Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/24/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Die Sitzung ist eröffnet. Zunächst teile ich mit, dass der Kollege Ernst Schwanhold am 21. Februar auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat. Seine Nachfolgerin, die Abgeordnete Dr. Carola Reimann, hat am 22. Februar die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße die neue Kollegin herzlich. ({0}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Energiekonsensgespräche und Energiedialog vor dem Aus? ({1}) 2 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Umwelt und Gesundheit - Drucksache 14/2767 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({3}) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Zivildienstvertrauensmann-Gesetzes ({4}) - Drucksache 14/2698 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Jünger, Rosel Neuhäuser, Christina Schenk, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS: Ächtung der Gewalt in der Erziehung wirkungsvoll flankieren - Drucksache 14/2720 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5}) Rechtsausschuss 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({6}) a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Rennwett- und Lotteriegesetzes - Drucksache 14/2271 - ({7}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({8}) - Drucksache 14/2762 - Berichterstattung: Abgeordnete Ingrid Arndt-Brauer Elke Wülfing Heidemarie Ehlert bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({9}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/2798 - Berichterstattung: Abgeordnete Hans Jochen Henke Hans Georg Wagner Oswald Metzger Dr. Werner Hoyer Dr. Uwe-Jens Rössel b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10}): Sammelübersicht 131 zu Peti- tionen - Drucksache 14/2790 - c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11}): Sammelübersicht 132 zu Peti- tionen - Drucksache 14/2791 - d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12}): Sammelübersicht 133 zu Peti- tionen - Drucksache 14/2792 - e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13}): Sammelübersicht 134 zu Petitionen - Drucksache 14/2793 5 Vereinbarte Debatte zur Drogenpolitik 6 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({14}) zu dem Dritten Gesetz zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes ({15}) Drucksachen 14/1515, 14/2345, 14/665, 14/2796 - Berichterstattung: Abgeordneter Wilhelm Schmidt ({16}) 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zur Patentvergabe des Europäischen Patentamtes auf Genmanipulation an menschlichem Erbgut 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias Weisheit, Annette Faße, Iris Follak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke, Kerstin Müller ({17}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wettbewerbsposition für die deutsche Landwirtschaft verbessern und nachhaltige Entwicklung der Landwirtschaft und der ländlichen Räume sichern - Drucksache 14/2766 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({18}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kersten Naumann und der Fraktion der PDS: Betriebliche Obergrenze von 3 000 DM Gasölbeihilfe zurücknehmen - Drucksache 14/2795 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({19}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 10 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung des Mitgliederkreises von Bundesknappschaft und See-Krankenkasse - Drucksache 14/2764 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({20}) Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung 11 Erste Beratung des von den Abgeordneten Eva BullingSchröter, Rolf Kutzmutz, Ursula Lötzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung und zum Ausbau der gekoppelten Strom- und Wärmeerzeugung ({21}) - Drucksache 14/2693 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({22}) Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 12 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der Stromerzeugung aus Kraft-WärmeKopplung ({23}) - Drucksache 14/2765 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Zugleich sollen folgende Punkte von der Tagesordnung abgesetzt werden: 10 b - es handelt sich um die so genannte Altfallregelung im Ausländerrecht -, 15 - Doping im Spitzensport - und 22 a - zweite und dritte Beratung des Flurbereinigungsgesetzes. Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 87. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Bundesregierung über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler - Drucksache 14/2675 überwiesen: Innenausschuss ({24}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Der in der 87. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Innenausschuss zur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Abgeordneten Annette Faße, Ulrike Mehl, Anke Hartnagel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Gila Altmann, Albert Schmidt ({25}), Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sicherung der deutschen Nord- und Ostseeküste vor Schiffsunfällen - Drucksache 14/2684 überwiesen: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({26}) Innenausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Der in der 88. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Fraktion SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung ({27}) - Drucksache 14/2683 überwiesen: Finanzausschuss ({28}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 sowie Zusatzpunkt 2 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen Umwelt und Gesundheit Risiken richtig einschätzen - Drucksache 14/2300 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({29}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Umwelt und Gesundheit - Drucksache 14/2767 Präsident Wolfgang Thierse Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({30}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort hat Frau Bundesministerin Andrea Fischer.

Andrea Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11002652

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin froh, dass das Thema Umwelt und Gesundheit endlich mehr Aufmerksamkeit als bislang erhält, und zwar auch im parlamentarischen Rahmen. Da dies ein Querschnittsthema ist und mehrere Ressorts betrifft, besteht manchmal die Gefahr, dass es durch die Raster fällt und zu einem Stiefkind wird. Das war in der Vergangenheit manches Mal der Fall, aber man kann schon sagen, dass wir seit dem Regierungswechsel eine deutliche Kehrtwende eingeleitet haben. Wir haben eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen Umwelt- und Gesundheitsministerium und auch mit anderen Ressorts wie dem Landwirtschafts- und dem Forschungsressort begonnen. Mit diesem systematischen Ansatz und dieser gezielten Zusammenarbeit mit dem Ziel, dass wir in diesem Bereich vorankommen, machen wir genau das, was hier am wichtigsten und am notwendigsten ist. Noch etwas haben wir deutlich verändert. Wir sagen: Für uns spielt die Frage der Vorsorge eine ganz entscheidende Rolle. Im Zweifelsfall entscheiden wir uns immer für den vorsorgenden Gesundheits- und Verbraucherschutz. Wir führen seit Jahren darüber eine Diskussion, die allerdings - Stichworte: systematisch, unsystematisch häufig anhand von Beispielen geführt wird und die manchmal auch mit Aufregung versehen ist. Das veranlasst diejenigen, die das für übertrieben halten, zu der zynischen Rede, hier werde jede Woche ein neuer Schadstoff verhandelt. Wenn man aber hinter diese mediale Aufbereitung schaut, die in Konjunkturen und Zyklen vor sich geht, dann stellt man fest, dass es erstens falsch wäre, die Gefahren zu verharmlosen, nur weil einem die Art, wie dies in den Medien behandelt wird, nicht gefällt, und dass wir zweitens noch sehr viel mehr darüber wissen müssen. Dies würde im Zweifelsfall die Debatte versachlichen und die Aufklärung erleichtern, wenn es Besorgnisse gibt. Es gibt einige grundsätzliche Zusammenhänge. Sie sind bekannt und sie sind auch unstrittig, so zum Beispiel die Tatsache, dass Schadstoffe in der Luft grundsätzlich die Entstehung von Allergien begünstigen können und dass dieses Risiko für Kinder besonders hoch ist. Die Fragen, in welcher Konzentration diese Stoffe wie wirken, wie die Ursache-Wirkungs-Beziehung genau aussieht und welche Rolle andere Faktoren dabei spielen, sind im Zweifelsfall häufig strittig, auch in der Bewertung unter den Fachleuten. Das hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass in unterschiedlichen Gremien das Risiko unterschiedlich bewertet wird. Dann stehen die Verbraucher, im Zweifelsfall aber auch die zuständigen Behörden, die Maßnahmen ergreifen sollen, vor einer Vielzahl von unterschiedlichen Stellungnahmen. Damit wird das Handeln nicht einfacher. Deswegen ist es so wichtig, dass wir mit dem Sondergutachten „Umwelt und Gesundheit“ und mit dem Bericht des TAB-Projektes „Umwelt und Gesundheit“ aktuelle Dokumente erhalten haben, die sich mit einer Vielzahl von Umweltrisikien beschäftigen. Wir haben dann in dem Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“ konkrete Handlungsschritte vereinbart, die darüber hinaus den ganzen Komplex betreffen. Ich will noch einmal verdeutlichen, was in dem Aktionsprogramm steht, um weitere Klarheit über die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu gewinnen. Wir haben nicht vor, Datenfriedhöfe anzulegen, mit denen niemand etwas anfangen kann. Gerade weil die UrsacheWirkungs-Beziehung so umstritten ist, ist es wichtig, dass wir darüber mehr erfahren, weil wir nur dann handeln können und nur dann auch angemessene Maßnahmen ergriffen werden können. Wenn Sie sich mit denjenigen unterhalten, die an Krankheiten leiden, die durch Umwelteinflüsse hervorgerufen worden sind, dann erfahren Sie, dass sie nicht nur wegen ihrer Krankheit einen langen Leidensweg hinter sich haben, sondern auch deshalb, weil niemand herausfinden kann, was sie genau haben und was die Ursachen sind. Sie erfahren dann, dass man sie für aufgeregt hält und dass sie sich angeblich etwas einbilden würden. Das ist häufig ein zusätzliches Leiden. Aus Unkenntnis über diese Zusammenhänge wird es den Menschen schwer gemacht, die richtige Diagnose und die richtige Behandlung zu bekommen. Deswegen ist es so wichtig, dass wir in diesem Bereich weiterkommen. ({0}) Im Rahmen des Aktionsprogramms haben wir eine Neuordnung des Verfahrens zur Risikobewertung und Setzung von Standards bei Umwelteinflüssen eingeleitet. Wir werden in Kürze eine Ad-hoc-Kommission aus hochrangigen Experten einsetzen, die bestehende Verfahren und Strukturen der Risikobewertung und -einschätzung einer kritischen Analyse unterziehen. Dabei geht es - das habe ich gerade schon gesagt - insbesondere um die Frage: Gelten Werte, die wir für uns Erwachsene gesetzt haben, auch für Kinder? Müssen die Werte nicht extra untersucht werden? Der erwachsene Mensch ist nicht immer die Norm. ({1}) Wir wollen sehr viel mehr die Vernetzung der verschiedenen Institutionen, die sich damit beschäftigen, mit Diskussionsforen und dadurch voranbringen, dass wir alle unterstützen, die in diesem Bereich forschen und arbeiten. Wir haben eine Keimzelle für ein elektroniPräsident Wolfgang Thierse sches Netz mit der Dokumentations- und Informationsstelle für Umweltfragen in Osnabrück. Wir haben aber auch einen Bereich für Umweltmedizin am RobertKoch-Institut etabliert und wollen ihn weiter aufbauen. Dort ist bereits eine zentrale Erfassungs- und Bewertungsstelle für umweltmedizinische Methoden eingerichtet worden. Wir haben zusätzlich eine Kommission eingerichtet, die einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung in der Umweltmedizin leisten soll. Hier geht es um unseren Beitrag dazu, der Verunsicherung von Ärzten und Patienten entgegenzuwirken und Erkenntnisse, die durch die Umweltmediziner gewonnen wurden, zusammenzuführen und anderen zugänglich zu machen. Wir werden über solche Querschnittsmaßnahmen hinaus, die unseren Informationsstand verbessern sollen und allen Seiten mehr Handlungsmöglichkeiten eröffnen sollen, mit medien- und stoffbezogenen Qualitätszielen arbeiten, die wir im Interesse des gesundheitlichen Verbraucherschutzes für besonders notwendig halten. Ein Beispiel dafür ist, dass wir in Folge der Novellierung der EU-Trinkwasserrichtlinie ein Programm zum Austausch der Bleileitungen einleiten wollen, die es zur Trinkwasserversorgung immer noch gibt. Wir wissen inzwischen - da besteht kein Zweifel mehr -, dass Blei insbesondere für Kinder außerordentlich schädlich ist und es deshalb weiterhin sehr wichtig ist, etwas zu unternehmen. Ein weiterer Punkt, bei dem wir meines Erachtens noch wesentlich aktiver werden müssen, ist die Frage der Ernährung. Auch hier müssen wir von einer Verwaltung von Schadensfällen durch Schadstoffe wegkommen. Wir dürfen uns nicht nur damit beschäftigen, auf einen Schadensfall möglichst schnell zu reagieren und einen Schadstoff gegebenenfalls aus dem Verkehr zu ziehen, sondern müssen uns darüber hinaus wesentlich mehr der Frage stellen, wie es überhaupt dazu kommt, dass solche Schadensfälle immer wieder auftreten. Wir müssen uns damit auseinander setzen, dass wir es zum Teil mit Kriminalität, zum Teil aber auch mit Folgen von bestimmten Anbauweisen zu tun haben. Wir sind der Auffassung, dass es dringend geboten ist, die Lebensmittelqualität und -sicherheit zu verbessern. Da gibt es von der Ebene der EU, wo das Thema im Moment sehr weit oben auf der Agenda steht, über die Ebene der Bundesregierung bis hin zur Ebene der kommunalen Behörden noch einiges zu tun. Dabei werden wir uns vor allen Dingen die Frage stellen müssen, wie und zu welchen Bedingungen in unserem Land Lebensmittel produziert werden. Das Thema Umwelt und Gesundheit berührt sehr viele Menschen in ihrem Alltag. Ich habe es vorhin schon einmal gesagt: Es berührt vor allen Dingen Menschen, die sich in der Politik am wenigsten äußern können, nämlich Kinder, die von den Schadstoffen in unserer Umwelt besonders stark betroffen sind und besonders darunter leiden. Aus diesem Grund werden wir in diesem Bereich einen Schwerpunkt bei der Umweltmedizin für Kinder setzen. Ich habe vorhin das Beispiel Blei genannt, aber wir werden dieses Thema auch im Zusammenhang mit Abgasen und anderen Punkten zu diskutieren haben, bei denen deutlich wird, dass Kinder besonders stark unter der Lebensweise zu leiden haben, die die Erwachsenen sich angewöhnt haben. Wir befinden uns in einem Bereich, in dem wir nicht nur über Daten reden dürfen und darüber, wie man diese Daten verändert, sondern in dem wir auch darüber reden müssen, wie wir leben und was wir mit unserer Lebensweise anrichten. Ich glaube, dass es im Interesse der Kinder geboten ist, dass wir diesem Bereich mehr Aufmerksamkeit schenken. ({2}) Ich nehme bei der Lektüre des Antrags der CDU/CSU-Fraktion in diesem Zusammenhang erfreut zur Kenntnis, dass das Problembewusstsein der Opposition in diesem Bereich offensichtlich erheblich geschärft worden ist. ({3}) Vor diesem Hintergrund bin ich sehr zuversichtlich, dass wir mit dem Parlament bei der Lösung der vielen Probleme, die ich jetzt in der Kürze der Zeit nur anreißen konnte, gut zusammenarbeiten können. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Vera Lengsfeld, CDU/CSU-Fraktion.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Medien konsumierende Bürger von heute weiß, dass wir Deutschen ein gesundheitlich bedrohtes Volk sind, das überdies in einem ökologischen Notstandsgebiet lebt. Die Gefahr lauert überall, so schreiben Michael Miersch und Dirk Maxeiner: in der Luft und in der Zahnfüllung, in der Sonne und im Babybrei. Allergien und Krebs, Pseudokrupp und Asthma: Die Deutschen werden immer kränker, Kinder unter fünf Jahren dürfte es eigentlich gar nicht mehr geben. Ob bei Sonnenbrand oder Leberzirrhose, die Diagnose steht von vornherein fest: Die steigende Umweltverschmutzung ist schuld. Aber, so fragen die beiden Umweltjournalisten weiter, wie hat es inmitten der Umweltund Gesundheitskatastrophen geschehen können, dass sich unsere Lebenserwartung in den letzten 100 Jahren fast verdoppelt hat? Wahr ist, dass die Menschen umso gesünder sind, je wohlhabender das Land ist, in dem sie leben. Wenn es den Anschein hat, es gäbe heute mehr Kranke als früher, so liegt das an einem Paradox: Je ausgereifter die medizinische Versorgung wird, desto mehr Behandlungsbedürftige gibt es. Miersch und Maxeiner, um ein letztes Mal aus dem „Lexikon der Öko-Irrtümer“ zu zitieren, weisen auf das Beispiel der Zuckerkranken hin. Heute leben in Deutschland zehn Mal mehr Zuckerkranke als vor 100 Jahren, aber nicht, weil die moderne Medizin versagt hätte oder weil sich die Umwelt verschlechtert hätte, sondern weil vor 70 Jahren das Insulin erfunden wurde. ({0}) Ohne Insulin würden die Betroffenen früh sterben und es gäbe weniger Zuckerkranke. ({1}) Wer heute an Diabetes leidet, ist von Insulin abhängig, führt ein fast normales Leben, bleibt aber Patient bis an sein Lebensende. Hoch entwickelte Industrieländer haben sehr viele besonders lebensgefährliche Krankheiten beseitigt. Sie produzieren aber zweifellos auch neue: Allergien, Atemwegserkrankungen, psychosomatische Erkrankungen, Hyperaktivität usw. Trotzdem bedeutet eine Schädigung der Umwelt nicht immer direkt oder indirekt eine Schädigung der menschlichen Gesundheit. Nicht jede Umgestaltung der Umwelt ist eine Schädigung, auch wenn uns das die Grünen immer gerne weismachen wollen. ({2}) Auch ist nicht jede Belästigung des Menschen eine Schädigung und nicht jede Schädigung ist belästigend. Lärm führt zu Anspannung und Stress und vielleicht zu Bluthochdruck, wirkt aber in einem Pariser Straßencafé sehr anregend. Milben, Pollen und Katzenhaare sind sehr natürlich und trotzdem können sie die Gesundheit beeinträchtigen. ({3}) Die Zusammenhänge sind nicht eindimensional und immer auch von unserer Empfänglichkeit und unseren Gewohnheiten abhängig. Angesichts dessen, dass sich die Grünen soeben so gefreut haben, gestatte ich mir folgenden Hinweis - ich habe ja gerade über das Problem Lärm gesprochen -: Das Aus für den Transrapid war auch für die Bemühungen um die Eindämmung des modernen Lärmpegels ein Rückschlag. ({4}) Denn diese Technik hätte es gestattet, die Züge in die Innenstädte zu führen, ohne zusätzliche teure umweltund ressourcenfressende Lärmschutzmaßnahmen durchzuführen. ({5}) Weil wir gerade dabei sind: Das ist keineswegs die einzige Entscheidung der rot-grünen Regierung, die umwelt- und gesundheitspolitisch zweifelhaft ist. Erst letzte Woche überraschte uns die Regierung mit einer weiteren zukunftsbehindernden Entscheidung: Ab sofort ist der Anbau von gentechnisch verändertem Mais der Firma Novartin untersagt, ({6}) obwohl er nach wie vor in Lebensmitteln zugelassen ist, und das, obwohl das dem Bundesgesundheitsministerium unterstellte Robert-Koch-Institut vor drei Jahren im Einklang mit EU-weiten Testverfahren eine Gefährdung von Mensch, Tier und Umwelt beim Anbau von BtMais ausgeschlossen hat. ({7}) Grundlage für die Anweisung der Bundesregierung waren angebliche „neue Erkenntnisse“ in einer vor kurzem fertig gestellten Studie des Freiburger Öko-Institutes, die nach Aussagen von Mitarbeitern dieses Institutes aber keine Ergebnisse neu durchgeführter wissenschaftlicher Experimente enthält, sondern eine - immerhin - mit Experteninterviews angereicherte Literaturstudie ist. So stehen wieder einmal die ideologischen grünen Glaubenspostulate gegen die wissenschaftliche Forschung. ({8}) Fortschritte in der Gentechnik werden verteufelt und behindert, weil sie im Gegensatz zum reinen Ökoleben stehen sollen. Daher wird die Verhinderung der Lösung von dringenden Problemen bei Umwelt und Gesundheit in Kauf genommen. Gentechnisch verändertes Getreide wird immer wieder in Gegensatz zum Ökolandbau gebracht. Dabei könnte es gerade dem Ökolandbau helfen. Gentechnisch verändertes Getreide führt zu einer drastischen Reduzierung der Düngemittel- und Pestizideinsätze mit allen segensreichen Folgen für Umwelt und Gesundheit. Mit der Züchtung zum Beispiel mehrjährigen Reises, die ja bereits gelungen ist und der bald die Züchtung mehrjährigen Getreides folgen könnte, wäre das Problem der Bodenerosion praktisch gelöst, weil der Boden nicht mehr jedes Jahr bearbeitet werden muss. ({9}) Afrika wartet auf die Züchtung salzresistenter Nahrungspflanzen, die seine Probleme lösen könnte. Also gerade aus umwelt- und gesundheitspolitischer Sicht ist der rot-grüne Bann über die Gentechnik antisozial und antiökologisch. ({10}) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird deshalb in ihrer Auseinandersetzung mit dem ökologischen Hinterwäldlertum der gegenwärtigen Regierung nicht nachlassen. ({11}) Es wird Frau Ministerin Fischer nicht helfen, dass sie in ihrem Ministerium die erwähnte Freiburger Studie vor den Augen der kritischen Öffentlichkeit versteckt hält. Frau Ministerin Fischer, ich fordere Sie auf, diese Freiburger Studie allen Interessierten zugänglich zu machen und sich den daraus resultierenden kritischen Fragen der Öffentlichkeit zu stellen. Das letzte Wort zum Anbau von Bt-Mais ist noch nicht gesprochen. Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Entschließungsantrag beweist die CDU/CSU-Bundestagsfraktion erneut, dass die ökologische Kompetenz längst an sie übergegangen ist. ({12}) - Ich rede hier nur von Fakten. Darüber können Sie sich zwar freuen - da bin auch ich erfreut -, aber Sie sollten sie zumindest zur Kenntnis nehmen. ({13}) In Deutschland ist in den vergangenen Jahren viel erreicht worden. Das ökologische Schutzniveau ist außerordentlich hoch. Massive Umweltbelastungen durch Spitzenkonzentrationen von Schadstoffen oder extreme Lärmpegel sind nahezu völlig beseitigt worden. Die Belastung mit vielen Schadstoffen - ich nenne Kohlenmonoxid, Schwefeldioxid, Benzol, Schwermetalle oder auch persistente organische Verbindungen - ist stark reduziert worden. Trotz des erreichten hohen Schutzniveaus in Deutschland können Umweltfaktoren zur Entstehung oder Verstärkung von Erkrankungen beitragen. Die CDU/CSU will deshalb die Grundlagen für den Umgang mit Risiken verbessern. Es geht uns um die Identifizierung und Bekämpfung derjenigen Umwelteinflüsse, die zu gesundheitlicher Beeinträchtigung führen oder führen können. Wir wollen keinen Aktionismus, aber die Ursachen müssen zielstrebig und wissenschaftlich erforscht, die Faktoren müssen in ihren Wechselwirkungen klargestellt werden. Besonders am Herzen liegt uns der Schutz von älteren Menschen und von Kindern. Kinder sind stärker gefährdet als Erwachsene. Ihr Immunsystem ist schwächer. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung auf, folgende Maßnahmen umzusetzen: Zuerst sollte ein Risikokatalog erarbeitet werden. Es sollte dabei vor allem um die Überprüfung und Anpassung von Grenzwerten, die Entwicklung einheitlicher Bewertungslinien und die Erstellung eines Konzepts für eine ganzheitliche Betrachtung aller umweltbedingten Gesundheitsrisiken gehen. Zu ergreifen sind zweitens konkrete Maßnahmen, so zum Schutz vor Lärm. Wir denken unter anderem an eine Absenkung von Geräuschgrenzwerten für Fahrzeuge um drei bis fünf Dezibel, an die Fortführung der Lärmsanierung an bestehenden Bundesfernstraßen, an ein Lärmsanierungskonzept für vorhandene Schienenwege und dessen schrittweise Umsetzung, an die Fertigstellung der Fluglärmnovelle, an die Förderung technischer Maßnahmen an Fahrzeugen und Verkehrswegen. Drittens geht es um einen verbesserten Schutz vor Allergien. Der individuelle Rechtsschutz von Allergikern muss ausgebaut werden. Wir schlagen eine Erweiterung der Produktkennzeichnung vor. ({14}) - Das habe ich doch eben schon begründet! Sie haben mir nicht zugehört, Frau Kollegin Höfken; es tut mir Leid. Aber Sie können meinen Vortrag ja anschließend noch einmal nachlesen, wenn Sie es möchten. ({15}) Die Grenzwertermittlung von Schadstoffen muss bei Kindern angepasst werden. Kombinationswirkungen, Wechselbeziehungen und Dauer der Schadstoffeinwirkung sollten bei den Messungen stärker berücksichtigt werden. Die Allergieforschung mit dem Ziel, Risikozusammenhänge offen zu legen, muss von der Bundesregierung weiter unterstützt werden. Der Informationsarbeit von Selbsthilfegruppen ist beizustehen. Viertens schlagen wir Maßnahmen zur Bestimmung und Risikoabschätzung bei chemischen Stoffen vor. Wir fordern dabei vor allem ein nationales Forschungsprogramm zur Gewinnung von Erkenntnissen über die Auswirkungen hormonartig wirkender Chemikalien auf die menschliche Gesundheit und die Fortentwicklung von Prüfmethoden zwecks Erfassung von schädigenden Stoffen. Fünftens schlagen wir Maßnahmen zum Schutz vor bodennahem Ozon vor; das meint eine deutliche Minderung der VOC-Emissionen von verschiedenen Produkten. ({16}) - Nein, ich widerspreche mir überhaupt nicht, Herr Kollege Matschie. ({17}) Aber wir können das gern noch einmal diskutieren, ({18}) denn die Probleme ernst zu nehmen und sie zu instrumentalisieren ist ein Unterschied. Wir nehmen die Probleme ernst und wollen Maßnahmen ergreifen, ({19}) Sie aber instrumentalisieren die Probleme für Ihre Ideologie. ({20}) Meine Damen und Herren, es geht uns nicht um Alarmismus und Hysterie und es geht uns um alles andere als um ein Zurück zur vermeintlich beschaulichen Natur. Natur ist keineswegs immer eine freundliche Umwelt und sie ist der Gesundheit des Menschen auch nicht immer förderlich. ({21}) - Aber ja doch! - ({22}) Wenn Sie Opfer eines Hurrikans werden und dabei umkommen, dann sind Sie durch die Natur umgekommen; also war das Ihrer Gesundheit nicht sehr förderlich. Muss ich Ihnen das jetzt wirklich erklären? ({23}) Ich warne auch vor leicht gemachten kausalen Ableitungen, vor einer ideologischen und oft verlogenen Verteufelung des technischen Fortschritts. Dieser Fortschritt hat uns bei weitem mehr gebracht als gekostet. Wir wollen die Dinge ganzheitlich sehen, das heißt, sie komplex und ohne Vorurteile betrachten. Es geht uns darum, negative Auswirkungen der gesellschaftlichen Entwicklungen zu korrigieren. Es geht um Gebote und Verbote, aber auch um das Aufklären und Abwägen von Interessen. Wir wollen nichts verharmlosen, aber eben auch keine unbegründeten Ängste schüren. Vielen Dank. ({24})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Helga Kühn-Mengel, SPD-Fraktion. ({0})

Helga Kühn-Mengel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Lengsfeld, ich bin Rheinländerin ({0}) und bin mir daher nicht sicher, ob ich weite Teile Ihres Vortrages ernsthaft kommentieren oder sie als stärkendes Element für den noch etwas unterentwickelten Karneval hier in Berlin betrachten soll. ({1}) Es ist sicherlich falsch, Panik zu machen. Aber Risiken herunterzuspielen, sie zu negieren, ({2}) dieses Aktionsprogramm als Hinterwäldlertum zu bezeichnen, das ist wirklich nicht angemessen. Die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht auf Schutz vor umweltbedingten Gesundheitsbeeinträchtigungen. Es ist unsere Aufgabe, die Aufgabe der Politik, hier Ziele zu entwickeln und vorsorgende Maßnahmen zu ergreifen, die diesem Schutzbedürfnis Rechnung tragen. Das Sondergutachten der Sachverständigen, aber auch der aktuelle Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung sprechen eine klare Sprache und stellen einen Wirkungszusammenhang - der in vielerlei Hinsicht als gesichert gelten darf - zwischen den von den Menschen selbst verursachten Umweltbelastungen und chronischen Erkrankungen her. Die rot-grüne Koalition macht deutlich, dass die Schnittstelle der Politikbereiche Umwelt und Gesundheit gefordert ist, dass hier komplexe Fragen vorliegen, die eines ganzheitlichen und ressortübergreifenden Ansatzes bedürfen - im Übrigen ein Thema, das die SPD in der Vergangenheit immer besetzt und aufgegriffen hat. ({3}) Das heute zu diskutierende Sondergutachten des Umweltrates ist dabei ein ganz wichtiger Stein in dem großen Mosaik Umwelt und Gesundheit. Es liefert einen entscheidenden Beitrag zur Abschätzung und Bewertung umweltbedingter Gesundheitsrisiken. Unter den zahlreichen Ergebnissen des Sondergutachtens ist eines besonders eindeutig: 16 Jahre Kohl-Regierung haben im Bereich Umwelt und Gesundheit zu wirklich großen Versäumnissen geführt. ({4}) Die Gutachter sehen bei der Bewältigung umweltbedingter Gesundheitsrisiken einen ganz erheblichen Nachholbedarf. Nach ihrer Meinung wurde auch versäumt, eine Kommunikationsstruktur zwischen den beteiligten Gruppen - Ärzten, Gutachtern, Politikerinnen und Politikern, Betroffenen - aufzubauen. Versäumt wurde auch, Gesundheitsrisiken auf breiter Front zu veröffentlichen, diese Ergebnisse den Menschen im wahrsten Sinne des Wortes nahe zu bringen. Die Gutachter treten dafür ein - ich zitiere -, sich aus pragmatischen Gründen notfalls mit einem geringeren Maße an gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu begnügen, das heißt auf gut Deutsch: endlich zu handeln. So viel steht fest: Die Aufarbeitung umweltbedingter Risiken, deren Abschätzung und Bewertung wurden bisher stark vernachlässigt. Das soll sich ändern. Das Aktionsprogramm der beiden Ministerien hat eine eindeutige Akzentuierung. Der umweltbezogene Gesundheitsschutz, der Aspekt der Vorsorge als Gestaltungsprinzip rücken endlich in den Mittelpunkt. ({5}) Die Wählerinnen und Wähler haben sich mit ihrem Regierungsauftrag an die rot-grüne Koalition eindeutig für einen bedarfsgerechten und qualitativ überzeugenden Gesundheitsschutz ausgesprochen. Wir nehmen diesen Auftrag ernst. Erstmalig in der Geschichte der deutschen Politik werden mit diesem Aktionsprogramm Handlungsziele und Strategien für eine umfassende Auseinandersetzung mit den gesundheitlichen Folgen von Umwelteinwirkungen vorgelegt. Das Programm stellt eine wichtige Orientierung dar, an der sich auch die Gesundheitspolitik auszurichten hat. Herausgestellt werden vor allem nachhaltige Wirkungen politischer Maßnahmen. Diese haben wir mit dem Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung im Gesundheitswesen bereits verankert. Ein Beispiel ist der von uns als wichtig bewertete Präventionsbereich. Maßnahmen der Gesundheitsförderung verbessern den allgemeinen Gesundheitszustand nachhaltig. Sie bewirken einen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter ungleicher Gesundheitschancen. Dies ist ein Punkt, der uns besonders am Herzen lag. Der alte § 20 - man kann es nicht oft genug sagen nahm bei der alten Bundesregierung nach einer nur sieben Jahre dauernden Existenz im SGB V am 13. September 1996 ein trauriges Ende. Wir haben diesen Paragraphen wieder belebt. ({6}) - Ich kenne diese Argumente, aber Sie wissen, dass unser Ansatz richtig ist. Unsere Gesundheitsreform ermöglicht, dass die Krankenkassen ihren Versicherten wieder Angebote zur Gesundheitsförderung und Krankheitsverhütung unterbreiten dürfen und auch wieder Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung durchführen können. In diesem Sinne schafft unsere Reform eine Verbindung zwischen gesundheitspolitischer Diskussion und Nachhaltigkeitsdebatte. ({7}) Ein anderer nachhaltig wirkender Punkt: Auch der Einzelne - das ist gerade in der Umweltdebatte wichtig - soll in seiner Verantwortung, in seiner Initiative gestärkt und in der Mobilisierung seiner Ressourcen und Selbstheilungskräfte unterstützt werden. Unser Gesetz greift auch diesen Gedanken auf. Selbsthilfegruppen tragen zu einem günstigeren Krankheitsverlauf und zu einem bewussteren Umgang mit chronischen Krankheiten bei und wirken auf diesem Wege langfristig stabilisierend. Selbsthilfe steht für Erfahrungsaustausch, gegenseitige Unterstützung und bedeutet eigenverantwortliches und gemeinschaftliches Handeln. Ich glaube, dass wir hier einen ganz wichtigen Schwerpunkt gesetzt haben. Wir haben auch das Ziel, die Patientenrechte und den Patientenschutz zu stärken. Darum haben wir im Gesundheitsreformgesetz auch vorgesehen, dass die Informationsmöglichkeiten für Patienten und Patientinnen verbessert werden. Dazu werden unter anderem Einrichtungen zur Verbraucher- und Patientenberatung gezielt gefördert. Die Krankenkassen erhalten die Möglichkeit, Modellprojekte zur Beratung zu finanzieren. Der gut informierte Patient, der Angebote im System sinnvoller und selbstbewusster nutzt, wird auch mehr Eigenverantwortung übernehmen. Wir stärken die Rehabilitation. Im Sinne der Nachhaltigkeit gilt der Grundsatz: Präventation vor Rehabilitation, Rehabilitation vor Rente und Pflege. Die Rehabilitation kann dazu beitragen, Selbstständigkeit und Lebensqualität möglichst lange zu erhalten. Wir haben die Seehofer’schen Begrenzungen wieder aufgehoben. Wir haben die Mutter-Kind-Kuren gestärkt. Auch dies sind Maßnahmen, die unseren nachfolgenden Generationen zugute kommen. ({8}) Wir haben auch die Qualitätssicherung eingeführt. Das ist ein ganz wichtiges Element in der stationären und ambulanten Versorgung. Wir haben die Gesundheitsberichterstattung verbessert. Das sind alles Dinge, die die Nachhaltigkeit sichern. Der Antrag „Umwelt und Gesundheit“, der heute vorgelegt und demnächst in den Ausschüssen beraten wird, betont, dass wir eine ganz besondere Verantwortung für die Gesundheit unserer Kinder haben. Das ist schon mehrmals erwähnt worden und sehr wichtig. Wir müssen mehr Verantwortung für die Schwächsten unserer Gesellschaft übernehmen. Es ist zum Beispiel bekannt, dass sich Grenzwerte und Messmethoden in der Regel am gesunden männlichen Durchschnittserwachsenen orientieren. Bekannt ist aber auch, dass Kinder Umwelteinflüssen erheblich intensiver ausgesetzt sind. Nach Angaben von Professor von Mühlendahl gibt es eine Verschiebung weg von den klassischen Infektionskrankheiten hin zu umweltbedingten Erkrankungen. Die Auswertung einer bundesweit durchgeführten Untersuchung zeigte, dass bei einem Viertel aller Jugendlichen asthmatische und allergische Erkrankungen vorlagen. Deshalb ist es richtig, sich um diesen Bereich verstärkt zu kümmern, hier zu forschen, die Daten besser auszuwerten, die gesundheitsgefährdenden Belastungen deutlich zu machen und darüber aufzuklären. Das ist in der Tat - ein oft benutzter Begriff, aber dennoch richtig eine Investition in die Zukunft. ({9}) Wir unterstützen die im Aktionsprogramm vorgelegte Forderung nach einer Verbesserung der Gesundheitsbeobachtung und -berichterstattung. Wir unterstützen die Forderungen, eine Kommission einzurichten, die Vorschläge zur Neuordnung und zur Risikobewertung erarbeiten soll, und dass die Umweltmedizin durch Weiterbildung und Qualifizierung gestärkt werden soll. Ich denke, auch das ist ein Weg, ihr zu einer besseren Akzeptanz, Kompetenz und Anerkennung zu verhelfen. Die hier genannten Beispiele zeigen deutlich den Willen der rot-grünen Koalition, sich im gesundheitspolitischen Bereich an einer langfristigen Entwicklung zu orientieren. Das Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung stellt die Patientinnen und Patienten wieder in den Mittelpunkt. Die Förderung der Gesundheit und die Verhütung von Krankheiten erreichen wieder einen höheren Stellenwert. ({10}) Das ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Stabilität der Beitragssätze zu sehen, sondern auch ein wesentlicher Beitrag zum Bündnis für Arbeit sowie eine wichtige soziale Säule. ({11}) Der konkrete Forderungskatalog des Antrages „Umwelt und Gesundheit“ verdeutlicht, dass die alte Stagnation überwunden ist und ressortübergreifend gedacht und aus der Verantwortung für unsere nachfolgenden Generationen heraus entschlossen gehandelt wird. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Ulrike Flach von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen liefert uns eine Fülle von Detailinformationen zu den Wechselwirkungen von Umweltschäden und gesundheitlichen Folgen. Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Gutachtern noch einmal herzlich bedanken. Sie haben uns bereits im Umweltausschuss ausreichend Rede und Antwort gestanden. Das Gutachten hat erneut bewiesen, dass die Qualität der Umwelt und die menschliche Gesundheit in einem unmittelbaren Wirkungszusammenhang stehen. Waren es in der Vergangenheit eher akute Erkrankungen infolge der Umweltbelastungen - ich denke dabei besonders, Herr Paziorek, an unsere Heimat, das Ruhrgebiet -, sind es heute eher chronische Erkrankungen, die sich über einen längeren Zeitraum entwickeln. Das macht es schwerer, kausale Zusammenhänge zu erkennen. Aber, Frau Kühn-Mengel, der Rückgang akuter Erkrankungen darf uns weiß Gott nicht blind gegenüber dem machen, was in der Vergangenheit passiert ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir sehr bedeutende Erfolge gerade im Bereich von Umwelt und Gesundheit - das wird von den Gutachtern bestätigt - unter der alten Regierung erzielt haben. ({0}) Risikoabschätzungen müssen auf der Basis wissenschaftlicher Praxis erfolgen, wobei der Sachverständigenrat betont, dass es eine erhebliche Diskrepanz zwischen der wissenschaftlichen Risikoabschätzung und der subjektiven Wahrnehmung seitens der Betroffenen gibt. Wir brauchen auch nicht weit zu gehen, um dafür Belege zu finden: In der letzten Sitzungswoche haben wir über möglicherweise hormonell wirkende chemische Stoffe gesprochen. Zu diesem Bereich kommen die Sachverständigen zu einer interessanten Aussage: Hinsichtlich der menschlichen Gesundheit ergeben sich aufgrund der vorliegenden Datenlage keine Verdachtsmomente von einer derartigen Plausibilität, dass ein unmittelbarer Handlungsbedarf besteht. Die Belastung des Menschen durch Substanzen natürlichen Ursprungs sei ungleich höher als die durch synthetisch hergestellte Stoffe. Zu den natürlich hergestellten Stoffen gehören zum Beispiel die Inhaltsstoffe der normalen, also nicht genveränderten Sojabohne, die auch im Muttermilchersatz enthalten ist und eine erhebliche Belastung für Kleinkinder darstellen kann. Natürlich brauchen wir vor allem mehr Forschung im sensiblen Bereich der hormonell wirkenden Stoffe. Aber die Hysterie, die vor allem die Grünen hierbei an den Tag legen, ist wissenschaftlich nicht gerechtfertigt. ({1}) Minister Trittin hat ein Verbot von TBT angekündigt, obwohl er genau weiß, dass sich die Textilhersteller in Deutschland bereits vor drei Jahren verpflichtet haben, TBT nicht in Textilien zu verwenden. Im Bereich der Schiffsanstriche ist eine IMO-Regelung in der Pipeline, das wissen wir alle. Ersatzstoffe stehen zur Verfügung. Wenn also jetzt der große Aktionismus bei Herrn Trittin ausbricht, wird den Bürgerinnen und Bürgern umweltpolitisches Handeln wieder einmal nur vorgespielt. ({2}) Sie haben uns eine Anhörung zu TBT angekündigt, die im März stattfinden wird. Ich frage mich allerdings, wozu diese Anhörung dienen soll, da ein TBT-Verbot bereits über die Presse angekündigt wurde. Bis heute haben wir noch keine Liste der Sachverständigen, die Sie dazu einladen wollen. Mir sieht diese Aktion sehr stark nach einer reinen Alibiveranstaltung aus, mit der Sie davon ablenken wollen, dass Sie in anderen Bereichen nichts getan haben. ({3}) Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen einige Punkte nennen, die im Gutachten angesprochen werden und von denen wir meinen, dass eine verantwortungsbewusste Umwelt- und Gesundheitspolitik sich dieser Themen annehmen muss. Ich nenne das Beispiel UVStrahlung: Wir wissen, dass die Häufigkeit von Melanomen in den letzten Jahren zugenommen hat, nämlich um 6 bis 7 Prozent jährlich, und der Höhepunkt scheint noch nicht erreicht zu sein. Hier brauchen wir dringend eine Präventionsstrategie, um über die Gefährlichkeit von Sonnenbänken aufzuklären. Sonnenbräune ist eben nicht ein Ausdruck von Gesundheit, wie es immer wieder irrtümlich verbreitet wird. Wesentlich brisanter ist das gerade so aktuelle Thema Lärmschutz. Die Belastung durch Lärm ist in Deutschland trotz zahlreicher Baumaßnahmen in etwa gleich geblieben. Circa 70 Prozent der Bevölkerung fühlen sich durch Straßenverkehr belästigt. Beim Flugverkehr sind es circa 50 Prozent. Dieser Wert ist in den letzten Jahren sogar angestiegen. Eine Studie des UBA aus dem Jahre 1994 stellt fest, dass sich damals 46 Prozent der Menschen in den alten und 27 Prozent der Menschen in den neuen Ländern durch Fluglärm gestört fühlten. Hier findet offensichtlich eine Ost-West-Angleichung statt und das im negativen Sinne. Diese Regierung hat eine Änderung des Fluglärmgesetzes angekündigt. Staatssekretär Scheffler hatte hier am 14. Oktober erklärt, die Novellierung befinde sich bereits in der Ressortabstimmung. Seither sind nach meiner Rechnung schon wieder vier Monate vergangen. Je mehr der Lärm in Deutschland anstieg - 16 Prozent der Deutschen sind tagsüber einem mittleren Lärmpegel von mehr als 65 Dezibel ausgesetzt -, umso leiser und umso stiller wurde es bisher im BMU. Jetzt hat der Minister - passend zur heutigen Debatte und natürlich passend zur Wahl am Sonntag - ein Eckpunktepapier zur Novellierung des Fluglärmgesetzes vorgelegt. Meine Damen und Herren, abgesehen davon, dass das Adjektiv „nachhaltig“ neuerdings inflationär bei Ihnen vorkommt, stimmen wir natürlich mit dem Ziel, die Geräuschbelastung dauerhaft zu senken, überein. 65 Dezibel, das ist der Lärmpegel an einer stark befahrenen innerstädtischen Hauptstraße. Ab diesem Wert steigt das Risiko des Herzinfarktes. Die Sachverständigen sagen uns, dass es einen Zusammenhang mit lärmbedingtem Bluthochdruck und Magnesiumunterversorgung gibt. Unser Ziel muss es also sein, die Lärmbelastung unter diesem Pegel zu halten. Wir begrüßen es, dass es jetzt zu einer Novellierung des Fluglärmgesetzes kommen wird. Was uns aber dabei stört, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist erneut die Art und Weise, wie Minister Trittin das Thema angeht. Sie sprechen davon, dass es ein unheimlich steiniger Weg sei und dass viele Widerstände zu überwinden seien. Dabei gehen Sie in bewährter Manier vor und bauen sich die Widerstände selbst auf. Auf meine Nachfrage bei der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verkehrsflughäfen sowie bei den Flughäfen München und Düsseldorf - nicht gerade unwichtige Flughäfen - erhielt ich die Auskunft, es habe vor der Vorstellung der Eckpunkte keinerlei Gespräche mit den BMU gegeben. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe ja Verständnis dafür, dass man zügig vorgehen will. Aber dies ist erneut der Versuch, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen und, statt einen Konsens mit den Betroffenen zu finden, diese zunächst einmal gründlich zu verärgern. ({5}) Eine Absenkung der Werte für die Lärmschutzzonen ist ein schwerer Eingriff. Das wissen wir alle. Insbesondere kleinere Luftfahrtunternehmen werden Probleme haben, kurzfristig umzusteigen, und es wird zu Ausweichbewegungen kommen. Die Arbeitsgemeinschaft befürchtet ernsthafte Probleme in der Bewältigung des Fracht- und Ausweichverkehrs, zum Beispiel nach Brüssel, mit Weitertransport - man höre und staune - auf der Straße. Es kann ja wohl nicht das Ergebnis Ihrer Bemühungen zur Lärmbegrenzung sein, dass in Zukunft mehr Güter auf der Straße transportiert werden. Das wäre die ökologische Bankrotterklärung Ihrer Initiative. ({6}) Auch das Europaproblem ist erneut nicht geklärt worden. Minister Trittin wagt wieder einmal den nationalen Alleingang, wie schon bei der Ökosteuer und bei der Kernkraft. Auf europäischer Ebene gibt es weder einheitliche Messgrößen für Lärm noch uns bekannte Initiativen für eine europäische Fluglärmrichtlinie. Warum reden Sie nicht mit den Betroffenen? ({7}) Warum versuchen Sie nicht, eine europäische Lösung zu finden? Meine Damen und Herren, in anderen lärmintensiven Bereichen sind Initiativen des BMU wenig zu erkennen - im Bahnbereich nicht; im Straßenverkehrsbereich haben Sie ebenfalls nur Ankündigungen produziert, es sei denn, Sie sehen in der Erhöhung der Benzinpreise einen Beitrag zur Senkung des Verkehrslärms, weil sich weniger Menschen eine Autofahrt leisten können. Der Straßenverkehrslärm wird von den Bürgern aber mit Abstand als der störendste empfunden. Als Anlieger eines Plus-Marktes denke ich da nur an die Kühlwagen mit den laufenden Motoren und Kühlanlagen. Das ist schon etwas, was wir uns gemeinsam vornehmen müssten. ({8}) Meine Damen und Herren, es hat auch heute einen wunderschönen Artikel in der „Berliner Zeitung“ gegeben, wie man mit wenig Geld - und wir alle wissen ja, dass wir wenig Geld haben - der Deutschen Bahn etwas auf die Sprünge helfen könnte, etwas leiser zu werden. Man schlägt einfach vor, den Lärm dadurch um 3 Dezibel zu verringern, dass man regelmäßig die Schienen schleift. Das wäre auch einmal ein Ansatz. Allein der Austausch von Metallklötzen gegen Kunststoffklötze könnte eine Lärmverringerung um 10 Dezibel bewirken - auch ein Ansatz. Das sind doch die Probleme, deren Lösung wir in Angriff nehmen müssen. Wir sollten nicht die Leute verärgern, die wir eigentlich brauchen. ({9}) Ich möchte mich in diesem Augenblick nicht zu feindlich äußern. Lassen Sie mich auch eine freundliche Bemerkung zum Abschluss machen, und zwar zu Ihrer Broschüre. ({10}) Wir Liberalen finden die Broschüre gut. ({11}) Damit finden wir endlich einmal konkrete Maßnahmen, zum Beispiel zur Verbesserung des umwelt- und gesundheitsbezogenen Informationsmanagements, zur Risikobewertung bei Gefahrstoffen, zur zentralen Erfassungs- und Bewertungsstelle und zum Qualitätsmanagement. Das ist in Ordnung, damit können wir leben. Vor allem werden in einzelnen Sektoren auch einmal Qualitätsziele genannt, die erreicht werden sollen, ohne dass der Weg dorthin zwingend vorgeschrieben wird. Wir werden sehr sorgfältig darauf achten, ob diese Ankündigungen auch umgesetzt werden. Meine Damen und Herren, zusammen mit dem Sachverständigengutachten liefert diese Broschüre die Basis für eine überlegte, auf rationalen Kriterien beruhende Umweltpolitik. Halten Sie sich bitte daran! Es würde manches erleichtern. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Ruth Fuchs, PDS-Fraktion.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, Zusammenhänge zwischen Umweltschädigungen, Umweltbelastungen und auch schwerwiegenden Folgen für die Gesundheit leugnet hier in dem Raum niemand mehr. Trotzdem gehört es zu den Schwächen des Gesundheitssystems, dass die sozialökologische und gesellschaftliche Bedingtheit von Gesundheit und Krankheit weitgehend ausgeblendet wird. Damit verbindet sich eine Unterschätzung des vorbeugenden Gesundheitsschutzes. Im Ergebnis dessen werden unter Prävention oft nur die medizinischen Vorsorgemaßnahmen der Früherkennung sowie eine Zurückdrängung individuellen Fehlverhaltens verstanden. Krankheiten sind aber vielfach Folge von Belastungen, die aus Lebens-, Arbeits- und Umweltverhältnissen resultieren. Der Einzelne kann sie nicht oder kaum beeinflussen. Ziel einer präventiven Gesundheitspolitik muss es sein, bereits in den Entstehungsbereichen von Krankheit vorbeugend einzugreifen. Schon die Steuerung der medizinischen Versorgungsleistungen darf nicht primär dem Markt überlassen werden. Dies gilt auch für den Gesundheitsschutz. Dieser muss Aufgabe des Staates sein. Er hat die Voraussetzungen und gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik zu gestalten. ({0}) Es geht darum, das gesellschaftliche und wirtschaftliche Handeln in allen relevanten Bereichen, in Arbeitswelt und Konsum, in Energieerzeugung und Verkehr ebenso wie in Ländern und Kommunen auch an den Kriterien der Gesunderhaltung und Gesundheitsförderung auszurichten. Dabei muss es sowohl um sozial gerechte Verhältnisse gehen als auch um ökologisch verantwortbare Beziehungen zwischen Mensch und Natur und die Zurückdrängung umweltbedingter Gesundheitsrisiken. Wir begrüßen, dass die beiden zuständigen Bundesministerien ein gemeinsames Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“ verabschiedet haben. Mit diesem Aktionsprogramm verbindet sich die Hoffnung, dass die Auseinandersetzung um einen wirksamen, umweltbezogenen Gesundheitsschutz auch bundesweit endlich einen neuen Schub erhält. Wir hoffen vor allem, dass die Bundesregierung Gesundheits- und Umweltpolitik nunmehr als integrierte Strategie betreibt, die Nachhaltigkeit ebenso wie die Gesundheit der Bevölkerung im Blick hat; denn genau hier sehen wir noch beträchtlichen Nachholbedarf. So ist die Zusammenarbeit der im Schnittfeld von Gesundheit und Umwelt tätigen Behörden und Fachorganisationen zu verbessern. Die umweltbezogene Gesundheitsberichterstattung ist zu erweitern. Die Bevölkerung, die sich in Initiativen auf lokaler und kommunaler Ebene oder in Nichtregierungsorganisationen für gesündere Lebensverhältnisse einsetzt, ist wesentlich ernster einzubeziehen. Besonders dringlich sind die Förderung einschlägiger gesundheitswissenschaftlicher Forschungen sowie der Ausbau der Grundlagendisziplinen wissenschaftlich fundierter Prävention wie Umweltmedizin, Umwelthygiene oder Sozialepidemiologie. Dies beachtend leistet das Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen einen wichtigen Beitrag zur Bewertung umweltbedingter Gesundheitsrisiken, einschließlich der dafür erforderlichen wissenschaftlich-methodischen Grundlagen. Dabei sind zwei Aussagen für das Herangehen an Gesundheitsrisiken und ihre Bewältigung von besonderer Bedeutung: Erstens halten wir die erneute Hervorhebung des Umweltrates für wichtig, dass für jede Risikobewertung eine umfassende wissenschaftliche Begründung unabdingbar bleibt. Zweitens ist der Standpunkt besonders zu unterstreichen, dass es im Zweifelsfall stets notwendig ist, auch ein geringeres Maß an gesicherter Erkenntnis und eine noch vorläufige Risikoabschätzung bereits zur Grundlage aktiv eingreifender Vorsorgemaßnahmen zu machen. ({1}) Folgende Aussage der Europäischen Charta „Umwelt und Gesundheit“ aus dem Jahre 1989 - Frau Lengsfeld, dieses Datum ist besonders für Sie interessant; denn Sie hätten aktiv werden können - ({2}) hat unseres Erachtens nichts von ihrer Aktualität verloren. Die Gesundheit des Einzelnen und die von Bevölkerungsgruppen muss eindeutig Vorrang vor wirtschaftlichen Überlegungen haben. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Jutta Müller, SPD-Fraktion.

Jutta Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute über das Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen. Frau Lengsfeld, bevor Sie hier so eine Rede halten, hätten Sie wenigstens einmal in die Kurzfassung des Sondergutachtens hineinschauen können. So dick ist die vorliegende Kurzfassung auch nicht, wie Sie sehen. ({0}) - Dann haben Sie es nicht verstanden - wenn Sie hineingeguckt haben. ({1}) Der Sachverständigenrat hat sich übrigens schon 1987 und 1994 mit dem Thema befasst. Ich bin der neuen Bundesregierung außerordentlich dankbar, dass sie im Gegensatz zur Regierung Kohl die Lösung des Problems nicht aussitzt, sondern dass sie in einem Aktionsprogramm die Themen Umwelt und Gesundheit endlich einmal zusammenfasst; denn das Problem in der Vergangenheit war nicht, dass Sie gar nichts gemacht haben; vielmehr war das Problem, dass die beiden Bereiche getrennt waren und dass Sie Datenfriedhöfe angelegt haben - genau das wollten wir nicht -, und zwar ohne die Daten zusammenzufassen und daraus dann Schlüsse zu ziehen. Den Vorschlägen der Gutachter folgend wird die Bundesregierung verschiedene Bereiche zusammenfassen, um eine Verbesserung der umweltbezogenen Gesundheitsbeobachtung und des Informationsmanagements zu erreichen. Schließlich besitzen wir entsprechende Datenbestände und müssen sie, wie gesagt, nur noch zusammenfassen. Es soll dauerhaft ein differenziertes Beobachtungs- und Berichterstattersystem für Umwelt und Gesundheit etabliert werden. Es muss darauf hingewirkt werden, dass die wissenschaftlichen Bundesoberbehörden bei den mit Umwelt und Gesundheit zusammenhängenden Fragen eng zusammenarbeiten und ein aktives Informationsmanagement entwickeln. Der Sachverständigenrat hat insbesondere bei den Gesundheitsbeeinträchtigungen aufgrund von UVStrahlen, Allergien und Lärm einen erheblichen Beratungsbedarf festgestellt. Am Beispiel von Allergien kann man deutlich erkennen, dass vor allem Umweltfaktoren zu einer Besorgnis erregenden Verbreitung allergischer Erkrankungen in der Bevölkerung geführt haben. Wir stimmen deshalb den Sachverständigen zu, die eine verstärkte Information, Beratung und insbesondere eine Pflicht zur Kennzeichnung von allergieauslösenden Stoffen fordern. Es gibt im Übrigen auch den ganz interessanten praktischen Vorschlag des Rates, dass man beispielsweise überlegen sollte, neben einem Wärmeschutzpass für Wohnungen auch einen Allergikerschutzpass vorzusehen, der die Eignung von Wohn- und Arbeitsräumen für Allergiker sicherstellt. Konsequentes Energiesparen und hygienisch einwandfreie Innenraumluft müssen sich nicht ausschließen. Zum Thema Lärm empfehlen die Sachverständigen ein ganzes Bündel von Lärmminderungsmaßnahmen. Die Belastungen des Menschen durch Lärm, insbesondere durch Flugzeuge, Schienenkraftfahrzeuge und Industriegewerbe, aber auch durch die Freizeitgestaltung, sind nicht zu unterschätzen. Dort ist eindeutig gesagt worden: Eine hohe Dauerbelastung durch Lärm wirkt als ernst zu nehmender Stressfaktor und erhöht das Risiko von Herzund Kreislauferkrankungen. Das sollte man mit Beispielen wie „Straßencafé in Paris“ nicht ins Lächerliche ziehen. ({2}) Unser Ziel ist zum einen die nachhaltige Minderung des Lärms durch technisch, planerisch und rechtlich aufeinander abgestimmte Maßnahmen. Zum anderen beabsichtigen wir Maßnahmen gegen gesundheitsschädlichen Freizeitlärm. Wir brauchen auch auf diesem Gebiet eine verstärkte Aufklärung, besonders bei Jugendlichen, die in dieser Frage zu den gefährdeten Gruppen gehören. Ähnliches gilt auch für die gesundheitlichen Risiken, die durch die erhöhte UV-Strahlung beim Menschen ausgelöst werden. Frau Flach, es ist natürlich klar, dass wir noch mehr Aufklärungskampagnen durchführen müssen, obwohl - das ist ein Phänomen - alle Dermatologen jedes Jahr vor dem Urlaub davor warnen, sich stundenlang der prallen Sonne auszusetzen. Wenn man an die Strände kommt, dann sieht man, dass diese Warnung nicht unbedingt ernst genommen wird. Wir als Gesetzgeber müssen darauf achten, dass sich die Menschen ein bisschen vernünftiger benehmen. Das kann nur über Information passieren. Wir sind verpflichtet, auch dafür zu sorgen, dass Vorläufersubstanzen, die die Ozonschicht schädigen, also zu einer Vergrößerung des Ozonlochs beitragen, vom Markt verschwinden. Dagegen müssen wir selber etwas tun. ({3}) Ich halte es für notwendig, dass das Aktionsprogramm auch dazu genutzt wird, eine breite öffentliche Debatte mit der Bevölkerung zu führen. Ich persönlich halte es für falsch, wenn eine Diskussion „Umwelt und Gesundheit“ ausschließlich auf Chemikalien beschränkt würde. Wir haben es sowohl mit natürlichen Faktoren als auch mit persönlichem Verhalten zu tun. Das Sachverständigengutachten beschäftigt sich sehr ausführlich mit dem Thema Risikokommunikation. EiDr. Ruth Fuchs ne ganze Reihe von umweltbedingten Erkrankungen könnte durch eigenes Verhalten vermieden werden. Wir müssen aber feststellen, dass man in dem einen Zusammenhang ein Risiko akzeptiert oder sogar bewusst herbeiführt, während man in dem anderen Kontext ein gleich großes oder sogar kleineres Risiko ablehnt. Wir finden in dem Gutachten auch interessante Erhebungen über die unterschiedliche Einschätzung von Gefährdung infolge von Umweltbelastungen bei Bevölkerung und Wissenschaft bzw. Technikern. Ich will ein kurzes Beispiel nennen: Man hat in der Bevölkerung eine statistische Erhebung durchgeführt und gefragt, was man als gesundheitliche Bedrohung empfinde. 81 Prozent der Bevölkerung haben Giftmüll als gesundheitliche Bedrohung bezeichnet. Experten und Wissenschaftler schätzen Giftmüll nur zu 26 Prozent so ein. Fragt man aber nach Spirituosen, dann kehrt sich das Verhältnis um: Während die Bevölkerung ihren Konsum nicht ganz so schlimm findet, halten die Experten ihn für viel schlimmer. Dass wir auf Verhaltensänderung hinwirken müssen, ist klar. Das können wir nur tun, indem wir dieses Programm zu einer entsprechenden Diskussion nutzen. In Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit möchte ich gerne noch ein paar Sätze zum Entschließungsantrag der CDU/CSU sagen. Ich freue mich, dass wir in der Einschätzung der Wichtigkeit des Themas derart eng beieinander liegen. Wenn man den Antrag liest, dann hat man nicht das Gefühl, dass Sie 16 Jahre an der Regierung waren. ({4}) Sie fordern beispielsweise eine Lärmsanierung an bestehenden Schienenwegen. Ich gehöre diesem Haus jetzt seit 1990 an. Von 1990 bis 1998 hat meine Fraktion jedes Jahr beantragt, entsprechende Mittel in den Haushalt einzustellen. Jedes Jahr haben Sie das abgelehnt. Erst seit dem Regierungswechsel, seit Rot-Grün an der Regierung ist, wurden 100 Millionen DM für die Lärmsanierung an Schienenwegen eingestellt. ({5}) Das ist nicht sonderlich viel; auch ich hätte mir einen höheren Betrag gewünscht. Aber Sie wissen, wie eng die Finanzen sind. Dass dies so ist, haben nicht wir zu verantworten, sondern Sie. ({6}) Mit unserem Koalitionsantrag „Umwelt und Gesundheit“ wollen wir die Prävention in den Mittelpunkt stellen. Wir haben uns hier ein sehr anspruchsvolles Programm gesetzt. Wir wollen natürlich auch - das ist hier schon oft gesagt worden - stärker auf Schutzbedürfnisse von Kindern eingehen. Wir dürfen aber nicht nur Kinder im Auge haben, wenn wir Grenzwerte diskutieren, sondern müssen auch alte, kranke und vorbelastete Menschen im Auge haben. Ich denke, wir haben sowohl mit dem Programm als auch mit unserem Antrag ein anspruchsvolles Arbeitsprogramm vorgelegt, das der Verbesserung des Umweltund Gesundheitsschutzes dient und das wir im Interesse der Menschen zügig umsetzen wollen. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben ein Aktionsprogramm vorgelegt bekommen. Sie werden sich wundern, wenn ich dieses Aktionsprogramm nicht in der Härte kritisiere, wie Sie es sonst bei verschiedenen Vorträgen von mir gewohnt sind. Ich will Ihnen auch den Grund dafür nennen: Die Debattenredner, insbesondere aus der SPD, haben immer wieder ausgeführt, die alte Regierung habe 16 Jahre lang nichts gemacht bzw. sie habe das Problem ausgesessen. ({0}) Wenn man sich aber intensiv mit der Thematik befasst, stellt man fest, dass die frühere Umweltministerin Dr. Angela Merkel ein Schwerpunktprogramm erarbeitet und vor zwei Jahren vorgelegt hat. Das haben Sie entweder nicht gelesen oder mit Erfolg verdrängt. Bei der Vorbereitung auf den heutigen Tag habe ich eine Synopse erstellen lassen zu der Frage, was zu Umwelt und Gesundheit in dem vom Ministerium vor zwei Jahren erarbeiteten Schwerpunktprogramm und was in dem steht, was Sie heute vorgelegt haben. ({1}) - Das war überhaupt nicht geheim, sondern ist auch Ihnen zugegangen. Sie hätten es nur lesen müssen. Das ist der Punkt. ({2}) Jetzt stelle ich fest, dass dieses vor zwei Jahren vom Ministerium vorgestellte Programm nahezu identisch mit dem Programm ist, das Sie jetzt vorstellen. Da gibt es überhaupt nichts Neues. Ich will Ihnen einmal an einem Beispiel klarmachen, welche revolutionären Veränderungen sich in dem Programm finden, das Sie jetzt vorgelegt haben. Im Trittin/Fischer-Papier steht: Senkung der Immissionsgrenzwerte kanzerogener Stoffe der TA Luft um 75 Prozent. Im Merkel-Papier steht: Senkung der Grenzwerte von kanzerogenen Stoffen bei der TA Luft auf ein Viertel. Ist das nicht ein gewaltiger Unterschied? Das ist geradezu revolutionär, was Sie hier zustande gebracht haben! ({3}) Dazu, um dieses umzuformulieren - das ist das Erstaunliche - , haben Sie zwei Jahre gebraucht. Jutta Müller ({4}) ({5}) Verstehen Sie jetzt, warum Sie nicht weiterkommen? Schon seit zwei Jahren liegen Aktionsbündel vor; schon seit zwei Jahren liegen Schutzziel-Entwürfe vor. Was machen Sie daraus? - Ein neues Programm, indem Sie das alte umformulieren. ({6}) Es heißt nicht mehr: „Absenkung auf ein Viertel“, sondern: „Absenkung um 75 Prozent“. Grandios, diese Leistung! ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Lippold, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hustedt?

