg, weil sie glaubt, Konflikte nur durch militärische Logik überwinden zu können, und dadurch selbst Gefangener des eigenen Handelns wird. Somit kann sich die zivile Logik nicht
durchsetzen. Das ist eine Sorge, die wir ernst nehmen
müssen.
Ein anderes Beispiel ist Jelena Bonner, die uns aufgerufen hat, auf dass zu sehen, was in diesem Land geschieht. Jelena Bonner ist eine Frau, die zusammen mit
ihrem Mann Beispiel dafür war, was Russland sein
kann: ein Land der Demokratie und der Menschenrechte. Auch Memorial zeigt ein anderes Russland.
Deshalb wünsche ich mir, liebe Kolleginnen und Kollegen, das es uns gelingt, mit dem demokratischen Russland, das es auch gibt, ein Zeichen der Hoffnung für eine
andere Zukunft dieses Landes zu setzen. Wir müssen
gemeinsam mit Russland versuchen, die Verknüpfungslinien aufzubauen, von denen Christian Schmidt soeben
sprach. Wir müssen versuchen, innerhalb der Gesellschaft zwischen den Städte- und Gemeindepartnerschaften, die existieren, und den Gewerkschaften, die miteinander kooperieren, sowie den Künstlern Netzwerke aufzubauen und dafür zu sorgen, dass diese Netzwerke tragfähig gegenüber allen Gefährdungen sind - von welcher
Regierung sie auch immer ausgehen.
Wenn das ein Ziel werden kann, an dem wir gemeinsam arbeiten, dann glaube ich, dass wir gemeinsam mit
ebenjenen Partnerinnen und Partnern mithelfen können,
dafür zu sorgen, dass Russland irgendwann einmal, wie
es in dem Artikel von Jelena Bonner heißt, ein sicheres
und stabiles Land wird: für die eigene Bevölkerung wie
auch für andere Länder und Völker.
Ich darf am Schluss hinzufügen, dass es mittlerweile
noch jemanden gibt, der sich in der praktischen Politik
zurückgemeldet hat: Michail Gorbatschow. Michail
Gorbatschow hat am letzten Sonntag auf einem Kongress die unterschiedlichen - es sind ein bisschen viele,
nämlich 13 an der Zahl - sozialdemokratischen Parteien
und Strömungen Russlands zusammengeführt. Er ist der
Präsident ebenjener 13 unterschiedlichen Gruppierungen
geworden, die nun eine gemeinsame, vereinigte Sozialdemokratie sind.
({3})
Wir hoffen sehr, dass Michail Gorbatschow mit der Sozialdemokratie versuchen kann, in diesem neuen demokratischen Russland einen Akzent zu setzen.
Auf diesem Gründungskongress ist ein Beschluss zu
Tschetschenien gefasst worden. Die Übersetzung ist etwas spröde, aber ich zitiere sie dennoch:
Die Sozialdemokratische Partei Russlands fordert,
das Problem Tschetschenien ausschließlich auf der
Grundlage der Gesetze und des Humanismus zu lösen. Sie ist sich bewusst, dass die Lösung der großen nationalen Probleme mit gewaltsamen Methoden nicht möglich ist, und hält Folgendes für notwendig: auf dem Territorium Tschetscheniens den
Notstand auszurufen und dadurch den Einsatz der
Armee legitim zu machen; die Ereignisse in Tschetschenien für die Gesellschaft durchsichtiger zu
machen und sie dadurch unter öffentliche Kontrolle
zu stellen.
Hiermit ist das entscheidende Problem beschrieben.
In diesem Beschluss wird deutlich, dass die Sozialdemokratie in Russland das Vorgehen der Armee in Tschetschenien für illegal hält, um es mit unseren Worten auszudrücken. Das macht klar, dass es andere Kräfte in der
politischen Szenerie, in der zivilen Gesellschaft Russlands gibt. Wir hoffen sehr, dass diese Kräfte, auch
Grigorij Jawlinskij und viele andere, die das andere
Russland repräsentieren, Russland künftig stärker prägen werden als die militärische Logik, in der sich die
gegenwärtige Regierung in Russland immer noch verfangen hat.
({4})
Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Dr. Friedbert Pflüger.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle haben die Berichte gehört, auch den Bericht des Kollegen
Bindig, über Zerstörung und Gräueltaten, über Lager
und über Flucht. Wer wollte angesichts solcher Berichte
nicht aufschreien und fordern: Her mit Sanktionen! Kein
Geld mehr für Russland! Lasst uns jetzt endlich moralisch deutlich werden und sagen: So nicht!
Wir tun das nicht. Wir verbleiben alle miteinander in
der Rhetorik. Das fällt uns allen miteinander schwer.
Warum tun wir es? Hat die Moral in der Außenpolitik
abgedankt? Haben sich realpolitische Interessen so weit
nach vorne geschoben, dass wir unsere Werte vergessen?
Ich glaube, bei näherem Hinsehen ergibt sich: Das ist
nicht der Grund. Der Grund, warum man Moral in der
Außenpolitik nicht hundertprozentig einsetzen kann, so
wie man sich das wünscht, liegt in zwei Dingen: erstens
darin, dass wir eine realistische Einsicht in unsere Möglichkeiten haben. Moral in der Außenpolitik hat dort ihre
Grenze, wo wir de facto nicht in der Lage sind, Einfluss
zu nehmen, oder wo uns ein so gewaltiges und großes
Land gegenübersteht, dass wir keine Hebelwirkung haben. Es gehört in einer solchen Debatte zur Ehrlichkeit,
so etwas zuzugeben. Nicht Indifferenz und Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid in Tschetschenien führen
uns dazu, auf Sanktionen zu verzichten, sondern Einsicht in die Grenzen unserer Macht.
Eine zweite Erwägung: Es gibt auch konkurrierende
moralische Ziele. Das eine ist die Not der Flüchtlinge
und das Elend in Tschetschenien. Aber würden wir
Russland mit Sanktionen überziehen und isolieren, würden dann nicht andere moralische Ziele gefährdet, nämlich zum Beispiel das Ziel, Stabilität in Europa aufrechtzuerhalten, Bürgerkriege auf nuklear hochgerüstetem
Territorium zu verhindern oder einen Partner in der
Gert Weisskirchen ({0})
Abrüstung von Massenvernichtungswaffen oder bei der
Bekämpfung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen nicht zu verlieren?
Mit anderen Worten: Es gibt auch konkurrierende
moralische Zielsetzungen, die in dieser Situation dazu
führen, dass es richtig ist, hier im Parlament der Empörung Ausdruck zu geben und das zu sagen, was wir angesichts der Gräueltaten in Tschetschenien denken, die
aber auch dazu führen, gegenüber Russland mit Maß zu
reagieren.
Ich glaube, dass es, anstatt Sanktionen zu beschließen, viel besser ist, den Versuch zu unternehmen, mit
Putin, der am 26. März mit großer Wahrscheinlichkeit
gewählt werden wird, einen Dialog aufzubauen und zu
versuchen, Moskau wieder in die Strukturen von NATO
und EU einzubinden. Wir haben das EU-NATOKooperationsabkommen. Das müssen wir mit neuem
Leben erfüllen: Wir müssen gemeinsam Patenschaften
aufbauen, das Sozial- und Gesundheitswesen reformieren, Umweltschutz und grenzüberschreitende Zusammenarbeit realisieren. Da gibt es eine ganze Agenda,
und diese müssen wir wiederbeleben.
Das Gleiche gilt für den NATO-Russland-Rat. Herr
Robertson, der NATO-Generalsekretär, ist im Februar in
Moskau gewesen. Was würde eigentlich näher liegen,
als jetzt in diesen NATO-Russland-Rat Start II und
Start III hineinzubringen, also das Weiterarbeiten an der
nuklearen Abrüstung, das Thema nationale Raketenverteidigung, das die Amerikaner aufbauen und das die
Russen und uns Europäer bewegt, hier in aller Offenheit
zu besprechen und einen Weg zu finden, wie man ein
Paket schnüren kann, um Start II und Start III zu ratifizieren, weitere nukleare Abrüstung und eine Raketenverteidigung, mit denen Russland und wir leben können?
Ich finde es ganz wichtig, dass wir die Instrumente
der Sicherheitspolitik, die wir auf europäischer Ebene
haben, wiederbeleben und auf diese Weise versuchen,
die Regierung Putin dazu zu bringen, sich verantwortlicher zu verhalten.
Putin hat gegenüber Robertson erklärt, er wünsche
sich, dass sich in Russland die europäische Option
durchsetzt. Er blickt in erster Linie nach Westen, übrigens auch nach Deutschland. Er will, so hat er gesagt,
dass seine Kinder in einem Russland aufwachsen, das in
Europa integriert ist. Dieses Angebot des russischen
Präsidenten zur Zusammenarbeit mit uns, so schwammig und diffus das auch noch sein mag, sosehr da noch
über andere Optionen nachgedacht wird, müssen wir
ernst nehmen, die Russen beim Wort nehmen und ihnen
sagen: Wenn ihr denn Integration mit Europa weiter
wollt, wenn ihr wirklich Partnerschaft wollt, dann müsst
ihr um Himmels willen diesen Krieg, diese Gräueltaten
beenden und dann müsst ihr zu einem zivilen Umgang
zurückkehren.
({1})
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist weit überzogen.
Ich glaube, meine Damen und Herren, dass wir uns in einer sehr ernsten
Situation befinden. Die moralische Empörung ist wichtig, aber sie kann in einem solchen Fall nicht die Leitschnur und vor allem nicht die einzige Leitschnur
unserer politischen Arbeit sein.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Nun spricht Herr
Bundesaußenminister Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist in
dieser Debatte viel Richtiges gesagt worden, was sich
nicht nur bereits im Ausschuss auf breite Unterstützung
aller Fraktionen des Hauses gründen konnte, sondern
was auch die Haltung der Bundesregierung wiedergibt.
Zum Krieg im Kaukasus: Wer die Geschichte des
nördlichen Kaukasus und die dortigen Eroberungen in
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennt und wer
sich die heutige Situation anschaut, der muss mit Erschrecken feststellen, wie sehr sich die Geschichte dort
wiederholt, wie oft es um Tschetschenien ging und wie
bisher weder das zaristische Russland noch die Sowjetunion unter Stalin und auch nicht das heutige Russland,
das sich auf dem Weg zur Demokratie befindet, mit den
Mitteln der Gewalt in der Lage war, eine Lösung im
nördlichen Kaukasus herbeizuführen. Neben den humanitären Erwägungen ist unsere Hauptsorge, dass der
Krieg im Kaukasus zu einer dauerhaften Destabilisierung nicht nur der Region, sondern ganz Russlands beitragen kann und dass der Demokratisierungsprozess als
solcher durch einen lang anhaltenden Krieg auf unterschiedlichster Ebene gefährdet wird.
Wir haben schon jetzt viel zu viele unschuldige Opfer
zu beklagen. Die Zerstörung einer Großstadt und der
Krieg gegen ein ganzes Volk können und dürfen niemals
legitime und verhältnismäßige Mittel im Kampf gegen
Terrorismus sein. Dies haben wir der russischen Seite in
direkten Gesprächen auf verschiedensten Ebenen immer
wieder klargemacht. Wir werden auch in Zukunft klarmachen, dass wir dies nicht akzeptieren können, nicht
akzeptieren wollen und nicht akzeptieren dürfen.
({0})
Ich möchte hier vor allen Dingen auf die außenpolitischen Punkte und nicht auf den innenpolitischen Teil der
Debatte eingehen. Es ist legitim, dass die heutige Opposition darauf eingeht. An Ihrer Stelle würde ich vermutlich ähnlich handeln.
({1})
- Richtig, aber Sie müssen noch mehr lernen, wenn Sie
unser Niveau erreichen wollen. Sie haben ja noch viele
Jahre vor sich, um das zu lernen. Ich bin durchaus hoffnungsfroh, dass Sie diese Zeit nutzen werden.
({2})
Ich möchte zur Sache zurückkehren, denn die Sache
ist verflucht ernst. Es geht nicht nur um die Frage des
nördlichen Kaukasus. Hier macht die PDS einen großen
Fehler: Die Parallelität besteht nicht zum Kosovokrieg.
Russland bedurfte keiner weiteren Entfesselung oder
Enthemmung. Sie können schon an der Vorgehensweise
Russlands im ersten Tschetschenienkrieg sehen, dass es
hier keinen Zusammenhang gibt. Aber das heutige Problem hat eine ähnliche - um nicht zu sagen: dieselbe Ursache. Gerade Sie müssten aufgrund profunder Schulungskenntnisse aus früheren Tagen noch wissen, dass
neben der Agrarfrage die Nationalitätenfrage die entscheidende Frage war, die in vielen Schriften auch von
Wladimir Iljitsch Lenin erörtert wurde und die noch
immer ihrer Beantwortung harrt. In der Tat ist die Nationalitätenfrage die entscheidende Frage für Russland, im
Kaukasus und auf dem Balkan.
Ich komme nun, Herr Schmidt, zu den entscheidenden Unterschieden. Wir haben die russische Seite immer
wieder gefragt: Wo sind eure politischen Antworten?
Wir haben das immer wieder gefragt, weil wir glauben,
dass eine militärische Lösung nur noch mehr unschuldige Opfer und eine weitere Destabilisierung bringt.
Auf unsere Frage haben wir nur die Antwort bekommen, dass man im Moment jede Autorität akzeptiere, die
in der Lage sei, das Gebiet zu kontrollieren und Tschetschenien innerhalb der Grenzen Russlands zu halten.
Das ist entschieden zu wenig, um dieses Problem zu lösen.
Deswegen ist der Stabilitätspakt nicht irgendeine
Kopfgeburt. Der Stabilitätspakt, den wir als präventive
Antwort auf die ungelöste Frage des Balkans entwickelt
haben, ist von entscheidender Bedeutung, um diese Region an das Europa der Integration heranzuführen und
eines fernen Tages - wenn es von den Beteiligten gewünscht wird - in Europa hineinzuführen. Er ist die
Antwort, damit die Völker, wenn sie um dasselbe Territorium oder um ihre Unabhängigkeit kämpfen, eben
nicht zu den Mitteln der Gewalt greifen und damit sie im
Rahmen eines integrativen und kooperativen Prozesses,
der Entwicklung, Wohlstand, Frieden und Sicherheit bedeutet, eine Perspektive haben.
Auch Russland wird in diese Richtung Antworten geben und sich engagieren müssen. Wenn es das nicht tut,
glaube ich nicht an eine politische Lösung in dieser Region. Dann wird sich die Gewaltspirale weiterdrehen.
({3})
Wenn man das Problem so sieht, dann sind aus meiner Sicht nach dem Abschluss des Vertrages von 1996,
der bei allen Unzulänglichkeiten gar nicht so schlecht
war, entscheidende Fehler gemacht worden, nämlich insofern, als sich die Russische Föderation zurückgezogen
hat und sie Tschetschenien sich selbst überlassen hat,
mit der Konsequenz, dass man in die Falle der Talibanisierung hineinlief, die mit dem Begriff des islamischen
Terrorismus beschrieben werden kann, und dass man
eine Entwicklung hat treiben lassen, deren negative Folgen die Russische Föderation in eine Situation gebracht
haben, in der nur noch maßlose Gewalt anscheinend einen Ausweg zu bieten schien. Ich halte dieses nicht für
einen Ausweg.
Ich stimme aber auch jenen zu, die hier zu Recht betonen, dass Deutschland seine Beziehungen zu Russland
nicht allein an Tschetschenien festmachen kann. Ich
kann Sie beruhigen. Wir haben sehr stark daran gearbeitet, dass der NATO-Russland-Rat in die Gänge gekommen ist. Er hat sich gestern getroffen. Von russischer Seite wurde dort unter anderem über NMD gesprochen und darüber diskutiert. Wir halten das für einen wichtigen Punkt und einen wichtigen Schritt nach
vorne.
Die strategischen Fragen, die Sie, Herr Abgeordneter
Schmidt, angesprochen haben, spielen in allen Gesprächen mit der russischen Seite eine zentrale Rolle. Sie
können ganz beruhigt sein. Es ist nichts vergessen worden. Es wäre auch töricht, die Gelegenheit nicht zu nutzen, um die russische Position kennen zu lernen und
gleichzeitig unsere Position entsprechend darzustellen.
Russland steht auch vor einem ganz entscheidenden
Schritt der inneren Demokratisierung und Zivilisierung.
Dies bedeutet eine Abkehr von der Geschichte der Gewalt, auch und gerade staatlicher Gewalt, die Russland
in den vergangenen Jahrhunderten geprägt hat. Dies bedeutet auch ein Hinwenden zu einem Rechtsstaat, zur
Beachtung der Menschenrechte und zur Beachtung von
Minderheitenrechten, bei allen legitimen Interessen
Russlands an seinem Territorium. Auch wir haben ein
Interesse daran, dass Russland nicht zerfällt, sondern ein
stabiler und integrierter Faktor bleibt.
Aber das heißt auch, dass Russland unter der neuen
Regierung einen neuen Schritt in Richtung Westpolitik
machen muss. Ich denke, hier besteht eine große Chance, und wir sind bereit, einen solchen Schritt Russlands
nicht nur zu unterstützen, sondern mit einem Neuansatz
zu beantworten. Ich denke hier nicht nur an eine bilaterale Ostpolitik, sondern in der Tat an eine europäische
Ostpolitik, die nach dem In-Kraft-Treten des Vertrages
von Amsterdam eine der wichtigen Angebote Europas
an Russland ist.
Die erste Strategie, die die EU verabschiedet hat, war
die Russland-Strategie. Wir sind bereit, hier einen neuen
Weg einzuleiten und auch einen Schritt zu machen, um
eine neue Epoche unserer Beziehungen zu eröffnen.
Gleichzeitig dürfen wir aber in den Fragen der Menschenrechte und dieser humanitären Katastrophe nicht
nachlassen, hier mit klarer und eindeutiger Sprache auch wenn unsere Mittel sehr begrenzt sind - Russland
klarzumachen, dass dieser Weg ein Weg ist, der in den
Irrtum, zu unschuldigen Opfern und zu unhaltbaren Zuständen führt und den wir auf keinen Fall akzeptieren
können. Die Bundesregierung hat es an dieser klaren
Sprache nicht fehlen lassen.
Auf der anderen Seite ist Russland ein entscheidendes
Element europäischer Sicherheit. Geopolitisch wird es
immer unser Nachbar sein. Wir Deutschen wissen, wie
wichtig ein gutes Verhältnis zu Russland für Europa ist.
Auch daran sollten wir arbeiten. Ich hoffe, hier die
Unterstützung des ganzen Hauses auch für die Zukunft
zu haben.
({4})
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses, zu dem Entschließungsantrag der
Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der
F.D.P., Drucksache 14/2757. Der Ausschuss empfiehlt,
den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/2279 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussfassung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2756. Der Ausschuss empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/2289 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Gegen die Stimmen der PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen worden.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 8 und 10 von der heutigen Tagesordnung
abzusetzen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist so beschlossen.
Die soeben abgesetzten Tagesordnungspunkte sollen
in der kommenden Sitzungswoche behandelt werden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie die Zusatzpunkte 5 bis 7 auf.
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Norbert
Otto ({0}), Dirk Fischer ({1}), Dr.-Ing.
Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Weiterbau des Verkehrsprojektes Deutsche
Einheit ({2}) Nr. 8 - Schienenneubaustrecke
Nürnberg-Erfurt-Halle/Leipzig-Berlin
- Drucksache 14/2692 ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Mertens, Hans-Günter Bruckmann, Dr.
Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert
Schmidt ({3}), Franziska Eichstädt-Bohlig,
Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur Thüringen/Nordbayern im Rahmen des
Verkehrsprojektes Deutsche Einheit ({4})
Nr. 8 Schienenneubaustrecke Nürnberg-Erfurt-Halle/Leipzig-Berlin
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich, Hans-Michael Goldmann, Dr.
Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.
Ja zur Schienenneubaustrecke NürnbergErfurt-Halle/Leipzig-Berlin
- Drucksache 14/2914 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Winfried Wolf, Christine Ostrowski, Eva
Bulling-Schröder, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Flächenhafter Ausbau der Schienenwege im
Bereich Nordbayern, Hessen, Thüringen und
Sachsen
- Drucksache 14/2525 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Norbert Otto, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die verschiedenen Äußerungen der Bundesregierung zum Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 8, also zur ICE-Strecke
Nürnberg-Erfurt-Halle/Leipzig-Berlin, ähneln in ihrer
Sprunghaftigkeit dem Verlauf einer Achterbahn. Hielt
die Vorgängerregierung noch ihre klare Aussage für den
Bau der Trasse Nürnberg-Erfurt-Berlin ein, so änderte
Rot-Grün alle paar Monate die Meinung.
Nach anfänglichen Zusagen und einem knappen Jahr
Stillstand folgte im Juli 1999 die Talfahrt. Minister
Müntefering stieß den ICE in den freien Fall und begründete dies mit Unwirtschaftlichkeit der Strecke. Seriöse Untersuchungen haben vorher das genaue Gegenteil
ausgewiesen.
Kaum sechs Monate später - sein Nachfolger, Herr
Klimmt, war gerade im Amt - zeigte sich die Regierung
wieder gesprächsbereit. Nach diversen Wahlniederlagen
in den Ländern hatte die SPD erkannt, dass Menschen
und Wirtschaft in Thüringen, Bayern und Berlin die
ICE-Verbindung als Lückenschluss im europäischen
Netz haben wollen und brauchen. Es gab also wieder
Hoffnung.
({0})
Doch auf die ersten positiven Signale von Minister
Klimmt, die zahlreiche SPD-Kollegen sogleich mit
vollmundigen Zusagen für den Weiterbau der Trasse unterlegten, folgte die Rückrufaktion durch den Kollegen
Eichel. Eine eindeutige Aussage für den Weiterbau hat
die Regierung seitdem immer wieder geschickt vermieden.
Allerdings - und das nehmen wir auch gerne zur
Kenntnis - gehen die jüngsten Aussagen von Herrn
Klimmt und Bahnchef Mehdorn nun endlich wieder in
die richtige Richtung, in die Richtung, welche wir von
Anfang an vertreten haben. Auch die unsinnige Saalebahn-Umleitung, die keiner wollte, ist nunmehr zum
Glück vom Tisch.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, weitgehende Passagen Ihres Antrages,
der heute hier beraten wird - das bitten wir genau zu beachten -, entsprechen auch unserer Intention und der seit
geraumer Zeit bekannten Vorlage, die wir ja heute auch
beraten. Wenn Sie jedoch die Regierung auffordern zu
prüfen, ob und wie die Nord-Süd-Trasse ausgebaut werden kann, dann frage ich mich doch allen Ernstes, was
Sie eigentlich in den ersten anderthalb Jahren Ihrer Regierungszeit gemacht haben.
({1})
Sie wollen das Ob und das Wie prüfen; das heißt, Sie
stellen das Projekt in Ihrem Antrag wiederum infrage.
Das muss hier deutlich gesagt werden.
({2})
Als Ergebnis kam ein Baustopp heraus. Ich hoffe, dass
dieser wieder aufgehoben wird. Jetzt wollen Sie aber
schon wieder prüfen lassen. Sie wollen wieder prüfen,
prüfen, prüfen.
({3})
Vielleicht kommt dabei dann heraus, dass das Ergebnis
im Jahre 2002 oder später auf den Tisch des Hauses
kommt. Liebe Freunde, das alles ist reine Verzögerungstaktik.
Ich möchte Ihnen heute raten: Greifen Sie die Hand,
die Ihnen CDU/CSU, das Land Thüringen und der Freistaat Bayern in Form verschiedener Realisierungsvorschläge reichen. Nehmen Sie die positiven Signale auf,
die die Thüringer Landesregierung und Bahnchef Mehdorn bei ihrem letzten Gespräch am Montag ausgesandt
haben. Bewegen Sie die Bundesregierung dazu, das Projekt umgehend zu realisieren. Nur so lassen sich unter
anderem die Ausgaben in Höhe von 15 Millionen DM
an Steuergeldern, die pro Jahr durch diesen Baustopp
anfallen, vermeiden.
Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich mich noch kurz an meine Thüringer SPDKollegen wenden.
({4})
Wir arbeiten hier ja eigentlich zusammen und haben
dasselbe Ziel; davon bin ich völlig überzeugt. Lassen Sie
bei der kommenden Abstimmung Ihren Worten endlich
Taten folgen, indem Sie sich unserem Antrag anschließen und nicht wieder wie beim vergangenen Mal den
Saal vor der Abstimmung verlassen!
({5})
Den Menschen in Thüringen würden Sie mit Ihrer Zustimmung ein eindeutiges Zeichen geben. Damit könnten Sie das Vertrauen, das Sie bei der letzten Wahl in
Thüringen verloren haben, wieder herstellen. Ausnahmsweise sind wir Ihnen dabei einmal behilflich.
Schönen Dank.
({6})
Das Wort hat nun
Herr Kollege Wieland Sorge, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Norbert Otto, wenn Sie
uns unterstellen, wir betrachteten das Verkehrsprojekt
Deutsche Einheit Nr. 8 als Achterbahn, dann ist das
schon ein tolles Stück. Wir haben uns mit diesem Thema
bereits im vergangenen Jahr beschäftigt; seinerzeit lagen
dazu Anträge aus allen Fraktionen vor. Damals ging es
darum, die Überprüfung durch die Bundesregierung zu
beenden und eine Aussage dahin gehend zu treffen, dass
weitergebaut wird. In einem zweiten Antrag wurde gefordert, dass der Baustopp durch die Bundesregierung
beendet, die Strecke gebaut und der Bau von Erfurt aus
in Richtung Ilmenau und Nürnberg fortgesetzt wird.
Meine Damen und Herren, was haben wir eigentlich
an unterschiedlichen Positionen bisher gehabt? Wir Sozialdemokraten hatten uns von Anfang an für diese Strecke entschieden.
({0})
- Moment, Moment! Was uns immer unterschied, ist,
dass wir aus der Verantwortung für dieses Land heraus
zu prüfen hatten, ob Einzelprojekte zu finanzieren sind.
Wir reden hier ja nicht über Peanuts; es geht immerhin
um 15 Milliarden DM. Ich bezweifle, ob wir diese
15 Milliarden DM so ohne Weiteres aufbringen können.
In keinem der Anträge steht, wie diese Summe aufzubringen ist.
({1})
Norbert Otto ({2})
Nun stellt sich die Frage, warum wir uns am heutigen
Tage erneut mit vier Anträgen zu diesem Thema beschäftigen müssen. Hat sich die Situation in irgendeiner
Form geändert? Die Antwort lautet Ja. Die Bundesregierung hat mit der Landesregierung von Thüringen den
Beschluss gefasst, auf die Querspange nach Saalfeld zu
verzichten und den Bau von Traßdorf in Richtung Ilmenau fortzusetzen, also genau auf der geplanten Strecke.
Damit setzt die Bundesregierung das Signal, dass sie
auch weiterhin an dieser Strecke interessiert ist.
Das Zweite, was sich geändert hat, ist, dass sich Herr
Mehdorn, der neue Vorstandsvorsitzende der Deutschen
Bahn AG, ebenfalls zu dieser Strecke bekannt hat. Er hat
aber, lieber Kollege Norbert Otto, in dem Gespräch mit
Ministerpräsident Vogel klipp und klar gesagt - Sie
können alle fragen, die bei diesem Gespräch dabei gewesen sind -, für ihn habe das Netz 21 erste Priorität,
was in erster Linie bedeute, den Bestand zu sichern und
zu entwickeln.
({3})
Er fügte hinzu, erst wenn wir zusätzliche Mittel aufbringen könnten, könne er sich für den Bau dieser Bahnstrecke aussprechen. Er hat nirgends gesagt, dass er diese
Strecke sofort bauen wolle.
Was hat sich noch geändert? Die beteiligten Landesregierungen haben sich noch einmal in aller Öffentlichkeit dazu geäußert. Es sind im Wesentlichen die Regierungen von Thüringen, Bayern, Sachsen und SachsenAnhalt, die an dieser Bahnstrecke ein riesengroßes Interesse haben. Wie sie die Strecke begründen, deckt sich
exakt mit unserer Auffassung: Es ist eine wichtige NordSüd-Verbindung innerhalb Deutschlands. Wir haben natürlich ein Interesse daran, dass die europäischen Netze
vollendet werden. Das heißt: Die europäischen Infrastrukturmaßnahmen müssen in dieses System eingebaut
werden. Von uns wird eine klare Aussage getroffen, die
in diese Richtung geht.
Wir haben dazu einen Antrag eingebracht, der genau
diesem Ansinnen gerecht wird. Wir wollen diesen
Schritt in Richtung des Baus der Strecke Erfurt-Ilmenau
machen. Die Kritiker haben früher immer gesagt: Diese
Strecke ist nicht sinnvoll, weil der Verkehr erst möglich
ist, wenn die letzte Schiene gelegt ist. Wir wollen, dass
der Verkehr zwischen Erfurt und Ilmenau sofort aufgenommen wird, wenn der Bau der Strecke beendet wird.
({4})
Wir haben im Rahmen unserer Investitionspolitik, die
wir im Investitionsprogramm begründet haben, ganz
deutlich gemacht, dass wir in erster Linie für die neuen
Bundesländer Sorge tragen
({5})
und dass die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“
immer an erster Stelle stehen. Wir haben in unserem Antrag die Bundesregierung aufgefordert, zu prüfen, welche Möglichkeit wir haben, diese Strecke kostengünstig
zu bauen, und wie wir zusätzliche Mittel beschaffen
können, um so schnell wie möglich diesen Bau zu beginnen und durchzuführen.
({6})
- Das, lieber Kollege Otto, steht für uns eigentlich fest.
Wir haben an keiner Stelle gesagt, dass wir uns von dieser Strecke verabschieden
({7})
und dass wir diese Strecke nicht bauen wollen. Wo steht
das?
({8})
Es ist völlig falsch, was uns hier unterstellt wird.
Wir haben immer ganz klar zum Ausdruck gebracht,
wo das Problem liegt: Wir können unter den jetzigen
Bedingungen aufgrund der Haushaltssituation die
15 Milliarden DM nicht finanzieren. Diese Tatsache
müssen Sie endlich einmal einsehen. Deshalb müssen
wir jetzt gemeinsam versuchen, Möglichkeiten zu finden, wie die Strecke von Bund, Ländern und Bahn finanziert und dann gebaut werden kann. Das sollten wir
gemeinsam tun.
Wenn Sie diese Strecke unbedingt wollen, dann bedeutet das natürlich, meine Damen und Herren von der
rechten Seite, dass andere Vorhaben in anderen Ländern
zurückgestellt werden müssen und dass es möglicherweise zur Streichung von anderen Strecken kommt. Wir
können nicht mehr Geld ausgeben.
({9})
- Das zu fordern ist Ihr gutes Recht.
Herr Kollege, ich
darf Sie daran erinnern, dass Ihre Redezeit abgelaufen
ist.
Ich darf kurz zusammenfassen: Liebe Kollegen, wenn Sie uns Wege aufzeigen, wie
wir die 15 Milliarden DM aufbringen können, dann sind
wir gerne bereit, diese Strecke zu bauen. Dabei bleiben
wir.
({0})
Das Wort hat nun
der Kollege Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Koalitionspartner haben von
Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass bei allen
Fragen der weiteren Verkehrsplanung ein Grundsatz
gilt: Es wird und darf in diesem Land keine Investitionsruinen geben. Das steht im Koalitionsvertrag; das können Sie nachlesen. Es ist nichts Neues. Dieser Grundsatz
gilt generell und auch an dieser Stelle.
Deshalb bin ich nachdrücklich dafür, dass die begonnenen Baumaßnahmen, die wir vorgefunden haben und
die heute zu besichtigen sind - ich kann Ihnen versichern, ich habe sie mir mehrmals an Ort und Stelle angeschaut -, selbstverständlich einen Verkehrswert erhalten
müssen und dass sie nicht sozusagen als Stumpf in der
Landschaft ungenutzt täglich Kosten verursachen, ohne
einen verkehrlichen Wert zu entwickeln.
Von daher haben wir, Bündnis 90/Die Grünen, selbst
vorgeschlagen - Sie konnten dies auch öffentlich feststellen -, den bisherigen Neubauabschnitt von Erfurt
Richtung Arnstadt weiterzuführen und die aufstrebende
Universitätsstadt Ilmenau mit einer Verbindungskurve
anzuschließen, sodass künftig auf der Strecke zwischen
der Landeshauptstadt Erfurt und der Universitätsstadt
Ilmenau gegenüber einer Fahrtzeit von heute 60 Minuten
lediglich 20 Minuten Fahrzeit aufzuwenden sind. Dies
schließt ausdrücklich ein - das möchte ich deutlich sagen -, dass die Altstrecke, die Bestandsstrecke, weiterhin bedient wird. Denn dies ist notwendig, damit die
Fahrgäste im Nahverkehr, die entlang der Altstrecke
wohnen, auch künftig ein angemessenes Angebot haben.
({0})
Das hat die Landesregierung von Thüringen ausdrücklich versichert.
Durch den Anschluss von Ilmenau wird auch die
Landesregierung in die Lage versetzt, einen Nahverkehr
in der Größenordnung von 20, 25 Zugpaaren pro Tag
durchzuführen, sodass künftig eine attraktive Verbindung hergestellt ist.
Diese Entscheidung, die in unserem gemeinsamen
Antrag noch einmal ausdrücklich begründet wird, beinhaltet aus meiner Sicht allerdings - das sage ich genauso deutlich - keine terminliche oder sonstige Festlegung hinsichtlich des weiteren Verfahrens.
({1})
Die Finanzierung, die wir derzeit zusagen können,
erstreckt sich bis zum Horizont der Jahre 2003, 2004.
Bis dann muss der Anschluss an Ilmenau hergestellt
sein. Diese Zeit - das ist nach wie vor meine Auffassung - sollten wir intensiv nutzen, um gemeinsam zu
prüfen - ich meine hier das Unternehmen Deutsche
Bahn AG, das prüfen muss, inwieweit es in deren Konzepte passt; ich meine aber auch die Verkehrspolitik in
Bund und Ländern -, ob das Festhalten an der jetzigen
Planung südlich von Ilmenau die optimale Lösung darstellt oder nicht.
Ich sage Ihnen mit allem Ernst - Sie konnten das in
den letzten Tagen in der Presse nachlesen -: Überall
dort, wo wir derzeit Großbaustellen im Bahnbau haben das gilt für Köln-Frankfurt, das gilt für den Knoten Berlin und es gilt auch für die im Bau befindliche Neubaustrecke von Nürnberg nach Ingolstadt -, erleben wir
eine Kostenexplosion in einer Größenordnung, die sich
nach Milliarden und nicht nach Millionen bemisst. Dies
führt dazu, dass die Frage immer dringlicher wird - sie
wird immer schwerer zu beantworten sein - ob wir
überhaupt noch genug Geld haben, um das Bestandsnetz
zu sichern. Bei den Projekten VDE 8.1 und 8.2, also
Nürnberg-Erfurt und Halle-Leipzig, haben wir summa
summarum einen Kostenstand von 15 Milliarden DM.
Ich unterstelle, dass auch diese Projekte mit 40 Kilometern Tunnel, bei denen die Sicherheitsauflagen viel
strenger sind als vor Jahren, mehr kosten werden.
Ich rate dringend dazu, gemeinsam zu überlegen, ob
dies wirklich eine Planung ist, die uns an das Ziel führt,
oder ob es nicht schädlich ist, dass wir an maximalen
Forderungen festhalten und dabei in Kauf nehmen, dass
wir diese immer weniger finanzieren können. Deswegen
rate ich nach wie vor dazu, die verschiedenen Möglichkeiten für den weiteren Verlauf der schnellen Verbindung Richtung Nürnberg, die wir gemeinsam wollen,
auszuloten und zu prüfen: in technischer Hinsicht, in
verkehrspolitischer Hinsicht, aber auch in fiskalischer
Hinsicht, liebe Frau Kollegin. Denn was Sie gemacht
haben, war keine Politik.
Sie haben uns diese miserablen Verträge hinterlassen
und haben uns garantiert, dass die Kosten der Neubaustrecke zwischen Frankfurt und Köln 7,8 Milliarden DM
betragen. Dazu sage ich: Pfeifendeckel! Wir marschieren in Richtung 10 Milliarden DM. Die verlogenen Zahlen, die bei der Berlin-Planung zugrunde gelegt worden
sind, waren keine Politik. Sie haben uns falsche Zahlen
hinterlassen. Das Unternehmen muss es jetzt ausbaden.
({2})
Denken Sie bitte an
Ihre Redezeit, Herr Kollege.
Ich komme zum letzten Satz, Frau Präsidentin.
Ich kann deshalb nur dringend dazu raten, auch zu
prüfen, ob eine Kombination von Nutzung des vorhandenen Neubauabschnittes, Schließen von Lücken, was
zweifellos notwendig ist, und Ausbau von Bestandstrassen nicht zielführender, wirtschaftlicher und umweltverträglicher ist als das starre Beharren auf einer Maximalplanung von gestern, die in absehbarer Zeit letztlich
nicht bezahlbar sein wird.
Ich danke Ihnen.
({0})
Jetzt hat der Kollege
Dr. Guttmacher von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Albert Schmidt ({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die vorhandenen Straßen- und Schienenwege in den neuen
Bundesländern sind derzeit in keiner Weise im Hinblick auf Erschließung und Qualität mit denen in den alten Bundesländern vergleichbar. Deswegen muss die
Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern als
Voraussetzung für eine dynamische Wirtschaftsentwicklung dringend verbessert werden.
({0})
Genau dies war der Grund dafür, dass die Bundesregierung aus CDU/CSU und F.D.P. das Verkehrsprojekt
„Deutsche Einheit“ Nr. 8 in den Bundesverkehrswegeplan eingebracht hat.
({1})
Wegen der eminenten Bedeutung für den Aufbau der
neuen Bundesländer wurde für die Verkehrsprojekte
„Deutsche Einheit“ Nr. 8.1 und Nr. 8.2 unter Anwendung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes in kürzester Zeit Baufreiheit geschaffen. Seit April
1996 wurde die Strecke Leipzig/Halle-Erfurt-Ebersfeld
gebaut. Nach mehr als drei Jahren stoppt die Bundesregierung den begonnenen Bau.
Insgesamt wurden bisher 1,3 Milliarden DM in dieses
Projekt, in die Planung, in die Beschaffung von Grund
und Boden und in die Ausführung von Baumaßnahmen,
investiert. Sie müssen sich einmal am Erfurter Kreuz anschauen, welche Investruinen hinterlassen worden sind.
({2})
Der Baustopp für die ICE-Strecke bedeutet im Übrigen auch einen Verstoß gegen die gegenüber der EU und
dem Europäischen Rat übernommene Verpflichtung,
diesen Abschnitt der ICE-Trasse von München bis Berlin als ein Segment der transeuropäischen Strecke
zwischen Barcelona und den skandinavischen Ländern
zu realisieren.
({3}) Barcelo-
na ist links unten!)
Der Europäische Rat in Köln hat für dieses Vorhaben
die Bereitstellung von 4,6 Milliarden Euro beschlossen.
In dieser Pflicht stehen auch Sie. Erfreulich ist die Mitteilung von Herrn Mehdorn, dass er der Strecke Berlin München eine herausragende Bedeutung beimisst.
Das Vorhaben, von dem Sie, Herr Sorge, gerade gesprochen haben, nämlich die Priorität auf die MitteDeutschland-Bahn zu setzen, ist mit dem Vorhaben
hinsichtlich der Eisenbahnstrecke Nürnberg-ErfurtLeipzig/Halle nicht vergleichbar. Beide Projekte haben
eine unterschiedliche Linienführung; insofern können
wir diese beiden Linien nicht austauschen.
Es ist schon spektakulär, wenn von der Bundesregierung der Ausbau der Mitte-Deutschland-Bahn als ein
Ergebnis des Stopps des Baus an der ICE-Trasse München - Berlin bezeichnet wird. Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen.
({4})
Die Aussage, dass das Investitionsvolumen für die
Mitte-Deutschland-Bahn im Ergebnis auf 665 Millionen DM angehoben werden könnte, ist schlicht und einfach falsch. Schon im Investitionsprogramm für den
Ausbau der Schienenwege des Bundes 1998 bis 2000
wurden diese 665 Millionen DM für den Ausbau der
Gesamtstrecke Paderborn - Chemnitz festgeschrieben.
Ich halte es für gerechtfertigt und für gut, dass dem Land
Thüringen 35 Millionen DM für den Ausbau der MitteDeutschland-Bahn im Abschnitt zwischen Glauchau,
Gera und Weimar sofort zur Verfügung stehen.
Mit unserem Antrag möchten wir die Bundesregierung auffordern, ihre Fehlentscheidung zu korrigieren,
den vorläufigen Baustopp für das Projekt aufzuheben
und die Neubaustrecke zügig zu realisieren. Außerdem
bitten wir darum, dem Deutschen Bundestag über die
Finanzierung und die Ausführungsplanung regelmäßig
zu berichten.
Ich danke.
({5})
Ich erteile dem Kollegen Winfried Wolf, PDS-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es stimmt
schon: Es ist grotesk, dass zehn Jahre nach der Vereinigung keine Schienenschnellverbindung zwischen Berlin
und München existiert, dass der ICE München - Berlin
weiterhin zunächst über Braunschweig nach Osten fährt
und dass er 40 Prozent mehr als auf der Direktverbindung zurücklegen muss. Er fährt also in der Form einer
Deutschlandrundreise.
Richtig ist schließlich: Die neue Bundesregierung hat
das Projekt einer Hochgeschwindigkeitsstrecke über
Erfurt bis 2002 weitgehend auf Eis gelegt. Dass jetzt
aber CDU, CSU und F.D.P. mit roter Schaffnermütze
„höchste Eisenbahn“ brüllen, ist höchst demagogisch.
Tatsächlich hatten Sie, werte Kolleginnen und Kollegen
von den alten Regierungsparteien, acht Jahre lang Zeit,
gewissermaßen Zug um Zug den Osten zu erschließen.
({0})
Während im Deutschen Reich nach 1871 Jahr für Jahr
1 000 Kilometer neue Schienenwege gebaut wurden,
wurden in den acht Jahren in den neuen Ländern 1 000
Kilometer Schienenwege abgebaut. Es war doch Herr
Wissmann, der beim Bau der Verbindung München Berlin über Erfurt bereits im Bremserhäuschen saß.
({1})
Doch tragischerweise präsentieren sich jetzt SPD und
Grüne mit ihrem Antrag zu diesem Thema heute vor allem als Pausenclowns auf leeren Bahnsteigen. Da wird
die „Entscheidung der Bundesregierung begrüßt...“,
nämlich die Entscheidung, nichts zu tun. Dieser Bundesregierung wird attestiert, sie praktiziere den „Vorrang
für den Aufbau Ost“. Das stimmt einfach nicht. Außer
Bremsen tut sie gar nichts.
Indirekt verfolgen Sie mit dem Prüfauftrag für einen
weiteren Ausbau der Nord-Süd-Schienenverbindung
genau dieselbe falsche Philosophie wie die alte Bundesregierung: Von München nach Berlin soll es möglichst
fix gehen.
Gerade das nützt aber den neuen Ländern wenig siehe die Hochgeschwindigkeitsstrecke Hannover - Berlin, die bekanntlich als Interzonenbahn betrieben wird,
meist ohne Halt in den neuen Ländern.
({2})
Die anvisierten 3,5 Stunden Fahrzeit für eine Verbindung München-Berlin laufen auf das Folgende hinaus:
Erstens. Es wird extrem umweltzerstörend gebaut.
Zweitens. Die bevölkerungsdichtesten Regionen werden nicht an einen modernen Schienenverkehr angebunden.
Drittens: Wichtige Städte bleiben abgehängt - siehe
als abschreckendes Beispiel die aktuelle Debatte darüber, Frankfurt am Main und Stuttgart besser zu verbinden und dabei Mannheim abzuhängen.