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Im Moment nicht. - Es ist wirklich erstaunlich. Ich könnte die Positionen jetzt Punkt für Punkt weiter durchgehen. Wir stellen - um Ihnen das ganz deutlich zu sagen, was wir bei Ihnen insbesondere im Umweltbereich immer wieder erleben - fest: Außer Ökosteuer und Diskussionen um den Ausstieg aus der Kernkraft leisten und tun Sie nichts. Gelegentlich sprechen Sie davon, dass Sie irgendwann etwas vorlegen werden. Dann schreiben Sie bei uns etwas ab, damit Ihre Bilanz nicht ganz so mäßig aussieht. Die Umsetzung konkreter Dinge fehlt. Seit Ihrem Regierungsantritt ist nichts Konkretes passiert. ({0}) Das ist der Schluss, den man aus den Fakten ziehen muss. Das halte ich Ihnen mit der gebotenen Deutlichkeit vor. Damit Ihre Bemühungen nicht ganz so blass aussehen - das hat die Kollegin Flach ja zu Recht angesprochen - , wird rechtzeitig einen Tag vor der Debatte im Deutschen Bundestag ein Eckpunktepapier vorgestellt, das das Umweltministerium auf Verlangen noch nicht einmal herausgibt. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht haben Sie Angst, dass man es kritisch überschaut. Jedenfalls bekommt man es auf Nachfrage einfach nicht. Für eine Pressekonferenz reicht es aber. Dabei wird dann wieder der Anschein erweckt, als würde man sich intensiv mit den Problemen auseinander setzen. Im Herbst letzten Jahres hat meine Fraktion den Antrag eingebracht, dass die Fluglärmnovelle jetzt endlich von Ihnen auf den Weg gebracht wird. Es gab keine konkrete Reaktion darauf; es wurde nicht gehandelt. Jetzt legen Sie ein schwammiges Eckpunkteprogramm vor. Bei Nachfragen von Journalisten nach Details stellte sich heraus, dass der Minister keine Antworten geben kann, weil das alles noch nicht durchgeprüft sei. Was soll das denn? Sie müssen in diesem Bereich handeln und dürfen nicht immer nur neue Sprechblasen produzieren. Aber es passiert nichts. ({1}) Ich komme zu einem weiteren Punkt, der auch mit dem Thema Umwelt und Gesundheit zusammenhängt. Als die Grünen in Hessen noch in der Regierung waren, haben sie sicherheitserhöhende Maßnahmen im Kraftwerk Biblis verhindert. Jetzt, da sie nach dem Wechsel der Regierung für Biblis nicht mehr direkt das Sagen haben und sicherheitserhöhende Maßnahmen von der neuen Landesregierung durchgesetzt werden, blockt das Bundesumweltministerium diese Maßnahmen ab. Läuft das auch unter dem Aspekt Gesundheitsschutz? Wer sich ernsthaft mit diesen Problemen auseinander setzt, kann doch sicherheitserhöhende Maßnahmen nicht verhindern wollen. Genau das aber tut diese Bundesregierung. Auch das gehört in diesen Kontext und das muss man Ihnen ganz einfach einmal sagen. ({2}) - Nein, das, was Sie hier machen, ist nicht gut. Sie reden nur und handeln nicht. ({3}) Das kann man Ihnen so nicht durchgehen lassen. ({4}) Ich möchte auch noch einmal daran erinnern, dass Sie, Frau Fischer, mit der Gesundheitsreform und der Diskussion darüber im letzten Jahr wirklich keinen Beitrag dazu geleistet haben, dass die Menschen in dieser Republik sich von Ihnen angenommen gefühlt haben konnten und mit ihren Problemen von Ihnen ernst genommen werden. Nein, die hektische Vorlage eines unzureichenden Papiers, das viel mehr Bürokratie, für die Menschen aber viel weniger Leistung in diesem wichtigen Bereich versprach, ({5}) war ein Trauerspiel. Sie kamen hier mit einer unvollständigen Vorlage an, haben dann behauptet, wir hätten alles beschlossen, und mussten hinterher eingestehen, dass 20 Seiten gefehlt haben. Die Menschen können sich doch gar nicht ernst genommen fühlen, wenn eine so schlamperte Arbeit geleistet wird. ({6}) Das gehört auch in diesen Zusammenhang, wenn man über Umwelt und Gesundheit diskutiert, und das kann ich Ihnen nicht ersparen. ({7}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir das Thema Umwelt und Gesundheit erörtern, sollten wir uns einen Moment Zeit dafür nehmen, es nicht nur für unser Land, sondern auch global zu betrachten. Es ist sehr verdienstvoll, dass sich die Agenda 21 intensiv mit dieser Problematik auseinander setzt und deutlich macht, dass menschliche Gesundheit von einer gesunden UmDr. Klaus W. Lippold ({8}) welt, von sauberem Wasser und einer ausreichenden Menge an gesunden Nahrungsmitteln abhängt. „Wir müssen die menschliche Gesundheit“, so heißt es dort, „und die Gesundheit der Umwelt gleichermaßen pflegen.“ Wir haben damals diese Agenda mit getragen und mit dafür gesorgt, dass sie weltweit publik und zum Gegenstand von Programmen und Aktivitäten wird. Wir setzen uns heute dafür ein, dass dieser Zusammenhang auch in der bundesdeutschen Politik beachtet wird. Das heißt, wir müssen globales Denken in unser lokales und bundesrepublikanisches Handeln Eingang finden lassen, wenn es um den Aspekt von Umwelt und Gesundheit geht. Dabei muss man sehen, dass die Probleme global viel gravierender als bei uns sind. Anderswo sind Menschen durch Umweltschäden in wesentlich existenziellerer Form bedroht, als es bei uns der Fall ist. Sieht man die Chrombelastung im Wasser, weil in Gerbereien das Abwasser nicht gereinigt wird und der Einsatz von bestimmten Stoffen nicht vermieden wird, wie es bei uns der Fall ist, sieht man, welche Krankheiten die Menschen davontragen, weil das Wasser verunreinigt wird oder weil Schlämme auf die Felder aufgetragen werden, ({9}): Als Folge des Pestizidexports!) dann wird die Verpflichtung deutlich, dass wir hier nicht nur an uns denken dürfen, sondern dass wir auch in globalem Zusammenhang Visionen entwickeln müssen, wie mit diesen Problemen umzugehen ist. Deshalb stehen wir auch zu unseren internationalen Verpflichtungen; das sage ich hier ganz deutlich. Dabei denken wir daran, dass wir nicht nur national, sondern auch global Luftschadstoffe eliminieren müssen. Hochsensible Gebiete in der Arktis, hochsensible Biotopsysteme im nördlichen Kanada werden heute durch Luftschadstoffe beeinträchtigt, die an völlig anderen Stellen der Erde produziert und emittiert werden. Dies zeigt, dass sich lokales Handeln allein zum Schutze der Umwelt nicht auszahlt, sondern dass wir global denken müssen. Wir müssen also andere Visionen haben und dürfen uns nicht nur in eingeschränkter Weise mit unseren eigenen Problemen beschäftigen. ({10}) Wenn wir vom Bereich der ultravioletten Strahlen sprechen, dann müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass wir den Schutz der Ozonschicht in der Stratosphäre nach wie vor ungeheuer ernst nehmen müssen. Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen führt zutreffend aus, dass dieses Problem zwar jetzt noch nicht unser Kernproblem ist, dass aber schon die Länder der südlichen Hemisphäre davon viel stärker betroffen sind. Wir wissen, dass diese - aufgrund des Ozonlochs - erhöhte UV-B-Strahlung in einem verstärkten, um nicht zu sagen: in einem dramatischen Umfang Krebs auslöst und Augenkrankheiten hervorruft. Damit wir hier zu wirksamen Problemlösungen kommen, müssen wir dafür sorgen, dass der Technologietransfer in die Länder der Dritten Welt wesentlich schneller stattfindet, als das bislang der Fall war. Dass wir in der Bundesrepublik beispielhaft gehandelt haben, indem wir im Vergleich zur internationalen Gemeinschaft blitzartig aus der FCKW-Produktion ausgestiegen sind, war ein notwendiger Beitrag. Aber wenn die anderen Länder FCKW weiterproduzieren, weil wir den Technologietransfer nicht vorantreiben, dann werden wir das Problem nicht lösen. Ich appelliere deshalb dafür, dass wir dieses Problem nach wie vor im Auge behalten. Wir müssen weltweit darauf achten, dass besonders vulnerable und anfällige Gruppen wie Säuglinge und Kinder besser geschützt werden, als das derzeit der Fall ist. Wo stehen wir in der Bundesrepublik Deutschland? Ich glaube, dass 16 Jahre Umweltschutzpolitik in erheblichem Maße Früchte getragen haben. In den vergangenen Jahren ist die Belastung der Bevölkerung hinsichtlich der Schadstoffkonzentrationen erheblich verringert worden. Wir haben die Konzentrationen von Kohlenmonoxid, Schwefeldioxid und Benzol, die Konzentrationen von Schwermetallen wie Blei sowie von Giften wie Arsen und Quecksilber um über 70 Prozent deutlich gesenkt. Das ist angesichts dessen, was wir heute unter dem Aspekt Umwelt und Gesundheit diskutieren, ein ganz wesentlicher Fortschritt. ({11}) Wir haben zum Schutz der Bevölkerung auch im Bereich der ionisierenden und nicht ionisierenden Strahlung fortschrittliche Rechtsvorschriften geschaffen. Die geltenden Grenzwerte sind ausreichend. Dass wir sie noch verbessern können, darüber müssen wir miteinander diskutieren. Ich habe die umweltpolitischen Maßnahmen nur kurz skizziert. Ich bin nicht ausführlich auf die Maßnahmen zum Gewässerschutz, zum Grundwasserschutz und zum Bodenschutz eingegangen, die ein ganz wesentlicher Punkt in diesem Bereich sind. International sind wir die Ersten, die ein Bodenschutzgesetz geschaffen haben und die damit die entsprechenden Maßnahmen eingeleitet haben. Diese Maßnahmen haben zwar zu einem hohen Schutzniveau für die menschliche Gesundheit geführt die Belastung für die Menschen konnte erheblich reduziert werden - , aber trotz dieses erreichten hohen Schutzniveaus können Umweltfaktoren für sich allein oder in Kombination mit anderen Faktoren zur Entstehung oder Verstärkung von Erkrankungen beitragen. Der Zusammenhang, um den es hier geht, ist wissenschaftlich vielfach noch nicht hinreichend erforscht. Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen uns fragen, wie wir Umwelteinflüsse identifizieren können, wie wir eine Beziehung zwischen Umwelteinflüssen und gesundheitlicher Beeinträchtigung herstellen können und wie wir aus der Kenntnis von Kombinationswirkungen lernen können. Wir haben in diesem Bereich nach wie vor einen ganz erheblichen Nachholbedarf, obgleich wir in Deutschland auf diesem Gebiet wesentlich mehr geleistet haben als die anderen europäischen Länder. ({12}) Dr. Klaus W. Lippold ({13}) Trotzdem stehe ich zu der Verpflichtung, dass wir hier weiterarbeiten müssen, weil der Schutz der Bevölkerung ein solches Vorgehen erfordert. Wann sind Umwelteinflüsse ein Gesundheitsrisiko? Ich glaube, gerade diese Frage umfasst eines der heikelsten Probleme der genannten Themenkreise. Hier beginnt und endet manchmal jede Diskussion. Manche Sachverhalte stellen subjektiv ein hohes Risiko dar, obwohl sie naturwissenschaftlich gesehen ein eher niedriges Risiko darstellen - und umgekehrt. Laien und Experten schätzen Risiken unterschiedlich ein; denn ihren Einschätzungen liegen unterschiedliche Rationalitäten zugrunde. Laien haben ein intuitives Risikoverständnis. Deshalb müssen wir heute in Sachen Risiko zu mehr Transparenz kommen. Wir müssen Kriterien entwickeln, wie wir die Sachverhalte rationaler bewerten können und wie wir sie der Bevölkerung rationaler vermitteln können. Wenn wir den Menschen ihre bei ihnen unbegründet produzierten Ängste nehmen - diese Ängste können entstehen, weil Risikofaktoren in ihrer Wirkung verzerrt dargestellt werden - , dann tragen wir damit dazu bei, die Menschen vor gesundheitlichen Gefahren zu bewahren; denn auch Angst kann ein Faktor sein, um Krankheiten oder psychische Beinträchtigunen auszulösen. Diese Beeinflussung wollen wir vermeiden. Wir wollen den Menschen die Ängste nehmen und sie nicht zusätzlich schüren. In der Vergangenheit haben Sie in dieser Frage mit verschiedensten Stoffkampagnen genau zum Gegenteil beigetragen. Sie haben Risiken unendlich hoch gepuscht - das Wort „Pseudokrupp“ ist heute Morgen schon gefallen - , Ängste instrumentalisiert, um bestimmte Dinge zu verhindern. Solange Sie nicht gegen Kernkraftwerke waren, haben Sie im Umfeld von Kohlekraftwerken die Pseudokrupp-Debatte geschürt, bei Menschen Ängste geschaffen. ({14}) Als Sie auf die Kernkraftdiskussion umgestiegen sind, habe ich keinen mehr aus Ihren Reihen erlebt, der auf diese Gefahr hingewiesen hat. Instrumentalisiert haben Sie die Ängste, und das ist falsch, weil Sie den Menschen damit noch mehr Angst gemacht haben und sie damit stärkeren gesundheitlichen Risiken ausgesetzt haben, als in der Sache selbst gegeben waren. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Das muss anders werden. Ich meine, dass wir stärker zusammenarbeiten müssen, um zu Regelungen zu kommen, mit denen wir diese Problematik zukünftig gemeinsam besser lösen. Auch darin liegt eine Chance für die Bevölkerung, eine Chance für die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun erteile ich der Parlamentarischen Staatssekretärin Gila Altmann das Wort.

Gisela Altmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002618

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hier ist so viel von Ängsten die Rede. Ich muss sagen, ich habe am meisten Angst vor dem Halbwissen der Opposition, so wie es sich heute Morgen dargestellt hat. ({0}) Die Politik macht sich ja so gerne für die Jugend stark. In allen Politikfeldern reden wir heute von der Jugend: bei den Arbeitsplätzen, beim Thema Bildung, sogar bei der Rente. Aber was tun wir eigentlich dafür, dass die Kinder und Jugendlichen gesund bleiben? Hier setzt das Projekt „Umwelt und Gesundheit“ an. Zur Zeitrechnung von Herrn Lippold muss ich sagen: Wir haben das Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“ letzten Sommer vorgestellt. Wenn Sie ein halbes Jahr brauchen, um es zu lesen, dann wundert mich gar nichts mehr. Die zunehmende Umweltbelastung trifft vor allem Kinder und ihre Gesundheit. Kinder sind die Leidtragenden unseres ungebremsten Fortschrittsglaubens. Sie sind weltweit besonders betroffen bei Umweltkatastrophen wie Überschwemmungen, Dürren und Hurrikans, Frau Lengsfeld, die in der Häufigkeit auch Folge von Umweltzerstörung sind. ({1}) Das heißt, indem wir unsere Umwelt schützen, schützen wir auch die Gesundheit unserer Kinder. Die zunehmende Globalisierung trägt dazu bei, dass die weltweiten Umweltbelastungen zunehmen und damit auch das Tempo, in dem sich Krankheiten ausbreiten. Das Sondergutachten des Rates der Sachverständigen für Umweltfragen fordert, dass wir uns mit den Risiken von Umwelteinwirkungen, deren Erkennbarkeit und Einschätzung sowie den Strategien zum Schutz wie auch insbesondere mit der Vorsorge stärker als bisher beschäftigen. Dabei geht es auch immer wieder um die Frage des gesellschaftlichen Kontextes, also um die Fragen: Wie viel Risiko kann oder will sich diese Gesellschaft leisten? Wo stehen Umwelt und Gesundheit in Konkurrenz zu Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und menschlicher Bequemlichkeit? Bei drei Problemfeldern sieht das Sondergutachten zurzeit Risiken, die in dieser Gesellschaft unterschätzt werden. Das sind die Probleme des Zusammenhangs von Allergien und Umwelteinflüssen, die Belastung durch ultraviolette Strahlung und die Belastung durch Lärm. Der Lärm ist heute schon ein paar Mal angesprochen worden. Auch ich möchte bei diesem Beispiel bleiben. Lärm, der akustische Abfall, ist in seiner Wirkung lange Zeit dramatisch unterschätzt worden. Und, Frau Lengsfeld, er schädigt auch dann, wenn er positiv wahrgenommen wird. Dr. Klaus W. Lippold ({2}) ({3}) Bei Letzterem, dem so genannten Freizeitlärm, zum Beispiel durch Walkmen oder in Discos, tut Aufklärung Not. Das haben Sie ja bewiesen. ({4}) Noch ein Wort, Frau Lengsfeld, zum Transrapid, dem „Leisetreter“. Bei 400 Stundenkilometer - so war es ja geplant - ist der Zug 93 dB laut. Zum Vergleich: Ein Presslufthammer erzeugt 95 dB. ({5}) Lärm beeinträchtigt nicht nur die Lebensqualität, sondern erhöht den Stress. Ab einem Lärmpegel von 65 Dezibel - das wurde schon gesagt - steigt das Risiko von Herz- und Kreislauferkrankungen, von Schwerhörigkeit einmal ganz abgesehen. Besonders sensibel sind die Nachtzeiten und die Aufweckereignisse, das heißt die Anzahl der Momente, in denen der Schlaf gestört wird. All dies sind Erkenntnisse, die sich erst im Laufe der letzten 30 Jahre durchgesetzt haben. So alt ist nämlich das Fluglärmgesetz. Frau Flach, ich finde es schon prickelnd, wenn Sie von Aktionismus sprechen. Sie haben doch die Hände jahrelang in unverantwortlicher Weise in den Schoß gelegt, obwohl Sie etwas hätten tun können. Wenn Sie von Beteiligung reden, so muss ich sagen, dass wir als Opposition in der letzten Legislaturperiode Anhörungen zu diesem Thema erzwungen haben. Das hätten Sie in den Protokollen nachlesen können. Das Desinteresse der damaligen Regierung war offensichtlich. Es ist auch klar, warum: Es war die Angst vor der eigenen Courage. Denn obwohl dringend geboten, ist es nicht so einfach, gegen Fluglärm vorzugehen. Da gibt es ökonomische Interessen, zum Beispiel die der Betreiber der Flughäfen und derjenigen, die dort ihre Arbeitsplätze haben. Wir müssen aber auch sehen, dass diesen ökonomischen Interessen volkswirtschaftliche Kosten, und zwar in Milliardenhöhe, entgegenstehen. Es wird Zeit, dass wir solchen Interessen stärker als bisher das Ruhebedürfnis der Bevölkerung entgegenstellen. Das gilt insbesondere für alte Menschen, für Kranke und besonders für Kinder als die verletzlichsten Mitglieder unserer Gesellschaft. Die Bundesregierung nimmt das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und seine Umsetzung sehr ernst. Wir haben das in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben. Zurzeit wird ein Gesamtkonzept zum Schutz vor Verkehrslärm erarbeitet. Dieses Konzept soll die Basis für eine verbesserte Rechtsgrundlage bilden. Frau Flach, auch hier haben Sie sich als sehr schlecht informiert gezeigt, wenn Sie fordern, dass wir Schienen schleifen sollen. Ich kann Ihnen dazu nur sagen, dass wir dies bereits tun. 1999 und 2000 haben wir 100 Millionen DM im Haushalt des BMV für diese Lärmschutzmaßnahmen eingestellt. Es wird etwas getan. Es ist gut, dass das Eckpunktepapier zum Fluglärmgesetz vorliegt, das übrigens in nächster Zeit mit allen Beteiligten, Frau Flach, intensiv diskutiert wird. Ihre Bedenkenträgerei ist wirklich allzu durchsichtig. ({6}) Das Gesetz soll unter anderem erstmalig einen allgemeinen Nachtschutz in der Umgebung von Flughäfen einführen und es soll an den Erkenntnissen der Lärmwirkungsforschung orientierte neue Grenzwerte für den Fluglärm vorschreiben. Insofern bilden die vier Bausteine - das TAB-Projekt, das gemeinsame Aktionsprogramm, das Sondergutachten und der vorliegende Antrag der Regierungsfraktionen - eine gute Grundlage für die weitere Arbeit in diesem Bereich. Dazu gehört auch die Grundeinstellung, dass es nicht um partielle, sondern um gemeinsame Interessen geht. Danke schön. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion, das Wort.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Umwelt und Gesundheit bedarf einer ganzheitlichen Betrachtungsweise. Denn ohne Zweifel sind viele Ursache-WirkungsBeziehungen, beispielsweise bei der multiplen Chemikalien-Überempfindlichkeit, noch unklar. Es existieren einige, in sich schlüssige Theorien. Es stehen allerdings gesicherte Beweisketten noch aus. Gleichwohl gibt es augenscheinlich diese Krankheit mit ihren Müdigkeitsund Depressionsbildern, mit Symptomen wie schweren Kopfschmerzen, Übelkeit, Konzentrationsstörungen und anderes mehr. Die Betroffenen leiden oft unermesslich. Deshalb spielt es nicht nur für die Erkrankten, sondern auch für die Gesellschaft eine untergeordnete Rolle, ob sie aufgrund tatsächlich bestehender oder vermeintlicher Risiken oder auch nur aufgrund der als bedrohlich empfundenen Gesamtsituation erkranken. Ihnen muss geholfen werden. ({0}) Doch was sind die Ursachen für das rapide Anwachsen von Überempfindlichkeiten und Allergien? Bereits bei der letzten Debatte über endokrine Stoffe habe ich darauf hingewiesen: Trotz vieler Erfolge bei der Verminderung von Schadstoffemissionen fungiert unser Körper als Sammelstelle für die Nebenprodukte der Wohlstandsgesellschaft. Einige Hundert, meist langlebige Chemikalien parken wir in unseren Organismen. Die Umwelt wird mit Hunderttausenden von menschlich geschaffenen Chemikalien bombardiert. Stress, Lärm und Strahlungen, summarische oder Kreuzreaktionen bzw. katalytische Wirkungen können die Toxizität oder Schädlichkeit verstärken, schwächen oder sogar umwandeln. Kurz gesagt: Der Cocktail ist etwas unübersichtlich geworden. Deshalb möchte ich zwei Ansätze des Aktionsprogramms „Umwelt und Gesundheit“ positiv hervorheben: erstens die Interdisziplinarität, zweitens den Vorsorgegedanken. Die Diskussion um aus der Umwelt stammende Gesundheitsrisiken erfordert eine fundierte Risikobetrachtung. Auch da stimmen wir der Regierung zu. Denn schließlich müssen aus der Flut von tatsächlich begründeten Meldungen über neue Schadstoffe und Risiken auf der einen Seite und dem sicher ebenso großen Strom von Halbwahrheiten, interessengeleiteten Abwiegelungen der Industrie und schließlich auch aus Wissenslücken resultierenden widersprüchlichen Warnungen auf der anderen Seite konkrete Schlussfolgerungen gezogen werden, die dann in der Umsetzung Geld kosten. Bei alldem sollte aber nicht aus den Augen verloren werden: Die Analyse steht nicht am Anfang. Dass beispielsweise der ständig wachsende Verkehr mit seinen Emissionen von Gasen, Feinstäuben und Lärm, mit seinem Stresspotenzial und seiner Naturraumzerstörung einer der wichtigsten Risikofaktoren der Industriegesellschaft ist, liegt auf der Hand. Es gibt auch experimentelle Hinweise auf die schädliche Wirkung von Feinstäuben aus Dieselmotoren für die Lunge und das HerzKreislauf-System. Doch während Frau Fischer und Herr Trittin am Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“ basteln, schnitzt Herr Klimmt an weiteren sechsspurigen Autobahnen, die zusätzlichen Verkehr erzeugen werden. Ich meine, das ist ein Witz. Gleiches gilt für die Lärmschutzprogramme, deren Erstellung schon meist nicht finanzierbar ist, geschweige denn ihre Realisierung. Wollen wir mit der Vermeidung von Verkehr so lange warten wie bei der von FCKW? Das Gutachten des Sachverständigenrates dokumentiert ständig steigende Zahlen von Hautkrebserkrankungen durch die Zerstörung der Ozonschicht. Das ist die Quittung für fehlende Vorsorge und leichtfertigen Umgang mit umweltrelevanten Chemikalien. Leider habe ich keine Zeit mehr, etwas zu den Berufskrankheiten zu sagen. ({1}) Niemand hier im Raum hat darüber gesprochen. Auch zu den Opfern der unsäglichen Holzschutzmittelaffäre kann ich nichts mehr sagen. Es ist ein großer Skandal, dass diese Opfer nicht entschädigt wurden. Auch dafür könnte noch etwas getan werden. Danke. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Müller, SPD-Fraktion.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sehen in der Debatte über Umwelt und Gesundheit einen wichtigen Beitrag zur Modernisierung des Gesundheitswesens. Wir halten es für dringend notwendig, dass wir - so wichtig das ist - nicht nur über Kosten und Organisationsstrukturen sprechen, sondern auch über die Frage der Inhalte, wie unser Gesundheitssystem zukunftsfähig und modern gestaltet werden und wie es den Menschen besser helfen kann. Deshalb geht es hier um einen Ansatz, der die Inhalte der Gesundheitspolitik überdenkt und weiterentwickelt. Das halten wir für richtig. ({0}) Entscheidend hierfür sind vor allem zwei Faktoren. Der erste Faktor- ist die Veränderung in den Krankheitsbildern. Wir erleben immer häufiger unspezifische chronische Krankheiten, die dann oftmals Türöffner für weiter gehende, schwere und auch sehr teuer zu behandelnde Krankheiten sind. Der zweite Faktor ist, dass wir gerade im Medizinsektor eine der wichtigsten Innovationsbranchen der Zukunft sehen. Wir glauben, dass in der Bundesrepublik große Chancen, auf diesem Markt bestehen, insbesondere im europäischen Raum an der Spitze zu sein. ({1}) Deshalb ist es sehr wichtig, die Modernisierung des Medizinsektors in allen ihren Facetten, von der technologischen Seite, der wissenschaftlichen Seite und dem Verhältnis Patient-Arzt insgesamt her, zu beleuchten und das System, wo immer Schwachstellen sind, zu verbessern. Wir sehen die Gesundheitsreform als einen Einstieg hierfür, auf dem wir aufbauen wollen. ({2}) Es kommt nicht von ungefähr, dass sich auch die Umweltpolitiker für dieses Ziel interessieren. Denn, im Kern ist in der Gesundheitspolitik eine ähnliche Denkweise wie in der Umweltpolitik erforderlich. Umweltpolitik ist auf Dauer nur erfolgreich, wenn wir von der Nachsorge zur Vorsorge kommen. ({3}) Dasselbe gilt in der Gesundheitspolitik. Wir brauchen einen vorsorgenden Gesundheitsschutz oder, um es anders auszudrücken, wir müssen - so wichtig sie bleibt weg von der Krankheitspolitik und hin zur aktiven Gesundheitsförderung kommen. Um diese Veränderung geht es. ({4}) Das ist auch das, was die Weltgesundheitsorganisation im Hinblick auf die Aufstellung der Pläne Umwelt und Gesundheit definiert hat, indem sie sagte: „Gesundheit müssen wir als Zustand des Wohlbefindens und nicht nur als Zustand des Freiseins von Krankheit definieren.“ ({5}) Dies ist übrigens auch die Ansicht von modernen, weiter blickenden Medizinern. Wir sollten uns sehr viel mehr an diesen orientieren als an verkrusteten Ständeinteressen, die leider allzu häufig blockieren und verhindern. Um es mit Dietrich Grönemeyer zu sagen: „weg von der Krankheitspolitik hin zur modernen Gesundheitspolitik“. ({6}) - Man kann es Ihnen nicht oft genug sagen. ({7}) Dies ist auch deshalb wichtig, weil wir dann, wenn wir keine Modernisierung des Gesundheitswesens erreichen, in die Gefahr geraten, dass aufgrund der knappen Mittel Selektionsmechanismen entstehen. Wir möchten nicht, dass es am Ende heißt: Nur wer Geld hat, lebt länger, weil er sich eine umfangreichere gesundheitliche Versorgung leisten kann. Das darf nicht sein. Auch deshalb wollen wir eine Modernisierung des Gesundheitssystems. Diese Neuorientierung ist für uns ein Kernbereich einer modernen Gesundheitspolitik. ({8}) - Herrn Grill antworte ich nicht. Bei jedem anderen würde ich das tun, bei Ihnen aber derzeit nicht. Da haben wir leider zu viele unangenehme Erfahrungen gemacht. ({9}) Das Gesundheitswesen ist aus unserer Sicht noch viel zu sehr auf das Kranksein ausgerichtet. Wir wollen es sehr viel stärker sowohl auf die Verbesserung der Umwelt, um die Gesundheit zu erhalten, als auch auf die Stärkung des Einzelnen - er soll wissen, was er tun muss, um seine Gesundheit zu sichern und zu erhalten ausrichten. Mit dieser Grundfrage hat sich auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen beschäftigt. In seinem Sondergutachten heißt es sinngemäß: Alle Krankheiten gehen letztlich auf genetische Faktoren oder auf Faktoren aus der Umwelt zurück; in der Regel sind es beide. - Für uns ist es erschreckend, dass wir in der Zwischenzeit Studien vorliegen haben, die zu dem Ergebnis kommen, dass in der Bundesrepublik bis zu 25 Millionen Menschen auch aufgrund von Umweltfaktoren erkrankt sind. Dies betrifft insbesondere Allergien, Atemwegserkrankungen und Immundefekte. Das sind Zahlengrößen, angesichts deren wir nicht sagen können: Die sind uns egal. Im Gegenteil: Das Fazit von Dietrich Grönemeyer: „Die Menschen sind zwar nicht richtig krank, aber sie sind auch nicht richtig gesund“ ist richtig. Man kann das auch so bezeichnen: Es gibt mehr und mehr eine Art Krankheit vor der Krankheit. ({10}) - Es ist schon interessant, dass Sie über so etwas lächeln. Viele Gesundheitsexpertern führen darüber eine sehr wichtige Debatte. Es wird gesagt: Wir dürfen nicht nur über den Ausbruch von Krankheiten nachdenken, sondern müssen vor allem auch über die Faktoren sprechen, die Vorschädigungen hervorrufen. Das ist übrigens auch für die Modernisierung des Gesundheitswesens eine ganz zentrale Frage. ({11}) Ich muss Ihnen sagen: Ihre Reaktionen scheinen mir in einem eklatanten Widerspruch zu den Aussagen Ihrer Redner, dass sie dieses Thema wichtig nehmen, zu stehen. Wenn sie dies täten, müssten sie auch zu dieser Erkenntnis kommen. ({12}) Wir müssen über die Krankheit vor der Krankheit, also über die Vorschädigungen, sprechen und alles dafür tun, den Umfang der Vorschädigungen zu reduzieren. Ich weise darauf hin, dass in der sehr lesenswerten Studie „Med. in Deutschland“ steht: Der alltägliche Medizinbetrieb steht dieser Entwicklung oftmals konzeptionslos gegenüber. Die Folgen sind: Ausgrenzung von Patienten, ungeeignete kostentreibende Behandlungsmethoden oder Psychiatrisierung von Kranken. Deshalb sprechen wir über Vorschädigungen, also über die Verursachung von Krankheiten, und nicht nur über die Krankheit selbst. Das ist der Paradigmenwechsel, der endlich in den Vordergrund gebracht werden muss. ({13}) Von daher ergeben sich für uns fünf wichtige Zielsetzungen. Erstens. Wir wollen eine systematische und umfassende Erweiterung in der Bewertung von Krankheitsursachen erreichen. Zweitens. Wir wollen vor allem die Immunologie als wesentliches Instrument für Diagnostik und Therapie stärken. Wir haben in Deutschland mit Paul Ehrlich in der Immunologie eine Tradition. Wir sollten an dieser Tradition sehr viel stärker ansetzen. Hierin liegt als dritte Säule eines Gesundheitssystems ein wesentlicher Faktor, um vorsorgend Krankheiten bekämpfen zu können. Ich hoffe, dass wir einer Meinung sind, dass der Ausbau der Immunologie sehr wichtig ist. Drittens. Wir wollen durch die Gestaltung von Arbeits- und Lebensumwelt sehr viel stärker erreichen, dass Krankheiten möglichst vermieden werden. Michael Müller ({14}) Viertens. Wir wollen alles tun - da begrüßen wir das Programm der Bundesforschungsministerin -, um Innovationen in diesem Bereich zu forcieren. Wir haben mit Freude die Ankündigung vernommen, dass es einen Schwerpunkt Gesundheitsforschung geben wird. Fünftens. Wir wollen natürlich die Patienten, die Betroffenen selbst, zu sehr viel mehr motivieren, denn Selbsthilfe und Selbstverantwortung sind ein wesentlicher Teil aktiver Umwelt- und Gesundheitspolitik. Meine Damen und Herren, der Medizinsektor ist eine der wichtigsten Wirtschaftsbranchen. Direkt und indirekt sind ungefähr zwölf Prozent aller Beschäftigten in diesem Bereich tätig oder von ihm abhängig. In diesem Bereich können wesentliche Innovationen und eine erhebliche Leistungsfähigkeit der Wissenschaft erreicht werden. Deshalb möchten wir, dass die Bundesrepublik auf diesem Feld Spitze bleibt. Wir haben leider in den letzten Jahren vernehmen müssen, dass wir ins Hintertreffen geraten und etwas zurückgefallen sind. Deshalb begrüßen wir die Anstrengungen, diesen Sektor zu stärken, und fordern alle Beteiligten - Wirtschaft, Wissenschaft, Medizinorganisation, Patienten, Ärzte - auf, ein Netzwerk für eine moderne Medizinpolitik in Deutschland zu bilden. Deshalb wollen wir auch, dass sehr viel mehr Modellprojekte im Bereich Umwelt und Gesundheit umgesetzt werden. Es geht nicht, dass nur gesagt wird - wie wir es in den letzten Jahren oft gehört haben -: Da muss weiter geforscht werden. Wir haben inzwischen so viele konkrete Anhaltspunkte, dass daraus endlich modellhafte Schlussfolgerungen zu ziehen sind. Das gilt auch für MCS und CFS. ({15}) Wir wollen den Abbau von Hemmnissen gegen Erneuerungen. Damit meine ich jetzt weniger den staatlichen Sektor als vielmehr die Standes- und Selbstorganisation. Von Region zu Region erlebt man eine völlig unterschiedliche Offenheit gegenüber neuen Erkenntnissen. Es darf nicht sein, dass es vom Zufall abhängt, ob man bestimmte Hilfen bekommt, nur weil man entweder in Süddeutschland oder in Norddeutschland, in Ost oder West lebt. ({16}) Im Gegenteil, es muss Teil der Volksgesundheit sein, moderne Erkenntnisse auch anzuwenden, und zwar unabhängig davon, wo man wohnt. ({17}) Wir wollen, dass die Ignoranz gegenüber neuen Erkenntnissen, die zum Teil vorhanden ist, beendet wird. Es kann schon sein, dass sich manche in ihren Vorhersagen auch mal irren. Wer täte das nicht? Aber noch schlimmer ist es, wenn man neue Erkenntnisse völlig ignoriert und sie nicht zumindest einmal ernsthaft prüft und aufgreift. Das verlangen wir auch und gerade in der Gesundheitspolitik. Meine Damen und Herren, wir befinden uns in einer Zeit einzigartiger medizintechnischer und medizinversorglicher Möglichkeiten. Ich weise nur darauf hin, dass beispielsweise in den USA durch das Internet die Beratungsintensität zwischen Medizin und Patient stark zugenommen hat. Wir haben mit solchen technischen Möglichkeiten auch ganz andere Voraussetzungen, den Kontakt zwischen Medizinern und Patienten zu verbessern. Wir sollten so etwas nutzen. Es darf auch nicht sein, dass die Beratung, die Betreuung und die Fürsorge für Patienten reduziert werden, weil die Ärzte keine Zeit haben oder weil ihre Beanspruchung dies einfach nicht mehr zulässt. ({18}) - Ich habe Ihnen doch gesagt, es wäre gewissermaßen eine Chance, dies über solche Patienteninformationssysteme auszuweiten. Warum soll man das nicht versuchen? In anderen Ländern wird es gemacht. Wir können die Bundesregierung - ich weiß, dass sie solche Überlegungen auch hat - nur unterstützen. Es ist ein sinnvoller Ansatz. Wir möchten den Bereich immunologischer und umweltmedizinischer Diagnostik ausbauen. Ich habe eben schon davon gesprochen, dass für uns insbesondere die Immuntherapie ein ganz wichtiger Ansatz ist. Wir sehen darüber hinaus in dem technischen Fortschritt - insbesondere in miniaturisierten Verfahren, insbesondere in schonenden Operationsweisen - eine große Chance, aus der Verbindung von Vorsorge, mehr Beratung, Hightechmedizin und schonenden Behandlungsmethoden neue Vorteile für die Menschen zu erreichen. ({19}) - Ich komme jetzt dazu. Natürlich ist es richtig, dass einzelne neue Behandlungsweisen teurer sind. Aber durch die Umstellung auf eine solche moderne Medizin werden erhebliche Kostenersparnisse erreicht. Das muss man in einem Zusammenhang sehen. Es ist richtig, dass nicht generell alles billiger wird - wer behauptet das? -, aber in bestimmten Bereichen werden schwere Krankheiten dadurch, dass wir mehr Vorsorge betreiben, verhindert, was dann natürlich zu Kostenersparnissen führt, insbesondere bei den zeitaufwendigen und sehr kostenintensiven Behandlungsverfahren. Diesen Zusammenhang muss man sehen. Auch die Zeit, die für die Erbringung medizinischer Leistung nötig ist, kann durch moderne Verfahren deutlich verkürzt werden. Auch das ist ein Ansatz für Kostenreduzierung. Eine rein quantitative Betrachtung wird uns nicht helfen. Und vor allem: Eine moderne Gesundheitspolitik hat die Chance, die Menschen zufriedener zu machen. Das ist ein hohes Ziel unserer Politik. Michael Müller ({20}) ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Kurt-Dieter Grill, CDU/CSU-Fraktion.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe bei der Rede des Herrn Michael Müller in Anbetracht des Szenarios, das er gezeichnet hat, eine Frage stellen wollen, nämlich: Wie bringt er - und manch andere, die hier geredet haben die Gefahrenbeschreibung in Einklang mit der Tatsache, dass in der Bundesrepublik Deutschland die mittlere Lebenserwartung stetig steigt? Denn das bestätigt die Prognosen, die hinsichtlich der Gefährdung abgegeben werden, nicht. In der Bundesrepublik Deutschland hatten wir 1990 eine Situation, die das dramatisch deutlich gemacht hat: Die mittlere Lebenserwartung in der ehemaligen DDR lag um fünf bis zehn Jahre niedriger als die in den westlichen Industrienationen. Deswegen ist die letzte Fraktion, die in diesem Hause behaupten kann, es werde im Zusammenhang mit Gesundheit und Umwelt nichts getan und die Menschen seien gefährdet, die Fraktion der PDS. ({0}) Ich musste mich damals in Niedersachsen damit beschäftigen, wie wir 20 000 atemwegerkrankten Kindern allein aus der Region Halle einen vierwöchigen Nordseeaufenthalt gönnen konnten, damit sie wieder eine Perspektive bekamen. Eine andere Bemerkung: In den Jahren 1982 bis 1984 haben wir eine Diskussion über die vom Kraftwerk Buschhaus ausgehende Gefährdung der Menschen, insbesondere der Kinder, geführt. In dieser Republik hat damals eine Diskussion über Pseudokrupp stattgefunden - Klaus Lippold hat darauf hingewiesen -, in der zum Ausdruck kam, dass man in Braunschweig, Helmstedt und darüber hinaus sogar Tote zu befürchten habe. Das Kraftwerk Buschhaus läuft und kein Mensch redet mehr über diese Frage. Deswegen rate ich uns, die Dinge ernst zu nehmen, sich aber davor zu hüten, Schreckensszenarien in dem Maße zu entwickeln, wie das Herr Müller getan hat. Denn dies steht im krassen Widerspruch zu unserer Lebenserwartung. Herr Müller, man kann das Thema wichtig nehmen; man muss aber nicht all das wichtig nehmen, was Sie heute gesagt haben. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Müller, wollen Sie antworten?

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe den Eindruck, Herr Grill war in einem anderen Raum. Denn ich habe gar kein Szenario gezeichnet, ({0}) sondern über die Anforderungen an eine moderne Gesundheitspolitik geredet. Auch für uns ist es im Übrigen sehr erfreulich, wenn das durchschnittliche Lebensalter steigt. Wer sollte etwas dagegen haben? Was sind das für Alternativen, die hier aufgezeigt werden sollen? Wir danken dafür, dass diese technische Entwicklung das möglich gemacht hat. Aber umgekehrt sage ich: Gerade weil wir wollen, dass die Menschen älter und zufriedener werden und ein erfülltes Leben haben, müssen wir alles tun, um ihre Gesundheit zu sichern. Eben dies wollen wir. Insofern: Man sollte nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun erteile ich noch einmal dem Kollegen Klaus Lippold von der CDU/CSUFraktion das Wort. ({0})

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es macht euch richtig Spaß, dass ihr mich zweimal ertragen müsst. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will nur noch einmal darauf hinweisen, dass wir jetzt das, was in der Zeit Töpfer/Merkel begonnen wurde, fortsetzen wollen. Wir gehen also bei allem, was wir erreicht haben, davon aus, dass nach wie vor Positionen gegeben sind, an denen wir mit Erfolg weiterarbeiten müssen. Wir haben beim Lärmschutz - das wollte ich noch einmal spezifisch aufgreifen - über das BundesImmissionsschutzgesetz, die Regelungen zum Arbeitsschutz und das Bauplanungsrecht gute und entscheidende Fortschritte erzielt. Ich will auch hinzufügen, dass wir hinsichtlich der Reduzierung des Verkehrslärms einiges vorangebracht haben, aber schlussendlich sehen müssen, dass dieser heute immer noch ein ganz entscheidender Faktor ist. Wir haben zum Beispiel erreicht, dass die Flugzeuge der neuen Generation mit aktivem Lärmschutz wesentlich leiser als die alten Maschinen sind. Wir sind so weit, dass auf einigen Flughäfen fast ausschließlich diese modernen Flugzeuge und keine Flugzeuge nach Kapitel 3 mehr landen dürfen. ({0}) Dies sind alles Ansatzpunkte, die nach wie vor weiterentwickelt werden müssen; deshalb unser Antrag, deshalb der Vorschlag einer ganzen Reihe von Punkten, so - ich kann es Ihnen nicht ersparen - die Fertigstellung und die Umsetzung der Fluglärmnovelle. Wir wollen auch eine Absenkung der Geräuschwerte für KraftMichael Müller ({1}) fahrzeuge. Wir wollen Geräuschgrenzwerte für Reifen nach dem Stand der Technik. Wir wollen die Fortführung - ich unterstreiche das noch einmal - der Sanierung der bestehenden Lärmschutzwälle an Bundesstraßen und natürlich auch an Schienenwegen. Da ich im Ballungsraum Frankfurt lebe, weiß ich doch, wo diese Probleme bestehen und wie groß sie sind. Hier stellt sich nicht nur die Frage des Lärmschutzes. Zusätzlich sind die Menschen von Erschütterungen betroffen. Hier müssen wir nach wie vor Verbesserungen erzielen. Frau Altmann, wir können nicht alles auf einmal. Wir haben in den vergangenen Jahren viel erreicht und dass hier nach wie vor Handlungsnotwendigkeiten bestehen, ist gar nicht zu bestreiten. Wir brauchen die Reduzierung von Geräuschemissionen von Maschinen. Das sind alles Vorhaben, die wir noch umsetzen wollen. Ich finde es gut, dass der Sachverständigenrat, der sagt, der Lärm sei ein zentraler Punkt - weshalb wir hier insbesondere ansetzen -, gleichzeitig aber auch andere Positionen deutlich gemacht hat, nämlich dass sich aufgrund der vorliegenden Datenlage Verdachtsmomente nicht in der Form ergeben, wie sie bislang diskutiert worden sind. Ich spreche von den hormonartig wirkenden Stoffen. Eine abschließende Bewertung der Hypothese von der Störung des Hormonsystems von Mensch und Tier durch Stoffe mit hormonähnlicher Wirkung bedarf erst weiterer Grundlagenforschung, insbesondere stehen Untersuchungen zur Kombinationswirkung und Untersuchungen bezüglich der Aufnahme von Phytoöstrogenen durch Säuglinge und Kleinkinder noch aus. Dies ist ein ganz zentraler Punkt. Deswegen brauchen wir ein nationales Forschungsprogramm zur Erkenntnisgewinnung über die Auswirkungen hormonartig wirkender Chemikalien auf die menschliche Gesundheit und auf Ökosysteme, ein internationales Forschungs- und Arbeitsprogramm zur Fortentwicklung von Prüfmethoden und die Bewertung einzelner Stoffe im Rahmen des EU-Altstoffprogramms. Ich will noch einmal deutlich machen: Wir brauchen in diesem Bereich eine nüchterne Betrachtung und keine Panikmache. Die Fortführung notwendiger Arbeiten ist angesagt. Deswegen brauchen wir uns in diesem Bereich gar nicht so weit auseinander zu reden. Wenn wir uns darauf verständigen, dass wir Panikmache unterlassen und nüchtern daran arbeiten, kommen wir einen ganz erheblichen Schritt weiter. Im Bereich bodennahes Ozon haben wir in unserem Antrag eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht. Auch das sind Punkte, von denen ich meine, dass wir darüber sprechen müssen. Hier wollen wir weitergehen. Einen Punkt - damit will ich schließen - möchte ich besonders herausstellen. Wir haben mit den Allergien ein neues Problemfeld in einer Größenordnung, die es früher nicht gab. Das ist kein einfaches Problemfeld. Ich halte es für wichtig, dass wir Maßnahmen zur Produktkennzeichnung ergreifen, dass wir die Förderung der Allergieforschung mit dem Ziel fortführen, Risikozusammenhänge offen zu legen, und auch - das haben wir begonnen - die Informationsarbeit von Selbsthilfegruppen mit dem Ziel fortsetzen, den Selbstschutz zu fördern. Die Aufklärung von Betroffenen durch Betroffene muss dabei eine ganz eminente Rolle spielen. Das heißt, in all diesen Punkten besteht noch erheblicher Handlungsbedarf. Ich glaube, das ist auch für Sie Anlass genug, unseren Antrag zu prüfen. Wir selbst werden ihn noch einmal systematisch mit Sachverständigen erörtern. Wir werden ihn noch einmal unter Hinzunahme von Experten prüfen, weil wir meinen, in diesem Punkt ist noch mehr Sachverstand gefragt, als bislang eingebracht wurde. Wir werden hier sehr sorgfältig vorgehen und weitere konkrete Schritte vorschlagen, wie wir auf diesem für den Schutz der Bevölkerung ganz maßgeblichen Weg, weitergehen können. ({2}) Ich will aber deutlich machen, dass wir gerade jetzt diesen Weg zuversichtlich gehen können. Es gibt, wie Kurt-Dieter Grill eben betont hat, klassische Kennzeichen dafür, dass wir Erfolge hatten. Wenn wir den Menschen vermitteln, dass sie nicht mit Pessimismus, sondern mit Optimismus in die Zukunft blicken können, ist das eine wesentliche Grundlage. Menschen, die lachen können, werden wesentlich seltener krank. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Ulrike Höfken vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob ich bei dem Beitrag, den wir vonseiten der CDU gehört haben, lachen oder weinen soll. ({0}) - Ich halte das Lachen für gesünder. Mich erstaunt, dass ausgerechnet die Frau Kollegin Vera Lengsfeld uns und der Bevölkerung Verfolgungswahn vorwirft. ({1}) Ich glaube, wir sollten einmal über umweltbedingte Erinnerungslücken sprechen. Denn vor nicht allzu langer Zeit war sie noch Vertreterin der ökologischen Kinderrechte. ({2}) Ich meine, Herr Lippold hat uns dankenswerterweise gesagt, was Sie alles vorhatten und nicht getan haben. Ich finde, das Thema ist in vieler Hinsicht sehr ernst. Manchmal drängt sich mir auch der Eindruck von Zynismus bei dieser Debatte auf. Vor 23 Jahren ist ein 12-jähriges Mädchen an den Folgen einer Vergiftung durch das Holzschutzmittel gestorben, das ihre Eltern unwissenderweise in ihrem Haus Dr. Klaus W. Lippold ({3}) verstrichen hatten. Nach diesem Vorfall im Jahr 1977 hat es bis 1989 gedauert, bis PCP als Holzschutzmittel verboten wurde. Es hat eine Unmenge von Geschädigten sowie einen wirtschaftlichen Schaden in Milliardenhöhe für Wirtschaft, Gesundheitswesen und die Volkswirtschaft insgesamt gegeben. Noch zu Zeiten der alten Bundesregierung hat es im BML ein Gutachten - es war kein bösartiges und hysterisches dieser neuen Regierung - über Kosten und Nutzen von Pestiziden gegeben. Dieses benennt beispielsweise - an die Seite der CDU gerichtet, die nach den Kosten und Nutzen fragt - die Kosten des Schutzes vor sowie der Beseitigung und Vermeidung von Pestiziden, die diese Gesellschaft aufbringt, mit etwa 240 Millionen DM jährlich. Das Gutachten nennt aber auch ein erhöhtes Krebsrisiko bei den Arbeitern sowie Nervenschädigungen bei den Anwendern. In den ländlichen Haushalten sind Pestizidgehalte im Hausstaub zu finden, von dem gerade die auf dem Boden herumkrabbelnden Kinder betroffen sind. All diese Probleme wurden von Ihnen, von der alten Bundesregierung, das heißt von CDU/CSU und F.D.P., über Jahre verschleppt und ignoriert. ({4}) Auch im Fall der Pestizide haben wir eine Odyssee für die Betroffenen sowie Kosten in Milliardenhöhe zu verzeichnen. Diese Bundesregierung beginnt mit einem Paradigmenwechsel. Sie beginnt mit einem neuen Ansatz von Gesundheits- und Umweltpolitik, in den die Arbeitswelt mit einbezogen ist. Bei diesem Paradigmenwechsel wird deutlich: Man hört auf mit der Einzelbetrachtung, zum Beispiel der Betrachtung, wie der Wirkstoff, das Pestizid auf die einzelne Erdbeere im Hinblick auf die menschliche Gesundheit wirkt, und fängt an, den Menschen bzw. das Kind an sich und seine Umwelt zu betrachten. Im Nahrungsmittelsektor wird beispielsweise nicht mehr das Einzelprodukt, sondern der Warenkorb betrachtet. Der ganzheitliche Ansatz ist eine völlig andere Vorgehensweise, die auch Sie, werte Kollegen von der Opposition, in Ihrem Antrag aufgegriffen haben. Wir werten dies als Unterstützung. Das ist ein sehr anspruchsvolles Arbeitsprogramm, wie meine Kollegen von der SPD es schon gesagt haben, das Schritt für Schritt umgesetzt werden soll. Es bedeutet erstens die systematische Erfassung umweltbedingter gesundheitsschädigender Faktoren, die bislang nicht in einer vernünftigen Form - es wurde von Datenfriedhöfen gesprochen - vorhanden war, zweitens die Bewertung auf der Grundlage der neuen Erkenntnisse und drittens die Ableitung entsprechender zielorientierter Maßnahmen für die Politik. Dies bedeutet, das Vorsorgeprinzip wird zum Grundprinzip von Umwelt- und Gesundheitspolitik wird. Es ist keinesfalls so, dass wir die anderthalb Jahre der rot-grünen Regierung damit verbracht hätten, die alten Unterlagen von Frau Merkel zu lesen. ({5}) Nein, es hat bereits entscheidende Schritte gegeben. Mit der Gesundheitsreform ist das Vorsorgeprinzip wieder an seine bedeutende Stelle gerückt worden. Es hat zum Beispiel beim TBT ein entsprechendes Verbot gegeben. Das war kein Aktionismus, sondern ein entsprechender Antrag wurde im Umweltausschuss schon vor über einem halben Jahr formuliert. Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, differenzierte Maßnahmen in diesem Fall zu ergreifen. Das hat sie natürlich getan. Auch die Zulassung von BT-Mais ist ein Schritt dieser Bundesregierung. Der hat sehr wohl konkrete umweltpolitische und gesundheitliche Gründe. Das sind handlungsbezogene und programmbezogene Reaktionen, die einen vernünftigen Ansatz bieten, um Umwelt und Gesundheit in diesem Land zusammenzubringen und Konzepte für die Menschen umzusetzen damit, sie eben nicht krank, sondern gesund alt werden können. Vielen Dank ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2300 an die auf der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 14/2767 und der Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/2771 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesen werden, wobei der Antrag auf Drucksache 14/2767 nicht an den Ausschuss für Tourismus und der Entschließungsantrag auf Drucksache 14/2771 nicht an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesen werden sollen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe damit Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Hermann Gröhe, Dr. Heiner Geißler, Monika Brudlewsky weiterer Abgeordneter und Fraktion der CDU/CSU Verfolgung von Christen in aller Welt. - Drucksachen 14/1279, 14/2431 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Hermann Gröhe, CDU/CSU-Fraktion.

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte über unsere Große Anfrage und die Antwort der Bundesregierung bietet uns erstmals die Gelegenheit, im Bundestag über die Lage diskriminierter und verfolgter Christen in aller Welt zu reden. Immer wieder haben wir - auch in den letzten Tagen noch - erschütternde Nachrichten über zerstörte Kirchen und misshandelte und ermordete Christen erhalUlrike Höfken ten. Erst vorgestern ging die erst jetzt bekannt gewordene Hinrichtung von Missionaren im kommunistischen Nordkorea im November des vergangenen Jahres durch die Zeitungen. Unsere Große Anfrage zielt auf eine systematische und differenzierte Aufarbeitung dieses Themas insgesamt ab. Ausgangspunkt unserer Arbeit - hier befinden wir uns in völliger Übereinstimmung mit der Antwort der Bundesregierung - ist unser Einsatz für die Religionsfreiheit generell. Deshalb passt es durchaus in die heutige Debatte, wenn wir im Vorfeld des Besuchs von Bundesaußenminister Fischer im Iran gemeinsam deutlich machen, dass die jüngste Verkündung bzw. Bestätigung von Todesurteilen gegenüber Bahi im Iran nicht hingenommen werden kann. Der Reformkurs im Iran ist nur glaubwürdig, wenn endlich mit der unerträglichen Verfolgung der Bahi Schluss gemacht wird. ({0}) Wir treten für verfolgte Anhänger gleich welcher religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung ein. Zugleich sagen wir aber auch sehr deutlich: Angesichts der christlichen Prägung unserer politischen Kultur fühlen wir uns verfolgten Christen in besonderer Weise verbunden und zur Solidarität verpflichtet. Ich stelle erfreut fest, dass sich die Bundesregierung - wie es in ihrer Antwort heißt - durch „die zahlreichen und häufig engen Kontakte der deutschen Zivilgesellschaft mit bedrängten Christen in aller Welt ... in besonderer Weise gefordert ({1}), sich weltweit gerade auch für verfolgte Christen einzusetzen“. Ich hebe diese Erwähnung des Engagements verschiedener Gruppierungen aus dem kirchlichen Raum und aus Menschenrechtsorganisationen auch deshalb besonders hervor, weil ihrer tätigen Solidarität unser aller Anerkennung gelten sollte. Es sollte diesen Gruppen Mut machen zu hören, dass sie mit ihrem Einsatz zur Ausrichtung der Politik unseres Landes beitragen können. Ich nenne weitere wichtige Punkte der Übereinstimmung. Wir teilen die Auffassung, dass staatliches Vorgehen gegen die Religion im Namen einer Ideologie insgesamt abgenommen hat. ({2}) Sie werden mir diese Bemerkung erlauben: Angesichts der Tatsache, dass Antikommunismus noch vor gar nicht langer Zeit bei vielen in Politik und auch in den Kirchen nahezu als eine völlig abwegige Geisteshaltung galt, verdient es eine Hervorhebung, dass die rot-grüne Bundesregierung ausdrücklich - ich zitiere - den „Zerfall des kommunistischen Machtblocks in Osteuropa“ als wesentliche Ursache für diesen Zugewinn an Freiheit nennt. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass noch immer in Ländern wie der Volksrepublik China, in Nordkorea und in Vietnam eine Religionspolitik wirksam ist, die von der kommunistischen Vorstellung von Religion als „Opium für das Volk“ geprägt ist. Noch immer werden in China romtreue Katholiken und Anhänger protestantischer Hauskirchen vielfach gezwungen, ihren Glauben weitgehend im Untergrund zu leben, werden Prediger und Priester nicht registrierter Gemeinden schikaniert und inhaftiert. Erst vor zwei Wochen wurde ein über 80-jähriger Untergrundbischof erneut inhaftiert, der bereits 30 Jahre in chinesischen Gefängnissen verbracht hat. Dabei sind auch in dieser Menschenrechtsfrage in der Volksrepublik China erhebliche regionale Unterschiede festzustellen. So herrscht in der einen Region nahezu vollständige Freiheit für die Anhänger der verschiedensten Religionsgemeinschaften, während in anderen Regionen Religionsgemeinschaften, in Sonderheit die nichtregistrierten, Terror und Schikanen erleiden müssen. Angesichts dieser Situation in China reicht es nicht aus, wenn in der Antwort der Bundesregierung lediglich festgestellt wird, dass seitens der Volksrepublik China oder auch Vietnams wenig Bereitschaft bestünde, Fragen der Religionsfreiheit ernsthaft zu erörtern, und dass den Botschaften der Kontakt zu nicht registrierten Religionsgemeinschaften untersagt sei. Wir müssen nicht zuletzt im Vorfeld der Sitzung der UN-Menschenrechtskommission in Genf alles versuchen - wir werden über dieses Thema noch anhand anderer Anträge zu diskutieren haben - , um dem Thema Religionsfreiheit in China zu größerem Gewicht zu verhelfen. Ich nenne neben den genannten christlichen Gruppen auch die Muslime in Xinjiang, die Falun-Gong-Bewegung oder die anhaltende Zerstörung der religiösen Kultur in Tibet. Sicherlich stimmt es, - davon ist in der Antwort die Rede, - dass der nichtstaatliche Druck auf Christen ein wachsendes Problem ist. Auch 1999 - dies hat der zuständige UN-Sonderberichterstatter festgestellt - ist ein Anwachsen des religiösen Extremismus zu konstatieren. Zu nennen ist hier etwa ein militanter HinduNationalismus, der seit der Regierungsübernahme der Partei BJP zu einem dramatischen Anstieg der Ausschreitungen gegen christliche Kirchen in Indien geführt hat. Dabei will ich die Bemühungen auch indischer Regierungsstellen, dieser Gewalt entgegenzutreten, oder insbesondere die erfreulich klaren kritischen Worte in der indischen Presse im Hinblick auf diese Vorkommnisse nicht unerwähnt lassen. In der Antwort wird zu Recht festgestellt, dass religiöse Konflikte häufig mit ethnischen und sozialen Konflikten verbunden sind. Sicherlich geht es im Sudan ganz zentral um den Konflikt zwischen dem arabisch geprägten Norden und dem afrikanisch geprägten Süden, aber es sind eben auch entscheidende Kräfte in diesem Land, die nicht nur gegen die Christen im Süden, sondern etwa auch gegen für abtrünnig erklärte Muslime in den NubaBergen einen „heiligen Krieg“ führen. In der Antwort wird gesagt, dass die gewalttätigen Auseinandersetzungen in Indonesien zwischen Christen und Muslimen, wie wir sie vor allem auf den Molukken erleben, das Resultat einer „gestörten Balance“ zwischen diesen Bevölkerungsgruppen sind. Es muss aber auch erwähnt werden, dass diese Balance durch Jahrzehnte einer unverantwortlichen Transmigrationspolitik der indonesischen Machthaber zerstört wurde. Lauter werdende Hasstiraden der Führer einer islamistischen MinderHermann Gröhe heit müssen uns ebenso besorgt machen wie die vielfältigen Schikanen, denen christliche Gemeinden ausgesetzt sind, wenn sie etwa versuchen, zerstörte Kirchen wieder aufzubauen. ({3}) Die Hoffnungen vieler Christen in Indonesien beruhen nicht zuletzt auf dem muslimischen Staatspräsidenten Wahid, der sich vielfach für ein gutes Miteinander der unterschiedlichen Religionen eingesetzt hat. Wenn wir mit großer Sorge ein Anwachsen der Diskriminierung und die Verfolgung von Christen in einer Reihe islamisch geprägter Länder betrachten, dann geht es nicht um eine fragwürdige Verallgemeinerung. Aber die Sorge um den Vorwurf, neue Feindbilder zu schaffen, darf auch nicht dazu führen, dass zu Verfolgungstatbeständen in Afghanistan, in Saudi-Arabien oder in Pakistan nicht deutlicher Klartext gesprochen wird. Hier sehe ich weiteren Diskussionsbedarf. So wirkt es aus meiner Sicht nahezu verharmlosend, wenn die Bundesregierung in ihrer Antwort meint, die nach traditioneller Auslegung der Scharia Muslimen, die Christen werden, drohende Todesstrafe stelle eine „eher hypothetische Gefahr“ dar, von Todesurteilen sei seit vielen Jahren nichts bekannt. Im Gegensatz dazu stellt der bereits erwähnte Sonderberichterstatter der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, Amor, der in der Antwort verschiedentlich zitiert wird, fest, es komme … in den muslimischen Ländern in der Praxis relativ häufig vor, dass Menschen hingerichtet werden, weil sie vom islamischen Glauben abgefallen sind. Bis heute sitzt der 30-jährige Ayub Masih in einem pakistanischen Gefängnis, nachdem er im April 1998 wegen angeblicher Beleidigung des Propheten Mohammed zum Tode verurteilt worden ist. Auch weitere Todesurteile der letzten Jahre, die in Pakistan unter anderem gegen ein 14-jähriges Kind wegen Blasphemie verkündet wurden, verbreiten Schrecken und Entsetzen unter der christlichen Minderheit in diesem Land, auch wenn die Urteile später aufgehoben wurden. 1994 fand man einen protestantischen Pastor in einem Vorort Teherans ermordet auf, nachdem sein Todesurteil aufgrund internationalen Drucks zuvor aufgehoben und er freigelassen worden war. Auch der familiäre und soziale Druck ist häufig lebensbedrohlich, ja tödlich. So wurde 1997 eine 22-jährige Pakistanerin von ihrem eigenen Bruder ermordet, weil sie sich für den christlichen Glauben interessierte. Für problematisch halte ich es, wenn in der Antwort der Bundesregierung zur Lage der Christen in den islamischen Ländern erklärt wird, „lediglich missionarische Aktivitäten“ würden „von den meisten islamischen Staaten“ - wie es weiter heißt - „konsequent unterbunden“; denn das Grundrecht auf Religionsfreiheit umfasst, wie es in Art. 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ausdrücklich heißt, … die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Unterricht, Ausübung, Gottesdienst und Beachtung religiöser Bräuche zu bekunden. Mir erscheint auch ein deutliches Wort zur schwierigen Lage der Christen in der Türkei notwendig. Bereits seit 1923 können keine neuen Kirchengebäude in der Türkei errichtet werden. Immer wieder wird kirchliches Eigentum enteignet, insbesondere das der armenisch-orthodoxen Kirche. 1998 war auch eine katholische Gemeinde am Bosporus von einer größeren Grundstücksenteignung betroffen. Die seit 1971 anhaltende Schließung des griechisch-orthodoxen Theologischen Seminars und das erst 1997 erlassene Verbot, die armenische Sprache an die nachwachsende Generation weiterzugeben, bedrohen die Existenz christlicher Religionsgemeinschaften in der Türkei. ({4}) Für uns ist es selbstverständlich, dass wir uns zum Recht der in Deutschland lebenden Muslime, auch der Türken und der deutschen Staatsangehörigen türkischer Abstammung auf Ausübung ihrer religiösen Bräuche bekennen. Eine andere Große Anfrage der Unionsfraktion zielt hier auf weitere Verbesserungen in unserem Land. Aber wir erwarten auch, dass der Weihnachtsbotschaft von Staatspräsident Demirel im vergangenen Jahr endlich ein Ende der Diskriminierung von Christen in der Türkei folgt. ({5}) In der Antwort der Bundesregierung auf die letzte Frage heißt es: Es herrscht kein Mangel an Aufmerksamkeit für das Thema der Religionsfreiheit. Dem hat beispielsweise die Deutsche Evangelische Allianz ausdrücklich widersprochen. Auch die Deutsche Kommission Justitia et Pax hat festgestellt, dass sich im Hinblick auf die Lage der verfolgten Christen der Eindruck verstärke, „dass sie in der internationalen Staatengemeinschaft keine ausreichende Lobby haben“. Wenn die Bundesregierung auf den vom USAußenministerium jährlich veröffentlichten Bericht zur Religionsfreiheit hinweist, dann muss erwähnt werden, dass dieser Bericht erstmals im September 1999 erschien und das Resultat einer überparteilichen Initiative, des „International Religious Freedom Act“, im amerikanischen Kongress war, die eine für unzureichend gehaltene öffentliche Aufmerksamkeit für dieses Thema zum Anlass hatte. Ich hoffe, dass die Konsequenzen, die wir aus den gewonnenen Erkenntnissen ziehen und die wir diskutieren müssen, dazu beitragen werden, höhere Aufmerksamkeit für dieses Thema zu erzielen, und dass sie dazu beitragen, den Einsatz für Religionsfreiheit und nicht zuletzt für verfolgte Christinnen und Christen generell zu einem Markenzeichen westlicher, vor allem deutscher Menschenrechtspolitik zu machen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Karin Kortmann von der SPD-Fraktion das Wort.