Der PDS-Antrag fordert stattdessen, umgehend mit
dem Ausbau eines halben Dutzends konkret benannter
Strecken in der besagten Region zu beginnen. Damit
könnten mit denselben Summen Schienenwege von rund
dreimal größerer Länge auf den modernsten Stand gebracht werden. Die Fahrzeit zwischen München und
Berlin würde von derzeit sechs Stunden auf rund
4,5 Stunden reduziert werden und es würden in erster
Linie bestehende Schienenwege ausgebaut, das heißt,
die Umwelt würde wenig belastet.
Vor allem: Es würden rund fünfmal mehr potenzielle
Fahrgäste an ein modernisiertes Schienennetz angebunden als bei dem bisher geplanten Projekt.
Wir gestehen - zum Schluss -: Die PDS ist hier extrem konservativ. „Conservare“ heißt „erhalten“, den
Bestand erhalten; das heißt in diesem Falle: ausbauen.
Uns geht es nicht um Höchstgeschwindigkeit für wenige, sondern uns geht es darum, für einen modernen
Schienenverkehr zu sorgen, das heißt für einen Schienenverkehr für viele mit Komfort und mit Reisegenuss.
Danke schön.
({3})
Jetzt hat die Kollegin Renate Blank für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Das ICE-Trassen-Verwirrspiel zeigt
die Unfähigkeit der Bundesregierung und der Koalition.
({0})
Der Bundeskanzler sagt Ja zur Trasse und zur zügigen
Realisierung - natürlich insbesondere im Wahlkampf in
Thüringen - und jetzt ist er auf Tauchstation.
({1})
Der ehemalige Minister Müntefering wollte die Trasse, die Trasse wird gebaut, und dann haben SPD - Leute
vor Ort - ich nenne nur die Namen Verheugen, den Sie
nach Europa geschickt haben, die Kollegin Mattischeck
usw. - das Aus für die Strecke verkündet.
Der Minister Klimmt scheut klare Aussagen,
({2})
obwohl die SPD vor Ort für den Bau dieser Trasse ist
und die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands in
Nürnberg auf einem Kongress den schnellen Weiterbau
der Trasse gefordert hat. Ich hoffe, dass der neue Staatssekretär vielleicht eher auf die Aussagen der Gewerkschaft hört, als es bisher der Fall war.
Mittlerweile hat man ja gemerkt - oder scheint gemerkt zu haben -, dass diese Trasse in den transeuropäischen Netzen enthalten ist. Kollege Schmidt von den
Grünen, man sollte die transeuropäischen Netze nicht
lächerlich machen, denn sie sind geschaffen worden, um
in Europa schnell von A nach B zu kommen.
({3})
Man hat nun gemerkt, dass diese Trasse in den transeuropäischen Netzen enthalten ist, und stellt sie jetzt in
das so genannte Investitionsprogramm ein - allerdings
nur 365 Millionen DM bis zum Jahre 2002; der Rest von
6,4 Milliarden DM kommt danach. Das tut man auch nur
deshalb, weil Gelder an die EU hätten zurückgezahlt
werden müssen, wenn der Stopp des Baus der Trasse
eingetreten wäre.
Jetzt hat Bahnchef Mehdorn vor dem Ausschuss ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er eine Schnelltrasse München - Nürnberg - Erfurt - Berlin möchte. Dazu
gehört nun einmal der Ausbau, damit man von München
nach Berlin in dreieinhalb Stunden kommen kann. Dann
kann man auf der Strecke zwischen Nürnberg und Erfurt
nicht Blümchen pflücken; das ist nun einmal nicht
machbar.
({4})
Die Grünen reden dauernd davon, dass mehr Verkehr
auf die Schiene gebracht werden soll. Wenn aber eine
Schnelltrasse gebaut werden soll, wird sie von Ihnen und
Ihren Anhängern vehement bekämpft.
Kollege Schmidt, Sie spielen sich hier ein bisschen
auf,
({5})
als der heimliche Verkehrsminister oder auch als Bahnchef.
({6})
Vielleicht denken Sie noch ein bisschen um.
Aber die größte Scheinheiligkeit ist der Antrag der
Koalitionsfraktionen. Denken Sie eigentlich, dass wir,
die Bürger oder die Verbände Ihre Verschleppungstaktik
nicht merken?
({7})
Oder sollte plötzlich bei Ihnen Einsicht eingekehrt sein,
sodass Sie umdenken? Aber Ihre Halbherzigkeit, Ihre
Widersprüche und Ihre Täuschungen
({8})
bezeichnen Sie in Ihrem Antrag als „Politik der verlässlichen und verbindlichen Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur auf höchstmöglichem Niveau“. Diese Bemerkung in Ihrem Antrag ist schon äußerst dreist.
({9})
Denn Sie wollen ja nicht schnell bauen, sondern weiter
prüfen, prüfen und prüfen,
({10})
obwohl die Trasse für das Wachstum und die Beschäftigung gerade in den neuen Ländern dringend erforderlich
ist.
({11})
Zum Schluss möchte ich mich bei dem aus dem Amt
des Parlamentarischen Staatssekretärs geschiedenen
Kollegen Ibrügger ganz herzlich für die gute, sachliche
und kompetente Zusammenarbeit sowohl im Ausschuss
als auch in seiner Eigenschaft als Parlamentarischer
Staatssekretär bedanken.
({12})
Wir wünschen ihm alles Gute und vor allen Dingen gute
Gesundheit.
Aber, Kolleginnen von der SPD - das kann ich mir
jetzt nicht verkneifen -: Ich erinnere mich an eine Diskussion in Bonn, bei der eine Kollegin von der SPD gesagt hat, es sei Zeit, dass endlich ein weibliches Wesen
Parlamentarische Staatssekretärin werde.
({13})
- Ich habe von einer Parlamentarischen Staatssekretärin,
nicht von einer beamteten gesprochen.
({14})
Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass das gesagt
worden ist.
({15})
Meine Damen, fühlen Sie sich seit der Neubesetzung
gestern eigentlich nicht ein bisschen übergangen oder
sogar abgemeiert bzw. nicht bevorzugt?
({16})
Ich würde mich an Ihrer Stelle schon ein bisschen ärgern. Ich wundere mich, dass Sie keinen Aufschrei loslassen, nachdem Sie uns in Bonn kritisiert haben,
({17})
dass wir keine Parlamentarische Staatssekretärin haben.
({18})
Nehmen Sie sich das einmal zu Herzen und denken Sie
darüber nach.
({19})
- Sie können es nie werden, Sie wollen doch Minister
oder Bahnchef werden.
({20})
Dieses Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ wird uns
sicherlich noch länger beschäftigen. Ich hoffe, dass in
diesem Zeitraum, zumindest bis zur Ausschussbehandlung, bei Ihnen noch der Prozess des
Nachdenkens einsetzt und dass Sie am Schluss vielleicht
einer schnellen Realisierung dieser Strecke zustimmen
werden.
({21})
Ich erteile das Wort
dem Bundesminister Reinhard Klimmt.
({0})
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Frau Blank, ich darf Ihnen mitteilen, dass es bei uns in der Sozialdemokratie üblich ist,
dass es, wenn man überzeugende personelle und sachliche Lösungen findet, deswegen keinen Aufschrei und
keine Kritik gibt, sondern immer den geziemenden Beifall, weil etwas auf die richtige, in diesem Fall personelle, Schiene gebracht worden ist. Dafür herzlichen Dank
an die mich unterstützende Fraktion!
({0})
- Das muss jetzt nicht wiederholt werden, den Beifall
hat es vorher schon gegeben.
Es geht um die Strecke von Berlin nach München.
Wir haben in einem wichtigen Schritt entschieden, dass
wir die Schienenstrecke Nürnberg-Erfurt nicht ins Saaletal führen werden, sondern sie nach Ilmenau ausbauen.
Die Entscheidung, weiter nach Ilmenau zu bauen, ist
übrigens in Abstimmung mit den Abgeordneten vor Ort
und auch mit der thüringischen Landesregierung getroffen worden, die von sich aus gesagt hat, sie wolle die andere Streckenführung nicht. Es ist ein wichtiger Punkt er betont das Funktionieren des föderalen Systems -,
dass wir es geschafft haben, im Rahmen eines Gespräches eine optimale Lösung zu suchen und nach den Gegebenheiten zu finden. Deswegen bin ich froh, dass wir
im Rahmen dieser Entscheidung erreicht haben, sowohl
die Interessen des Bundes als auch die des Landes Thüringen in Einklang zu bringen.
({1})
Weiterhin wollen wir den Bahnhof IlmenauWolfsberg bauen, der in der zukünftigen Trassenführung
eine Rolle spielen wird, und, so wie im Raumordnungsverfahren vorgesehen, eine entsprechende Anbindung an die Innenstadt von Ilmenau schaffen. Wenn dies
im Jahre 2004 oder 2005 fertig sein wird, werden wir eine sehr attraktive Verbindung zwischen der Landeshauptstadt Erfurt und der Universitätsstadt Ilmenau haben. Ich hoffe, dass die Landesregierung - denn sie war
es, die sich eine entsprechende Lösung gewünscht hat die Kapazitäten im Regionalverkehr und im Nahverkehr
entsprechend erhöht, um so zu gewährleisten, dass diese
Investition einen Nutzen abwirft und diese Entscheidung
als richtig erkannt werden kann.
Der Weiterbau nach Süden in Richtung Coburg und
Nürnberg ist, wie hier schon ausgeführt worden ist, nur
auf Eis gelegt worden. Er ist nicht aufgehoben, sondern
nur aufgeschoben worden. Er ist nicht Bestandteil des
vorliegenden Investitionsprogramms. Das war eine Entscheidung, die Franz Müntefering gefällt hat. Wir werden jetzt im Zuge der Bewertung, die wir im Rahmen
der Neufassung des Bundesverkehrswegeplanes zu treffen haben, festlegen, in welcher Schrittfolge der Weiterbau erfolgen wird und erfolgen soll.
({2})
Dafür haben wir die notwendige Sicherung der bereits
gemachten Planfeststellungen eingeleitet. Das heißt, es
wird keinen Verfall der geplanten Investitionen, wie er
befürchtet worden ist, geben.
Ich möchte aber noch auf einen anderen Punkt hinweisen, und zwar auf das Verkehrsprojekt „Deutsche
Einheit“ Nr. 8. Davon ist dieses nur ein Teil, nämlich
der Teil 8.1. Wir haben den Teil 8.3, der die Strecke
zwischen Berlin und Halle/Leipzig betrifft, mit einem
Aufwand von etwa 3 Milliarden DM fast schon fertig
gebaut. Es gibt noch einige Ingenieurbauwerke, die fertig gestellt werden müssen. Im Jahre 2002 kann bei diesem Investitionsvorhaben dann der Verkehr starten.
({3})
- Genau, auch das ist eine Leistung, die man einmal unterstreichen und betonen sollte.
Wir sind, was die Neubau- und Ausbaustrecke Leipzig/Halle-Erfurt angeht, ebenfalls dabei, Teilabschnitte
zu bauen. Auch dort geht die Arbeit weiter. Im Rahmen
des Abschnittes 8.1 wird weiter bis Ilmenau gebaut.
Ich freue mich, dass es auch vonseiten der Union Unterstützung für dieses Schienenprojekt gibt.
({4})
Denn ansonsten hat sie immer wieder in Richtung meiner Arbeit Vorwürfe dahin gehend gemacht, dass wir
uns zu sehr auf die Schiene kaprizieren und die Straße
vernachlässigen. An dieser Stelle schönen Dank dafür,
dass Sie sagen, dass unsere Ausrichtung auf die Priorität
der Schiene von Ihnen - jedenfalls in diesem Fall - mitgetragen und unterstützt wird.
({5})
Ich möchte aber noch darauf hinweisen, dass die Zurückstellung von Investitionen, die wir haben vornehmen müssen, eine Konsequenz aus der bestehenden Finanzsituation ist
({6})
und nicht darauf beruht, dass man diese Strecke möglicherweise nicht so sehr unterstützt wie andere. Diese
Konsequenz aus der Finanzsituation hat natürlich etwas
mit Ihrer Politik in der Vergangenheit zu tun.
Diese Entscheidung hat übrigens auch etwas mit den
Prioritäten der Bahn zu tun. Man muss darauf hinweisen, dass es Herr Dürr und Herr Ludewig waren, die
hinsichtlich der Prioritätensetzung, wenn es also darum
ging, Schieneninvestitionen in eine bestimmte Reihenfolge zu bringen, gesagt haben, man möge diese Strecke
bitte zurückstellen. Es sollte nicht vergessen werden,
dass wir alle unsere Investitionen in diesem Bereich in
Zusammenarbeit mit der Bahn vorantreiben.
Wenn Herr Mehdorn jetzt von seiner Seite aus gesagt
hat, dass er im Rahmen eines größeren Konzeptes auch
diese Strecke verwirklicht sehen möchte, dann steht er
nicht im Widerspruch zu uns. Selbstverständlich wollen
wir diese Strecke, wenn sie sich verantwortlich realisieren lässt, verwirklichen. Wenn uns die Bahn sagt,
welche anderen Projekte sie nicht mehr weiterverfolgen
will, dann kann auch noch über eine Veränderung der
Prioritätensetzung geredet werden. Aber Herr Mehdorn
hat doch eindeutig erklärt, dass es zu dem, was wir in
der nächsten Zeit vorhaben, keine Alternativen gibt.
Dies wäre nur über eine zusätzliche Finanzierung möglich. Eine zusätzliche Finanzierung scheitert nun einmal
an den Haushaltsgegebenheiten, mit denen wir zurechtkommen müssen - als Konsequenz Ihrer Politik in der
Zeit, in der Sie die Verantwortung getragen haben.
({7})
Herr Minister, ich
darf Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Eine letzte Bemerkung sei
mir erlaubt: Wenn es darum geht, Investitionen in Verkehrsprojekte zu tätigen, dann kann ich die Thüringer
beruhigen. Wenn man die Investitionen auf die Einwohnerzahl umrechnet, wird man feststellen, dass es kein
Bundesland gibt, das so gut bedient wird wie Thüringen.
({0})
Wir sind stolz, dass wir auch in ein neues Bundesland so
viel Geld sinnvoll investieren können.
({1})
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 14/2692, 14/2906, 14/2914 und
14/2525 zur federführenden Beratung an den Ausschuss
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder, den Ausschuss für Tourismus, den Ausschuss für
die Angelegenheiten der Europäischen Union und den
Haushaltsausschuss zu überweisen. Gibt es weitere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 8 ist abgesetzt worden. Ich rufe
deswegen den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer,
Dr. Heinrich L. Kolb, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P.
Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht
- Drucksachen 14/1335, 14/2840 Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz Schemken
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei
die F.D.P. sieben Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dirk Niebel, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Die Debatte, die wir zu
dem Antrag zur Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht während der letzten neun Monate erleben
konnten - so lange hat es aufgrund der Verzögerungstaktik der Regierungskoalition gedauert, bis wir im Plenum wieder darüber beraten können -, hat sehr verwundert. Von der Union hätte man es vielleicht noch erwarten können, aber dass auch Rot und Grün in reaktionären
Denkmustern gefangen sind, hätte man nach den Äußerungen im Wahlkampf, nach dem Wahlprogramm der
Grünen, aber auch nach den Bundesparteitagsbeschlüssen der SPD in Berlin im Dezember letzten Jahres nicht
erwartet.
Die Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht ist durch
den Vorstoß von Herrn Bundeskanzler Schröder noch
aktueller geworden. Natürlich gibt es schon Menschen
im Land, die arbeiten könnten und wollten, die es aber
nicht dürfen, die zwangsweise, aufgrund eines Arbeitsverbotes, an den Tropf der Sozialkassen gehängt werden, obwohl sie die Möglichkeit hätten, selbst für ihren
eigenen Lebensunterhalt aufzukommen.
({0})
Mit unserem Antrag auf Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht verfolgen wir fünf Ziele gleichzeitig: Wir
wollen Schwarzarbeit verringern, Bürokratie abbauen,
offene Arbeitsplätze schneller besetzen, die Verwaltung
vereinfachen und nicht zuletzt die Menschenwürde der
Betroffenen stärken. Es ist menschenunwürdig, wenn
man, obwohl man arbeiten könnte und wollte, wenn es
einen Arbeitgeber gibt, der einen einstellen würde, wenn
es einen Arbeitsplatz gibt, der nicht anderweitig besetzt
werden kann, trotzdem von staatlicher Seite verpflichtet
wird, nicht zu arbeiten und Sozialleistungen zu beziehen. Die Argumente, die während dieser neun Monate
zu hören waren, waren teilweise grotesk, teilweise
spießbürgerlich und unredlich.
Der Gewerkschaftsvorsitzende Schulte hat im „Forum Migration“ des DGB im Februar 2000 geschrieben - bei 243 Gewerkschaftsmitgliedern in der SPDFraktion ist das vielleicht nicht ganz uninteressant -:
Grundsätzliche Arbeitsverbote für bestimmte Personengruppen ... sind überflüssig.
Er schreibt weiter:
Befürchtungen, dass es bei einer Öffnung des Arbeitsmarktes für alle, die sich rechtmäßig in
Deutschland aufhalten, zu Verdrängungseffekten
kommen könnte, teilt der DGB nicht.
Sie seien - so Schulte -
„auch historisch unbegründet. So sank die allgemeine Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik zwischen den Jahren 1985 und 1990 um 420 000 Menschen bei einem gleichzeitigen Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Ausländer um ca.
260 000.“
Meine sehr verehrten Damen und Herren, kein Nichtdeutscher in diesem Land nimmt einem Deutschen den
Arbeitsplatz weg. Alles andere ist ein Ammenmärchen.
({1})
Es gibt viele Arbeitsplätze, die aus vielerlei Gründen
nicht besetzt werden können, und zwar auf allen Qualifikationsniveaus, sowohl im Niedriglohnbereich als auch
im hoch qualifizierten Bereich. Es gibt Menschen, die
wollen für ihren Lebensunterhalt selbst arbeiten, und Sie
verhindern das.
Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung,
Frau Marieluise Beck, hat laut der „Berliner Zeitung“
vom 2. März 2000 gesagt:
Zudem plädiert Beck dafür, das Arbeitsverbot für
Asylbewerber und Flüchtlinge aufzuheben. „Unter
ihnen befinden sich auch viele Fachleute, beispielsweise indische Software-Spezialisten“, betont
die Bundesausländerbeauftragte. Mit der Aufhebung des Arbeitsverbots könnten die unter Fachkräfte-Mangel leidenden Branchen Mitarbeiter gewinnen.
Frau Beck, jawohl, Sie haben Recht. Aber dann machen Sie es, Sie regieren.
({2})
Das Einzige, wozu Sie in der Lage sind, ist, einen Arbeitskreis zu gründen, nachdem sich die Kanzlerrunde
nicht geeinigt hat, wie sie mit diesem dringenden Problem der Bundesrepublik Deutschland umgeht.
Es gibt Menschen in diesem Land, die seit Jahren
zwangsweise aus dem Arbeitsprozess ausgeschlossen
werden, obwohl es Arbeitsplätze gibt, die nicht anderweitig besetzt werden können. Arbeitsverbote schaden
nicht nur den betroffenen Menschen, Arbeitsverbote
schaden der deutschen Wirtschaft, Arbeitsverbote erhöhen die Schwarzarbeit und belasten öffentliche Haushalte durch Mindereinnahmen und Mehrausgaben, Arbeitsverbote führen nicht zuletzt dazu, dass Vorurteile in diesem Land gepflegt werden. Es gibt genügend Stammtische, an denen behauptet wird: Ausländer in diesem
Land schaffen nichts. Aber dass diese nicht dürfen, wird
nicht gesagt. Das ist falsche Politik. Sie haben jetzt die
Möglichkeit, das, was Sie im Wahlkampf versprochen
haben, zu tun.
({3})
Meine Damen und
Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich lasse keine
Zwischenfragen zu und sage auch, warum. Ich bitte dafür um Verständnis. Wir stehen alle ein bisschen unter
Zeitdruck. Alle Fraktionen haben heute Abend noch
Verpflichtungen. Wir haben Gäste eingeladen.
({0})
Ich bitte sehr um Nachsicht dafür, dass ich keine Zwischenfragen zulasse.
Herr Kollege, Sie haben weiter das Wort.
({1})
Ich hätte Glück gehabt, wenn
die Frau Präsidentin die Frage zugelassen hätte. Dann
hätte ich zeigen können, wie scheinheilig grüne Politik
ist, seit Sie, Frau Marieluise Beck, in der Regierung
sind.
({0})
Das betrifft insbesondere die Ausländerpolitik dieser
bündnisgrünen Bundestagsfraktion. Sie haben nichts außer einem Staatsbürgerschaftsrecht zuwege gebracht,
das Sie von der F.D.P. vorgesetzt bekommen haben. Sie
haben überhaupt nichts geleistet: heiße Luft durch die
ganze Bank.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Arbeitsverbot führt zu geradezu grotesken Notwendigkeiten. Ich zitiere noch einmal, und zwar aus der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof zur Haushaltsund Wirtschaftsführung unter der Textziffer 84.3.1. Darin - es geht um die Vorrangprüfung - stellt der Bundesrechnungshof formaljuristisch korrekt fest:
Es entspricht nicht dem Willen des Gesetzgebers,
wenn Arbeitsämter Fortsetzungserlaubnisse
- das sind die bestehenden Beschäftigungsverhältnisse,
für die die Arbeitserlaubnis verlängert werden muss -
schon deshalb erteilen, um nicht in bestehende Beschäftigungsverhältnisse einzugreifen. Wird die
Arbeitserlaubnis ... versagt, muss ... gegebenenfalls
auch der Verlust des Arbeitsplatzes hingenommen
werden. Die Ausübung einer bisher erlaubten Tätigkeit schafft insoweit keinen Vertrauenstatbestand.
Das geltende Recht führt zu nichts anderem als zu einem Stellenbesetzungsmonopol durch eine öffentliche
Verwaltung. Hier wird durch Verwaltungsakt ein Arbeitsvertrag zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern
verhindert, die miteinander ins Geschäft gekommen
sind, die sich geeinigt haben, dass sie zusammen auch
zum Wohle dieses Volkes das Wirtschaftswachstum
mehren wollen und die Menschen in ihren individuellen
Rechten stärken wollen. Dieses Stellenbesetzungsmonopol ist unerträglich und führt zu erheblichen Verwerfungen am Arbeitsmarkt.