Karin Kortmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003161, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir uns in dieser Debatte mit der Verfolgung von Christen befassen, dann tun wir dies in der tiefsten Überzeugung, dass wir auch 52 Jahre nach der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom Dezember 1948 weiterhin große Anstrengungen unternehmen müssen, um allen Menschen gleiche und unveräußerliche Rechte zu garantieren und um für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt einzutreten. Der Grundgedanke der Menschenrechtserklärung setzt eine geschwisterliche Gleichheit voraus, die jegliche Unterscheidung, etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Status, generell verbietet; dazu gehört eben auch das Verbot jeglicher Unterscheidung nach der Religion. Das bedeutet, dass jede Religion das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit hat. Das gilt für Christen und für Yeziden ebenso wie für Aleviten, Sikhs, die Zeugen Jehovas oder muslimische Ahmadis. Ich begrüße es ausdrücklich, dass sich die Bundesregierung in gleicher Weise und mit gleicher Intensität für die Glaubensfreiheit aller Religionen, aller religiösen Gruppen und für die Opfer religiöser Verfolgung und Diskriminierung unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit einsetzt; denn nur das Eintreten für weltweite Religionsfreiheit und für Menschen aller Religionen verdient das Prädikat der Glaubwürdigkeit. ({0}) Religionsfreiheit umfasst die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung „allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Unterricht, Ausübung, Gottesdienst oder Beachtung religiöser Bräuche zu bekunden“. Das wissen wir. Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben nach Angaben der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte Millionen von Menschen ihr Leben aus religiösen Gründen verloren und zahlreiche Menschen wurden aus religiösen Gründen in Haft genommen, misshandelt, vertrieben und verfolgt. Kollege Gröhe hat dafür sehr anschauliche Beispiele benannt. Zahlen von jährlich aus Religionsgründen verfolgten oder ermordeten Christen sind jedoch schwer verifizierbar, wenn man sich nicht allein auf Schätzungen der Deutschen Evangelischen Allianz verlassen will - sie steht nicht jedem so nahe, wie Ihnen, Herr Gröhe -, zumal es sich oftmals um ein Bündel von politischen, ethnischen, sozialen und religiösen Gründen handelt, warum diese Menschen Opfer von Gewalt wurden. Christenverfolgung ist heute nämlich nicht mehr die Konfrontation von Kirche mit einem heidnischen oder atheistischen Staat, sondern vorwiegend Folge des Engagements von Christen, ihres Aufstehens gegen die Verletzung von Menschenrechten. Christen treten für Minderheiten ein, für Schwache und für Rechtlose, für diejenigen, deren Menschenrechte verletzt werden. Sie treten als Fürsprecher für Demokratie ein. Sie organisieren sich in Friedenskomitees oder in kirchlichen Menschenrechtsprogrammen und setzen sich zusammen mit anderen für Verständigung und Versöhnung ein. Eines der vielen uns bekannten Beispiele für dieses Engagement war das Wirken des brasilianischen Bischofs Dom Helder Camara - er ist der Begründer der „Theologie der Befreiung“ -, der die christliche „Option für die Armen“ als Sinnbild einer sich dem Menschen zuwendenden Kirche, eines Christentums, das sich bedingungslos an die Seite der arbeitenden Bevölkerung stellte, verstand und die produktive Spannung zwischen der Verkündigung des Evangeliums und der politischen Verantwortung und der Lebenswirklichkeit von Christen in Lateinamerika hervorrief. Er sagte - ich zitiere wörtlich -: Wenn ich den Armen zu essen gebe, nennen sie mich einen Heiligen. Wenn ich frage, warum die Armen nichts zu essen haben, dann schimpfen sie mich einen Kommunisten. ({1}) Die Ursache für die Verfolgung von Menschen christlichen Glaubens liegt darin, dass sie sich nicht mit gegebenen ungerechten Realitäten zufrieden geben, sondern die System-, Zugangs- und Verteilungsfrage stellen. ({2}) Dennoch gibt es in Lateinamerika keine Verfolgung von Christen, wie die Antwort der Bundesregierung richtig wiedergibt und wie auch die evangelische Kirche, die katholische Kirche, Misereor, Brot für die Welt und Justitia et Pax bestätigen. Auch in den mittel- und osteuropäischen Staaten und in den GUS-Staaten wäre es nach Ansicht des katholischen Hilfswerks Renovabis übertrieben, von einer Verfolgung von Christen oder von christlichen Kirchen zu sprechen. Sehr wohl benennen sie Behinderungen bei der Ausstellung von Arbeitserlaubnissen für Priester in Belarus, benennen Schikanen bei der Visa-Erteilung und bei der Genehmigung von Aufenthaltserlaubnissen für ausländische Priester und Ordensleute in Russland. Anders verhält es sich dagegen beispielsweise in Ägypten. Die dortige koptische Kirche weist immer wieder auf ihre umfassende Diskriminierung hin. Von der alarmierenden Menschenrechtssituation sind Christen ebenso betroffen wie fundamentalistische islamische Gemeinschaften. Übergriffen auf koptische Christen wird nicht nachgegangen. Darauf müssen wir achten, das müssen wir anprangern. Wir müssen dafür sorgen, dass Instrumentarien entwickelt werden, die weitere Übergriffe zu verhindern suchen. ({3}) Ein ähnlich negatives Bild wird von der Situation der Christen in Afghanistan, Bangladesh, China, Myanmar, Pakistan oder Vietnam gezeichnet. Auch hier führen die Menschenrechtsarbeit und die Demokratisierungsversuche von Christen zu ihrer Diskriminierung. Der Kollege Hermann Gröhe ist insbesondere auf China eingegangen. Ich teile seine Einschätzungen. Wenn ich in einer Pressemitteilung vom 18. Februar lese, dass China nach Angaben seiner Regierung bei der Verbesserung der Menschenrechte keine westlichen Modelle übernehmen kann und seinen Weg nur von den eigenen Gegebenheiten aus suchen könne, dann mag das zwar deren Haltung richtig wiedergeben, aber die internationale Staatengemeinschaft kann das nicht hinnehmen. Ein Punkt, den wir dabei kritisieren, ist die Christenverfolgung. ({4}) Die Antwort der Bundesregierung geht auf eine Vielzahl von Länderbeispielen ein, deren - das möchte ich ausdrücklich betonen - ausgewogene und sachliche Bewertung sicherlich auch ein überzeugendes Beispiel für ihr Engagement in der Unterstützung der Religionsfreiheit ist. Beide großen christlichen Kirchen in Deutschland haben diese Antwort der Bundesregierung ausdrücklich gewürdigt. Aber - das sage ich zum Schluss auch - wir müssen Acht geben, dass wir nicht jede Form der Behinderung, der Diskriminierung und der unsachlichen Bewertung bereits als Verfolgung titulieren, Herr Gröhe. Der Titel Ihrer Großen Anfrage intendiert etwas anderes als das, worauf auch Sie eben in Ihrem Beitrag eingegangen sind. Deshalb sollten wir die einzelnen Schritte der Behinderung, Diskriminierung und Verfolgung sehr genau betrachten, aber auch den Mut haben, sie sauber zu unterscheiden, weil wir sonst nicht allen, die guten Willens sind, gerecht werden. ({5}) Da aber, wo Christen und Angehörige anderer Religionsgemeinschaften, unter - sei es staatlicher, sei es nicht staatlicher - Verfolgung leiden, müssen wir alle uns zur Verfügung stehenden Instrumentarien einsetzen, um sie zu schützen und den allgemeinen Menschenrechten zur Wirkung zu verhelfen. Ich wünsche mir, dass die Bundesregierung zukünftig dafür sorgt, dass das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in die Lage versetzt wird, Zahlenmaterial zu veröffentlichen, damit wir auch hier dem Gedanken der Christenverfolgung etwas differenzierter nachgehen können, zum Beispiel der Frage, wo Christen ausschließlich aufgrund ihres Glaubens und nicht aufgrund ihrer menschenrechtlichen Aktivitäten verfolgt werden. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin nicht sicher, ob die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSUFraktion, die die heute zu behandelnde Große Anfrage an die Bundesregierung formulierten, vorausgesehen haben, dass ihre Anfrage eine über das Thema „Verfolgung von Christen in aller Welt“ hinausführende parlamentarische Diskussion provozieren würde. Es ist nämlich ebenso richtig wie verständlich und war insofern auch abzusehen, dass die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage die in ihrer Macht stehenden Maßnahmen zum Schutz verfolgter Christen in aller Welt in den allgemeineren Zusammenhang ihrer Menschenrechtspolitik stellen würde. Auch die Tatsache, dass unsere Gesellschaft eine christlich geprägte ist, kann seitens der offiziellen Politik nur um den Preis eines krassen menschenrechtlichen Selbstwiderspruchs dazu führen, die Verfolgung von Christen in aller Welt an anderen, etwa höheren Maßstäben zu messen oder nachdrücklicher zu bekämpfen als die ebenso schlimme Verfolgung nicht christlicher Menschen. ({0}) Leitlinien der Menschenrechtspolitik sind die Grundsätze der Universalität, Unteilbarkeit und Interdependenz der Menschenrechte, wie sie auch von der Zweiten Weltmenschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen in Wien 1993 formuliert und bekräftigt wurden. ({1}) Minderheitenschutz und Freiheit der Religionsausübung sind zwei wesentliche Elemente der Menschenrechtspolitik, aber eben zwei Elemente. Dass der Maßstab dabei der weltweite Schutz jeder Form der Religionsausübung und jeder Form der Gewährung der Rechte von MinderKarin Kortmann heiten sein muss, ist selbstverständlich und in den Grundsätzen der Universalität und Unteilbarkeit verankert. Deshalb spielen die Zahlen hinsichtlich der Verfolgung von Christen für unsere Menschenrechtsdebatte auch nicht die entscheidende Rolle. Jegliche Form der Verfolgung von Menschen wegen ihrer Religion muss kritisiert werden; stets muss mit geeigneten Maßnahmen dagegen vorgegangen werden. ({2}) Lassen Sie uns aber nicht vergessen, dass es bei der Verfolgung von Religionsgemeinschaften oft um weit mehr als um die Unterdrückung religiöser Überzeugungen geht. Es handelt sich meist um eine komplexe Verschränkung von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Wie richtigerweise in der Beantwortung der Großen Anfrage herausgestellt wird, sind zum Beispiel die Angriffe pro-indonesischer Milizen und des indonesischen Militärs auf die überwiegend christliche Bevölkerung Osttimors besonders im Jahr 1999 fast ausschließlich als Auswirkung eines Unabhängigkeitskonflikts und nicht eines in erster Linie religiösen Konfliktes zu werten. Aber ich hätte von der Bundesregierung erhofft und erwartet, dass sie die Ergebnisse und Empfehlungen der unabhängigen Untersuchungskommission der Vereinten Nationen auch in ihre Politik und in ihr Programm übernommen hätte. ({3}) Gerade bei der Verfolgung von Christen in manchen Teilen der Dritten Welt sind religiöse Motive oft nur der Vorwand für tiefsitzende, historisch begründete Ressentiments gegen wirtschaftliche und soziale Privilegien mancher christlicher Minderheiten. Dies gilt für die Kopten in Ägypten ebenso wie für die Christen in Pakistan, China und Indien, um nur einige besonders eklatante Beispiele zu nennen. Traditionelle Animositäten und soziale Spannungen sowie politische Akteure im Hintergrund können sich so - das ergibt sich aus der Antwort der Bundesregierung - in vielen Ländern zu einer explosiven Mischung verbinden. Aber richtigerweise kann man hier eben nicht darüber diskutieren, ob die Verfolgung von Christen zugenommen hat; denn jede Form von Verfolgung ist zu verurteilen. Vielmehr muss in einer solchen Debatte die Gelegenheit genutzt werden, die deutsche Menschenrechtspolitik insgesamt einer Würdigung und kritischen Bewertung zu unterziehen. Menschenrechtspolitik ist notwendigerweise Politik aus Überzeugung. Sie ist auf normierte und als allgemeinverbindlich vereinbarte Wertüberzeugungen existenziell angewiesen, mit denen nur um den Preis ihrer Vernichtung nach Opportunitätsgesichtspunkten und Zweckmäßigkeitserwägungen verfahren werden kann. Mit diesen der Menschenrechtspolitik zugrunde liegenden Normen kann nicht im Stile des heutzutage so oft und viel gerühmten politischen Pragmatismus umgegangen werden. ({4}) Wie kaum eine andere Politik ist deshalb die Qualität der Menschenrechtspolitik, die sich im Wesentlichen immer auf den Umgang von Mehrheiten mit Minderheiten bezieht, von der Gradlinigkeit und Glaubwürdigkeit abhängig, mit der sie gegenüber anderen Staaten ebenso wie im staatlichen Innenverhältnis vertreten und vollzogen wird. Unter diesem für die Güte der Menschenrechtspolitik entscheidenden Gesichtspunkt der Glaubwürdigkeit weisen die bei uns implizit und explizit vertretenen Konzepte von Menschenrechts- oder Minderheitenpolitik mehr offene Flanken und verwundbare Stellen auf, als uns allen lieb sein sollte. Das gilt zum einen für die minderheitenpolitischen Ansätze, die zwar nicht von den namentlich genannten Verfassern der Großen Anfrage, aber doch von einem nicht unmaßgeblichen Teil der durch die CDU/CSU repräsentierten konservativen Politik in Deutschland vertreten wird. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass allein der Hinweis auf die Tatsache, dass unsere Gesellschaft in ethnischer, kultureller und somit auch weltanschaulicher Hinsicht eine plurale und offene Gesellschaft ist und nach dem Wollen unseres Grundgesetzes auch sein soll, in den Reihen der CDU, besonders aber der CSU immer noch heftige Reaktionen hervorruft. So wie gerade die von der Union vertretene Politik des law and order als ein Produkt der Scheinheiligkeit entlarvt wurde, so wird auch die Glaubwürdigkeit der von ihr vertretenen Minderheitenpolitik Schaden nehmen, wenn eine Mehrheit daran festhält, dass die seit vielen Jahren bei uns lebenden Menschen ausländischer Herkunft nichts weiter als geduldete Gäste seien. ({5}) Glaubwürdige Menschenrechtspolitik verlangt Konsistenz und Kohärenz; sie verlangt aktives Handeln, besonders, wenn die selbst gesteckten Maßstäbe vollmundig und anspruchsvoll sind. Die Bundesregierung hat verbal die Menschenrechte in den Mittelpunkt ihrer Politik zu Beginn dieser Legislaturperiode gestellt. ({6}) Die Bilanz der bisherigen Taten sieht dagegen eher mager aus. ({7}) Ich will hier gar nicht betonen, wie die haushaltsrechtlichen Ansätze gerade für die Unterstützung der Menschenrechtskommissarin hinter dem gestellten Anspruch zurückbleiben. Es fällt auch gar nicht so sehr ins Gewicht, dass der längst überfällige Bericht zur Situation der Menschenrechte noch nicht vorliegt. Aber wenn die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage zu Recht darauf hinweist, dass sie den Opfern religiöser Verfolgung Schutz gewährt, gleich welcher religiösen Gemeinschaft sie angehören, dann muss sie sich auch fragen lassen, warum sie minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlingen aus anderen Ländern nicht auch diesen selbstverständlichen Schutz gewährt. Die Bundesregierung weigert sich beharrlich, den Vorbehalt zur Kinderkonvention aufzuheben, obwohl ein einstimmiger Beschluss des Bundestages vom September 1999 sie ausdrücklich dazu auffordert. ({8}) Auch das Versprechen in der Koalitionsvereinbarung, in Deutschland ein Institut zum Schutz der Menschenrechte zu etablieren mit dem Ziel einer kritischen Begleitung der Menschenrechtspolitik im In- und Ausland, ist bisher nicht umgesetzt worden. Anscheinend wird das Vorhaben, ein unabhängiges, regierungsfernes, vom Parlament eingesetztes Institut einzurichten, von den Kompetenzgelüsten verschiedener Ressorts demontiert. ({9}) Sprachlos ist die Bundesregierung geworden, wenn es um die unstreitigen Menschenrechtsverletzungen gerade in Tschetschenien geht. Nicht einmal ein deutliches Wort der Unterstützung für die von der russischen Regierung schnöde abgewiesenen Hochkommissarin für Menschenrechte war von der Regierung und von unserem Außenminister zu vernehmen. ({10}) Das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Glaubens zu fördern muss - sie ist es ja auch - eine selbst gestellte Aufgabe der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung im Innern und nach außen sein. Es wird jetzt versucht, den Scherbenhaufen im Kosovo im Sinne des avisierten multiethnischen Zusammenlebens und des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft notdürftig zu kitten. Aber wir warten noch bis heute - dazu gab es schon eine Debatte - auf konkrete Taten zur Umsetzung des dafür beschlossenen Stabilitätspaktes für Südosteuropa. ({11}) Das alles zeigt, dass Ankündigungen und Erstellen von Situationsberichten das eine sind - die Zielrichtung unterstützen wir in vielen Punkten -, dass aber der Vollzug anderthalb Jahre, nachdem die Bundesregierung die Verantwortung übernommen hat, noch auf sich warten lässt. Lassen Sie mich zum Schluss noch die gestrige Entscheidung zur Zulassung von muslimischem Religionsunterricht in Berlin erwähnen. Dies ist eine am Grundsatz der Glaubens- und Religionsfreiheit orientierte Entscheidung. Ich bedaure, dass der zuständige Senator von sich aus nicht in der Lage war, diese Entscheidung selbst zu treffen, und dass sie den Gerichten überlassen wurde. ({12}) Glaubwürdige Menschenrechtspolitik - ich glaube, dieser Punkt ist deutlich geworden - darf nicht den alltäglichen politischen Zwängen geopfert werden. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Angelika KösterLoßack vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Dr. Angelika Köster-Loßack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002704, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es ausgesprochen wichtig, dass sich die Union mit der Verfolgung und Unterdrückung von Menschen in vielen Ländern der Welt auseinandersetzt. Denn: Wenn Menschenrechte verletzt werden, wenn Menschen an ihrer freien Religionsausübung gehindert werden, wenn sie verfolgt oder ermordet werden, dann müssen wir alle gemeinsam dagegen angehen. ({0}) Ob es sich dabei um Christen im Sudan, um Muslime in Nigeria oder um Asylbewerber unterschiedlichen Glaubens in der Bundesrepublik Deutschland handelt, ist meiner Meinung nach wirklich unerheblich. Damit komme ich zu meinem Hauptkritikpunkt an der Anfrage der Union. Bei den geschilderten Fällen geht es nicht um Christenverfolgungen im engeren Sinne, sondern es geht um religiös verbrämte Menschenrechtsverletzungen. Es greift viel zu kurz, wenn man die Menschenrechtsverletzungen an Christen in aller Welt als Christenverfolgungen bezeichnet. Dahinter steht in aller Regel eine Vielzahl von sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Ursachen, die einen langen historischen Vorlauf haben. Betrachten wir zwei konkrete Beispiele: Wenn man sich die Situation in Indonesien vergegenwärtigt, so gibt es beispielsweise auf den Molukken schwere Menschenrechtsverletzungen an Christen. Deren Ursachen liegen allerdings nicht im christlichen Glauben der Verfolgten, sondern in der Auseinandersetzung um Ressourcen. Muslime sind mindestens genauso stark von Gewalt betroffen. Es wird hier die Religionszugehörigkeit instrumentalisiert, um Chaos und Hass zu säen. Die christlichen Dayak in Ost-Kamilantan werden auch nicht in erster Linie ihres Glaubens wegen ausgegrenzt und diskriminiert. Sie gehören vielmehr zu den indigenen Völkern Indonesiens, die seit Jahrhunderten versuchen, ihr Überleben zu sichern. Hinter diesen Auseinandersetzungen steht immer der politische Wille, politische und wirtschaftliche Vorherrschaft zu sichern, die durch das vom Kollegen Gröhe schon erwähnte Transmigrationsprogramm der SuhartoRegierung etabliert wurde. In einem anderen Erdteil, in Afrika, kommt es in Ägypten zurzeit zu heftigen Gewaltausbrüchen zwischen Muslimen und Christen. Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen wurden Mitte Februar in Koscheh mehrere Dutzend Menschen getötet, in der Mehrzahl Christen. Der dortige Jesuitenpfarrer, Christiaan van Nispen, sagt allerdings eindeutig, dass als Ursache für diese Auseinandersetzungen und für die Verfolgung der Graben zwischen Armen und Reichen wesentlich wichtiger sei als der Graben zwischen Muslimen und Christen. ({1}) Diesen Zusammenhang betonen auch die Hilfswerke der großen Kirchen in Deutschland sowie Menschenrechtsorganisationen wie Watch Indonesia. Dies ist in vielen Gesprächen zum Ausdruck gebracht worden. Ein Solidaritätsvorrang gegenüber Christinnen und Christen, wie er in der Anfrage zum Ausdruck kommt, widerspricht dem christlichen Glauben. Nach ihm sind alle Menschen gleich. Diesem Ansatz der Gleichwertigkeit folgen auch die christlichen Hilfswerke in ihrer entwicklungspolitischen Arbeit. Für mich geht es deshalb um die Solidarität mit den verfolgten und unterdrückten Menschen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, ({2}) aber nicht darum, wie die Union schreibt: Angesichts der christlichen Prägung unserer politischen Kultur fühlen wir uns aber verfolgten Christen in besonderer Weise verbunden und zur Solidarität verpflichtet. Ich fühle mich allen Menschen in Not ohne Ansehen ihrer Religionszugehörigkeit verbunden und bin ihnen gegenüber in gleicher Weise zur Solidarität verpflichtet. ({3}) Wir müssen uns den komplexen Ursachen der Konflikte zuwenden und versuchen, mit allen politischen Möglichkeiten zur zivilen Konfliktprävention bzw. zur Beilegung der Auseinandersetzungen beizutragen. Wenn wir aber den Ausbruch latenter Konflikte verhindern wollen, müssen wir nicht nur die Gesamtheit der Konfliktursachen in den Blick nehmen, sondern auch handeln, bevor die Konflikte ausbrechen. Wir waren über alle diese Konflikte seit Jahrzehnten ausreichend informiert und haben immer zu spät gehandelt. Sollte ein Konflikt gewaltsam werden, ist humanitäre Hilfe kurzfristig und rechtzeitig zu leisten, bevor Hunderttausende vertrieben werden. Dies gilt für Menschen aller Glaubensrichtungen. Langfristig müssen wir durch außenund entwicklungspolitische Unterstützung an der Ursachenbekämpfung und gegen Gewalt, Vertreibung und Unterdrückung arbeiten. Hierbei haben wir im Austausch mit anderen Ländern auch eine wichtige Rolle für unsere Stiftungen und die Bildungsinstitutionen einzuplanen. Deutlich wird die Eindimensionalität im Herangehen der Union, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in vielen Ländern auch Muslime, Juden, Hindus, Buddhisten, Anhänger kleinerer Religionsgemeinschaften und auch Atheisten von Gewalt und von langfristiger Ausgrenzung bedroht sind. Ist denn die Unterdrückung der Albaner im Kosovo oder der Kurden in der Türkei weniger schlimm als die der Christen in Nigeria? Man hätte natürlich auch fragen können, wie - beispielsweise im Kosovo - die Verfolgung islamischer Minderheiten durch orthodoxe Christen aussieht und umgekehrt. Es macht keinen Sinn, Menschenrechtsverletzungen an Christen anzuprangern. Es muss die Verfolgung aller Menschen im Auge behalten und in einer Menschenrechtspolitik ohne Ansehen des religiösen Hintergrundes beachtet werden. ({4}) Dies hebt die meines Erachtens sehr sorgfältige und differenzierte Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage deutlich hervor. Damit komme ich zu meinem zweiten Kritikpunkt: Die Anfrage der CDU/CSU erweckt den Eindruck, dass die Verfolgung von Christen schlimmer ist als die Verfolgung von Menschen anderer Religionen. Diese Sichtweise führt zwangsläufig dazu, dass wir uns im Westen über Christenverfolgungen empören, während islamische Länder dem Westen die Diffamierung des Islam vorwerfen. Beides sind nicht haltbare Pauschalierungen. ({5}) Das Schlimmste, was wir tun können, wäre, im Sinne von Huntington einen „clash of civilizations“, also einen Kultur- oder Religionskampf, heraufzubeschwören, und das nicht nur im globalen Maßstab, sondern auch in Deutschland. In den Fragen 5 bis 9 der Unionsanfrage wird die Situation von Christen in unterschiedlichen Systemen abgefragt. Nirgendwo werden allerdings die Menschenrechtssituation in christlich geprägten Gesellschaften, beispielweise in Nordirland, oder die Menschenrechtsverletzungen durch Christen an Menschen anderen Glaubens thematisiert. Es geht doch in erster Linie darum, ein Klima der Toleranz zu schaffen und die Achtung der Menschenrechte politisch und gesellschaftlich durchzusetzen. ({6}) Dafür müssen wir uns international einsetzen. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort dafür viele Beispiele genannt. Das müssen wir aber auch im eigenen Land machen, insbesondere gestützt durch Bildungs- und Ausbildungscurricula. Wir haben viel zu wenig neue Entwicklungen in diesem Bereich. Genauso wie es international um die Durchsetzung der Menschenrechte aller Menschen geht, gelten auch national die Menschenrechte für alle Menschen, ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihres Glaubens. Die freie Religionsausübung steht hier an vorderer Stelle. Es ist wichtig, dass wir in der Beantwortung der Großen Anfrage diesen Aspekt besonders hervorgehoben sehen und uns nicht auf den eingeengten Blickwinkel der Christenverfolgung beschränken. ({7}) Ein Klima des besseren Verstehens und der Toleranz kann durch besseres Wissen übereinander und durch einen interreligiösen Dialog auf allen Ebenen hergestellt werden. Diese gesellschaftliche Aufgabe, die eine der wichtigsten Aufträge der Enquete-Kommission „So genannte Sekten und Psychogruppen“ war, müssen wir gemeinsam angehen. Dafür ist der ganze Tenor der Unionsanfrage aus meiner Sicht eher hinderlich. Meine Fraktion wird jedenfalls die Bundesregierung aktiv in ihrem Vorhaben unterstützen, den interreligiösen Dialog in unserem Land auf allen Ebenen einzurichten. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Hermann Gröhe von der CDU/CSU das Wort.

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte zu dem angesprochenen Punkt des Solidaritätsvorrangs und zu dem Vorwurf, die Anfrage sei eine einseitige Verengung auf eine religiöse Minderheit, etwas sagen. Im Text der Großen Anfrage selbst steht das Bekenntnis zur Religionsfreiheit generell oben an. Die erste verfolgte Gruppe, die ich in meiner heutigen Rede genannt habe, waren die Bahai. Es ist geradezu abwegig, bei der Zuwendung zu einem Problem zu unterstellen, darin liege die Missachtung eines anderen Problems. ({0}) Wenn wir im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe in Sonderheit die Lage der Roma etwa im Balkan diskutieren, dann ist es doch abwegig zu unterstellen, wir missachteten die Not anderer Minderheiten, weil wir einem Thema eine besondere Aufmerksamkeit geben. Wir sprechen in der Anfrage selbstverständlich - ich habe es bei Indonesien in Bezug auf die Gewalt von beiden Seiten hier auch getan - auch die Menschenrechtsverletzungen in christlich geprägten Kulturen an; Stichwort: privilegierte Rechtsposition orthodoxer Kirchen gegenüber anderen Religionsgemeinschaften. Die Unterstellung, dies sei einseitig, weise ich zurück. Wenn es darum geht, auch in unserem Land vorbildlich zu sein, so verweise ich darauf, dass ich in meiner Rede erwähnt habe, dass wir darüber weiter diskutieren werden. Wenn eine Große Anfrage der Unionsfraktion auf die Situation hinweist, was wir in Deutschland an Rechtsordnung ändern müssen, um religiöse Bräuche, zum Beispiel von Muslimen in unserem Land, zu ermöglichen, so kann keine Rede davon sein, dass wir einseitig sind und einen Solidaritätsvorrang einräumen. Es ist für uns selbstverständlich, dass wir uns für alle einsetzen. Ich sage aber genauso deutlich, dass wir die Aussage der Bundesregierung begrüßen, dass das zivilgesellschaftliche Engagement einen besonderen Schwerpunkt auch der Menschenrechtsarbeit der Regierung bei verfolgten Christen beinhaltet. Wenn ich mir noch eine Bemerkung dazu erlauben darf, warum wir sagen, dass es da vielleicht Nachholbedarf gibt: Schauen Sie sich den gerade vorgelegten Menschenrechtsbericht der Europäischen Union an, die dürren Worte, die dort zum Thema Religionsfreiheit gefunden werden. Dort wird zu Recht Antisemitismus in der ehemaligen Sowjetunion beklagt und dort wird, ebenfalls zu Recht, die Situation der Bahai im Iran angesprochen, aber zum Thema Christenverfolgung keine Silbe! Natürlich kann man bei komplexen Konflikten nicht sagen, dass die betroffenen Menschen allein Opfer von Religionsverfolgung seien. Dies findet in den kurzen Texten, die zu einer Großen Anfrage gehören, bei uns ausdrücklich Erwähnung. Aber es kann keine Frage sein, dass von den ungefähr 2 Milliarden Christen dieser Welt mindestens 200 Millionen in Ländern leben, in denen es erhebliche Beeinträchtigungen der Religionsfreiheit für alle - ich habe hier die Muslime in Xinjiang genauso erwähnt wie andere Gruppen - gibt. Insofern weise ich den Vorwurf der Einseitigkeit zurück. Ich hätte mir gewünscht, wir könnten in dieser wie in anderen Menschenrechtsfragen zu einem größeren Maß an Sachlichkeit zurückkehren. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wollen Sie erwidern, Frau Köster-Loßack? - Bitte schön.

Dr. Angelika Köster-Loßack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002704, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Kollege Gröhe, ich habe nur eine Rückfrage zu Ihrer Äußerung: Warum haben Sie die Fragestellung in der Großen Anfrage nicht auf religiöse Verfolgung in aller Welt bezogen, sondern nur auf die Christen?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Frage kann jetzt nicht beantwortet werden; das ist nach der Geschäftsordnung nicht möglich. Vielleicht kann aber der nächste Redner der CDU/CSU die Frage beantworten. Als nächster Redner hat der Kollegen Carsten Hübner von der PDS-Fraktion das Wort.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So schwerwiegend in Teilen der Welt die Menschenrechtsverletzungen gegenüber Christinnen und Christen in jedem Einzelfall auch sind, so sehr begrüße ich von ganzem Herzen das Ergebnis der Nachforschungen der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Großen Anfrage, dass es keine verifizierbaren Angaben über eine Zunahme der Verfolgung von Christen gibt. Der gegenwärtige Zustand wird dadurch keineswegs besser, aber es gibt eben keinen explizit festzustellenden Negativtrend. Ich möchte das deswegen hier hervorheben, weil auch ich, ähnlich wie die Bundesregierung, die Quelle der in der Anfrage angegebenen Zahl von 163 000 allein aufgrund ihres Glaubens getöteten Christen für wenig seriös halte. Ich will das kurz begründen. Zunächst einmal gehört die Deutsche Evangelische Allianz zum so genannten evangelikalen Spektrum der evangelischen Kirche, einem Spektrum, das man getrost auch als den rechten Flügel der evangelischen Kirche bezeichnen kann und zu dessen Wortwahl und Denkstrukturen so schöne Begrifflichkeiten wie „christliche Märtyrer“ gehören. So hat etwa der Generalsekretär der Kommission für Religionsfreiheit der Weltweiten Evangelischen Allianz, also des Dachverbandes, der finnische Pastor Johan Candelin - übrigens unlängst Gast der internationalen Konferenz „Verfolgte Christen heute“ der Konrad-Adenauer-Stiftung -, am 14. November bei einem Gottesdienst im amerikanischen Minneapolis auf den folgenden, überaus interessanten Ausspruch von Kirchenvater Tertullian hingewiesen: „Das Blut der Märtyrer ist der Samen der Kirche.“ Dieses Religions- und Kirchenverständnis ähnelt, wie Sie zugeben müssen, durchaus dem extremistischer Moslems oder Hindus. Dabei ist zumindest nicht explizit ausgeschlossen, dass man Märtyrer, also für den Glauben Gestorbene, als identitätsstiftend begreift - vielleicht ein Grund dafür, warum sich die Zahlenangaben von dieser Seite nur schwer verifizieren lassen, selbst für deren Urheber. Hieß es bei der bereits erwähnten Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung am 28. Oktober letzten Jahres von diesem Johan Candelin noch, niemand wisse, wie viele Christen ihren Glauben mit dem Leben bezahlt hätten, befürchtete er bereits wenige Tage später, am 14. November, es könnten 1999 rund 164 000 und damit seinen Angaben zufolge 3 000 mehr als im Vorjahr sein. Seine Organisation und der Text der Großen Anfrage sprachen für 1998 aber von 163 000 ermordeten Christen. Die Bundesregierung nun eruiert als Quelle für diese Zahl für das Gesamtjahr 1998 eine Veröffentlichung, die bereits Anfang 1998, im Januar, erschienen ist. Sie werden verstehen, dass mich das nachdenklich macht. Bei diesem Zahlenvergleich geht es nicht um Zynismus. Zynisch ist aus meiner Sicht vielmehr, wenn eine zwielichtige Strömung innerhalb der evangelischen Kirche versucht, auf den Zahlen ermordeter Christen ihr Süppchen zu kochen. Auf ein paar Tausend mehr oder weniger kommt es dann nämlich nicht mehr an. Zynisch ist auch, wenn man das Leiden dieser Menschen dazu missbraucht, einen radikalen Missionseifer zu legitimieren und eine Wagenburgmentalität zu befördern. Hier halten schlicht die Falschen ihre Hand über die Opfer extremistischer Religionsauslegung. Ich verstehe beim besten Willen nicht, Herr Gröhe wir kennen uns ja von der Arbeit im Ausschuss -, wieso Sie und Ihre Fraktion gerade auf derartige Gruppen bzw. Informationsquellen zurückgreifen. Noch weniger verstehe ich, wieso Sie in Ihrem Anfragetext ganz in der Logik der Evangelikalen formulieren, die bedrängten Christen fänden in der Staatengemeinschaft wegen ihrer Glaubenspraxis nur selten Anwälte ihrer Interessen; als sei der christlich geprägte Teil der Welt nicht derjenige, der derzeit ganz wesentlich die gesamte Bandbreite globaler Entwicklung zumindest maßgeblich mitbestimmt. Meine Damen und Herren, jeder Mensch, ob Christ oder Moslem, schwarz oder weiß, der aufgrund seiner Religionszugehörigkeit oder Religionslosigkeit - auch das gibt es, zum Beispiel in Indonesien - verfolgt wird, ist ein Verfolgter zu viel. Jedes individuelle Leid ist strikt zu verurteilen und öffentlich anzuprangern. ({0}) Da Sie hier die Christen nun schon als eine Gruppe hervorgehoben haben, sage ich es auch in dieser Richtung ganz deutlich: Was in dieser Frage in den Staaten des ehemaligen Ostblocks an Menschenrechtsverletzungen passiert ist, ist nicht hinnehmbar und deutlich zu verurteilen, ({1}) ebenso deutlich wie das, was derzeit in unseren engen Partnerländern Indonesien, Pakistan, Saudi-Arabien oder der Türkei mit Duldung oder sogar auf Veranlassung des Staates geschieht. In Menschenrechtsfragen darf es nicht zweierlei Maß geben - auch nicht bei China, so attraktiv dessen Markt einigen unter uns auch erscheinen mag. Die Religionsfreiheit ist ein Kernbestandteil der Menschenrechte. Das Gleiche gilt selbstverständlich für die Bewertung nichtstaatlicher religiöser Extremisten zum Beispiel in Ägypten oder Algerien, wo jede und jeder nicht zuletzt Christen, aber gerade auch Moslems, die einer islamistischen Auslegung des Koran nicht folgen wollen - aufgrund der dortigen Terroraktivitäten potenzieller Verfolgung ausgesetzt sind. Dennoch warne ich davor, hinter Auseinandersetzungen zwischen Religionsgruppen per se substanzielle religiöse Motive zu vermuten. Nicht selten ist die Religion nämlich allein die Folie, auf die von interessierten Kreisen bewusst soziale, politische und gesellschaftliche Konflikte projiziert werden, ähnlich wie das bei verschiedenen Ethnien häufig der Fall ist. ({2}) Indonesien, also die Vorfälle um die Molukken und die Auseinandersetzungen in Aceh und auf Ambon, ist dafür gegenwärtig ein wirklich schreckliches Beispiel; darauf ist heute schon mehrfach hingewiesen worden. Indonesien ist ein ganz konkretes Beispiel dafür, wie tradierte oder längst überwunden geglaubte religiöse Vorurteile und Feindschaften wieder mobilisiert werden, um soziale Konflikte zu kaschieren und die Machtstellung der Militärs zu zementieren. Wer hier an der Erscheinungsebene hängen bleibt, kann nur falsche Schlüsse ziehen und falsch antworten. Ich möchte mit Blick auf Lateinamerika kurz auf einen weiteren Punkt zu sprechen kommen, nämlich darauf, dass es gerade dort in der Vergangenheit, aber leider auch noch in der Gegenwart fast ausschließlich Christen sind, die Christen aufgrund ihres Religionsverständnisses verfolgen. Denken Sie etwa an El Salvador, wo diejenigen Christen, die es stets mit der Macht hielten, diejenigen Christen verfolgen und ermorden ließen, die sich eher den Zehn Geboten, der Bergpredigt oder gar der Vertreibung der Wechsler und Händler aus dem Tempel verpflichtet fühlten. ({3}) Selbst vor einem Bischof wurde da nicht Halt gemacht. Auch das ist in einem gewissen Sinne als Verfolgung von Christen aufgrund ihrer Glaubenspraxis zu bezeichnen. Meine Damen und Herren, jede Verletzung der Menschenrechte - ob von Christen oder von Nichtchristen ist eine zu viel, muss sanktioniert und letztlich überwunden werden, selbstverständlich auch im Bereich der Religionszugehörigkeit und -ausübung. Dazu gibt es in diesem Hause sicher Einverständnis. Wovor ich aber warnen möchte, ist, eine Parzellierung der Diskussion über dieses Problem zuzulassen, die es sicher ungewollt, aber dennoch möglich machen würde, dass daraus wiederum extremistische religiöse Kreise Profit schlagen. Wie zitierte doch gleich Pfarrer Candelin: „Das Blut der Märtyrer ist der Samen der Kirche.“ Na vielen Dank! ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Reinhold Hemker von der SPD-Fraktion das Wort.

Dr. Reinhold Hemker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002670, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich danke den Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion ganz ausdrücklich für die Initiative, die Anlass für die heutige Debatte ist. Zwar hätten auch nach meinem Verständnis manche Fragestellungen etwas anders aussehen können, aber in der Debatte hat sich bereits gezeigt, dass die differenzierte Stellungnahme der Bundesregierung das Anliegen der CDU/CSU-Fraktion sehr ernst genommen hat. Die Beantwortung der Fragen geht über den von den Fragestellern ursprünglich offenbar angedachten Rahmen hinaus. Das hat die Debatte eindeutig gezeigt und das ist auch gut so. Nach meinem Verständnis wird eines deutlich: Hinter religiösen Auseinandersetzungen liegen immer wieder Konflikte, die etwas mit der sozialen, der wirtschaftlichen, der kulturellen und der politischen Situation im jeweiligen Land bzw. in der jeweiligen Region zu tun haben. Wer sich ein wenig in der Arbeit des Weltkirchenrates und seiner Mitgliedskirchen in den letzten Jahren auskennt, weiß: Die Kirchen - unabhängig davon, ob sie sich in einer Mehrheits- oder einer Minderheitssituation in der Gesellschaft befinden - haben sich in ihrer Mehrheit immer um den weltlichen Teil ihrer religiösen - in diesem Fall ihrer christlichen - Botschaft gekümmert. Das galt auch - und gilt weitestgehend immer noch - für die große katholische Kirche, worauf die Kollegin Karin Kortmann in besonderer Art und Weise hingewiesen hat. Die Kirchen haben sich immer wieder eingemischt, wenn es um die Verletzung elementarer Menschenrechte ging und um die Unterdrückung und Ausbeutung der verarmten Massen im jeweiligen Staat, insbesondere in den Entwicklungsländern. Dafür haben wir von der politischen Seite aus ein herzliches Dankeschön zu sagen. ({0}) Dies hat in der Vergangenheit immer wieder dazu geführt, dass sich die jeweils Herrschenden gegen Repräsentanten der christlichen Glaubensgemeinschaften gewandt haben. Ich erinnere aber auch daran, dass Verfolgung engagierter Christen nicht nur von Andersgläubigen oder von Kommunisten organisiert wurde und wird - wie es zum Beispiel auch im Kontext der Großen Anfrage, bezogen auf die Muslime, zum Ausdruck kommt -, sondern auch von „christlich“ orientierten Kirchen, wie zum Beispiel noch in der letzten Zeit im damals rassistischen Südafrika. Dort wurde theologisch begründet, dass Schwarze im Übrigen in der Mehrheit christliche Glaubensbrüder und -schwestern - Menschen zweiter Klasse seien. In diesem Zusammenhang hat es dann eben Verfolgung, Gewalt und Mord gegeben, christlich begründet und staatlich abgesichert. Das ist das eigentlich Schlimme an einer solchen Situation. Ich danke insbesondere auch der Kollegin Angelika Köster-Loßack für die anderen Beispiele, die sie in diesem Zusammenhang genannt hat. Das ist wichtig, wenn wir in einer solchen Debatte als Christen darüber reden. Auch verweise ich darauf, dass unterschiedliche Interpretationen der christlichen Grundlagen - der biblischen Grundlagen im Alten und Neuen Testament und der christlichen Tradition in Lehrschriften, Dogmen und Synodenbeschlüssen - zu Konfliktpotenzialen zwischen christlichen Gruppen geführt haben und weltweit auch heute noch führen, auch in Europa. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Stellung der verschiedenen christlichen Kirchen in Indonesien gegenüber dem Suharto-Regime war dafür in neuerer Zeit wieder ein klassisches Beispiel. Die Kirchen gerieten und geraten - nicht nur in Indonesien - vor allem dadurch in Konflikte mit Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften und besonders den politisch Mächtigen, dass sie die Option für die Armen ernst nehmen. Hatten sie sich in den zurückliegenden Jahren darauf konCarsten Hübner zentriert - das gilt nicht nur für Indonesien, sondern auch für viele andere Entwicklungsländer; ich betone das noch einmal -, Krankenhäuser und Schulen zu bauen und zu erhalten, ist heute die gesellschaftspolitische Dimension kirchlichen Handelns stärker im Blick. Im Grunde geht es dabei immer wieder um das alte StaatKirche-Verhältnis, wie wir es ja auch aus der Zeit der NS-Diktatur kennen. Dort, wo sich Christen an Reformbewegungen im Bereich der Menschenrechte, des Schutzes von Minderheiten, der Demokratisierung, des Aufbaus von Sozialsystemen, an Landreformen usw. beteiligen - immer auch im Blick auf die christlichen Grundlagen -, geraten sie in Widerspruch zu den jeweils Herrschenden. Sie stören im wahrsten Sinne des Wortes die von den Herrschenden gewünschte Ruhe und Ordnung, insbesondere dann, wenn die Herrschenden im Bereich ihrer Weltanschauung eine fundamentalistische Orientierung haben. Es ist allerdings falsch, wenn bestimmte Kreise, die selbst eine fundamentalistische Orientierung haben wie zum Beispiel diejenigen, die sich als Deutsche Evangelische Allianz bezeichnen und über ihren Nachrichtendienst IDEA auch entsprechende Nachrichten fördern -, tendenziell die Meinung vertreten, dass die Anhänger des Islam nun grundsätzlich intoleranter seien und von daher Christen verfolgten. Es gibt, insbesondere in Afrika, aber auch in asiatischen Ländern, viele Beispiele dafür, dass die Anhänger verschiedener Weltregionen alle sehr tolerant miteinander umgehen und friedlich in einem Staatssystem zusammen leben. Wer zum Beispiel einmal auf Mauritius war, wird begeistert sein von dem bunten kulturellen Gemisch aller Menschen, die sich irgendwann auf diesem Inselparadies niedergelassen haben. Ich verweise auch darauf, dass die kirchlichen Organisationen, die im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind, unabhängig davon, welche religiöse oder weltanschauliche Orientierung ihre Zielgruppen haben, die in der Antwort der Bundesregierung genannten Grundsätze bei ihrer Arbeit anwenden. Es wird bei der Absprache über Projekte und Programme nicht danach gefragt, welcher Glaubensgemeinschaft die Menschen angehören, die sich zum Beispiel in einzelnen unabhängigen Nichtregierungsorganisationen organisieren. Sie handeln nach dem Grundsatz: Gott ist ein Gott für alle - oder für keinen. Die Zusammenarbeit der kirchlichen Organisation der Entwicklungszusammenarbeit - das gilt übrigens nicht nur für die deutschen - mit den nationalen Christenräten in Asien, Afrika und Lateinamerika, wenn man so will, den Koordinationsgremien der Kirchen in den jeweiligen Partnerländern, ist in der Regel vorbildlich. Es werden zum Beispiel in den von der EKD als schwierig eingestuften Ländern Indonesien, Indien und Pakistan ständige Konsultationen durchgeführt, immer in enger Zusammenarbeit und Absprache mit den deutschen Vertretungen in den genannten Ländern. Auch dabei wird immer wieder deutlich: Jede Form fundamentalistisch orientierter und in manchen Bereichen sogar militanter Missionsarbeit führt zwangsläufig zu Konflikten, die dann immer wieder in Gewalt ausarten. Noch ein Gedanke zum Schluss: Wir sollten als Christen ganz vorsichtig sein, wenn wir uns kritisch gegenüber Verfolgungen äußern. Denn die Geschichte der Kirchen und derjenigen, die sich in ihnen als Christen bezeichnet haben, ist voll von Gewaltanwendung, Krieg, Unterdrückung und Unterwerfung, ja Ausbeutung ganzer Völker. Angesagt ist nicht zuletzt auch eine kritische Reflexion darüber, was in der Vergangenheit angerichtet wurde und was heute noch Grundlage für viele Konflikte ist, wenn ich nur an die willkürlichen Grenzziehungen der Berliner Beschlüsse aus dem Jahre 1884 denke. Eine auch im neutestamentlichen Sinne verstandene Politik der Versöhnung im nationalen wie im internationalen Rahmen ist angesagt. Menschen wie Nelson Mandela und vielleicht auch der jetzt gerade durch die Wahlergebnisse auf seinem Reformweg, in seiner Arbeit bestätigte iranische Staatspräsident Chatami - ich nenne bewusst zwei Persönlichkeiten aus verschiedenen religiös-kulturell geprägten Lagern - sind Vorbild für eine gegen falschen Fundamentalismus im religiösen und politischen Bereich gerichtete Reformpolitik. Ich wünschte mir viele solche Vorbilder weltweit. ({1}) Die Antwort der Bundesregierung zeigt auf, dass diese im Sinne konstruktiv-kritischer Dialoge in diesem Bereich tätig ist. Ich gehe davon aus, dass die Vertreter der Bundesregierung, wenn sie bei bilateralen Verhandlungen oder bei internationalen Konferenzen über „good governance“ reden, alle heute hier debattierten Aspekte berücksichtigen. Im Übrigen - das sage ich auch als engagiertes Mitglied einer der großen Kirchen - heißt „Evangelium“, das von allen Christen dieser Welt vertreten wird, gute, frohe Botschaft. Vielleicht hilft ja auch die heutige Debatte dabei, dies etwas mehr zu verdeutlichen, und signalisiert das gute Anliegen auch gegenüber den Vertretern anderer Religionen und Weltanschauungen. Vieles von dem, was als religiöse Gewalt erscheint, ist ein Ausdruck von Entwurzelung in einer Gesellschaft, die aus den Fugen geraten zu sein scheint. Beispiele dafür sind heute schon etliche genannt worden. Der Weg aus der Gewalt zwischen Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften in Asien - und nicht nur dort - ist ein Weg der Rückkehr zu den Wurzeln des eigenen Glaubens und der Suche danach, wie Glaube dem eigenen Leben und dem Leben der Gemeinschaft Sinn und Orientierung geben kann. Die Durchsetzung dieses Grundsatzes - damit schließe ich würde denjenigen, die Verfolgungen jeder Art noch für ein Mittel der Politik halten, den Boden für ihre Schandtaten entziehen. Wenn wir heute dazu einen kleinen Beitrag leisten, dann hat sich diese Debatte gelohnt. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Carl-Dieter Spranger von der CDU/CSU-Fraktion.

Carl Dieter Spranger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002205, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Volk und ein Staat, welche die religiöse Toleranz und die Achtung der Menschenrechte auf ihre Fahnen geschrieben haben, können mit der Frage der Verfolgung von Christen weltweit nicht zögerlich oder passiv umgehen. Deutschland und die Deutschen - das vergessen wir gelegentlich - sind über Jahrhunderte hinweg vom Christentum geprägt worden. Die Menschenrechte, zu denen sich unser Volk im Grundgesetz bekennt, sind im Wesentlichen aus christlichem Gedankengut heraus entstanden. Die Erfahrungen aus zwei Diktaturen haben uns den hohen Stellenwert dieser Rechte bewusst werden lassen. Gerade deshalb muss es uns, die wir religiöse Toleranz im Inneren beachten, ein besonderes Anliegen sein, auf diese auch im Ausland zu drängen. ({0}) Auch deswegen habe ich 1991 als Entwicklungsminister die Achtung der Menschenrechte zu einem der fünf Kriterien gemacht, die seitdem Art und Umfang der Entwicklungszusammenarbeit bestimmen. Über Richtigkeit und Notwendigkeit der Verknüpfung deutscher Politik mit der Achtung der Menschenrechte,der Achtung der Religionsfreiheit besteht heute große Übereinstimmung in allen Fraktionen des Deutschen Bundestages. In ihrer Antwort auf die Anfrage der CDU/CSUFraktion nennt die Bundesregierung zahlreiche Länder, vor allem Entwicklungsländer, mit vielen unterschiedlich schweren Verletzungen der Religionsfreiheit und der Verfolgung von Christen. Das zeigt, wie notwendig es war, durch eine solche Anfrage die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diese weltweite, vielerorts tabuisierte Lage der Christen zu lenken. Öffentliche Aufmerksamkeit für dieses Thema zu wecken und Verletzungen der Religionsfreiheit weltweit entgegenzuwirken, das ist eine Aufgabe nicht nur der Politik, sondern aller gesellschaftlichen Kräfte. Dieser Aufgabe stellen sich seit vielen Jahren in großartiger Weise unsere Kirchen, ihre Entwicklungsdienste ebenso wie die Stiftungen der Parteien, die der Achtung der Menschenrechte in zahlreichen Projekten ständig wachsende Bedeutung eingeräumt haben. Regierung und Parlament sollten die zukünftige finanzielle Ausstattung der Stiftungen auch an der Bedeutung dieser Aufgabe messen. ({1}) Ich möchte auch meinen großen Respekt und meine Hochachtung vor vielen Repräsentanten der Kirchen im Ausland zum Ausdruck bringen, die mit Mut und Standfestigkeit in ihren Ländern der Verletzung von Menschenrechten entgegentreten und für Religionsfreiheit eintreten. Wir alle schulden ihnen tatkräftige Unterstützung. ({2}) Die Bundesregierung scheint mir in ihrer Antwort die Gefährdung der Glaubensfreiheit in islamischen Staaten zu verharmlosen, wenn sie meint, dass von den meisten islamischen Staaten lediglich missionarische Aktivitäten konsequent unterbunden würden. Zum Wesen des christlichen Glaubens gehört es nämlich, diesen auch in der Öffentlichkeit bekennen zu dürfen und andere Menschen zum Glauben an Jesus Christus einzuladen. Solange wo auch immer - dies nicht ohne Androhung von Sanktionen möglich ist, geht es nicht um eine hinnehmbare Einschränkung der Glaubensfreiheit, sondern um eine elementare Beschränkung der Glaubensfreiheit der Christen. Nicht die Freiheit der Religionszugehörigkeit, sondern die Freiheit der Religionsausübung, die ihren Gipfel in der angstfreien Möglichkeit auch zum Religionswechsel haben muss, ist entscheidend. In Gesellschaften und Staaten, in denen diese Freiheit nicht besteht, kann und darf nicht davon ausgegangen werden, dass tatsächliche Religionsfreiheit gegeben wäre. ({3}) Die kritischen Darlegungen der Behandlung christlicher Minderheiten in der Türkei werfen nach der Debatte der letzten Wochen sowie nach den Beschlüssen der EU in Helsinki die Frage auf, wie eigentlich unter diesem Aspekt die Anerkennung der Türkei als Beitrittskandidat zur EU zu rechtfertigen ist. Während man gegen Österreich einen so genannten europäischen Wertekatalog mobilisierte - den allerdings niemand kennt - ist von Ähnlichem gegenüber der Türkei nicht die Rede. ({4}) Das entbindet die Bundesregierung allerdings nicht von der Pflicht, aus den von ihr selbst gescholtenen Missständen in der Türkei notwendige Konsequenzen zu ziehen. Die Türkei muss sich an diesen Fragen ganz besonders messen lassen. In diesem Zusammenhang darf noch einmal daran erinnert werden, dass sich die Türkei für den Völkermord an den Armeniern bis heute nicht entschuldigt hat und diese auch heute noch benachteiligt. ({5}) Ich wünsche mir, dass der Deutsche Bundestag eines Tages dem Beispiel der französischen Nationalversammlung folgt und die Türkei zu einem solchen Schritt auffordert. ({6}) Die Türkei ist jetzt zwar Beitrittskandidat zur Europäischen Union, doch ihre Innenpolitik ist der eines EUBeitrittskandidaten unwürdig. Unbefriedigend ist die Antwort auf Frage 6, welche die Verletzung von Religionsfreiheit in kommunistischen und sozialistischen Staaten betrifft. Es werden zwar China und Vietnam genannt - Herr Kollege Gröhe hat dazu schon Stellung genommen -, doch Nordkorea wird überhaupt nicht erwähnt, obwohl gerade in diesen Tagen von massiver Christenverfolgung dort berichtet wird, bei der das Regime mit drakonischen Strafen und zum Teil öffentlichen Hinrichtungen gegen christliche Missionare vorgeht, die von China aus in das abgeschottete Land reisen. Die Menschenrechtsverletzungen in Kuba werden verharmlost, wohl auch, um die Entscheidung der zuständigen Ministerin nicht zu diskreditieren, die offizielle Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba in nächster Zeit aufzunehmen. ({7}) Diese Entscheidung steht im Widerspruch zu den elementaren Grundsätzen deutscher Entwicklungspolitik. Hier wird bewusst ein Gewaltregime gestärkt, von dem sich zuletzt selbst eher kubafreundliche Staaten wie Mexiko oder Brasilien zu distanzieren begannen. ({8}) Während die Finanz- und Personalausstattung des BMZ immer weiter abnimmt und die Zahl der Partnerländer des BMZ bis auf 50 heruntergefahren werden soll, wird Kuba zulasten anderer Entwicklungsländer in die Entwicklungszusammenarbeit aufgenommen. Dies geht vor allem zulasten von Ländern, die sich um die Reformierung ihrer internen Rahmenbedingungen bemüht haben und sich, im Gegensatz zu Kuba, keine Menschenrechtsverletzungen haben zuschulden kommen lassen. Eine solche Politik ist ungerecht und falsch. ({9}) In Deutschland hat man gelegentlich den Eindruck, dass Toleranz gegenüber nicht christlichen Minderheiten einen höheren moralischen Wert besitzt als Toleranz gegenüber Christen. Wer aber unterschiedliche moralische Maßstäbe anlegt, der entlarvt sich selbst. Wer eine Doppelmoral hat, hat keine Moral. ({10}) Gerade wir, denen die Menschenrechte so am Herzen liegen, müssen uns für Christen in aller Welt jetzt und in Zukunft mit aller Entschiedenheit einsetzen. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Cem Özdemir vom Bündnis 90/Die Grünen.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich das Thema der Großen Anfrage und der heutigen Debatte gelesen habe, habe ich mich spontan um einen Debattenbeitrag bemüht. Es wird Sie vielleicht wundern, warum gerade ich hier spreche. Ich bin nachweislich nicht getauft, nicht konfirmiert und laut Geburtsurkunde Muslim. ({0}) - Danke, dass Sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben. - Es war mir als Mensch muslimischer Herkunft, der seinen Glauben wahrscheinlich so praktiziert wie unter wenigen Ausnahmen - die meisten Taufscheinchristen, ein besonders Anliegen, hier zu diesem Thema zu reden. ({1}) Wenn wir vom Thema Christenverfolgung sprechen, reden wir über das Thema Fundamentalismus. Redet man über das Thema Fundamentalismus, liegt das Thema Islam sehr nahe. Wir setzen die beiden Begriffe häufig gleich. Ich glaube, wir sollten uns dringend hüten, eine Religion in irgendeiner Weise zu stigmatisieren oder eine Religion bzw. deren Anhänger in Gänze für einzelne schlimme, nicht zu rechtfertigende Taten verantwortlich zu machen, die andere begangen haben. ({2}) Man darf nicht die Angehörigen einer Religion dafür ganzheitlich in Haftung nehmen. Ich habe oft den Eindruck, wenn ich Fernsehen schaue, manche Zeitungen lese oder Beiträge und Reden zum Thema Islam und Fundamentalismus höre, dass jeder, der bei uns zwei oder drei Worte Arabisch kann, zum Islam-Experten geworden ist, eine Sendung im Fernsehen erhält und darin über „das Schwert des Islam“ und andere Dinge schwadronieren darf. Ich glaube, dass uns bei diesem Thema etwas mehr Sachlichkeit gut tun würde. ({3}) Da wir gerade beim Thema Fundamentalismus sind: Mir fallen zum Fundamentalismus ganz unterschiedliche Dinge ein. Mir fällt beispielsweise ein, dass in Amerika in Kliniken, an denen Abtreibungen vorgenommen werden, Polizeibeamte unter Einsatz ihres Lebens Ärzte und Krankenschwestern vor Fanatikern schützen müssen, die angeblich meinen - ich sage bewusst: angeblich -, im Namen des Christentums einer höheren Sache nachzugehen, indem sie Jagd auf Ärzte und Krankenschwestern machen. ({4}) Mir fällt beispielsweise ein, wenn ich mir Südamerika, Lateinamerika und das südliche Afrika anschaue, dass dort evangelikale Christen mit ihrer Missionsarbeit zum Teil Verheerendes mit ihrer Missionsarbeit anrichten und damit übrigens auch das, was die katholische Kirche aufbaut, die Vorbildliches leistet, kaputtmachen. Sie richten zum Teil schreckliche Dinge an. Auch das fällt mir zum Thema Fundamentalismus ein. Mir fällt, wenn ich nach Israel schaue, auch die Ermordung des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Rabin ein. Mir fällt beispielsweise das Attentat in der Moschee ein. Mir fällt zum Thema Fundamentalismus die Zerstörung der Moschee in Indien durch Hindu-Fanatiker ein. Mir fallen natürlich auch die schrecklichen Bilder aus Algerien und aus Afghanistan ein, die wir immer wieder sehen müssen. Dort begehen die Taliban barbarische Menschenrechtsverletzungen an Frauen, aber auch an anderen Menschen. Mir fallen auch die Bilder ein, die wir bisher aus dem Iran gekannt haben und die sich hoffentlich jetzt endlich ändern - wobei ich nicht so optimistisch bin, dass ich sage, dass sich dort schnell etwas ändern wird. Meine Damen und Herren, wir sollten uns schon die Mühe machen, genau hinzuschauen. Mit welchen Waffen schießen denn die Taliban? - Manche haben es anscheinend vergessen, dass es auch lange Zeit unsere Politik war, die Politik des Westens, die dazu geführt hat, dass gesagt wurde: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Und dabei ging es nicht um Menschenrechte, dabei ging es nicht um den Schutz von Christen. Es ging nicht um den Schutz von Minderheiten, sondern es ging darum, dass der schnöde Mammon regiert hat, dass eigene wirtschaftliche Interessen dominiert haben, und es ging darum, dass außenpolitische Erwägungen wichtiger waren als Menschenrechte. Diesen Vorwurf müssen sich alle miteinander gefallen lassen. Es waren unsere amerikanischen Freunde, die beispielsweise in Afghanistan aus sehr durchsichtigen Interessen heraus die Taliban mit gestützt haben und deshalb Mitverantwortung für die Situation tragen, die wir dort haben. ({5}) - Wir sind uns sicher darüber einig, dass in Tschetschenien schreckliche Menschenrechtsverletzungen passieren. Und ich würde mir wünschen, lieber Kollege, dass wir mehr Einfluss auf die Situation in Tschetschenien ausüben könnten, um das schreckliche Treiben zu beenden. Lassen Sie uns bei dem Thema der Debatte bleiben. Wenn wir uns die Situation auf der arabischen Halbinsel anschauen - sie ist einer der Herde der Menschenrechtsverletzungen an Christen, auch an Atheisten und anderen - , müssen wir fragen: Wie ist es denn dort? Ich kann mich noch ganz gut an den Golfkrieg erinnern, in dem die Menschenrechte ein wichtiges Argument waren. Ich kann mich erinnern, dass wir der Frage der religiösen Toleranz und der Menschenrechte, den Werten, die wir hier doch gemeinsam vertreten, einen Bärendienst erwiesen haben, indem wir der islamischen Welt gezeigt haben, es geht nicht um Menschenrechte. Wir haben einen Diktator unterstützt, um einen anderen Diktator zu stürzen - Menschenrechte standen dabei nicht auf der Tagesordnung. ({6}) Ich finde, es ist wichtig das zu erwähnen, wenn man sich über das Thema Menschenrechte für Christen unterhält. Ich möchte, - weil ich nicht so viel Zeit habe, - nur noch auf einen Punkt eingehen, - er wurde heute schon von mehreren Debattenrednern angesprochen -: Ich glaube, wir tun den Menschen; die ihren Glauben praktizieren Unrecht, wenn wir sie dafür in Verantwortung nehmen, was häufig Menschen unseres Berufsstandes, Politikerinnen und Politiker, machen, indem sie nämlich die Religion für ihre Zwecke missbrauchen. Sie missbrauchen sie für den Machterhalt, um andere zu bekämpfen oder um Oppositionelle oder Andersdenkende auszuschalten. ({7}) Häufig sind es leider Ideologen, die die Religion ausnutzen, um Massen zu mobilisieren. Dass es dabei viele religiöse Funktionäre gibt, die sich gern missbrauchen lassen, muss ich hier nicht gesondert erwähnen. Auch das ist leider eine schreckliche Realität. Umso wichtiger ist es, dass wir denen, die sich in allen Weltreligionen für den Dialog einsetzen - wie beispielsweise Herr Küng, der sich für den Weltethos einsetzt -, unsere Unterstützung anbieten. Es geht darum, dass alle Weltreligionen das Gemeinsame entdecken, nämlich die Achtung vor der Schöpfung und die Achtung vor der Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens. All denen, die dafür arbeiten, muss unsere Solidarität gelten. Dass es Menschen, die sich für eine Reform im Islam einsetzen, besonders schwer haben, das wissen wir alle miteinander. Genau deshalb würde es uns gut zu Gesicht stehen, dass wir ihnen unsere ungeteilte Solidarität zuteil werden lassen. Denn wir brauchen sie, wir brauchen gerade die moderaten Kräfte innerhalb des Islam, ({8}) damit wir den Dialog der Religionen voranbringen können. Da wir über das Thema Fundamentalismus und religiöse Toleranz reden, möchte ich noch auf einen anderen Punkt eingehen. Ich glaube, das Schlüsselwort dieser Debatte ist das Wort „Respekt“. Respekt ist es, was wir brauchen, wenn wir uns als Angehörige unterschiedlicher Konfessionen und unterschiedlicher Religionen gegenseitig begegnen. Ich denke, dazu gehört auch eine Betrachtung dessen, was in der Schule geleistet wird. Ich erinnere mich an meine Schulzeit - ich bin immer in Deutschland zur Schule gegangen - : Was habe ich denn über die Kultur meiner Vorfahren gelernt? Irgendwann einmal kam mein Geschichtslehrer herein, holte tief Luft, schaute auf mich und sagte: Damals, die Türken vor Wien, da haben wir Glück gehabt, dass die Jungs von Cem eins auf den Deckel bekommen haben, denn sonst wären die Jungen jetzt alle zwangsbeschnitten und die Mädchen müssten Kopftücher tragen. - Alle Blicke richteten sich auf mich. Ich ging nach Hause mit dem Gefühl, aus einer schlimmen, schrecklichen Kultur zu kommen. Jetzt will ich gar nicht sagen, dass dies nicht Teil der Geschichte ist. Zur Geschichte gehört auch, dass man die schönen und die weniger schönen Dinge lernt. Daher meine ich zur Allgemeinbildung gehört auch, dass wir unseren Kindern beibringen, was vor 500 Jahren in Spanien los war, als die Reconquista kam, ({9}) als dort das - sicherlich mit Abstrichen - tolerante Regime, in dem Christen, Juden und Muslime in relativer Blüte gelebt haben, beendet wurde. Auch das gehört zum Thema, genauso, wie es dazugehört, dass wir uns in diesem Jahrhundert anschauen, was in Bosnien passiert ist. Wie lange haben wir gebraucht, bis wir den Völkermord dort - das richte ich an alle, Adressen, auch an meine Adresse und an die Adresse meiner Partei -, bis wir diesen Spuk beenden konnten? Der Präsident signalisiert, dass ich zum Ende kommen soll. Ich will auch mit einem Zitat schließen, westöstlich, wie es dieser Debatte vielleicht gut zu Gesicht steht: Wenn der Mensch das Bedürfnis hat zu loben, dann für die Vernunft, für das Wissen, für ein freundliches Wesen, für ein gutes Herz. Dummheit: Der Dumme zeigt sich darin, dass er mit seiner Abstammung prahlt. Dieses Zitat stammt von Hazreti Ali, einem engen Weggefährten des Propheten Mohammed. Viele kennen ihn als den Begründer des Alevetismus. Das zweite Zitat ist ein westliches: Die Demokratie aufhalten wollen hieße gegen Gott selber kämpfen. Es stammt von Alexis de Tocqueville. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat Kollege Dr. Heiner Geißler von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann fast allem zustimmen, was über die allgemeine Situation der Menschenrechte auf der Welt gesagt worden ist. Ich kann aber nicht ganz verstehen, dass der Sinn der Großen Anfrage der CDU ins Zwielicht gezogen wird, und zwar offenbar mit der Unterstellung, die Verfolgung von Christen sei meiner Fraktion ein wichtigeres Thema als die Verfolgung anderer Minderheiten auf dieser Welt. Ein solch absurdes Argument sollte hier nicht vorgetragen werden. ({0}) Wir haben hier im Parlament schon viele allgemeine Menschenrechtsdebatten gehabt, und man kann anhand der Christenverfolgung, die eben nicht bestritten werden kann - auch nicht die spezifische Christenverfolgung, Frau Köster-Loßack, - sehr wohl darlegen, welche Denkstrukturen und Kausalitäten ganz allgemein Menschenrechtsverletzungen zugrunde liegen. Ich will versuchen, dies darzulegen. Ich finde, darüber sollten wir einmal einen Meinungsaustausch führen. Wenn hier der Eindruck erweckt werden sollte, als gebe es spezifische Christenverfolgung nicht, dann trete ich dem entgegen. Ein solcher Eindruck, dass also Menschen auf dieser Welt nicht allein oder hauptsächlich deshalb verfolgt würden, weil sie Christen sind, ist falsch und widerspricht den Realitäten. Ich hoffe, dass dies auch niemand so darlegen wollte. Wenn wir, soweit wir einer christlichen Religion angehören, über dieses Thema reden, dann muss am Anfang ein Schuldbekenntnis stehen; denn im Namen des Christentums sind in den vergangenen Jahrhunderten schwere Menschenrechtsverletzungen begangen worden. ({1}) Die Kreuzritter haben in Jerusalem ein Blutbad angerichtet. Wie Zeitzeugen beschrieben haben, seien die Leute im Blut der ermordeten Menschen gewatet. Im Vorfeld dieser Kreuzzüge haben Leute wie Petrus von Amiens, Walter Sans-Avoir und Emicho von Leiningen den Pöbel gegen die einheimischen Nichtchristen, zum Beispiel gegen die Juden, aufgehetzt. Dies sind nur einige wenige Beispiele dafür, wie im Namen Gottes und auch im Namen des Christentums schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen worden sind. Cem Özdemir hat auf die Situation in Spanien hingewiesen, wo wir wirklich ein friedliches multikulturelles Zusammenleben zwischen Christen, Juden und Arabern hatten, das durch El Cid, die Gegenbewegung im 11. Jahrhundert, durch die christlichen Spanier völlig verändert worden ist. Große Teile der jüdischen und maurischen Bevölkerung haben damals das Land verlassen. Das Schicksal der europäischen Juden ist ein besonders trauriges Beispiel für eine Politik im Namen einer falsch verstandenen religiösen Dominierung. Ihre Lage war gekennzeichnet von Abgrenzung und Selbstbehauptung, zwischen Resignation und Flucht sowie von Duldung und Schutz durch Kaiser, König oder Landesherr, verbunden mit Gettobildung, Sondersteuern und blutigen Pogromen. Am Ende stand der Völkermord durch die Nationalsozialisten. Es ist völlig klar, dass wir dann, wenn wir über dieses Thema reden, zunächst ein Schuldbekenntnis ablegen müssen. Aber das darf uns heute nicht daran hindern, über die Situation von Millionen Menschen zu reden, die wegen ihres Glaubens und insbesondere auch wegen ihrer Zugehörigkeit zur christlichen Religion verfolgt werden. Darüber müssen wir gar nicht lange debattieren. Dafür sind genügend Beispiele aufgeführt worden. Reden Sie einmal mit der Basler Mission und den Angehörigen der presbyterianischen Kirche im Sudan, die ich neulich besucht habe. Ich verwahre mich gegen alle Verharmlosungen, die hier angeführt worden sind. Natürlich gibt es immer eine Verzahnung von Argumenten, das ist klar. Johan Candelin, den Sie erwähnt haben, hat einmal gefragt: Woran kann man feststellen, ab wann Christen verfolgt werden. Antwort: Christen sind dann verfolgt, wenn sie ihren Glauben ablegen, die Religion der Mehrheit annehmen und sich ihre Lage dadurch verbessert. Wenn man dies als Maßstab für die Lage der Christen heranzieht, dann stellt man fest, dass es Christen in vielen Regionen dieser Erde besser gehen würde, wenn sie ihren Glauben ablegten und eine andere Religion annehmen würden. Es handelt sich nicht immer um blutige Verfolgung und militärische Unterdrückung, sondern oft um eine subkutane, heimliche und schikanöse Verfolgung: Es gibt berufliche und bildungspolitische Nachteile. So wird zum Beispiel der Besuch einer Elementarschule von dem vorherigen Besuch eines Kindergartens abhängig gemacht. Unter dieser Voraussetzung akzeptiert man gerne Elementarschulen in christlicher Trägerschaft, weil man gleichzeitig festgelegt hat, dass Christen keine eigenen Kindergärten haben können. Damit haben sie auch keinen Zugang zu einer Elementarschule. Der Erzbischof von Khartum hat mir das erklärt: Christliche Kirchen dürfen keine Grundstücke besitzen. Folglich habe ich das Grundstück selber gekauft. Aber dann ist mir gesagt worden, auf einem Privatgrundstück dürfen keine öffentlichen Institutionen errichtet werden. - So läuft dies ab. Christen werden allein wegen ihres Glaubens massiv behindert. Ich sage in diesem Zusammenhang auch: Wir dürfen uns nicht beschweren, dass die Katholiken im sudanesischen El-Obeid, wo es einen Bischofssitz gibt, ihr eigenes Wort während des Gottesdienstes nicht mehr verstehen können, weil die Lautsprecher der Moscheen auf die Kirche gerichtet sind, wenn wir gleichzeitig in Deutschland Theater machen, weil die zweitgrößte Religion in Deutschland, der Islam, ihre eigenen Gotteshäuser haben möchte, und wir uns bedroht fühlen, wenn man nicht nur die Glocken der Kirchen hört, sondern auch das Gebet, das ein Muezzin von einem Minarett herab spricht. Man muss hier schon konsequent bleiben ({2}) und die Toleranz aufbringen, die notwendig ist, um ein solches Thema glaubwürdig zu behandeln. Warum gibt es Christenverfolgung? Das ist nach meiner Auffassung eine wichtige Frage. Die christliche Religion, insbesondere die katholische, aber auch die evangelische, gerät naturgemäß wegen ihres universellen Charakters in Konflikt mit allen nationalstaatlichen, homogenen Philosophien. Genau das erleben wir im Moment. Wenn man fragt, warum Christen verfolgt werden, dann bekommt man als Hauptargument zur Antwort, die wachsende Zahl der Christen bedrohe die nationale Identität, auch die Mehrheitsreligion. Das ist der Hauptgrund für die Auseinandersetzungen in einer ganzen Reihe von Staaten dieser Erde. Christen treten heute als Fürsprecher für Menschenrechte auf. Sie geraten zum Beispiel dann in Gegensatz zum Staat, Cem Özdemir, wenn eine Religion wie der Islam seine Rechtsordnung mittels der Scharia zur Staatsordnung macht. Das ist nicht allein das Ziel von Nichtregierungsorganisationen; vielmehr gibt es Staaten, in denen das so ist, zum Beispiel im Sudan oder in anderen Staaten des Islams. Damit muss man sich auseinander setzen. Aus der Praktizierung der Scharia folgt unmittelbar eine Verfolgung der Menschen ohne islamischen Glauben. Am meisten hat mich das gewundert, was Sie zu Lateinamerika gesagt haben. Überlegen Sie einmal: Die katholische Kirche tritt massiv für die Rechte der Chiapas ein. Wenn die katholische Kirche oder die evangelische Kirche, die Rechte der unterdrückten, der armen Bevölkerung, die Rechte der aufgrund ihres Verständnisses von christlicher Nächstenliebe ausgebeuteten Menschen artikuliert und sich aufgrund ihrer Glaubensüberzeugung gegen die Großgrundbesitzer - mögen sie sich selber als Christen bezeichnen - auf die Seite der Unterdrückten stellt und in einer üblen Weise auch von der mexikanischen Regierung verfolgt wird, dann nenne ich das ganz selbstverständlich Christenverfolgung. Dagegen müssen wir uns natürlich wehren. In Lateinamerika haben sich viele in der katholischen und in der evangelischen Kirche - ich erinnere an Helder Camara und viele andere - auf die Seite der Unterdrückten gestellt. Diejenigen, die von den Generälen und den Diktatoren bekämpft worden sind, sind insoweit selbstverständlich Opfer einer Christenverfolgung gewesen. Ich will einmal die Denkstrukturen aufzeigen, die einer solchen Verfolgung zugrunde liegen. In China ist die Identifizierung des Staates mit der Aufgabe, die Mentalität der Menschen im Lande unter eine geistige Kontrolle - dem Verständnis der Mächtigen entsprechend - zu bringen, ganz klar. Es kann keine zwei Sonnen am chinesischen Himmel geben - das ist die Auffassung der chinesischen Kommunisten. Infolgedessen können staatlich nicht erlaubte Religionen keine Chance haben. Aus all dem habe ich für mich selber ein Fazit gezogen - ich glaube, dass man es nachvollziehen kann - : Religiöser Fundamentalismus allein reicht als Begründung für die Christenverfolgung oft nicht aus. Aber Nationalismus und religiöser Fundamentalismus haben sich in vielen Gegenden der Welt zu einer unheiligen Allianz mit dem Ziel verschworen, Menschen nur deswegen zu verfolgen, zu diskriminieren und zu töten, weil sie oft beides waren: Angehörige einer ethnischen Minderheit und auch einer anderen Religion. Sehr oft waren diese Menschen aber nur Angehörige einer Religion, die den Machtanspruch der Machthaber durch den Universalitätsanspruch gefährdet hat. Die serbischen Kriegsverbrechen dieses und des letzten Jahrhunderts sind nicht ohne die Identifikation der Serben als Nation mit dem orthodoxen Christentum zu verstehen. Das ist die andere Seite der Medaille. Es wird immer wieder behauptet, diese Konflikte seien unausweichlich; ich erinnere an das Buch von Huntington „Clash of Civilization“. Dies ist absolut falsch; vielmehr ist das Gegenteil richtig. ({3}) Es gibt auf der Erde genügend Beispiele dafür, dass die Angehörigen unterschiedlicher Religionen und unterschiedlicher Ethnien friedlich zusammenleben. Wir brauchen als Konzeption, um diese Situation zu verändern - sie hat sich bereits verbessert: Die Anzahl der Demokratien ist größer geworden, es gibt heute mehr freie Menschen auf der Erde als noch vor 100 Jahren - , eine Weltfriedensordnung, in der die Menschen unabhängig davon, ob sie katholisch, hinduistisch, evangelisch oder muslimisch sind, friedlich zusammenleben können. Das zum Beispiel von Hans Küng formulierte Weltethos, in dem sich die verschiedenen Religionen finden können - Sie, Cem Özdemir, haben es angesprochen -, ist als geistig-moralische Grundlage wirklich eine Hilfe. Die Beseitigung der Diskriminierung und die Durchsetzung der Menschenrechte unabhängig davon, welchem Volk, welcher Nation, welcher Rasse die Menschen angehören - sind die Grundstruktur einer neuen Weltfriedensordnung, die wir anstreben müssen. Niemand sage mir, das sei eine Utopie, die niemals erreicht werden könne. Wenn wir vor zwölf Jahren in Ostberlin, zum Beispiel in Berlin-Mitte oder in Prenzlauer Berg, miteinander diskutiert hätten und jemand gesagt hätte, in elf Jahren werden die Tschechoslowakei und Polen Mitglied der NATO sein, dann wären wir in Ostberlin sofort verhaftet und in Westberlin in die Psychiatrie gebracht worden. Innerhalb von zehn Jahren ist es Realität geworden, obwohl diese Länder damals noch Mitglieder des Warschauer Paktes waren. Die Zukunft rückt näher. Die Zeit läuft so schnell ab, dass wir es uns gar nicht leisten können, noch lange darauf zu warten. An diesem Konzept einer Weltfriedensordnung muss auch eine deutsche Bundesregierung arbeiten. Man darf vor allen Dingen ebenso wenig wie die Verfolgung von Christen die Verletzung von Menschenrechten akzeptieren. Man muss vielmehr, wenn zum Beispiel Geschäftsbeziehungen mit diesen Staaten angebahnt werden oder Minister dort auftauchen, die Frage der Menschenrechte, bevor das Wort D-Mark in den Mund genommen wird, auf den Tisch des Hauses legen. So kommen wir in dieser Frage weiter. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Geißler!

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das gilt für die alte Regierung, ({0}) aber genauso auch für die neue Regierung, die in dem Punkt um kein Haar besser ist als die frühere. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Joachim Tappe von der SPD-Fraktion.

Joachim Tappe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002299, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in dieser Debatte das generelle Problem sehr umfassend gewürdigt. Deshalb möchte ich lediglich einen kleinen Ausschnitt beleuchten und einen regionalen Akzent setzen. Dieses möchte ich zum Anlass nehmen, die Fragesteller um eine noch differenziertere Betrachtung dieses sicherlich nicht kleinzuredenden Problems der weltweiten Christenverfolgung zu bitten. Zugleich möchte ich die wesentliche Quelle, die der Großen Anfrage zugrunde liegt, mit diesem Beispiel ein wenig kritisch hinterfragen. Ich kenne mich in Afrika ein bisschen aus und, weil in der Anfrage der Sudan - Kollege Geißler hat ja eben mehrfach auf dieses Land hingewiesen - als ein afrikanisches Beispiel für angebliche Christenverfolgung ausdrücklich genannt worden ist, will ich dieses Beispiel Sudan auch verwenden, um eine von den Medien ständig verbreitete Legende ein wenig zu relativieren. Inwieweit solche Relativierungen auch für andere Regionen, bezogen auf das Problem, notwendig sind, vermag ich nicht zu beurteilen. Seit Jahren wird der Bürgerkrieg im Sudan in der Berichterstattung als ein Kampf des Halbmonds gegen das Kreuz dargestellt: der muslimisch dominierte Norden im missionarischen Krieg gegen den christlichafrikanisch geprägten Süden. In diesem Zusammenhang fällt oft auch der Begriff der Zwangsislamisierung. Diese Sichtweise ist nach meinen Erfahrungen - diese Einschränkung will ich gerne machen - falsch und verstellt deswegen auch den Blick auf eine baldige und, wie ich finde, auch mögliche Lösung dieses blutigen Konflikts, der seit 40 Jahren dieses Land nicht zur Ruhe kommen lässt und allein seit 1983 mehr als 1 Millionen Menschenleben gefordert hat. Ich war im letzten Jahr zweimal im Sudan, nicht nur in Khartoum, sondern auch im so genannten christlichen Süden. Auch das ist, nebenbei gesagt, eine Legende. Ernst zu nehmende Schätzungen gehen davon aus, dass auch im Südsudan nur etwa 20 Prozent der Menschen sich zum christlichen Glauben bekennen. Ich war in Wau, in Lunyaker und in Juba. Ich habe dort unter anderem Kirchen und Schulen besucht, mit politisch Verantwortlichen, mit Geistlichen und Lehrern gesprochen, ebenso mit traditionellen Chiefs aus der Region und immer wieder übereinstimmend bestätigt bekommen, dass sie trotz der durch die Kriegssituation beklagenswerten Umstände doch relativ ungehindert arbeiten können. Wenn dennoch in der westlichen Berichterstattung dieser schreckliche und, wie ich finde, völlig überflüssige Bürgerkrieg fast ausschließlich als religiös motivierter Konflikt dargestellt wird - an dieser Legende strickt auch so mancher hochrangige sudanesische Kirchenmann nicht uneigennützig; häufig wird das mit Bildern von gewaltsamen Abrissen illegal errichteter Behelfskirchen in den Flüchtlingslagern am Rande Khartoums belegt, - dann scheint mir diese Art der Berichterstattung einseitig interessengeleitet und nicht zuletzt von der SPLM, einer wichtigen Konfliktpartei, unterstützungsheischend in diesem machtpolitischen Pokerspiel instrumentalisiert. Aus meiner Sicht ist der Sudankonflikt ein für Afrika leider typischer ethnischer Konflikt, in den auch starke soziale und ökonomische Komponenten hineinspielen, die eine Folge der vorhandenen UnterDr. Heiner Geißler entwicklung der afrikanischen Bevölkerungsgruppen gegenüber den arabisierten muslimischen Nordsudanern sind. Meine Gespräche mit sudanesischen Vertretern aus den Nuba-Bergen haben noch einen anderen Aspekt dieses Konfliktes deutlich gemacht, nämlich das tief sitzende Misstrauen, gewachsen aus der über Jahrhunderte genährten Erfahrung von und Angst vor Versklavung. Diese Angst wird leider durch aktuelle Vorkommnisse verstärkt, weil immer wieder Massenentführungen und in besonders schändlicher Weise Entführungen von Kindern vorkommen. Doch auch hier gilt es festzuhalten: Diese schlimmen Menschenrechtsverletzungen haben keine originär religiöse Dimension. Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass die sich als christlich verstehende Lord’s Resistance Army, eine ugandische Rebellenorganisation unter Führung von Joseph Kony, die von der muslimischen Regierung in Khartoum unterstützt wird, aus dem Südsudan heraus in Norduganda agiert, dort oft die Entführung ganzer Schulklassen als besonders abscheuliches Mittel der Kriegführung anwendet und dabei nicht unterscheidet, ob es sich um christliche oder muslimische Kinder handelt. ({0}) Dieser Hinweis auf die LRA soll nicht dazu dienen, die Gräueltaten und Menschenrechtsverletzungen in dieser geschundenen Region gegenseitig aufzurechnen und damit zu relativieren. Minderheiten haben es überall schwer, auch in unserem Land. In muslimisch geprägten Ländern, vor allem, wenn sie fundamentalistische Züge aufweisen, trifft das besonders in Bezug auf christliche Gruppen zu. Aber im Sudan - das kann ich aus meinen vielfältigen Erfahrungen im Wesentlichen auch für den gesamten schwarzafrikanischen Bereich sagen - gibt es keine organisierte oder geduldete Christenverfolgung in der Weise, dass Menschen nur deshalb umgebracht werden, weil sie sich zum Christentum bekennen. Dass es im Sudan auch Übergriffe fanatischer Gruppen und Einzelpersonen gibt, will ich dabei nicht in Abrede stellen. Gestatten Sie mir zum Schluss, dass ich noch eine These zur aktuellen Situation im Sudan äußere, weil dies ein Beitrag zur Lösung bestimmter Probleme in diesem Umfeld sein könnte. Wenn die Amerikaner den Geistlichen John Garang, den im sicheren Exil in Nairobi lebenden Chef der so genannten sudanesischen Volksbefreiungsbewegung, der als Einziger der ehemals sechs südsudanesischen Warlords noch aktiv ist, nicht massiv mit Geld und Waffen unterstützten, dann wäre der von allen Konfliktparteien im Sudan sehnlichst erwünschte Frieden längst Realität. Wir müssten dann zumindest für diesen Teil der Welt nicht über das Problem der Christenverfolgung diskutieren, sondern darüber, wie wir Europäer und wir Deutsche unseren Beitrag zum Frieden und zur Entwicklung des Sudan leisten können. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Norbert Blüm von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Tappe, auch ich war im Sudan. Am 7. Februar sind über den Nuba-Bergen Bomben abgeworfen worden; 14 Kinder wurden getötet. Man kann sagen, dass die Flieger unregelmäßig fliegen, aber die Menschen regelmäßig Angst haben. Da hilft kein diplomatisches Gerede: Das ist ein Skandal. Der Deutsche Bundestag muss sich gegen diese menschenverachtenden Methoden der Regierung in Khartoum ohne Abstriche wenden. ({0}) Ich will außerdem noch sagen, dass für mich Menschenrechte immer konkret sind. Man sollte sie nicht in abstrakte Kategorien zwängen. Ich muss ganz konkret sagen, dass es unter den Verfolgten Christen gibt, mit denen ich mich solidarisiere. ({1}) - Lassen Sie mich doch wenigstens ausreden! - Das heißt nicht, dass ich andere im Stich lasse. Aber ich finde den Grundsatz „Wenn ich nicht allen helfen kann, dann helfe ich niemandem“ nicht richtig. Das Christentum ist der Idee der Menschenrechte verpflichtet. Es ist daher ein Gebot, sich für Bedrängte, auch für bedrängte Christen, einzusetzen. Man kann die Situation in wirtschaftlicher und ideologischer Hinsicht kunstvoll analysieren. Ich stelle aber fest: Im Moment gibt es einen menschenverachtenden Fundamentalismus - den ich nicht mit dem Islam identifiziere -, der auf dem Boden des Islam zum heiligen Krieg auch im Sudan aufruft. Dieser Fundamentalismus - noch einmal gesagt: ich identifiziere ihn nicht mit dem Islam - hat der Welt nur mehr Fanatismus und mehr Menschenverachtung gebracht. Ich finde, wir sollten nicht so kunstvoll debattieren und analysieren, wer alles was gemacht hat. 14 Kinder sind tot; es wird im Sudan weiter gebombt. Meine Antwort darauf ist: Keine Regierung, die das zulässt, kann unsere Unterstützung haben. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zur Erwiderung, Herr Kollege Tappe, bitte schön.

Joachim Tappe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002299, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Blüm, ich stimme dem vollkommen zu, was Sie über die Vorkommnisse im Sudan gesagt haben. Man muss aber so ehrlich sein und sagen, dass dies auf beiden Seiten passiert. Auch John Garang und seine Helfershelfer bomben im Sudan. Dem müssen wir in dem Sinne, wie Sie es gesagt haben, mit aller Entschiedenheit begegnen. ({0}) Ich möchte meine Erwiderung zum Anlass nehmen, eine Bitte an Sie und auch an den Kollegen Geißler zu äußern - Sie waren ja kürzlich im Sudan; Kollege Schuster und ich waren voriges Jahr dort -: Wäre es nicht sinnvoll, unsere Erfahrungen und Sichtweisen, die sicherlich unterschiedlich sein mögen, einmal miteinander abzustimmen und dies zum Anlass zu nehmen, dass sich der Deutsche Bundestag mit einem entsprechenden Antrag profiliert, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, im Sudan helfend tätig zu werden? Dies wäre in unser aller Sinne. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Staatsminister Christoph Zöpel.

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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat die Große Anfrage zur Verfolgung von Christen gern beantwortet. Es war gut, dass sie gestellt wurde. Der Beantwortung gingen die entsprechenden Recherchen in unseren Botschaften in den angesprochenen Ländern voraus. Diese sind insbesondere von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Auswärtigen Amt sorgfältig ausgewertet worden. Sie und nicht der Bundesminister oder ich tun ja diese praktische Arbeit. Wenn es Kritik gab, so war sie in manchen Punkten berechtigt, weil der Text auch nicht zu lang werden durfte. Ein Hinweis zu Nordkorea: Die zitierten Vorkommnisse sind nach Redaktionsschluss eingetreten und konnten schon deshalb nicht berücksichtigt werden. Das hat nichts damit zu tun, dass die Bundesregierung Nordkorea nicht für das zurzeit vielleicht problematischste Überbleibsel des Kommunismus hält. Ich möchte Ihnen eine Zusage geben: Wir werden alle Reden sorgfältig lesen und Anmerkungen und Kritikpunkte dieser Art in ein Schreiben an den Bundestag aufnehmen, um hier zusätzliche Aufklärung zu leisten. ({0}) Die Bundesregierung hat auch ihre Grundposition zur Christenverfolgung, zur Religionsfreiheit von Christen dargelegt. Diese Grundposition ist die Neutralität gegenüber allen Weltanschauungen und Religionen. ({1}) Diese Neutralität ist nicht wertfrei. Ihr Wertbezug ist die Aufklärung. Das wurde am anspruchsvollsten formuliert von Immanuel Kant, dem bedeutendsten Preußen, für diese Debatte am geeignetsten formuliert von Gotthold Ephraim Lessing in „Nathan der Weise“ und im 20. Jahrhundert für mich am eindrucksvollsten formuliert von einer polnischen Jüdin, die daraufhin von missgeleiteten Preußen einige Meter von hier entfernt in den Landwehrkanal geworfen wurde: Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden. ({2}) Dieser weltanschaulich neutrale Staat hat gegenüber der Religionsfreiheit zwei Verpflichtungen. Die erste bildet die Grundlage: Er selber darf niemanden um seiner Religion willen verfolgen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Es ist gut festzustellen, dass nach dem Niedergang des Kommunismus - in Europa auf jeden Fall, in anderen Teilen der Welt auch - Christenverfolgungen in den entsprechenden Ländern nicht mehr stattfinden. Wir sollten nicht darüber diskutieren, dass diese Bundesregierung das für richtig hält. Weshalb Nordkorea in der Antwort nicht angesprochen worden ist, habe ich bereits gesagt; China und Vietnam haben wir in der Antwort erwähnt. Dass im Übergang vom Kommunismus zur Demokratie vor allem in Russland auch mit der Religionsfreiheit und den Menschenrechten noch nicht so umgegangen wird, wie wir es uns wünschen, wissen wir. Ich verurteile an dieser Stelle namens der Bundesregierung ausdrücklich Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien. Das hat die Bundesregierung aber auch vorher schon ausreichend getan. ({3}) Herr Kollege Spranger, lassen Sie mich eine Bemerkung zu Kuba machen. Gerade in dieser Debatte Kuba zu diskutieren, ohne auch über Befreiungstheologie, über die Ermordung von Allende und über Pinochet zu sprechen, ist einseitig. ({4}) - Dass ich Einseitigkeit konstatiere, veranlasst Sie zu engagierten Bemerkungen, ohne dass Sie abwarten, was ich noch sage: Das politische Modell Kubas ist nicht das Vorbild der Bundesregierung. ({5}) - In dieser Region ist es nicht das Vorbild. Damit Ihr Lachen wieder aufhört: Es wäre eher Costa Rica. ({6}) - Frau Kollegin, es ist sehr traurig, wenn man in einer Debatte über Toleranz nicht einmal so lange mit unangemessenen Zwischenrufen warten kann, bis das Argument zu Ende geführt worden ist. ({7}) Ich füge an dieser Stelle hinzu: Die Bundesregierung wünscht es sich, dass auch die Regierung Castro den Mut aufbrächte, den die Sandinisten in Nicaragua aufgebracht haben, und demokratisch wählen ließe. ({8}) Ich hoffe, jetzt klatschen auch Sie. - Ich bin zufällig gleich nach der Debatte mit dem kubanischen Botschafter verabredet. Ich werde ihm dasselbe sagen. Ich hatte das Selbstverständnis des weltanschaulich neutralen Staates erwähnt, Religionen nicht zu verfolgen. Dies reicht aber nicht aus. Der weltanschaulich neutrale Staat muss auch dafür sorgen, dass alle Religionen ihr Recht bekommen. Das ist die zweite größere Herausforderung. Hier liegt eines der Probleme der Staaten des westlichen und des sich erweiternden Europas mit den islamischen Staaten. Die im Hinblick auf die Religionsfreiheit zu führende Auseinandersetzung mit den meisten muslimischen Staaten muss zum Ziel haben, dass das Staatsverständnis in diesem Teil der Welt sich dahin entwickelt, dass alle Religionen geschützt werden. Es ist schon ein Problem, wenn sich islamische Staaten unter dieser von der Religion bestimmten Bezeichnung zusammenschließen. Dies ist auch - die kritischen Bemerkungen nehme ich sehr bewusst auf - eines der Probleme, die sich bei der Frage der Mitgliedschaft der Türkei in der Europäische Union stellen. Der derzeitige Schutz anderer Religionen in der Türkei ist nicht gewährleistet. ({9}) Bereits bevor ich dieses Amt antrat, habe ich mich bei Italienbesuchen im Vatikan darüber informieren lassen, wie sich in islamischen Staaten christliche Religionen betätigen können. Das, was ich über die Türkei gehört habe, hat mich schon immer erschreckt. Die Türkei selber will aber, dass wir ihre gesellschaftlichen Verhältnisse anhand der Anforderungen prüfen, die mit dem Kandidatenstatus verbunden sind. Das haben wir aufgenommen. Die Prüfung auch des Verhaltens der türkischen Regierung hinsichtlich der Betätigungsmöglichkeiten der christlichen Religionen gehört zu den unabdingbaren Kriterien, die in den Fortschrittsberichten der Europäischen Union enthalten sein werden. ({10}) Das ist einer der Gründe, weshalb wir den Kandidatenstatus wollten. Ich verspreche: So wie sich bisher das Verhältnis der Türkei zu Griechenland gebessert hat, so wird auch die Prüfung durch die Europäische Union zu einer Verbesserung in dieser Hinsicht führen. Wenn dies nicht der Fall sein wird, brauchen wir über die Vollmitgliedschaft nicht zu sprechen. ({11}) Ich bleibe bei den Ideen der Aufklärung als den Leitgedanken der Politik der Bundesregierung und gehe auf Ihre Frage ein, ob es nicht einen Grund gibt, dass sich die deutsche Politik besonders um die Christen in aller Welt kümmert. Dies ist eine berechtigte Frage. Ich möchte sie so beantworten: Sosehr es notwendig ist, dass der Staat Deutschland die von mir geschilderte weltanschauliche Neutralität beibehält, so berechtigt ist es, dass sich im politischen System der Bundesrepublik Deutschland unter Pluralitätsgesichtspunkten die Repräsentanten dieses Systems auch für die Menschenrechte der Christen oder - Herr Kollege Özdemir - der Muslime einsetzen. Wir sollten diese Pluralität als Teil unseres Systems verstehen. Die oben erwähnteTrennung sollten wir vornehmen. Das ist die Antwort auf ihre Frage. Ich mache dazu aber noch eine Bemerkung. Je mehr sich die christlichen Religionen seit dem Humanismus mit der Aufklärung verbunden haben, umso weniger aggressiv sind sie, umso toleranter sind sie. Leider ist es eine Tragik dieser Welt, dass hohe Toleranz auch dazu führen kann, dass man sich nicht mehr,wenn notwendig, verteidigt. Aus diesem Gedanken, dass christliche Religionen mit der Aufklärung am stärksten verbunden sind, vermag ich ein besonderes Eintreten für die Christen in aller Welt auch seitens der Bundesregierung abzuleiten. ({12}) Religionen aber gehören in die Zivilgesellschaft. Die Zivilgesellschaft muss vom Staat in der Weise einen Rechtsrahmen bekommen, dass es auch innerhalb der Zivilgesellschaft keine Übergriffe einer Religion gegen die andere oder einer Religion gegen Nichtgläubige gibt. Das ist ein weiteres Erfordernis staatlicher Politik in Bezug auf die Religionsfreiheit. Hier ist auch ein entschiedener Appell an die Religionen zu richten. Herr Kollege Geißler, Sie haben hinsichtlich der christlichen Religionen alles dazu gesagt. Ich könnte es annäherungsweise nicht so gut formulieren und übernehme diese Ausführungen zur Notwendigkeit der eigenen Toleranz christlicher Religionen in den Zivilgesellschaften dieser Welt. Lassen Sie mich schließen und auf die kritischen Bemerkungen eingehen, dass die Politik der jeweiligen Bundesregierung nicht immer dem entspricht, was in Menschenrechtsdebatten formuliert wird. Für mich gibt es seit langem eine klare Erkenntnis. Internationale Politik hat drei Ziele: die Sicherheit vor militärischen Angriffen auf dieser Welt herzustellen, wirtschaftliche Beziehungen mit dem Ziel der Reichtumsvermehrung in aller Welt zu ermöglichen und die Menschenrechte zu sichern. Dazwischen gibt es Zielkonflikte. ({13}) - Immer, das hat jede Regierung erfahren. - In unserer Antwort ist ein sehr praktischer Zielkonflikt aufgezeigt: Mit der indischen Regierung konnte im Rahmen des Entwicklungsdialogs nicht mehr über Religionsfreiheit diskutiert werden, denn der Entwicklungsdialog wurde nicht mehr durchgeführt, weil die Inder Atomwaffen erprobt haben. Wenn Sie ein Ziel verabsolutieren, können Sie immer Kritik üben. Verabsolutieren wir das Sicherheitsziel, dann werden wir den Entwicklungsdialog einstellen, usw. Ich bitte alle, in Menschenrechtsfragen im Geiste der Aufklärung so engagiert zu sein, wie die Regierung und auch ich persönlich es befürworten, dabei aber nicht zu vergessen, dass praktische internationale Politik sich in dem genannten Zieldreieck bewegt. Keine Regierung wird eines der drei Ziele verabsolutieren wollen. Ich sehe auch niemanden in diesem Hause, der das wollte. An der Stelle bitte ich um etwas Toleranz gegenüber der Regierung. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 e sowie Zusatzpunkt 3 auf: 21. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Steuerberater ({0}) - Drucksache 14/2667 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 9. September 1998 zur Änderung des Europäischen Übereinkommens vom 5. Mai 1989 über das grenzüberschreitende Fernsehen - Drucksache 14/2681 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll von 1996 zur Änderung des Übereinkommens von 1976 über die Beschränkung der Haftung für Seeforderungen - Drucksache 14/2696 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zu dem Protokoll von 1996 zur Änderung des Übereinkommens von 1976 über die Beschränkung der Haftung für Seeforderungen - Drucksache 14/2697 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({4}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung ({5}) - Drucksache 14/2444 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Zivildienstvertrauensmann-Gesetzes ({6}) - Drucksache 14/2698 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Jünger, Rosel Neuhäuser, Christina Schenk, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS Ächtung der Gewalt in der Erziehung wirkungsvoll flankieren - Drucksache 14/2720 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({7}) Rechtsausschuss Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen beschlossen. Tagesordnungspunkt 22 a ist abgesetzt. Damit kommen wir zu den Tagesordnungspunkten 22 b bis 22 j sowie zu den Zusatzpunkten 4 a bis 4 e. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 22 b: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Verwaltungskostengesetzes - Drucksache 14/639 ({8}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({9}) - Drucksache 14/2704 Staatsminister Dr. Christoph Zöpel Berichterstattung: Abgeordnete Barbara Wittig Dr. Joseph Theodor Blank Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Petra Pau Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/2704, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse nun über den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 14/639 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Tagesordnungspunkt 22 c: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 25. Mai 1998 über Partnerschaft und Zusammenarbeit zur Gründung einer Partnerschaft zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Turkmenistan andererseits - Drucksache 14/1787 ({10}) ({11}) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({12}) - Drucksache 14/2626 Berichterstattung: Abgeordnete Gert Weisskirchen Dr. Erika Schuchardt Dr. Helmut Lippelt Ulrich Irmer Dr. Dietmar Bartsch Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/2626, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 22 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({13}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau und der Fraktion der PDS Keine Zurückweisung von Kosovo-Flüchtlingen an den Grenzen, die Erteilung von Visa für Familienangehörige sowie unbürokratische Ausstellung von Reisedokumenten und Aufnahme und Schutz von unbegleiteten Flüchtlinges- und Waisenkindern - Drucksachen 14/1182, 14/2526 Berichterstattung: Abgeordnete Rüdiger Veit Dietmar Schlee Marieluise Beck ({14}) Dr. Max Stadler Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1182 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 22 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15}) Sammelübersicht 122 zu Petitionen - Drucksache 14/2710 Beschlussfassung Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist diese Sammelübersicht bei Enthaltung der PDS und Zustimmung aller anderen Fraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 22 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16}) Sammelübersicht 123 zu Petitionen - Drucksache 14/2711 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 123 ist bei gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Tagesordnungspunkt 22 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 124 zu Petitionen - Drucksache 14/2712 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Diese Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 22 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 125 zu Petitionen - Drucksache 14/2713 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Diese Sammelübersicht ist mit den Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Tagesordnungspunkt 22 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 126 zu Petitionen - Drucksache 14/2714 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 126 ist bei Zustimmung aller Fraktionen mit Ausnahme der F.D.P.Fraktion, die dagegen gestimmt hat, angenommen. Tagesordnungspunkt 22 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 127 zu Petitionen - Drucksache 14/2715 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Diese Sammelübersicht ist mit Zustimmung aller Fraktionen mit Ausnahme der PDS, die dagegen gestimmt hat, angenommen. Zusatzpunkt 4: Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({21}) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Rennwett- und Lotteriegesetzes - Drucksache 14/2271 ({22}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({23}) - Drucksache 14/2762 - Berichterstattung: Abgeordnete Ingrid Arndt-Brauer Elke Wülfing Heidemarie Ehlert bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({24}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/2798 Berichterstattung: Abgeordnete Hans Jochen Henke Hans Georg Wagner Oswald Metzger Dr. Werner Hoyer Dr. Uwe-Jens Rössel Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der F.D.P.-Fraktion, die abgelehnt hat, angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit Zustimmung der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU-Fraktion und der PDS-Fraktion bei Gegenstimmen der F.D.P.Fraktion angenommen. Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Zusatzpunkt 4 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 131 zu Petitionen - Drucksache 14/2790 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Diese Sammelübersicht ist bei Zustimmung aller Fraktionen bis auf die PDS-Fraktion, die sich der Stimme enthalten hat, angenommen. Zusatzpunkt 4 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 132 zu Petitionen - Drucksache 14/2791 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 4 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 133 zu Petitionen - Drucksache 14/2792 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Diese Sammelübersicht ist bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion gegen die Stimmen von CDU/CSU-Fraktion und F.D.P.Fraktion angenommen. Zusatzpunkt 4 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 134 zu Petitionen - Drucksache 14/2793 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 134 ist bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSUFraktion und der F.D.P.-Fraktion und gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf: Vereinbarte Debatte zur Drogenpolitik Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen Wilhelm Schmidt für die SPD-Fraktion.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr froh darüber, dem Hause mitteilen zu können, dass wir gestern zu dem hier zur Debatte stehenden Thema nach einem erfolgreichen Vermittlungsverfahren ein echtes Vermittlungsergebnis zustande gebracht haben. Dabei war besonders bemerkenswert, dass sich nach intensiven Kontakten auf allen Ebenen auf der Seite einiger CDU-geführter Bundesländer Bewegung gegenüber dem Zustand ergeben hat, den wir noch vor einigen Tagen und Wochen zu registrieren hatten. ({0}) Störrisch, starrköpfig und in ihrem ideologischen Käfig fest verharrend zeigt sich leider nur die CDU/CSUBundestagsfraktion. ({1}) Das können wir nicht hinnehmen. ({2}) Ich sage das deswegen, weil dies offensichtlich der neue Stil der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu sein und auch zu werden scheint. ({3}) Das kann man möglicherweise auch daran erkennen, dass sich Herr Merz, der designierte neue Vorsitzende, eilfertig gleich als Erstes zu einem ersten Gespräch nach Bayern begeben hat. Hier tönen uns auch in dieser Debatte zu diesem Thema manche bayerischen Klänge entgegen. Offensichtlich wird die CDU/CSU mehr, als wir es bisher vermutet haben, aus Bayern ferngelenkt. ({4}) Davon könnte auch die Pressemitteilung des Kollegen Hüppe vom 22. Februar, also von vorgestern, ein gewisses Zeugnis ablegen, denn der Kollege Hüppe hatte noch vor wenigen Tagen darauf hingewiesen, dass die rotgrüne Bundesregierung den Versuch unternimmt - ich zitiere -, „im Vermittlungsausschuss einen nicht zustimmungspflichtigen Gesetzentwurf zu Fixerstuben einzubringen, der jegliche Beteiligung der Bundesländer ausschließt“. Er sagt weiter, dass damit zukünftig „jede beliebige Drogenberatungsstelle einen Raum eröffnen kann, in dem jegliche Drogen geschnieft, gespritzt oder geraucht werden können“, und dass hinsichtlich der medizinischen Betreuung künftig auf der Seite der rotgrünen Bundesregierung keine Notwendigkeit mehr gesehen wird, eine besondere Genehmigung oder Prüfung vorzunehmen. „Keine Behörde wird mehr darauf Einfluss nehmen können, ob beispielsweise Minderjährige, Schwangere oder Methadon-Substituierte dort Drogen konsumieren.“ Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Hüppe - Sie sind ja hier im Saal -: Sie haben nichts gelernt. Sie wollten in dem Verfahren nicht zu einer erfolgreichen Vermittlung beitragen und deswegen haben Sie sich auch sehr strikt von einem solchen Vermittlungsverfahren ausgeschlossen. Das ist zu rügen und nicht hinzunehmen. ({5}) Ich glaube, dass Sie sich mit der starren Art und Weise, wie Sie mit diesem Thema umgehen, selber entlarven. Sie wollen nicht den Menschen helfen, Sie wollen nicht dafür sorgen, dass die Drogenpolitik in diesem Lande besonnen auf einen neuen Weg geführt wird. Sie wollen nicht dazu beitragen, dass die Länder und Kommunen selbstständig Entscheidungen treffen können, wie sie in Frankfurt, in Saarbrücken und an anderer Stelle offensichtlich so positiv verlaufen sind. Deswegen wollen wir dies hier auch deutlich machen und entlarven, dass dies Ihre Position ist, von der wir hoffen, dass Sie sie wenigstens später irgendwann einmal verlassen können. Im Vermittlungsverfahren hat die CDU/CSUFraktion dies leider nicht geschafft. Ich will aus meiner Sicht noch einmal darauf hinweisen, dass wir uns ganz bewusst in dem hier in Rede stehenden Dritten Gesetz zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes auf die Einrichtung solcher Drogenkonsumräume - nun mag man sich über den Begriff streiten, aber er ist nun einmal gewählt worden - ganz speziell auch deswegen verständigt haben, weil wir für die Einrichtung solcher Drogenkonsumräume Mindeststandards gesetzt haben. Dabei geht es eben genau darum, das zu verhindern, was Sie uns fälschlicherweise - und, wie ich finde, vorsätzlich fahrlässig - unterstellen. ({6}) Wir machen ganz bewusst mit zehn Mindeststandards in diesem Gesetzentwurf darauf aufmerksam, dass wir sowohl die Notfallversorgung als auch die medizinische Betreuung, dass wir sehr wohl auch die Frage der Kriminalisierung des Umfelds im Auge haben, und wir gewährleisten auch durch direkte Kontakte mit der Polizei und anderen, dass alles dies, was Sie da in die Welt gesetzt haben, nicht entstehen kann. Von daher ist dies ein sehr besonnenes Verfahren. Wir wollen damit auch sicherstellen, dass die Länder nicht gezwungen werden, in dieser Weise vorzugehen, obwohl manche statistischen Ermittlungen und Erfahrungen in der letzten Zeit sehr dafür sprechen. Wir geben ihnen nur die Chance, wir eröffnen einen Rahmen und in diesem Rahmen können sich alle entsprechend betätigen. Das haben einige Länder inzwischen auch verstanden, denn nicht ohne diesen Hintergrund und ohne diesen Erfahrungswert haben sich doch wohl Hessen und das Saarland - CDU-regierte Länder - auf diesen Weg begeben und das Vorhaben unterstützt. Wir danken diesen Ländern ausdrücklich dafür. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms ({7}) Natürlich wollen wir damit nicht den Eindruck vermitteln, als ob das der Königsweg sei. Das ist überhaupt nicht unser Ziel. Aber es ist ein ganz wichtiger Schritt auf dem Wege, neue Möglichkeiten einzuführen, die auch genutzt werden können. In diesem Zusammenhang will ich noch einmal auf die Statistik, die sich ja mittlerweile herumgesprochen hat, verweisen: Gerade die Länder, in denen schon solche Einrichtungen bestehen, sind jene, in denen die wenigsten zusätzlichen Drogentoten zu beklagen sind. Das muss doch auch Ihnen, Herr Hüppe, zu denken geben. Ich weiß nicht, warum Sie immer noch an Ihrer alten, ideologischen Kiste festhalten. ({8}) Lassen Sie uns deswegen als Vermittlungsergebnis festhalten, dass wir uns alle sehr bemüht haben, auf diesem Wege zueinander zu finden. Wir haben deswegen im Vermittlungsverfahren gestern noch zwei Änderungen vorgenommen und in den Gesetzentwurf eingebaut. Die erste Änderung ist - sie ist vom Lande Hessen eingebracht worden; auch wir finden das sehr sinnvoll -, noch einmal deutlich zu betonen, dass die Arbeit dieser Drogenkonsumräume ausstiegsorientiert gestaltet werden soll. Diese Betonung ist durchaus in unserem Sinne; wir haben sie deswegen aufgenommen - übrigens einstimmig. Insofern ist es ein bisschen widersinnig, dass die Vertreter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gestern im Vermittlungsausschuss dagegen gestimmt haben. ({9}) Zur zweiten Änderung: Rheinland-Pfalz hat den Vorschlag eingebracht, ein zentrales Register einzurichten, in dem diejenigen erfasst werden, denen Substitutionsmittel verschrieben werden. Auch dies hat unsere Zustimmung gefunden. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass beide Änderungen auch den Interessen der Länder entgegenkommen. Das hat mit zur Entspannung der Situation beigetragen. Deswegen werden wir morgen im Bundesrat offensichtlich eine Mehrheit dafür bekommen, den Gesetzentwurf in dieser geänderten Fassung durchzusetzen. Ich sage noch einmal Dank all denjenigen, die sich sowohl im Vermittlungsverfahren als auch im Vorwege - daran beteiligt haben, dass dieses Gesetz zustande gekommen ist. Das sage ich insbesondere in Richtung des Gesundheitsministeriums und der Drogenbeauftragten, Frau Nickels, sowie meiner Fraktion, deren Beauftragte - die Arbeitsgruppe - sich in dieser Frage sehr engagiert habt, sodass dieses Ergebnis zustande gekommen ist. Herzlichen Dank! Ich hoffe auf Ihre Zustimmung zum vorgelegten Antrag. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die Fraktion der CDU/CSU hat der Kollege Hubert Hüppe.

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Tat hat gestern der Vermittlungsausschuss mit Mehrheit der Änderung des Betäubungsmittelgesetzes zugestimmt. Sie wissen: Es gab zwei Teile: zum einen die Regelungen, die der Bundesregierung neue Möglichkeiten im Bereich der Substitution, insbesondere der methadongestützten Behandlung, einräumen; zum anderen die Regelungen zur Legalisierung von Fixerräumen. Ich habe schon in den vergangenen Debatten darauf hingewiesen, dass wir von der Union eine bessere Regelung der Methadonsubstitution ausdrücklich befürworten, nicht zuletzt deswegen, weil die dramatische Zunahme der Zahl der Drogentoten im Zusammenhang mit Methadon in den letzten zwei Jahren ein entschiedenes Handeln erfordert. Es muss dringend mit der zum Teil unverantwortlichen Vergabepraxis Schluss gemacht werden. Deswegen begrüße ich - wie der Kollege Schmidt -, dass man sich bei der Meldepflicht für Methadonpatienten auf eine zentrale Stelle geeinigt hat, eben um Doppelverschreibungen zu verhindern und um den Schwarzmarkt im Zusammenhang mit Methadon, dessen Umfang in den letzten Jahren unzweifelhaft zugenommen hat, einzudämmen. Natürlich treten auch wir dafür ein - da besteht auch kein Dissens -, die Qualifikation von Ärzten, die in der Substitution tätig sind, zu verbessern. Und - das ist der wahrscheinlich wichtigste Punkt in diesem Bereich -: Wir müssen wieder dazu kommen, dass Methadonpatienten psychosozial begleitet werden. Ich darf daran erinnern, dass früher immer nur von „methadongestützter Behandlung“ die Rede war. Das heißt, die eigentliche Behandlung bestand nicht allein in der Abgabe des Methadon, sondern war weitaus mehr. Heute ersetzt Methadon häufig nicht zuletzt aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen die Behandlung. Wir aber sagen: Die Abgabe von Methadon kann ein Weg sein, um die Situation von Drogenabhängigen zu verbessern, es darf aber nicht so sein, dass Patienten lediglich ruhig gestellt oder abgefüttert werden. ({0}) Die Bundesregierung kann nun beweisen - wenn der Gesetzentwurf angenommen wird, haben Sie dazu die Möglichkeit -, wie ernst sie die Probleme in diesem Bereich nimmt. Meine Damen und Herren, der umstrittenere Teil des vorliegenden Gesetzentwurfes ist und bleibt der Bereich der so genannten Drogenkonsumräume. Ich betone, dass dieser Teil des Gesetzentwurfes auch nach den positiven Änderungen, die das Land Hessen im Vermittlungsverfahren durchgesetzt hat, für die Unionsfraktion im Bundestag weiterhin unakzeptabel bleibt. Die Hauptkritikpunkte bleiben bestehen. Die Abhängigen werden nicht durch Fixerstuben wie immer behauptet - für therapeutische Maßnahmen Wilhelm Schmidt ({1}) gewonnen werden können, abgesehen davon, dass die meisten der Besucher der bestehenden Fixerstuben sowieso schon mit der Drogenhilfe in Kontakt stehen. Es gibt eine Untersuchung, in der gesagt wird, dass über ein Drittel der Besucher einer Fixerstube in Hannover Methadonpatienten waren. Diese sind weder vor noch nach der Einnahme des Rauschgiftes ansprechbar. Es ist auch ganz natürlich, dass jemand, der auf seinen Schuss wartet, nicht für Gespräche offen ist. Nach dem Schuss ist er - ganz klar - unter dem Einfluss der Droge nicht ansprechbar. Meine Damen und Herren, die Befürworter - Herr Schmidt hat dies heute auch wieder getan - führen immer wieder Todesstatistiken an, mit denen bewiesen werden soll, dass Fixerräume Leben retten. Es ist schon seltsam, wenn Frau Nickels in „Erläuterungen zur Sucht- und Drogenpolitik“ - das ist der Titel ihrer Veröffentlichung - als Drogenbeauftragte der Bundesregierung erklärt, dass die Anzahl der so genannten „Drogentoten“ als Maßstab für den Erfolg oder Misserfolg einer bestimmten Drogenpolitik oder bestimmter drogenpolitischer Maßnahmen nicht herangezogen werden kann, aber kurz darauf erklärt, dass natürlich gerade in den Städten ein Rückgang der Anzahl der Drogentoten zu verzeichnen sei, in denen es Fixerräume gebe. Das hat sie noch Anfang des Jahres getan, hat aber verschwiegen, dass die Anzahl der Drogentoten in denselben Städten im Jahr vorher erheblich angestiegen war. Ich will damit nicht sagen, dass wir Recht haben. Ich halte es aber für falsch, Drogentote zu instrumentalisieren. ({2}) - Nein, nicht ich, sondern Ihr Kollege Schmidt hat dieses Thema zuerst aufgegriffen. Letztlich bleiben ordnungspolitische Argumente zugunsten der Drogenkonsumräume. Ich will diese auch gar nicht abtun. Sie wissen, dass auch in unserer Fraktion, in unserer Partei darüber diskutiert wird, wie man neue Wege gehen kann. Sicher ist es besser, wenn Spritzen nicht auf Spielplätzen herumliegen, sondern vernünftig entsorgt werden. Wenn das aber der eigentliche Grund ist - er wurde auch von den Befürwortern des Entwurfs im Bundesrat immer wieder in den Vordergrund gestellt -, dann sollte man auch sagen, dass Ordnungspolitik der Gesundheitspolitik vorgezogen wird. Die Realität der existierenden Räume beweist dies auch. Inzwischen werden - wie zum Beispiel in Frankfurt sogar private Wachdienste eingestellt, um die Situation überhaupt noch im Griff zu haben. Alles in allem bleiben also kaum Argumente dafür, allerdings gibt es eine Menge dagegen. Dies betont auch die Stellungnahme der UN-Drogenbehörde. Der UNSuchtstoffkontrollrat hat noch gestern, kurz vor der Entscheidung des Vermittlungsausschusses, erneut Fixerstuben als einen Schritt auf dem Weg zur Drogenlegalisierung kritisiert. ({3}) Er hat sogar gesagt, dass die Duldung von Fixerräumen gegen internationale Übereinkommen verstoße. ({4}) - Doch. Das haben Sie auch zur Kenntnis bekommen. Ich weiß nämlich, dass Frau Nickels darauf bereits reagiert hat. Sie müssen zugeben, dass auch dort Fachleute sitzen und Sie die Wahrheit nicht allein gepachtet haben. Obwohl der Bundesregierung diese Stellungnahme bekannt war, wurde sie einfach ignoriert. Argumente spielen kaum noch eine Rolle. Wichtig scheint es in der mageren Bilanz rot-grüner Drogenpolitik nur noch zu sein, irgendein Ergebnis, ob gut oder schlecht, vorweisen zu können. ({5}) - Herr Schmidt, Sie müssen doch zugeben, dass Sie die Mittel für die Präventionsmaßnahmen gesenkt haben. Ich kann mich daran erinnern, dass wir immer kritisiert wurden, als wir darüber sprachen, ob man daran sparen müsste. ({6}) Sie müssen sich an Ihren Worten messen lassen. ({7}) Ein weiterer Beweis dafür, dass es Ihnen nur um irgendein Ergebnis geht, ist, dass Sie die Kritikpunkte der Fachleute überhaupt nicht aufgenommen haben. Selbst diejenigen, die grundsätzlich für Fixerräume waren, haben Kritik geäußert. Sie haben aber an Ihrem Antrag so gut wie nichts geändert. Ausnahmen sind die Punkte, die die unionsregierten Länder und Rheinland-Pfalz eingebracht haben. ({8}) Meine Damen und Herren, ein weiterer Beweis ist darauf bezog sich meine Pressemitteilung; Herr Schmidt, Sie können ruhig zuhören, ich habe das schließlich bei Ihnen auch getan -, dass Sie Ihre Politik auf Biegen oder Brechen, ob sinnvoll oder nicht, durchsetzen wollen. Meine Pressemitteilung bezog sich darauf, dass Sie einen Alternativentwurf vorgelegt haben. ({9}) Es ging darum, dass Sie die Mitbestimmung der Länder aushebeln wollten. ({10}) - So war es. Sie haben eine Alternative vorgelegt, um den Entwurf der Zustimmungsbedürftigkeit der Länder zu entziehen. Danach hätte in der Tat kein Bundesland übrigens auch keine Gemeinde, keine Kommune - Einfluss darauf gehabt, welchen Standard diese Räume haben werden. ({11}) Sie hätten nicht einmal einer Genehmigung bedurft. Das ist aus meiner Sicht keine verantwortungsvolle Drogenpolitik. ({12}) - Ich habe den Popanz nicht aufgebaut. ({13}) - Es ist ein Glück, dass er nicht zur Abstimmung steht. Aber es kommt doch auch darauf an, wie man in einem solchen Verfahren miteinander umgeht. Es hieß: Friss oder stirb, wenn du nicht zustimmst, wird es noch viel schlimmer. ({14}) - Ja, so war es im Vermittlungsausschuss. Ich hätte nicht geglaubt, dass Sie bei einem so ernsten Thema so weit gehen würden. ({15}) Es bleibt das ernüchternde Fazit: Wir werden den Entwurf in der Tat nicht mehr verhindern können, zumindest nicht hier im Bundestag. Es bleibt die ernüchternde Bilanz, dass noch mehr Mittel für drogenakzeptierende Maßnahmen ausgegeben werden. Immerhin kostet jede Einrichtung zwischen 600 000 und 800 000 DM pro Jahr. Das sind Mittel, die wir dringend in den Bereichen der Prävention, der Therapie oder, wie am Anfang erwähnt, in der qualifizierten Methadonbehandlung nötig hätten. Es wird zu einem drogenpolitischen Flickenteppich in Deutschland kommen, weil die im Gesetz vorgeschriebenen Mindeststandards so schwammig und niedrig angesetzt sind, dass fast alles möglich wird. Sie begeben sich auf einen gefährlichen Weg und wir werden Ihnen dabei nicht stillschweigend zusehen. Vielen Dank. ({16})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin Christa Nickels das Wort.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hüppe, ich freue mich, dass Sie unser Substitutionsregister loben. Das hätte die alte Regierung schon lange machen können, weil es dazu einen einstimmigen Bundesratsbeschluss aus dem Jahr 1997 gab. Das Substitutionsregister war bei uns von Anfang an im Gesetz vorgesehen. Es hat sich lediglich die Ansiedlung der zentralen Stelle geändert. Dabei sind wir den Ländern gern entgegengekommen. Das Substitutionsregister und die zentrale Stelle waren vorgeschrieben. Ich weise mit Nachdruck Ihren Einwurf zurück, wir hätten an den Ländern vorbei agiert. Wir haben in einer ausgesprochen intensiven Debatte - sie dauerte mehr als ein halbes Jahr an - mit allen Verbänden, Trägern und selbstverständlich allen Bundesländern erörtert, wie die Länderinteressen berücksichtigt werden könnten. Deshalb ist unter anderem die Regelung zustande gekommen, dass die Bundesländer selber entscheiden müssen, ob sie es ihren Städten über eine Verordnungsermächtigung ermöglichen, Drogenkonsumräume unter den genannten qualitätsorientierten Mindeststandards einzurichten. Sie haben sich an einigen Mindeststandards hochgezogen und gesagt, man hätte noch dies und das und jenes machen können. Dazu möchte ich Ihnen zur Kenntnis geben, dass hierbei ausdrücklich die Wünsche der verschiedenen Länder eingeflossen sind, die einen gewissen Gestaltungsspielraum wollten. Es waren ausdrücklich CDU-geführte Bundesländer, die das eingefordert haben. ({0}) Ich glaube, Sie werden kaum ein Gesetz finden - das hier ist ja eine vergleichsweise kleine Regelung -, zu dem so intensiv, auch unter Einbeziehung der Leitung unseres Hauses, die Länder gehört würden und deren Anregungen mit eingeflossen sind. Ich bin mit Fleiß geprügelt worden, weil es deswegen ja auch Schwierigkeiten gibt. Bayern hat ja schon angekündigt, dass es diese Möglichkeit nicht eröffnen wird. Wir haben aber gesagt, das geht nicht über die Köpfe der Länder hinweg, das muss in einem breiten Konsens derjenigen, die in der Politik auf dem Stand von heute sind, geschehen. Herr Hüppe, es tut mir leid, Sie sind noch ein junger Kollege, aber ich habe sehr viele Ältere gehört, die bei der Drogen- und Suchtpolitik mehr auf dem Stand der Zeit sind als Sie. ({1}) Wir haben hier im Bundestag im Dezember deshalb mit großer Mehrheit dem Gesetz zugestimmt. In der Bundesratssitzung am 4. Februar haben dann zwei Stimmen gefehlt, obwohl wir von vornherein davon ausgehen konnten, dass wir die Zustimmung erhalten. Ich will aber nicht nachkarten. Ich bin außerordentlich froh und dankbar - das möchte ich hier betonen -, dass zusätzlich zum Saarland, das allein CDU-regiert ist - ich kann nicht genug die engagiert sachkundige und realitätsbezogene Rede der saarländischen Gesundheitsministerin im Bundesrat loben -, auch Hessen über die Hürde gesprungen ist. Die zwei Wünsche aus Hessen haben wir gern aufgenommen. Denn es handelt sich unseres Erachtens um eine Klarstellung der Zielsetzung, die die einbringenden Fraktionen und selbstverständlich auch die Bundesregierung haben. Wenn wir Hilfe wollen, auch Überlebenshilfe, dann ist klar, dass letztlich der Wunsch dahinter steht, dass abhängig gewordene Menschen irgendwann einmal vollständig von der Sucht frei werden. Deshalb haben wir gern diese beiden Worte „und ausstiegsorientiert“ mit aufgenommen. Es ist eine Klarstellung in unserem Sinne. ({2}) Ich möchte ganz kurz ein paar Punkte aufzählen, die wichtig sind und unsere Zielsetzung wiedergeben: Es handelt sich um die rechtliche Klarstellung der Drogenkonsumräume, um die Einführung des Substitutionsregisters - das, wie schon gesagt, 1997 zu Recht von allen Bundesländern eingefordert wurde - und die besondere Qualifikation für substituierende Ärzte. Die Mindeststandards für Drogenkonsumräume werden im Gesetz festgelegt, weil wir eben keine „shooting galleries“ wollen - gekachelt, gefliest, die Leute geben sich ihren Schuss, gehen raus und finden überhaupt keine Hilfsangebote vor. Das wollen wir ausdrücklich nicht und das wollen auch die Länder, die das unterstützen, nicht. Darum haben wir die zehn Mindeststandards festgelegt, die gewährleisten, dass Drogenkonsumräume Beratung und Hilfe sowie weiterführende Angebote für die Betroffenen anbieten. Außerdem wird dadurch gewährleistet, dass Drogenkonsumräume weder der Begehung von Straftaten noch dem Drogenmissbrauch von Menschen Vorschub leisten, die eben nicht wegen ihrer schon bestehenden Drogenabhängigkeit ohnehin täglich Opiate konsumieren. Erstkonsumenten und Gelegenheitskonsumenten haben keinerlei Zutritt zu diesen Räumen. Hier sollte man bitte keinerlei Legendenbildung betreiben und Eltern verunsichern und verängstigen. ({3}) Schon abhängigen Personen sollen in den Drogenkonsumräumen gesundheitliche Hilfe, Überlebensschutz und weiterführende Angebote im gesamten Netz der Drogenhilfe angeboten und gewährt werden. Wenn man sich einmal darauf einlässt und mit offenen Augen solche Einrichtungen anschaut, sieht man, dass das begrüßenswerte alltägliche Praxis ist und dass man damit wirklich imstande ist, diesen Menschen zu helfen. Ich möchte jetzt noch auf einige Punkte eingehen, die von den Gegnern einer solchen Reform vorgetragen wurden, unter anderem wieder von Herrn Hüppe heute. Es wird behauptet, der Drogenhandel werde im Umfeld der Einrichtungen zunehmen. Das trifft aber nach allen bisherigen langjährigen Erfahrungen mit diesen Einrichtungen - etwa in Hamburg oder in Frankfurt - eben nicht zu. Das wurde sogar ausdrücklich vom Bundeskriminalamt schon 1998 - und zwar noch vor der Bundestagswahl - bestätigt. Es wird behauptet, Präventionsbemühungen und Hilfen zum Ausstieg würden unterlaufen. Auch das stimmt nicht, Herr Hüppe, im Gegenteil: Hier werden langjährig verelendete Drogenabhängige erreicht, die andere Angebote der Hilfe bisher nicht angenommen haben. In allen bestehenden Drogenkonsumräumen werden Betroffene in Entgiftung, in Methadonbehandlung und sogar in Abstinenztherapien vermittelt, auch wenn das ein mühsamer und langwieriger Prozess ist. Die Alternative ist zu sagen: „Denen muss es noch viel dreckiger gehen“, sie einfach allein zu lassen und ihnen keine Hilfestellungen anzubieten. Das hat dann die Konsequenz, dass viele dieser Menschen hinterher tatsächlich in der Drogentotenstatistik auftauchen und zu beklagen sind. ({4}) Es wird behauptet, es sei doch paradox, dass geduldet werde, dass unter staatlicher Aufsicht gefixt wird. Herr Hüppe, Suchtarbeit muss sich ständig mit paradoxen Situationen befassen. Die Flucht in eine scheinbare Eindeutigkeit ist tatsächlich die Flucht aus der Realität. Denn damit wird verkannt, dass Abhängige, die von existierenden Hilfsangeboten eben nicht erreicht werden, unter katastrophalen hygienischen Bedingungen in der Verelendungsspirale noch weiter absteigen. Es wird weiterhin behauptet, es werde nur für eine kleine Gruppe von Süchtigen etwas angeboten und damit werde anderen Bereichen Geld entzogen, aber man müsse die Abhängigen insgesamt im Auge behalten. Aber genau das tun wir von den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung. Herr Kollege Schmidt hat schon klargestellt: Wir behaupten doch hier überhaupt nicht, dass das der Königsweg ist. Es ist ein kleiner Baustein, ein kleiner, aber wesentlicher Mosaikstein, der jetzt mit der rechtlichen Klarstellung hinsichtlich der Drogenkonsumräume eine Lücke in unserem insgesamt sehr ausdifferenzierten Hilfesystem im Bereich der Überlebenshilfe schließt. Der Stein muss an diese Stelle, gerade wenn man diejenigen, die am meisten Unterstützung und Hilfe brauchen, nicht allein lassen will. Ich verstehe Sie nicht. Wir tragen nicht das „hohe C“ im Parteinamen. Es ist doch auch ein Gebot der christlichen Barmherzigkeit, dass man so etwas tut. Ich verstehe Sie da überhaupt nicht mehr. ({5}) Wir dürfen nicht zynisch diejenigen, die am meisten verelendet sind, ihrem Schicksal preisgeben. Ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen, dass diese Maßnahmen nicht den Vorschriften der internationalen Suchtstoffübereinkommen zuwiderlaufen, denn die Bundesregierung nimmt die bekannten allgemeinen Bedenken der zuständigen Behörden der Vereinten NaChrista Nickels tionen gegen Drogenkonsumräume sehr ernst. Sie hat sie sorgfältig geprüft und ihnen in dem vorliegenden Gesetz Rechnung getragen. Danach sind Straftaten, besonders der Drogenhandel, sowie jede Art der Beihilfe auch und gerade in Drogenkonsumräumen nach den allgemeinen Strafvorschriften zu verfolgen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, Sie müssten bitte zum Schluss kommen.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin jetzt direkt fertig. - Außerdem müssen die Träger der Einrichtungen in Abstimmung mit den Behörden ich zitiere - zusätzliche „Maßnahmen zur Verhinderung von Straftaten in Drogenkonsumräumen“ sowie „im unmittelbaren Umfeld der Drogenkonsumräume“ gewährleisten. Wir werden hier im Gespräch auch mit dem INCB und den internationalen Suchtstoffkontrollbehörden bleiben und diesen Standpunkt auch weiter vertreten und dafür werben. Ich bin sehr froh, dass die Bundesländer und teilweise auch die dort führenden CDU-Politiker gestern wirklich mitgeholfen haben, dieses Gesetz auf den Weg zu bringen. Ich muss sagen, ich werde mich erst richtig darüber freuen, wenn wir morgen die Mehrheit für dieses Gesetz im Bundesrat erzielen. Ich glaube, damit haben wir dann wirklich ein kleines, gutes Element, das für eine sehr betroffene Gruppe, für die Angehörigen und auch diejenigen, die in diesen Bereichen arbeiten, sehr wichtig ist, geschaffen. Danke schön. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger für die F.D.P.- Fraktion.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P.-Fraktion begrüßt, dass es im Vermittlungsausschuss zu diesem Ergebnis gekommen ist. ({0}) Wir haben schon lange diese Richtung verfolgt und sie das war ja heute hier im Plenum erlebbar - bis 1998 nicht durchsetzen können. Deshalb sind wir froh, dass es gerade auch mit Beteiligung der F.D.P. in den Ländern zu einem sehr guten Kompromiss gekommen ist. Ich glaube, alles das, was die Vorredner positiv dazu gesagt haben, muss ich hier nicht wiederholen. Dazu gehört, dass Vorgaben dafür gemacht werden, wie diese Drogenkonsumräume betrieben werden sollen. Denn gerade uns ging es nie darum, nur einfach Räume zuzulassen, ohne dann einheitliche Vorgaben zu haben, was in diesen Räumen passiert, nämlich dass dort konsumiert wird, dass da aber auch Angebote gemacht werden, dass die psycho-soziale Betreuung eine entscheidende Rolle spielt, dass es die Möglichkeit der medizinischen Beratung und der Information über Therapie gibt. Von daher haben wir überhaupt kein Problem mit der im Vermittlungsausschuss jetzt hinzugefügten Ergänzung, dass in diesen Räumen auch versucht wird, in Kontakt mit den Schwerstabhängigen zu kommen, so dass sie letztendlich frei von Sucht leben können. Aber man muss auch all die Schritte gehen, die nicht sofort und nicht unmittelbar zum Ausstieg führen, die aber dieses Ziel letztendlich ganz deutlich anstreben. Deshalb, meine Damen und Herren, ist es gut, dass es trotz immer noch sehr grundlegender Widerstände, wie sie von Herrn Hüppe formuliert worden sind, hier im Bundestag und - da bin ich sehr zuversichtlich, eigentlich sicher - auch morgen im Bundesrat eine Mehrheit für den Gesetzentwurf gibt. Es hat sich in den Beratungen im Vermittlungsausschuss gezeigt: Die praktische Erfahrung in Hessen hat dazu geführt, dass ein Land mit einer CDU/F.D.P.-Regierung zum entscheidenden Durchbruch beigetragen hat. (Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg. Christa Nickels ({1}) Aber diese praktischen Erfahrungen dort fußen leider immer noch auf einer ungesicherten Rechtsgrundlage. Alle die, die sagen, Suchtabhängigkeit ist Krankheit, hat die Gefahr umgetrieben, dass diejenigen, die helfen wollen, sich immer noch mit einem Bein in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren befinden. ({2}) Gerade sie müssen sicher sein, sich nicht strafbar zu machen. Das wird mit diesem Gesetzentwurf erreicht. Ich möchte nicht mehr auf die Änderungsvorschläge eingehen, die die F.D.P.-Fraktion im Bundestag eingebracht hatte und die eine andere Ausgestaltung des Gesetzentwurfes zum Inhalt hatten, nämlich dass wir an die Einrichtung solcher Räume und die Erteilung der Erlaubnis, solche Räume einzurichten, Anforderungen gestellt haben, aber dass wir dies nicht zwingend an eine Rechtsverordnung koppeln wollten. Denn wir alle wissen und können es an den Redebeiträgen im Bundestag wie dem des Kollegen Hüppe nachvollziehen, dass das jetzt sehr unterschiedlich in den Ländern gehandhabt werden wird. Ich hoffe und wünsche, dass die Landesregierungen alle Kommunen, die wirklich Probleme mit Suchtabhängigen, Schwerstabhängigen und mit der damit einhergehenden Kriminalisierung haben, in die Lage versetzen, entsprechende Räume einzurichten. Wir haben nie das Ziel verfolgt, Deutschland flächendeckend mit Drogenkonsumräumen zu überziehen; vielmehr wollten wir rechtliche Sicherheit, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit für die Kommunen erreichen, in denen solche Räume aufgrund der örtlichen Konstellationen gebraucht werden. Das wird durch den jetzigen Gesetzentwurf sichergestellt. Deshalb stimmen wir im Bundestag dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses zu. Auch die hessische F.D.P. wird dafür sorgen, dass diesem GeChrista Nickels setzentwurf ebenfalls im Bundesrat zugestimmt werden wird. Vielen Dank. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Ulla Jelpke für die PDSFraktion.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch die PDS wird dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses zustimmen. Uns geht der Gesetzentwurf - das haben wir in den vorherigen Debatten deutlich gemacht - zwar nicht weit genug, aber im Rahmen der Beratungen unseres eigenen Antrags in den nächsten Wochen werden wir mit Sicherheit unsere weitergehenden Vorstellungen darlegen können. Nach meiner Meinung ist es schlimm genug, dass wir heute überhaupt über diesen Vermittlungsvorschlag diskutieren müssen. Das zeigt eigentlich nur, wie heuchlerisch die CDU/CSU Drogenpolitik, Drogensucht und Drogenkriminalität diskutiert und sie auch in der Vergangenheit diskutiert hat. Man muss sich nur die Zahl der Drogentoten, die schon erwähnt worden ist, anschauen: Es gab im letzten Jahr 1 812 Tote. Das ist ein Anstieg um 20 Prozent in zwei Jahren. ({0}) Diese Zahl sollte uns alarmieren, endlich mehr zu tun. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass es selbst in einer Stadt wie Berlin, die von CDU und SPD gemeinsam regiert wird, noch immer nicht möglich ist, Fixerstuben einzurichten und betroffenen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich unter einigermaßen gesundheitsgemäßen Umständen ihre Spritze zu setzen. Auch in Berlin ist die Zahl der Drogentoten von 160 auf 205 im letzten Jahr gestiegen. Zu Ihrer Erinnerung, Herr Hüppe: Unter den Flächenländern liegt das CSU-regierte Bayern an der Spitze hinsichtlich der Zahl der Drogentoten. Ich verstehe überhaupt nicht, wie Sie behaupten können, dass die Einrichtung von Fixerstuben nichts gebracht habe, obwohl die Zahl der Drogentoten dort, wo solche Räume eingerichtet worden sind, heruntergegangen ist. Ich meine, die Drogensucht ist nicht mit Mitteln der Strafverfolgung zu bekämpfen; vielmehr müssen wir das haben wir hier schon sehr oft diskutiert - wirklich humane Einrichtungen schaffen und ganz konkrete Hilfen zum Beispiel durch eine umfassende Legalisierung leisten. Wir müssen mehr Therapiemöglichkeiten schaffen, wie es schon eben von der Drogenbeauftragten dargelegt worden ist. Die Aufklärung über jede Art von Drogen muss ausgebaut werden. Vor allen Dingen muss auch jede Art der Werbung für Drogen verboten werden, auch für Tabak und Alkohol. Ich verweise auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion, in der sehr deutlich geworden ist, dass es auch hier ein riesengroßes Problem gibt: Durch den Konsum von Tabak und Alkohol sterben im Jahr 42 000 Menschen. Ich kann leider aus Zeitgründen nicht näher auf die Folgen dieser Drogen für die Gesundheit der Menschen und auf das eingehen, was hier ebenfalls getan werden müsste. Grotesk und meilenweit von jeder Realität entfernt ist nach meiner Meinung auch das Urteil der 17. Großen Strafkammer vom 26. März letzten Jahres. Danach ist Samenhändler Jochen Forer zu einem Jahr und vier Monaten ohne Bewährung verurteilt worden, weil er in seinem Keller trotz des seit 1. Februar 1998 geltenden so genannten Hanfsamenverbots - CDU/CSU und F.D.P. haben dies durchgesetzt - noch Hanfsamen für die Lebensmittelherstellung lagerte. Jede höhere Instanz hat Rechtsmittel abgelehnt.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, auch Sie müssen auf Ihre Redezeit achten.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme gleich zum Schluss. Ich möchte nur noch einen Gedanken äußern. Ich meine, dass solche Urteile ebenfalls verhindert werden müssen, indem wir neue Gesetze schaffen. Wir brauchen Reformen und vor allen Dingen eine liberalisierte Drogenpolitik. Nur das und nicht die Repression wird den Drogenabhängigen wirklich helfen. Danke. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Dritten Gesetz zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes ({1}) - Drucksachen 14/1515, 14/2345, 14/2665, 14/2796 Berichterstattung: Abgeordneter Wilhelm Schmidt ({2}) Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? Das ist nicht der Fall. Wird das Wort für eine weitere Erklärung gewünscht? - Das ist ebenso nicht der Fall. Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 14/2796? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die BeschlussempfehSabine Leutheusser-Schnarrenberger lung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Haltung der Bundesregierung zur Patentvergabe des Europäischen Patentamtes auf Genmanipulation an menschlichem Erbgut Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat die Bundesministerin Andrea Fischer.

Andrea Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11002652

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben es mit einem Vorgang zu tun, der in den vergangenen Tagen, wie ich finde, zu Recht nicht nur sehr viel Aufmerksamkeit, sondern auch sehr heftige Reaktionen hervorgerufen hat. Das Europäische Patentamt hat bestätigt, dass es auf eine Klonierungstechnik zur Herstellung von embryonalen Stammzellen ein Patent erteilt hat. Es hat sich selber dazu bekannt, dass diese Erteilung ein Versehen gewesen sei. Wir haben es einerseits mit einem rechtlich, aber natürlich auch mit einem ethischmoralisch und damit politisch zu bewertenden Vorgang zu tun. Was die rechtliche Seite angeht, möchte ich vor allen Dingen darauf hinweisen, dass das Europäische Patentamt bei der Vergabe von Patenten sozusagen die kommerzielle Verwertung von Forschungsergebnissen und in diesem Fall von embryonalen Stammzellen regelt. Es lässt sich viel Kritisches darüber sagen, ob wir überhaupt wollen, dass menschliche embryonale Stammzellen zum Gegenstand von kommerziellem Handeln werden. Dies wird durch die Bioethik-Richtlinie der Europäischen Union gar nicht zugelassen. Vor allen Dingen ist unabhängig von der Frage, ob jemand ein kommerzielles Recht dazu hat, noch zu klären, ob die nationalen Gesetze diese Forschung überhaupt zulassen. Ich erkläre hier ganz eindeutig: Nach dem Embryonenschutzgesetz, das wir seit zehn Jahren haben, ist die Manipulation an embryonalen Stammzellen im Stadium der Totipotenz untersagt. Dieses Gesetz gilt unabhängig davon, welche Patente dort erteilt werden. Dies muss aus gegebenem Anlass festgehalten werden. Ich habe eben gesagt, dass dieser Vorgang beim Europäischen Patentamt zu Recht heftige Reaktionen hervorgerufen hat. Man kann sich darüber mit gutem Grund sehr ärgern. Die Frage, wer dieses Patentamt eigentlich überwacht, wird sicherlich aufgeworfen. Aber ich finde, dieser Vorgang hat auch sein Gutes: Die Reaktionen der letzten Tage haben doch gezeigt, dass es bei allem, was sich in der Forschung geändert hat, offensichtlich einen sehr breiten gesellschaftlichen Konsens gibt, was die Grenzen, die wir in diesem Bereich setzen wollen, angeht. ({0}) Ich muss ehrlich sagen: Ich bin über den Umstand froh und ich bin erleichtert, dass die Bestimmung, wonach wir keine Forschung und keine Manipulation an embryonalen Stammzellen vornehmen dürfen, fortbesteht. Wir haben in der Tat enge Grenzen gesetzt, die auch immer wieder in die Kritik geraten. Ich will zum einen gegen das Argument, man mache damit eine Forschung unmöglich, die helfe, menschliches Leiden zu verhindern, festhalten, dass man nicht auf embryonale Stammzellen zurückgreifen muss, um diese Forschung durchzuführen. Deswegen ist dies meines Erachtens kein stichhaltiges Argument, um die bestehenden Grenzen aufzuweichen. Ich glaube aber, dass wir auch wegen der unabsehbaren Folgen, die nicht nur diese Forschung, sondern die auch die damit möglich werdenden Eingriffe in die menschliche Keimbahn, die nach deutschem Recht ebenfalls untersagt sind, mit sich bringen, recht daran tun, an dieser Grenze festzuhalten. Auch die ansonsten sehr umstrittene Bioethik-Konvention des Europarates ist an diesem Punkt eindeutig, Wir sollten die Grenzen nicht aufweichen, weil wir nicht um die Folgen wissen, die da auf uns zukommen. Ich bin durchaus erleichtert, dass offenbar in unserer Gesellschaft ein Konsens darüber möglich ist, weil wir, um einen altmodischen Begriff zu gebrauchen, Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben haben. Dementsprechend diskutieren wir auch besonders sensibel über die Grenzen. Diese Grenzen werden uns in den nächsten Monaten und Jahren immer wieder beschäftigen. Wir werden immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob das jetzige Embryonenschutzgesetz noch der neueren Forschungsentwicklung standhält. Wir wurden von der Gesundheitsministerkonferenz aufgefordert, darüber zu diskutieren, ob wir ein Fortpflanzungsmedizingesetz brauchen. Wir tun das im Mai auf einem Symposium, das sehr breit angelegt ist. Dabei legen wir großen Wert darauf, dort alle Positionen repräsentiert zu haben. Ich glaube, dass dieses Haus gut beraten ist, sich über ein Verfahren zu verständigen, am besten jenseits der Fraktionsgrenzen, und darüber zu reden, ob wir in der Fortpflanzungsmedizin neue, angemessenere Regelungen brauchen. Ich mache mir darüber keine Illusionen: Diese Debatte berührt sehr stark moralisch-ethische Fragen. Das sind einerseits immer sehr wertvolle Debatten, andererseits oft auch sehr schwierige Debatten. Ich selber habe eine sehr eindeutige Haltung zu einigen Punkten, die auch stark von Moralkategorien geprägt ist. Ich will mir aber meinerseits alle Mühe geben, die Diskussion so zu organisieren, dass jede Position, die vertreten wird, den ihr zukommenden Respekt erfährt und wir hinterher zu einem von einer breiten Mehrheit getragenen Ergebnis kommen. Ich glaube, dass dies das einzig Angemessene für eine so schwierige Frage ist, bei der unterschiedliche Rechtsgüter gegeneinander aufgewogen werden, aber eben auch unsere höchstpersönliche Sicht auf das menschliche Leben mit hineinkommt. Ich selber vertrete eine eher konservative Haltung und sage: Wir müssen bei dem, was wir medizinisch machen, Grenzen setzen. Ich sage dies aber, wie gesagt, Vizepräsidentin Petra Bläss mit Respekt vor all denjenigen, die eine andere Position mit guten Argumenten vertreten. Ich nehme an, dass einige dieser Argumente auch heute schon in der Aktuellen Stunde hier benannt werden und wir andere in der weiteren Debatte, von der ich hoffe, dass wir sie mit der gebotenen Ernsthaftigkeit hier in diesem Hause führen, bekommen. Ich danke Ihnen. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die Fraktion der CDU/CSU hat jetzt der Kollege Hubert Hüppe.