Wenn die Bundesregierung behauptet, dass sie sich
bemüht, Menschenrechte zu stärken, dass sie sich insbesondere auch um Integrationsleistungen für Nichtdeutsche bemüht, die sich legal in diesem Land aufhalten
und deswegen auch einen Anspruch auf Leistungen irgendeiner Sozialkasse haben, wenn sie sich bemüht, diese zu integrieren, muss man ihr vorhalten, dass sie in
diesem Punkt, nämlich die Menschen, die sich ohnehin
schon hier befinden und arbeiten können und wollen, zu
integrieren, kläglich versagt hat. Sie haben die Menschen vor der Wahl belogen und betrogen. Sie setzen
das fort in einem Arbeitskreis, der auch weiterhin nur
heiße Luft produzieren wird, weil Sie vor den Stammtischen Angst haben. Das ist keine zukunftsweisende
Politik. Ich persönlich bin sehr von Ihnen enttäuscht. Ich
weiß, dass viele Menschen in diesem Land, die mit Ausländerinnen und Ausländern zusammenarbeiten, von Ihnen ähnlich enttäuscht sind und Sie jedes Maß an
Glaubwürdigkeit bei diesen Personengruppen verloren
haben.
Vielen Dank.
({2})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, die Kollegin Marieluise Beck fühlt sich
so angegriffen, dass sie jetzt um das Wort zu einer
Kurzintervention bittet. Ich muss sie zulassen, ich finde
sie auch in Ordnung. Kollege Niebel, Sie dürfen darauf
antworten. Mein Bemühen, zügig zu verfahren, darf
nicht dazu führen, dass wir die Inhalte verschleiern.
Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
Lieber Kollege Niebel, Sie sind in dieser
Legislaturperiode neu ins Parlament gekommen, deswegen sollte man vielleicht etwas nachsichtig sein. Sie machen aber nicht erst seit einem Jahr Politik, und deswegen dürfte es Ihnen nicht entgangen sein, dass der Clever-Erlass, das Arbeitsverbot für Flüchtlinge, gegen das
ich mich ausspreche, entstanden ist, als die F.D.P. zusammen mit der Union regiert hat.
({0})
Dass Sie sich vor diesem Hintergrund hier hinstellen
und die Backen aufblasen, finde ich äußerst verwunderlich.
({1})
In diesem Punkt kann ich nur sagen: Denken Sie an die
Zeit, als Sie mitregiert haben und die Ausländerbeauftragte von der F.D.P. den Clever-Erlass nicht verhindert
hat. Wir sind jetzt nach Kräften dabei, diesen Erlass beiseite zu räumen. Sie werden auch noch erleben, dass dieser Erlass fallen wird.
({2})
Herr Kollege Niebel.
Sehr geehrte Frau Kollegin
Beck, Sie wissen, dass sich die ehemalige Ausländerbeauftragte massiv gegen den Clever-Erlass ausgesprochen
hat
({0})
und dass wir das gleiche Problem hatten, das Sie nun alle naselang mit Ihrem großen Koalitionspartner haben.
Wir konnten uns nicht durchsetzen. Tun Sie jetzt nicht
so, als ob Sie ständig grüne Programmatik umsetzen
würden. Sie leisten überhaupt nichts.
({1})
Liebe Frau Kollegin Beck, ich darf auf eines hinweisen: Die Ausländerbeauftragten des Bundes und der
Länder haben diesen Antrag auf ihrem Treffen bis zu
dem Moment außerordentlich wohlwollend zur Kenntnis
genommen, als der Ausländerbeauftragte des Landes
Mecklenburg-Vorpommern darauf hingewiesen hat, dass
dies ein Antrag der F.D.P. sei und man ihn daher nicht
unterstützen könne. Wenn Sie Ausländer so integrieren
wollen, sind Sie auf dem falschen Weg.
Nun hat das Wort
die Kollegin Leyla Onur, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! An Scheinheiligkeit und
insbesondere Vergesslichkeit ist die F.D.P. überhaupt
nicht zu übertreffen.
({0})
Sie als neuer, aber nicht frischer Abgeordneter mögen
das vielleicht verdrängen.
({1})
Eines sollten Sie aber nicht vergessen: Der F.D.P. ist es,
als sie mit an der Regierung war, wenn es ihr wirklich
ernst war, immer gelungen, den großen Koalitionspartner so unter Druck zu setzen, dass er bestimmte Dinge
nicht umsetzen konnte. Ich kann Ihnen Beispiele aufzählen, die sehr wichtig waren. Das galt zum Beispiel für
die Veränderung im Pflege-Versicherungsgesetz. Alles
war schon abgesprochen und abgestimmt, und Sie, die
Vertreter der F.D.P., haben die CDU so lange geknetet
und zurechtgestutzt, bis sie von dieser Vereinbarung zurücktreten musste.
Stellen wir doch einfach ehrlich fest: Es war Ihnen
gar nicht ernst damit, das Arbeitsverbot für AsylbeDirk Niebel
werber, für Flüchtlinge und geduldete Ausländer zu verhindern. Es war Ihnen nicht ernst damit. Vergießen Sie
deshalb jetzt keine Krokodilstränen darüber, dass dieses
Arbeitsverbot - ich sage ausdrücklich: bedauerlicherweise - immer noch existiert.
({2})
Alle Änderungen in Bezug auf die Arbeitserlaubnispflicht sind in Ihrer Zeit unter Ihrer Verantwortung vorgenommen worden.
({3})
Wenn Sie heute feststellen, das muss anders werden,
dann sagen Sie damit klar und deutlich - dabei gebe ich
Ihnen sogar zum Teil Recht -, dass Ihre Politik falsch
gewesen ist.
({4})
Dann haben Sie Recht. Sie haben nicht immer, nicht in
allen, aber in vielen Punkten Recht. Ihre Politik war
falsch. Wenn Sie das heute zugeben, könnte man vielleicht sagen: Sie sind auf dem Wege der Besserung.
({5})
Schauen wir uns aber den Antrag genauer an. Worum
geht es eigentlich? Geht es wirklich darum, den Menschen etwas Gutes zu tun, wie Sie den Eindruck zu erwecken versuchten? Nein, ganz im Gegenteil. Es geht
Ihnen um etwas ganz anderes. Aber der Reihe nach. Ich
werde mich nicht all diesen Argumenten zuwenden. So
wichtig sind sie nicht.
Fangen wir einmal bei der Schwarzarbeit an. Sie
wollen mit Ihrem Antrag, die Arbeitserlaubnispflicht abzuschaffen, die Schwarzarbeit bekämpfen.
({6})
Das klingt erst einmal sehr löblich; denn Schwarzarbeit
und illegale Beschäftigung sind in der Tat kriminelle
Machenschaften, die einen gesamtwirtschaftlichen
Schaden in Milliardenhöhe verursachen.
({7})
- Schwatzen Sie nicht immer dazwischen. Wenn Sie reden wollen, dann nehmen Sie sich gefälligst Redezeit.
({8})
Sie behaupten, das sei nun ein wirksames Instrument,
um Schwarzarbeit zu bekämpfen. Das ist natürlich
falsch; denn es geht der F.D.P. um etwas anderes. Sie
schlagen nicht vor, gegen den massiven Betrug und die
Betrüger vorzugehen, also gegen die Arbeitgeber, die illegale Arbeitskräfte beschäftigen, sondern Sie wollen,
dass die Regeln, die illegale Beschäftigung und
Schwarzarbeit verbieten, abgeschafft werden. Das kennen wir von Ihnen übrigens schon.
({9})
Wie war das neue Motto der F.D.P.? Wenn eine bestimmte Gruppe der Bevölkerung gegen ein geltendes
Gesetz verstößt, dann muss man sie nicht bestrafen,
sondern man muss das Gesetz abschaffen. Das ist die
neue F.D.P.-Philosophie.
({10})
Demnächst bringen Sie den folgenden Antrag ein: Weil
einige Menschen in diesem Land gegen Verkehrsregeln
verstoßen, schaffen wir die Verkehrsregeln ab. Dann
fährt jeder so, wie er will.
Nennen wir einmal das Kind beim Namen. Sie wollen, dass endlich die Arbeitgeber ungehindert und unkontrollierbar willige und natürlich billige Arbeitskräfte
zum Heuern und Feuern zur Verfügung gestellt bekommen.
({11})
Das nennen Sie auch noch sozial gerecht. Das ist unerhört. Das ist deswegen mit uns natürlich nicht zu machen.
({12})
Wir wollen und wir werden, Herr Niebel, wie im Koalitionsvertrag festgehalten, gegen illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit vorgehen, und zwar mit einem
Gesetz und nicht durch die Abschaffung notwendiger
und zum Teil auch richtiger Regeln.
({13})
Lesen wir in Ihrer tollen Begründung weiter. Ich zitiere:
Der freie Zugang zum Arbeitsmarkt und damit die
Bestreitung des Lebensunterhalts aus eigener Kraft
gehören zu den Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens und individueller Freiheit.
Da haben Sie völlig Recht.
({14})
Das klingt in der Tat in Ihrem Text edel, hilfreich und
gut. Aber Sie meinen etwas ganz anderes. Mit der Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht soll Ausländern in
Not - das sollten wir nicht vergessen: in Not - die individuelle Freiheit gewährt werden, körperlich schwere
und schmutzige Arbeit mit geringen intellektuellen Ansprüchen zu Niedrigstlöhnen anzunehmen.
({15})
- Die Adjektive stammen aus Ihrem Antrag und aus Ihrer Begründung. Offensichtlich wissen Sie nicht, was in
Ihrer Begründung steht.
({16})
Das heißt, Asylbewerber, Flüchtlinge und geduldete
Ausländer sollen als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt
für Lohn- und Sozialdumping benutzt werden. Das
allein ist schon schändlich, aber es ist nicht alles. Wenn
sich diese Menschen trotz ihrer Notlage weigern sollten,
zu Niedrigstlöhnen, womöglich noch unter dem Sozialhilfesatz, Arbeit abzulehnen, dann endlich kann man Ihnen die Sozialhilfe kürzen. Steht das in Ihrer Begründung oder nicht? Das hat mit Menschenwürde und individueller Freiheit gar nichts zu tun. Ganz im Gegenteil.
Es geht aber noch weiter.
Ganz nebenbei beleidigen Sie, meine Damen und
Herren von der F.D.P., soweit Sie noch hier sind, in Ihrer Begründung zu diesem Antrag die Menschen in unserem Lande, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, also die Arbeitslosen in unserem Lande, indem Sie
sie als unmotiviert, zu gering qualifiziert und nicht bereit
zu körperlicher Arbeit abqualifizieren. Das ist eine solche Ungeheuerlichkeit, dass Sie sich dafür schämen sollten, Herr Niebel und meine Damen und Herren von der
F.D.P.
({17})
Es gibt sicherlich noch mehr zu diesem Antrag zu sagen. Aber ich meine, er ist es nicht wert, dass man sich
mit ihm weiter befasst. Wir werden diesen unsäglichen
Antrag heute ablehnen. Aber wir sind nicht untätig und
werden es auch in Zukunft nicht sein. Wir werden den
Zielkonflikt zwischen hoher Arbeitslosigkeit und Erleichterung des Arbeitsmarktzugangs für Migranten und
Migrantinnen auflösen. Wir werden auch den Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge, Asylbewerber und geduldete Ausländer auf eine neue Rechtsgrundlage stellen.
Das heißt im Klartext: Der Clever-Erlass mit dem Totalarbeitsverbot kommt weg.
({18})
Abschließend sage ich Ihnen: Die Arbeiten daran sind
in der Tat längst im Gange und werden - allerdings mit
der gebotenen Sorgfalt und Gründlichkeit - fortgesetzt
und zu einem Ergebnis geführt, das allen Menschen, die
in unserem Lande leben, unabhängig von ihrer Herkunft
oder ihrem Status gerecht wird. Das werden wir auch
schaffen.
Danke schön.
({19})
Herr Kollege Niebel
möchte, weil er sich persönlich angegriffen fühlt, eine
Kurzintervention machen. Frau Kollegin Onur, darauf
dürfen Sie antworten.
Herr Kollege Niebel, bitte.
({0})
Frau Präsidentin, ich danke Ihnen. Ich habe um diese Kurzintervention gebeten, weil
Frau Onur offenkundig nicht in der Lage ist, im Zusammenhang korrekt zu zitieren.
({0})
Sie hat Bruchstücke der Antragsbegründung mit eigener
Meinung vermischt.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat den Antrag unter
anderem damit begründet, dass beispielhaft im Niedriglohnsektor trotz 4,3 Millionen Arbeitslosen viele Arbeitsplätze nicht besetzt werden können, unter anderem
wegen geringer Bezahlung in diesem Bereich, aber auch,
weil es oftmals schmutzige Tätigkeiten sind, ebenso,
weil es oftmals keinen attraktiven Anreiz für die deutschen oder bevorrechtigten Arbeitslosen auf dem Arbeitsmarkt gibt, diese Tätigkeiten anzunehmen. Das ist
eine beispielhafte Aufzählung.
Sie wissen ganz genau, Frau Onur, dass sich die
Möglichkeit der Beschäftigung von Nicht-EUAusländern über das gesamte Spektrum des Arbeitsmarktes bewegt. Das zeigt übrigens auch die vom Herrn
Bundeskanzler angestoßene Debatte zur so genannten
grünen Karte.
({1})
Allerdings wissen Sie ebenso genau wie jeder andere
hier im Haus, dass es viele Bereiche gibt, in denen insbesondere Ausländer eine Chance haben, in den Arbeitsmarkt zu kommen, weil Deutsche diese Tätigkeiten
nicht ausüben. Das ist kein Ausschließungsgrund; es ist
nicht so, wie Sie es dargestellt haben. Des Weiteren haben Sie behauptet, die F.D.P. würde mit diesem Antrag
Schwarzarbeit und Lohndumping unterstützen wollen.
Das ist falsch.
({2})
Wenn ein Arbeitgeber einen Arbeitsplatz zu besetzen
hat und einen Arbeitnehmer findet, der diese Tätigkeit
ausüben möchte, und beide können aufgrund rechtlicher
Bedingungen nicht zusammenkommen und sind in diesem langwierigen Verfahren, das ich in der ersten Lesung beschrieben habe, sozusagen gefangen, dann finden sie womöglich andere Wege, um ins Geschäft zu
kommen.
({3})
Das wäre dann Schwarzarbeit.
Das bedeutet, dass wir sowohl den Arbeitgebern als
auch den Arbeitnehmern die Möglichkeit geben möchten, miteinander ins Geschäft zu kommen, und zwar auf
legale Art und Weise. In dem Antrag steht nirgendwo,
so wie Sie behauptet haben, dass wir tarifvertragliche
Regelungen außer Kraft setzen wollten, im Gegenteil.
Herr Kollege, ich
darf Sie bitten, zum Schluss zu kommen.
Das ist der letzte Satz. - Gegen
Lohndumping kann sich nur derjenige wehren, der sich
in einem legalen Beschäftigungsverhältnis befindet, weil
der Illegale, so er gegen das Lohndumping kämpfen
würde, als Illegaler erkannt und damit seiner Existenz
beraubt werden würde.
({0})
Ich bitte darum,
meine Kolleginnen und Kollegen, dass wir diese Intervention zulassen. Jetzt hat Frau Kollegin Onur das Wort,
um darauf zu antworten. Bitte sehr.
Herr Kollege Niebel, ich habe ja
Verständnis dafür, dass Sie noch einmal versuchen, auf
diese Weise zusätzliche Redezeit herauszuschlagen,
({0})
aber wir haben alle Argumente ausgetauscht. Ich sage
Ihnen noch einmal: Durch die Wiederholung werden Ihre Argumente nicht besser.
({1})
Nur zur Klarstellung: Sie sollten einmal genauer hinhören. Ich kann Ihnen versichern: Ich weiß immer ganz
genau, was ich sage.
({2})
Erstens. Ich habe beispielsweise nicht gesagt, Sie hätten in der Begründung Ihres Antrages geschrieben, alle
Arbeitslosen in diesem Lande seien unmotiviert, unqualifiziert und zu körperlicher Arbeit nicht bereit. Ich habe
gesagt, Arbeitslose in diesem Lande. Das ist ein Unterschied, den ich Ihnen gern bei Gelegenheit ausführlich
erkläre. Das habe ich nämlich einmal als Beruf gelernt.
({3})
Zweitens bin ich auch aufgrund dieser beruflichen Ausbildung in der Lage, korrekt zu zitieren, allerdings auch,
zwischen Interpretation eines Textes und dem Zitieren
eines Textteils zu unterscheiden. Wenn Sie genau zugehört hätten, dann wüssten Sie jetzt, was das eine und
was das andere ist.
Ansonsten sprechen Ihr Antrag und insbesondere seine Begründung für sich. Die Wiederholung der dort aufgeführten Argumente macht ihn weder besser noch akzeptabler.
({4})
Nun hat das Wort
der Kollege Franz Romer, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Die F.D.P.Fraktion möchte die Arbeitserlaubnispflicht für NichtEU-Ausländer abschaffen. Damit soll das Recht aufgehoben werden, das - wie es das Bundessozialgericht
formuliert - der Sicherung des Vorrangs deutscher und
ihnen gleich gestellter Arbeitskräfte auf dem inländischen Arbeitsmarkt dient. Da die Lage auf unserem Arbeitsmarkt nach wie vor sehr angespannt ist, frage ich,
welche Gründe für die Aufhebung dieses Schutzes sprechen.
({0})
Die F.D.P. möchte mit ihrem Antrag die Schwarzarbeit verringern, offene Arbeitsplätze besetzen und Bürokratie abbauen. Diese Ziele werden sicherlich parteiübergreifend als wünschenswert angesehen. Aber dabei
ist zu berücksichtigen, dass eine Umsetzung des Antrags
der F.D.P.-Fraktion einen zusätzlichen Anreiz für Ausländer bedeuten würde, den Weg in die Bundesrepublik
Deutschland zu suchen. Asylbewerber und Flüchtlinge,
die wohl die Hauptbegünstigten einer Neuregelung wären, würden sich noch mehr als bisher auf Deutschland
konzentrieren; denn in anderen EU-Ländern benötigen
Ausländer in der Regel eine Arbeitserlaubnis. Warum
sollte die Bundesrepublik im Alleingang mit einer Neuregelung vorpreschen?
Wir haben unser Asylrecht bekanntermaßen schon
sehr großzügig geregelt. Wenn Asylbewerber während
ihres häufig sehr lange dauernden Asylverfahrens von
Beginn an arbeiten dürften, dann wäre dies eine zusätzliche Einladung, auf jeden Fall in der Bundesrepublik
Deutschland einen Asylantrag zu stellen.
({1})
Ich schlage vor, einen EU-weiten Konsens zu suchen.
Die Europäische Union hat den Mitgliedstaaten bereits
Empfehlungen zur Regelung des Arbeitsrechts für Drittstaatler zukommen lassen.
({2})
Es ist vorgesehen, noch in diesem Jahr eine Harmonisierung innerhalb der Europäischen Union herbeizuführen.
Ein entsprechender Bericht der Kommission befindet
sich in der Vorbereitung. Schon im Hinblick auf die bevorstehenden Regelungen auf EU-Ebene macht es keinen Sinn, unser Arbeitserlaubnisrecht jetzt zu ändern.
Im Zusammenhang mit dem Thema Asylbewerber
möchte ich auf das Problem der Residenzpflicht hinweisen. Während des Asylverfahrens ist der Aufenthalt
räumlich auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, in dem sich der Ausländer aufhält bzw. in dem
die Aufnahmeeinrichtung liegt. Nur durch diese Begrenzung der Freizügigkeit kann die ordnungsgemäße
Durchführung des Asylverfahrens gewährleistet werden.
Ich möchte jetzt auf eine andere Gruppe Ausländer zu
sprechen kommen, nämlich auf die, die im Rahmen des
Familiennachzugs nach Deutschland kommen. Diese
Gruppe von Ausländern darf nach § 17 des Ausländergesetzes nur dann einreisen, wenn ihr Lebensunterhalt
gesichert ist. Es muss ausreichender Wohnraum zur Verfügung stehen. Das Einkommen der Familie darf rein
rechnerisch schon gar nicht unter der Sozialhilfegrenze
liegen. Hier ist ein Missbrauch der Sozialleistungen, den
die F.D.P. angesprochen hat, von vornherein ausgeschlossen. Diese Gruppe von Ausländern würde nach
dem Willen der F.D.P. ebenso wie Asylbewerber und
Flüchtlinge direkt bei Feststellung ihres rechtmäßigen
Aufenthalts das Recht auf Arbeit bedingungslos erhalten. Bisher ist dafür nach § 286 des Sozialgesetzbuches III ein sechsjähriger ununterbrochener Aufenthalt
in Deutschland Voraussetzung.
Dass Ausländer, die schon viele Jahre in Deutschland
leben, eine Arbeit aufnehmen, ist nicht zuletzt auch unter Integrationsaspekten zu befürworten. Ist dagegen
beispielsweise ein Asylverfahren schon negativ abgeschlossen worden und wird der Asylbewerber nur noch
geduldet, so würde eine Abschiebung bei Vorliegen eines Arbeitsplatzes für alle Beteiligten, den betroffenen
Ausländer, den Arbeitgeber und nicht zuletzt die Behörden, unglaublich erschwert.
Die von der F.D.P. aufgelisteten Arbeitsplätze, die
nur schwer von inländischen Arbeitskräften besetzt werden können, liegen nicht in unbegrenzter Zahl vor. Früher oder später wäre der Arbeitsmarkt gesättigt, für
den überwiegend ausländische Arbeitnehmer gewonnen
werden können. Bereits im Jahre 1998 waren über
500 000 Ausländer in Deutschland arbeitslos. Dies entspricht einem Fünftel der abhängig Erwerbstätigen.
Es sollten andere Lösungswege vorgezogen werden.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen,
dass im Niedriglohnbereich Wege gefunden werden
müssen, den Abstand von Löhnen und Sozialleistungen
in dem Maße zu wahren, dass Arbeitslose zur Arbeitsaufnahme motiviert werden können.