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir wollen und brauchen den wissenschaftlichen Fortschritt gerade im Bereich der Medizin. Forschungserfolge und ihre wirtschaftliche Nutzung sichern Gesundheit, hohe Lebenserwartung und materiellen Wohlstand. Wir brauchen und wollen den Fortschritt der Bio- und Gentechnologie. Doch gerade derjenige, der Akzeptanz für diese Bereiche schaffen will, muss verbindlich sagen, wo die Grenzen liegen. Die wesentliche Grenzlinie - ich hoffe, da sind wir uns einig - verläuft dort, wo auf die genetische Identität des Menschen zugegriffen wird, wo der Mensch zum Objekt oder gar zum Produkt gentechnischer Manipulationen wird. Das Europäische Patentamt hat diese absolute Grenze verletzt. Von daher begrüße ich ausdrücklich für die Union die Entscheidung der Bundesregierung, Einspruch einzulegen. ({0}) Allerdings, auch das muss man sagen, ist es schon bedenklich, dass wir erst - das gilt nicht nur für die Regierung, sondern auch für uns - durch Medien auf diesen Sachverhalt hingewiesen worden sind. Wir müssen wissen, dass Patente in diesem Grenzgebiet eine fatale Wirkung entfalten können. Wir müssen dafür sorgen, dass wir Beobachtungsmechanismen aufbauen können, die solche wirtschaftlichen Anwendungen im Bereich des menschlichen Lebens verfolgen. Diesmal haben wir noch einmal Glück gehabt, da die Einspruchsfrist erst im August abläuft. Aber wir müssen die Warnung verstehen. Es muss uns besorgt machen, was wir auf dem Gebiet der genetischen Diagnostik und der sich abzeichnenden Verfügbarmachung des Menschen beobachten können. Wir haben heute Anlass genug, zu erkennen, dass wir das, was wir dort beobachten können, auch tatsächlich aufmerksam beobachten müssen. Mit Recht sind wir auf den hohen Standard für den Schutz des Menschen im Bereich Forschung und Technik in Deutschland stolz, der die Anwendung des oben genannten Patentes verbieten würde. Darin stimmen wir mit Ihnen, Frau Ministerin, überein. Das geltende deutsche Embryonenschutzgesetz bedroht jede Verwendung menschlicher Embryonen, die nicht deren Erhaltung oder der Herbeiführung einer Schwangerschaft dient insbesondere das Klonen und Keimbahneingriffe -, mit Freiheitsstrafe. Das Embryonenschutzgesetz hat - vor nun fast zehn Jahren - weit vorausblickend Grenzlinien auch in solchen Bereichen gezogen, die sich damals wissenschaftlich-technisch erst am Horizont abgezeichnet haben. Damals waren Klonen, genetische Selektion menschlicher Embryonen im Reagenzglas und Eingriffe in die menschliche Keimbahn noch weit entfernt von jeder kommerziellen Anwendung. Damals war es auch eine leichte Übung, entschiedenen Widerstand gegen solche Praktiken öffentlich zu bekennen. Das ist heute anders. Die Techniken stehen vor der Tür. Sie sind eine Anfrage an unser gemeinsames Menschenbild. Wir haben den ethischen Ernstfall. Hier sehe ich Anlass zu Besorgnis: Im Internet lädt Ihr Ministerium, Frau Fischer, für Mai zu einem Symposium über Fortpflanzungsmedizin ein und veröffentlicht zugleich „Leitfragen“, die zentrale Punkte des Embryonenschutzgesetzes zur Diskussion stellen. Darunter fallen die umstrittene Präimplantationsdiagnostik, die heute in gewissen Fällen auch von der Ärztekammer befürwortet wird, sowie die Gewinnung und Verwendung embryonaler Stammzellen. Wer solche Fragen stellt, Frau Ministerin, stellt natürlich auch ein Gesetz infrage. Das muss man in diesem Zusammenhang betonen. Das Symposium und die Leitfragen stellen den bewährten und von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragenen Embryonenschutz infrage. Ich teile, Frau Ministerin, im Übrigen nicht die Auffassung, dass die Bioethik-Konvention ein solches Patent verbieten würde, weil in der Tat die Keimbahntherapie durch Art. 13 der Bioethik-Konvention nur dann verboten wird, wenn das Ziel in der Veränderung von Nachkommen liegt. Dies wäre bei Stammzellen nicht der Fall, da man dort Menschen nur als Ersatzteillager produzieren will, die hinterher selbst keine Nachkommen haben werden. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass das eine offene Flanke ist. Es wäre besser, wenn die entsprechenden Vertreter diese Frage klären würden. Ansonsten ergäbe sich, auch im Zusammenhang mit dem europäischen Recht, eine gefährliche Lücke. Ich glaube, dass die Zeit gekommen ist, gemeinsam den Lebensschutz in diesen Bereichen nach vorne zu bringen und gemeinsam - weg von aller Ideologie - zu handeln. Wir sollten uns auf das verständigen, was der Nobelpreisträger Albert Schweitzer als Appell an uns alle gerichtet hat, nämlich „Ehrfurcht vor dem Leben“. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Bernhard Brinkmann, SPD-Fraktion.

Bernhard Brinkmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003057, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Entscheidung des Europäischen Patentamts, der Universität Edinburgh ein Patent zu erteilen, das unter anderem ein Verfahren zur Isolierung, Anreicherung und selektiven Vermehrung von so genannten tierischen Stammzellen zum Inhalt hat und somit auch Stammzellen aus der Keimbahn oder aus dem Embryo umfasst, hat berechtigterweise in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit und Irritationen ausgelöst. Daher bin ich der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sehr dankbar, dass sich über die gestrige Befragung der Bundesregierung hinaus heute der Deutsche Bundestag anlässlich einer Aktuellen Stunde mit dieser sehr sensiblen Thematik befasst. Inzwischen steht fest, dass dieses Genpatent irrtümlich erteilt wurde und darüber hinaus gegen deutsche Gesetze sowie die eigenen EU-Patentrichtlinien verstößt. Ich danke daher der Justizministerin sehr ausdrücklich dafür, dass sie bereits gestern anlässlich der Befragung der Bundesregierung sehr deutlich zu diesem Thema Stellung bezogen hat. ({0}) Hier wurde sehr schnell reagiert; denn eines steht eindeutig fest: Menschliche Gene sind nicht patentierbar. ({1}) Aus einem Statement von Professor Dr. Hoppe von der Bundesärztekammer darf ich mit Genehmigung der Frau Präsidentin zitieren. ({2}) - Vielen Dank für den Hinweis, Herr Geis. Wenn ich erst einmal so lange dabei bin wie Sie, dann weiß ich darüber Bescheid. - Ich zitiere: Es muss Klarheit darüber bestehen, dass menschliche Gene oder Gensequenzen nicht patentierbar sind, sondern lediglich Herstellungsverfahren und Verfahrensschritte für gentechnische Medikamente patentfähig sein können. Das genetische Erbe der Menschheit ist Allgemeingut und keine Handelsware. Deshalb hat die deutsche Ärzteschaft immer wieder mit Nachdruck darauf bestanden, dass der Mensch oder Teile des Menschen nicht patentierbar sind. Neue Erkenntnisse über natürliche Gegebenheiten sind Entdeckungen, niemals aber Erfindungen. Patente können nur auf Erfindungen erteilt werden. ({3}) Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung des Europäischen Patentamtes, gentechnisch veränderte menschliche Zellen patentrechtlich zu schützen, eine außerordentlich Besorgnis erregende Entwicklung. Die Entscheidung darf keinen Bestand haben und muss sofort korrigiert werden. ({4}) Die Bundesärztekammer, Deutsche Ärztetage, der Ständige Ausschuss der Europäischen Ärzte wie auch der Weltärztebund haben immer wieder betont, dass das Genom des Menschen zum gemeinsamen Erbe aller Menschen gehört und nicht kommerzialisiert werden darf. Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine weitere Bewertung aus wirtschaftspolitischer Sicht: Nicht jede Genehmigung von Genpatenten stärkt den Wirtschaftsstandort Deutschland und nicht jede Ablehnung schwächt den Wirtschaftsstandort Deutschland. Daher müssen wir bei diesem sensiblen Thema alles unternehmen, damit diese falsche Patenterteilung verhindert wird. Ich bin dem Kollegen Hüppe sehr dankbar, dass er zum Ausdruck gebracht hat, dass zu diesem Thema in diesem Hause bestimmt Einigkeit bestehen wird. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt der Kollege Edzard SchmidtJortzig.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002781, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Für die F.D.P. - das sage ich ausdrücklich - ist der Sachverhalt, um welchen sich die Aktuelle Stunde dreht, ebenso eindeutig inakzeptabel wie, so glaube ich, für alle Fraktionen in diesem Hause. Wir verlangen deshalb von der Bundesregierung, mögliche Schritte zur Beseitigung der vorgekommenen gravierenden Fehlleistung im Europäischen Patentamt und zur künftigen Vermeidung erneuter, ähnlicher Vorgänge zu ergreifen. Da ist zum einen das erteilte Patent selber. Dass ein Verfahren - Herr Kollege Brinkmann, Sie haben diesen Punkt eben schon angeführt - zur „Isolierung, Selektion und Verschmelzung von transgenischen Stammzellen“ Patentierung erhielt, welches nicht ausdrücklich auf nicht menschliche Lebewesen begrenzt wurde, ist ein massiver Verstoß gegen geltendes Recht. Da hilft auch das Abstraktionsprinzip beim Patentverfahren nicht. Schon nach der Verfassung der allermeisten Mitgliedstaaten des Europäischen Patentübereinkommens, aber auch nach deren linearem Recht dürfte eine Erstreckung der angegebenen Manipulationen auf menschliche Stammzellen - also ein Eingriff in die menschliche Keimbahn - schlichtweg verboten sein. In Deutschland ist dies bekanntlich nach Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes und ebenso nach dem Embryonenschutzgesetz der Fall. Der Verstoß gegen die EU-„Richtlinie über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen“ ist ebenso offenkundig. Würde die Biomedizin-Konvention des Europarates schon in Kraft sein, würde das Europäische Patentamt auch gegen dessen Art. 13 verstoßen haben. Die Bundesregierung wird deshalb unbedingt Einspruch gegen das Patent erheben müssen, was sie danBernhard Brinkmann ({0}) kenswerterweise schon angekündigt hat. Sie sollte sich darum bemühen, dass die Patentnehmer, also die Universität Edinburgh und Professor Austin Smith, aber auch deren Forschungspartner, die australische Firma „Stem Cell Sciences“, von dem möglichen humangenetischen Teil des Patents bis zur Rechtsmittelentscheidung des Europäischen Patentamtes keinen Gebrauch machen. Sie scheinen das ja auch versprechen zu wollen, aber sicher ist es nicht. Zum anderen ist es - in meinen Augen jedenfalls ein Skandal, dass das Europäische Patentamt in einem derart sensiblen Bereich die Patentausweitung, die uns auf den Plan ruft, wie es selber bekennt, aus Versehen erteilt hat. Da scheinen also erhebliche Missstände zu herrschen. Entweder ist hier tatsächlich „nur“ geschlampt worden. Dann müsste man schleunigst eine Qualitäts- und Qualifikationskontrolle durchführen. Oder die Unachtsamkeit ist nur vorgetäuscht. Ich weiß es nicht. Dann müsste die gesamte Legitimation der Behörde auf den Prüfstand gestellt werden. Greenpeace hat jedenfalls nachhaltige Vorwürfe dahin gehend erhoben, dass das Amt schon seit über zwei Jahren fragwürdige humangenetische Verfahren patentiere. Dem muss dringend nachgegangen werden. ({1}) Zum Dritten schließlich belegen der Vorgang, aber auch die erschreckten Reaktionen in der Öffentlichkeit, dass bezüglich der Möglichkeiten der Biotechnologie offenbar nur ein höchst begrenztes allgemeines Problembewusstsein herrscht. Soll weiterhin gar nicht oder nur emotional reagiert werden, sind nicht nur verhängnisvolle Fehlentscheidungen nicht mehr zu verhindern, sondern geraten die großen therapeutischen und Erkenntnischancen dieses Forschungsfeldes insgesamt in Misskredit. Deshalb ist es beispielsweise dringend notwendig, dass die Bundesregierung ein so wichtiges Projekt wie die Biomedizin-Konvention des Europarates - wie immer man zu ihr stehen mag - aus Sorge vor den Emotionen nicht mehr weiter vor sich her schiebt, sondern sich ernsthaft und in der Sache damit befasst, mit welchem Ergebnis auch immer. ({2}) Ebenso deutlich dürfte geworden sein, dass die nun offenbar konsentierte Einsetzung einer Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ überfällig ist. ({3}) Es geht bei diesem Themenkomplex schließlich um Grundlagen des Menschseins, also um Existenzfragen der Menschheit. Da darf sich ein Parlament nicht um eine Durchdringung - auch wenn sie schwierig ist - und gegebenenfalls um klare Normierungen drücken. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDSFraktion hat der Kollege Dr. Ilja Seifert das Wort.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer dort oben! Ewige Jugend - ein Traum. Ewige Schönheit - ein Traum. Ewige Gesundheit - zauberhaft. Ewiges Leben - ein Albtraum, vermute ich. All das aber verspricht uns die Biotechnologie, die Gentechnologie, die dahinter stehende Bioethik. Wir reden heute über ein Patent, das eigentlich nicht hätte angenommen werden dürfen. Ich finde, es hätte niemals beantragt werden dürfen, es hätte nicht so weit kommen dürfen, dass es überhaupt beantragt werden konnte. ({0}) Selbstverständlich hat die PDS bereits Einspruch eingelegt. Ich freue mich, dass die Regierung dies auch tun wird. Aber, meine Damen und Herren, es handelt sich hierbei nicht in erster Linie um ein juristisches Problem. Hier geht es um die Frage: Welches Menschenbild haben wir? Es geht um die Frage: Wie gehen wir mit uns, der Welt, der Natur und all dem um? Derjenige, der entdeckt hat, was man mit den Zellkernen machen kann, Erwin Chargaff - inzwischen 95 Jahre alt - , hat sich von seiner Entdeckung mit Entsetzen abgewandt. Er warnt seit über 40 Jahren vehement davor, irreversible Veränderungen in der Natur vorzunehmen, weil sie unanständig sind. Man kann ein Lebewesen, das gentechnisch verändert ist, nicht „zurückrufen“. Es führt dann ein Eigenleben und ist rechtlich nicht unter Eigentumsschutz zu stellen, weder von einer Universität, noch von einem Wissenschaftler, noch von einer Firma , oder weiß der Teufel von wem. In diesem Hause konnten wir uns bisher obwohl es jetzt anders aussieht - nicht einmal auf die Einrichtung einer Enquete-Kommission zu dieser Thematik einigen. Jetzt wird sind alle aufgeschreckt, jetzt sind wir alle entsetzt. Meine Damen und Herren, es gibt viele, die seit Jahren vor dieser Entwicklung warnen. Es gibt aber leider auch viele, die immer nur die Chancen und Verheißungen sehen und - für sie das Schlimmste - den „Wirtschaftsstandort“ gefährdet wähnen, wenn wir das nicht fördern würden. Fortschrittsfanatismus hilft niemandem weiter: uns nicht und der Menschheit als solcher auch nicht. Ich kann vor dem Machbarkeitswahn einiger Wissenschaftler, einiger Techniker und auch einiger Politkerinnen und Politiker nur warnen. Wie leichtfertig reden wir häufig von „menschlichem Leiden“, das es zu beseitigen, abzuschaffen gelte. Sagen Sie doch bitte einmal, meine Damen und Herren: Worüber sollen sich denn unsere Enkelinnen und Enkel oder die dann im Labor konstruierten Nachkommen noch freuen, wenn sie gar nicht wissen, was Leid ist, wenn die gar keinen Schmerz mehr kennen? Ich stelle mir eine solche Zukunft grauenhaft vor. Deshalb: Es geht hier nicht darum, dass nur verboten werden soll, in das menschliche Genom einzugreifen. Ich finde, das ist viel zu kurz gegriffen. Denn es nützt nichts, wenn ich erlaube, Ratten, Affen, Fische oder auch nur Bakterien genetisch zu verändern, und so tue, als ob ich es irgendwie verhindern könnte, dass es nicht doch jemanden gibt, der dieselben Technologien, dieselben Techniken, dasselbe Wissen und dieselben Instrumente auf Menschen anwendet. Wenn wir wirklich wollen, dass die Einzigartigkeit jedes Lebewesens so bleibt, wie sie ist - dafür brauche ich kein religiöser Mensch zu sein -, dann können wir nicht wollen, dass alles erlaubt ist, außer der Eingriff in das menschliche Genom. Das Parlament ist ein politischer Ort. Wir müssen hier politisch entscheiden. Wir brauchen dazu auch Mut. Wenn wir nicht dazu kommen, dass gesellschaftlich geächtet wird, was hier geschieht, kommen wir nicht weiter. Die Natur ist keine „Fehlkonstruktion“. Sie bedarf keiner irreversiblen Korrektur. Lasst Sie uns erhalten, wie sie ist, und verschandelt sie nicht durch angebliche „Verbesserungen“, die nur von uns wegführen können: von den Menschen und von der Natur an sich. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Knoche für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Gestatten Sie, dass ich hier sage: Ich bin wirklich beeindruckt davon, wie die Diskussion von allen Fraktionen heute hier geführt wird, wie sie eröffnet worden ist und wie intensiv gerade im letzten Beitrag und auch von Ihnen, Herr Dr. Schmidt-Jortzig, das Thema behandelt worden ist: Was geschieht, wenn der Mensch über Instrumente verfügt, die die Fragen, was der Mensch als Mensch ist und was der Mensch als Subjekt des Menschenrechts ist, so tief berühren, dass wir erkennen müssen, dass mit der Anwendung dieser Technologien unser gesamtes kulturelles Selbstverständnis, das, was wir als sozial, als gerecht, als gleich empfinden und was Moral und Ethik ausmacht, ganz tief getroffen ist? Wir haben diese Debatte heute als Aktuelle Stunde beantragt, weil wir das Gefühl hatten, dass die Nachricht - die auch uns sehr überrascht hat - , dass eine solche Patentierung genehmigt worden ist, die Menschen zutiefst erschreckt hat. Ich denke, wir müssen deutlich machen, dass wir als Parlament uns als eine Einrichtung betrachten, die solche tief gehenden Fragen nicht nur aktuell behandelt, sondern auch darüber hinausgehende Antworten zu geben bereit ist und sich dieser Aufgabe stellt. Es wurde in den vorangegangenen Beiträgen vielfach gefragt: Wer kontrolliert eigentlich das Europäische Patentamt? Es gibt eine Diskussion um die Inhalte der Bioethikkonvention, bei der auch ich der Meinung bin, dass die Grenze nicht eindeutig gezogen ist und dass embryonale Föten Fremdinteressen unterworfen, benutzt und verwertet werden können. ({0}) Insofern können wir uns nicht positiv darauf beziehen. Auch aus diesem Grund - das hat die Qualität der Debatten und der Anträge in der letzten Legislaturperiode in diesem Hause ausgemacht - haben wir gesagt: Die Bundesregierung soll nicht dieser Konvention beitreten. (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS] Wir haben schon damals gesagt, dass ein Nein zu dieser Bioethikkonvention und die Diskussion um die mögliche Überführung der europäischen Patentierungsrichtlinien in ein parlamentarisches Geschehen von Gesetzgebung usw. nicht ausreicht, um in die Tiefe zu dringen, die notwendig ist. Es ist ein gesellschaftlicher Konsens und wir tun gut daran, neben der Frage, was Moral und Ethik ist, auch festzustellen, dass die Menschenwürde und das Menschenbild in unserer Verfassung, im Grundgesetz, ihren unantastbaren Niederschlag gefunden haben und dass wir diese Diskussion auch als verfassungsrechtliche, grundrechtliche Diskussion führen müssen und führen können. Wir tun gut daran, wenn wir das, was in unserer Verfassung an Menschenwürde, an Unantastbarkeit festgeschrieben ist, den zivilisatorischen Konsens, den wir jenseits aller religiösen und weltanschaulichen Überzeugung haben, bestätigen und zugleich der Wissenschaft, die hier vordrängt und den Menschen in seiner Einzigartigkeit einer postmodernen Beliebigkeit anheim stellen will, deutlich machen, dass sich alles, was im Dienste der Menschheit geforscht und entwickelt wird, auf diesen Konsens beziehen muss und dass die Anwendungsorientiertheit, das Kommerzialisierungsinteresse unsere ethischen Grundwerte nicht auflösen darf. Die Industrie, die Forschung ist nicht ein separater Teil, sondern Teil unserer Kultur. Von daher ist der Entschluss, den wir jetzt endlich gefasst haben, nämlich alsbald eine Enquete-Kommission zu den Fragen Mensch, Recht, Ethik und moderne Medizin einzurichten, sehr richtig. Das steht nicht im Gegensatz zu den Positionen, die ich sehr begrüße und die seitens der beiden Ministerinnen zu diesem Problembereich geäußert worden sind. Es zeigt, dass wir das, was wir der Gesellschaft schuldig sind, positiv umsetzen und dass sich alle Fraktionen des gesamten Hauses in einem Diskurs mit der Öffentlichkeit und der Fachwelt diesen Zukunftsfragen stellen. Ich danke Ihnen. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Werner Lensing, CDU/CSU-Fraktion.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Meine Kollegen! Nun wissen wir es mit beängstigender Eindrücklichkeit: Die Entnahme von Zellen aus menschlichen Embryonen, die gentechnische Manipulation dieser Zellen und die Züchtung gentechnisch manipulierter Menschen just aus diesen Zellen sind die Visionen der Genkonzerne. Meine Damen und Herren, das sind keine zukunftszugewandten Visionen. Das ist ein Schreckensszenario. Dies alles wird nun überaus deutlich offenbart durch das Patent, das am 8. Dezember 1999 vom Europäischen Patentamt in München erteilt wurde. Wir wollen uns nichts vormachen: Dieses Patent ist nur die Spitze des Eisberges. Das Tabu ist bedauerlicherweise schon längst gebrochen. Weltweit werden in Ländern, in denen das strenge deutsche Embryonenschutzgesetz nicht gilt und in denen nicht die gleichen ethischen Maßstäbe wie in Deutschland angelegt werden, menschliche Embryonen zu Forschungsobjekten. Damit ist der Ausverkauf menschlicher Identität und Individualität vorprogrammiert. Vor diesem Hintergrund verstehe ich nicht, dass sechs Jahre lang niemandem im Europäischen Patentamt aufgefallen ist, dass der diesbezügliche Patentantrag „alle Teile von Tieren, insbesondere von Säugern - einschließlich des Menschen“ - umfasst. Durch die im Patent formulierten Ansprüche wird der gentechnisch veränderte Mensch eindeutig selbst zum patentierten Produkt. Wir wissen es: Gentechniker träumen davon, mit dieser Methode nicht nur den Körper, sondern auch den Geist bestimmen zu können. In dieser Situation ist der Fehler des Europäischen Patentamtes zugleich ein Indikator für eine gefährliche Entwicklung, die uns im wahrsten Sinne des Wortes in Teufels Küche führt. Längst ist das Unternehmen Schöpfung globalisiert, und zwar nicht nur im Verbund von Edinburgh und Australien. Die ethische Rechtfertigung erlangen die Bio- und die Gentechnik nach dem Verständnis meiner Fraktion durch den biblischen Schöpfungsauftrag, durch den der Mensch ermächtigt wird, gestaltend in die Natur einzugreifen. Aber wir brauchen in diesem Falle Rechtssicherheit. Ohne entsprechende Rahmengesetzgebung gibt es keine Rechtsgarantie für den ethisch begründeten Schutz des menschlichen Körpers. Ich möchte hier nicht nur politische, juristische und medizinische Argumente anführen. Vielmehr möchte ich eine Bemerkung zu der Tatsache machen dürfen, dass für mich diese Entscheidung auch Ausdruck eines verhängnisvollen Zeitgeistes ist. Der Münchener Soziologe Kurt Weis stellt einige die Ängste der Menschen gerade in dieser Zeit repräsentierende Bilder eindrucksvoll vor. Ich frage mit ihm: Was macht den Menschen zum Menschen? Ist der Mensch heute angesichts der Genforschung Mittelpunkt der Schöpfung oder nur Randfigur im Universum? Ist er Krone der Schöpfung oder nur ein besonders erfolgreiches Säugetier? Ist der Mensch Herr der Schöpfung oder nicht einmal Herr im eigenen Hause? Ist er moralisch ausgezeichnet oder nur durch egoistische Gene manipuliert? Ist er Be-Herrscher der Welt oder technisches Anhängsel als Be-Diener seiner Technik? Ist er einmalig und besitzt er individuelle Identität oder ist er bald durch Klonen zu vervielfältigen? Ist er einmalig aufgrund seines intelligenten Gehirns oder computerähnlich und damit bald übertreffbar? Ist er, teletechnisch gesehen, jederzeit erreichbar und ein Virtuose in interaktiven Medien oder nur ein Beziehungs- und Kommunikationskrüppel sowie ein Informationsidiot? Vor all diesen bedrängenden Fragen möchte ich Folgendes deutlich benennen: Erstens. Der Mensch ist keine Erfindung. Er kann daher auch nicht patentiert werden. Zweitens. Das genetische Erbe der Menschheit ist keine Handelsware. Drittens. Die EU hat die Pflicht, sich nicht nur um den Kommerz, sondern nicht zuletzt auch um die ethische Zukunft Europas zu kümmern. ({0}) Viertens. Die europäische Politik darf es sich nicht länger gefallen lassen, dass eine Behörde mit ihrer eigenen Gerichtsbarkeit über so wichtige ethische Zukunftsfragen entscheidet, geht es doch hier nicht nur um das Versagen von Prüfern. Dieser Fall ist vielmehr verhängnisvoller Ausdruck eines Systems, das auf die Industrie fixiert ist und nicht mehr auf dieEthik. ({1}) Ich fordere daher: Patente auf Gene müssen wieder von der Bildfläche verschwinden. ({2}) Schließlich gilt es zu verhindern, dass das Klonen von Menschen durch die Hintertür legalisiert wird. Ich fordere: Die deutsche und die europäische Patentgesetzgebung müssen dringend verbessert und die Patentämter einer stärkeren öffentlichen Kontrolle unterstellt werden. Wir sollten nach meiner Meinung auch überlegen, ob es nicht sinnvoll sein könnte, eine zweite Kontrollinstanz für gentechnische Verfahren einzurichten.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Lensing, Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich verstehe das gut; ich habe auch nur noch zwei sinnvolle Gedanken - nach meinem eigenen Verständnis - vorzubringen. ({0}) Eine solche Behörde sollte unabhängig vom Europäischen Parlament arbeiten. Ich unterstütze in der Tat gemeinsam mit meiner Fraktion die Bemühungen, die die Bundesregierung jetzt - wie ich hoffe - offensiv angehen wird, um einen Einspruch geltend machen zu können. ({1}) Durch den Tabubruch des Patentamtes ist der im Labor produzierte und patentierte Mensch nun deutlich näher gerückt - für mich eine Horrorvision, die es mit allen Mitteln zu verhindern gilt. Vielen Dank. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beider Bundesministerin für Bildung und Forschung, Wolf-Michael Catenhusen.

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, es ist ganz wichtig, dass in der Diskussion deutlich wird, die Vorfälle im Europäischen Patentamt können keine Fraktion, keine Gruppe und - wie ich denke - auch nicht die Bundesregierung dazu bewegen, diese Vorfälle zum Anlass für eine Deregulierungsdebatte zu nehmen. Ganz im Gegenteil; es ist wichtig, dass der Konsens in diesem Parlament sehr breit ist, dass die Entscheidung vom Ende der 80er-Jahre - klare ethische Grenzziehung im Umgang mit der modernen Biomedizin - richtig ist und sich für Deutschland auch bewährt hat. Es geht also nicht nur um das Versagen des Europäischen Patentamtes, sondern es geht um eine Entwicklung in der biomedizinischen Forschung, bei der das, was traditionell Medikament war, verschwimmt und bei der auch die Grenzen für die Patenterteilung offenkundig ins Rutschen kommen, vor allem dort, wo es um die Anwendung am Menschen geht. Es gibt und gab immer gute Gründe, Gene und vor allem ihre Genprodukte im Kontext der Entwicklung neuer Medikamente patentieren zu lassen, um wichtige Innovationen und auch Investitionen in der modernen Pharmaforschung zu ermöglichen. Das ist bei der Entwicklung von Insulin und Interferon wie auch anderer Wirkstoffe wirklich kein streitiges Thema. Wir stehen jetzt aber vor einer Entwicklung, in der sich das, was wir klassisch unter einem Medikament, einem Wirkstoff verstanden haben, dramatisch wandelt. Ein erster Schritt ist die somatische Gentherapie, gegen die aus meiner Sicht keine ethischen Bedenken bestehen. Aber hier werden - das muss deutlich hervorgehoben werden Techniken zur Veränderung des genetischen Programms menschlicher Körperzellen entwickelt; hier wird die gentechnisch manipulierte Körperzelle selbst zum Medikament, um Krankheiten wirksam bekämpfen zu können. Gerade in den letzten Monaten ist deutlich zu beobachten gewesen, dass der massive Einstieg kommerzieller Interessen in das erhoffte Gentherapiegeschäft in Amerika dazu geführt hat, dass Risiken verharmlost oder verdunkelt wurden und Todesfälle bei der klinischen Erprobung möglicherweise zur Sicherung des Börsenwertes von Firmen verheimlicht wurden, eine in jeder Hinsicht inakzeptable Entwicklung. Der Aufschwung der Stammzellforschung, insbesondere die Arbeiten an der Strategie des so genannten therapeutischen Klonens verschärfen diese Entwicklung und werfen neue dramatische Fragen auf. Stammzellforschung bearbeitet durchaus interessante medizinische Fragestellungen, vor allem dann, wenn es um diejenigen Zellen geht, die jeder von uns in seiner Leber, in seinem Hirn hat - nämlich Stammzellen, die nicht voll ausdifferenziert sind, die also in ihrer Entwicklung beeinflussbar sind und die sich vermehren können. Forschungsarbeiten an solchen Stammzellen sind ethisch vertretbar; sie haben durchaus auch ein beachtliches therapeutisches Potenzial. Aber die Strategie, nach der entkernte menschliche Eizellen das genetische Programm eines Menschen aufnehmen sollen, vielleicht auch einmal differenzierte Zellen in totipotente Zellen zurückverwandelt werden sollen - das ist eine dieser Visionen oder Utopien der Grundlagenforscher -, könnte dazu führen, den Prozess der Menschwerdung asexuell starten zu lassen. Hier ergibt sich das Problem, dass die Technik für die Gewinnung embryonaler Stammzellen und auch ihrer gentechnischen Manipulation plötzlich für patentierbar erklärt wird. Es gibt ein Patent in Großbritannien, das im Januar erteilt worden ist und das noch viel dramatischer ist als das, worüber wir heute reden; denn dort hat die kalifornische Firma Geron zwei Patente erhalten - so berichtet „Science“ in seiner Ausgabe vom 28. Januar 2000, - die dieser Firma kommerzielle Rechte an durch Klonen gewonnenen Embryonen sichert. Diese Rechte erstrecken sich nach Aussage von David Earp, Vizepräsident von Geron, auch auf menschliche Embryonen. Offenkundig hat das britische Patentgericht aus dem englischen Rechtszustand, dass Embryonenforschung in den ersten 14 Tagen erlaubt ist - mit allen Konsequenzen: verbrauchende Embryonenforschung, alles, was möglich ist -, eine Legitimation für eine Patenterteilung in dem Bereich abgeleitet, mit der Begründung, dieses Patent decke ja nur die Forschung an menschlichen Embryonen in den ersten frühen Entwicklungsstadien ab. Dies geht nach dem Motto: Wo verbrauchende Embryonenforschung erlaubt ist, kann sich auch das Patentrecht uneingeschränkt auf teilungsfähige menschliche Eizellen erstrecken. Dann, schreibt „Science“ - das ist natürlich eine hübsche Wissenschaftssprache -, würden diese Stammzellen „geerntet“ und zur Behandlung des Patienten verwandt werden: befruchtete menschliche Eizellen in den ersten Stadien der Zellteilung sozusagen als Saatstätte für Stammzellen. Das ist schon eine zynische Sprache. Ich denke, dass uns mit großer Sorge erfüllen muss, mit welcher Zielstrebigkeit hier von interessierten Firmen die Patentierung von geklonten, manipulierten, totipotenten menschlichen Zellen vorangetrieben wird. Die europäische Patentrichtlinie sieht - das muss deutlich hervorgehoben werden - Gott sei Dank, anders als das amerikanische Patentrecht, durchaus die Patentversagung aus ethischen Gründen vor. ({0}) Dass dies im europäischen Patentrecht verankert worden ist, liegt maßgeblich an dem Drängen der deutschen SeiWerner Lensing te. Denn es gibt in anderen europäischen Ländern auch Patentrechte, die die Möglichkeit der Patentversagung aus ethischen Gründen nicht vorsehen. ({1}) Deshalb muss unsere massive Kritik an dem Europäischen Patentamt darauf zielen, dass von einer aktiven Wahrnehmung dieser neuen Aufgabe nicht die Rede sein kann. Das Patentamt hat bis heute nicht begriffen, dass diese neue europäische Patentrichtlinie auch die Einhaltung ethisch gebotener Grenzen - gerade was den Eingriff in die menschlichen Erbanlagen angeht - durch das Patentamt einfordert. Ich denke, wir sind uns einig, dass sich das Patentamt dieser Aufgabe bisher nicht gestellt hat und an dieser Stelle versagt hat. Ich möchte aber noch zwei Dinge positiv würdigen. Sie wissen, dass das Projekt zur Entschlüsselung der menschlichen Erbanlagen eine Vielzahl von Informationen über menschliche Gene bringt und sich daher die Frage nach Patentierung in besonderer Dringlichkeit stellt. Es ist wichtig, an dieser Stelle positiv zu betonen: Nur durch die Tatsache, dass das Projekt der Entschlüsselung menschlicher Erbanlagen aus öffentlichen Mitteln finanziert worden ist, besteht heute überhaupt noch die Möglichkeit, dass das menschliche Genom mit seinen Informationen tatsächlich Gemeingut wird, öffentlich zugänglich bleibt. Denn private Firmen vor allem in den USA versuchen massiv, eine private Aneignung dieses Wissens zu erkämpfen. Es ist wichtig, dass die Genomforscher weltweit bereit sind, gegen diese Strategie der Unternehmen - auch in Prozessen - anzugehen. Ich glaube, wir sollten die deutschen Wissenschaftler in der Ablehnung der privaten Aneignung dieser Informationen stützen. Lassen Sie mich mit einer Bemerkung zum Thema Internationalisierung schließen. Wir sind konfrontiert mit der Anmeldung eines Patentes, das nicht in Deutschland entstanden ist. Wenn solche Patente auf europäischer Ebene nicht zugelassen werden, kann es sein diese Entwicklung werden wir in Europa bekommen -, dass sie in Großbritannien oder Italien zugelassen werden. Wir müssen uns der Frage, wie wir internationale Regeln und Standards auf diesem Gebiet zumindest in Europa durchsetzen, mit einer anderen Dramatik widmen. ({2}) Ich stimme Herrn Hüppe zu: Das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin regelt diese Frage nicht abschließend. Zu diesem Zeitpunkt, 1996, ließ sich die Frage des therapeutischen Klonens noch gar nicht abschließend regeln, weil die Entwicklung embryonaler Stammzellen damals nicht die Dynamik wie heute hatte. Aber wir sind dringend darauf angewiesen, in dieser Frage eine europäische Lösung zu finden. Deshalb lassen Sie uns in den Prozess stärker einsteigen: auf der einen Seite unsere gemeinsamen deutschen Positionen international offensiv zu vertreten, auf der anderen Seite aber nicht die schwierige Frage wegzudrücken, was uns internationaler Konsens wert ist, auch dann, wenn die Regelungen nicht voll dem deutschen Schutzniveau entsprechen. Diese Frage wird sich in den nächsten Monaten noch mit viel größerer Dramatik stellen. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Peter Hintze für die CDU/CSU-Fraktion.

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es tut dem Deutschen Bundestag gut, dass er dieses Thema zum Anlass nimmt, sich hier im Parlament einmal mit ethischen Grundfragen im Zusammenhang mit unserer Normbildung zu beschäftigen. Darüber besteht auch eine große Übereinstimmung. Der schwerwiegende Fehler einer Behörde hat ein Thema von höchster ethischer Relevanz in die öffentliche Diskussion gebracht. Wir haben das aufgegriffen und das ist gut so. Darf der Mensch alles, was er kann? Viele Redner haben dazu gesprochen und die Frage nicht nur mit einem klaren Nein, sondern auch mit einem klaren Bekenntnis zur Unverletzbarkeit der Würde des Menschen beantwortet. Nun möchte ich einen Zwischenruf von einem Mitglied dieses Hohen Hauses aufgreifen, der gemacht wurde, als ich zum Rednerpult ging. Er war der Meinung, zu dem Thema sei bereits alles gesagt. Ich versuche, diese Befürchtung zu widerlegen. Hier war sehr viel von Wachsamkeit die Rede. Der Parlamentarische Staatssekretär Catenhusen hat davon gesprochen, dass wir eine europäische Regelung brauchen. Ich sage nur summarisch: Wir brauchen eine weltweit greifende Regelung. Das ist klar und das hat er auch gemeint. Hier besteht kein Widerspruch zwischen unseren Ansichten. Ich finde es aber wichtig, dass unsere Aufforderung zur Wachsamkeit nicht in einer lähmenden Betroffenheit stecken bleibt. Diese Gefahr sehe ich bei unserer Debatte. Ich möchte dies ganz kurz erläutern: Erster Punkt. Die Patenterteilung war ein schwerer Fehler. Sie ändert die Rechtslage in Deutschland unserer Auffassung nach jedoch nicht. Ein Patent gibt niemandem das Recht, etwas zu tun, es verbietet nur einem Dritten, etwas wirtschaftlich zu verwerten, worauf der Patentinhaber ein Patent hat. Das ist für die Juristen unter uns eine Selbstverständlichkeit, aber für die Öffentlichkeit wichtig zu sagen, weil dem Patentamt unterstellt wird, es habe jetzt quasi die Tür zum Hades geöffnet. Ein von mir sehr geschätzter Vorredner hat vorhin ein ähnliches Bild gebraucht. Wir müssen der Öffentlichkeit sagen, dass dieses Patent die Rechtslage in Deutschland und Europa erfreulicherweise nicht zum Schlechteren verändert. Zweiter Punkt. Die Gentechnik wird das 21. Jahrhundert ähnlich nachhaltig bestimmen wie die Computertechnik die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ich meine, wir dürfen das Thema nicht nur unter dem Aspekt der drohenden Gefahren und Probleme diskutieren. Ich möchte einmal alle Vorredner ansprechen, die von der ethischen Urteilsbildung gesprochen haben. Zur ethischen Urteilsbildung gehört natürlich auch, dass wir Menschen uns fragen müssen, was wir mit unseren geistigen und körperlichen Gaben mit Blick auf die Überwindung von Hunger, Krankheiten oder Seuchen tun können. Bei einigen der ganz großen Menschheitsgeißeln, beim Krebs, bei Aids, bei vielen anderen zerstörenden Krankheiten, liegt in der Gentechnologie ohne Frage auch das Potenzial für viele ethisch sehr positiv zu bewertende Ergebnisse. ({0}) - Es ist nach einem Beispiel gefragt worden. Ein solches möchte ich gerne nennen: Die Firma Bayer beispielsweise produziert in den Vereinigten Staaten von Amerika - weil Nordrhein-Westfalen damals als Standort politisch unsicher schien - auf gentechnische Weise den Blutgerinnungsfaktor VIII, den Bluter brauchen, damit sie nicht bei einer kleinen Verletzung ausbluten und sterben. Dies ist ein Beispiel. Auch insulinabhängige Menschen profitieren heute davon, dass Insulinprodukte auf gentechnischem Wege hergestellt werden, die im Gegensatz zu aus tierischen Produkten gewonnenen Stoffen für den menschlichen Körper besser verträglich sind. Es gibt eine ganze Reihe von weiteren positiven Beispielen. Ich möchte hier denen ausdrücklich widersprechen, die sagen: Das ist schlimm, dahinter steckt eine wirtschaftliche Wirkung. Meine Damen und Herren, wir wären fahrlässig, wenn wir die positiven wirtschaftlichen Wirkungen, die in einer guten und positiven Biotechnologie stecken, nicht erkennen und für uns nutzen, sondern sie wieder den Vereinigten Staaten von Amerika überlassen würden, wie uns das bei der Computertechnik passiert ist. Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, dass es ein Problem für Deutschland und Europa sei, dass viele kluge Köpfe im Bereich der Informatik aus Deutschland nach Amerika gehen, weil sie sich hier nicht verstanden fühlen und keine Wirkungsmöglichkeiten haben. Ich möchte nicht, dass das Gleiche auf dem Gebiet der Biotechnologie passiert. Wir können übrigens all unsere ethischen Grundsätze nur dann durchsetzen, wenn wir dafür weltweit ein Bewusstsein schaffen. Ich möchte einmal sagen: Was deutsche Universitäten, was die Deutsche Forschungsgemeinschaft, was deutsche Unternehmen in diesem Bereich machen, entspricht nach meiner Kenntnis und Einsicht voll unseren ethischen Grundsätzen und bedarf der Unterstützung. Ich fände es sehr bedauerlich, wenn diese wichtige, grundsätzliche Debatte erneut zu einem großen Fragezeichen an der Gentechnologie oder an der Biotechnologie gegen unsere Forscher, gegen unsere wissenschaftlichen Institutionen führen würde. Im Gegenteil: Ich möchte unsere Forscher ermuntern, im Rahmen der ethischen Grundsätze, die wir mit ihnen zusammen entwickelt haben, dieses wichtige Zukunftsfeld der Menschheit aufzugreifen. Ich komme zum Schluss. Der Kollege SchmidtJortzig hat gesagt, es gehe um eine Existenzfrage der Menschen. Er hat Recht, es geht um eine Existenzfrage der Menschen. Sie ist aber nicht mit einem einfachen Nein oder einem nicht hinterfragten Ja zu beantworten, wir müssen sie durch einen verantwortlichen Umgang beantworten. Dann kann die Gentechnologie auch der Schlüssel sein, um Hunger und Krankheiten in der Welt zu überwinden und um wirtschaftliche und humane Fortschritte miteinander zu verbinden. Wenn wir sie in diesem Sinne begleiten, werden wir unserem parlamentarischen Auftrag als Normgeber gerecht. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Wodarg für die SPD-Fraktion.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte uns einfach fragen: Weshalb ist das passiert, was steckt dahinter? Welche Interessen steckten dahinter? Weshalb wollen Forscher und die sie finanzierende Wirtschaft solche Forschungen durchführen? Weshalb soll das geschehen? Ich möchte das nicht einfach ableiten, sondern aus einem Bericht der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der kürzlich zu diesem Thema erschienen ist, zitieren. Vielleicht ist es ganz gut, den Gegenstand des Patents noch einmal kurz zu definieren. Was sind Stammzellen? In den Gesprächen unter den Abgeordneten wurde deutlich, dass viele überhaupt nicht wissen, was damit gemeint ist. Ich zitiere: Mit dem Begriff der Stammzelle wird jede noch nicht ausdifferenzierte Zelle eines Embryos, Fetus oder geborenen Menschen bezeichnet, die Teilungs- und Entwicklungsfähigkeit besitzt. Diese nimmt im Laufe des Wachstums ab. Ich stelle jetzt die Frage: Was kann man damit machen? Auch diese Frage wird gleich im Vorwort beantwortet: Die Möglichkeit, pluripotente menschliche Stammzellen in Kultur zu halten, - das heißt, im Reagenzglas weiter zu pflegen und am Leben zu erhalten eröffnet eine völlig neue Dimension medizinischer Forschung. Aus diesen Möglichkeiten leitet sie ihre Forschungsziele ab. Auch davon möchte ich zwei zitieren. Sie sagt: Langfristig zielt diese Forschung darauf, die Arbeit mit embryonalen Stammzellen zu ersetzen und pluripotente Stammzellen aus spezialisierten Zellen - ich sage: Körperzellen zu gewinnen. Das heißt: Man will und muss dann nicht mehr den Umweg über embryonale Zellen gehen, sondern es wird angestrebt, aus Körperzellen Zellen zu entwickeln, die das können, was bisher nur embryonale Zellen können. Dann braucht nicht mehr beachtet zu werden, was das Embryonenschutzgesetz schützen möchte, sondern man umgeht die Regelungen des Embryonenschutzgesetzes. Auf die Frage: Wozu das alles? heißt es weiter: Ein langfristiges Ziel besteht in der Generierung komplexer Gewebeverbände oder ganzer Organe, die die derzeitigen Engpässe und immunologisch bedingten Probleme sowie die Risiken einer Krankheitsübertragung bei der Organtransplantation umgehen könnten. Das heißt, die Forschung möchte hier, unter Umgehung der vom Gesetzgeber vorgesehenen ethischen Schranken, einen Weg finden, der trotzdem medizinischen Fortschritt möglich macht. Das ist lobenswert. Sie möchte erreichen, dass es Menschenteile, Organhaufen und Gewebe von Menschen geben wird, die nutzbar sind und eingepflanzt werden können, und dabei möglichst keine ethischen Grenzen überschreiten. Dass das ein Eiertanz ist, merken wir, so glaube ich, ganz deutlich. Dass sich dieser Eiertanz auch in gesetzlichen Regelungen widerspiegelt, können wir sehen, wenn wir uns die Europäische Patentrichtlinie ansehen, die seit einigen Jahren bekannt ist und die wir in diesem Jahr in nationales Recht umsetzen müssen. Wir werden die Interpretationsmöglichkeit, die diese Richtlinie gibt, noch einmal näher in Augenschein nehmen. Das Europäische Patentamt hat sich zwar hier nicht ganz an diese Richtlinie gehalten, aber es wurde bereits vieles, von dem wir noch gar nicht gesprochen haben, weil es noch nicht zur Tagesordnung durchgedrungen ist, vom Europäischen Patentamt verwirklicht. Was ist zum Beispiel mit dem Patent - das BgVV, unsere eigene Behörde, beklagt es -, das eine bekannte Kosmetikfirma innehat? Es handelt sich um ein Patent, auch vom Europäischen Patentamt erteilt, nach dem man mit Hilfe embryonaler Stammzellen Kosmetika testen kann. Wir haben ja beschlossen, dass Kosmetika nicht mehr in Tierversuchen getestet werden dürfen. Hier hat das Patentamt reagiert und gesagt: Embryonale Stammzellen werden patentiert, eine Kosmetikfirma erhält das Patent. Unsere eigene Behörde, das BgVV, welches die Tests zum Schutz der Menschen vor schädlichen Chemikalien machen möchte - wir haben heute Morgen schon darüber gesprochen - muss 1 Million Dollar Patentgebühren zahlen und im Jahr 100 000 Dollar Patentgebühren an diese Kosmetikfirma zahlen, damit sie keine Tierversuche durchführen muss. Das ist die Realität. Und das ist nicht das erste dieser Patente. Ich möchte zu dieser Entscheidung des Europäischen Patentamtes noch etwas hinzufügen. Ich sage es in aller Deutlichkeit: Ich halte es nicht für ein Versehen, sondern für ein Verdienst von Greenpeace - insbesondere von Herrn Then, dem ich auf diesem Wege ganz besonders für seine Hartnäckigkeit danken möchte, dieses Thema an die Öffentlichkeit zur bringen -, dass herausgekommen ist, dass das Europäische Patentamt zweimal absichtlich bei ein und derselben Patenterteilung darauf hingewirkt hat, dass menschliches Gewebe, menschliche Stammzellen, patentiert werden können. Es ist nicht so, dass es in der Beschreibung des Patentgegenstandes vergessen wurde, den Menschen auszunehmen. Vielmehr ist in der Begründung - sie ist allerdings in Englisch formuliert - ausdrücklich erwähnt, dass das Patent auch auf humane Zellen Anwendung finden soll. Also: Bei der Beschreibung des Gegenstandes ist die Beschränkung herausgelassen worden, aber später wird es ausdrücklich erwähnt.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Wodarg, Sie müssen leider zum Schluss kommen.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. Wir müssen vieles tun: Wir müssen das Europäische Patentamt und seine Grundlagen gründlich durchleuchten, wir müssen dort eine bessere Kontrolle einrichten. Wir müssen diese schwammigen Richtlinien der Europäischen Union daraufhin durchleuchten, wo sich Lücken befinden, die einen solchen Fall ermöglicht haben. Ich weise darauf hin, dass der Europarat - 41 europäische Staaten - beschlossen hat, dass solche Patente nicht mit den Menschenrechten vereinbar sind. Ich bin ganz zuversichtlich, dass das, was der Kollege Catenhusen gesagt hat, in eine handfeste Rechtsprechung umgesetzt werden kann.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Wodarg, ich muss Sie daran erinnern, dass es sich hier um eine Aktuelle Stunde handelt.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich hoffe, dass wir den Beschluss des Europarats in der weiteren Diskussion nutzen können. Danke schön. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist die Kollegin Ulrike Höfken.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der aktuelle Skandal um die Patenterteilung des Europäischen Patentamtes - ich nenne das sehr wohl einen Skandal und glaube nicht an die Zufälligkeit - rückt das Thema der Patentierung von Lebewesen aus den Dunkelkammern der nicht öffentlichen Entscheidungen einer nicht kontrollierbaren Behörde dahin, wo es hingehört, in die öffentliche Debatte um die gesellschaftliche Nutzung von Entdeckungen, von therapeutischen Verfahren im Rahmen der Bio- und Gentechnologien. Bei der Patentierung von Lebewesen treffen zwei sehr ambivalente Instrumente aufeinander: Zum einen die Patentierung selbst, die einen sehr großen Nutzen beinhaltet, - auf dieser Grundlage können Investitionen getätigt und wirtschaftliche Entwicklungen ermöglicht werden -, zum anderen dienen Patente der Eroberung und Festigung von Märkten; sie können zur Monopolisierung genutzt werden. Alle Firmen, die Global Player werden wollen, gründen ihre Geschäftsstrategien auf weitreichende internationale Patente. Genauso ist es mit der Gentechnik: Auf der einen Seite beinhaltet sie Chancen zur Rettung von Leben, zur Forschung und zur Erreichung von positiven Dingen, die uns bisher nicht gelungen sind. Auf der anderen Seite hat sie ganz klar auch das Potenzial, große ökologische, gesundheitliche und soziale Risiken heraufzubeschwören und große ethische Probleme zu verursachen. Wenn Patentrecht und Gentechnik aufeinander treffen, zeigt sich die ganze explosive Brisanz des Konstruktes „Patentierung auf Leben“. Denn dieser Fall das ist vorhin schon erwähnt worden - ist durchaus nicht der einzige, in dem sich das Europäische Patentamt eigenmächtig über Rechtsnormen hinweggesetzt hat. Offensichtlich ist die ganze Konstruktion marode. Das, was Sie, Herr Lensing, als Zeitgeist bezeichnet haben, zeigt sich immer häufiger: Die bisher meiner Ansicht nach etwas naive Haltung in Richtung einer Technikgläubigkeit auch gerade in Bezug auf die Gentechnik animiert diese Forscher doch ganz offensichtlich dazu, sich in gewisser Weise zu verselbstständigen und diese Normen zu verletzen. Es gibt einen Grundkonsens darüber - das ist auch gesetzlich geregelt -, dass eine Patentierung menschlicher Gene oder gar Embryonen in Deutschland nicht in Frage kommt, aber ich möchte die Aufmerksamkeit einmal stärker auf die Patentierung von Tieren und von Pflanzen lenken. ({0}) Auch die Patentierung von Tieren wirft schwerwiegende ethische Fragen auf, was gerade die Anmeldung dieses Patentes zum Ausdruck bringt. Schweine oder Fische mit menschlichen Wachstumsgenen kommen auf die Teller. Es stellt sich die Frage, ob Menschen oder Tiere als Ersatzteillager gehalten oder gezüchtet werden dürfen. Das ist ein großes ethisches Problem und abgesehen davon im Übrigen auch ein gesundheitliches Problem, das Einfallstor für die Übertragung von Krankheiten, die wir bisher noch gar nicht kennen oder die auf diese Art und Weise eben noch nicht zustande gekommen sind. ({1}) All dies gilt es zu bedenken. Das Gleiche gilt für die Patentierung von Pflanzen. Herr Hintze hat vom Hunger in der Welt gesprochen. Ja, natürlich, aber Sie wissen doch: Gerade die Entwicklungsländer haben große Sorgen vor der Biopiraterie, davor, dass die dortige Artenvielfalt an Heil- und Kulturpflanzen mit ihren Wirkstoffen patentiert wird, während am Ende die dort lebenden Menschen, weil sie nicht die nötigen finanziellen Mittel haben, leer ausgehen, - abgesehen davon, dass die Verhinderung von Hunger durch Gentechnik recht unmöglich ist. Wichtig ist Folgendes: Die Politik wird sich daran messen lassen müssen, welche Konsequenzen sie aus dieser Situation zieht. Erstens ist es wichtig, dass die Entscheidungen des Europäischen Patentamtes für die Öffentlichkeit transparent werden. Es kann nicht von der Findigkeit einiger Greenpeace-Aktivisten, denen tatsächlich Dank gebührt, abhängen, dass derartige Fehlentscheidungen an die Öffentlichkeit kommen. ({2}) Zweitens muss das Europäische Patentamt kontrollierbar werden. Damit ist nicht allein der Gerichtsweg gemeint. Die Bundesregierung sollte sich aber dafür einsetzen, Klagerechte für Einwender beim Europäischen Gerichtshof zu schaffen, und eine unabhängige Einspruchsinstanz einbeziehen. Drittens müssen die Entscheidungen des Europäischen Patentamtes rückholbar sein; auch darauf ist in den Reden schon eingegangen worden. Gerade im Umgang mit einer neuen Technologie, in der täglich ganz neue Erkenntnisse gewonnen werden können, kann es nicht sein, dass Entscheidungen auf der Grundlage des Wissensstandes von vorgestern oder selbst krasse Fehlentscheidungen nicht korrigierbar sind. Die offene Flanke, die hier - ich glaube, vom Kollegen Brinkmann - genannt worden ist, ist im konkreten Fall, dass die Embryonennutzung nur zur Erzeugung von Nachkommen verboten ist und nicht als „Ersatzteillager“ für Organe. Hier liegt das Problem, dass in dieser Art und Weise der eigentliche gesetzgeberische Willen umgangen werden soll. Durch den aktuellen Fall ist auch die Haftungsfrage neu aufgeworfen worden. Es kann nicht sein, dass für gravierende Fehler keiner haftet und keiner zur Verantwortung gezogen werden kann.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, auch Sie müssen bitte auf die Redezeit achten.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. Ein letzter Satz: Solange diese gravierenden Verfahrensmängel - es ist schon der Begriff Missstände gefallen - nicht behoben sind, sollte die EU-Patentrichtlinie auch nicht in nationales Recht umgesetzt werden. Zuallerletzt: Ich meine, wie auch Kollege Brinkmann gesagt hat, dass Patente auf Erfindungen und nicht auf Leben erteilt werden sollten, nicht auf menschliche Gene, nicht auf tierische und nicht auf pflanzliche. Danke schön. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Empörung über die Erteilung des Patentes zur gentechnischen Manipulation an menschlichen Embryozellen ist einhellig. Sie geht über alle Parteien dieses Parlamentes hinweg und ist auch in der Öffentlichkeit spürbar. Sie entspringt wohl der Sorge der Menschen, in einer Weise durch Technik fremdbestimmt zu werden, die die Person in ihrem Kern trifft. Deswegen ist diese Sorge auch so groß. Ich meine, dass wir in der Debatte auf diese Sorge der Menschen sehr gut eingegangen sind und dass wir in einer wirklich fruchtbaren Weise miteinander diskutieren. ({0}) Wir sind uns auch darüber einig, dass die Manipulation an menschlichen Embryonalzellen nicht möglich sein darf, weil sie der Würde des Menschen widerspricht, deren Unverletzlichkeit in Art. 1 des Grundgesetzes festgelegt ist und die der Mensch von Anfang an besitzt - sie wird ihm nicht vom Staat verliehen -, und zwar genau ab dem Zeitpunkt, ab dem die Individualität des Menschen vorhanden ist, nämlich ab der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Unser Embryonenschutzgesetz schützt diesen Vorgang in besonderer Weise, weil er auch in vitro geschehen kann. Darauf hinzuweisen scheint mir bei einer solchen Gelegenheit ebenfalls wichtig. In Deutschland ist schon vor zehn Jahren eine Regelung geschaffen worden, die den Sorgen der Menschen, glaube ich, gerecht wird. Natürlich sind Verbesserungen ohne weiteres denkbar. Wir stimmen auch darin überein, dass die hier diskutierte Patentierung gegen nationales und internationales Recht verstößt. Das festzustellen ist auch wichtig. Es war im Grunde ein rechtswidriger Akt. Insofern stimmen wir alle überein und unterstützen die Bundesregierung darin, dagegen Einspruch einzulegen. Aber es ist wohl auch richtig, darüber nachzudenken, ob nicht eine Instanz in irgendeiner Form geschaffen werden muss, die zumindest kontrolliert, ob das Europäische Patentamt Rechtsfehler begangen hat. Ihr Vorschlag, Herr Lensing, dass in der Kontrollinstanz die ganze Technik noch einmal überprüft werden soll, mag diskussionswürdig sein. Aber mir scheint die Forderung wichtig zu sein, zumindest die Rechtmäßigkeit der Erteilung eines Patentes noch einmal durch eine Kontrollinstanz überprüfen zu lassen. Zu beachten ist auch, dass der Antrag auf Patentierung aus Großbritannien kam, einem Land, in dem die Gesetzgebung - das darf ich mit einem gewissen Stolz sagen - nicht so gut ist wie die in Deutschland. Das bedeutet, Herr Catenhusen, dass wir entsprechende internationale Regelungen brauchen. Wenn solche Regelungen nicht möglich sind, dann muss die Regierung darauf hinwirken, dass zumindest durch entsprechende nationale Regelungen im EU-Raum dafür Sorge getragen wird, solche Ausbrecher in Zukunft unmöglich zu machen. Zum letzten Punkt. Wir müssen uns auch Gedanken darüber machen, wie wir Forschung in diesem Bereich dennoch ermöglichen können. Wir brauchen natürlich eine Forschung für präventive Medizin, für eine bessere Diagnostik und für eine bessere Therapie. Eine solche Forschung darf durch unsere Sorge um den Eingriff in die Gene des Menschen nicht verhindert werden. Mir scheint es wichtig zu sein, eine genaue Abgrenzung zwischen Manipulation und Forschung zu finden. Darüber nachzudenken ist auch Aufgabe unseres Parlamentes. Ich möchte abschließend das feststellen, was ich schon eingangs erwähnt habe: Diese Debatte hat gezeigt, dass es hier eine große Übereinstimmung in diesem Parlament gibt. Das auszusprechen ist richtig, weil dies nicht allzu oft der Fall ist. Danke schön. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt die Kollegin Margot von Renesse, SPD-Fraktion.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt eine große Übereinstimmung und ein allgemeines Erschrecken über das, was sich im Europäischen Patentamt zugetragen hat und was dort entschieden worden ist. Alle sind sich darüber einig, dass diese Entscheidung gegen Recht verstößt. Trotzdem lassen sich nach meinem Eindruck die Reden, die ich hier gehört habe, in zwei Gruppen einteilen, auch wenn Nuancen durchaus unterschiedlich stark ausgeprägt sind: Einige beklagen, dass in diesem Fall das Gesetz, das Recht, die allgemeine Moral und die Vorstellung von Ordre public nicht ausgereicht haben, um eine rechtswidrige Entscheidung - darüber besteht Konsens - zu verhindern. Die anderen beklagen - wie gesagt, der Unterschied liegt in Nuancen - das Vorhandensein der Genforschung und der Biotechnologie selbst als Problem. ({0}) - Ich höre „richtig“. Genau dasselbe habe auch ich aus dem, was Sie gesagt haben, herausgehört. Wir werden uns entscheiden müssen, auf welcher Seite wir stehen. Das Schreckliche ist in meinen Augen, dass das Europäische Patentamt jedenfalls dieser zweiten Seite ein Argument geliefert hat: die anscheinend vorhandene Unwirksamkeit von Recht angesichts von Interessen. Danach sieht es ja aus, vor allem, wenn man nicht nur zumindest grobe - Fahrlässigkeit, sondern auch, wie es einige tun, Absicht vermutet. Es ist schon schlimm genug, dass nicht mindestens einem Menschen, der im Europäischen Patentamt arbeitet, die Gänsehaut angesichts dessen, was er las, gekommen ist. Dies alles führt dazu, dass man sich fragen muss: Was dient denn angesichts so großer Interessen, die im Spiel sind, eigentlich dem Recht? Aber wenn man dieser Frage nachgeht, dann führt das dazu, dass man absolut resignieren muss. Eines wissen wir in Europa seit der Fruchtlosigkeit des Anatomieverbots: Forschung im Sinne von Fragen, Wissen-Wollen und Können-Wollen ist ein Teil der menschlichen Natur. Ebenso gehört es zur Wahrheit der menschlichen Natur, dass sie - da sie „Natur“ ist - in der Petri-Schale und unter dem Mikroskop beobachtbar und erforschbar ist. Wir sind sowohl Beobachter als auch Gegenstand der Beobachtung. Wer glaubt, dass Recht dort nicht zu wirken hat und nichts auszurichten vermag, der hat verspielt. Zu denen will ich nicht gehören. Das heißt, das Einzige, worauf ich setzen kann und will, ist Recht. Wohl wissend, dass Recht 100 000fach immer wieder gebrochen wird, ({1}) ist es doch die einzige Sicherheit, Herr Seifert, die ich zum Beispiel meinem behinderten Enkelkind hinterlasse, wenn eines Tages seine Eltern und ich nicht mehr da sind. Danke schön. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Hans-Josef Fell für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Freiheit der Forschung ist ein hohes und schützenswertes Gut. Freiheit der Forschung bedeutet aber nicht Schrankenlosigkeit. Sie findet ihre Grenzen bei Tatbeständen zum Schutz der Wahrung der Menschenwürde, des Lebens und der körperlichen Integrität. Diese Grenze hat das Europäische Patentamt in München eindeutig überschritten. Was ist passiert? Das Europäische Parlament erteilte im Dezember für die australische Firma Stem Cell Sciences, lizenziert von der Universität Edinburgh, ein Patent auf ein Verfahren für die Isolierung und die genetische Manipulation von embryonalen Stammzellen. Aus diesen embryonalen Zellen möchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Organe zum Zweck der Transplantation - Haut, Herz, Nervensystem - züchten. Anstoß an dieser Entscheidung erregte vor allem der Einschluss auch menschlicher Zellen in den Schutz des Patents. Ein möglicher Eingriff in die menschliche Keimbahn, der bei Weiterentwicklung der Technik prinzipiell auch zu patentgeschützten Menschenzüchtungen genutzt werden könnte, steht sowohl im Widerspruch zum deutschen Embryonenschutzgesetz als auch zur europäischen Biopatentrichtlinie. Die Anwendung dieser Technologie bei menschlichen Zellen wäre also schlicht illegal und das Europäische Patentamt hat inzwischen diesen Fehler - schlichtweg eine grobe Schlamperei eingeräumt. Niemand will das Ziel der modernen Biotechnologie infrage stellen, dass mit der medizinischen Forschung eine Therapie durch verbesserte Medikamente, zum Beispiel Insulin für Zuckerkranke, angestrebt wird. Ich erinnere auch daran, dass verbesserte Medikamente für Aids-Infizierte anders gar nicht möglich gewesen wären. Bekannt ist das berechtigte Interesse der Industrie am Schutz ihrer in aufwendigen klinischen Studien getesteten Erfindungen durch Patente. Ethische Fragen müssen bei der Erteilung solcher Patente natürlich Beachtung finden. Aber getrieben durch Interessen der Industrie wurden auch und gerade im Europäischen Patentamt in den letzten Jahren Patente auf Gene, Tiere und Pflanzen vergeben. Im Fall der so genannten Krebsmaus im Jahre 1992 geschah dies sogar gegen den Willen des Europäischen Parlaments. Beruhte die Erteilung des umstrittenen Patents also wirklich auf einem Fehler? Oder ist dies nicht Teil einer Strategie zur Umgehung der Rechtsprechung und zur Aufweichung ethischer Standards? Hier läuft aus meiner Sicht in jedem Fall etwas grundfalsch. Auch in Kreisen der Wissenschaft herrscht Klage über die „Würgepatente“ der Industrie, die auch nicht kommerzielle Forschung lizenzpflichtig und manchmal faktisch unmöglich machen. Die Menschen erwarten, dass die Politik hier die Rahmenbedingungen zurechtrückt. Mit der Entscheidung des Europäischen Patentamtes sind einige Fragen der Gentechnik wieder in den Mittelpunkt gerückt. Warum werden Patente auf Gene erteilt, wenn deren Bedeutung für den Organismus noch gar nicht bekannt ist? Dadurch wird zum einen die medizinische Forschung selbst behindert; zum anderen werden ethische Grundsätze nicht beachtet, da eine abschließende Bewertung noch gar nicht stattgefunden hat. Warum darf das Europäische Patentamt administrativ, unabhängig vom Regierungs- und Volkswillen - die heutige Debatte hat gezeigt, dass der Volkswillen hier eindeutig ist - und im Gegensatz zur Rechtspraxis Entscheidungen fällen? Wir fordern genauso wie Europaparlamentarier die Einrichtung einer unabhängigen Ethik-Kommission auf europäischer Ebene zur Kontrolle eigenmächtiger Entscheidungen des Europäischen Patentamtes. ({0}) Wie können die beim Europäischen Patentamt entscheidenden Instanzen neutrale Gutachten gewährleisten, wenn sie sich über die Gebühren genehmigter Patente finanzieren? Wir fordern eine unabhängige Finanzierung der Entscheidungsgremien. Die Enquete-Kommission des Bundestages zur Bioethik muss sich dieser Fragen dringend annehmen. Daneben hat die Enquete-Kommission auch weitere Forschungsfragen in diesem Zusammenhang zu klären. Ein Beispiel will ich noch erwähnen: die fremdnützige Forschung an Menschen mit geistiger Behinderung. Erst jüngst wurde der Verdacht auf unerlaubte humangenetische Untersuchungen an Menschen mit geistiger Behinderung im St.-Josefs-Stift in Eisingen bei Würzburg von der Staatsanwaltschaft verfolgt. Allerdings wurde vom vertretenden Rechtsanwalt umfangreiche Beschwerde gegen die Art der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen eingelegt, da sie nicht intensiv und genau durchgeführt wurden. Die Vorgänge im Europäischen Patentamt oder die mögliche Missachtung der Menschenwürde von Behinderten bei fremdnütziger Forschung offenbaren die Notwendigkeit eindeutiger Regelungen zum verbesserten Schutz der Menschenwürde, des Lebens und der körperlichen Integrität bei allen Fragen der Fortpflanzungsmedizin. Fortschritte der Medizin sollen schließlich dem Menschen helfen und ihn nicht versklaven. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort der Bundesministerin der Justiz, Frau Dr. Herta DäublerGmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es ist selten vorgekommen, dass das Wort Konsens so häufig in einer Debatte im Bundestag aufgetaucht ist wie heute. Ich finde das gut und freue mich darüber, auch wenn ich glaube, dass Margot von Renesse durchaus Recht mit ihrer Beobachtung hat, dass in einigen Bereichen der Bogen der Meinungen und Einstellungen auch hier ausgesprochen breit gezogen ist und es darauf ankommen wird, im Detail diesen Konsens auch wirklich herzustellen, der im Augenblick durch die Empörung über diesen in der Tat unerhörten Vorgang getragen wird. Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, ich freue mich über den Konsens. Das tue ich deshalb, weil ich glaube, dass er ganz schön weit trägt; und das ist gut. Zum ersten ist er bei der Bewertung der rechtlich und ethisch falschen Patenterteilung durch das Europäische Patentamt in München vorhanden. Lassen Sie mich hier übrigens noch kurz anmerken, dass auch die Daten wichtig sind: Dieses Patent wurde bereits im Jahre 1994 beantragt, im Januar vorigen Jahres erteilt und im Dezember 1999 veröffentlicht. Ich freue mich darüber, dass uns alle übereinstimmend die Einschätzung verbindet, die Patenterteilung müsse widerrufen beziehungsweise auf den rechtlich und ethisch einwandfreien Rahmen beschränkt werden. Ich freue mich auch über die Unterstützung und den Zuspruch für die Einleitung des Einspruchsverfahrens. Ich gehe davon aus - ich darf das deutlich sagen -, dass der Widerruf beziehungsweise die Beschränkung bald erfolgen wird und dass außerdem die Universität Edinburgh als Patentinhaber die rechtlichen und ethischen Beschränkungen trotz der falschen Patenterteilung schon jetzt akzeptiert. Es gibt Äußerungen, dass sie sich so verhalten wird. Aber wir werden darauf achten und es kontrollieren. Ich glaube, dass der Konsens noch einen Schritt weiter reicht. Es ist richtig, dass diese Patenterteilung rechtlich und ethisch gesehen ein gravierender Fehler war. Aber wir müssen auch die Folgen im Auge haben. Wir sind auch darin einer Meinung, dass es nicht nur darum gehen kann, Fehlentwicklungen zu rügen und rückgängig zu machen, sondern es muss auch darum gehen, in der Zukunft alles dafür zu tun, dass sich derartige Vorgänge nicht wiederholen. Deshalb - lassen Sie mich das ausdrücklich sagen stimme ich allen zu, die hier gefordert haben, es müsse erst einmal geklärt werden, worin denn eigentlich der Fehler gelegen habe und auf welche Weise er zustande gekommen sei. Wir müssen zunächst klären, ob es sich nur um ein zufälliges Missverständnis, gewissermaßen um einen Irrtum in der Anwendung der rechtlichen Regelungen handelt oder ob hier, wie manche befürchten, die Spitze eines Eisbergs von Problemen zu erkennen ist, die auf unklare rechtliche Regelungen zurückzuführen sind. Dies festzustellen ist zunächst Aufgabe des Europäischen Patentamtes als der zuständigen Behörde. Unsere Aufgabe - übrigens sowohl die der Bundesregierung als auch die des Deutschen Bundestages, aber auch die des Europäischen Parlaments -ist es, uns darum zu kümmern, dass die Dinge geklärt und hinterher abgestellt werden. Ich will Ihnen deshalb berichten, was ich über die Einleitung dieses Einspruchsverfahrens hinaus in den letzten Tagen unternommen habe. Ich habe die deutsche Delegation im Verwaltungsrat des Europäischen Patentamts, der in diesen Tagen in Dublin zusammengetreten ist, angewiesen, diesen Vorgang dort zur Sprache zu bringen, eine klare Erklärung des Präsidenten zu fordern und Regelungen zu initiieren, die für die Zukunft erheblich mehr Sicherheit und Kontrolle ermöglichen. Dies ist gelungen. Es hat gestern eine dreistündige Diskussion gegeben, in der festgestellt und betont wurde, dass mit der Erteilung eines fälschlichen Patentes nicht automatisch die Berechtigung zur Nutzung des geschützten Gegenstandes einhergeht. Der Präsident des EPA hat eingeräumt, dass die Erteilung in rechtlicher und ethischer Hinsicht ein Fehler gewesen sei, und angekündigt, Vorkehrungen zu treffen, damit sich derartige Fehler nicht wiederholen. Weiter hat er festgestellt, dass trotz der fehlenden Einschränkung „non human“ wir haben heute darüber geredet - der Schutzbereich auch dieses konkreten Patentes aufgrund der Art. 69 und 84 des Europäischen Patentübereinkommens nicht das Klonen von Menschen umfasst. Der Verwaltungsrat hat diese Erklärung zur Kenntnis genommen und seine Besorgnis darüber deutlich gemacht, dass der eingeräumte Fehler überhaupt hat passieren können. Er hat den Präsidenten aufgefordert, sicherzustellen, dass künftig wirksame Vorkehrungen gegen Fehler getroffen werden. Das ist das eine. Ich bin aber zudem der Meinung, dass diejenigen aus dem Hause und vor allen Dingen in der Öffentlichkeit Recht haben, die sagen, das alles reiche nicht; wir müssten vielmehr auch die Instrumente der Kontrolle verstärken. Deshalb will ich darauf aufmerksam machen, dass Kontrollmöglichkeiten nicht nur - Frau Kollegin Höfken - auf gerichtlichem Wege, sondern auch durch die Öffentlichkeit schon heute bestehen, dass diese aber auch genutzt werden müssen. Ich habe darauf hingewiesen, dass das fälschlich erteilte Patent bereits 1994 beantragt wurde. Nach 18 Monaten wird jede Patentanmeldung automatisch veröffentlicht. Auch dieses Patent wurde nach 18 Monaten -also 1995 - veröffentlicht. Wird ein Patent erteilt, wird es nochmals veröffentlicht. Das war 1999 der Fall. Wir müssen gerade in diesem Bereich sehr deutlich darauf hinweisen, dass man heute bereits Kontrollmöglichkeiten wahrnehmen kann, die jetzt gefordert worden sind, und zwar „online“. Sie können und sie müssen wahrgenommen werden. Auch wir selbst müssen uns mehr darum kümmern. Ich glaube, dass darüber hinaus noch eine Reihe von Punkten mit dem Präsidenten des Europäischen Patentamtes zu besprechen sind. Dazu gehört die Frage des Umgangs mit der Öffentlichkeit. Ich habe aufmerksam zugehört, als der Kollege Wodarg gerade auf folgenden Punkt hingewiesen hat: Wer die Patentschrift sorgfältig liest, dem fällt auf, dass es zwei Fehler gegeben hat. Der erste Fehler ist die Auslassung der Ausschließung menschlicher transgener Stammzellen in der Patentschrift. Der zweite Fehler ist die ausdrückliche Einbeziehung des menschlichen Bereiches an einer anderen Stelle der Patentschrift. Das darf nicht sein. Auch dabei handelt es sich um einen rechtlich und ethisch unakzeptablen Fehler. Die Öffentlichkeit hat einen Anspruch darauf, dass auch der zweite Fehler in der Öffentlichkeit deutlich gemacht wird. Es darf nicht der Eindruck entstehen, Fehler würden nur scheibchenweise zugegeben. Wenn dieser Eindruck angesichts der schwierigen Materie erweckt würde, dann wäre das Vertrauen perdu. Ich glaube, dass wir dieses Vertrauen dringend brauchen werden. Lassen Sie mich einen letzen Punkt anführen. Wir werden bei der Diskussion der Biomedizin-Konvention, aber auch bei der Umsetzung der Bio-Patent-Richtlinie, die noch in diesem Sommer ansteht, und bei der Regelung weiterer schwieriger Einzelfälle um den Konsens, den wir heute allgemein beschworen haben und im Groben hoffentlich existiert, im Detail weiterringen müssen. Wie schwierig dies sein wird, haben uns der Beitrag des Staatssekretärs Catenhusen und andere Beiträge gezeigt. Ich hoffe, dass dieses Haus zu einem Konsens in der Lage sein wird. Ich lade herzlich dazu ein. Danke schön. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun gebe ich das Wort dem Kollegen Alfred Hartenbach für die SPDFraktion.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Erteilung des Patentes mit der schlichten Bezeichnung EP 0695 351 hat, nachdem sie bekannt geworden ist, für Aufregung, ja für Empörung gesorgt, für Aufregung deshalb, weil hier offensichtlich der Versuch unternommen wird, ein Verfahren zur Isolierung, Selektion und Vermehrung von tierischen transgenen Stammzellen als Patent einzuführen, und weil dabei die menschlichen Stammzellen mit inbegriffen sind. Es gibt aber auch Empörung darüber - das hat die Frau Justizministerin eben deutlich gemacht -, dass hier ganz offensichtlich eine Veröffentlichung mit den Einzelheiten - es geht ja nicht nur um die Nummer des Patentes - nicht erfolgt ist und dass dadurch die Öffentlichkeit lange Zeit im Unklaren darüber gelassen worden ist, was hier geschieht. Ich denke, wir können denen danken, die diesen Sachverhalt öffentlich gemacht haben und die uns dadurch den Anlass zu dieser heutigen Diskussion gegeben haben. Empörung ist aber auch deswegen angesagt, weil hier, so wie es lapidar behauptet worden ist, ein Patent versehentlich erteilt worden ist. Ich hoffe für die Werte und für die Achtung der Würde des Menschen in diesem Land, dass es wirklich nur ein Versehen war. Wir wissen alle, dass gerade in der Biotechnik der Druck auf die Öffentlichkeit und auf den Gesetzgeber, Gesetze großzügig zu fassen, immer mehr zunimmt. Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb gestern, sollten die Gesetze aufgrund des größer werdenden Drucks der Biotech-Unternehmen aufweichen, bekämen Patente wie das soeben bewilligte für die Firmen einen unschätzbaren Wert. Ich hoffe, dass der Präsident des Europäischen Patentamtes, den wir alle aus seiner früheren politischen Tätigkeit sehr gut kennen, die Größe und das Durchsetzungsvermögen hat, sehr klar und für die Öffentlichkeit nachvollziehbar aufzuklären, was wirklich gewesen ist. Natürlich sind auch wir gefragt, unseren Beitrag dazu zu leisten und auch die Justiz ist aufgefordert. Nun haben wir natürlich die eine oder andere Möglichkeit. Frau Justizministerin, ich bin dankbar, dass die heutige Aktuelle Stunde gezeigt hat, dass die Bundesregierung auf zwei Ebenen tätig geworden ist, nämlich einmal Einspruch dagegen einzulegen und zum anderen auf der Versammlung des Verwaltungsrates der europäischen Patentorganisation eine Klarstellung herbeizuführen. Dies hilft uns weiter. Aber wir müssen mehr tun. Alleine die Tatsache, dass man auf dem nationalen Rechtsweg klagen kann - wir in Deutschland zum Beispiel unter Anwendung unseres Embryonenschutzgesetzes -, reicht nicht aus. Das Patent kann für viele europäische Länder erteilt werden. Angesichts der Globalisierung ist die Vermarktung und Verwertung dieses Patentes dann sehr leicht möglich. Wir müssen also auch sehen, dass wir auf europäischer Ebene einen wirksamen Rechtsschutz bekommen, der vor allen Dingen demokratisch legitimiert ist. Ich weiß nicht, ob es ausreicht, dass man Einspruch einlegen kann, so wie dies die Richtlinien jetzt vorsehen, sodass eine Patentabteilung erneut entscheidet, und dass gegen diese Entscheidung der Patentabteilung eine Beschwerde möglich ist und die Beschwerdekammer entscheidet. Ich denke schon, dass letztlich ein unabhängiges Gericht die Entscheidung treffen muss, und ich glaube, darin sind wir uns alle einig. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, verehrte Frau Justizministerin, die heutige Debatte, die mit großer Sorgfalt und, wie ich glaube, auch in gegenseitiger Achtung geführt worden ist, in der deutlich wurde, dass dieser Bundestag die Achtung der Würde des Menschen über alles stellt, zeigt der Öffentlichkeit, dass wir dieses Thema ernst nehmen, und sollte uns allen auch den Mut geben, dass wir bei den anstehenden Beratungen zur Umsetzung der europäischen Richtlinie in nationales Recht mit großer Sorgfalt, mit großer Gewissenhaftigkeit und in großer Einmütigkeit vorgehen. Ich denke, wir sind auf einem guten Weg dazu, und bedanke mich sehr herzlich bei Ihnen für die heutige Debatte. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Damit ist die Aktu- elle Stunde beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung fälliger Zahlungen - Drucksache 14/1246 ({0}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Michael Luther, Norbert Geis, Ronald Pofalla, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Durchsetzung von Forderungen der Bauhandwerker ({1}) - Drucksache 14/673 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3}) - Drucksache 14/2752 Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski Andrea Astrid Voßhoff Volker Beck ({4}) Rainer Funke b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Türk, Cornelia Pieper, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Zahlungsverzug bekämpfen - Verfahren beschleunigen - Mittelstand stärken - Drucksachen 14/567, 14/2752 Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski Andrea Astrid Voßhoff Volker Beck ({6}) Rainer Funke c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Dr. Evelyn Kenzler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Zahlungsforderungen schneller durchsetzen - Zahlungsunmoral bekämpfen - Drucksachen 14/799, 14/2752 Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski Andrea Astrid Voßhoff Volker Beck ({8}) Rainer Funke Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz, Herrn Professor Dr. Eckhart Pick, das Wort.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestag will heute das Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen beschließen. Schon in der letzten Legislaturperiode haben alle Fraktionen des Deutschen Bundestages beklagt, dass die Zahlungsmoral in Deutschland schlechter geworden sei. Dabei handelt es sich aber nicht nur um ein deutsches, sondern ebenso um ein europäisches Problem. Dies zeigt auch der Vorschlag der EU-Kommission, die dies offenbar erkannt hat und eine Richtlinie zur Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Geschäftsverkehr vorgelegt hat. Während die EU-Kommission immerhin einen Vorschlag gemacht hat, müssen wir für die vergangene Legislaturperiode aufseiten der Bundesregierung Fehlanzeige vermelden. Das muss sich jetzt ändern. Wir müssen erreichen, dass fällige Forderungen tatsächlich sofort beglichen werden. Das fordert das BGB übrigens schon seit 100 Jahren. In der Praxis wird es allerdings nicht erreicht. Gerade für kleine und mittelständische Unternehmen ist dieser Zustand untragbar. Sie sind nicht in der Lage, beliebig lange Außenstände, insbesondere solche von Bedeutung, zu überbrücken. Sie sind existenziell darauf angewiesen, dass die begründeten Forderungen auch tatsächlich erfüllt werden. Das ist sicher in erster Linie ein ökonomisches Problem. Aber auch der Gesetzgeber kann hierzu seinen Beitrag leisten. Ich füge hinzu, dass unser Recht in vielen Punkten wesentlich besser als sein Ruf ist. Wir haben in einer Handwerkerfibel des Bundesministeriums der Justiz deutlich gemacht, dass es erfolgreiche Instrumente gibt. Es gibt aber die eine oder andere Hürde, an der rechtlich unerfahrene Handwerker und kleinere Unternehmen scheitern können. Hier setzt der Gesetzentwurf zur Beschleunigung fälliger Zahlungen an. Der Rechtsausschuss hat in seiner Beschlussempfehlung ein ganzes Paket von effektiven Sofortmaßnahmen vorgelegt, um die Fallstricke für kleine und mittlere Unternehmen zu beseitigen. Er konnte sich dabei auf Vorarbeiten stützen, die in einer Arbeitsgruppe des Bundes und der Länder zur Verbesserung der Zahlungsmoral diskutiert und vorgelegt worden sind. Zentral wichtig ist in diesem Gesetzentwurf - da besteht parteiübergreifender Konsens - die Anhebung des Verzugszinses auf fünf Prozentpunkte über dem Basiszinssatz. Auch die Verbesserung der Bauhandwerkersicherungsbürgschaft wird von allen Fraktionen akzeptiert. Schließlich ist es ganz wichtig, dass künftig die Abnahme wegen wesentlicher Mängel verweigert werden darf, und zwar nur wegen wesentlicher Mängel. In der jetzt vorgeschlagenen Fassung des Koalitionsentwurfes sind aber auch eine Reihe von Maßnahmen enthalten, die in den Vorschlägen der anderen Fraktionen bislang keine Beachtung gefunden haben. ({0}) So soll zum Beispiel der Verzug bei Geldforderungen künftig 30 Tage nach Erhalt der Rechnung eintreten. Es handelt sich dabei um eine erhebliche Verbesserung gerade für die kleinen und mittleren Unternehmen, da die zusätzliche Mahnung des Vertragspartners entbehrlich wird. Der Entwurf sieht auch vor, dass Abschlagszahlungen zum gesetzlichen Leitbild des Werkvertragsrechts gehören und nicht nur dem Verhandlungsgeschick der Parteien unterliegen. In diesem Zusammenhang wollen wir auch eine Lücke in der Makler- und Bauträgerverordnung schließen. Das dort geregelte - und zwar bewährte - Abschlagszahlungsschema beim privaten Hausbau soll auch für den Fall vorgeschlagen werden, dass nur das Haus, nicht jedoch das Eigentum am Grundstück an den Verbraucher geliefert wird, also auch für den normalen Häuslebauer, um es einmal so auszudrücken. Ferner soll bei vorhandenen Mängeln der Besteller seine Vergütungszahlung künftig mindestens in Höhe des Dreifachen der für die Beseitigung des Mangels erforderlichen Kosten verweigern können. Das ist heute bereits in der Rechtsprechung anerkannt, meine Damen und Herren, und nicht eine Erfindung. Deswegen kann man auch die Vertreter der Handwerkerschaft, die hier insbesondere Probleme haben, beruhigen und sagen, hier ist der Gesetzgeber lediglich der Rechtsprechung gefolgt, die ein ausgewogenes Verhältnis sucht. Wir wollen mit diesen Bestimmungen gleichzeitig auch dem Verbraucherschutz in einem hohen Maße Rechnung tragen. Schließlich bezweckt die Regelung zur Durchgriffsfälligkeit, dass der Hauptunternehmer die vom Erwerber erhaltenen Raten auch tatsächlich an die Handwerker weiterreichen muss, die die Gewerke ausgeführt haben. Meine Damen und Herren, ich will noch einen Hinweis geben. Ich denke, dass mit diesem Gesetzentwurf zur Beschleunigung fälliger Zahlungen auch etwas anderes erreicht wird, nämlich ein weiteres Teilergebnis in unserer Justizreform. Das Ziel der Entlastung der Gerichte ist ein tragender Gesichtspunkt für den Vorschlag, mit Hilfe einer Fertigstellungsbescheinigung im Urkundsverfahren die Streitklärung zu vereinfachen und das Verfahren zu beschleunigen. Die Durchsetzung der meisten Vergütungsforderungen aus Bauwerkverträgen wird durch den Streit um Mängel behindert. Diesem Streit kann man nur entgegenwirken, indem zumindest eine grobe Klärung der Mängelfrage erfolgt. Dazu schlägt der Gesetzentwurf vor, dass das Werk als Ersatz für die Abnahme vor einem Prozess durch einen unabhängigen Sachverständigen besichtigt und begutachtet werden kann, der dann eventuelle Mängel feststellt. Die Fertigstellungsbescheinigung eröffnet dem Unternehmer den Weg in den schnellen Urkundsprozess. Davon haben sowohl der Unternehmer als auch der Besteller, der Kunde, Vorteile. Der Unternehmer weiß, dass er seinen Titel schnell bekommt, wenn er die vom Sachverständigen eventuell festgestellten Mängel beseitigt, und auch für den Besteller wirkt es sich positiv aus, dass der Unternehmer einen Anreiz hat, festgestellte Mängel tatsächlich zu beseitigen. Wir wollen in diesem Zusammenhang aber auch die Beteiligten, nämlich Handwerkskammern und Banken, dazu aufrufen, die Durchführung dieses neuen Verfahrens zu unterstützen. Es muss flankiert werden. Der Entwurf schafft zwar die Voraussetzungen dafür, dass das Verfahren zügig erledigt werden kann, aber darüber hinaus ist es wichtig, dass der Zeitraum bis zur Erfüllung der Werkforderung durch entsprechende Kredite überbrückt werden kann. Ich denke, dass die Risiken für die Kreditgeber kalkulierbar sind. Es ist nun auch Sache der Finanzwirtschaft, durch die Veränderung ihres Verhaltens gegenüber ihren Kunden einen Beitrag zur Verbesserung der Situation von Handwerkern zu leisten. Ich darf abschließend feststellen, dass der Entwurf zur Beschleunigung fälliger Zahlungen, wie er nun durch den Rechtsausschuss beschlossen worden ist - ich erkenne an, dass sich alle Fraktionen um ein Ergebnis bemüht haben und dass insofern auch ein Wettstreit der Ideen festzustellen ist -, die Situation der kleinen und mittelständischen Unternehmen verbessern wird. Auf der anderen Seite behält er ausgewogen ebenso die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher im Auge. Vielen Dank. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht Professor Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten.

Dr. Wolfgang Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und HerParl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick ren! Die Frage der pünktlichen Zahlung ist so alt wie der Zahlungsverkehr selber und die Zahlungsmoral ist eigentlich eine Frage der Redlichkeit gegenüber dem Geschäftspartner. In der Regel funktioniert dies auch ohne Beanstandung. In den Fällen, in denen besondere Risiken vorhanden sind, haben sich Vorauskasse, Nachnahme und Abbuchung eingespielt. Im Geschäftsverkehr sollte man auch heute noch den alten germanischen Rechtssatz gelten lassen: Trau, schau, wem. Das heißt, schau dir den Partner an, mit dem du Geschäfte machst; notfalls musst du es sein lassen. Das ist in einer Zeit des Wettbewerbs und des Zwanges, den eigenen Betrieb auszulasten, natürlich leichter gesagt als getan, sodass immer wieder Risikogeschäfte eingegangen werden. Das ist vor allem dann bedrückend, wenn der Abnehmer eine besonders starke wirtschaftliche Stellung hat, die er nicht nur bei der Forderung nach Preiszugeständnissen gnadenlos ausnutzt, sondern auch indem er die vereinbarten Zahlungsziele willkürlich überschreitet. Besonders stark ist diese monopolartige Stellung auf dem Bausektor, wo der Handwerker oft mit einem Bauträger oder staatlichen Behörden als Auftraggeber zu tun hat. Gerade die Letzteren, die staatlichen Auftraggeber, die eigentlich Vorbild sein sollten, auch in der Einhaltung von Zahlungszielen und vereinbarten Regelungen, haben zum Teil mit unerträglicher Verzögerungstaktik mittlere und kleine Betriebe mit Zahlungen hingehalten, sodass diese oft an den Rand der Existenzfähigkeit gerieten. Hinzu kam, dass in den 90er-Jahren in den neuen Ländern ein Bauboom ungekannten Ausmaßes aufkam, der eine Vielzahl von Hasardeuren anzog, die kleinere und mittlere Firmen, welche auch im Umgang mit Baurecht nicht so erfahren waren, in nicht hinnehmbarer Weise um ihren gerechten Lohn zu prellen versuchten, indem sie nicht oder zu spät zahlten oder mit unberechtigten Mängelrügen überhöhte Preisnachlässe mit sofortiger Zahlung „belohnten“. Die rechtlichen Instrumente des BGB - darauf hat Staatssekretär Pick bereits hingewiesen - und des HGB, die es eigentlich gab, wurden zur stumpfen Waffe in einem erst im Aufbau befindlichen Gerichtssystem der neuen Länder mit zum Teil überforderten Rechtsanwälten, Richtern, Rechtspflegern und Gerichtsvollziehern. Der Ruf nach verbesserten Instrumenten wurde daher insbesondere dort laut. Aber auch Klein- und Mittelbetriebe in den alten Ländern litten zunehmend unter dem Druck von Großbestellern. Der durch das Bauhandwerkersicherungsgesetz eingefügte § 648 a BGB erwies sich leider auch nicht als gute Waffe, weil die nach diesen Vorschriften vorhandene Berechtigung von Handwerkern, eine Sicherungshypothek zu fordern, in der Regel dazu führte, dass der Besteller spätestens beim nächsten Mal diesen Unternehmer nicht mehr berücksichtigte. ({0}) Die Mahnung, die in Verzug setzte und berechtigte, höhere Zinsen als die gesetzlichen zu verlangen, wurde von den Bestellern entweder ignoriert, oder aber der betroffene Handwerker wurde bei der nächsten Vergabe „negativ“ beschieden. Der Schadensersatz bei der Auftragseinbuße bei Nichtstellung der Sicherheit des Bestellers war schwierig zu ermitteln. Prozesse zogen sich hin, sodass dieses Instrument Bauhandwerker letztlich nicht wirksam schützte. Aus diesem Grunde hat die Fraktion der CDU/CSU noch während der vorigen Legislaturperiode den „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Durchsetzung von Forderungen der Bauhandwerker“ ausgearbeitet und vor einem Jahr vorgelegt, dem neben den Gesetzentwürfen der F.D.P. und der PDS dann auch der „Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung fälliger Zahlungen“ der Regierungskoalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen folgte. Die Verabschiedung dieses Gesetzes verzögerte sich dadurch, dass Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sich nicht einigen konnten. ({1}) - Nein. Sie konnten sich nicht einigen, lieber Herr Kollege. ({2}) In einigen Punkten können wir Ihrem Entwurf, Herr Hartenbach, zwar zustimmen. In anderen Punkten können wir Ihnen jedoch nicht folgen und hätten lieber unsere Vorschläge durchgesetzt. ({3}) Wir sind der Meinung, dass das Volumen der Bauhandwerksleistungen, das viele hundert Milliarden DM umfasst, in der Bundesrepublik Deutschland so groß ist, dass mit einem eigenen, in sich geschlossenen Bauvertragsgesetz klarere Entscheidungen getroffen werden könnten als durch die allgemeine Einarbeitung von Neuregelungen in die Verzugsregeln des BGB und in die allgemeinen Regeln des Werkvertrages. ({4}) Ob dabei die Wiederentdeckung des Gesetzes über die Sicherung von Bauforderungen vom 1. Juni 1909, also eines Gesetzes aus dem Kaiserreich, und dessen Einarbeitung in den Entwurf der CDU/CSU der Weisheit letzter Schluss war, mag dahingestellt bleiben. Aber ein eigenes Bauvertragsgesetz hätte für die Bauhandwerker, aber auch für die Besteller mehr Klarheit und Sicherheit gebracht. ({5}) Um aber die berechtigten Forderungen der Bauhandwerker zumindest teilweise zu erfüllen, haben wir im Ausschuss die jetzt vorgesehenen Verbesserungen zum Teil unterstützt. Wir werden die Verabschiedung dieses Gesetzes nicht verzögern, weil für die Betroffenen der magere „SPD-Spatz“ in der Hand immer noch besser ist als die fette Taube eines eigenen Bauvertragsgesetzes auf dem Dach, das mit dem derzeit - leider vorhandenen Mehrheiten im Parlament nicht durchgesetzt werden kann. ({6}) - Das magere „SPD-Spätzchen“ ist ja dann noch übrig. So ist die Einfügung des § 284 Abs. 3 BGB, der den Schuldner nach Ablauf von 30 Tagen nach Zugang einer Rechnung in Verzug setzt und die generellen Verzugszinsen nach § 288 Abs. 1 BGB auf 5 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz festsetzt - sie liegen in Zukunft mithin zwischen 7 und 10 Prozent -, nicht nur für die Bauhandwerker, sondern auch für alle anderen Gewerbetreibenden ein Fortschritt. Insoweit stimme ich dem zu, Herr Staatssekretär Pick. ({7}) Eines, lieber Herr Staatssekretär, lieber Herr Professor, ist nun aber anders: Manche Juraprofessoren müssen sich jetzt neue Klausurthemen für den Verzug ausdenken, weil sie nun keine Studenten mehr mit den Unterschieden in den Bestimmungen des § 284 Abs. 1 und Abs. 2 aufs Glatteis führen können. Die in der Regel in Verträgen festgesetzten Teilzahlungen werden durch den neuen § 632 a BGB, insbesondere auch hinsichtlich der Sicherheiten, präzisiert. Dem beliebten Spiel, Zahlungen durch Mängeleinrede zu verzögern, wird - zumindest teilweise - durch die Veränderungen des § 640 BGB Einhalt geboten, nach dem wegen unwesentlicher Mängel die Abnahme nicht verweigert werden kann. Dabei halten wir, weil in der Praxis sehr schwer durchführbar, die Regeln für die Bescheinigung eines Gutachters für missglückt. Hier werden wir sehen, dass das Gesetz nach einer gewissen Erfahrungszeit vereinfacht und verbessert werden muss. Die Einfügung, dass der Besteller, der die Beseitigung eines Mangels verlangen kann, die Zahlung eines angemessenen Teils der Vergütung, mindestens in Höhe des Dreifachen der erforderlichen Kosten, verweigern kann, ist, wie bereits der Herr Staatssekretär gesagt hat, quasi die Übernahme der gängigen Rechtsprechungspraxis und daher sinnvoll. Im Zweifelsfalle ist dieser erhöhbar. Eine Vereinfachung und letztlich auch eine gerechte Lösung, die auch vielfacher Gerichtspraxis entspricht, enthält der Zusatzabsatz 5 des § 648 a BGB, der dem Unternehmer ohne Nachweis einen Pauschalschaden von 5 Prozent der Auftragssumme zugesteht, wenn der Besteller die erforderliche Sicherheit nicht leistet und der Auftrag damit entfällt. Zusammenfassend ist zu sagen: Wir hätten gern mehr gehabt, und zwar durch ein eigenes Bauvertragsgesetz, das insbesondere mehr Sicherheit für die Bauhandwerker gebracht hätte. Wir übersehen aber nicht die Verbesserungen durch diese Bestimmungen und wollen sie deswegen weder verzögern noch verhindern. Wir werden uns bei der Abstimmung der Stimme enthalten. ({8}) Wenn sich die von uns befürchteten Unzulänglichkeiten und Mängel zuungunsten der Handwerker bewahrheiten, werden wir erneut und mit Nachdruck einen Bauvertragsgesetzentwurf entsprechend unserem Entschließungsantrag einbringen, dem zuzustimmen ich Sie bitte. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Helmut Wilhelm.

Helmut Wilhelm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002825, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weil von einem meiner Vorredner, Herrn Staatssekretär Professor Pick, ausführlich auf die Inhalte des neuen Gesetzes eingegangen wurde, sei es mir erlaubt, mich etwas kürzer zu fassen. Ich freue mich sehr, dass das Thema bisher doch relativ einmütig debattiert wurde, soweit das parlamentarische Oppositionsverständnis dies eben zugelassen hat, denn wir sind uns einig, dass die bei großen Teilen der Bevölkerung leider vorherrschende Einstellung - „Ich zahle erst nach Mahnung!“ - der Korrektur bedurfte. Auch die Tatsache, dass die Zeiträume, innerhalb deren fällige Geldforderungen durch die Schuldner beglichen werden, allgemein immer länger wurden und dass das vermehrte Zurückbehalten von teilweise erheblichen Forderungen kleinere und mittlere Betriebe - vor allem im Handwerk und in der Bauwirtschaft - immer öfter in finanzielle Bedrängnisse brachte, war einfach nicht mehr länger hinnehmbar. Darin besteht ebenfalls Konsens. Vor diesem Hintergrund haben wir von mehreren zielführenden Vorschlägen und Möglichkeiten denjenigen Weg gewählt - übrigens auch aufgrund von Anregungen aus der Opposition -, der nach unserer Auffassung zunächst der geradlinigste und vor allem auch der interessengerechteste Weg ist, um den negativen Umständen schnell und unverzüglich entgegenwirken zu können. Ich habe an dieser Stelle ganz bewusst das Wörtchen „zunächst“ gebraucht, denn über den vorliegenden Gesetzentwurf hinaus sind bei den Koalitionsfraktionen durchaus auch Überlegungen vorhanden, ein übergreifendes, zusammenführendes Bauvertragsrecht zu erarbeiten. Da ein Vorhaben „Bauvertragsgesetz“, das allen denkbaren Anforderungen eines umfassenden und komplexen Bauvertrags gerecht wird, aber in Anbetracht des erforderlichen raschen Regelungsbedürfnisses nicht geleistet werden konnte, mussten die von uns als wichtig erachteten vielfältigen neuen Instrumentarien zunächst in den Allgemeinen Teil und in den Werkvertragsteil des BGB eingegliedert werden. Dabei wurde von meiner Fraktion auch sehr auf Ausgewogenheit der Regelungen hinsichtlich des Verbraucherschutzes geachtet, denn bei aller Regelungsbedürftigkeit durfte eines auf keinen Fall vergessen werden: Wer gesetzliche Vorschriften auf diesem Gebiet erlässt, darf nicht einäugig nur auf die Not leidende Bauwirtschaft blicken. Auch das ohnehin schon große finanzielle Risiko der privaten Häuslebauer durfte nicht ins Unüberschaubare getrieben werden. Bei den Verbrauchern durfte keinesfalls eine bestimmte Schwelle überschritten werden, damit sie nicht von einem einmal gefassten Bauentschluss Abstand nehmen. Dies nämlich kann auch nicht im Sinn der Bauwirtschaft sein. ({0}) Für diese Überzeugung, für einen effektiven Verbraucherschutz haben wir uns vom Bündnis 90/Die Grünen stark eingesetzt. Wir befanden uns auf einer Gratwanderung, die nicht zu einer schädlichen Übersicherung der Bauindustrie führen durfte. Die notwendigen Schritte, die in Angriff genommen wurden, mussten also folgenden Kriterien genügen: Sie mussten ein ausgewogenes Verhältnis von Gläubigerund Schuldnerschutz gewähren. Sie mussten rechtsstaatlich unbedenklich sein. - So halte ich den Vorschlag der Union für eine richterliche Vorabverfügung nach wie vor nicht für vertretbar und für eines sorgfältigen und unparteilich handelnden Richters nicht würdig - Sie mussten transparent und verständlich sein und ohne großen bürokratischen Aufwand vollzogen werden können. Die Forderung nach Anderkonten etwa entspricht letzterem Erfordernis nicht. Mit dem Unionsentwurf wird vorgeschlagen, das Gesetz über die Sicherung von Bauforderungen in das BGB zu integrieren. Das konnte meines Erachtens zu nichts führen und wurde folglich von uns auch nicht berücksichtigt. Das Gesetz über die Sicherung von Bauforderungen findet ohnedies auch bisher schon weitgehend keine Beachtung und führt außerdem nicht zu einer beschleunigten Zahlung, da es lediglich dazu verpflichtet, eingehende Baugelder und ihre Verwendung in Baubüchern festzuhalten. Es besagt aber nichts darüber, ob und aus welchen Gründen Baugelder zurückbehalten werden können. Das aber ist das eigentliche Problem. Den oben geschilderten Anforderungen kann auch der Antrag der PDS nicht gerecht werden. Ja, die PDS konterkariert sogar ihren eigenen Antrag. So fordert sie zwar rechtsstaatlich unbedenkliche Schritte, verlangt aber andererseits bei Mahnverfahren, die ins streitige Verfahren übergeleitet worden sind, ein Urteil innerhalb von 120 Tagen ab Rechtshängigkeit. Wie dies bei Bauprozessen, die die Einschaltung von Sachverständigen erfordern, möglich sein soll, bleibt das Geheimnis der PDS. Ohnedies scheint der Antrag der PDS von einem grenzenlosen Misstrauen in die Justiz beseelt zu sein. ({1}) Denn in ihm ist pausenlos von Schadensersatzansprüchen gegenüber der Justizkasse die Rede und weniger von solchen der Bauvertragspartner. Das von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagene Instrumentarium orientiert sich an dem Bericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Verbesserung der Zahlungsmoral“ und den Ergebnissen der Sachverständigenanhörung des Rechtsausschusses. Es ist geeignet, den ungerechtfertigten Verschleppungen von Zahlungen wirksam entgegenzutreten und zugleich den Verbraucherschutz zu verbessern. Der bei fälligen Geldschulden automatisch eintretende Verzug nach 30 Tagen, gerechnet ab Rechnungslegung, schafft erstens Rechtsklarheit auch für den juristischen Laien - mein Vorredner, Herr von Stetten, hat schon gesagt, dass sich die Problematik von Examensklausuren in Zukunft dramatisch verringern wird - und führt zweitens dazu, dass die Zahlungsfrist „europäisiert“ wird. Die Anhebung des Verzugszinses von bisher 4 Prozent auf zukünftig 5 Prozent über dem Basiszinssatz nach § 1 des Diskont-Überleitungs-Gesetzes - das entspricht etwa einer Anhebung auf zurzeit 7 Prozent - bedeutet das Aus für die Inanspruchnahme billiger „Justizkredite“. Durch den gesetzlichen Anspruch auf Abschlagszahlungen wird der Unternehmer in die Lage versetzt, Vor- und Teilleistungen zu erbringen, ohne aufwendige Vorfinanzierungen tätigen zu müssen, wenn er dem Verbraucher Eigentum oder Sicherheit an den Sachen verschafft - übrigens wieder ein Verbraucherschutzaspekt. Die Abnahmefiktion und Abnahmepflicht bei unwesentlichen Mängeln garantiert dem Unternehmer eine schnelle Vergütung seiner Leistung. Gleichzeitig erhält der Besteller die gesetzliche Möglichkeit, einen „Druckzuschlag“ einzubehalten, wenn der Unternehmer vorhandene Mängel nicht beseitigt. Die Fertigstellungsbescheinigung erspart beiden Parteien eventuell ein gerichtliches Gutachten - zumindest beschleunigt sie ein solches -, weil sie frühzeitig Klarheit über bestehende oder nicht bestehende Mängel bringt, und animiert den Werkunternehmer, Mängel gegebenenfalls schnell zu beseitigen. Damit kann auch in diesem Instrument eine Verbraucher schützende Wirkung gesehen werden. Ich bin der Ansicht, dass uns insgesamt ein zielführender und ausgewogener Gesetzentwurf und damit ein guter Wurf gelungen ist, der die Zustimmung des ganzen Hauses verdienen würde. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.Fraktion spricht nun der Kollege Jürgen Türk.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns zum wiederholten Male mit der Beschleunigung fälliger Zahlungen in der Absicht, heute endlich dieses leidige Problem vom Tisch zu bekommen und natürlich auch eine Lösung zu finden. Nicht nur Rechnungen sind fällig. Es ist auch lange überfällig, hier wieder Ordnung zu schaffen. Die Politik muss künftig schneller handeln, denn nur schnelle Hilfe ist wirkliche Hilfe. Trotzdem gibt es quer durch alle Parteien Fundamentalisten - so sage ich das mal - die jetzt fragen, warum man zur Wiederherstellung der ZahHelmut Wilhelm ({0}) lungsmoral ein Gesetz benötige. Dies sei nur eine Sache der Liquidität und der Leistungsfähigkeit der Gerichte sowie der Unternehmen. Diesen Schlaubergern sage ich: Das stimmt fast alles, aber können wir auf die Liquidität der kleinen und mittleren Unternehmen bauen, wenn die Eigenkapitaldecke durch nicht bezahlte Rechnungen immer dünner wird? Oder wollen wir auf eine längst überfällige Justizreform - damit meine ich nicht die geplante - warten? Hoffen und Harren macht manchen zum Narren - und natürlich viele Handwerker zu Pleitiers. Hier besteht schon lange Handlungsbedarf; das richtet sich an alle, die hier sitzen. Der Staat sollte jedoch nicht zum Überregulierer, aber auch nicht zum Nachtwächter werden. Die Erhaltung des Leistungsprinzips und der Rechtsstaatlichkeit ist wohl eindeutig eine hoheitliche Aufgabe des Staates. Ich hoffe, dass wir uns wenigstens darüber einig sind. Akuter Handlungsbedarf besteht, weil es in Deutschland modern geworden ist, seine Rechnungen viel zu spät oder gar nicht zu begleichen. Dies hat nichts mehr mit Leistungsprinzip oder Rechtsstaatlichkeit zu tun. 1999 haben 29 Prozent der Schuldner, also fast ein Drittel, ihre Rechnungen nicht vereinbarungsgemäß bezahlt und die Tendenz ist steigend. Selbst wenn dies ein europäisches Problem ist, darf es nicht sein, dass wir dieses Problem nicht angehen. Kaum zu glauben, aber wahr: Laut Statistik des Betriebswirtschaftlichen Instituts der Bauindustrie brauchen Bund und Länder - das muss man hier auch einmal sagen - am längsten zur Bezahlung ihrer Rechnungen. Der jetzige Stand ist: Der Bund benötigt 95 Tage, die Länder liegen bei 90 Tagen und die Kommunen brauchen 73 Tage. Das kann mit Sicherheit nicht so bleiben. Private Investoren sind schneller - aber was heißt schon „schneller“? - , sie begleichen ihre Schulden bereits nach 55 Tagen. Trotzdem stellen private Investoren das höhere Risiko dar, weil sie öfter vorsätzlich gar nicht oder erst nach einem langjährigen Gerichtsprozess zahlen. Dieser endet häufig mit einem Vergleich und dem Ergebnis, dass die Auftraggeber nur 50 Prozent ihrer Schulden abgelten müssen. Damit kann man sicherlich nicht leben. Die schlechte Zahlungsmoral ist kein Kavaliersdelikt, als welches sie lange Zeit angesehen wurde, sondern eine im Sinne des Wortes mörderische Praxis: Sie trieb 1999 rund 3 100 Handwerksbetriebe in den Ruin. Allein dadurch sind 30 000 bis 40 000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Deshalb haben wir noch in der alten Koalition - das muss auch einmal gesagt werden - einige Maßnahmen auf den Weg gebracht, zum Beispiel die Zwangsvollstreckungsnovelle ({1}) - bitte schön - und die Neuregelung des Schiedsverfahrensrechts. Aber das Schiedsverfahrensrecht muss natürlich auch angewendet werden. Ich erneuere hier meinen Vorschlag an die Kammern und Verbände, endlich einmal gemeinsam regionale Schiedsgerichte als Pilotprojekte einzurichten, um die außergerichtliche Streitschlichtung auszuprobieren. ({2}) Wenn wir von diesen Dingen sprechen, muss ich auch an das am 1. Januar 1999 in Kraft getretene Insolvenzgesetz erinnern. Hinsichtlich seiner Umsetzung hat sich jedoch noch nichts getan. Es gibt viele unverschuldet in Zahlungsschwierigkeiten Geratene, denen mit diesem Insolvenzgesetz geholfen werden soll. Dies muss endlich in Gang gesetzt werden, damit den unverschuldet in Zahlungsschwierigkeiten Geratenen und den Gläubigern geholfen werden kann. Da diese Maßnahmen noch nicht die erforderliche Wirkung zeigten - das muss man realistischerweise sagen - , brachten die damaligen Regierungsparteien, also wir, einen entsprechenden Antrag ein, der aufgrund des Regierungswechsels natürlich nicht mehr umgesetzt werden konnte. ({3}) Deshalb wurde die F.D.P.-Fraktion im März 1999 mit dem Antrag „Zahlungsverzug bekämpfen - Verfahren beschleunigen - Mittelstand stärken“ wieder initiativ. Das Ergebnis ist der jetzt, wenn auch wieder mit Verspätung, vorgelegte Gesetzentwurf. Immerhin war unser Antrag eine positive Provokation. ({4}) Natürlich - jetzt komme ich zur Zustimmung - sind wir mit dem automatischen Verzugseintritt nach 30 Tagen einverstanden. Den Mindestverzugszins anzuheben und so die Hemmschwelle zu erhöhen, ist ebenfalls richtig, weil dies den Anreiz für einen Justizkredit ein Stück weit zurücknimmt.n Ich frage mich allerdings, warum man nur 5 Prozent auf den Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank aufschlägt; denn das Ergebnis ist: Wir erhöhen von 4 Prozent auf 7,68 Prozent, also auf knapp 8 Prozent, und der Überziehungskredit der Bank kostet immer noch über 10 Prozent. Diese Lücke haben wir immer noch nicht ganz geschlossen. Ich hätte es lieber gesehen, wenn wir uns der europäischen Norm angepasst hätten; denn sie liegt meines Erachtens auch über 5 Prozent. ({5}) Dass man künftig wegen unwesentlicher Mängel die Bezahlung nicht mehr verweigern kann, ist ebenfalls gut und richtig; ebenso, dass der Auftraggeber einen angemessenen Teil der Vergütung einbehalten kann, um auf die Beseitigung von Mängeln hinwirken zu können. Das muss natürlich gesichert sein. Man kann sich darüber streiten, ob das Dreifache das richtige Maß ist. Es muss aber eine Möglichkeit geben, dass Mängel beseitigt werden. Für sinnvoll halte ich ferner, dass in Zukunft für Hauptunternehmer die Verpflichtung besteht, nach erfolgter Zahlung auch die Rechnungen der Nachunternehmer, also die der kleinen Unternehmer zu begleichen. Bei der Fertigstellungsbescheinigung, die der Abnahme gleichgesetzt werden soll, ist meines Erachtens zu beachten, dass die Gutachtersuche und die Gutachtnenerstellung nicht wieder unzumutbare Verzögerungen hervorrufen. Ich denke, hier kann man die ohnehin durchzuführenden Bauabnahmen einbeziehen. Hinsichtlich des § 648a BGB, der so genannten Handwerkersicherung, könnte ich mir schon vorstellen, dass aus der jetzigen Kann- eine Mussbestimmung, für die ich immer gekämpft habe, gemacht wird. ({6}) Eines ist natürlich klar: Die Kannbestimmung wird nicht wirksam. Das ist in der Praxis nun einmal so. Wir haben in der interfraktionellen Arbeitsgruppe zusammengesessen, und wenn wir ein wenig intensiver beraten hätten, hätten wir auch eine praktikable Lösung finden können. Wir wollen aber noch nachbessern; vielleicht können wir das dann auf diesem Weg erreichen. Über den Gesetzentwurf hinaus bleibt es notwendig, dass in einem zweiten Schritt die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Schuldner eine Zwangsvollstreckung durch Vermögensverschiebung nicht mehr vorsätzlich verhindern können. Das ist ein schwieriges Problem, aber ich glaube, wir müssen es trotzdem angehen, damit nicht kriminell gehandelt und Vermögen verschoben wird. Alles in allem aber, Herr Hartenbach, ist das Gesetz ein Fortschritt. Deshalb wird die F.D.P. dem Gesetz auch zustimmen. ({7}) Allerdings sollte es laufend auf seine Wirksamkeit hin überprüft werden. Es nützt nichts, ein Gesetz nur um seiner selbst willen zu machen. Nach In-kraft-treten sollten nach angemessenen Fristen Prüfberichte vorgelegt werden. Wir sollten das also in der Praxis begleiten. Stellt sich heraus, dass sich die Zahlungsmoral nicht wesentlich verbessert hat, sind in Abstimmung mit Unternehmen und Verbänden - darauf lege ich Wert - sofort Nachbesserungen im Gesetz vorzunehmen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die Fraktion der PDS hat nun der Kollege Rolf Kutzmutz.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über die Notwendigkeit, das Problem mangelnder Zahlungsmoral anzugehen, gab und gibt es kaum unterschiedliche Auffassungen. - Herr von Stetten, wenn es nur am Schauen und Trauen liegt, dann muss ich sagen: Offensichtlich trügt der Schein allzu oft. Das wäre aber noch das kleinere Problem. Das größere ist, dass sich die Zechprellerei regelrecht zum Volkssport entwickelt hat und viele kleine Betriebe darunter leiden. - ({0}) Das Problem „Zahlungsverzug und Zahlungsmoral“, für das heute eine gesetzgeberische Lösung gefunden werden soll, ist weder neu, noch ist seine Brisanz von unserer Fraktion bisher gering geschätzt worden. Vor fast einem Jahr, im April 1999, befasste sich dieses Haus erstmals in dieser Wahlperiode mit drei Initiativen zu diesem Thema. Diese drei sollen heute nun für erledigt erklärt werden, um einem Koalitionsentwurf Gesetzeskraft zu verleihen. Herr Kollege Wilhelm, Sie haben vorhin ausführlich die Redebausteine vom April 1999 verwandt, als Sie das eingeschätzt haben, was die PDS geleistet hat. Sie sollten zumindest eingestehen, dass sie eine der drei Fraktionen war, die etwas eingebracht haben. Sie sollten auch eingestehen, dass eine Vielzahl von Vorschlägen durchaus sinnvoll ist. Auch wenn Sie mit einigen Vorschlägen nicht einverstanden sind, haben die restlichen dazu gedient, dass die Koalition überhaupt einen ordentlichen Vorschlag vorlegen konnte. Das sollte man in aller Fairness zugestehen. ({1}) Ich habe diesen Ablauf noch einmal beschrieben, weil ich meine: Für einige vernünftige - und hoffentlich auch effektive - Dinge wurde viel zu viel Zeit vertan. Über die heute zu beschließende Anhebung und Flexibilisierung des gesetzlichen Verzugszinses herrschte schon vor einem Jahr Einigkeit. Die automatische 30-Tage-Frist des In-Verzug-Geratens, sofern nicht ausdrücklich etwas anderes vereinbart wurde, ist ebenfalls ein begrüßenswerter Fortschritt zugunsten der Gläubiger. Sie entbürokratisiert und verbilligt darüber hinaus etwas die Titulierung von Forderungen. Deshalb werden wir uns als PDS-Fraktion dem Gesetz nicht verweigern. Darüber hinaus, so fürchte ich - ich rechne gleich mit Ihren vehementen Protesten - , werden die neuen Regelungen aber weitgehend folgenlos bleiben. Schon in der Anhörung Ende September deutete sich an: Das nun einzuführende Bescheinigungsverfahren bei Streit um Mängel oder Fertigstellung eines Werkes wird bestenfalls ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Gutachter, aber kein wirksames Instrument zur Beschleunigung fälliger Zahlungen. Dieses Grundproblem, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, konnte auch in der Ausschussarbeit nicht beseitigt werden. Dort kamen darüber hinaus sogar Veränderungen zustande, die dem selbst gesetzten Ziel, Verbesserung der Zahlungsmoral, aus meiner Sicht widersprechen. Nur beispielhaft nenne ich den ersatzlosen Wegfall der für § 641 BGB ursprünglich vorgeschlagenen Regelung, wonach bei Mängeln dennoch die Vergütung fällig wird, wenn der Unternehmer für das Dreifache der bescheinigten Mängelbeseitigungskosten Sicherheit leistet. Dadurch wird der allseits kritisierten, regelrecht grassierenden Methode der Zahlungsverweigerung durch Mängelrüge nicht nur nicht entgegengewirkt, sondern sogar noch Vorschub geleistet; denn jetzt heißt es, dass der Besteller bei Mängeln die Vergütung mindestens in Höhe des Dreifachen der für die Beseitigung des Mangels erforderlichen Kosten verweigern kann. Was aber, wenn vielleicht demnächst Gerichte die Zurückhaltung der gesamten Vergütung für angemessen halten, nur weil der Gesetzgeber das bisher Übliche nun als Mindestwert definiert? Das neue Gesetz droht also in vielen Teilen folgenlos zu bleiben oder die Lage gar zu verschlimmbessern. In dem Fall sage ich ausdrücklich das, was auch Herr Türk gesagt hat: Es muss betrachtet werden, wie das Gesetz wirkt. Wir sollten Vereine, Verbände und Betroffene immer wieder mit einbeziehen, um zu prüfen, wie es in der Praxis ankommt. Dieses „Verschlimmbessern“ gilt allerdings auch für den CDU/CSU-Entwurf. Ich meine seinen Schwerpunkt „richterliche Vorabverfügung für Teilbeträge“. Das umgesetzt würde nichts gewonnen, weil jeder Richter entweder auf Gutachten warten muss oder sich einer Lawine von Befangenheitsanträgen der verklagten Besteller aussetzen müsste. Deshalb müssen wir auch Ihren Entschließungsantrag ablehnen. Ihre Forderung nach Modernisierung des Gesetzes über Sicherung von Bauforderungen, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, ist bekanntlich auch die unsrige. Vor allem stimmen wir ausdrücklich Ihrer Feststellung zu, dass die heute zu beschließenden Maßnahmen nicht ausreichen, mangelnder Zahlungsmoral wirksam und auf Dauer beizukommen. Wir hoffen, dass viele Anregungen unseres, aber auch des F.D.P.-Antrages nach der heute zu erklärenden Erledigung nicht zu den Akten gelegt und verstauben werden, sondern immer wieder zurate gezogen werden, wenn es entsprechende Anlässe gibt. So sollte die Zentralisierung der Mahngerichte oder die Beschleunigung von Mahnverfahren durch Wegfall des gesonderten Antrages auf Erlass eines Vollstreckungsbescheides bei der anstehenden Justizrefom noch einmal bedacht werden. Im heute abzuschließenden Gesetzgebungsverfahren war der Blick allzu sehr auf Gerichtsprozesse fixiert. Es muss aber vielmehr um Maßnahmen gehen, damit solche Prozesse wesentlich seltener werden, um Maßnahmen, durch die von vornherein deutlich öfter als bisher eine Leistung bezahlt wird. Nur das ist letztlich die Lösung des gesellschaftlichen Problems. Danke schön. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe der Kollegin Jelena Hoffmann für die SPD-Fraktion das Wort.

Jelena Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002681, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ob der Begriff Zahlungsmoral aus Ostdeutschland kommt, weiß ich nicht. Aber ich weiß, was viele ostdeutsche Unternehmer mit diesem Wort verbinden. Sie denken dabei an die Liquiditätsschwierigkeiten, an die Eigenkapitaldecke, die bei uns immer noch sehr dünn ist, und an die Insolvenz, die unerwartet und sehr oft unverschuldet vor der Tür steht. Ich will nicht sagen, dass die mangelnde Zahlungsmoral nur ein ostdeutsches Problem ist, aber in Ostdeutschland ist sie ein Problem. Deshalb müssen wir sehen, dass wir mit diesem Gesetz fällige Zahlungen beschleunigen. Wir müssen darauf achten, dass wir das Problem nicht nur für eine Branche lösen, zum Beispiel für die Baubranche, sondern für alle Bereiche. Wir sollten dabei auch nicht vergessen, dass ein Handwerker ein Gläubiger, aber auch ein Schuldner sein kann. Das heißt, dass das Gesetz ausgewogen sein muss, wobei das Hauptziel bleibt, dass die berechtigten Forderungen schneller beglichen werden müssen. Dafür sieht das Gesetz unter anderem vor, dass 30 Tage, nachdem die Rechnung eingegangen ist, der Verzug einsetzt. Der lange Weg mit der ersten, zweiten, dritten Mahnung wird jedem Fliesenleger in der Zukunft erspart. Damit wird das gerichtliche Mahnverfahren auch beschleunigt. Schneller geht es auch mit der Fertigstellungsbescheinigung. So wird dem Hickhack mit den angeblichen Mängeln am Werk ein Riegel vorgeschoben. Vom Unternehmer kann ein Gutachter bestellt werden, der feststellen muss, ob das Werk nun Mängel aufweist oder nicht. Wenn nicht, dann kann eine Fertigstellungsbescheinigung ausgestellt werden, damit der Urkundenprozess stattfinden kann. Wichtig ist, dass wir unterscheiden müssen, warum ein Werk, zum Beispiel ein Gebäude, nicht abgenommen und bezahlt wird. Geschieht das, weil ein kleiner Kratzer in der Ecke entdeckt wurde oder weil die ganze Heizung nicht funktioniert? Man muss schon unterscheiden, ob die Mängel wesentlich oder unwesentlich sind. Wenn ein Handwerker wirklich gepfuscht hat, was natürlich auch vorkommen kann, dann kann das Dreifache der Beseitigungskosten von der Auftragssumme abgezogen werden. Der Rest muss aber bezahlt werden. Einen Durchbruch haben wir auch in der Frage der Bezahlung von Subunternehmen erreicht. Das ist gerade für kleine und kleinste ostdeutsche Unternehmen wichtig. Wenn der Hauptauftragnehmer sein Geld bekommen hat, darf er das Geld nicht zurückhalten, sondern muss er es - so sieht es das Gesetz vor - an die Subunternehmer weitergeben. Damit erreichen wir, dass Elektriker, Klempner und Heizungsmonteure das Geld für ihre Leistungen bekommen, sobald der Hauptauftragnehmer das Geld erhalten hat. Der so genannte Justizkredit wird in diesem Fall nicht mehr möglich sein. Er wird übrigens auch nicht mehr interessant sein, weil wir den Verzugszins deutlich erhöhen. Ein großes Problem, das die Handwerker uns immer wieder vorgetragen haben, waren die unbezahlten Vorleistungen. Ich kann mich noch erinnern, wie mir sächsische Dachdecker ganz aufgeregt erzählt haben, dass sie in der Zukunft die Dachziegel vom Dach herunterholen werden, weil sie die Dachziegel bezahlt und eingebaut haben, aber das Geld dafür nicht bekommen. Liebe Handwerker und besonders natürlich liebe sächsische Dachdecker, in der Zukunft wird das nicht nötig sein. Wir führen nämlich einen gesetzlichen Anspruch auf Abschlagszahlungen für Teilleistungen und auch Material ein. Ich muss schon sagen, dass die Handwerker viele Forderungen an uns gestellt haben. ({0}) Mit unserem Gesetz haben wir für die meisten Antworten gefunden. Wir wollen übrigens, dass das Gesetz erst am 1. Mai in Kraft tritt. Wir geben damit allen die Gelegenheit, sich mit den neuen Regelungen des Gesetzes vertraut zu machen. Ich bin mir absolut sicher, dass die Handwerkskammern, aber auch die IHKs die positiven Auswirkungen unseres Gesetzes erkennen werden. ({1}) Wir werden den Unternehmen das neue Gesetz gemeinsam erklären und wir werden die Unternehmen unterstützen, damit sie den Kampf gegen die schlechte Zahlungsmoral gewinnen. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht Kollege Dr. Michael Luther. ({0})