({3})
Die F.D.P.-Fraktion weist darauf hin, dass Arbeitsplätze in die Schwarzarbeit verlagert werden, wenn eine Arbeitserlaubnis nicht oder nicht rechtzeitig erteilt
wird. Es hilft uns nicht weiter, meine Damen und Herren
von der F.D.P., einen derart weit reichenden Gesetzesantrag mit dem illegalen Verhalten einiger Arbeitgeber zu
begründen. Wie wir alle wissen, beruht die Schwarzarbeit nicht allein auf einer Arbeitserlaubnispflicht für ausländische Arbeitnehmer.
Kann für einen Arbeitsplatz kein deutscher Arbeitnehmer gefunden werden, liegt dies möglicherweise
auch daran, dass die Arbeitsbedingungen unzureichend
sind. Den Arbeitgebern durch eine Befreiung von der
Arbeitserlaubnispflicht ausländische Arbeitskräfte zur
Verfügung zu stellen, kann keinesfalls im Sinne unserer
ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger sein.
({4})
Jährlich wird immerhin in über 1 Million Fällen eine
Arbeitserlaubnis erteilt. Dies bedeutet zwar nicht, dass
jährlich 1 Million Ausländer neu auf dem Arbeitsmarkt
zugelassen werden, da ein Ausländer im Laufe eines
Jahres auch mehrfach eine Arbeitserlaubnis erhalten
kann. Die deutschen Arbeitgeber können schon nach der
heutigen Rechtslage auf eine große Zahl ausländischer
Arbeitskräfte zurückgreifen.
Ernst zu nehmen ist das Argument der Verfahrensdauer. Eine Verzögerung der Arbeitsplatzbesetzung um
mehrere Wochen ist für die deutsche Wirtschaft überaus
hinderlich und ruft tatsächlich nach einer Veränderung.
Dazu ist aber eine Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht gemäß § 284 SGB III nicht notwendig. Verbesserungen ließen sich durch eine Änderung des für die Erteilung einer Arbeitserlaubnis einschlägigen § 285
SGB III erzielen.
Die CDU/CSU-Fraktion befürwortet einen Abbau der
Bürokratie und eine Beschleunigung des Verfahrens. Sie
kann aber angesichts von über 4 Millionen Arbeitslosen
in Deutschland den Antrag der F.D.P. nicht unterstützen.
Dies wäre gegenüber den inländischen Arbeitssuchenden unverantwortlich.
Wir dürfen nicht vergessen, dass die große Anzahl
von ABM-Beschäftigten nicht in der Arbeitslosenstatistik auftaucht. Für diese, wie auch für alle, die sich in
Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen befinden,
soll langfristig ein Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden werden. Mit Blick auf diese Zahlen darf man
nicht, wie die F.D.P. in ihrer Antragsbegründung, lapidar darauf hinweisen, inländische Arbeitskräfte seien zu
wenig motiviert, zu wenig qualifiziert, die Arbeit stelle
zu geringe intellektuelle Ansprüche oder bringe körperliche Belastungen mit sich. Hier muss bei der Motivation und Flexibilität der Arbeitslosen angesetzt und nicht
ein Ersatz durch die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte gesucht werden. Wenn die inländischen Arbeitnehmer zu wenig qualifiziert sind, müssen sie weitergebildet werden. Es muss möglich sein, dass die deutschen Arbeitgeber bei dem großen vorhandenen Potenzial geeignete Arbeitskräfte finden.
Wir dürfen nicht vergessen, dass jährlich über 70 000
Anträge auf eine Arbeitserlaubnis abgelehnt werden. Die
damit zusammenhängenden 70 000 Arbeitsplätze würden den deutschen und den ihnen gleichgestellten Arbeitsuchenden, zu denen viele Ausländer gehören, zu
Unrecht vorenthalten.
Ich danke Ihnen.
({5})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte
gedacht, wir könnten hier eine sachliche Debatte über
den Inhalt des Antrages der F.D.P. führen. Wenn es
nämlich wirklich die Intention des Antrages ist, Flüchtlingen mit langer Aufenthaltsperspektive eine Arbeitserlaubnis zu gewähren, müssen wir darüber ruhig und
sachlich diskutieren, weil diese Intention vernünftig ist.
({0})
Der Beitrag von Herrn Niebel hat uns eben aber gezeigt,
mit was für einer scheinheiligen Profilierungssucht hier
argumentiert wird.
({1})
Frau Beck hat Ihnen, Herr Niebel, eben schon gesagt,
dass Ihre Fraktion, die F.D.P., verantwortlich für den
Clever-Erlass ist, der ein eindeutiges Arbeitsverbot beispielsweise für Flüchtlinge mit sich gebracht hat. Sie
sind dafür verantwortlich. Wir machen uns daran, diesen
Erlass abzuräumen und überflüssig zu machen.
Noch etwas anderes kommt dazu, an das Sie wohl
auch nicht denken. Sie haben im Jahre 1997 hier einen
Entwurf für ein Zuwanderungsgesetz vorgelegt und zur
Diskussion gestellt, aus dem deutlich zu entnehmen war,
dass Flüchtlinge, die aus humanitären Gründen hierher
kommen, bei Ihnen auch unter eine Quotierung fallen
sollen, die beispielsweise ökonomisch begründet wird.
({2})
- Das ist richtig; das können Sie nachlesen. - Wenn dieses der Hintergrund für Ihr Konzept ist, dann, meine
Damen und Herren, ist es umso richtiger, Ihren Antrag
abzulehnen, weil wir diese Art von Politik nicht wollen.
({3})
Es mag sein, Frau Lenke, dass bei Ihnen ein Umdenkungsprozess stattgefunden hat. Die Äußerungen von
Herrn Gerhardt in den letzten Tagen deuten jedenfalls
darauf hin. Das würden wir begrüßen. Vor dem Hintergrund des Clever-Erlasses, den Sie zu verantworten haben, und Ihrer Zuwanderungsvorstellungen können wir
Ihren Vorschlägen aber nicht folgen.
({4})
Richtig ist, dass wir eine Reform des Arbeitsgenehmigungsrechtes brauchen. Auch die Koalition arbeitet genau an dieser Sache. Zielsetzung dabei muss
sein, die Integration von Migranten zu fördern und zu
beleben. Voraussetzung hierfür ist, die Akzeptanz dafür
bei der inländischen Bevölkerung zu steigern. Wir können nämlich darüber nicht einfach hinwegschauen oder
davor die Augen verschließen, dass die Debatte um das
Arbeitserlaubnisrecht im Spannungsfeld zwischen Integrationspolitik und Arbeitsmarktpolitik geführt wird. Es
wird - das wissen Sie alle aus Ihren Wahlkreisen - in
dem Zusammenhang immer wieder die Frage nach den
arbeitsmarktpolitischen Effekten gestellt.
Bei der im Zusammenhang mit der Green Card aufgelebten Debatte wurde sozusagen vieles noch einmal
miteinander vermischt. Wir müssen da sehr vorsichtig
sein.
({5})
Hier reden wir nämlich über eine ganz andere Personengruppe.
({6})
Es geht nicht um eine Personengruppe, die aus ökonomischen Gründen hereingeholt werden soll, um Qualifikationslücken auf dem Arbeitsmarkt zu schließen, was
ja sinnvoll ist, sondern es geht hier um eine Gruppe von
Menschen, die hier lebt und ganz unabhängig vom ausländerrechtlichen Status eine langfristige Aufenthaltsperspektive hat. Diese Menschen können nicht zurück
und bleiben deswegen hier. Es handelt sich auch um
Menschen, die nachgezogen sind, und beispielsweise
deswegen nicht in ihre Heimatländer zurückkönnen,
weil ihre Angehörigen nicht zurückkönnen.
({7})
Um dieser Situation gerecht zu werden, meine Damen
und Herren, brauchen wir aus humanitären Gründen gerade für Flüchtlinge eine Gesamtrevision des Arbeitsgenehmigungsrechtes. Auch daran arbeiten wir.
({8})
Es ist auch notwendig, meine Damen und Herren,
weil der Arbeitsmarktzugang von einem ungeheuren
Wirrwarr von Maßnahmen und Regelungen bestimmt
ist. Die „FAZ“ - ich weiß nicht, ob Sie sie gestern gelesen haben - hat eine ganze Seite gebraucht, um das ein
wenig aufzuschlüsseln. Auch da ist deutlich geworden,
dass nur Intellektuelle, die sich lange damit beschäftigen, die Chance haben, eine Idee von dem Wirrwarr dieser Rechtsmaterie zu bekommen. Wir müssen hier Klarstellungen vornehmen und entbürokratisieren, weil
durch das Arbeitszugangsrecht viele Ungerechtigkeiten
entstehen.
({9})
- Wir arbeiten ja daran. Sie haben das Arbeitsverbot
eingeführt.
({10})
Wir sind - auch im Sinne der Integration und unter Abwägung arbeitsmarktspolitischer Gesichtspunkte - dabei, das zu korrigieren, was Sie, Herr Niebel, oder Ihre
Partei in den Sand gesetzt haben.
Wir wollen die Integration in den Arbeitsmarkt, weil
wir die Argumentation zum Beispiel der Kirchen und
der NGOs richtig finden, dass der Arbeitsmarktzugang
auch ein Mittel gegen Fremdenfeindlichkeit ist.
({11})
Meine Damen und Herren, der Clever-Erlass ist nicht
nur politisch umstritten; er ist auch rechtlich umstritten.
({12})
Es ist völlig eindeutig, dass er weg muss. Wir brauchen
neue rechtliche Regeln. Aber wir brauchen auch das
Gleichgewicht und die Auseinandersetzung mit den arbeitsmarktpolitischen Argumenten. Darauf möchte ich
noch in aller Kürze eingehen.
Für einen Arbeitsmarktzugang kommt hier ein Personenkreis von etwa 100 000 Asylbewerberinnen und
Asylbewerbern sowie Geduldeten in Betracht. Grundsätzlich gilt, dass diese Personengruppe aus integrationspolitischen Gründen über den Zugang zum Arbeitsmarkt das Recht und die Chance haben muss den eigenen Lebensunterhalt zu sichern. Die arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkte und Ängste, die hier vor dem Hintergrund von 4 Millionen Arbeitslosen immer wieder
vorgetragen werden, haben keine Substanz. Das, was
wir durchsetzen wollen, stellt keine Gefahr für den Arbeitsmarkt dar. Das stellt der DGB zu Recht fest und
verweist in diesem Zusammenhang auf die Vorrangprüfung.
({13})
- Herr Niebel, Sie haben hier schon zwei oder drei Mal
geredet. Akzeptieren Sie bitte, dass auch andere von diesem Pult aus Ausführungen machen.
({14})
Wir reden hier über etwas, was Sie eingeführt haben. Es
war ungerecht und arbeitsmarktpolitisch unsinnig.
({15})
Die rot-grüne Koalition macht sich nun daran, den
Schrott wegzuräumen, den Sie hinterlassen haben, meine Damen und Herren.
({16})
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich denke an die Redezeit.
Das Problem ist vielfältig. Es ist ein integrationspolitisches und ein arbeitsmarktpolitisches Problem.
({0})
Wir müssen schrittweise vorgehen. Der erste Schritt ist das habe ich schon gesagt - die Abschaffung des CleverErlasses. Weitere Schritte werden im Zusammenhang
mit der Reform des SGB III folgen, weil wir substanzielle Verbesserungen im Hinblick auf die Arbeitsmarktzugangsregelung benötigen. Ferner brauchen wir
eine Entbürokratisierung und eine Verbesserung der Integration.
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist weit überzogen.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Wir müssen vielerlei thematisieren: beispielsweise
die Vorrangprüfung bei der Verlängerung von Arbeitserlaubnissen und den Zugang zum Arbeitsmarkt für Studentinnen und Studenten sowie Hochschulabsolventen;
Letzeres steht in engem Zusammenhang mit der Green
Card.
Wir machen uns auf den Weg. Sie dagegen haben uns
etwas hinterlassen, was nicht weiter bestehen bleiben
darf.
({0})
Jetzt hat der Kollege
Dr. Klaus Grehn, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Mir kommt die Diskussion wie
der Tragödie zweiter Teil vor. Der erste Teil ist vor Jahren abgespult worden, als die rechte Seite des Hauses
dieses Gesetz einführte und die linke Seite des Hauses
sich dagegen verwahrte. Damals war man in anderen
Positionen als heute. Wenn die rechte Seite des Hauses
nun ein neues Gesetz einbringt, kann man ihr nicht vorwerfen, dass sie vielleicht lernfähig ist.
({0})
Dass nun aber die linke Seite des Hauses - aus welchen
Gründen auch immer - vergisst, dass sie vor Jahren gegen die Einführung dieses Gesetzes war, das geht zulasten der Betroffenen.
({1})
Es gibt noch einen dritten Teil der Tragödie. Diese
wird durch jenen eigenartigen Widerspruch eingeleitet,
dass Deutschland auf der einen Seite das Brain Drain
neu belebt, indem der deutsche Bundeskanzler ausländische Informatiker für deutsche Konzerne und Unternehmen anwirbt, und dass die Arbeitgeberverbände
gleich die Messer wetzen und Werber aussenden wollen,
um auch für andere Berufe Arbeitskräfte anzuwerben.
Auf der anderen Seite verweigert oder erschwert man
aber den in Deutschland lebenden ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern das Recht, den Lebensunterhalt durch eigener Hände Arbeit zu verdienen. Was
die Green Card auf der einen Seite ist, ist auf der anderen Seite die Red Card für Migrantinnen und Migranten.
Das ist nicht hinnehmbar.
({2})
Es ist auch nicht hinnehmbar, Frau Onur, dass bei der
Green Card schnell und kurzfristig gehandelt wird, dass
man sich aber bei der Red Card fast ein Jahr lang - so
lange liegt das auf dem Tisch - Zeit lässt.
({3})
Sie können doch schneller handeln, wenn Sie wollen. In
diesem Fall könnten Sie das auch tun.
({4})
Ob das mit Ihren sozialdemokratischen und grünen
Wertvorstellungen zu vereinbaren ist, müssen Sie selber
entscheiden. Die entwürdigenden Bedingungen, etwa die
begrenzte Aufenthaltserlaubnis, unter denen die Einkäufe auf dem internationalen Arbeitsmarkt stattfinden,
kennzeichnen erneut die immer größer werdende Entfernung der jetzigen Bundesregierung von sozialen, humanistischen und demokratischen Überzeugungen. Wer
bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit die
Objektivität und die Unausweichlichkeit der Globalisierung beschwört, kann doch nicht ernsthaft annehmen,
dass er diesen Prozess auf dem Arbeitsmarkt und im sozialen Bereich überlisten kann.
Das Recht auf Arbeit ist ein Grundrecht. Es steht
auch jetzt bei der Diskussion um eine Charta der Grundrechte in der Europäischen Union an vorderster Stelle
der sozialen Grundrechte. Grundrechte gelten für alle
Menschen - gleich, ob sie Bürger der EU sind oder
nicht. Arbeit ist die Grundlage für die Sicherung der
menschlichen Existenz. Niemand hat das Recht, das Individuum seiner Möglichkeit zu berauben, mit seiner eigenen Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
({5})
Genau das aber tut der Zwang, eine Erlaubnis zur Arbeit bei einer Behörde beantragen zu müssen. Wer die
Praxis von Ausländerbehörde und Arbeitsamt kennt, der
weiß, wie demütigend und erniedrigend die Behandlung
für ausländische Mitbürger ist, wenn sie - sich meist erfolglos - in die Schlange einreihen müssen. Was sich in
einer Millionenstadt wie Berlin tagtäglich vor der einzigen Ausländerbehörde abspielt, die noch dazu sehr begrenzte Öffnungszeiten hat, ist ein Beispiel für menschenunwürdige Behandlung.
({6})
Die Fraktion der PDS unterstützt den vorliegenden
Antrag der F.D.P. Teile der Begründung sind absurd;
lassen wir es dabei. Wichtig ist, dass den Menschen eine
Zukunft gegeben wird. Es ist aber notwendig, dass wir
uns von Relikten der Vergangenheit lösen. Tun Sie dies
konsequent! Sie haben es versprochen. Lassen Sie sich
nicht so viel Zeit!
Dass auch Ämter und Behörden, auch Strafverfolgungsbehörden, entlastet würden, mag nur am Rande
erwähnt werden. Die Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung: die Neugestaltung eines gleichberechtigten und
selbst gestalteten Lebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft in einem Land. Andere Schritte müssen
folgen. Wenn Sie aber zu viel Zeit brauchen, werden die
anderen Schritte wahrscheinlich auf den SanktNimmerleins-Tag vertagt.
({7})
Das Wort hat nun
der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag
der F.D.P. ist in allen Ausschüssen zu Recht abgelehnt
worden.
({0})
Wer sich die Inhalte und die Begründung dieses Antrages anschaut, der wird feststellen, dass die in ihm enthaltene Behauptung, das Arbeitsgenehmigungsrecht habe
sich in der Bundesrepublik Deutschland zu einem Recht
der Verhinderung von Arbeit entwickelt, absurd ist.
Selbst die Zahlen, die in der Begründung stehen, machen diese Absurdität deutlich.
Ich würde sehr empfehlen, darauf zu achten, wie sich
mit ganz unterschiedlichen Begründungen die beiden
jeweils äußeren Seiten dieses Hauses zu dem Antrag
verhalten. Die linke Seite verhält sich wahrscheinlich so,
weil sie immer und überall die Gutmenschen spielen
will, ohne sich die Inhalte genauer anzuschauen. Die
rechte Seite kommt im Gewande der Liberalität daher,
so wie sie es schon mit vielen anderen Dingen getan hat;
es geht ihr aber eigentlich um nichts anderes als um eine
gnadenlose Deregulierung.
({1})
Ich finde das, was Herr Niebel sagt, sehr amüsant:
Diejenigen, die er sonst in den Debatten als Gewerkschaftsfunktionäre verunglimpft, zitiert er, wenn es ihm
passt. Ich würde ihn an dieser Stelle auch nicht so ernst
nehmen.
({2})
Worum geht es eigentlich, meine sehr verehrten Damen und Herren? Wer sich das Arbeitsgenehmigungsrecht ansieht, wird feststellen - Vorredner haben das
bereits deutlich gemacht -, dass wir darin ganz unterschiedliche Tatbestände vorfinden. Da geht es um Werkvertragarbeitnehmer, da geht es um Saisonarbeitnehmer,
da geht es um Fragen der Genehmigung derer, die auf
dem deutschen Arbeitsmarkt nach Arbeit suchen.
Hierzu will ich Ihnen eine Grundposition sagen, von
der ich sehr überzeugt bin. Ich finde, dass Menschen,
deren Aufenthalt hier auf Dauer angelegt ist, durch ihrer
eigener Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen
sollen. Das ist zunächst eine Grundposition. Dann muss
man aber untersuchen, welche Funktion dieses Arbeitsgenehmigungsrecht hat. Es hat eine doppelte. Es hat die
Funktion, einerseits den deutschen und den europäischen
Arbeitsmarkt entsprechend zu schützen, andererseits
aber so viel Flexibilität zu entwickeln, dass ein notwendiger Arbeitskräftebedarf gedeckt wird oder notwendige
zusätzliche Genehmigungen für bestimmte Personengruppen ermöglicht werden. Dies tut das Arbeitserlaubnisrecht in ganz unterschiedlichem Ausmaß.
Ich will überhaupt nicht verhehlen - das ist hier
schon genannt worden -, dass wir in der Bundesregierung und mit den Koalitionsfraktionen daran arbeiten,
bestimmte Regelungen des Arbeitserlaubnisrechtes zu
reformieren. Aber, Herr Niebel, wir kommen nicht auf
die Idee - da können Sie so viel herumschreien, wie Sie
wollen -, das Arbeitserlaubnisrecht abzuschaffen. Wir
kommen auch nicht auf die Idee, einen Tatbestand, den
Sie benannt haben, die so genannte Vorrangprüfung, abzuschaffen. Warum sollten wir das? Wir sind schon der
Meinung, dass man bei bestimmten Fragen genauer hinschauen muss, wie diese Vorrangregelung wirkt. Wir
werden aber behutsam und in einer vernünftigen Art und
Weise abzuwägen haben, wenn wir in diesem Land gegenwärtig noch mehr als 4 Millionen registrierte Arbeitslose haben und auf der anderen Seite über Arbeitsgenehmigungen bestimmte Entwicklungen zulassen, die
auch dazu führen können, dass der Zuzug in die Bundesrepublik Deutschland zunimmt.
Das hat gar nichts damit zu tun - das will ich meinem
Vorredner noch einmal sagen -, dass es nicht auch möglich ist, bei dem bestehenden Arbeitserlaubnisrecht sehr
flexibel zu reagieren. Wer sich die Anwerbestoppausnahmeverordnung ansieht, wird feststellen, dass große
Firmen, dass Wissenschaftler, dass Universitäten und
Institutionen auch bisher keine Probleme hatten und dass
es ohne weiteres möglich ist, dass entsprechend qualifizierte Fachkräfte in die Bundesrepublik kommen.
Ein Beweis dafür, dass unser Arbeitsgenehmigungsrecht vernünftig ist und mit kleineren Anpassungen gut
genutzt werden kann, ist das Sofortprogramm für die
Deckung des Arbeitskräftebedarfs im Bereich der ITIndustrie. Das kann nur nicht nach der Melodie erfolgen - das will ich noch einmal ausdrücklich sagen -, die
Sie vorschlagen, nämlich alles abzuschaffen, sondern
hier muss in einem vernünftigen Rahmen, mit vernünftigen Verhältnissen ein Bedarf nachgewiesen werden. Es
muss auch durch den entsprechenden Wirtschaftsbereich
deutlich gemacht werden, dass man selbst etwas tut, um
inländische junge Menschen zu qualifizieren, um Fachkräfte, die arbeitslos sind, zu qualifizieren.
({3})
Wenn dieses miteinander einhergeht, dann ist es auch
möglich, über Arbeitsgenehmigungen - Herr Niebel,
wenn Sie bitte einmal zuhören würden -
({4})
zu ermöglichen, dass der notwendige Fachkräftebedarf
in der Bundesrepublik Deutschland für eine solche
Branche gedeckt wird.