Dr. Michael Luther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was lange währt, wird gut - das hätte ich heute an dieser Stelle gern gesagt. ({0}) Es ist leider nicht der Fall. Ich kenne das Gesetz und ich weiß, wie es wirken wird. Das Bauhandwerk braucht dringend Hilfe. Jeden Tag gehen Bauunternehmer wegen uneinbringbarer Forderungen und wegen gewollter Zahlungsverzögerungen in Konkurs. Wir wissen das seit langem. Helfen wir wirklich? Dem Bundestag lagen jetzt zwei Gesetzentwürfe zur Beratung vor. Es ist also nicht so, dass wir uns nicht mit dem Problem befasst haben. Wir kennen alles ganz genau und wissen um die Ursachen. Was ist getan worden? Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat bereits vor einem Jahr einen gut vorbereiteten Gesetzentwurf eingebracht, ({1}) der dem Bauhandwerk wirklich helfen würde. Die Beratungen über diesen Gesetzentwurf wurden von Ihnen lange Zeit verschleppt. ({2}) Wir hätten schon im Frühjahr des letzten Jahres eine Anhörung durchführen und uns mit Sachverständigen über das Gesetz auseinander setzen können. Aber erst nach der sächsischen Landtagswahl, am 29. September, durfte es eine Anhörung zu diesem Gesetz geben. ({3}) - Nein, das ist die Wahrheit. - Aber es ging noch weiter. ({4}) Ich möchte den Beratungsverlauf kurz beschreiben: Berichterstattergespräche wurden angesetzt, die dann mehrfach verschoben wurden. Warum? Ich kann es Ihnen sagen: Sie wurden verschoben, weil Ihre Justizministerin, Frau Herta Däubler-Gmelin - ich schätze sie ansonsten sehr - , in der Öffentlichkeit mehrfach angekündigt hatte, was sie alles machen wolle. Nur, ein Gesetzentwurf lag nicht vor. Das heißt, eigene Vorstellungen von Ihnen gab es lange Zeit nicht. ({5}) Im Beratungsverfahren habe ich auch erfahren, dass Sie nicht bereit waren, die von uns dargebotene Hand anzunehmen und angesichts des schwierigen rechtlichen Felds einen gemeinsamen Entwurf auf den Tisch zu legen. Sie haben uns lediglich vor vollendete Tatsachen gestellt. Wir konnten nur noch Ja oder Nein sagen. Wir sind der Meinung: Viele Fragen bleiben offen. Aus diesem Grunde können wir dem Gesetzentwurf leider nicht zustimmen. ({6}) Ich möchte den Inhalt des Gesetzes wie folgt beschreiben - Herr Kollege Wolfgang Freiherr von Stetten hat es schon getan - Das Gesetz enthält eine Reihe von sinnvollen Regelungen, die wir unterstützen. Das Gesetz enthält nach meiner Ansicht auch eine Reihe von nutzlosen Regelungen, die unschädlich sind und deswegen auch nicht hätten aufgenommen werden müssen. Aber das Gesetz enthält auch eine Reihe von schädlichen Regelungen. Das ist das Problem. Lassen Sie mich ein paar Punkte ansprechen, von denen ich meine, dass sie dringend verbessert oder veränJelena Hoffmann ({7}) dert werden müssten. Sie geben den Bauhandwerkern Steine statt Brot. Weil Sie aus rein ideologischen Gründen nicht den Wortlaut unseres Gesetzentwurfes übernehmen wollten, nämlich dass eine Abnahme nur bei wesentlichen Mängeln verweigert werden kann, erfinden Sie erst den Begriff der Geringfügigkeit und später den der Unwesentlichkeit, wohl wissend, dass beide völlig neue Rechtsbegriffe sind und dass erst die Rechtsprechung klären muss, was diese Begriffe eigentlich bedeuten. Die Handwerker brauchen jetzt Hilfe. ({8}) Anstatt auf die Regelung der VOB zurückzugreifen, die den durch die Praxis der Rechtsprechung geklärten Begriff der wesentlichen Mängel enthält, erfinden Sie neue Rechtsbegriffe. Sie geben den Bauhandwerkern Steine statt Brot. Ich hätte mir an dieser Stelle die Einsetzung einer Kommission zur Gesetzesfolgenabschätzung gewünscht; denn die Frage, was mit dem Gesetz eigentlich bewirkt werden soll - darüber haben wir gesprochen -, konnten weder Sie noch die Vertreter der Regierung und auch nicht die Sachverständigen beantworten. ({9}) - Nein, auch ich kann es nicht beantworten, aber ich hätte diese Regelung auch nicht so beschlossen. Die Errichtung eines Bauwerks, die Renovierung eines Hauses, die Leistungen eines Friseurs und die Herstellung eines Werbespots unterliegen genau demselben Recht, nämlich dem Werkvertragsrecht. Das ist nicht mehr zeitgemäß. Die moderne Bauwirtschaft weist heute so viele Besonderheiten und Spezifika auf, die sich nur noch schwer unter einem allgemeinen Werkvertragsrecht subsummieren lassen. Diese Erkenntnis hatten wir bereits vor einigen Jahren beim Reisevertragsrecht. Deswegen ist im BGB hierfür ein eigenständiger Regelungsteil eingeführt worden. Bislang weigern Sie sich, so etwas auch für den technisch viel komplizierteren Baubereich einzuführen. Deshalb bleiben auch die neuen Regelungen zum Teil unverständlich und lassen Spielraum für Interpretationen mit meiner Meinung nach teilweise nicht vorhersehbaren Folgen für die Bauwirtschaft. Um Zahlungsflüsse kontrollieren und um sicherstellen zu können, dass Baugeld für eine Bauleistung tatsächlich zur Bezahlung des Bauhandwerkers genutzt wird, der die Bauleistung erbracht hat, ist die Modernisierung des Gesetzes über die Sicherung der Bauforderungen vom 1. Juni 1909 notwendig. Ich meine, dann könnte man böswilligem oder betrügerischem Handeln begegnen, weil man nämlich im von uns vorgeschlagenen Baubuch nachlesen könnte, was mit dem Baugeld passiert. Sie haben zwar zugesagt, dass auf diesem Gebiet etwas getan werden soll. Ich vermute aber, dass das Ihre Strategie ist, um dieses Thema auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben. ({10}), Herr Luther!) Sagen Sie nicht, dass es in diesem Fall keine brauchbare Lösung gab. Ich verweise an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich auf unseren Gesetzentwurf. ({11}) Wir haben einen Versuch unternommen, eine brauchbare Formulierung vorzulegen. Sie haben noch nicht einmal ansatzweise versucht, sich mit diesem Gedanken zu beschäftigen, ihn möglicherweise zu ergänzen und zu verbessern; vielmehr haben Sie unseren Lösungsansatz von vornherein ad acta gelegt. Ich denke, das Baubuch wäre wirklich ein Beitrag gewesen, um Schwarzarbeit ernsthaft zu bekämpfen. ({12}) Sie sind stolz auf Ihre Fertigstellungsbescheinigung. Das klingt gut, weil es die Abnahme eines Bauwerkes erleichtern und damit mutwilliger Abnahmeverweigerung entgegenwirken soll. Allerdings wird die Fertigstellungsbescheinigung nur erteilt - das muss ich sagen -, wenn es überhaupt keinen Mangel gibt. Damit wird es auch eine Fertigstellungsbescheinigung nicht geben; denn einen mangelfreien Bau - das zeigt uns die Praxis - gibt es leider nicht. Die Experten haben Sie bereits in der Anhörung im September auf die Probleme der Fertigstellungsbescheinigung hingewiesen. Sie haben das zwar überarbeitet; aber Sie waren nicht bereit, im Rahmen des Berichterstattergesprächs die Sachverständigen einzuladen, um sich hinsichtlich der neuen Formulierungen noch einmal beraten zu lassen. ({13}) Wir haben das dann ohne Sie durchgeführt. Wir wollten keine neue Anhörung. Es wäre nicht fair gewesen, sich mit diesem Thema in dieser Form zu befassen. Ein Problem bleibt - das haben uns die Sachverständigen bestätigt, mit denen wir gesprochen haben -: Sie schaffen ein Instrument, das die Abnahme nicht erleichtert; vielmehr fügen Sie eine Instanz ein, die für den Bauhandwerker zusätzliche Kosten verursacht. Ein zentrales Problem der Handwerker ist jedoch, dass bei einem totalen Forderungsausfall, also zum Beispiel beim Konkurs eines Generalübernehmers, der Handwerker alles verliert. Er sieht seine eingebauten Materialien, den Heizungsofen und das gedeckte Dach. Allein durch den Einbau ins Gebäude verliert er seinen Anspruch auf Eigentum und kann es deshalb nicht wieder wegnehmen. Ihre Regelungen zu § 648 a BGB - ich zitiere aus einem Brief der Landesinnung des sächsischen Dachdeckerhandwerks - bringen „eine wesentliche Verschlechterung“ der bisherigen Situation. Das zentrale Anliegen der Bauhandwerker, einen adäquaten Ersatz für einen Eigentumsvorbehalt zu schaffen, bleibt ungelöst. Die Handwerker berührt diese Frage bis ins Mark. Über 180 Handwerker haben sich im September nach Berlin aufgemacht, um in der Anhörung durch ihre Anwesenheit deutlich zu machen, dass die Angelegenheit sie wirklich zutiefst berührt. Sie haben uns gebeten, ihnen in diesem Punkt zu helfen. Ich kann Ihnen sagen: Wir helfen den Handwerkern in ihrem Anliegen, das sie vorgetragen haben, nicht. ({14}) Die Union erwartet, dass Sie die angekündigten Arbeiten zum eigenständigen Bauvertrag, so wie es auf der Justizministerkonferenz am 10. Novem-ber 1999 beschlossen wurde, zügig in Angriff nehmen, damit wenigstens in absehbarer Zeit eine Verbesserung für die Not leidenden Handwerker zustande kommt. Die Bundesregierung stützt das Bauhandwerk weder durch das Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen noch durch andere Maßnahmen, die sie zu verantworten hat. Durch Rücknahme von öffentlichen Investitionen gerade in den neuen Bundesländern gehen weitere Aufträge verloren. Eines ist klar: Zur Beschleunigung fälliger Zahlungen wird dieses Gesetz nicht wesentlich beitragen. Von den vollmundigen Ankündigungen der Regierungsfraktionen aus dem letzten Jahr ist nicht viel geblieben. Die Vorschläge zeigen, dass die Probleme des Handwerks von der SPD nicht verstanden worden sind. ({15}) Mit diesem Gesetz wird Tausenden von Handwerksbetrieben, die auf die Unterstützung des Gesetzgebers bei ihren Problemen gehofft haben, nicht geholfen. Danke schön. ({16})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzter Redner in dieser Debatte spricht nun für die SPD-Fraktion der Kollege Dirk Manzewski.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am heutigen Tag sprechen wir im Deutschen Bundestag abschließend über das Thema Zahlungsmoral. Meine beiden Vorredner, vor allen Dingen der liebe Kollege Herr Dr. Luther, hat nun den Gesetzentwurf der Regierungskoalition kritisiert, aber - das ist bezeichnend - zum eigenen Gesetzentwurf inhaltlich überhaupt nichts gesagt. ({0}) Das hat natürlich seinen guten Grund. Ebenso wurden einige wesentliche Aspekte etwas vernachlässigt, die von entscheidender Bedeutung sind. So zum Beispiel, dass auf Initiative der Justizministerinnen und Justizminister des Bundes und der Länder eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Verbesserung der Zahlungsmoral“ gebildet worden ist, die nach mehreren Sitzungen, einer Verbandsanhörung und einer Sachverständigenanhörung zu dem Ergebnis gekommen ist, dass der Entwurf der Regierungskoalition bei weitem der durchdachtere und effektivere ist. Herr Luther, das hätten Sie heute hier einmal sagen sollen. ({1}) Die Idee eines reinen Bauvertragsgesetzes, wie es die Union vorschlägt, ist zwar nicht grundsätzlich abgelehnt worden, die Bund-Länder-Arbeitsgruppe ist aber zu der vorsichtig formulierten Auffassung gelangt - ich zitiere -, dass es insoweit noch „einer näheren Untersuchung“, „einer näheren Prüfung“ und „einer vertiefenderen Erörterung“ bedarf. Das meine auch ich, Herr Luther. ({2}) Wenn man nun auch noch berücksichtigt, dass Vertreter der Union in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe die Mehrheit gestellt haben, dann weiß man auch ganz genau, wie man diese doch rücksichtsvollen Formulierungen richtig zu interpretieren hat. Weniger diplomatisch hätte man den Entwurf der Union auch als ganz großen juristischen Mumpitz bezeichnen können. ({3}) Anschauen, Kollege Luther, darf man sich Ihren Gesetzentwurf nämlich nicht genauer. ({4}) - Hören Sie doch einmal zu. Wenn Sie ein bisschen Ahnung von der Materie haben, können Sie mich ja widerlegen. Den Handwerkern geht es grundsätzlich und vorrangig darum, ihre berechtigten Forderungen schneller beglichen zu bekommen. Nur hierdurch geraten sie nicht in Liquiditätsengpässe und damit nicht in die Gefahr einer Insolvenz. Der Entwurf der CDU/CSU hilft ihnen insoweit jedoch überhaupt nicht weiter. Kollege Luther, es reicht nicht aus, wenn man, indem man einige Vorschriften aus der VOB, einige Vorschriften aus dem GSB und einige Vorschriften aus dem BGB nimmt, meint, ein eigenständiges Bauvertragsrecht und damit eine Hilfe für das Handwerk geschaffen zu haben. Das einzige, was Sie geschaffen haben, ist ein Berg sinnloser Vorschriften, mehr nicht. ({5}) Das Schlimmste daran ist aber, meine Damen und Herren, dass dieser so geschaffene Vorschriftenberg überhaupt nur bei einer ganz geringen Vertragskonstellation gelten würde. Man muss sich ohnehin schon fragen, wieso nur Bauhandwerker von so einem Gesetz profitieren sollen. Das Problem der Zahlungsmoral betrifft mittlerweile viele Verträge. Was die Redner der Union jedoch wohlweislich verschwiegen haben, ist, dass sich ihr Gesetzesentwurf noch nicht einmal auf alle Bauverträge, bzw. auf das, was man damit bezeichnet, bezieht. So ist zum Beispiel der gesamte typische Einfamilienhausbau hiervon nahezu ausgeschlossen. Wie wichtig jedoch gerade dieser Bereich für das Handwerk ist, zeigt die momentane Krise in der Bauwirtschaft. Das ist aber noch nicht alles. Selbst bei den übrigen Bauverträgen kommt der Gesetzentwurf der Union kaum zur Anwendung. Nach dem Gesetzeswortlauf der Union sollen nur Verträge für Werke an einem Bau geschützt sein. Der Wortlaut ist eindeutig. Errichtet jemand zum Beispiel für eine Firma ein Gebäude, so würde er sich sicherlich auf die von der Union angedachten Vorschriften berufen können. Was ist jedoch mit all den Verträgen, die er sodann selbst zur Realisierung seines Bauvertrages abschließt? Was ist zum Beispiel mit den Verträgen über Türen, Fenster, Fensterbänke usw. usw., die er in der Regel nicht selbst herstellt, sondern anfertigen lässt? Allenfalls, wenn diese von den herstellenden Firmen auch selbst eingebaut werden, was meistens nicht der Fall ist, würden hier die Regelungen des Gesetzentwurfes der CDU/CSU nach dessen Wortlaut „Werk an einem Bau“ zur Anwendung kommen. Ansonsten nicht. Nun mag man mir erklären, warum für den einen Fensterbauer das Bauvertragsgesetz gelten soll, für den anderen aber nicht. Beide haben ein Fenster gebaut, es liegen jeweils Werkverträge vor; der Unterschied besteht lediglich im Einbau. Das verstehe, wer will, Herr Dr. Luther. Der Entwurf der Union hätte sogar die Konsequenz, dass derjenige, der ein Fenster baut, aber nicht selbst einbaut, leer ausgeht, während demjenigen, der das Fenster nur einbaut, das Bauvertragsrecht der Union zugute kommen würde. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann doch nun wahrlich nicht sein. ({6}) Was ist weiter mit den Verträgen zur Einrichtung der Baustelle wie denen zur Bereitstellung des Baustroms? Was ist mit den Verträgen zur Begleitung des Bauvorhabens wie denen zur Errichtung eines Gerüstes? Die Union hat den Handwerkern - insbesondere in Sachsen und Sachsen-Anhalt - zumindest suggeriert, dass sie alle von ihrem Gesetzentwurf profitieren werden. Die Wahrheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sieht, wie dargelegt, leider ganz anders aus. Es existiert im Gesetzentwurf der Union auch keine einzige sinnvolle Vorschrift, mit der Handwerker ihre Ansprüche schneller gerichtlich geltend machen könnten. Finden lässt sich hierin lediglich eine so genannte Vorabverfügung, das heißt, der Richter soll im Laufe eines Verfahrens nach billigem Ermessen über Teile des Anspruchs entscheiden können. ({7}) - Zu dieser Anhörung komme ich gleich. Ich habe die letzten Monate genutzt, um über das heute hier zu behandelnde Thema in meiner Heimat mit Unternehmern und Juristen ausgiebig zu diskutieren. Außerhalb des Bundestages haben sich von circa 40 Juristen lediglich zwei dafür ausgesprochen. Der eine war der ehemalige Innenminister meines Bundeslandes von der CDU, der andere der Sachverständige Dr. Raum aus der schon angesprochenen Anhörung. ({8}) Wie sich in der Anhörung herausstellte, Herr von Stetten, ist dieser jedoch nicht unmaßgeblich an der Idee der so genannten Vorabverfügung beteiligt gewesen. Wobei es im Übrigen schon bezeichnend ist, Herr Dr. Luther, wenn man denjenigen, auf dessen Gedanken der eigene Gesetzentwurf offenbar zumindest mit beruht, als unabhängigen Sachverständigen benennt, ohne diesen Umstand darzulegen. Aber das spricht für Sie. ({9}) Wie soll ein Richter auch eine Entscheidung treffen, wenn die Entscheidungsreife fehlt? Ohne Sachverständige ist ein Richter kaum in der Lage, Baumängel fehlerfrei einzuschätzen. So können unscheinbare Feuchtigkeitsschäden im Obergeschoss eines Hauses die ersten Anzeichen für schwere Mängel des Daches sein, mit der Folge, dass dieses gegebenenfalls völlig erneuert werden muss. Kürzlich habe ich mir ein Einfamilienhaus angesehen, in dem das Fußbodenparkett an mehreren Stellen Wellen aufwies. Ansonsten war es optisch ein tolles Haus. Der Mangel war Gegenstand eines Gerichtsverfahrens. Das Gericht hatte einen Sachverständigen bestellt, der zu dem Ergebnis gekommen war, dass das Fundament des Hauses nicht winterfest und das Aufbrechen des Parketts ein erstes Anzeichen für das Brechen des gesamten Fundamentes gewesen ist. Ergebnis: Es lag eine Bauruine vor! Liebe Kolleginnen und Kollegen, die sich in der Materie auskennen: Welcher Richter wird sich der Gefahr einer solchen Fehlentscheidung aussetzen? Was sich die Union hier ausgedacht hat, hat nichts mit Ermessen zu tun, sondern geht eindeutig in Richtung Willkür. ({10}) Meine Damen und Herren, bei vernünftiger und fachlicher Betrachtung kann man deshalb nur zu dem Schluss kommen: Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, lieber Dr. Luther, § 651 m bis x, das ist nix! ({11}) Wenn wir tatsächlich etwas für die Betroffenen erreichen wollen, müssen wir an den richtigen Stellen ansetzen - und das sind vor allem die der Fälligkeit und des Verzugs. Genau dies tut der Gesetzentwurf der Regierungskoalition. Da wir bereits inhaltlich ausführlich hierüber diskutiert haben, will ich mich - nicht zuletzt in Anbetracht der geringen Zeit, die mir noch zur Verfügung steht - ich nur noch auf die wesentlichen Punkte beschränken. Die Verzögerung der Begleichung berechtigter Forderungen muss wirtschaftlich unattraktiv gemacht werden. Dem kommt unser Gesetzentwurf durch eine deutliche Anhebung des Verzugszinssatzes nach. Niemand soll mehr statt des teuren Bankkredites lieber den billigeren Gläubigerkredit in Anspruch nehmen können. Der gewählte Zinssatz von 5 Prozent über dem Basiszinssatz ist dabei nicht, wie der von der Union vorgeschlagene, aus der Luft gegriffen, sondern bereits durch das Verbraucherkreditgesetz in der Praxis erprobt. Der angestrebte Zinssatz lässt daher erwarten, dass er sich dauerhaft mit dem tatsächlich entstandenen Verzugsschaden deckt. Indem wir dem Handwerker grundsätzlich die Möglichkeit eröffnen, bei vertragsgemäßer Leistung für in sich abgeschlossene Teile eines Werks Abschlagszahlungen zu verlangen, geben wir ihm die Möglichkeit, größere Liquiditätsengpässe zu vermeiden und auf diese Weise keine großen Forderungsausfälle entstehen zu lassen. Die Rechtsstellung des Unternehmers werden wir dadurch verbessern, dass wir im Gesetz deutlich machen, dass eine Abnahme nur bei wesentlichen Mängeln verweigert werden darf. Der Auftraggeber soll also nicht mehr bei jedem noch so unbedeutenden Mangel gleich den gesamten Werklohn zurückbehalten können. Dies entspricht im Wesentlichen bereits der heutigen Rechtsprechung. Der Schutz des Auftraggebers bleibt dabei gewahrt, da er die für die Beseitigung des unwesentlichen Mangels erforderlichen Kosten nebst einem Druckzuschlag zurückbehalten kann. Zudem wollen wir durch unser Gesetz klarstellen, dass die unberechtigte Verweigerung der Abnahme einer Abnahme gleichsteht. Dem kleinen Handwerker werden wir gegenüber dem Bauträger bzw. Generalunternehmer dadurch helfen, dass wir seine Forderung bereits dann fällig werden lassen, wenn letzterer aufgrund der Herstellung des Werks hierfür das Entgelt oder Teile davon kassiert hat. Der Bauträger bzw. Generalunternehmer soll also nicht mehr, wie bisher in der Praxis häufig beobachtet, vom Hauptauftraggeber den Werklohn kassieren und die Zahlung gegenüber demjenigen, der das Werk eigentlich hergestellt hat, mit dem Hinweis auf vermeintliche Mängel verweigern dürfen. Mit der so genannten Fertigstellungsbescheinigung werden wir den Handwerkern bei verweigerter Abnahme wegen vermeintlicher Mängel die Möglichkeit einer vorläufigen Titulierung ihres Vergütungsanspruchs schaffen. Hierdurch wird der Anreiz, einen Bauprozess durch mutwillige Mängeleinreden in die Länge zu ziehen, verloren gehen. Da die Parteien bereits vor einem teuren Gerichtsverfahren das Prozessrisiko einschätzen können, gehen wir zudem davon aus, dass wir dadurch viele Prozesse vermeiden können. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil für das Handwerk wird zudem die Stärkung der Bauhandwerkersicherheit bringen. Dieses Schwert des Unternehmers zur Absicherung gegen den Konkurs des Auftraggebers war bisher stumpf. Zwar durfte der Unternehmer den Vertrag kündigen und Schadenersatz verlangen, wenn der Auftraggeber hierzu nicht bereit war. Die Darlegung des Schadens war aber in der Praxis häufig schwierig. Die pauschalierte Festsetzung einer Schadensvermutung wird dem Handwerker dies abnehmen und den Auftraggeber eher dazu animieren, dem Unternehmer die ihm gesetzlich zustehende Sicherheit zu verschaffen. In gleicher Weise wird im Übrigen der Handwerker geschützt, dem der Auftraggeber im unmittelbaren Zusammenhang mit einer Sicherheitsforderung zuvorkommen will, und den Vertrag selbst kündigt. Meine Damen und Herren, wenn wir von Zahlungsmoral reden, dann reden wir insbesondere darüber, dass Rechnungen grundsätzlich immer später beglichen werden. Das geht mittlerweile so weit, dass in der Bevölkerung vielfach der Eindruck entstanden ist, man müsse erst nach einer zweiten Mahnung zahlen. Dieser Eindruck ist jedoch ebenso falsch wie fatal. Fällige Forderungen sind grundsätzlich sofort zu begleichen. Die Mahnung dient lediglich dazu, den Verzug herbeizuführen, um einen weiter gehenden Schaden geltend zu machen. Dies wollen wir verdeutlichen, indem wir die Mahnung bei Geldforderungen entbehrlich machen und den Verzug automatisch 30 Tage nach Fälligkeit und Zugang einer Rechnung eintreten lassen. Dies entspricht im Wesentlichen im Übrigen dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie zur Bekämpfung des Zahlungsverzuges im Handelsverkehr und der Rechtslage der meisten europäischen Staaten, die eine Mahnung - wie bei uns - überhaupt nicht kennen. Meine Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung, dass das Maßnahmebündel im Gesetzentwurf der Regierungskoalition zu einer beschleunigten Zahlung fälliger Forderungen und damit zu einer erheblichen Verbesserung der Situation unserer Unternehmer führen wird. Gleichzeitig soll hiermit das letzte Wort nicht gesprochen worden sein. Wir sehen durchaus die besonderen Probleme in der Bauwirtschaft. Ob wir zukünftig zu einem reinen Bauvertragsrecht kommen, bedarf jedoch einer intensiveren und viel eingehenderen Untersuchung als bisher. Dies haben wir zugesagt; wir werden uns darum kümmern. ({12}) Erlauben Sie mir abschließend noch einige kurze Anmerkungen. Ich möchte der Justizministerin für die hervorragende Mitarbeit und den Einsatz ihres Hauses danken. ({13}) Zum ersten Mal seit langem wird wieder aus dem Bereich der Justiz nicht nur von Mittelstandsförderung geredet, sondern es wird dafür etwas getan. ({14}) Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, hatten dazu jahrelang Zeit; Sie haben aber nichts bewegt. ({15}) Aber seit wir an der Regierung sind, kommen Ihnen nur so die Gedanken - immerhin ein Vorteil. ({16}) Kollege Luther, wenn Sie hier der Regierungskoalition Verzögerungstaktik vorwerfen, dann muss ich unser erstes Berichterstattergespräch im Dezember erwähnen. Seinerzeit bin ich davon ausgegangen, dass der Bericht der Bund-Länder-Arbeitskommission die Grundlage unseres Gespräches sein kann. Ich erinnere mich noch gut daran, wie Sie damals unvorbereitet aufgetaucht sind und so getan haben, als wüssten Sie von nichts. Wir waren im Übrigen dazu bereit, eine Woche später das nächste Berichterstattergespräch zu führen. Zu diesem Zeitpunkt hatten Sie aber keine Zeit, weil die Weihnachtsferien kurz bevorstanden. ({17})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Manzewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Luther?

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, nicht von Herrn Luther. Ich will zum Schluss meiner Rede kommen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Manzewski, dann muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie Ihre Redezeit schon längst überschritten haben. ({0}) Noch ein paar Sätze und dann müssen Sie zum Schluss kommen.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist in Ordnung. Ich beende meine Rede mit einer letzen Bemerkung. Herr Kollege Luther, selbstverständlich werden wir darauf achten - das sichere ich Ihnen zu -, inwieweit unser Gesetz tatsächlich den von uns erhofften und meiner Auffassung nach eintretenden Erfolg bringen wird. Sollte er wider Erwarten, so wie Sie es suggerieren, nicht eintreten, werden wir unser ohnehin schon gutes Gesetz sicherlich weiter verbessern. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Michael Luther. ({0})

Dr. Michael Luther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Ich will mich nicht zu dem äußern, was Herr Manzewski gesagt hat. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Luther, die Kurzintervention ist dazu gedacht, dass man konkret auf den Vorredner eingehen kann.

Dr. Michael Luther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will konkret auf eine Bemerkung von ihm eingehen. Er hat wiederum die Mär erzählt, wir hätten 16 Jahre nichts getan. Ich will ihn fragen, ob er mir Recht gibt, dass das Problem aufgrund der Konjunktur am Bau insbesondere in den neuen Bundesländern erst nach 1996 aufgetreten ist. ({0}) Ich meine, deswegen konnte man vorher gar nichts tun. Wir haben dieses Problem in den Jahren 1996/97 erkannt und es seinerzeit bereits im Deutschen Bundestag behandelt. Es gab einen Antrag im Deutschen Bundestag, der im Jahre 1998 von der damaligen Regierungskoalition verabschiedet worden ist. Wir haben unsere eigenen Vorgaben ernst genommen, haben uns mit dem Problem beschäftigt, über die Wahlpause einen Gesetzentwurf erarbeitet - dies geschah gemeinsam mit dem Freistaat Sachsen; das ist richtig - und diesen dann vorgelegt. Sie können uns also nicht vorwerfen, dass wir nichts gemacht haben. Wir haben uns dieses Problems beizeiten angenommen. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zur Erwiderung erhält der Kollege Manzewski das Wort.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Luther, das Problem der Zahlungsmoral ist alt. Es ist nicht erst 1996 aufgetaucht, sondern existiert schon ungefähr seit 20 Jahren. Aber selbst wenn wir vom Jahr 1996 reden, wäre ja Zeit genug gewesen, einen konkreten Gesetzentwurf vorzulegen. ({0}) Wenn Sie sagen, Sie hätten die ganze Sache angeschoben: Heute ist die Justizministerin von SachsenAnhalt zugegen. Sie könnte Ihnen einiges dazu sagen, wer die Sache angeschoben hat. Sie waren es nicht, Herr Luther. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zunächst zu den Abstimmungen zu Ta- gesordnungspunkt 5 a. Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzent- wurf zur Beschleunigung fälliger Zahlungen auf den Drucksachen 14/1246 und 14/2752, Buchstabe a. Zu dieser Abstimmung liegt eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung des Bundestages vor, unterzeich- net vom Kollegen Dr. Michael Luther und zwölf weite- ren Kollegen*). Die Erklärung wird zu Protokoll genommen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? ({0}) Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. bei Enthaltungen der CDU/CSU-Fraktion und der PDS angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. ({1}) Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetz- entwurf ist mit dem gleichen Stimmergebnis wie in der zweiten Beratung angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zu dem soeben angenommenen Gesetzentwurf auf Drucksache 14/2772. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie- ßungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt. Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Verbes- __________ *) Anlage 2 serung der Durchsetzung von Forderungen der Bau- handwerker auf Drucksache 14/2752, Buchstabe b. Der Ausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf auf Drucksa- che 14/673 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für die- se Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Ent- haltung der Fraktion der PDS mit den Stimmen des Hau- ses im Übrigen angenommen. Tagesordnungspunkt 5b: Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Zahlungsverzug bekämpfen - Verfahren beschleunigen - Mittelstand stärken“, Druck- sache 14/2752, Buchstabe c. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/567 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange- nommen. Tagesordnungspunkt 5c: Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Zahlungsforderungen schneller durchset- zen - Zahlungsunmoral bekämpfen“ Drucksache 14/2752, Buchstabe d. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/799 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion der PDS mit den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen. Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b sowie die Zusatzpunkte 8 und 9 auf: 6. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Marita Sehn, Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Agrodiesel tanken - Gasölbetriebsbeihilfe abschaffen - Drucksache 14/2384 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forstn Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit b) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU Heizöl als Kraftstoff für die deutsche Land- und Forstwirtschaft - Drucksache 14/2690 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias Weisheit, Annette Faße, Iris Follak, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke, Kerstin Müller ({4}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wettbewerbsposition für die deutsche Landwirtschaft verbessern und nachhaltige Entwicklung der Landwirtschaft und der ländlichen Räume sichern - Drucksache 14/2766 - ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kersten Naumann und der Fraktion der PDS Betriebliche Obergrenze von 3 000 DM Gasölbeihilfe zurücknehmen - Drucksache 14/2795 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Kollegen Matthias Weisheit für die Fraktion der SPD das Wort

Matthias Weisheit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002458, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über mehrere Anträge, die eines gemeinsam haben: Die Steuerbelastung für den Treibstoff landwirtschaftlicher Maschinen, die in den EU-Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich gehandhabt wird und zu starken Wettbewerbsverzerrungen führt, soll harmonisiert werden. Ausdrücklich genannt wird dieses Ziel allerdings nur im Antrag der Koalition. Die Opposition setzt den Weg fort, den sie in 16 Jahren Regierungsverantwortung gegangen ist, nämlich mit nationalen Steuermitteln das auszugleichen, was man auf europäischer Ebene zu regeln versäumt hat. ({0}) Den Kommissionsentwurf für eine europäische Harmonisierung gibt es länger als die rot-grüne Regierung. Er war aber nie ein Schwerpunkt europäischer Bemühungen der alten Regierung. Annähernde Wettbewerbsgleichheit ist aber nur auf europäischer Ebene zu erreichen. Das gilt nicht nur für die Treibstoffbesteuerung, sondern auch für die Mehrwertsteuersätze oder die von uns Agrarpolitiker in den letzten Monaten immer wieder beschäftigenden Probleme im Pflanzenschutz. Auch hier haben wir von der alten Regierung ein Erbe übernommen, das in der Frage der fairen Wettbewerbschancen im Bereich der landwirtschaftlichen Sonderkulturen möglicherweise noch gravierendere Probleme aufwirft als die Treibstoffbesteuerung. ({1}) - Keine Zwischenfrage. Nein. Wie gesagt, die CDU/CSU macht es sich sehr einfach. Sie fordert „Heizöl in den Tank der Traktoren“ und kann sich sicher sein, auf Bauernversammlungen mit dieser Forderung viel Beifall einzuheimsen. ({2}) Es fragt sich, warum Sie diese anscheinend so einfache Lösung nicht schon vor drei, vier oder fünf Jahren in Antragsform gegossen und umgesetzt haben. ({3}) Denn schon damals gab es ordentliche Steuerunterschiede innerhalb der EU. Ich gehe sicher nicht fehl in der Annahme, dass Ihre Umweltpolitiker - aus gutem Grund übrigens - und Ihr Finanzminister Derartiges verhindert haben. Es macht auch überhaupt keinen Sinn, mineralischen Treibstoff in der Landwirtschaft so billig zu machen, dass Treibstoff aus nachwachsenden Rohstoffen, die die Landwirtschaft produziert und die angesichts der Überschüsse und des dadurch bedingten Preisverfalls im Bereich der Nahrungsmittelproduktion zu einem immer wichtigeren Standbein der Landwirtschaft werden, aus betriebswirtschaftlichen Gründen keinerlei Chance hat, auch in der Landwirtschaft eingesetzt zu werden. Unser Ziel muss es sein, Treibstoff, den die Landwirte herstellen, in erster Linie in der Landwirtschaft zu verwenden. ({4}) Da gilt es noch technische Probleme zu lösen - dafür haben wir im Haushalt Geld eingesetzt -, aber auch Denkbarrieren einzureißen. Meine Damen und Herren, der F.D.P.-Antrag, der auch zur Diskussion steht, fordert zwar ebenfalls Heizöl statt Diesel, was wir aber aus den genannten Gründen, aber auch aus finanziellen Gründen nicht verantworten könnten. Die Einsparaktionen der Koalitionsregierung waren doch umungänglich, weil uns die alte Regierung einen Schuldenberg hinterlassen hat, bei dem jede vierte Steuermark zur Zinsleistung benötigt wurde. Aus dieser Verantwortung können Sie sich nicht stehlen, auch wenn Sie dies gern tun würden. ({5}) Auch hier gilt, was ich anfangs gesagt habe: Sie können nicht in Europa Kriterien für den Euro beschließen, die zu absoluter Haushaltsdisziplin zwingen, und im Nachhinein so tun, als wären Sie bei der ganzen Veranstaltung nicht dabei gewesen und könnten die ungehemmte Ausgabenpolitik so weitertreiben wie bisher. Die F.D.P.-Forderung nach Heizöl statt Diesel ist wie die der Union ordentlicher Wahlkampf, aber völlig unseriös. Mit dem Hinweis - leider nur in der Begründung -, die aufgrund der Abschaffung der Gasölbetriebsbeihilfe frei werdenden Mittel im Agrarhaushalt für die Gemeinschaftsaufgabe einzusetzen, gibt es durchaus eine Gemeinsamkeit. Mit unserem Antrag, der die Einführung eines festen Steuersatzes für Argradiesel beinhaltet, schaffen wir die Vizepräsident Rudolf Seiters Voraussetzung, die Gemeinschaftsaufgabe in dieser Legislaturperiode so zu bedienen, dass die Länder, die kofinanzieren müssen, keinerlei Grund zur Klage haben werden. ({6}) Vielmehr werden einige Länder Probleme haben, ihre Möglichkeiten voll auszuschöpfen. ({7}) Wir werden- wegen der Notwendigkeit, im Jahre 2001 die Gasölverbilligung für das laufende Jahr bezahlen zu müssen, erst im Jahr 2002 in der Agrarsozialpolitik neue Akzente setzen können. Voraussetzung hierfür ist aber, dass bei der überfälligen Reform bei den Trägern des agrarsozialen Sicherungssystems Nägel mit Köpfen gemacht werden. Zuschüsse aus Mitteln der Steuerzahler sind in einer Branche, die seit Jahrzehnten einem immensen Strukturwandel unterworfen ist, gerechtfertigt und notwendig. Aber Solidarität innerhalb des Berufsstandes und eine optimale Verwaltungsstruktur sind Voraussetzung für diese staatlichen Leistungen. Wir haben die Bäuerinnen und Bauern mit den Gesetzen zur Einkommensteuerreform, zur Ökosteuer und zur Haushaltskonsolidierung belastet. ({8}) - Ich wiederhole: Wir haben sie belastet. - Deshalb ist unser Ansatz richtig, bis zur Harmonisierung der Treibstoffbesteuerung in Europa, die die Regierung vorantreiben wird, die Wettbewerbsfähigkeit auch durch einen stabilen Steuersatz für Agrardiesel zu sichern, gleichzeitig aber den von den Landwirten produzierten Biodiesel betriebswirtschaftlich nicht ins Abseits zu stellen. Gestatten Sie mir an dieser Stelle noch ein Wort des Dankes. - Leider muss ich zum Schluss kommen; die Zeit rennt. - Ich möchte mich bei allen aus meiner Fraktion und der Fraktion der Grünen bedanken, die daran mitgewirkt haben, dass wir zu der Entlastung um 700 Millionen DM gekommen sind. ({9}) - Ja, natürlich! 700 Millionen DM mehr Geld als bisher bedeuten eine Entlastung, darüber braucht man gar nicht zu diskutieren! ({10}) Ich bedanke mich bei meinen Kollegen, die das mitgetragen haben, insbesondere bei Landwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke und bei Hans Eichel, der die Mindereinnahmen letztlich verkraften muss. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Albert Deß.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte über die Energiekostensituation in der Landwirtschaft ist deshalb notwendig, weil die Landwirtschaft durch die von RotGrün getragene Bundesregierung laufend mit neuen Belastungen konfrontiert wird. Man kann, Herr Minister, die rot-grüne Agrarpolitik auch als „NullachtfünfzehnPolitik“ bezeichnen: null Entlastung für unsere Bauern, dann werden unseren Bauern acht Belastungen von 15 angekündigten zugemutet und der Minister lässt sich feiern, dass das Ganze nicht gar so schlimm gekommen ist. ({0}) Unter dem Strich bedeutet dies aber, dass unsere Bauern im Wettbewerb schwere Nachteile gegenüber ihren europäischen Kollegen hinnehmen müssen. ({1}) Ich bin auch der Meinung, dass diese rot-grüne Agrarpolitik die Existenz vieler bäuerlicher Betriebe in unserem Land gefährden wird. Besonders ärgert mich, dass im Sozialbereich so unsozial gehandelt wird. Minister Funke fordert in Presseerklärungen, dass unsere Landwirtschaft wettbewerbsfähiger werden müsse. ({2}) Das ist in Anbetracht der Politik, die Sie, Herr Minister, zu verantworten haben, ein reines Ablenkungsmanöver. ({3}) Wie soll denn die deutsche Landwirtschaft wettbewerbsfähiger werden, wenn diese Bundesregierung ihr laufend neue nationale Belastungen aufbürdet? ({4}) Wer pausenlos von der Wettbewerbsstärkung der deutschen Landwirtschaft spricht, muss auch danach handeln. ({5}) Die von der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P. geforderte Möglichkeit, Heizöl als Kraftstoff für die deutsche Landwirtschaft zuzulassen, ist ein entscheidender Schritt zur Stärkung der deutschen Landwirte im Wettbewerb. Eine solche Regelung hat auch den Vorteil, dass keine eigene Vertriebslogistik notwendig ist. Bei der jetzt vorgesehenen Regelung mit Agrardiesel wird mir berichtet, dass nach Auffassung des Mineralölhandels zusätzliche Kosten entstehen werden. Bei Heizöl als Kraftstoff in der Landwirtschaft ist auch die Kontrolle denkbar einfach. Es ist kein bürokratischer Aufwand notwendig. Mit dieser Maßnahme würde die Wettbewerbsfähigkeit unserer Landwirte innerhalb der Europäischen Union, auch im Hinblick auf die nächste WTORunde, entscheidend gestärkt. Es ist doch in diesem Hause weitgehend unbestritten, dass unsere Landwirtschaft wichtige Funktionen für unser Land erfüllt und Grundlage für Millionen von Arbeitsplätzen ist. Deshalb sollten wir hier einen breiten Konsens für eine Entscheidung zugunsten der deutschen Landwirte finden. An den finanziellen Zwängen darf dies nicht scheitern. ({6}) Wenn wir wollen, dass unsere Landwirtschaft weiter ihre vielfältigen Aufgaben erfüllt und dadurch Arbeitsplätze gesichert werden, müssen wir gemeinsam dafür sorgen, dass sie auf der Kostenseite entlastet wird. Eine solche Entscheidung ist auch ein positives Signal für unsere jungen Landwirte und ein Zeichen, mit dem wir ihnen wieder Mut für die Zukunft machen können. Dies ist ein Mosaikstein, dem jedoch viele andere hinzugefügt werden müssen. Während die deutsche Landwirtschaft seit der rotgrünen Regierungsübernahme einseitig national belastet wird, erhöhen andere Länder ihre Agrarförderungen. ({7}) Der australische Landwirtschaftsminister hat kürzlich ein Hilfspaket für die australischen Milchfarmer in Höhe von 2,18 Milliarden DM beschlossen. Es ist interessant, wie dieses in Australien finanziert wird - ich habe es bereits gestern den Kollegen dargestellt -: In Australien wird auf den Verbraucherpreis für Milch eine Abgabe von 14 Pfennig pro Liter erhoben, damit dieses Paket finanziert werden kann. ({8}) Warum diskutieren wir nicht gemeinsam über ähnliche Wege, damit unsere Landwirtschaft auch in Zukunft ihre Aufgaben erfüllen kann? Wir von der Opposition sind bereit, mit der Regierung darüber zu diskutieren. ({9}) An diesem australischen Vorgehen ist interessant, dass die Farmer anscheinend auch in dem Land, in dem eine Liberalisierung am heftigsten gefordert wird, nicht in der Lage sind, zu Weltmarktagrarpreisen Milch zu produzieren. Sonst wäre dieses Hilfspaket in Höhe von 2,18 Milliarden DM nicht notwendig. Bezogen auf die Förderung pro Farmer übersteigt das bei weitem das, was in Europa für die Milchbauern ausgegeben wird. Eine in die Zukunft gerichtete nationale Agrarpolitik, die unseren Bauern Chancen für die Zukunft gibt, muss die deutsche Landwirtschaft auf der Kostenseite entlasten und nicht belasten, wie dies durch die Bundesregierung laufend erfolgt. Die einseitige Ökosteuerbelastung der Landwirtschaft ist eine Ungerechtigkeit, die so nicht hingenommen werden kann. ({10}) Die CDU/CSU-Fraktion fordert die Bundesregierung auf, ihren Reden Taten folgen zu lassen und die deutschen Bauern spürbar zu entlasten. Die von Rot-Grün angekündigte Entlastung ist nur der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein. Die Einführung des Agrardiesels mit einem festen Steuersatz von 57 Pfennig pro Liter ab 2001 und die Verwendung der im Rahmen der Gasölrückerstattung frei werdenden Mittel für die Agrarsozialpolitik bzw. für die in diesem Zusammenhang bestehende Gemeinschaftsaufgabe und im Rahmen der Förderung nachwachsender Rohstoffe bewirken eine Entlastung, die sich im Vergleich zur gigantischen Belastung der deutschen Landwirtschaft sehr bescheiden ausnimmt. Die Wettbewerbsverzerrungen durch die unterschiedlichen Dieselsteuersätze innerhalb der Europäischen Union werden nicht beseitigt. Ein Liter deutscher „Agrardiesel“ wird immer noch rund doppelt so viel kosten wie zum Beispiel für die französischen und dänischen Bauern ein Liter Treibstoff. Deshalb fordert die CDU/CSU-Fraktion, unseren Bauern den Einsatz von Heizöl als Kraftstoff zu gestatten. Dann wird der Liter Treibstoff nur mit einer Steuer in Höhe von 12 Pfennig belastet. Man könnte dann zumindest bei den Kraftstoffkosten von fairen Wettbewerbsbedingungen in Europa sprechen. Wie ich erfahren habe, werden die Österreicher einen ähnlichen Weg beschreiten. Sie werden den Dieseltreibstoff mit einer Steuer in Höhe von 13 Pfennig pro Liter belasten. Warum gehen wir in Deutschland nicht einen ähnlichen Weg? Ich glaube, gerade im Energiebereich ist es wichtig, dass die Produktionskosten niedriger werden, weil nur dann die Produktion in unserem Lande bleibt. ({11}) Herr Minister, ich hatte vor kurzem eine Diskussion mit einem Kollegen der Grünen in Bayern. Er hat sich darüber aufgeregt, dass bei uns die Verbraucher Blumen kaufen, die aus Kolumbien bzw. aus Südafrika eingeflogen werden. Wenn jetzt in Deutschland die Landwirte und die Gärtner im Energiebereich mehr belastet werden, dann werden in Zukunft noch mehr Flugzeuge Blumen aus dem Ausland nach Deutschland bringen und die Produktion wird sich von Deutschland weg verlagern. Das Ganze wäre dann auch ein ökologischer Unsinn. ({12}) Deshalb müssen wir gemeinsam darum ringen, einen Weg zu finden, der deutschen Landwirtschaft Rahmenbedingungen zu geben, sodass sie wieder Mut für die Zukunft schöpfen kann und sich unsere jungen Bauern wieder trauen, den Beruf des Bauern langfristig auszuüben, und sie auch in Zukunft die Chance haben, Bauern bleiben zu können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort der Kollegin Ulrike Höfken für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Fangen wir an beim Thema Wettbewerb! Ich denke, nicht nur hier setzen wir uns ständig darüber auseinander; erinnern wir uns an die Diskussion gestern mit den Amerikanern. Sie sagen immer, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft werde geschmälert durch die viel bessere Situation in anderen europäischen Ländern. Ich will nur einmal daran erinnern - und dies nicht zum ersten Mal -, dass es auch in sechs anderen europäischen Ländern Ökosteuern gibt. Es gibt Steuern auf Pestizide; es gibt Steuern auf Stickstoff. Von argrarsozialer Sicherung haben viele europäische Mitgliedsländer überhaupt noch nie etwas gehört. Wenn Sie vergleichen, dann vergleichen Sie aber richtig, und zwar mit allen Elementen, die es gibt. Da sieht Deutschland überhaupt nicht so schlecht aus. ({0}) Frankreich nimmt die Modulation wahr, Großbritannien tut das und ist in der Diskussion. Wenn wir einen europäischen Vergleich anstellen wollen, sollten wir uns einmal in einer richtig ernsten Diskussionsrunde ansehen, wo denn die Wettbewerbsvor- und -nachteile Deutschlands liegen. ({1}) Nächster Punkt: politische Rahmenbedingungen, die auch den Wettbewerb bestimmen. Da zeichnet sich doch seit vielen Jahren mehr und mehr ab, dass es gerade im Rahmen der WTO-Verhandlungen die Greenbox ist, die in Zukunft Fördergrundsätze für Naturschutz, für Umweltschutz, für Arbeitsplätze, für gesellschaftliche Leistungen ({2}) - für den Tierschutz, genau! - bestimmen wird. Dafür werden Förderungsleistungen gezahlt. Und was hat die alte Bundesregierung gemacht? Sie hat die Möglichkeiten, in diesen Wettbewerb einzusteigen, regelrecht verhindert und nichts davon eröffnet. ({3}) Das ist ein entscheidender Fehler. Wenn man von Wettbewerb redet, dann muss man diese Belange doch wahrhaftig mit einbeziehen. ({4}) Zum Bereich Garantie. Es gibt zurzeit in Europa eine Diskussion, der auch ich nicht gerade mit Begeisterung gegenüberstehe - Minister Funke ja auch nicht -, um die Agenda 2000 und deren Bestand bis zum Jahre 2006. ({5}) - Wir haben das gebilligt, aber wir haben nicht gebilligt, dass es jetzt schon wieder erodiert. ({6}) - Das hat gar nichts damit zu tun; das hat mit einer europapolitischen Entwicklung zu tun, die andere Dinge notwendig macht und der man sich ebenfalls stellen muss. Das hat mit den Erdbeben in der Türkei zu tun, die wir nicht bestellt haben - die Türken ganz offensichtlich auch nicht -; ({7}) das hat mit den Aufbaunotwendigkeiten im Kosovo zu tun, die ich auch nicht sehr komisch finde. Ich denke, alle diese Anforderungen an die europäischen Haushalte führen dazu, dass im Bereich „Garantie“ eine Entwicklung stattfinden wird, die eine - ich drücke es einmal so aus - „produktbezogene Förderung“ immer unsicherer macht. Das heißt, es muss auch hier das haben Sie genauso wie wir immer betont - eine zunehmende Unabhängigkeit der Landwirtschaft vom Staat geben und man muss diese Möglichkeit wahrnehmen, muss sie initiieren und muss die Zeichen der Zeit sehen wollen. Das tun Sie gerade nicht, indem Sie letztlich nichts anderes tun, als immer wieder die staatlichen Maßnahmen einzuklagen, die genau diese Situation, die man seit vielen Jahren voraussehen kann, letztendlich doch nicht bewältigen helfen. ({8}) Der dritte Punkt: Was hat denn die alte Bundesregierung getan, ({9}) wenn sich die Bauern doch so „wohl fühlen“ konnten was man an den durchaus nicht gerade optimalen Einkommenserlösen ablesen konnte? Sinkende Betriebszahlen, sinkende Einkommen waren doch das Ergebnis. Eine unglaubliche gesellschaftliche Isolation, die es gerade schwer macht, jetzt Einkommen am Markt zu erlösen, ist das Ergebnis. ({10}) Oder nehmen wir einmal die Milchquoten! Die alte Bundesregierung hat nichts dazu getan, diese enorme Kostenbelastung im Milchsektor wirklich anzugehen. ({11}) Jetzt gibt es endlich eine Reform. Jetzt gibt es einen Kompromiss - gut, den hätte man sich anders denken können. Jammern Sie jetzt nicht über die Mehrwertsteu8366 ern, die daraus entstehen können. Sie waren es, die für eine Börse waren. Sie müssen sich jetzt etwas anderes überlegen. Zur Sozialversicherung. Sie beklagen sich über die hohen Kosten der Sozialversicherung. Stimmt, ja, die sehen wir auch. Aber wer hat denn diese überfällige Reform letztlich versäumt ({12}) und wer hat es denn versäumt, eine Zukunftsfähigkeit dieser Systeme herzustellen und damit auch eine Entlastung der Betriebe zu erreichen? Wir sind es, die diese Aufgaben jetzt angehen. Wir alle sagen ja nicht, dass das leichte Aufgaben sind. ({13}) Agrodiesel. Auch dieser Bereich ist nicht angegangen worden. Sie sagen jetzt, das sei nicht notwendig gewesen, weil die Beihilfen niemals in der Diskussion gewesen seien. Stimmt nicht! Wir wissen sehr genau, dass wir in jedem Haushalt darum gerungen haben. Letztendlich ist das ein guter Weg. ({14}) - Das darf ich nicht so laut sagen. ({15}) Außerdem ist der Agrarhaushalt in Ihrer Regierungszeit um 17 Prozent gekürzt worden. Auf jeden Fall haben wir letztendlich eine Lösung erreicht, nämlich ein Kombinationsmodell: Wir haben neue Wege gesucht, um eine Entlastung herbeizuführen und um die Ziele der Unternehmensteuerreform auch in der Landwirtschaft umzusetzen. Wir hoffen, dass Sie uns dabei unterstützen. Erstens: Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und Sicherung der Arbeitsplätze. Natürlich wollten wir etwas im Bereich der Belastungen auf dem Treibstoffsektor tun - und haben es auch geschafft. Die jetzt gefundene Regelung trägt zur Stabilisierung und zur Entbürokratisierung bei. Der Steuersatz von 57 Pfennig ist ein Mittelsatz; er liegt zwischen den Steuersätzen für Treibstoff für Industriemaschinen und für die Maschinen, die für den Transport gedacht sind. Heizöl einzubeziehen ist eine absurde Forderung. Zum einen ist es umweltrechtlich gar nicht möglich, zum anderen werden Sie ja der Landwirtschaft wohl einen gewissen Anteil an der Straßenbenutzung nicht absprechen wollen. Zweitens. Mit dem Kombinationsmodell sind auch deutliche ökologische Signale verbunden, nämlich eine Unterstützung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe für umwelt- und besonders für naturschutzpolitische Ziele. Drittens: eine soziale Komponente. Wir haben die Möglichkeit, im Bereich der Zukunftssicherung der Sozialversicherung über Beitragsentlastungen im Rahmen einer effizienten Reform der Sozialversicherungsträger unterstützend zu helfen. ({16}) Ich denke, wir werden da auf den richtigen Weg kommen. So kurzfristig, wie wir das gerne möchten, geht das leider nicht. Auf jeden Fall wollen wir in absehbarer Zeit zu einer Lösung kommen, die gerade die kleinen und mittleren Betriebe im süddeutschen Raum entlastet. ({17}) Mit der Novellierung des Stromeinspeisungsgesetzes, mit dem Programm zur Markteinführung der erneuerbaren Energien, mit der Förderung der biogenen Treibstoffe machen wir die Betriebe zukunftsfähig. Diese Maßnahmen haben ein Volumen von über 100 Millionen DM; hinzu kommen übrigens noch Einsparungen durch die Verbilligung des Stromes in Höhe von etwa 300 Millionen DM. ({18}) Dadurch eröffnen wir die Möglichkeit, sich von Kosten zu entlasten und Einkommen zu erzielen. Ich denke, insgesamt ist das ein Weg, der dem Ziel, die Zukunftsfähigkeit der Landwirtschaft zu sichern, wahrscheinlich sehr viel näher kommt als all das, was Sie gemacht haben. Danke schön. ({19})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.Fraktion spricht nun der Kollege Ulrich Heinrich.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon beachtlich, was man heute zu hören bekommt. ({0}) Nach langem, zähem Ringen hat sich die F.D.P. letztendlich durchgesetzt: Unnötige Bürokratie, die im Jahr etwa 100 Millionen DM kostet, wird abgebaut. ({1}) Die Gasölbetriebsbeihilfe soll nach Aussage des Herrn Ministers abgeschafft; stattdessen soll ein dritter Mineralölsteuersatz eingeführt werden. So weit, so gut nach meiner Meinung sogar sehr gut. Das war ein ausgezeichneter und richtiger Schritt. Wir waren die Ersten, die diesen Vorschlag im Ausschuss eingebracht haben. Damals hat noch der gesamte Ausschuss müde gelächelt und gesagt: Das kriegt ihr nie fertig. - Minister Funke hat das aufgegriffen und durchgesetzt. Ich bin ihm - ich sage das so deutlich - dankbar dafür. ({2}) Was aber dann die Regierung in Aussicht gestellt hat und was Herr Weisheit und Frau Höfken als Erfolg verkaufen wollen, bedeutet genau das Gegenteil dessen, was in Wirklichkeit getan wird. Herr Minister Funke, die Belastungen für unsere Bauern nehmen auch im Kraftstoffbereich zu und nicht ab. Ihre Stellung im Wettbewerb wird nicht verbessert, sondern verschlechtert. Mit dem durchgängigen Steuersatz von 57 Pfennig Mineralölsteuer pro Liter Diesel bedeutet dies, dass noch nicht einmal die zusätzliche Belastung in Höhe von 900 Millionen DM, die in Form der Ökosteuer eingeführt worden ist, kompensiert wird. ({3}) Die zusätzlichen Belastungen werden nicht kompensiert. ({4}) Die mittlerweile von Ihnen, Herr Funke, eingestandene überproportionale und ungerechte Belastung des Agrarsektors durch die Ökosteuer muss deshalb vollständig ausgeglichen werden. Man darf die Mehrbelastung in Höhe von 200 Millionen DM nicht einfach so stehen lassen. ({5}) Gegenüber 1999 haben Sie, Herr Minister, die Gasölbeihilfe halbiert. Dann steigt der Beihilfesatz, hervorgerufen durch die Belastung aus der Ökosteuer, erst zum Jahre 2003 schrittweise auf 700 Millionen DM. Ausgangsbasis 1999 waren 835 Millionen DM. Die Zahlen belegen, dass durch Regierungshandeln die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Bauern nicht besser, sondern schlechter geworden ist. Das ist eindeutig und kann niemand widerlegen. Ich zitiere aus Ihrer Pressekonferenz zum Agrarbericht: Mir ist seit langem ein Dorn im Auge, dass die Preise für Energie, und hier speziell für Dieselkraftstoff, immer weiter in Europa auseinander klaffen. Im Ernährungsausschuss haben Sie für die deutsche Land- und Forstwirtschaft im EU-Vergleich gravierende Wettbewerbsnachteile aufgrund von Höchstpreisen bei Kraftstoff eingeräumt. Sie haben es mit Ihrer Aussage im Ernährungsausschuss auf den Punkt gebracht: Sie sagten, im Jahre 2003 würden die Landwirte in Belgien nur ein Viertel, in Großbritannien nur ein Drittel, in den Niederlanden, in Dänemark und in Frankreich nur rund die Hälfte des deutschen Dieselölpreises zahlen. Mit anderen Worten: Deutsche Landwirte zahlen gegenüber belgischen Landwirten viermal so viel, gegenüber britischen dreimal so viel, gegenüber französischen, niederländischen und dänischen Landwirten das Doppelte. So sieht es in Wahrheit aus. Um den Wettbewerb zu stärken und die Benachteiligung der deutschen Landwirtschaft abzubauen, dürften nach meinem Dafürhalten allenfalls 8 bis 10 Pfennig pro Liter als Mineralölsteuer erhoben werden. Ich rechne Ihnen das auch vor. Damit gäbe es gegenüber den europäischen Nachbarländern immer noch eine zusätzliche Belastung von etwa 50 Pfennig pro Liter. Von dieser Basis aus wären dann auch Bemühungen um eine europäische Harmonisierung realistisch. Ihr Vorhaben, Herr Minister Funke, die Kraftstoffpreise zuerst zu erhöhen und dann nach Harmonisierung zu rufen, ist ein allzu durchsichtiges Spiel. ({6}) Sie glauben doch nicht im Ernst, dass unsere Nachbarstaaten ihre Preise für Kraftstoffe verdoppeln, um den Deutschen auf ihrem Sonderweg zu folgen und diesen zu bestätigen. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Die Belastungen für die Landwirtschaft beliefen sich 1999 ganz konkret auf 26,5 Pfennig pro Liter Diesel. Sie wollen sich jetzt dafür feiern lassen, dass Sie die Belastung für die Landwirtschaft auf 57 Pfennig pro Liter anheben. Gleichzeitig reden Sie aber von einer Orientierung in Richtung einer Harmonisierung nach unten. ({7}) Sie haben die Mineralölsteuer von 26,5 auf 57 Pfennig pro Liter erhöht. Das wird für die deutsche Landwirtschaft immer schwerer verkraftbar. Zu diesen Belastungen - hier hauen Sie noch eines drauf - kommen für die Landwirtschaft noch Belastungen durch das Steuerentlastungsgesetz in Höhe von rund 1 Milliarde DM und durch das Haushaltssanierungsgesetz in Höhe von 519 Millionen DM. Die zusätzlichen Belastungen durch die geplante Unternehmensteuerreform werden mit etwa 300 Millionen DM beziffert. Rechnen Sie das einmal zusammen. Wo stehen denn da Ihre Aussagen und die Realität in Übereinstimmung? Es gibt eine erhebliche zusätzliche Belastung für die deutsche Landwirtschaft durch die Kraftstoffpreise. ({8}) Wenn Sie, Herr Minister, Ihren Ansprüchen tatsächlich gerecht werden wollten, hätten Sie die Mineralölsteuer nicht auf 57 Pfennig erhöhen, sondern auf 10 Pfennig pro Liter senken müssen. Dann hätten Sie hier zu Recht Beifall bekommen und man hätte gesagt, dies sei in Ordnung. So gehen Sie genau in die falsche Richtung. ({9}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wundere mich schon, wie man hier von einer Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft sprechen kann. Genau das Gegenteil wird erreicht. Danke schön. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kersten Naumann.

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat nach zähem Ringen aller Beteiligten den berechtigten Forderungen der Bauern nachgegeben und sich zur Einführung des Agrardiesels bekannt. Die Anträge von CDU/CSU und F.D.P. haben sich nach meinem Verständnis damit erledigt. Die von der Bundesregierung beabsichtigte Regelung ist aus finanzieller Sicht ein ausgleichender Ersatz für die bisherige Gasölbeihilfe. ({0}) Die CDU/CSU und die F.D.P. verstehen sich aber als Klientelparteien und wollen über eine noch günstigere Agrardieselregelung Punkte bei den Familienunternehmen in Westdeutschland sammeln. Oder wie soll ich die heutige Debatte über den Agrardiesel sonst auffassen? Meine Damen und Herren, worin besteht das eigentliche Problem? Die Gasölbeihilfe wurde eingeführt, weil die Bauern Diesel bei der Feldarbeit verbrauchen und deshalb von einer Steuer befreit werden, die der Verkehrspolitik dient. Es kommt ja auch niemand auf die Idee, das Heizöl mit der Mineralölsteuer für Fahrzeugdiesel zu belasten.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Nein, keine Zwischenfragen. Die Einführung des Agrardiesels ist die sachlich begründete Lösung, die der Regelung beim Heizöl entspricht. Sie hat nichts mit den Belastungen der Landwirtschaft durch die Ökosteuer zu tun. Die PDS hat die Agrardiesellösung schon in der Vergangenheit gefordert und unterstützt dieses Vorhaben deshalb nachdrücklich. In der bisherigen Diskussion wurde jedoch ein Pro blem völlig ausgespart: Die Agrardiesellösung soll erst ab 2001 eingeführt werden. Bis dahin gilt jedoch eine modifizierte Gasölbeihilferegelung. Allen Betrieben wird die Beihilfe nämlich nur bis zu einer Obergrenze von 3 000 DM gewährt. Praktisch bedeutet das, dass die Betriebe für ihre Betriebsfläche von über 100 Hektar keine Beihilfe erhalten. Davon sind natürlich auch Veredelungsbetriebe betroffen. Die Gasölbeihilfe für die Agrarbetriebe verringert sich dadurch allein in Sachsen um 33 Millionen DM. Diese Einschnitte sind für viele Agrarbetriebe existenzgefährdend. Die PDS fordert deshalb mit ihrem Entschließungsantrag nachdrücklich die vollständige Beseitigung der 3 000-DM-Obergrenze auch für das Verbrauchsjahr 2000. ({0}) CDU/CSU und F.D.P. sind nun allerdings eifrig dabei, das Problem des Agrardiesels mit der Ökosteuer zu vermischen. Tatsache ist, dass die Landwirtschaft mit etwa 900 Millionen DM durch die Ökosteuer belastet wird und kaum Vorteile von der Senkung der Lohnnebenkosten hat. Der Versuch, diese Belastungen mindestens teilweise über die Agrardieselregelung abzufangen, führt steuersystematisch zu einem Chaos, besonders dann, wenn man die geplanten weiteren Schritte bei der Ökosteuer berücksichtigt. Die PDS plädiert deshalb dafür, zum eigentlichen Ziel der Ökosteuer zurückzukehren und die 900 Millionen DM für den ökologischen Umbau der Agrarproduktion zu verwenden. So könnten die Mittel zum Beispiel für die Förderung des ökologischen Landbaus und einer standortgerechten Produktion sowie die Förderung nachwachsender Rohstoffe und Energieträger eingesetzt werden. Auch die Einführung umweltgerechter Technologien und Organisationsformen, zum Beispiel durch den Aufbau von agrochemischen Zentren oder Biogasanlagen, sowie die Erweiterung der Umweltprogramme und nicht zuletzt der Vertragsschutz und andere Naturschutzvorhaben könnten mit diesen Mitteln zielgerichtet gefördert werden. Wir sind überzeugt, dass die Bauern viele gute Ideen einbringen würden, wenn der ökologische Umbau der Agrarproduktion finanziell kräftig gefördert würde. Wir fordern deshalb, die aus der Landwirtschaft der Ökosteuer zufließenden finanziellen Mittel in die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ einzustellen und zielgerichtet für den ökologischen Umbau einzusetzen. Die PDS erwartet, dass Minister Funke dieses Thema, wie versprochen, mit großem Nachdruck weiter verfolgen wird. Herr Minister Funke, halten Sie sich einfach an Herbert Wehner, der einmal sagte: „Politik ist die Kunst, das Notwendige möglich zu machen.“ Beweisen Sie also, dass Sie neben Landwirt und Politiker auch Künstler sind. Ich denke, der Beifall wäre Ihnen sicher. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Schultz.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin wahrscheinlich der einzige Nichtlandwirtschaftspolitiker, der heute etwas zu diesem Thema sagt, aber angesichts der Größenordnung von 700 Millionen DM ist es sinnvoll, dass sich auch die Finanzpolitik darüber Gedanken macht, welchen Beitrag sie leisten kann, um den Bauern zu helfen. Aus unserer Sicht ist es überhaupt nicht zu bezweifeln, dass die Landwirtschaft in den letzten Jahren erheblich unter Druck geraten ist und dass der Druck möglicherweise noch zunehmen wird. Wenn man sich den Landwirtschaftsbericht, und die Debatte darüber zurück ins Gedächtnis holt, sieht man, dass sich die Einkommenssituation 1999 um 7,3 Prozent erheblich verschlechtert hat, dass der Durchschnittsertrag eines Betriebes nur noch 53 000 DM betrug und dass nur noch die Hälfte aller Höfe, nämlich 190 000, überhaupt als Haupterwerbsquelle geführt werden können. ({0}) Das erkennen wir an. Das sage ich ausdrücklich. Wenn man sich die Situation im Bereich Schweinemast ansieht - das ist etwas, was bei mir in der Heimat in Warendorf als dem schweinereichsten Kreis, eine große Rolle spielt - , dann ist festzustellen, dass dort die Einkommen dermaßen zusammengebrochen sind, dass man sehr ernsthaft darüber nachdenken muss, ob man nicht die eine oder andere zusätzliche Unterstützung wirken lassen kann. Vor diesem Hintergrund sind natürlich politisch initiierte und für sich im Einzelfall jeweils notwendige Maßnahmen als Belastung besonders schwerwiegend. Das gilt für die Agenda 2000, deren Auswirkung gerade unter der deutschen Präsidentschaft gegenüber ursprünglichen Befürchtungen deutlich gedämpft worden ist, für die Ökosteuerreform mit ihren 900 Millionen DM an Belastung im Jahr 2003 und für Veränderungen im Bereich der Einkommensteuer. Es ist unbestritten, dass die Landwirte im Jahr 2003 alles zusammen genommen etwa 2,3 Milliarden DM zusätzlich an Belastung hinnehmen müssen. Deswegen gewinnen die Sorgen der Landwirtschaft eine politische Dimension, an der eine zur Konsolidierung bereite Bundesregierung und auch die Finanzpolitik nicht vorbeigehen können. Deswegen soll eine wesentliche Entlastung durch die Einführung des niedrigen Sondersteuersatzes auf Diesel beschlossen werden, der für landwirtschaftliche Nutzfahrzeugen eingesetzt wird. Wenn man sich die Landschaft in der Europäischen Union anschaut, dann stellt man fest, dass diese leider sehr große Gestaltungsmöglichkeiten zulässt, was die Besteuerung von Kraftstoffen in der Landwirtschaft angeht. Die meisten Länder nutzen diese Möglichkeiten. Lediglich Griechenland, bislang auch Österreich und Schweden, haben für die Landwirtschaft keine Sonderregelung. Deutschland hat bislang die Mineralölsteuer teilweise in Dänemark ganz zurückerstattet. Sechs Länder erlauben den Einsatz von Heizöl als Kraftstoff. Die übrigen vier Länder haben einen Sondersteuersatz auf Diesel, den Agrodiesel. Sowohl das als Kraftstoff zugelassene Heizöl als auch der Agrodiesel sind in diesen zehn Ländern eingefärbt und damit an besonderen Zapfsäulen verfügbar. Sie werden nicht über das Rückerstattungsverfahren zurückgezahlt. Wenn man sich die Unterschiede ansieht, wird ersichtlich, dass die Kosten innerhalb der EU zwischen 1,20 DM und 20 Pfennig liegen, die der Landwirt zu zahlen hat. Dazwischen liegt wirklich eine Welt. Bei diesen Kostenstrukturen, muss man, denke ich, auch angesichts der Entwicklung durch die ökologische Steuerreform gegensteuern. Das wollen wir. ({1}) Der einheitliche Steuersatz von 57 Pfennig wird dazu beitragen, dass die Belastung im Jahr 2003 deutlich abgefangen wird und dass der einzelne Landwirt auf dem Höhepunkt der Entwicklung der ökologischen Steuerreform mit 35 Pfennig besser dasteht als in den Jahren vor der Reduzierung der Gasölbeihilfe. Insofern ist das eine bei der voraussehbaren Entwicklung der Dieselkosten adäquate Lösung, die wir hier gefunden haben, zumal die 3 000-Liter-Obergrenze bei dem neuen Modell wegfallen soll, was für größere Betriebe, für Maschinenringe und für landwirtschaftliche Lohnunternehmen besonders wichtig ist. Die Alternative, Heizöl als Kraftstoff einzusetzen, halten wir für ökologisch unverantwortbar. Heizöl unterliegt nicht den strengen Normen wie Kraftstoffe, was den Schadstoffinhalt angeht. Es wäre unverantwortlich, Diesel sowohl auf den Äckern als auch auf den Straßen im ländlichen Raum einzusetzen. Also müssen wir jenseits der Finanzierungsfrage eine Lösung finden, die den ökologischen Fortschritt im Bereich der Zusammensetzung von Kraftstoffen auch in der Landwirtschaft weiterhin aufrechterhält. Wir sind froh darüber, dass es gelungen ist, die 375 Millionen DM, die dann für die Gasölbeihilfe nicht mehr erforderlich sind, der Landwirtschaft insgesamt für Sozialpolitik und zur Verbesserung der Eigenmittelausstattung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ zu erhalten. Ich denke, dadurch wird auch deutlich, dass dies den Landwirten insgesamt eine echte Nettoentlastung in Höhe von 700 Millionen DM bringt, die - so denke ich - von ihnen auch anerkannt wird. Wenn der Bauernverband 900 Millionen DM fordert, so habe ich dafür Verständnis. Das ist bei solchen Verhandlungen so. ({2}) Wenn man sich aber einer Forderung zwischen null und 900 Millionen DM politisch im Rahmen eines Konsolidierungsprogramms bis auf 700 Millionen DM annähert, dann ist das eine stolze Tat, die dem Finanzminister und den Finanzpolitikern große Schwierigkeiten bereitet hat, die nichtsdestotrotz notwendig ist und die man nicht kleinreden sollte, weil man Verbandsfunktionären nach dem Maul redet. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege! Reinhard Schultz ({0})

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir haben die Landwirtschaft nicht im Regen stehen lassen. Ich denke, die Lösung wird akzeptiert werden. Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Ronsöhr das Wort.

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Bauern regen sich auf, nicht ich. - Ich habe auf einen Zuruf von Herrn Schönfeld reagiert. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Schultz hat eben davon gesprochen, dass es durch die hausgemachten Beschlüsse eine Gesamtbelastung von 2,3 Milliarden DM für die Bauern gibt. Nun habe ich hier ein Papier der SPD-Fraktion vom 6. Januar 2000. Darin wird von einer ganz anderen Belastung ausgegangen. Ich finde, Sie sollten dann schon bei Ihren eigenen Papieren bleiben, obwohl ich auch dabei Schwierigkeiten habe, das nachzuvollziehen. ({0}) In diesem Papier steht, die ökologische Steuerreform, also die Ökosteuer, bringt in der ersten und zweiten Stufe für die Landwirtschaft eine Belastung von 950 Millionen DM. Es wird ja immer wieder etwas anderes gesagt; hierin stehen 950 Millionen DM. Ulrike Höfken hat davon gesprochen, dass die zukünftige Unternehmensteuerreform für die Landwirtschaft eine Entlastung bringt. Hier ist eine Belastung von 165 Millionen DM im Jahre 2003 aufgezeigt. Insgesamt kommen Sie auf eine Belastung von 2,968 Milliarden DM. Das sind etwa 700 Millionen DM mehr als das, was Sie angesprochen haben. Darin ist noch nicht die Kürzung der Vorsteuerpauschale enthalten, die nach eigenen Berechnungen der Bundesregierung für die Landwirtschaft auch noch einmal 400 Millionen DM ausmacht. Und nun sprechen Sie von einer Entlastung round about - ich lege es einmal ganz großzügig aus - von 1,1 Milliarden DM, und dann sagen Sie: Netto kommt eine Entlastung heraus. Ich würde doch darum bitten, dass Sie das kleine Einmaleins irgendwie nachvollziehen. Glauben Sie doch nicht, dass Sie den Landwirten draußen ein X für ein U vormachen können. Das wird Ihnen nicht gelingen. Vielmehr bleibt eine erhebliche Belastung. Ich kann Ihnen Ihr eigenes Papier ja gern zuschicken, damit Sie Ihre eigenen Zahlen nachvollziehen können. Das sind nicht meine Zahlen. Aber bitte: Tun Sie doch nicht in der Öffentlichkeit so, als wenn es keine Belastung wäre, während Sie intern nach diesem Papier selbst von einer Belastung von über 3 Milliarden DM ausgegangen sind! ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte schön, zur Antwort hat Herr Kollege Schultz das Wort.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege! Ich habe eben, was ich nicht hätte tun müssen, aufgeblättert, welche Belastungen insgesamt auf die Landwirtschaft zukommen und dass deswegen der politische Druck groß ist, zur Entlastung beizutragen. So weit, dass die Politik sämtliche Entlastungen neutralisieren kann ({0}) und der Gesamthaushalt oder die Einkommen aller übrigen Menschen in Deutschland sozusagen als Deckungsreserve für Probleme der Landwirtschaft herhalten können, werden selbst Sie nicht gehen. Man muss zwischen dem Interesse an einer Haushaltskonsolidierung und den gesamten Interessen der Verbraucher und Steuerzahler sowie besonderen Notlagen in der Landwirtschaft abwägen und dann einen Kompromiss finden, der noch tragfähig ist und von den Betroffenen angenommen wird. Die Äußerungen des Bauernverbandes über die von uns heute vorgestellte Lösung sind außerordentlich positiv. Nach dem RWI-Gutachten liegen die sektoralen Auswirkungen der Ökosteuer bei 900 Millionen DM. Das ist eindeutig und unbestritten. Die negativen Auswirkungen der Unternehmensteuerreform entstehen vor allen Dingen durch den vorgesehenen Wegfall der Ansparabschreibung und vergleichbarer Tatbestände. Darüber wird sicherlich zu reden sein. Aber das Gesetzgebungsverfahren läuft noch. Sie können also nicht das einbeziehen, was politisch noch in der Pipeline ist. Wir werden uns genau ansehen, wie sich Belastungen und Entlastungen auf die Steuerbürger auswirken. Wir haben versprochen, einen sehr offenen Dialog über die Unternehmensteuerreform mit allen Betroffenen zu führen. Diesen sollten wir hier nicht abbrechen. Ich fände es gut - das verstehe ich unter Opposition - , wenn Sie jenseits des populistischen Hinterherrennens zur Kenntnis nähmen, dass selbst der Präsident und der Generalsekretär des Bauernverbandes das, was wir gemacht haben, für eine große Tat halten, die sie dieser Koalition angesichts ihrer selbst gesetzten Konsolidierungsziele so nicht zugetraut hätten. Mehr kann man in einer solch schwierigen Lage wohl kaum erwarten. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Bleser.