({5})
- Ich bitte Sie noch einmal zuzuhören. Über Ihrem Antrag steht die Überschrift „Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht“. Das ist doch Unsinn. Wir beschließen
im Deutschen Bundestag keinen Antrag, der Unsinn ist,
damit Sie das wissen.
({6})
Damit halte ich für die Bundesregierung fest, dass wir
in den nächsten Monaten im vernünftigen Ausmaß das,
was im Arbeitsgenehmigungsrecht reformiert werden
muss, verändern. Das können wir auch über entsprechende Verordnungen und Regelungen tun. Wir werden
aber nicht auf die Idee kommen, dieses Arbeitserlaubnisrecht insgesamt abzuschaffen, weil wir davon überzeugt sind, dass vor dem Hintergrund der Arbeitsmarktprobleme auf der einen Seite mit den Arbeitsgenehmigungen auf der anderen Seite in einem vernünftigen
Verhältnis umgegangen werden muss.
Das bedeutet insbesondere auch, dass man hier Arbeitskräfte zulässt, deren Beschäftigung zusätzliche Arbeitsplatzeffekte in der Bundesrepublik Deutschland erzielt. Das bedeutet zum anderen - ich will es wiederholen -, dass auch Menschen, deren Aufenthalt in dieser
Republik auf Dauer angelegt ist, die Möglichkeit haben
müssen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, damit sie
ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften können.
Vor diesem Hintergrund halte ich es nur für logisch,
dass dieser unsinnige F.D.P.-Antrag abgelehnt wird. Ich
kann Ihnen vorhersagen, trotz all Ihrer Schreiereien,
Herr Niebel: Weder die Bundesregierung noch die Koalition werden sich in irgendeiner Weise beirren lassen:
Wir werden in den nächsten Wochen mit entsprechenden Regelungen auch hier im deutschen Parlament auftreten und diejenigen Veränderungen vornehmen, die
wir für richtig halten.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({7})
Nun hat der Kollege
Heinz Schemken, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/
CSU-Fraktion kann diesem Antrag nicht zustimmen. Ich
will das begründen: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt
ist nach wie vor dramatisch; da beißt keine Maus den
Faden ab. Nach wie vor sind immerhin über 4,2 Millionen Arbeitslose registriert. In den Ausnahmefällen der Staatssekretär hat schon auf die entsprechenden Felder hingewiesen - sind es immerhin 1,2 Millionen Menschen, die in der Saisonarbeit,
({0})
in der Zeitarbeit oder über Werkverträge beschäftigt
sind,
({1})
Herr Niebel. Wenn wir Ihrem Antrag folgen würden,
dann würden wir ein zusätzliches Ventil öffnen.
({2})
Wir würden Menschen aus dem Ausland hereinholen,
obwohl der Druck auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor
sehr stark ist.
({3})
Der Staatssekretär hat angekündigt, dass das SGB III
möglicherweise demnächst zur Diskussion steht. Wir
können über die Verkürzung der Fristen bei freiwerdenden und bei neu eingerichteten Stellen - ich denke an
die Wartezeit - reden. Ich sage hier aber ausdrücklich:
Nicht die Arbeitslosenzahlen, sondern die Beschäftigungszahlen sind der eigentliche Gradmesser für die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Bei den Beschäftigungszahlen
sieht es noch viel schlechter aus.
Wir haben nach wie vor einen großen Aderlass an
versicherungspflichtig Beschäftigten. Das war vor allen
Dingen im vergangenen Jahr in starkem Maße der Fall.
Auch wenn sich die Lage etwas gebessert hat, so ist trotz
der positiven Konjunkturdaten und trotz des eigentlich
milden Winters ein großes Defizit in der Beschäftigungspolitik festzustellen. Wir wissen, dass das auch
dramatische Folgen für unsere Generationenverträge hat.
Nur wenn wir das berücksichtigen, können wir den sozialen Rechtsstaat für künftige Generationen so bewahren,
wie wir ihn auch für uns reklamieren.
Die Lage ist deshalb dramatisch, weil die rot-grüne
Bundesregierung in der Steuergesetzgebung genau das
Falsche tut.
({4})
Sie vernachlässigt einerseits den Mittelstand, das Handwerk und den Handel - wo in den kleinen, überschaubaren Bereichen Arbeitsplätze entstehen. Andererseits bevorzugt diese Bundesregierung die Großkonzerne durch
die Steuerfreiheit der Ausgliederung. Die Ausgliederung
richtet sich eindeutig gegen die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer. Das haben Sie vor Ort von den Betriebsräten und von denen, mit denen Sie in den Gewerkschaften zu tun haben, gehört. Wenigstens ich habe das erfahren. Damit können wir den Rückgang der Arbeitslosigkeit nicht vorantreiben.
Im Übrigen: Wenn dann noch der Herr Bundeskanzler den gigantischen Fusionsbeschluss der Deutschen
Bank und der Dresdner Bank befürwortet und damit
erkennbar in Kauf nimmt, dass 16 000 Arbeitsplätze verloren gehen - im Inland sind es 14 000 -, dann bedeutet
das für die Arbeitsplätze der Beschäftigten nichts Positives.
({5})
- Auch ich kann die Fusion nicht aufhalten. Aber die
Reihenfolge der Äußerungen und die dahinter stehende
„Denke“ des Bundeskanzlers sind verräterisch.
({6})
Er begrüßt die Fusion. Ich behaupte, dass die Reihenfolge umgekehrt sein muss - erst Arbeitsplätze, dann Fusion. Die Einstellung zu diesem Thema ist das Entscheidende.
({7})
Für die arbeitslosen Menschen - gerade für die, die aus
dem Dienstleistungsbereich kommen - ist das keine erklärbare Politik; denn im Dienstleistungsbereich sollen
ja Arbeitsplätze entstehen.
({8})
Die Kurzatmigkeit des Handelns wird noch deutlicher, wenn der Herr Bundeskanzler Schröder Computerfachleute aus Asien, aus dem weit entfernten Ostasien hereinholen will, obwohl wir 30 000 Informationstechnologiespezialisten in der Arbeitslosigkeit haben.
Wir müssten sie vermitteln. Wenn diese Ankündigung
des Bundeskanzlers dann noch bei einem Messebesuch
in lockerer Art geschieht, dann ist das eine sehr fragwürdige Sache. Ich sage das deshalb, weil wir auf der
anderen Seite mit vielen Milliarden - das ist eben auch
aus den Ausführungen des Staatssekretärs deutlich geworden - an Beitragsmitteln völlig zu Recht über das
Arbeitsförderungsreformgesetz Menschen gerade in diesen computertechnischen Bereichen qualifizieren. Wenn
das einen Sinn machen soll, muss ich für diese Menschen auf der anderen Seite auch die Arbeitsplätze bereithalten.
Damit das hier klar ist und noch einmal deutlich wird:
Es geht nicht um diejenigen, die von Ferne kommen, die
unter Verfolgung oder unter Ausbeutung leiden; es geht
wirklich um diejenigen, die in der Tat die Stars sind.
Wir nehmen diesen Ländern - das ist im Übrigen ein
Nebeneffekt - die Stars, die dort, in den Schwellenländern und den Entwicklungsländern, gebraucht werden,
um eine vernünftige Infrastruktur aufzubauen. Ich sage
das in allem Ernst.
({9})
Wenn dies noch in einer Zeit geschieht, in der die
Bundesregierung für das EU-Gipfeltreffen in Lissabon
die „Beschäftigungspolitische Aktion 2000“ mit beschlossen hat - das ist ja auch bei der Berichterstattung
am gestrigen Tage deutlich geworden -, die eindeutig
sagt, dass im europäischen Raum nationale Initiativen
ergriffen werden sollen - und wir wissen, dass es im europäischen Raum weitere arbeitslose Computertechniker
gibt -, dann bedeutet das, dass wir erst einmal die Arbeit
vor der europäischen Tür leisten sollten. Das ist entscheidend.
({10})
Dafür habe ich einen guten Zeugen; den möchte ich
dann auch zitieren. Er nimmt mir das sicherlich nicht
übel. Es ist der Parlamentarische Staatssekretär Andres
im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Er
hat am 28. Januar dieses Jahres erklärt - ich zitiere -:
Gegenwärtig ist die Bundesregierung nicht der Auffassung, dass die Erteilung von Arbeitsgenehmigungen an ausländische Spezialisten erleichtert
werden soll.
({11})
Wie auch in den anderen Branchen muss auch im
Bereich Datenverarbeitung das Problem der ausreichenden Gewinnung von Fachkräften durch Maßnahmen am inländischen Markt gelöst werden.
({12})
Die Zulassung von Arbeitnehmern aus dem Ausland würde die Ursachen des Mangels nicht beheben, sondern allenfalls kurzfristig verdecken.
({13})
Recht hat der Mann!
({14})
Ich kann nur sagen: Recht hat der Mann! - Ja, die Freude ist groß, wenn ich mich mit der F.D.P. auseinander
setze. Aber haben Sie bitte Verständnis: Wir haben jetzt
ja endlich auch einmal die Gelegenheit, wieder als Opposition so aufzutreten, wie es sich gehört.
({15})
Mit dieser Arbeitsmarktpolitik, wie sie augenblicklich
auf diesen beiden Feldern, die ich nannte und die klassisch sind, betrieben wird - Fusionen und bei Ausgliederung von ganzen Produktionsbereichen dann auch
noch die Einführung von Steuererleichterungen, um damit das Ganze noch zu beschleunigen, sowie auf der anderen Seite sozusagen die Sterne am Himmel hereinzuholen und damit einen Verdrängungsprozess durchzuführen -, ist eine Antwort auf die Frage nach der Bewältigung der Arbeitslosigkeit sicherlich nicht zu formulieren.
Der Kanzler wollte sich ja daran messen lassen, wie
er die Arbeitslosigkeit abbaut. Dies ist sicherlich ein
Irrweg. In diesem Sinne werden wir auch in Zukunft das sage ich Ihnen noch einmal - den Finger in die
Wunde legen.
Allerdings muss ich ebenso ausdrücklich sagen: Der
Antrag der F.D.P.-Fraktion ist nun auch nicht das Allheilmittel; deshalb können wir ihm nicht zustimmen.
({16})
Schönen Dank.
({17})
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. zur Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht, Drucksache
14/2840. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/1335 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von PDS und F.D.P. ist die
Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der
PDS
Zur Entwicklung und zur Situation in Ostdeutschland
- Drucksachen 14/860, 14/2622 Es liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU und der PDS vor. Über den Entschließungsantrag der PDS werden wir nachher namentlich
abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei
die PDS acht Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Gysi, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Wir haben, wie ich finde, zu einem
rechten Zeitpunkt - nicht zu früh, nicht gleich zu Beginn
der Legislaturperiode, sondern nachdem eine gewisse
Zeit neuer Regierungspolitik über das Land gegangen ist
- eine Große Anfrage zur Situation in Ostdeutschland
gestellt, um zwei Dinge zu erfahren. Uns hat erstens eine
Bestandsaufnahme interessiert, inwieweit die Bundesregierung über Informationen in Bezug auf Ostdeutschland verfügt. Zweitens hat uns interessiert, wie das Konzept der Bundesregierung aussieht, die Entwicklung in
Ostdeutschland voranzubringen, immerhin ein Gebiet,
das im Wahlkampf und auch noch nach dem Wahlkampf
vom Bundeskanzlers zur Chefsache erklärt worden ist.
Ich sage Ihnen: Das Beste an dieser Großen Anfrage
sind immer noch die Fragen, nicht die Antworten,
({0})
und zwar aus folgendem Grunde: Zunächst einmal -
aber da könnten wir uns ja möglicherweise verständigen - fällt die Bestandsaufnahme ausgesprochen ungenau aus. Wenn Sie die Antworten lesen, werden Sie
feststellen, wie oft die Bundesregierung mitteilen muss,
dass sie diesbezüglich keine Informationen hat, dass es
keine Statistik gibt, dass sie nicht auskunftsfähig ist.
Ich finde - deshalb spielt das in unserem Entschließungsantrag eine Rolle -, wir sollten uns wenigstens
darauf verständigen, die statistischen Erhebungen über
Ostdeutschland in Zukunft sehr viel genauer vorzunehmen, weil sie eine Grundlage dafür sind, Fehlentwicklungen zu erkennen und andere Entwicklungen überhaupt einleiten zu können. Wenn wir die Situation nicht
kennen, können wir auch nicht darauf reagieren. Dann
begeben wir uns in das Gebiet der Spekulation.
({1})
Aber ich hoffe, dass es da nicht so viel Widerspruch
gibt; denn das ist ja zum Teil übernommen.
Das Zweite ist - danach frage ich Sie ernsthaft -: Wie
sieht eigentlich Ihr Konzept zur Herstellung der inneren
Einheit Deutschlands, zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West und zur Organisierung eines wirtschaftlichen Aufschwungs in den neuen Bundesländern aus? Ich muss Ihnen sagen: Nachdem Sie das
erst zur Chefsache erklärt haben, finde ich, dass sich aus
den Antworten ergibt, dass Sie das inzwischen zu einer
Nebenrolle degradiert haben. So kann die deutsche Einheit nicht hergestellt werden.
({2})
Ich will versuchen, Ihnen das nachzuweisen. Wir haben noch immer die Situation, dass die Arbeitslosigkeit
in den neuen Bundesländern doppelt so hoch ist wie in
den alten Bundesländern. Es geht mir heute nicht um
Ursachen. Darüber werden wir uns zum Teil nicht verständigen können; zum Teil wäre dies wahrscheinlich
sogar möglich. Auf jeden Fall ist die Situation, wie sie
ist. Nun ergibt sich aus den Antworten auf die Große
Anfrage überhaupt kein Konzept der Bundesregierung,
das spezifisch für den Osten gelten würde, wie man gerade dort die Arbeitsmarktprobleme lösen will. Ein
solches Konzept ist nicht erkennbar. Sie hoffen nur auf
allgemeine Entwicklungen in der ganzen Bundesrepublik Deutschland und gehen davon aus, dass sich diese
irgendwann und irgendwie auch zugunsten des Ostens
auswirken werden. Diesen Aberglauben haben wir aber
inzwischen eindeutig verloren.
Wir brauchen spezifische Maßnahmen für eine regionale und strukturelle Entwicklung im Osten, für eine
Reindustrialisierung, für die Schaffung von industriellen
Kernbereichen, um die Arbeitsplatzfrage lösen zu können.
({3})
Dabei sind wir uns durchaus darüber im Klaren, dass wir
uns im Übergang in eine Dienstleistungsgesellschaft befinden. Aber auch auf diesem Gebiete passiert doch wenig. Natürlich haben wir einzelne Oasen in den neuen
Bundesländern, in denen auch einmal ein hochproduktives Unternehmen entsteht. Aber drum herum entwickelt
sich viel zu wenig.
Lassen Sie mich dazu zwei, drei Bemerkungen machen, die ich für ganz wichtig halte. Das Erste ist: Wir
müssen neu über Ausschreibungen nachdenken, und
zwar auch - da spreche ich die Grünen an - aus ökologischen Gründen. Es gibt ein europäisches Recht und ein
Bundesrecht, das jede Kommune zwingt, bei jedem größeren Auftrag entweder bundesweit oder sogar europaweit auszuschreiben. Die Folge davon ist, dass eine
Kommune in Brandenburg dann, wenn ein Angebot aus
Südfrankreich oder Norditalien oder aus Bayern kommt,
das um 20 000 DM günstiger ist als das Angebot aus der
eigenen Region, den Auftrag aus marktwirtschaftlichen
Gründen nach den geltenden Gesetzen zwingend nach
Bayern oder in andere Länder vergeben muss.
Das Problem ist zunächst einmal ein ökologisches.
Auf diese Art und Weise werden sinnlos Millionen Kilometer quer durch ganz Europa verfahren.
({4})
Statt den Benzinpreis zu erhöhen, sollten Sie an diesem
Ausschreibungsverfahren etwas ändern. Dann könnten
Sie die Gütertransporte zu einem großen Teil von der
Straße drängen. Zugleich hätten die Kommunen die
Chance, wieder eine regionale Wirtschaftspolitik zu
betreiben.
Ein weiterer Aspekt ist von Bedeutung: Früher, unter
der alten Regierung - es tut mir Leid, Sie an dieser Stelle einmal würdigen zu müssen -, gab es zunächst eine
vernünftige Maßnahme: Ich meine die Investitionspauschale für die Kommunen. Diese ist ausgelaufen. Ich
sage Ihnen: Die müssen wir wieder auflegen; andernfalls
haben die Kommunen keine Chance, ein eigener Wirtschaftsfaktor zu werden, der Arbeitsplätze schaffen
kann.
({5})
Ich beziehe das im Übrigen nicht nur auf die neuen
Bundesländer. Vielmehr werden Sie auch in den struk-
turschwachen Regionen Westdeutschlands eine Investi-
tionspauschale für die Kommunen benötigen, damit
a) eine Kommunalwahl Sinn macht und b) in den strukturschwachen Gegenden auf dem Arbeitsmarkt endlich
wieder eine bessere Situation herrscht.
({6})
Natürlich kommen viele andere Dinge hinzu. Wann
endlich fördern wir wirklich die Existenzgründerinnen
und Existenzgründer gerade in den neuen Bundesländern? Es wird viel von kleinen und mittelständischen
Unternehmen gesprochen. Schauen Sie sich einmal deren Schicksal in den neuen Bundesländern an: Die Zahl
der Pleiten erhöht sich von Jahr zu Jahr, natürlich auch
die Zahl neuer Versuche. Machen wir doch daraus endlich einmal erfolgreiche Versuche, indem wir kleine und
mittelständische Unternehmen direkt fördern, damit sie
dann auch wirklich wirtschaften können und Arbeitsplätze gesichert werden bzw. neu entstehen.
({7})
Mit dem Gerede muss endlich Schluss sein; es muss
nun gehandelt werden. Angesichts dessen, dass angekündigt worden ist, dass die Entwicklung in Ostdeutschland Chefsache ist, wundere ich mich natürlich, dass die
Bundesregierung bei einer Sache, die sie mit Priorität
versehen wollte, bei dieser Debatte so gut wie überhaupt
nicht vertreten ist. Davon ist offensichtlich jetzt keine
Rede mehr.
({8})
Natürlich geht es auch um soziale Fragen. In diesem
Zusammenhang gibt es ja immer zwei Komponenten.
Die eine Komponente ist: Je schwächer die Kaufkraft in
Ostdeutschland ist, desto verhaltener ist die Wirtschaftsentwicklung. Die andere Komponente ist: Es handelt
sich dabei um eine Gerechtigkeitsfrage. Die Lösung der
sozialen Fragen kann man nicht auf den SanktNimmerleins-Tag verschieben. Herr Riester will die
Renten ungefähr im Jahre 2030 angleichen. Ganze Generationen von Rentnerinnen und Rentnern sind verstorben, bevor das zur Wahrheit wird.
Abgesehen davon könnte man sich über niedrigere
Renten, Löhne, Gehälter und Sozialleistungen doch nur
unter einer Bedingung verständigen, nämlich unter der
Bedingung, dass auch die Preise niedriger sind. Sie können doch nicht zulassen, dass das Preisniveau in Ostdeutschland 100 bis 110 Prozent desjenigen im Westen
beträgt, wenn Sie die Löhne, Gehälter, Sozialleistungen
und Renten auf einem wesentlich niedrigeren Niveau belassen. Das ist einfach nicht hinnehmbar und nicht mehr
nachvollziehbar.
({9})
Die Bundesregierung könnte hier vorangehen, indem
sie bei den Beamten endlich einmal eine gleiche Entlohnung vornimmt. Dann könnte man im gesamten öffentlichen Dienst eine Angleichung durchsetzen. Das würde
sich dann schrittweise auf die Privatwirtschaft auswirken. Im industriellen Gewerbe liegen die Löhne in Ostdeutschland im Vergleich zu den Löhnen in Westdeutschland bei 65 Prozent. Sie müssen wissen, dass
selbst der Haustarif in den neuen Bundesländern eine
Ausnahme ist. Das heißt, die westdeutsche Tarifvertragsstruktur gilt in den neuen Bundesländern noch
nicht. Das ist, wie ich finde, nicht länger hinnehmbar.
Ich erwarte nicht - um das hier ganz deutlich zu sagen - eine Überforderung dergestalt, dass die Bundesregierung sagt, ab 1. Mai dieses Jahres - das wäre natürlich ein besonders geeigneter Tag - wird eine Angleichung durchgeführt.
({10})
- Nein, ich habe extra den 1. Mai genannt. Sie haben
andere Daten als ich im Kopf. Sie sollten einmal darüber
nachdenken, woher das kommt.
Ich spreche darüber aus einem ganz bestimmten
Grund, und zwar deswegen, weil wir einen Fahrplan erwarten. Sie müssen den Menschen wenigstens sagen, in
welchen Schritten und in welchen Fristen eine Angleichung erfolgen soll, damit sie eine Perspektive haben. Sie dürfen die Antwort auf diese Frage nicht permanent verweigern, wie das in den letzten Jahren der
Fall war und auch gegenwärtig der Fall ist.
({11})
Auch zum Aufbau von Wissenschaft, Bildung und
Kultur ließe sich eine Menge sagen. Denn solange dieser Bereich in Ostdeutschland mit Nachteilen versehen
ist, ist auch eine Perspektive nicht gesichert. Ich möchte,
dass das Abitur in den neuen Bundesländern endlich den
gleichen Wert hat wie das Abitur in den alten Bundesländern. Ich möchte, dass wir das vorhandene Wissenschafts- und Forschungspotenzial anders nutzen.
({12})
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf eine andere
Gruppe zu sprechen kommen: Es gibt in Ostdeutschland
tatsächlich Verlierer. Das sind die Frauen. Die Arbeitslosigkeit ist bei ihnen am höchsten. Ihr Entgelt ist am
geringsten. Sie sind zu einem großen Teil aus dem Erwerbsleben und damit aus dem gesellschaftlichen Leben,
wie es sich heute darstellt, verdrängt worden. Keine Ihrer Antworten bietet eine Aussicht darauf, wie Sie diese
spezifische Problematik angehen wollen.
Ich sage Ihnen: Ohne einen öffentlich geförderten
Beschäftigungssektor, -
Herr Kollege Gysi,
denken Sie an Ihre Redezeit!
- ohne Arbeitszeitverkürzungen und ohne spezifische Programme für Frauen
werden Sie dieses Problem nicht lösen können. Das ist
mit Ihre Aufgabe, aber auch eine Aufgabe für uns alle,
wenn wir denn die deutsche Einheit wieder herstellen
wollen.
Die Antworten waren sehr dürftig. Ich hoffe, dass wir
hier im Laufe der Beratung noch deutlich weiterkommen.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Dr. Mathias Schubert, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Zwischen der Veröffentlichung zweier Bilanzen zum Aufbauwerk in Ostdeutschland mit Daten, Fakten und Perspektiven - einerseits der Bericht zum Stand der Deutschen Einheit, andererseits der Gegenstand dieser Debatte, nämlich die
Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der
PDS - liegen gerade einmal vier Monate und erneut
könnte die Interpretation ihrer Inhalte und der daraus resultierenden Forderungen und Appelle an die BundesDr. Gregor Gysi
regierung kaum unterschiedlicher ausfallen. Das haben
wir auch nicht anders erwartet.
Die vorliegenden Entschließungsanträge von PDS
und Unionsfraktion sind leider nachhaltiger Beleg dafür,
wie sehr der Blick durch die parteipolitische Brille oder
ein erstaunliches, offenbar ideologisch motiviertes Rollback zur selektiven Wahrnehmung beitragen.
({0})
Da wird unter Berufung auf soziologische, ökonomische
oder haushaltstechnische Daten die Lebenswirklichkeit
nicht erkannt, der erreichte Stand beim Aufbau Ost entweder verharmlosend schöngeredet oder dramatisch negativ verzerrt. Da werden uneingestandene eigene Fehler
und Versäumnisse nach fast einem Jahrzehnt verantwortlichen Regierungshandelns für den Osten der neuen
Bundesregierung untergeschoben, mit scheinbar plakativen Forderungen an die rot-grüne Koalition, die im Übrigen längst Bestandteil unserer Politik sind. Nur ist unsere Politik einfach sinnvoller, effizienter und erfolgsorientierter angelegt.
({1})
- Da haben Sie Recht.
Es war schon eine respektable PR-Leistung, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Union, wie Sie jahrelang
mit schöngefärbten Illusionen verführten und in Ost und
West erfolgreich Politik verkaufen konnten - nach dem
Motto: Es werden weder Opfer, geschweige denn Steuererhöhungen nötig sein; allein durch die wundersamen
Kräfte des Marktes entstünden die blühenden Landschaften. Dass sich Menschen nicht auf Dauer durch
vollmundige Versprechungen narren lassen, haben Sie
dann im September 1998 zu spüren bekommen.
Auch heute haben Sie wieder scheinbar griffige Erklärungen parat, mit denen zugleich die Schuldigen für
manche Defizite in den ostdeutschen Ländern ausgemacht werden: natürlich die neue Bundesregierung wer auch sonst? -, die dieses und jenes womöglich nicht
einfach aus der Westentasche bezahlen kann und auch
nicht will. Begreifen Sie endlich: Ein Staat kann mittelfristig nicht ständig mehr ausgeben, als er einnimmt!
Noch eine Bemerkung zu dem Entschließungsantrag
der CDU/CSU: Wenn man die erste Seite liest, hat
man - insbesondere bei dem zweiten Absatz - den Eindruck, dass sich die Erfolgsmeldungen bezogen auf den
Aufbau Ost bis 1998 nur so gehäuft haben. Das führt
den Leser zu der Vermutung, beim Aufbau Ost seien nur
noch Restarbeiten zu erledigen. Liest man aber auf der
zweiten Seite weiter, so stößt man auf fundamentale politische Forderungen, woraufhin sich der Leser natürlich
fragen muss: Was ist denn nun richtig? Gab es einen so
großen Erfolg, dass nur noch Restarbeiten zu erledigen
sind? Oder gab es keinen Erfolg, sodass weiterhin fundamentale politische Forderungen gestellt werden müssen? Mit diesem Widerspruch führen Sie im Grunde sich
selbst ad absurdum. Sie können nur politisch konstruktiv
werden, nachdem Sie entschieden haben, wie Sie Ihre
Politik nach Ihrer Niederlage im Jahr 1998 konsistent
weiterführen können, ohne dass das, was Sie damals getan haben, unglaubhaft wird.
({2})
Nun ist das aber noch nicht alles. Die PDS hat noch
abenteuerlichere Einsichten, die sie zum Besten gibt,
wie sich in der nüchternen Bilanz der Antwort der Bundesregierung auf ihre Große Anfrage zeigt. „Back to the
roots“ heißt die Botschaft dieser antikapitalistischen
Epistel in ihrem Entschließungsantrag - und das ist eher
noch zurückhaltend formuliert.
({3})
Die Architektur Ihrer utopischen postsozialistischen
Traumschlösser einschließlich der Wiedereinführung
von längst vergessen geglaubten Zehnjahresplänen samt
Planwirtschaft
({4})
- deshalb, lieber Herr Kollege Gysi, habe ich vorhin
vom 7. Oktober und nicht vom 1. Mai gesprochen - ist
ein Rückschritt, den ich von Ihnen - wenn ich das so sagen darf - nicht mehr erwartet hätte. Das hat sicherlich
auch mit Ihrer innerparteilichen Identitätskrise und dem
nahenden Parteitag zu tun. Da macht es sich natürlich
gut, wenn die „Zurückdrängung von Kapitaldominanz“
- wie Sie es ausdrücken - und die sichtbare inhaltliche
Annäherung an Positionen Ihrer marxistischen Plattform
die Reihen zu schließen versuchen.
({5})
Aber hinsichtlich der ostdeutschen Belange outen Sie
sich als das konservativste politische Element und
überholen damit die rechte Seite dieses Hauses.
({6})
Sie sind - wenn Sie das nicht lernen, kommen Sie zunehmend mehr in große Schwierigkeiten - nicht die einzige und schon gar nicht die genuine Partei oder Fraktion, die Ostinteressen vertritt. Sie sind nur die einzige
Partei, die von Ost-West-Gegensätzen, tatsächlichen
oder scheinbaren, lebt und die Ostdeutschen gern in
vormundschaftliche sozialistische Staatlichkeit zurückführen will.
({7})
Aber wenn natürlich die Chance, in der Bundesrepublik beim Wort genommen zu werden, gleich Null ist,
fällt - was ich auch verstehe - ungenierter Populismus
relativ leicht. Diese Bundesrepublik ist eben keine Inkarnation des bösen Kapitalismus. Sie ist bei allen unbestrittenen Problemen, die es natürlich gibt, ein gelungener Mix aus rechtsstaatlich demokratischer Grundordnung, sozialer Marktwirtschaft und einem breit gefächerten System sozialer Sicherheit. Solange
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in diesem
Land regieren - das wird noch einen Augenblick dauern,
liebe Genossinnen und Genossen -, wird diese
Mischung auch Bestand haben.
({8})
Meine Damen und Herren, schon bei der Debatte zum
Stand der deutschen Einheit im November vergangenen
Jahres haben die sozialdemokratische Bundestagsfraktion und mit ihr natürlich der Koalitionspartner der Bundesregierung für die realistische Bestandsaufnahme gedankt. Dies gilt uneingeschränkt auch für die sorgfältig
erarbeitete, durch nüchterne Fakten unterlegte Antwort
auf die Große Anfrage der PDS. Der Dank ist insbesondere an Sie, Herr Staatsminister Schwanitz, gerichtet.
Negative Aspekte der ostdeutschen Realität werden dabei nicht ausgeblendet. Natürlich - das wissen wir alle steht Erfolg neben Misserfolg, lässt sich kein einheitliches Urteil über die ostdeutschen Transformationsprozesse aus dieser Momentaufnahme der Antwort auf die
Große Anfrage herausfiltern. Denn in den letzten zehn
Jahren ist aus industriellen Ruinen eine ökonomische
Landschaft voller Kontraste entstanden, eine Landschaft
aus Wachstumszentren und Problemregionen, alles in allem eine bunt gescheckte Landschaft.
Der Osten ist weder generell rückständig noch hat er
den Westen generell überholt. Insofern war es Zeit für
eine realistische Bestandsaufnahme als objektive
Grundlage für zukünftiges politisches Handeln. Das gilt
für die Arbeitsmarkt- und Forschungspolitik, für das
Nachdenken über zukünftige Förderinstrumente, ins
besondere in der Wirtschaft, und für den Weiterbau der
Infrastruktur einem richtigen und erfolgsorientierten Weg
Vielen herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat nun
der Kollege Klaus Brähmig, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte über
die Große Anfrage der PDS zur Entwicklung und zur Situation in Ostdeutschland gilt sicher als Vorspeise auf
die morgige Sonderveranstaltung des Deutschen Bundestages zum 10. Jahrestag der ersten freien Wahlen
zur Volkskammer in der DDR. Diese Vorspeise lassen
wir uns als Unionsfraktion von den Mitgliedern der
PDS-Fraktion sicherlich nicht versalzen.
({0})
Am heutigen Tag muss nicht nur an die zehn Jahre der
Entwicklung in Deutschland seit dem Fall der Todesgrenze gedacht werden, sondern auch den Frauen und
Männern der ersten frei gewählten Volkskammer gedankt werden, die mit ihrem Engagement die Einheit unseres Vaterlandes vorangetrieben haben. Durch ihren
Einsatz wurde möglich, was viele nicht mehr für möglich gehalten hätten.
Wenn man hier in Berlin ostdeutsche Schülerklassen
sieht, die ganz unbefangen und wie selbstverständlich
durch das Brandenburger Tor gehen, dann wird mir immer wieder deutlich, dass die ältere Generation der Ostdeutschen die Aufgabe hat, die Erinnerung daran wach
zu halten, wie es in der ehemaligen DDR wirklich war.
Man muss sich immer wieder die Frage stellen: Was
wäre aus dem Land, der Umwelt, den Betrieben, der Infrastruktur, den Städten, Krankenhäusern, Kirchen und
Menschen geworden, wenn die deutsche Einheit nicht
gekommen wäre?
({1})
Die Gestaltung der deutschen Einheit war und ist unteilbar mit der Regierungskoalition unter der weitsichtigen
Führung von Bundeskanzler Helmut Kohl verbunden,
dem auch heute noch mein Dank für seine politische Lebensleistung gilt.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der erste
Satz der Großen Anfrage der PDS sticht sofort ins Auge:
Mit Blick auf den bereits am Horizont sichtbaren
zehnten Jahrestag der staatlichen Vereinigung
Deutschlands ist es Zeit, Bilanz zu ziehen.
Dem kann man nur zustimmen. Allerdings dürfen wir
bei der Bilanz zum Stand der deutschen Einheit nicht die
katastrophale Abschlussbilanz für die Zeit von 1949 bis
1989 aus dem Auge verlieren.
({3})
Denn nur dann gelingt es, eine ehrliche und faire Behandlung aller im Zusammenhang stehenden Sachverhalte der Innen- und Außenpolitik vorzunehmen.
Die PDS selektiert in ihrer Anfrage nur die politischen Bereiche, die ihre ideologische Ausrichtung unterstützen. Es wäre doch sehr interessant, darüber zu diskutieren, welche Auswirkungen 40 Jahre SED-Diktatur auf
das Land und die Menschen gehabt haben.
Warum lauten Ihre Fragen nicht: Wie viele Menschen
wurde auf dem Weg in die Freiheit erschossen oder in
Zuchthäusern der SED-Diktatur diszipliniert?
({4})
Wie viele Betriebe sind verstaatlicht worden, ihre Eigentümer womöglich des Landes vertrieben? Wie viele
Menschen wurden im Namen des Sozialismus um die
Früchte ihrer ehrlichen Arbeit gebracht und um die
Träume und Sehnsüchte ihrer Lebensplanung betrogen?
Welche Wirkung haben die Zerschlagung des freien Unternehmertums sowie das Verbot, privates Vermögen
aufzubauen, und die damit verbundene Eigenkapitalschwäche, die für die Bemühungen der Privatisierung an
ostdeutsche Bürger nach 1989 entscheidend war?
({5})
Wie waren die Lebenserwartung der Bevölkerung und
der Zustand des Gesundheitswesens? Wie groß war die
ökologische Vergewaltigung der Flüsse, Wälder, der
Luft und des Bodens von Rügen bis zum Fichtelberg?
({6})
Ich glaube, bei einer ernsthaften und ehrlichen Bilanz
kämen schnell 1000 wirklich sinnhafte Fragen zustande.
Am Beispiel der Sanierung des Wismut-Bergbaus
in Thüringen und Sachsen lässt sich diese positive Entwicklung der letzten zehn Jahre eindrucksvoll nachvollziehen. Mehrere Milliarden DM wurden in den vergangenen Jahren investiert. Allein in meinem Wahlkreis bei
Königstein wurden seit 1991 rund 1 Milliarde DM für
die Sanierung bereitgestellt. Von der Wirkung dieses
Geldes sieht man allerdings nicht viel, denn es wurde
unter Tage für die Verbesserung und Absicherung des
Grundwasserhaushaltes für den oberelbischen Raum
eingesetzt.
Ich frage Sie: Was hätten wir mit diesen Steuergeldern alles an anderer Stelle ausrichten können, zum Beispiel im Schulwesen, in Kindergärten und Jugendeinrichtungen, bei der Städtebausanierung, zugunsten von
Kläranlagen, Sportplätzen und Kultur? Das Geld konnte
doch nur einmal eingesetzt werden, und in den ersten
Jahren musste es eben schwerpunktmäßig in die Altlastensanierung der SED-Diktatur investiert werden.
({7})
Nein, meine Damen und Herren, eine solche Politik,
wie sie in der Großen Anfrage der PDS und Ihrem Entschließungsantrag deutlich wird, dürfen wir hier im
Deutschen Bundestag nicht durchgehen lassen. Sie ist
geprägt von Miesmacherei, Verklärung, Verbreitung von
Halbwahrheiten und Verdrängung der eigenen Verantwortung für die SED-Hinterlassenschaft. Sie ist eine
Hypothek, die es auch in den nächsten Jahren in Bund,
Ländern und Gemeinden abzutragen gilt.
Kurt Biedenkopf sprach schon 1991 davon, dass der
Aufholprozess etwa 20 Jahre dauern, große finanzielle
Anstrengungen unserem gesamten Volk abverlangen
und der Bevölkerung der mitteldeutschen Länder große
Belastungen und Opferbereitschaft auferlegen würde.
Genau diesen Prozess gilt es seitens der Politik zu begleiten. Es gilt, den Menschen, die in Verantwortung
stehen, Mut zu machen, und zu helfen, wo persönliche
Betroffenheit und krisenhafte Situationen entstanden
sind.
Meine Damen und Herren, der Weg ist richtig und alternativlos. Wir haben noch eine gute Strecke vor uns;
denn eine 40- bis 50-jährige unterschiedliche Entwicklung lässt sich nicht in zehn Jahren auf allen Gebieten
ausgleichen. Dabei darf nicht verkannt werden, dass sich
beim Einigungsprozess auch Fehlentwicklungen ergeben
haben. Diese sind bereits erkannt und werden dort, wo
es möglich ist, korrigiert.
In Ost und West ist es gerade jetzt notwendig, für gegenseitiges Verständnis und Vertrauen zu werben.
Vor einiger Zeit las ich in einer Emnid-Umfrage, dass
schon etwa 93 Prozent der Ostdeutschen zumindest einmal dienstlich, privat oder touristisch in den westlichen
Bundesländern waren. Umgekehrt liegt die Zahl erst etwa bei circa 50 Prozent. Fast 30 Millionen unserer westdeutschen Mitbürger haben sich also bisher wenig bzw.
gar nicht persönlich mit dieser nationalen Aufgabe vertraut gemacht. Ihre Informationen beziehen sie aus den
Medien, die leider häufig selektiv und oberflächlich berichten. Einmal gesehen ist besser als hundertmal gehört.
Gerade die touristische Entwicklung in den neuen
Bundesländern ist eine einzigartige Erfolgsstory, die
auch in Zukunft noch über große Potenziale verfügt. Für
die Entwicklung der ländlichen Räume und die Zurückführung der Frauenarbeitslosigkeit bergen der Tourismus und der Dienstleistungsbereich in den neuen Bundesländern enorme Reserven.
({8})
Zur Verkehrsinfrastruktur ist festzustellen, dass wir
1991 ein Infrastrukturnetz vorgefunden haben, das in
den letzten 50 Jahren nur sehr dürftig instand gehalten
wurde. Dass dieser Bereich nicht über Nacht in Ordnung
gebracht werden kann, dürfte sogar Ihnen von der PDS
einleuchten.
({9})
Dennoch sind seit 1990 mehr als 76 Milliarden DM in
Sicherheit, Modernisierung, Erweiterung und den Neubau der Verkehrsinfrastruktur geflossen.
Im Entschließungsantrag fordert die PDS mehr Investitionen im Verkehrsbereich. Gleichzeitig lehnen ihre
Abgeordneten aber wichtige Verkehrsprojekte ab, wie
beispielsweise den Bau der A 17 in Sachsen oder das
Zukunftsprojekt Transrapid zwischen Berlin und Hamburg.
({10})
Auch hier zeigt sich die verlogene Politik der PDS. Einen konstruktiven und ganzheitlichen Politikansatz kann
man bei der PDS auch zehn Jahre nach der deutschen
Einheit weiterhin nicht erkennen.
Dennoch möchte ich einen Appell an die rot-grüne
Bundesregierung richten: Kommen Sie ohne Wenn und
Aber auf den Pfad der Investitionen zurück. Beenden Sie
Ihre Sparpolitik im Verkehrsbereich der mitteldeutschen
Länder! Diese eignen sich nicht zum Sparschwein der
Nation.
({11})
Die schnelle Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur ist
wirkliche Zukunftspolitik für Ostdeutschland, Deutschland und Europa.
Zur weiteren Bilanz der letzten zehn Jahre gehört
auch der Bereich des Gesundheitswesens. Kureinrichtungen, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Behinderten- und Sozialstationen sind durch gewaltige Investitionen in kurzer Zeit auf den Stand gebracht worden, der
manchmal sogar über den westlichen Standards liegt.
Den PDS-Antragstellern rate ich: Besuchen Sie diese
Einrichtungen. Setzen Sie die Brille der Ideologie und
Propaganda ab und die Brille der Realität auf! Dann sind
wir bereit, mit Ihnen ernsthaft über diese Themen zu
diskutieren.
Der vorliegende Entschließungsantrag der CDU/
CSU-Fraktion ist ein nachhaltiger und konstruktiver
Beitrag, den Aufbau Ost voranzutreiben. Dieser muss
wie bis September 1998 wieder ernsthaft zur Chefsache
gemacht werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Der Kollege Werner
Schulz von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sei-
nen Redebeitrag zu Protokoll gegeben.*) Damit erteile
ich dem Kollegen Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion, das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir begehen
morgen den zehnten Jahrestag der ersten freien Wahlen
zur Volkskammer der DDR. Ich meine schon, dass dies
ein guter Anlass ist, einmal eine Generalinventur zu machen und natürlich auch den Blick nach vorn zu richten.
Wie weit sind wir beim Aufbau Ost gekommen? Wo
liegen die Erfolge? Wo liegen noch die Defizite?
Die PDS hat dazu eine Große - vor allen Dingen aber
auch eine lange - Anfrage gestellt. Die Konsequenzen,
die sie daraus ableitend in ihrem Entschließungsantrag
fordert, können wir allerdings nicht nachvollziehen. Die
F.D.P. lehnt den Antrag deshalb ab - nicht weil er von
der PDS kommt, sondern weil wir nicht zur Planwirtschaft zurückkehren wollen. Dieser Feldversuch ist bekanntlich gescheitert.
({0})
Die klagende PDS-Feststellung, die SPD setze auf die
bereits unter der Kohl-Regierung gescheiterte Politik,
über den Marktmechanismus zum Erfolg kommen zu
wollen, ist falsch. Wenn die Bundesregierung doch nur
auf den Mechanismus des Marktes setzen würde, dann
hätte sie nämlich längst strukturelle Veränderungen voranbringen und die entsprechenden Rahmenbedingungen
für mehr Wachstum und Beschäftigung schaffen müssen, wie das zum Beispiel Holland und Schweden erfolgreich getan haben.
Die F.D.P. jedenfalls will zurück zu einer wirklich
konsequenten sozialen Marktwirtschaft, denn wir haben
schon eine halbe Planwirtschaft. Das ist so.
Was heißt soziale Marktwirtschaft? - Das bedeutet fairen Wettbewerb. Dazu gehören auch gleiche Startchancen. Wenn jemand wie die neuen Bundesländer eine
schlechte Ausgangsbasis hat, ist es nur fair, dass man
ihm einen vollen Ausgleich gewährt und nicht bei der
Hälfte aufhört.
({1})
Aber statt eine Nettoentlastung zu gewähren, die schon
zu unserer Zeit überfällig war - das muss man fairerwei-
se sagen -, hat die rot-grüne Regierung das Handwerk
______
*) Anlage 5
und den Mittelstand mit dem so genannten Steuerentlastungsgesetz zusätzlich belastet.
({2})
Natürlich tut das den ostdeutschen Betrieben, die nur
über geringes Eigenkapital verfügen, besonders weh.
Das so genannte Ökosteuergesetz hat eine ähnliche
Wirkung. Höhere Spritpreise sollen dafür sorgen, dass
weniger gefahren wird. Das ist völlig realitätsfremd. Die
meisten Autofahrer sind auf ihr Auto angewiesen, um
zur Arbeit zu kommen oder um Kunden zu besuchen.
Das gilt in verstärktem Maße für die neuen Bundesländer mit ihren zahlreichen leider noch notwendigen
Westpendlern. Auch die Transportunternehmen sind in
Gefahr. Die Nachteile, die sie gegenüber ihren ausländischen Konkurrenten haben, verschärfen sich durch die
Ökosteuer deutlich.
({3})
Wenn der Gewinn gegen null geht und man wie die ostdeutschen Spediteure über wenig Kapital verfügt, kann
man beim besten Willen nicht mehr in eine umweltfreundliche Fahrzeugtechnik investieren. Sie haben sicherlich auch die Briefe erhalten; das ist nachgerechnet
worden.
Die geplante Unternehmensteuerreform ist ebenfalls für den noch nicht stabilisierten Mittelstand in Ostdeutschland eine besondere Härte. Statt die kleinen und
mittleren Betriebe, also diejenigen, die die Arbeitsplätze
bringen, zuerst zu entlasten, können ausgerechnet die
großen ab 2001 mit einer Senkung der Körperschaftsteuer auf 37 Prozent rechnen. Der Spitzensteuersatz der
Einkommensteuer für Personengesellschaften, also die
kleinen und mittleren Unternehmen, soll nur auf
45 Prozent sinken, und das erst ab 2005. Wir brauchen
jetzt Arbeitsplätze.
({4})
Das Argument, man könne für die Körperschaftsteuer
„optieren“ - was das schon für ein Wort ist! -, können
Sie vergessen. Heißer Tipp: Nehmen Sie unser Steuergesetz! Oskar passt ja nicht mehr auf, Oskar Lafontaine
ist ja weg.
({5})
Weil wir gerade bei F.D.P.-Modellen und Hilfe für
Benachteiligte sind: Damit der Aufbau Ost den neuen
notwendigen Schub erhält, prüfen Sie doch einmal unseren alten, trotzdem noch richtigen Vorschlag einer Niedrigsteuer für benachteiligte Regionen, wenn Sie sie
schon nicht in ganz Deutschland einführen.
({6})
Um bei den strukturschwachen Regionen zu bleiben,
was unser gemeinsames Hauptproblem ist: Der InnoRegio-Wettbewerb war eine gute Idee von Ihnen. Das ist
so. Hier möchte ich nur dringend darum bitten, dass
auch diejenigen, die nicht zu den Wettbewerbssiegern
gehört haben, noch eine Chance bekommen.
Da wir bei neuen Wegen sind, komme ich zum
Bündnis für Arbeit: Warum baut man hier von vornherein unsinnige Tabus auf? Es ist doch ganz klar, dass
hierbei die Lohnentwicklung und die Lehrlingsentgelte
nicht ausgeblendet werden können, denn wichtig ist,
dass diese Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze entstehen. Warum, Herr Staatsminister Schwanitz, sprechen
Sie nicht in der Arbeitsgruppe Aufbau Ost über Öffnungsklauseln in Tarifverträgen? Wir brauchen eindeutig Betriebsvereinbarungen, um Arbeitsplätze zu schaffen und zu erhalten.
({7})
Noch etwas muss ich fragen: Wo bleibt das Stabilisierungskonzept für den ostdeutschen Braunkohleverstromer Veag? - Ist der Wirtschaftsminister da? - Nein. Die
Bundesregierung hat die Moderatorenrolle übernommen.
Jetzt kann sie den Prozess nicht einfach so laufen lassen.
Das wäre der sichere Tod der Veag, die an sich gute
Chancen hat, ein guter Wettbewerber zu werden, wenn
sie denn die Durststrecke von fünf Jahren übersteht.
Es muss beim Ausbau Ost endlich gehandelt werden.
Das heißt, die Bundesregierung braucht nur ihre Versprechungen einzuhalten und wahr zu machen.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile Kollegen
Dr. Peter Eckardt, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Schwanitz muss ja
nicht zu allem reden.
Die Große Anfrage der PDS wird von manchen missbraucht, um auf die Sächsische Schweiz hinzuweisen
oder über die Ökosteuer zu meckern. Ich versuche mich
auf die Große Anfrage zu konzentrieren.
Ich habe Verständnis, dass die PDS-Kolleginnen und
-Kollegen versuchen, sich als alleinige Vertreterinnen
und Vertreter Ostdeutschlands zu definieren
({0})
und sich über die Vertretung vermuteter Interessen der
Bürgerinnen und Bürger der neuen Länder öffentlich
darzustellen.
Der Text der Großen Anfrage zeigt aber: Es geht der
PDS offensichtlich ausschließlich um die eigene Profilierung und nicht um den ernsthaften Versuch, die in der
Tat vorhandenen Probleme der neuen Länder zu bewältigen.
({1})
Zu den 133 Fragen der Großen Anfrage „Zur Entwicklung und zur Situation in Ostdeutschland“ hat die PDS
schon die Antworten bereit, noch ehe sie von der Regierung überhaupt beantwortet wurden.
Die Einschätzung der Fragesteller der Großen Anfrage scheint klar zu sein: Die ehemalige DDR sei ein Land
mit hoher sozialer Sicherheit gewesen.
({2})
- An dieser Stelle habe ich eigentlich Beifall von der
PDS erwartet. Ihren Bürgern seien ab 1990 altbundesdeutsche Strukturen übergestülpt worden. Danach sei es
im Osten wesentlich schlechter geworden. Persönliche
Freiheiten, ein reichhaltiges Warenangebot und Reisemöglichkeiten gebe es zwar jetzt, dafür sei aber eine eigenständige wirtschaftliche und soziale Erneuerung
Ostdeutschlands verhindert worden. Mein Gedächtnis
täuscht mich nicht: Gerade diese Entwicklung hat die
Mehrheit der Bevölkerung in der ehemaligen DDR Ende
der 80er-Jahre im Gegensatz zur PDS gewollt. Dort war
damals weder eine wirtschaftliche und soziale Basis
noch eine Mehrheit für die von der PDS in der Anfrage
gewünschten Experimente zu finden.
Auch mit Zehnjahresprogrammen zur Förderung von
Arbeit und Ausbildung lässt sich das Tempo der Veränderungen im Jahr 2000 nicht mehr erreichen. Sie würde
zwar Unverbesserlichen Sicherheit vorgaukeln, aber
keine konkreten Erfolge erzielen. Dazu passt natürlich
auch die Ideologie dieser Großen Anfrage, wenn die
PDS die Politik der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung von
1990 bis 1998 mit den ehrlichen Bemühungen der neuen
Regierung, in der Entwicklung der neuen Länder Illusionen und Fehler der Vergangenheit zu vermeiden, politisch gleichsetzt.
Wer die Bemühungen von Rolf Schwanitz seit 1998
verfolgt hat, muss feststellen: Im Kanzleramt wird jetzt
endlich weniger Public Relations und mehr konkrete
Arbeit
({3})
- da kann man nur lachen? - mithilfe besserer Analysen
und wirkungsvollerer Programme gemacht.
({4})
Diese politischen Aktivitäten werden den weiteren wirtschaftlichen Aufbau stabilisieren und den weiteren Erfolg sicherstellen.
Die Entwicklung in Ostdeutschland ist noch nicht am
Ziel angekommen; denn die neuen Länder sind nicht
homogen entwickelt, wenn man zum Beispiel die
Grenzgebiete zu Polen und Tschechien mit den ehemaligen Grenzgebieten zur alten Bundesrepublik vergleicht.
Es gibt auch keine homogene wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Ländern und keine einheitliche Gesellschaft. Sie hat es auch vor 1990 nicht gegeben. Aber
die Hierarchien haben sich im Gegensatz zur PDSMeinung nach 1990 eher abgeflacht und gleichen immer
mehr der westdeutschen Struktur.
Ich habe als Abgeordneter von 1990 bis 1994, der
sein ganzes bisheriges Leben nahe an der innerdeutschen
Grenze gewohnt hat, als Bürger von 1994 bis 1998 und
jetzt wieder als Abgeordneter die Entwicklung in den
neuen Ländern zwar nicht von innen, aber aus der Nähe
gut beobachten können. Die Nähe zur ehemaligen Grenze ist für einen Westdeutschen ein guter Seismograph
für die Beurteilung der deutschen Befindlichkeit auf
beiden Seiten.
Als ich am 22. November 1989 zum ersten Mal im
heutigen Sachsen-Anhalt war, sah ich mit bloßem Auge:
In der ehemaligen DDR gab es nicht nur einige Fehlentwicklungen oder Verwerfungen; vielmehr war ihr
Fundament brüchig. Fast alles war zerstört und morsch.
Es mussten eben nicht nur Fenster ausgewechselt und
eine neue Heizungsanlagen installiert werden. In Quedlinburg gab es 1989 mehr Trümmer als zerstörte Häuser
im Jahre 1945 in anderen Kleinstädten. Die Zustände in
den Kasernen der NVA und der Westtruppen, in den
Feierabendheimen und in den Häusern zur Unterbringung von Behinderten waren für mich ein Schock mit
bleibender Wirkung.
Trotz berechtigter Kritik an Fehlern und Fehlentwicklungen in Ostdeutschland kann man aber 1999 feststellen:
Wenn ich heute über die ehemalige Grenze nach
Sachsen-Anhalt fahre, kann ich von dem Zerrbild, das
hinter den Fragen der Großen Anfrage steht, fast nichts
mehr sehen. Fortschritte halten sich mit Mängeln, die
ausschließlich vor der Wende - nicht nach der Wende entstanden sind, die Waage.
1990 gab es nach meiner festen Überzeugung keine
Basis für eine experimentelle gesellschaftliche Umorientierung, von der Westdeutschland hätte lernen können.
Die Feststellung der PDS, man müsse heute von einem
neoliberalen Offenbarungseid der westdeutschen Politik
sprechen, geht an den Erfolgen dieser Politik, die es
zweifellos gegeben hat, haarscharf vorbei.
({5})
Herr Kollege, ich
darf Sie einen Augenblick unterbrechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder von uns hat
einmal kurz vor einer namentlichen Abstimmung geredet. Das ist für den Redner sehr schwierig. Ich bitte um
ein bisschen Fairness. Hören Sie dem Redner zu! Er hat
etwas Interessantes oder - aus anderer Sicht - nicht Interessantes zu berichten. Ich bin der Auffassung, wir sollten zuhören, auch im Hinblick darauf, dass noch eine
weitere Kollegin sprechen wird. Ich bitte Sie herzlich
um ein bisschen Freundschaft gegenüber demjenigen,
der redet.
({0})
Herr Kollege, Sie haben das Wort.
Danke schön. Ich bitte,
das vor allem auf meine Kollegin Katherina Reiche, die
nach mir sprechen wird, auszudehnen.
({0})
- Ja, natürlich. Ich denke, eine Solidarität mit Personen
muss erlaubt sein. Diese kommt auch aus Überzeugung.
({1})
Lediglich fünf Fragen beschäftigen sich mit Bildung
und Wissenschaft als einem wichtigen Thema für die
neuen Länder. Im Gegensatz zu dem, was die Große Anfrage unterstellt, ist Tatsache: Die Dichte an Forschung
und Entwicklung ist in Ost und West gleich geworden,
die Wissenschaftler-Eingliederungs-Programme haben
bei den Leistungsbereiten ihren Zweck erfüllt, innovative Forschungsprojekte sind finanziell gut ausgestattet
und gerade diese Bundesregierung versucht, Frauen
stärker in Berufsausbildung und Wissenschaft einzubeziehen.
Fakt ist aber auch: Die Qualifizierung und Aufstiegschancen von Frauen sind landesweit leider unbefriedigend, nicht nur in Ostdeutschland. Ich vermisse jeden
Hinweis auf die erfolgreiche Arbeit von wissenschaftlichen Gesellschaften und anderen wissenschaftlichen Institutionen in Ostdeutschland. Ich vermisse auch einen
positiven Hinweis auf das Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit. Natürlich wären betriebliche Ausbildungsplätze besser, aber als Alternative bliebe nur der
Weg in die Arbeitslosigkeit.
Zusammengefasst: Eine eigenständige wirtschaftliche, soziale und politische Erneuerung Ostdeutschlands
wird es nur zusammen mit den alten Bundesländern geben. Und sie wird stattfinden, langsam und mit Geduld.
Wir werden daran arbeiten.
Danke schön.
({2})
Zum Abschluss der
Aussprache erteile ich der Kollegin Katherina Reiche
das Wort und wiederhole meine Bitte, ihr doch zuzuhören.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Anlass der heutigen Debatte
zur Situation in den neuen Ländern ist eine Große Anfrage der Fraktion der PDS. Der überwiegende Teil der
Debatte beschäftigt sich mit der Antwort der Bundesregierung. Diese Antwort ist überwiegend zutreffend, aber
eine emotionslose Beschreibung der Situation. Es entsteht der Eindruck, dass der Erfolg des Aufbau Ost in
Metern verlegter Telefonleitungen zu messen sei.
Bei aller notwendigen Diskussion über die Antwort
der Bundesregierung - wir haben dazu auch einen Entschließungsantrag eingebracht - dürfen die Fragen der
PDS, ihre Formulierungen und die darin enthaltenen
Tendenzen heute nicht unerwähnt bleiben. Die PDS hat
versucht, die Große Anfrage auf fast alle Lebensbereiche der neuen Länder auszurichten. Die PDS hat in der
Tat eine große Detailfreude an den Tag gelegt. Mir fallen aber auch die bewussten Auslassungen und Verkürzungen auf.
Welche Fragen hat die PDS nicht gestellt? Meine
Damen und Herren von der PDS: Wo ist Ihre Frage nach
dem Zustand der historisch wertvollen Stadtteile von
Potsdam oder Görlitz, die dem Verfall preisgegeben waren?
({0})
Wo ist Ihre Frage nach der Lebenssituation der älteren
Generation und nach deren so erheblich verbesserter
wirtschaftlicher Lage? Wo ist die Frage nach der heutigen Situation der Kriegsopfer und Kriegswitwen, für die
es im DDR-Rentensystem nicht einmal Platz gab?
({1})
Ich vermisse Ihre Fragen zum Quantensprung in den sozialen Standards und in der Gesundheitsversorgung. Sie
hätten einmal nach der Anzahl der Dialyseautomaten
oder der medizinisch-technischer Geräte fragen sollen.
Warum haben Sie nicht nach der Entwicklung eines
ökologischen Bewusstseins in den neuen Ländern gefragt, da Umweltschutz in der DDR doch ein Tabuthema
war?
({2})
Meine Damen und Herren von der PDS, ich will Ihnen nicht unterstellen, dass Sie diese Fragen aus Vergesslichkeit nicht gestellt haben. Sie wollten sie nicht
stellen! Sie wollten die letzten zehn Jahre des Transformationsprozesses als einen großen Misserfolg darstellen, gepaart mit einem gebetsmühlenartig aufgebauten Mythos der Enteignung des ostdeutschen Volkseigentums. Dabei kann man ohne Übertreibung von einem
Transformationswunder sprechen. Sie wollen zehn Jahre
Ausbau und Aufbau der neuen Länder schlechter aussehen lassen, als sie es verdient haben. Warum machen Sie
das?
Erstens, weil dieses Schüren von Unzufriedenheit und
Zukunftsängsten ihr politisches Überleben sichert.
({3})
Zweitens, weil Ihren Chefideologen bis auf den heutigen
Tag der Systemwechsel vom Staatssozialismus zur sozialen Marktwirtschaft ein Dorn im Auge ist. Sie haben
dadurch nämlich Ihre Allmacht verloren.
({4})
Ich zitiere aus der Großen Anfrage der PDS:
Indem den neuen Bundesländern altbundesdeutsche
Strukturen übergestülpt wurden, gingen auch die
Möglichkeiten einer eigenständigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Erneuerung Ostdeutschlands verloren.
Diesen Satz muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Hier ist es wieder, das müde Klischee vom
westlichen Imperialismus, ja vom kapitalistischen Besatzer.
({5})
Was erhoffen Sie sich davon? Sie fördern damit eine
Survival-Mentalität gemäß dem Motto: Wir haben den
Sozialismusversuch überstanden, jetzt werden wir auch
den Kapitalismus überleben. So schaffen Sie gezielt Distanz zur Demokratie, wo Engagement und Partizipation
für eine bürgerliche Gesellschaft gefordert wären. Umso
verlogener finde ich deshalb die Krokodilstränen der
PDS, die sie in ihrer Anfrage über die mangelnde Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie in den neuen
Ländern vergießt. Sie schürt diese Attitüde und lebt von
ihr; das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren.
({6})
Ich hatte heute Morgen Besuch von einer Gruppe
amerikanischer Studenten, die kurz davor auch mit Vertretern der PDS zusammengekommen waren. Die PDSVertreter hatten sich den Studenten als „Partei des Ostens“ vorgestellt. Meine Damen und Herren von der
PDS, das sind Sie nicht.
({7})
Wenn dem so wäre, würden Sie nicht krampfhaft versuchen, durch das Aufsammeln versprengter K-Gruppler
und verschreckter Fundigrünen im Westen Fuß zu fassen.
({8})
Ihnen geht es darum, durch Ihr großes, aber schrumpfendes Potenzial im Osten Einfluss auf die Bundespolitik zu gewinnen. Gelänge Ihnen dies, bekämen wir, was
man in Ihrem heutigen Entschließungsantrag lesen kann:
eine Rückkehr zur Planwirtschaft, diesmal basierend auf
Zehnjahresplänen. Die Anknüpfung an sozialistische
Zeiten wird dort sogar noch deutlicher als bei der immer
wieder vom stellvertretenden Ministerpräsidenten von
Mecklenburg-Vorpommern, Herrn Holter, geforderten
„Systemopposition“.
Wenn ich die Qualität der Fragen und Antworten
der Großen Anfrage vergleiche, wird für mich offensichtlich, wer sich, wenn auch ungenügend, um den
Aufbau Ost bemüht und wer nur sein ideologisches
Spielchen treibt. Meine Damen und Herren von der
SPD, es ist mir deswegen unerklärlich, dass Sie in zwei
ostdeutschen Ländern mit der PDS kooperieren. Dies
bleibt für mich ein unerträglicher Zustand. Das haben
die Menschen in Sachsen-Anhalt und MecklenburgVorpommern nicht verdient.
({9})
Diese Zusammenarbeit belegt Ihre Unfähigkeit zu einer
grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der PDS. Sie
ist verwandtschaftlicher Anpassung gewichen.
Sicherlich ist bei der Betrachtung der wirtschaftlichen
Situation in den neuen Ländern ein Vergleich mit den
alten Ländern statthaft und konstruktiv. Das Bild von
der sich öffnenden Schere bei der wirtschaftlichen Entwicklung mahnt zum Handeln. Sorgen bereitet mir natürlich die dünne Kapitaldecke der meisten ostdeutschen
Unternehmen, die ein Reagieren bei kritischen SituatioKatherina Reiche
nen schwierig macht. Ich finde es auch unverständlich,
dass es zehn Jahre nach der Wende Produkte aus den
neuen Ländern immer noch schwer haben, auf die Listen
westdeutscher Handelsketten zu gelangen, obwohl sie
bezüglich Qualität und Preis der westdeutschen Konkurrenz nicht nachstehen. Ich weigere mich jedoch, den Erfolg der letzten zehn Jahre nur an westdeutschen Daten
zu messen.
Wir müssen uns einmal vor Augen führen, wie die
Menschen vor zehn Jahren in Ostdeutschland gelebt haben. Die Produktivität lag bei einem Drittel des Westniveaus, heute liegt sie bei rund 60 Prozent. Der Maschinenpark der Industrie war verschlissen, heute ist er moderner als im Westen. Über Telekommunikation und
Verkehrswege wurde bereits gesprochen. Ermutigend ist
auch der Vergleich mit den Staaten Osteuropas.
Kurz gesagt: Gemessen an der Ausgangslage ist der
Aufbauprozess in den neuen Ländern eine Erfolgsgeschichte ohne Beispiel. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass der immense wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale Umbruch, den die Menschen in den
neuen Ländern in den vergangenen Jahren erlebt und
auch gestaltet haben, ihnen bei den anstehenden Transformationsprozessen im Zusammenhang mit der Globalisierung durchaus hilfreich sein werden. Dies wird sich
in Zukunft als ein „Vorteil Ost“ erweisen.
Wir sind uns allen im Klaren, dass die Erfolgsgeschichte Aufbau Ost nicht ohne Probleme abgelaufen ist.
Es gab Fehlentwicklungen, Sackgassen und Umwege.
Eine orientalische Weisheit besagt: Der Weg entsteht
beim Gehen. Der Aufbau Ost wird auch in Zukunft noch
überraschende Entwicklungen parat haben. Die Politik
fährt deshalb am besten, wenn sie bestimmte Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie respektiert. Die Bundesregierung glaubt oft, diese aushebeln oder ungestraft ignorieren zu können. Der vergebliche Versuch, dies zu tun und
dabei letztlich immer wieder auf den Staat als ökonomischen Gestalter zurückzugreifen, hat die alte Bundesrepublik schon in den 70-er Jahren zurückgeworfen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich in der
Wirtschaftspolitik auf die Verbesserung der Rahmenbedingungen zu beschränken. Dazu gehört eine Steuerreform, die diesen Namen verdient und im Osten für neue
Impulse auf dem Arbeitsmarkt sorgt. Der Siebenpunkteplan unseres Antrages weist dafür den Weg. Stimmen
Sie für Ihn!
({10})
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/2930. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2921. Die Fraktion der PDS verlangt namentliche
Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne
die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen
Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
({0})
Die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich habe das von den Schriftführern und Schriftführe-
rinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-
mung über den Entschließungsantrag der PDS zur Gro-
ßen Anfrage zur Entwicklung und zur Situation in Ost-
deutschland auf Drucksache 14/2921 bekannt zu geben.
Abgegebene Stimmen 549. Mit Ja haben gestimmt 30,
mit Nein haben gestimmt 519, Enthaltungen keine.*) Die
Abstimmungsliste lag bei Redaktionsschluss noch nicht
vor. Sie wird als Ablage zum Stenographischen Bericht
der 94. Sitzung abgedruckt. Der Entschließungsantrag
ist abgelehnt.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 22. März 2000, 13 Uhr ein.
Morgen findet, wie Sie wissen, um 9 Uhr die Sonderveranstaltung des Deutschen Bundestages aus Anlass
des 10. Jahrestages der freien Wahlen zur Volkskammer
der DDR statt.
Die Sitzung ist geschlossen.