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ({0}) - Vielleicht kann man auf der SPD-Seite den Mund halten, damit ich meine Ausführungen vortragen kann. ({1}) Ich habe nämlich für meine Rede genügend Stoff gesammelt, um alle Argumente, die hier gebracht worden sind, auch belegen zu können, insbesondere diejenigen über die Belastungen. Wir, die CDU/CSU, bringen heute wie die F.D.P. einen Antrag ein, der vorsieht, dass der deutschen Forstund Landwirtschaft die Verwendung von Heizöl erlaubt wird. Damit sind wir einer langjährigen Forderung des Berufsstandes gefolgt. Wir wollen die deutschen Landwirte ihren europäischen Nachbarn gleichstellen und das ist das Wichtige - wollen die Landwirte von der Ökosteuer wirklich entlasten. Diesen Antrag - das sage ich hier ganz offen, Herr Kollege Weisheit - werde ich in meinem Büro an einem sicheren, aber leicht auffindbaren Ort aufbewahren, damit ich ihn dann, wenn wir 2002 wieder die Bundesregierung stellen, auch schnell finden werde. ({2}) Keine andere Bundesregierung hat die deutschen Landwirte so belastet wie diese rot-grüne Koalition. Ohne eine spürbare Entlastung wird es in der deutschen Landwirtschaft einen Strukturbruch geben, mit der Folge, dass Tausende von Arbeitsplätzen verloren gehen. Das sage ich hier mit allem Ernst. Die Liste Ihrer Schandtaten, Herr Minister Funke, und Ihrer Regierung ist so lang, dass meine Redezeit nicht ausreicht, um sie vollständig hier vorzutragen. ({3}) Ich liste nur einige Beispiele auf: die Rückführung der Mehrwertsteuerpauschale um 1 Prozent, obwohl die Zahlen eine Erhöhung zuließen; die Agendabeschlüsse; ({4}) die Ökosteuer; die Rückführung der Gasölverbilligung; das Steuerbelastungsgesetz - so heißt es ja richtig - , das ein Volumen von 1,1 Milliarden DM hat, und die Rückführung der Zuschüsse in die Sozialversicherung. Die Auswirkungen der angekündigten Unternehmensteuerreform kommen noch hinzu. Der Bauernverband sagt, es sei eine Belastung in Höhe von 350 bis 500 Millionen DM zu erwarten, weil die Abschreibungsmodalitäten vorübergehend verschlechtert würden. Wenn man das alles addiert - ich kann das belegen - , dann kommt man auf fast 5 Milliarden DM. Damit nehmen Sie den deutschen Bauern ein Viertel ihres Einkommens. Das ist die Wahrheit. Trotzdem verweisen Sie immer auf die verglichen mit den Belastungen - lächerlichen Entlastungen. Das grausame Spiel geht noch weiter. Mir sind Informationen zugegangen, nach denen im Bundesfinanzministerium die Neufestsetzung von Einheitswerten berechnet wird. Ich habe gehört, dass eine Erhöhung um den Faktor 10 bis 15 zu erwarten sei. Was damit letztlich auf die bäuerlichen Familien zukommt, wage ich zurzeit noch nicht einmal zu beschreiben. ({5}) Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, haben die deutschen Landwirte wie keine andere Bevölkerungsgruppe einseitig mit Sonderlasten belegt. Am ungerechtesten ist dabei die Ökosteuer, weil eine Entlastung durch die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge wie in der übrigen Wirtschaft, wie Sie wissen, nicht möglich war. Es gibt nun einmal wenig abhängig Beschäftigte in den landwirtschaftlichen Betrieben. Erst nach längerem Gewürge haben Sie der Landwirtschaft die Zurechnung zum produzierenden Gewerbe gestattet, was ab dem Sockelbetrag von 1 000 DM die Abzugsfähigkeit der Ökosteuer ermöglichte. Aber auch diese Maßnahme hat nur 5 Prozent, im Wesentlichen Gartenbaubetriebe, erreicht. Der Rest, also das Gros der Betriebe, ist leer ausgegangen. Sie hatten also keine Entlastung durch die Ökosteuer. ({6}) - So war ‘s. Nur der massive Druck der Bauern hier am Brandenburger Tor hat Sie letztlich dazu veranlasst, über Agrodiesel nachzudenken und eine Steuerbelastung auf dann 57 Pfennig ab dem Jahr 2001 zu fixieren. Damit bleiben Sie 23 Pfennig unter der im Jahr 1999 von uns installierten Gasölrückverbilligung. Es ist also eine Verschlechterung von immerhin noch 400 Millionen DM oder 18 Pfennig gegenüber der Altregelung, die bis Ende letzten Jahres galt. Selbst wenn im Jahre 2003 die letzte Stufe der Ökosteuer auf grausame 35 Pfennig inklusive Mehrwertsteuer angewachsen ist, wird die Entlastung durch Ihr Modell noch immer geringer als unser altes Modell ausfallen, das bis Ende letzten Jahres galt. Das Ganze ist also schlicht und einfach eine Mogelpackung. ({7}) Die jetzt geplante Einführung eines womöglich grünen Agrodiesels bedingt - neben der für Heizöl und Diesel - eine dritte Logistikschiene. Beim Mineralölhandel und bei den Bauern löst diese Vorstellung nur noch Kopfschütteln aus. Das Ganze ist für mich ein weiteres Beispiel für die Weltfremdheit dieser Bundesregierung. Stellen Sie sich einen Landwirt vor, der wegen Umweltauflagen seine Hoftankstelle aufgegeben hat. Woher soll er in Zukunft seinen grünen Agrodiesel bekommen? Von einer Tankstelle, die extra Gerätschaften anschafft? Glauben Sie es nicht. Oder stellen Sie sich einen Betrieb vor, der auch noch gewerbliche Tätigkeiten verrichtet. Wollen Sie dem entsprechenden Landwirt empfehlen, wann er welchen Diesel im Tank seiner Maschinen haben soll? Es wird also so sein, dass durch die zusätzliche Logistik weitere Kosten auf die Bauern zukommen. Verehrte Kollegen der Regierungskoalition, ich sage Ihnen das jetzt, damit Sie nachher nicht sagen können, das habe man Ihnen vorher nicht mitgeteilt. Wir wollen jetzt einen ganzen Schritt gehen. Wir wollen das rot gefärbte Heizöl auch für landwirtschaftliche Fahrzeuge zulassen. Ich sage ganz offen: Ich sehe auch hierbei Probleme in der Praxis. Deshalb empfehle ich, die Einfärbung des Agrodiesels in Zukunft - zumindest auf dem Papier - als Option aufrechtzuerhalten. Ich fasse zusammen: Erstens. Die rot-grüne Bundesregierung belastet die Landwirtschaft mit rund 5 Milliarden DM. ({8}) Allein durch die Ökosteuer wird sie mit 900 Millionen DM belastet. Erst nach massivem Druck haben Sie zuletzt versucht, die Landwirte teilweise zu entlasten. Der Landwirtschaft wird dabei noch nicht einmal das zugestanden, was ihr zugestanden werden müsste, wenn die Gleichbehandlung mit der übrigen Wirtschaft erreicht würde. In Wirklichkeit bleibt Ihr Agrodieselmodell selbst im Jahre 2003 um 160 Millionen DM hinter der Altregelung zurück, die bis Ende letzten Jahres galt. Zweitens. Ich fordere Sie deshalb auf, die erst für das laufende Jahr eingestellte Regelung auszusetzen und die alte fortbestehen zu lassen, bis Ihre Regelung im nächsten Jahr greift.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön, Herr Heinrich.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Bleser, Sie haben uns gerade vorgerechnet, dass die Entlastung durch den festen Steuersatz bei der Mineralölsteuer noch nicht die Entlastung der vorausgegangenen Jahre von 835 Millionen DM erreicht. Wo soll denn die Entlastung für die Ökosteuer herkommen, wenn noch nicht einmal die Entlastung für die bisher gewährte Rückvergütung von Steuern auf Dieselöl stattgefunden hat.

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Genau das ist der Punkt, Herr Kollege Heinrich. ({0}) Zunächst einmal wurde die Belastung dramatisch erhöht. Dann wurde durch die Gewährung eines kleinen Bonbons das Gefühl vermittelt, dass bei der Regierung in der Tat der Wille vorhanden ist, den Bauern entgegenzukommen. Ich habe das als Mogelpackung bezeichnet, bei dieser Bezeichnung bleibe ich, Herr Kollege. ({1}) Ich komme zum dritten Punkt: Befreien Sie die Landwirtschaft wie das übrige produzierende Gewerbe von der Ökosteuer und bieten Sie ihr die gleichen Konditionen an, wie sie der Industrie bei der Erzeugung von Prozessenergie bereits heute gewährt werden. Viertens. Verschonen Sie uns von einer weiteren Versorgungsschiene mit grünem Agrodiesel. Eine letzte Bitte noch am Schluss: Nehmen Sie auch die Erwerbsimker dieses Mal mit ins Boot. Ich stelle abschließend fest: Diese erneute Nachbesserung zeigt, dass diese Bundesregierung auch in der Agrarpolitik weder eine Vision, noch konkrete Ziele, noch ein schlüssiges Konzept für eine gute Zukunft der Landwirtschaft hat. Meine Damen und Herren der Koalition, stimmen Sie unserem Antrag zu und Sie haben den ersten Schritt zu einer guten Agrarpolitik gemacht. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister Funke.

Karl Heinz Funke (Minister:in)

Politiker ID: 11005293

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte hier einige Korrekturen anbringen. Dazu greife ich einige Stichworte auf. Es ist ja nicht das erste Mal, dass hier selbst ernannte Lichtgestalten Dinge vortragen, die der Realität überhaupt nicht entsprechen. ({0}) Angesichts der Tatsache, dass Sie hier fordern, ({1}) jegliche Belastung müsse durch eine entsprechende Entlastung ausgeglichen und möglichst noch überkompensiert werden, möchte ich Sie nur einmal an Ihre Regierungszeit erinnern und Sie fragen, wie sich das mit der Kompensation entsprechender Belastungen verhielt, als Sie ständig die Mineralölsteuer erhöhten, ohne für eine Rückerstattung zu sorgen. War das keine Wettbewerbsverzerrung oder -verschiebung? Darüber wird nicht geredet. ({2}) - Das mögen Sie nicht hören, das verstehe ich auch, aber wir müssen es schon erwähnen. Von 1989 bis 1994 haben Sie die Mineralölsteuer um 50 Pfennig erhöht. Da haben Sie noch nicht von Wettbewerbsverzerrung und Wettbewerbsnachteilen geredet. ({3}) Sie haben hier alles zusammengezählt, was es tatsächlich oder vermeintlich an Belastungen aus der Steuerreform gibt. Ich darf Sie an Ihre Petersberger Beschlüsse erinnern und einmal nachrechnen, welche Belastungen darin für die Landwirtschaft durch die Abschaffung von Sondertatbeständen vorgesehen waren. Darüber reden Sie überhaupt nicht. Auch daran muss man Sie erinnern, wenn Sie hier diskutieren. ({4}) Ich habe mir auch genau angeguckt, was Ihr Steuerreformkonzept aussagt und bedeutet. Ich habe den Entwurf der CSU noch in Erinnerung. Der Eingangssteuersatz sollte auf 19 Prozent abgesenkt werden. Sie wissen ganz genau - deswegen ist das schon ein entscheidender Punkt - , dass es über Steuersenkungen nur dann zu einer Entlastung kommen kann - insbesondere im Bereich der Landwirtschaft mit einem Grenzsteuersatz von 20 Prozent -, wenn der Eingangssteuersatz möglichst niedrig ist. ({5}) In unserem Entwurf beträgt er 15 und nicht 19 Prozent. ({6}) Jetzt haben Sie nachgebessert - ich weiß das - weil die Durchschnittsbelastung in Sachen Steuern keine Aussage darüber zulässt, welche Betriebe belastet und welche entlastet werden. ({7}) Man muss hier über den Grenzsteuersatz diskutieren. Nun sind auch Sie bei 15 Prozent, das ist zu begrüßen. ({8}) Aber gucken Sie sich einmal an, welche landwirtschaftlichen Betriebe keine Entlastung, sondern eine Belastung erfahren hätten. ({9}) - Herr Heinrich, ich spreche jetzt ja gar nicht Sie an, sondern in diesem Falle die Kollegen der CDU/CSU. ({10}) Sehr wichtig ist für einen Sektor der Volkswirtschaft, der mit einem Grenzsteuersatz von 20 Prozent belastet wird, die Höhe des Steuerfreibetrages. ({11}) Daran haben Sie überhaupt nicht gedacht. Da wird nachgebessert werden. Ich bin sogar überzeugt, es ist eher ein Versehen. Das führt aber auch zu einer Belastung derer in der Landwirtschaft, die Sie unserer Güte hier förmlich anempfehlen. Sie müssen auch an die Steuerfreibeträge denken. Es ist sehr unglaubwürdig, was Sie hier vortragen, wenn Sie uns unterstellen, wir seien ausschließlich für die Belastung, Sie aber für die Entlastung verantwortlich. ({12}) Wir sind alle sehr gern bereit, mit Ihnen über Wettbewerbsverzerrung zu reden, dann aber so, wie die Kollegin Höfken und der Kollege Schultz es hier vorgetragen haben: über die gesamte Palette. Es wäre schön gewesen, wenn Sie in 16 Jahren schon entsprechende Vorarbeit geleistet hätten. Dies betrifft nicht nur die Vereinheitlichung der Steuergesetzgebung auf europäischer Ebene, sondern auch die Wettbewerbsverzerrung im Bereich der Pflanzenschutzmittel. Wo sind Sie denn auf diesen Gebieten auf europäischer Ebene tätig gewesen? Überhaupt nicht. ({13}) Wir könnten jetzt bei dem Themenkomplex der Biomasse zur Schaffung zusätzlicher Standbeine für die Landwirtschaft darüber reden, warum Sie nicht dafür gesorgt haben, dass diese Anwendung im Baugesetzbuch privilegiert wird, um zusätzliche Chancen auch im Einkommen zu schaffen. Aber davon ist nichts zu finden. ({14}) Nun klage ich niemanden an, sondern beklage lediglich, dass Sie sich hier hinstellen und einseitig vortragen, um die eigenen Fehlleistungen vergessen zu machen. Ich halte das für nicht in Ordnung. Natürlich sagen Sie, Herr Heinrich, der Mineralölsteuersatz dürfe nur zehn Pfennig betragen; hätten wir zehn Pfennig gewählt, hätten Sie sicherlich begeistert zugestimmt. ({15}) Hätten wir zehn Pfennig gewählt, hätten Sie - davon bin ich überzeugt - gesagt, es hätten nur fünf Pfennig sein dürfen. ({16}) Deswegen hätten Sie uns auch dann kritisiert. ({17}) Ich verstehe doch die Haltung der Opposition in diesem Punkt. Man kann - das ist unstrittig - darüber reden, welche Belastungen und Entlastungen es durch die Unternehmensteuerreform geben wird bzw.geben kann. Ich sage ausdrücklich: geben kann. Das kann man gegenwärtig, wenn man seriös rechnet, überhaupt noch nicht sagen: ich meine jetzt ausschließlich den Sektor Landwirtschaft. Denn dass es in der Zeitschiene zu einer entsprechenden Entlastung kommt, ist mittlerweile bei allen, die zunächst Horrorgemälde gezeichnet haben, unumstritten. ({18}) Auch das gehört zur Wahrheit und muss hinzugefügt werden. Die Zahlen, die ursprünglich spontan genannt worden sind, sind mittlerweile widerrufen oder zumindest korrigiert worden. Wir sind also sehr gern bereit, über Wettbewerbsverzerrungen und die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit zu reden. Das gilt im Übrigen auch in strukturpolitischen Fragen und nicht nur in den Punkten, die Sie hier angesprochen haben. Summa-summarum: Angesichts der obwaltenden Umstände auch angesichts der Markierungen in der finanzpolitischen Situation, innerhalb deren wir uns zu bewegen hatten, bin ich dankbar, dass wir diese Lösung erreicht haben. ({19}) Ich bedanke mich ausdrücklich bei all denen, die dazu beigetragen haben und die geholfen haben, dieses möglich zu machen. Spricht man mit denen, für die die Arbeit letztlich geleistet worden ist, erntet man sehr viel Verständnis, soweit man sachlich vorträgt und nicht versucht, Dinge parteipolitisch zu instrumentalisieren. Das sage ich auch hinsichtlich ganz bestimmter Vertreter von Verbänden. ({20}) Mit diesem Dankeschön an alle, die dazu beigetragen haben, verbinde ich die Überzeugung, dass wir auch hinsichtlich des Abbaus von Bürokratie, soweit wir dies so umsetzen können, ein gutes Stück vorangekommen sind. Wenn gesagt wird, andere hätten zuerst den Gedanken gehabt und wir hätten ihn übernommen: Was Urheberrechte anbelangt, Herr Heinrich, sind wir sehr großzügig. ({21}) Uns kommt es auf die Effekte und die Wirksamkeit an. Die ist allemal gewährleistet. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. ({22})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Über- weisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/2384 und 14/2690 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- schüsse vorgeschlagen. Die Vorlagen auf den Drucksa- chen 14/2766 und 14/2795 sollen an dieselben Aus- schüsse überwiesen werden. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- schlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7a und 7b auf. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0}) - Drucksache 14/2668 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 ({2}) - Drucksache 14/2682 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Auswärtiger Ausschuss Federführung strittig) Ausschuss. für. Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordung Innenausschuss Ausschuss. für. Menschenrechte und humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Herr Bundesaußenminister Joschka Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unter dem Eindruck der Grausamkeiten des preußisch-französischen Krieges 1870/71 machte der Schweizer Gustave Moynier 1872 den ersten förmlichen Vorschlag für einen internationalen Strafgerichtshof. Wie oft haben wir uns seitdem angesichts millionenfachen Leids gewünscht - und auch gefordert -, dass die Verantwortlichen für Krieg, Vertreibung und Völkermord für ihre Verbrechen vor einem unabhängigen internationalen Gericht zur Rechenschaft gezogen werden. Nach den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, nach den internationalen Jugoslawien- und RuandaTribunalen stehen wir mit dem im Juli 1998 in Rom verabschiedeten Statut eines Internationalen Strafgerichtshofs an der Schwelle zu einem von politischer Opportunität unabhängigen Weltrechtsprinzip bei der Verfolgung schwerster Verbrechen. Das Statut ist ein Meilenstein in der Entwicklung des Völkerrechts und legt das Fundament für eine Institution, die die Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen künftig deutlich stärken wird. Die überragende Mehrheit der Staaten - 120 insgesamt - hat sich in Rom für die Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofes ausgesprochen. 94 Regierungen haben das Statut bis heute unterzeichnet, darunter alle 15 EU-Mitgliedstaaten. Deutschland war vor und während der Konferenz einer der entschiedensten Befürworter und hat sich mit großem Nachdruck für einen unabhängigen, effektiven und damit glaubwürdigen Internationalen Strafgerichtshof eingesetzt - gemeinsam mit vielen unserer europäischen Partner, gemeinsam mit Kanada, Australien, Südafrika, Argentinien und vielen anderen. Das Ergebnis ist ein Kompromiss; aber es ist ein guter Kompromiss. Es ist gelungen, das Völkerrecht trotz unterschiedlicher Rechtssysteme und Rechtstraditionen der Mitglieder der Vereinten Nationen in einem völkerrechtlichen Vertrag zusammenzufassen und zugleich deutlich weiterzuentwickeln. Ob es um die Verbrechen der Roten Khmer in Kambodscha, die Gräuel in Osttimor oder um den Fall Pinochet geht: Klare und glaubwürdige strafrechtliche Konsequenzen sind seit langem überfällig. Sie sind auch - das sollte nicht unterschätzt werden - ein wirksames Element umfassender Konfliktprävention; denn die Wirkung eines effektiven Internationalen Strafgerichtshofes ist eine dreifache: Erstens können die Verantwortlichen für Krieg, Vertreibung und Völkermord nicht länger damit rechnen, unter dem Schutzschirm nationaler Souveränität straflos auszugehen. Mein französischer Kollege Hubert Védrine hat das Statut zu Recht einen „Sieg über die Straflosigkeit“ genannt. Zweitens wird von der Arbeit des Gerichtshofes eine Abschreckungs- und Präventionswirkung ausgehen, die das Kalkül potenzieller Täter mitbestimmen wird. Sie werden sich künftig nirgends mehr sicher fühlen können. Das ist einer der ganz wichtigen präventiven Gesichtspunkte. ({0}) Drittens wird der Strafgerichtshof auf die nationalen Strafrechtssysteme und die dortigen Rechtsüberzeugungen positiv ausstrahlen. Dies ist gerade im Zeitalter der Globalisierung und der Entwicklung sehr vieler nationaler Rechtssysteme ebenfalls ein wichtiger Gesichtspunkt. Amnesty International hat das Ergebnis von Rom deshalb als „Revolution der rechtlichen und moralischen Haltung der Staatengemeinschaft“ gegenüber der Verfolgung und Ahndung von Schwerstverbrechen bezeichnet. Sieben Staaten haben das Statut bis heute ratifiziert, zuletzt Norwegen vor genau einer Woche. Es wird in Kraft treten, wenn 60 Staaten ratifiziert haben, voraussichtlich in knapp zwei Jahren. Angesichts der Bedeutung, die die Bundesregierung dem Gerichtshof und der mit ihm verbundenen Verrechtlichung der internationalen Beziehungen beimisst, ist es ein gutes Signal, wenn Deutschland auch bei der Ratifikation zur ersten Gruppe gehören wird. ({1}) Das Ratifikationsgesetz ist deshalb zusammen mit der erforderlichen Anpassung von Art. 16 des Grundgesetzes den Gesetzgebungsorganen mit der Bitte um rasche Verabschiedung zugeleitet worden. Ich würde mich freuen, Frau Präsidentin, wenn es angesichts der breiten Unterstützung im Bundestag für die Ziele des Strafgerichtshofes - die Vorgängerregierung hat sich ja um die Verhandlungen in Rom verdient gemacht - zu einer Ratifizierung noch vor der Sommerpause kommen könnte. ({2}) Das französische Parlament hat das Statut vor zwei Tagen mit großer Mehrheit angenommen. Die EU-Staaten haben sich als gemeinsames Ziel gesetzt, den Ratifizierungsprozess bis zum Ende dieses Jahres abzuschließen. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes sieht die internationale Verfolgung von vier Kernverbrechen vor. Es sind dies Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen sowie - nach Einigung über eine angemessene Definition - das Verbrechen der Aggression. Der künftig in Den Haag ansässige Gerichtshof kann aufgrund einer Staatenbeschwerde, einer Initiative des UN-Sicherheitsrates oder des Anklägers tätig werden. Aber er wird nach dem Prinzip der Komplementarität nur dann tätig, wenn Staaten nicht willens oder nicht in der Lage sind, eine bestimmte schwere Straftat ernsthaft selbst zu verfolgen. Er wird die nationale Gerichtsbarkeit also nicht ersetzen, sondern ergänzen. Deutschland hat maßgeblich zu entscheidenden Artikeln für eine erfolgreiche Arbeit des Gerichtshofes beigetragen, etwa zur starken Stellung des Anklägers, der auf eigene Initiative hin und unabhängig tätig werden kann. Von großer Bedeutung ist auch die insgesamt weit gefasste und strikte Pflicht zur Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof. Zugleich wurde bei den Verhandlungen über das komplexe, in 13 Kapitel und 128 Artikel gegliederte Vertragswerk besonderer Wert auf die Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze gelegt: auf das Rückwirkungsverbot, auf die Rechte des Beschuldigten und auf das Verbot der Doppelbestrafung. Die Verhängung der Todesstrafe durch den Gerichtshof ist selbstverständlich ausgeschlossen. Zahlreiche Fragen, die für die spätere Arbeit und den Erfolg des Strafgerichtshofes von großer Bedeutung sind, müssen noch geklärt werden. In New York tagt im März erneut die Vorbereitungskommission bei den Vereinten Nationen, in der bis zum In-Kraft-Treten des Statuts wichtige Instrumente wie die Verfahrens- und Beweisordnung und die Finanzierungsregelungen erarbeitet werden. Hier gilt es aber auch zu verhindern, dass dem Strafgerichtshof skeptisch gegenüberstehende Staaten den in Rom erreichten Kompromiss nachträglich verwässern. Deutschland hätte sich schon in Rom eine robustere Zuständigkeitsregelung des Strafgerichtshofes gewünscht. Sie darf nicht noch weiter geschwächt werden, meine Damen und Herren. Die Integrität des Römischen Statuts muss auch bei den jetzt anstehenden Verhandlungen gewahrt bleiben, damit die Gerichtsbarkeit des Strafgerichtshofes nicht ins Leere läuft. ({3}) Deutschland wird weltweit dafür werben, dass weitere Unterzeichnungen und Ratifikationen des Römischen Statuts möglichst bald erfolgen, und wird andere Staaten bei ihren Ratifikationsbemühungen unterstützen. Wir werden uns auch bemühen, Staaten, die dem Staatsgerichtshof skeptisch gegenüberstehen, darunter leider auch die USA, weiterhin zu einer konstruktiven Mitarbeit zu bewegen. „Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“ - das war das Motto der Gerichtshofbefürworter während der Verhandlungen. Die weltpolitischen Ereignisse seit dem Abschluss des Statuts in Rom 1998 haben gezeigt, wie dringlich wir eine Institution wie den Internationalen Strafgerichtshof brauchen - leider, füge ich hinzu. Er wird kein Wundermittel gegen Krieg, Gewalt und Verbrechen sein; aber er gibt der Staatengemeinschaft ein Instrument an die Hand, das in entscheidenden Fällen verhindern kann, dass der Verweis auf die nationale Souveränität als Deckmantel für schwere und schwerste Verbrechen und anschließende Straffreiheit missbraucht wird. Das in der Präambel des Römischen Statuts formulierte Ziel, dass „um der heutigen und künftigen Generationen willen ein mit dem System der Vereinten Nationen in Beziehung stehender unabhängiger ständiger Internationaler Strafgerichtshof errichtet wird, der Gerichtsbarkeit über die schwersten Verbrechen hat, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“, verdient deshalb unsere uneingeschränkte Unterstützung. Ich bitte Sie um die Zustimmung des Bundestages zu den vorgelegten Gesetzentwürfen. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Röttgen.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der Errichtung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofes ist in der Tat ein großes Ziel erreicht worden, ein Ziel, das von den Vereinten Nationen und all den Staaten, die an einer friedlichen Weltordnung interessiert sind, seit mehr als einem halben Jahrhundert verfolgt worden ist. Darum ist es nicht zu hoch gegriffen, zu sagen, dass dies ein historischer Erfolg ist, dass es nun eine solche internationale Gerichtsbarkeit gibt, eine Gerichtsbarkeit, die die kardinale und stets beklagte Schwäche des Völkerrechts überwindet, die in mangelnder Durchsetzungskraft bestanden hat. Das ist die Veränderung, die stattfindet. Es gibt neben dem materiellen Völkerrecht nun eine Institution, die in der Lage ist, dies durchzusetzen. Das ist eine prinzipielle Veränderung, die vielfache Wirkungen hat. Der Bundesaußenminister hat drei Wirkungen genannt. Eine wichtige Wirkung ist ganz sicher die Abschreckung der Diktatoren, der Kriegsverbrecher. Ich will zu den drei Wirkungen, die Sie genannt haben, eine vierte hinzufügen. Dadurch, dass es gelungen ist, ein unabhängiges Gericht - nicht konzipiert als Organ des Sicherheitsrates, das durch Veto von seiner Tätigkeit hätte ausgeschaltet werden können - einzurichten, ist jedenfalls in einem gewissen Umfang die Verfolgung schwerster Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch der Opportunität der internationalen Interessenpolitik entzogen. Das ist natürlich ein Grund, warum die USA in diesem Prozess skeptisch waren. Es obliegt jetzt nicht mehr dem Vorbehalt der Opportunität der eigenen nationalen Interessen auch als Weltmacht -, ob ein Kriegsverbrecher verfolgt wird, sondern der Gerichtshof entscheidet. Er hat, wie Sie zu Recht ausgeführt haben, die Mittel dazu, die Anklage durchzusetzen, und ist nicht vom Goodwill mächtiger Staaten abhängig. Auch das ist ein enormer Fortschritt: dass es einen unabhängigen und damit einen starken Gerichtshof gegeben hat. ({0}) Wir, die CDU/CSU-Fraktion, begrüßen diesen Fortschritt nachdrücklich. Es ist auch so, dass er in der Kontinuität der Außen- und Justizpolitik liegt. Die Vorgängerregierung hat an diesem Erfolg wesentlich mitgearbeitet. Es war auch immer ein Konsens in diesem Hause - das ist etwas sehr Positives -, dass wir dies gemeinsam erreicht und unterstützt haben. Dennoch müssen wir uns bewusst machen - bei aller Freude -, dass ein Prozess erst begonnen und nicht sein Ende gefunden hat. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die Zahl der für das In-Kraft-Treten des Statutes notwendigen Ratifikationen, nämlich 60, noch lange nicht erreicht ist und dass es. sicher noch lange dauern wird, bis diese hohe Zahl erreicht sein wird. Ich will auf eine zweite inhaltliche Schwäche eingehen, weil wir jetzt anfangen, das Völkerrecht ernst zu nehmen. Es gehört auch dazu, dass wir nicht vor lauter Freude die Schwächen verkennen. Das ist die Frage der Zuständigkeit des Gerichtshofes. Die Judikatur erstreckt sich nur auf Mitgliedsstaaten, auf deren Territorium die Verbrechen begangen worden sind, oder auf solche, denen der Beschuldigte als Staatsangehöriger angehört. Das ist eine erhebliche Einschränkung der JuBundesminister Joseph Fischer dikatur. Das bedeutet negativ gesprochen, dass der Diktator, der seine eigenen Bürger in einem Land massakriert, das nicht Mitgliedstaat des Statutes ist, dieser Judikatur nicht unterliegt. Es ist eine schmerzhafte Schwäche dieses Statutes, dass es gerade die diktatorischen Staaten vor die Wahl stellt, ob sie sich selbst der Judikatur unterwerfen wollen. Das müssen wir sehen. Wir müssen diese Schwäche, die in diesem Statut beinhaltet ist, erkennen und daran arbeiten, dass sie überwunden wird. Ich will das nicht schlechtreden, aber ich will deutlich machen, dass dies ein beginnender Prozess der Institutionalisierung einer internationalen Gerichtsbarkeit ist, der Kompromisse beinhaltet und darum auch verbesserungsbedürftig ist. Die Bundesrepublik Deutschland möchte, getragen von allen Fraktionen, von allen Parteien, diesem Statut beitreten, und zwar in vollem Umfang. Dazu gehört, dass wir unsere Verfassung ändern müssen, womit wir uns schwer getan haben. Wir haben es auch im Zusammenhang mit dem Gesetz zum JugoslawienStrafgerichtshof und zum Ruanda-Strafgerichtshof erörtert. Wir müssen Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes, das unbedingte Auslieferungsverbot, das deutsche Staatsangehörige schützt, ändern, wenn wir die Wirksamkeit auch für Deutsche und für Deutschland in vollem Umfang herstellen wollen. Wir tun dies nicht leichtfertig, denn die Bundesrepublik Deutschland hat die Schutzverpflichtung, ihre Staatsangehörigen, ihre Bürger nicht an Staaten und Gerichte auszuliefern, die die notwendigen rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Garantien nicht geben. In dem Fall des Statutes sind diese Garantien erfüllt. Der vorgesehene Entwurf der Verfassungsänderung sieht auch die Auslieferung an Staaten vor. Es muss in jedem Einzelfall per Gesetz geregelt werden, ob der Staat, den wir als Adressaten der Auslieferung in Betracht ziehen, diese rechtsstaatlichen, menschenrechtlichen Garantien erfüllt. Das ist kein Freibrief, sondern hier hat die Bundesrepublik Deutschland eine Schutzfunktion gegenüber ihren Bürgern zu erfüllen. Die Verfassungsänderung durch ein Gesetz zum Römischen Statut zu vollziehen fällt uns auch wegen des bereits angesprochenen Prinzips der Komplementarität leicht. Dieses Prinzip führt dazu, dass die Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof nur zulässig ist, wenn die Staaten, deren nationale Gerichtsbarkeit zuständig ist, entweder unfähig oder unwillig zur Strafverfolgung sind. Auch wenn sich das Völkerrecht, die Tatbestände der Kriegsverbrechen und der Verletzung des humanitären Völkerrechts, in seinem materiellen Gehalt nicht eins zu eins im deutschen Strafgesetzbuch wiederfindet, erfüllen wir die Voraussetzung, dass die internationale Strafgerichtsbarkeit im Verhältnis zur Strafgerichtsbarkeit in Deutschland subsidiär ist, weil wir die Tatbestände der Sache nach und dem Gewicht nach auch in Deutschland haben. Das heißt, es wird in diesem Fall keine praktische Anwendung der Auslieferung zu erwarten sein. Aber das ist nicht der entscheidende Grund. Ich weise nur darauf hin, dass die praktischen Auswirkungen, was den Internationalen Strafgerichtshof anbelangt, wegen dieses Grundsatzes der so genannten Komplementarität gering sein werden und dass darüber hinaus die rechtsstaatlichen Garantien erfüllt sind. Allerdings müssen wir, Frau Bundesjustizministerin, in dem Gesetz schon zitieren, dass es sich hierbei nach dem Zitiergebot des Art. 19 um eine Einschränkung auf gesetzlicher Grundlage des Grundrechts aus Art. 16 Abs. 2 handelt. Da besteht noch ein Nachbesserungsbedarf hinsichtlich des einfachen Gesetzes. Ich glaube, das Zitiergebot verlangt von uns, dass wir die Einschränkung von Art. 16 Abs. 2 explizit aufnehmen. Ein zweiter Gesichtspunkt, den ich hier ansprechen möchte und den wir sicherlich im Rechtsausschuss bei den Facherörterungen noch aufgreifen können: Ich bin der Überzeugung, dass wir, wenn wir die Auslieferung im Hinblick auf den Ruanda- und den JugoslawienStrafgerichtshof ebenfalls ermöglichen wollen, auch diese Gesetze ändern müssen. Denn diese Gesetze sind auf der alten verfassungsrechtlichen Grundlage erfolgt, das heißt keine Auslieferung von Deutschen an diese Strafgerichtshöfe. Wenn wir ermöglichen wollen - das ist der politische Konsens -, dass nun auch wegen Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda ausgeliefert werden können soll, dann müssen diese Gesetze wegen des Zitiergebotes ebenfalls ergänzt werden. Die Begründung der Verfassungsänderung sagt, dies sei nicht nötig, es könne ohne Änderung der Gesetze zu den Strafgerichtshöfen, die ich angesprochen habe, ausgeliefert werden. Das scheint mir wegen Art. 19 Abs. 1 nicht möglich zu sein. Darum sollten wir uns sehr rasch darüber verständigen, dass diese beiden Gesetze aufgrund des Zitiergebotes noch geändert werden und die Einschränkung von Art. 16 Abs. 2 aufgeführt wird. Im rechtspolitischen Teil dieser Frage möchte ich den Kollegen der anderen Fraktionen und der Bundesregierung eine Anregung unserer Fraktion übermitteln. Wir nähern uns der Hälfte der Legislaturperiode und stellen fest, dass wir an der einen oder anderen Stelle verfassungsrechtlichen Diskussionsbedarf haben. Gestern war die Debatte über die Änderung des Art. 12 a des Grundgesetzes, Stichwort: Frauen in der Bundeswehr, aus Anlass der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes in der Sache Kreil. Außerdem haben wir die Diskussion über Art. 87 a, Begrenzung des Einsatzes der Streitkräfte, und möglicherweise noch andere verfassungsrechtliche Fragen. Wir regen an und schlagen vor, einmal im Zusammenhang über die anstehenden verfassungsrechtlichen Fragen zu diskutieren, weil wir es für richtig halten, eine fachliche Diskussion zu führen, die auf Konsens angelegt ist. Wir suchen immer gern den Streit, aber wir sind auch dafür, dass es gerade in Verfassungsfragen bei einem breiten Konsens bleibt. ({1}) - So ist es. Darum ist unsere in dieser Debatte ausdrücklich vorgetragene Bitte, im Bereich der Rechtspolitik in dieser Legislaturperiode fraktionsübergreifend über den verfassungsrechtlichen Änderungsbedarf, den wir sehen, ein Gespräch zu führen. Herr Kollege Stiegler und Herr Kollege Hartenbach, wir wollen nicht über den vorliegenden Gesetzentwurf verhandeln. Die CDU/CSUFraktion stimmt diesem Gesetzentwurf zu. Wir wollen mit dieser Bitte vielmehr eine vernünftige verfassungsrechtliche Diskussion initiieren. Ich glaube, dem steht nichts im Wege. Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt ausdrücklich den enormen Fortschritt, der erreicht worden ist. Ich habe ihn als historisch bezeichnet. In einer Zeit, in der die Welt zusammenwächst und damit die Konflikte, die es auf dieser Welt gibt, näher bei uns sind, ist die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes ein Beitrag zur friedlichen Ordnung dieser Welt. Daher ist das Ergebnis, über das wir heute diskutieren, ein sehr schönes. Wir unterstützen es nachdrücklich. Danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin der Justiz, Herta Däubler-Gmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir heute mit der Umsetzung des Statuts über den Internationalen Strafgerichtshof beginnen können. In der Tat - wir haben es vorhin gehört -, der Weg von der Geburt der Idee zu einem solchen Strafgerichtshof im Jahre 1872 bis zu jenem historischen 17. Juli 1998 war sehr lang, viel zu lang. Dass die Verabschiedung des Statuts am 17. Juli 1998 nach langen Mühen und vielen gescheiterten Versuchen möglich wurde, auch das ist - ich unterstreiche das, was bisher gesagt wurde - ein historischer Schritt. Nun wissen wir alle, dass wir mit dem Prädikat „historisch“ zurückhaltend umgehen sollten. Aber ich teile Ihre Auffassung: In dem vorliegenden Falle ist diese Bezeichnung gerechtfertigt. Denn politisch dokumentiert dieser Vertrag die Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft, zum Jahrhundert- bzw. Jahrtausendwechsel ein neues und vor allem ein neuartiges internationales Gericht zu gründen. Mit dem Internationalen Strafgerichtshof wird der bislang leider vorherrschenden Straflosigkeit schwerster Massenverbrechen der Kampf angesagt. Die kraftvoll von Rom ausgehende Botschaft soll lauten: Die Stärke des Rechts soll an die Stelle des Rechts des Stärkeren treten. Und: Die Schreibtischtäter und Folterknechte dieser Welt - wo immer sie sich aufhalten - dürfen sich nirgendwo und zu keiner Zeit mehr sicher fühlen. Sie können nicht mehr darauf vertrauen, dass ihre Taten auf Dauer ungesühnt bleiben. ({0}) Dieses Signal ist angesichts der Massenverbrechen, der Völkermordtaten, die wir immer wieder zur Kenntnis nehmen müssen, außerordentlich wichtig. Gerechtigkeit möge werden, damit die Welt nicht zugrunde geht, so soll das Motto in Abwandlung des gerade Juristen sehr bekannten Wortes heißen, „Fiat iustitia ne pereat mundus“ - Gerechtigkeit möge werden, damit die Welt nicht zugrunde geht. Wie wirksam diese Botschaft sein kann, ja wie wirksam sie sein wird, das zeigt schon heute die Arbeit des Ruanda- und vor allen Dingen die des Den Haager Jugoslawien-Gerichtshofs. Beider Arbeit, so mühsam sie im Einzelnen ist - ich meine auch den JugoslawienGerichtshof -, hat einen ganz entscheidenden Anteil daran, dass es gelingen kann, die allgemeine Atmosphäre der Rechtlosigkeit, des Hasses und der Teilung in diesen Regionen, speziell auch im ehemaligen Jugoslawien, langsam, aber sicher abzubauen. Wir alle wissen - das hat die Kompromisse, von denen bereits gesprochen wurde, und die gescheiterten Versuche hervorgerufen -, dass das Vorhaben eines Internationalen Strafgerichtshofes auch Ängste provoziert hat, und zwar vor allem bei Staaten, die ganz peinlich auf die Wahrung ihrer Souveränität bedacht sind. Diese Ängste haben verhindert - ich teile diese Trauer, auch wenn ich realistisch bin -, dass man schon jetzt so weit gehen konnte, wie wir das eigentlich gewollt hätten. Nur, Kompromisse waren - das war uns allen klar - unausweichlich. Ich halte es für sehr beeindruckend, in welchem Maße die Staaten am Ende doch bereit waren, die überkommenen Souveränitätsbedenken zurückzustellen. So konnte beispielsweise erreicht werden, dass der Ankläger die internationale Strafverfolgung bei Vorliegen eines Anfangsverdachts einleiten kann, ohne dass zuvor ein Staat sein Plazet geben musste. Welch ein Fortschritt! Das war noch vor wenigen Jahren undenkbar und dieser Fortschritt konnte auch nur erreicht werden, weil es neben den engagierten Regierungen und Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland - ich sage an dieser Stelle ausdrücklich Dank auch an die frühere Bundesregierung - eine Menge an Nichtregierungsorganisationen gegeben hat, die sich zusammengeschlossen haben und die die Idee eines Internationalen Strafgerichtshofs ungemein konsequent und auch mit großem internationalen Nachdruck deutlich unterstützt haben. ({1}) Ohne sie wäre das nicht gegangen. Deshalb sei ihnen an dieser Stelle Dank gesagt, stellvertretend für alle dem Gründer dieser Koalition, William Pace. Meine Damen und Herren, der Internationale Strafgerichtshof kann - dies ist ebenfalls besonders wichtig gerade auch staatliche Repräsentanten zur Rechenschaft ziehen, wenn sie die Staatsgewalt zu einem Terrorinstrument gegen ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger pervertieren. Auch dies ist ein Bruch mit einer alten Tradition, der zeigt, dass die Weltgemeinschaft zu Beginn des dritten Jahrtausends nicht mehr gewillt ist, massenweise begangene Verbrechen wie Mord, Folter und Vertreibung unter Hinweis auf die bestehende staatliche Souveränität achselzuckend hinzunehmen. ({2}) Dieser Schritt ist ein fundamentaler Schritt hin zu mehr Individualschutz in der Völkerrechtsordnung, und den wollen wir wieder verstärken. Hinzu kommt noch etwas anderes. Der neue Strafgerichtshof wird eine ständige Einrichtung sein. Auch das ist wichtig, denn damit wird die internationale Reaktionsbereitschaft bereits vor der Tat gesichert. Damit wird deutlich gemacht, dass die internationale Strafgerichtsbarkeit ein zentraler, ein präventiver Teil der Weltfriedensordnung sein soll. Dieses Element wollen wir weiter unterstützen und ausbauen. Rechtlich gesehen ist der Fortschritt mit dem Internationalen Strafgerichtshof - also: mit dem Römischen Statut - vor allem in folgenden Punkten gewaltig: Zum Ersten werden die völkerrechtlichen Verbrechen des Völkermords, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie die Kriegsverbrechen in einem einheitlichen Dokument zusammengestellt. Damit wird zum Zweiten anerkannt, dass das Völkerstrafrecht eben nicht nur im Krieg, sondern in weitem Umfang auch im Bürgerkrieg begangene Abscheulichkeiten umfasst, und zum Dritten werden - weil damit nicht genug - die Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch das Statut als Straftatbestände zur Ahndung schwerster Menschenrechtsverletzungen sogar in Friedenszeiten fest etabliert. Außerdem enthält das Römische Statut erstmals einen Allgemeinen Teil des materiellen Völkerstrafrechts. Auch das ist angesichts der unterschiedlichen nationalen Lösungen ein ganz erheblicher Fortschritt. Im Strafprozessrecht sind ebenfalls neue Wege eingeschlagen worden. Dank der großen, aber auch effizienten Kompromissbereitschaft auf allen Seiten ist es gelungen, eine Art „kleine Völkerstrafprozessordnung“ zu erarbeiten, die - man höre und staune! - in etwa gleichgewichtigem Umfang Elemente des angloamerikanischen und des kontinentalen Rechtsdenkens enthält. Noch etwas kommt hinzu: Ganz zentral und ganz besonders bedeutsam ist der hohe rechtsstaatliche Standard dieses Statuts. Lassen Sie uns das deutlich ausdrücken: So wichtig die effiziente und effektive Verfolgung völkerrechtlicher Verbrechen ist, so wichtig ist auch die Legitimität dieses Vorgehens; dies erfordert die uneingeschränkte Wahrung der Rechte der beschuldigten Personen und daneben auch der Zeuginnen und Zeugen sowie vor allem der Opfer. Alle diese Anforderungen erfüllt das Statut. Es beachtet - auch das ist wichtig die international anerkannten Menschenrechtsstandards peinlich genau. Lassen Sie mich noch eines hinzufügen: Wichtig ist auch das Feld der staatlichen Zusammenarbeit mit diesem Gerichtshof. Wir wissen, dass dieser Gerichtshof nicht über eine eigene Polizei verfügen kann. Deshalb wird er auf die Unterstützung der Vertragsstaaten in Form der Überstellung verdächtiger Personen und der Übersendung von Beweismaterial angewiesen sein. Ohne diese Unterstützung wäre das ganze Projekt zum Scheitern verurteilt. Deshalb enthält das Statut ein Regime der Zusammenarbeit mit deutlich schärferen Pflichten für die Vertragsstaaten als die, die wir heute im zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehr kennen. Wir wollen das und wir werden diese Pflichten im Ausführungsgesetz zum Statut punktgenau erfüllen. Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, komme ich zu der Arbeit, die jetzt vor uns liegt. Denn in der Tat ist das Unternehmen Internationaler Strafgerichtshof mit der Annahme des Römischen Statuts nicht beendet. Wir haben schon gehört, dass der Internationale Strafgerichtshof die Arbeit erst aufnehmen kann, wenn 60 Ratifikationen vorliegen; sieben gibt es bis heute. Wir wollen, dass die Arbeitsaufnahme sehr bald erfolgen kann. Deshalb haben wir uns das ehrgeizige Ziel gesetzt - zusammen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union -, unsere innerstaatlichen Zustimmungsverfahren zum Statut bis zum Ende des Jahres 2000 abgeschlossen zu haben. Das ist ein ehrgeiziges Unterfangen. Ich freue mich - lassen Sie mich das ausdrücklich sagen -, dass wir die Unterstützung aller Fraktionen dieses Hauses dabei haben. Weil dieser Zeitplan so ehrgeizig ist, haben wir Ihnen im Gesetzgebungsverfahren jetzt zwar den Entwurf des Vertragsgesetzes und den Entwurf des Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes vorgelegt, bevor der Entwurf eines Ausführungsgesetzes ganz fertig ist. Bei der Erarbeitung dieses Ausführungsgesetzes werden wir eine ganze Menge von Überlegungen zu berücksichtigen haben. Ich kann Ihnen schon heute ankündigen, dass wir diese Arbeit in Kooperation mit Ihnen auf möglichst effiziente Weise vorantreiben wollen. Uns ist das Ausführungsgesetz deswegen wichtig, weil wir sicherstellen wollen, dass es in Kraft getreten ist, bevor der Internationale Strafgerichtshof seine Arbeit aufnehmen kann. Jetzt zu dem Ihnen ebenfalls zugeleiteten Gesetzentwurf zur Ergänzung des Grundgesetzes. Diese Ergänzung ist notwendig. Würden wir als Vertragsstaat des Internationalen Strafgerichtshofs unsere eigenen Staatsangehörigen von der Überstellung an diesen Gerichtshof prinzipiell ausnehmen, würde das die Grundidee des Vorhabens ad absurdum führen. Das wollen wir nicht. Deswegen soll durch Änderung - eigentlich ist es eine Ergänzung - des Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes die Auslieferung und die Überstellung deutscher Staatsangehöriger an diesen Gerichtshof ermöglicht werden. Aber in der Tat gehen mit dieser Ergänzung - darauf ist schon hingewiesen worden - zwei zusätzliche Erweiterungen einher: Die eine erlaubt zum Ersten die Auslieferung Deutscher auch an andere internationale Gerichtshöfe. Das zielt in der Tat auf den so genannten Jugoslawien- und Ruanda-Strafgerichtshof. Wir holen damit nach, wozu die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich längst verpflichtet ist, aber noch nicht die entsprechenden nationalen Gesetze geschaffen hat. Zum Zweiten ermächtigt die Verfassungsänderung den Gesetzgeber auch dazu, die Auslieferung deutscher Staatsangehöriger an Mitgliedstaaten der Europäischen Union vorzusehen. Das ist auch eine vernünftige Erweiterung. Das EU-Auslieferungsübereinkommen von 1996 begreift ja die Auslieferung eigener Staatsangehöriger innerhalb von EU-Mitgliedstaaten längst als Regelfall. Deutschland musste bislang immer eine Ausnahme für sich in Anspruch nehmen. Das soll sich ändern. Künftig kann es dem innerhalb Europas gesetzten Maßstab entsprechen und insofern gleichziehen mit unseren Partnern in der Europäischen Union. Wir kommen damit dem kürzlich auf dem Europäischen Rat in Tampere bekräftigten Ziel der Schaffung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes in der Europäischen Union einen wesentlichen Schritt näher. ({3}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss noch einen ganz anderen, aber auch zentralen Punkt bezüglich des Internationalen Strafgerichtshofs ansprechen. Wir alle wissen, dass dieses Gericht - so wichtig seine Errichtung auch ist - die strafrechtliche Verfolgung der völkerrechtlichen Massenverbrechen nicht allein garantieren kann. Die verstärkte Bereitschaft der Vertragsstaaten zur Strafverfolgung auf der nationalen Ebene muss hinzukommen. In der deutschen Justiz ist das bereits als Aufgabe begriffen worden. Auch dafür sei herzlich Dank gesagt. Dieser Gedanke hat eine Auswirkung für den Internationalen Strafgerichtshof, weil das Statut bekanntlich den Gedanken der Komplementarität festschreibt. Das heißt: Ein Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof ist nur dann zulässig, wenn es auf der nationalen Ebene am Willen oder an der Fähigkeit zur Strafverfolgung fehlt. Dieser Komplementaritätsgrundsatz bringt zum Ausdruck, dass die nationalen Strafverfolgungsinstanzen auch nach Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs gefordert bleiben, und zwar primär. Ich möchte unterstreichen, dass wir diese Botschaft sehr ernst nehmen und deshalb Verdächtige auch und insbesondere dann, wenn es sich um Deutsche handelt, selbst verfolgen wollen, statt sie dem Internationalen Strafgerichtshof zu überstellen. Wir tun das natürlich auch deshalb, weil wir wissen: Wir können das, wir wollen das und wir brauchen diesen Internationalen Strafgerichtshof nicht unnötig zu belasten. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung beschlossen, eine neue und bessere Rechtsgrundlage für die Ahndung von Völkerstraftaten in Deutschland zu schaffen. Eine Arbeitsgruppe, der auch Wissenschaftler angehören, arbeitet derzeit daran. Ziel ist, mit diesem Völkerstrafgesetzbuch den spezifischen Unrechtsgehalt der Völkerstraftaten im deutschen Recht angemessen zu erfassen, die Rechtsanwendung erheblich zu vereinfachen und überdies ein Mehr an Rechtsklarheit und -bestimmtheit zu erreichen. Dies soll - meine Damen und Herren, lassen Sie mich das sagen - vor allem auch unseren Soldatinnen und Soldaten zugute kommen und ihnen mehr Sicherheit geben. Gleichzeitig aber ist das Völkerstrafgesetzbuch auch wegen seiner internationalen Symbolkraft ein wertvoller Beitrag zur weiteren Konsolidierung des Völkerstrafrechts. In der Tat liegt eine Menge Arbeit vor uns. Ich bedanke mich ausdrücklich für die Arbeit der früheren Bundesregierung. Ich bedanke mich dafür, dass Sie die Unterstützung der jetzigen Bundesregierung zugesagt haben. Ich danke Ihnen auch für Ihre Anregungen und darf sagen: Unser Zeitplan ist sehr ehrgeizig. Es wäre aber gut, wenn wir ihn einhalten könnten. Dann nämlich würde am Ende dieses Prozesses, wenn der Internationale Strafgerichtshof seine Arbeit wirklich aufgenommen haben wird, gesagt werden können, dass Deutschland seiner gewachsenen internationalen Verantwortung und seiner schon immer in Anspruch genommenen rechtsstaatlichen Verantwortung, also seiner Verantwortung für den Rechtsstaat, gerecht geworden ist. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Edzard Schmidt-Jortzig.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002781, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die F.D.P. begrüßt nachdrücklich - das wird Sie nicht überraschen -, dass die Bundesregierung nun mit der Ratifizierung des Römischen Statuts des ständigen Internationalen Strafgerichtshofs beginnt. Deutschland hat bei der Einführung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit für die völkerrechtlichen Kernverbrechen aus guten Gründen immer eine Vorreiterrolle gespielt und deshalb nicht nur bei der entscheidenden Staatenkonferenz im Sommer 1998, sondern namentlich in dem langen Arbeitsprozess zuvor sowie in den Detaillierungsverhandlungen seither zu den engagiertesten Förderern der Entwicklung gehört. Ich erinnere daran, dass - jedenfalls habe ich dies Pressemitteilungen entnommen - zuletzt ein Vorschlag gerade auch der Deutschen zusammen mit Kanada das sehr schwierige Geschäft der Definition des Aggressionstatbestandes vorangebracht hat. Die Bildung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs ist im humanitären Völkerrecht in der Tat ein Fortschritt par excellence. Es kommt damit - das ist schon verschiedentlich betont worden, ich glaube aber, dass es richtig ist, das noch einmal zu betonen - eine Entwicklung ans Ziel, die, jedenfalls konkret, vor mehr als einem halben Jahrhundert, mit den Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg 1945 bis 1949 begann und nun die Ächtung, die Verfolgung und die Ahndung von Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Angriffskrieg zur erklärten Sache der gesamten Welt macht. Jetzt wird also ein Teil der Bemühungen um Frieden und Menschenrechte zur normalen Pflicht des praktischen Normvollzugs. Eine Aufgabe zwischenstaatlicher Bemühungen wird zum Gegenstand der Weltinnenpolitik. Das ist nachhaltig zu begrüßen. Ich scheue mich ein wenig vor dem Prädikat „historisch“, aber eigentlich wäre es hier angebracht. Zudem wird die Dominanz militärischer Aspekte bei der Lösung internationaler Konflikte ganz eindeutig zurückgedrängt, weshalb in manchen Staaten die Militärs heftig dagegen opponiert haben und wohl auch noch opponieren. Schließlich bekommen die Menschenrechte nachhaltige Verstärkung, weil ein Verstoß, wenigstens gegen ihre elementarsten Formen, nun nicht nur politische Reaktionen hervorruft, sondern direkte strafrechtliche Folgen hat. Die Herrschaft des Rechts allgemein wird also ausgebaut und damit rückt die Vision einer Weltfriedensordnung durch Recht ein deutliches Stück näher. ({0}) Ich will es bei dieser Skizze der Folgen des Schrittes von Rom belassen; es ist schon von anderen darauf hingewiesen worden. Über den Inhalt des Gerichtshofsstatutes im Einzelnen werden wir noch in den Ausschüssen beraten. Aber eine kleine weiterreichende, nämlich europäische Perspektive will ich noch hervorheben. Seit In Kraft Treten des Amsterdamer Vertrags vor bald einem Jahr ist der Aufbau eines gemeinsamen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ausdrückliches Ziel der Europäischen Union. Es sollen schrittweise - ich zitiere Maßnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen in bestimmten Bereichen organisierter Kriminalität ergriffen werden. Das ist der Einstieg in ein europäisches Strafgesetzbuch. Niemand sollte sich skeptisch zurücklehnen, weil so etwas realiter doch nicht zu erreichen sei; man wisse ja, dass die Europäer, wenn es um ihre Rechtsordnung geht, bockbeinig und herzlich zerstritten seien. Rom hat uns hier eines Besseren belehrt. Was dort 150 Staaten der ganzen Welt zustande gebracht haben, werden erst recht die 15 in Europa schaffen können. Wir sollten also auch den europäischen Drive des Römischen Statuts, der hier hineingekommen ist, deutlich sehen. ({1}) Meine Damen und Herren, mit dem Ratifikationsgesetz verbindet die Bundesregierung den Entwurf einer Änderung des Grundgesetzes. Auch diesen Schritt begrüßen wir, selbst wenn es im Einzelnen noch Klärungsbedarf gibt und - ich werde das gleich noch vortragen Präzisierungen erwünscht sind. Die Auflösung der strikten Abschottung der eigenen Staatsbürger gegenüber nicht heimatstaatlichen Justizzugriffen ist an der Zeit; denn der Maßstab eines allein auf sich bezogenen Nationalstaats hat seine Berechtigung verloren, jedenfalls für einen Staat wie Deutschland im Zentrum Europas. Deutschland engagiert sich nicht nur nachdrücklich, wie seine Verfassung besagt, bei der Verwirklichung eines vereinten Europas, welches namentlich den gemeinsamen Rechtsraum anstrebt. Deutschland integriert sich vielmehr auch in den Organisationen der Völkergemeinschaft und ist dazu bereit, Hoheitsrechte zu übertragen. Damit sind aber auch Jurisdiktionsverschiebungen möglich, soweit gleiche rechtsstaatliche Standards der Rechts- und Prozessordnung garantiert werden können. Diese Garantenpflicht gegenüber den eigenen Staatsangehörigen verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland, diese Bedingungen genau einzuhalten. Deshalb muss die Öffnung des Auslieferungsschutzes für internationale Gerichtshöfe wohl doch noch hinterfragt werden. Soll sie für alle Felder gelten oder nicht doch nur für Strafgerichtshöfe? Und vor allem: Soll sie für jede zwischenstaatliche Justizeinrichtung, jeden zwischenstaatlichen Gerichtshof gelten, nicht nur für solche, die ausdrücklich unter der Verantwortung der Vereinigten Nationen stehen, also möglicherweise auch dort, wo wir nicht die Garantie dafür geben können, dass die drohenden Strafen, das angewendete Prozessrecht und gegebenenfalls auch die Vollzugsordnung den Maßstäben unseres Rechtsstaates genügen? Das eben wird dem deutschen Staatsangehörigen von seinem Schutzverband, das heißt: dem Staat garantiert. Und das war und ist auch die Ratio des bestehenden Auslieferungsverfahrens. In der Sache sind wir uns wahrscheinlich völlig einig, dass ein einzelnes Auslieferungsgesetz in der Tat nur zustande kommen kann, wenn der Staat, an den ausgeliefert werden soll, das internationale Gericht, an das ausgeliefert werden soll, die gleichen rechtsstaatlichen Standards bewahren und gewähren, wie wir sie in Deutschland kennen. Für eine Durchbrechung der geltenden Regelungen muss dieser Maßstab ausdrücklich in die Verfassung aufgenommen werden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002781, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, ich denke daran, zumal das Lämpchen hier wunderschön leuchtet. ({0}) „Präsident“ steht darauf, nicht „Präsidentin“; das muss geändert werden. ({1}) Ich bin bei meinem vorletzten Satz. Die Öffnung der überkommenen Sperre zugunsten der Mitgliedstaaten der EU bzw. ihrer Gerichte befürworten wir ausdrücklich, weil in dem europäischen gemeinsamen Raum des Rechts diese Gewähr übernommen und erreicht werden kann. Lassen Sie uns also in den Ausschusssitzungen auf diesen Punkt noch einmal genauer schauen! Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt erhält Frau Kollegin Kenzler das Wort.

Dr. Evelyn Kenzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003159, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Zustandekommen des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs mehr als ein halbes Jahrhundert nach den Nürnberger und Tokioter Tribunalen ist zweifellos ein bedeutsames Ereignis im internationalen Leben. Mit dem Statut wird der rechtliche Rahmen dafür geschaffen, dass sich Einzelpersonen, auch wenn sie hohe Ämter ausüben oder ausgeübt haben, vor einem internationalen Gericht wegen schwerster internationaler Verbrechen verantworten müssen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden können. Das Statut bestimmt die Tatbestandsmerkmale der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Kriegsverbrechen hinreichend eindeutig und übernimmt den Tatbestand des Völkermordes aus der entsprechenden Konvention von 1947. Es sieht eine Gerichts- und Verfahrensordnung vor, die rechtsstaatlichen Erfordernissen entspricht und einen fairen Prozess garantiert. Zum Teil sind die Verfahrensvorschriften sogar so penibel und detailliert, dass Behinderungen für ein zügiges Verfahren zu befürchten sind. Das Statut enthält jedoch auch wesentliche Mängel. Wir wissen, dass es einen nach langen Verhandlungen erreichten Kompromiss darstellt, der beinahe am Widerstand der USA und anderer Staaten gescheitert wäre. Wir wissen auch, dass der Bundestag auf den Inhalt des Statuts keinen Einfluss mehr hat. Er kann nur Ja oder Nein zum Ratifikationsgesetz sagen. Nach Lage der Dinge muss man Ja sagen. Aber man muss sich der Mängel bewusst sein, damit nicht euphorische Erwartungen entstehen, die dieser Gerichtshof nicht erfüllen kann und wird. Dazu einige Anmerkungen: Erstens. Die USA, China, Indien und einige weitere Staaten haben in Rom trotz aller Zugeständnisse gegen das Statut gestimmt. Sie werden dem Statut in absehbarer Zeit auch sicher nicht beitreten. Andere Staaten werden sich erwartungsgemäß mit der Ratifikation Zeit lassen. Nach Art. 124 kann ein Staat erklären, dass er sieben Jahre lang, nachdem das Statut für ihn in Kraft getreten ist, die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs für Kriegsverbrechen nicht anerkennt. Verfahren können nur in den Fällen durchgeführt werden, wo entweder der Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Täter besitzt, oder der Staat, in dessen Hoheitsgebiet sich das Verbrechen ereignet hat, Partner des Statuts ist. Nach Art. 17 gilt der Grundsatz der Komplementarität; das heißt: Der Gerichtshof kommt nur zum Zuge, wenn ein vorrangig zuständiger Staat nicht willens oder nicht in der Lage ist, die Strafverfolgung durchzuführen. Wann das der Fall ist, wird in einem komplizierten Verfahren entschieden. Die Überstellung mutmaßlicher Täter an den Gerichtshof ist mit vielen Hürden versehen. Der Gerichtshof wird in erster Linie auf Initiative eines Vertragsstaates oder des Sicherheitsrates tätig. Dem Ankläger ist es zwar erlaubt, aus eigener Initiative Ermittlungen einzuleiten. Diese Eigeninitiative wird ihm aber durch prozedurale Vorschriften schwer gemacht. Das alles behindert von vornherein die Wirksamkeit des Gerichts ganz erheblich. Es wurden genügend Hindernisse in das Statut eingebaut, die es den Staaten ermöglichen, ihre eigenen Bürger der Gerichtsbarkeit des Strafgerichtshofs zu entziehen. Zweitens. Der Gerichtshof hängt zwar nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, am Gängelband des Sicherheitsrates - das ist zu begrüßen -, aber immerhin wird dem Sicherheitsrat nach Art. 16 das Recht eingeräumt, durch ein nach Kapitel VII der UN-Charta beschlossenes entsprechendes Ersuchen für einen Zeitraum von 12 Monaten die Einleitung oder die Fortführung eines Ermittlungs- oder Strafverfahrens zu verhindern und durch neuerliches Ersuchen diesen Zeitraum zu verlängern. Das ist eine erstaunliche Beschneidung der Souveränität des Gerichtshofs durch die Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates. Die USA und andere ständige Mitglieder, die womöglich gar nicht dem Statut angehören, bestimmen über die zeitweilige Aussetzung der Gerichtsbarkeit im Einzelfall. Drittens. Scharfe Kritik verdient die Tatsache, dass die Anwendung von Atom- und anderen Massenvernichtungswaffen nicht in die Tatbestandsmerkmale der Kriegsverbrechen aufgenommen wurde. Der Einsatz dieser mörderischen Waffen soll also in diesem Rahmen straffrei bleiben, obwohl ein völkerrechtliches Verbot ihrer Anwendung besteht. ({0}) Das Verbrechen der Aggression ist zwar in Art. 5 aufgenommen; bestraft werden kann es aber vorerst nicht. Es muss erst von den Partnern des Statuts eine Bestimmung angenommen werden, die dieses Verbrechen definiert und Bedingungen für die Ausübung der Gerichtsbarkeit im Hinblick auf dieses Verbrechen festlegt. Dabei existiert bereits eine von der Generalversammlung 1974 einstimmig angenommene Definition der Aggression. Offensichtlich soll in diesem Punkt der Gerichtshof in die Abhängigkeit von Entscheidungen des Sicherheitsrates, praktisch der Ständigen Mitglieder, gebracht werden. Die vorgeschlagene Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes scheint mir eine rechtlich gebotene Konsequenz aus der Verbindlichkeit des Statuts für Deutschland zu sein. Wenn man die Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs akzeptiert, muss man natürlich auch akzeptieren, dass Deutsche ausgeliefert werden können. Das Statut soll erst am ersten Tag des Monats in Kraft treten, der auf den 60. Tag nach der 60. Hinterlegung der entsprechenden Urkunde beim Generalsekretär der Vereinten Nationen folgt. Hoffentlich liegt dieser Tag nicht mehr in allzu weiter Ferne. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hartenbach.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beginnen heute mit dem Verfahren zur Ratifizierung des Gesetzes zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Erforderlich dazu ist auch, dass wir Art. 16 des Grundgesetzes so weit ändern, dass in bestimmten Fällen auch Deutsche an diesen Internationalen Strafgerichtshof und an andere internationale Gerichtshöfe ausgeliefert werden können, wenn gegen sie wegen schwerer Verbrechen ermittelt wird. Bei diesen schweren Verbrechen handelt es sich um Verbrechen des Völkermords, gegen die Menschlichkeit, um Kriegsverbrechen und - wie bereits gesagt - um Verbrechen der Aggression. Eine Auslieferung erfolgt nur, wenn die Verfahren national, also hier bei uns in Deutschland, nicht durchgeführt werden können, etwa weil sie verjährt sind. Dies wird in aller Regel nicht der Fall sein. Andererseits muss man wissen, dass es selbstverständlich sein muss, dass unser Land - auch und besonders eingedenk unserer eigenen Geschichte - diejenigen, die dieser schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt werden, entweder selbst verfolgt oder, wenn eine Verfolgung nicht möglich ist, eben an einen internationalen Strafgerichtshof ausliefert, damit verfolgt werden kann. Wir sind froh, dass die Bundesrepublik Deutschland diesen Vertrag über den Internationalen Strafgerichtshof wiederum als eines der ersten Länder ratifizieren will. Bereits bei der Unterzeichnung des Römischen Statuts hatte die Bundesrepublik eine Vorreiterrolle, hat gleichsam als Motor fungiert. Für diese positive Gestaltung möchte ich heute den damaligen Ministern, unter anderem Ihnen, Herr Schmidt-Jortzig, herzlich danken. ({0}) Wir brauchen in dieser Welt dringend einen Internationalen Strafgerichtshof. Er ist notwendig und erforderlich, damit künftig kein Diktator in dieser Welt mehr sicher sein kann, dass seine Verbrechen ungesühnt bleiben. Ich habe mich zusammen mit Frau von Renesse vor nicht allzu langer Zeit in Ruanda über den dortigen Genozid informiert. Wir haben uns in Tansania sehr eingehend mit der Arbeit des dortigen Strafgerichtshofes befasst. Dabei ist deutlich geworden, wie wichtig es ist, dass entsprechende Verbrechen von einem internationalen Gericht geahndet werden, das alle Möglichkeiten der Ermittlungen hat. Wer wie wir erlebt hat, dass dieser Gerichtshof mit großer Akribie und Sorgfalt vorgeht, der weiß, dass dies auch künftig bei allen Verfahren wegen Verbrechen wie Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die leider noch immer geschehen und geschehen werden, möglich sein muss. Wir begrüßen es, dass in dem Vertrag alle rechtsstaatlichen Grundsätze, wie wir sie aus unserem Strafverfahrensrecht kennen, berücksichtigt werden. Dies garantiert auf jeden Fall, dass Verfahren - so haben wir es auch in Afrika erlebt - nach rechtsstaatlich einwandfreien Regeln durchgeführt werden. Aber das bedeutet auch, dass Urteile solcher Gerichtshöfe ein hohes Maß an Wirkung in der Welt erzielen werden. Wir versprechen uns davon, nein, wir wissen, dass der Internationale Strafgerichtshof schon allein durch seine Existenz und die Erfahrungen mit den beiden anderen Strafgerichtshöfen präventiv wirken wird, also der Verhinderung von Verbrechen dienen wird. Wir müssen das Grundgesetz ändern und das vorliegende Gesetz ratifizieren. Unser demokratisch legitimierter Rechtsstaat hat ein hohes Maß an Verantwortung, dass Verbrechen des Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in der Welt künftig nicht mehr geschehen. Aber wir tragen auch Verantwortung dafür, dass die Arbeit eines Strafgerichtshofs effektiv gestaltet wird. Das heißt, wir müssen auch dafür sorgen, dass sich die Verbrecher nicht irgendwo verstecken können, sondern dass sie ermittelt, ausgemacht und ausgeliefert werden. ({1}) Ich bin sehr dankbar, dass wir heute - das ist feststellbar - ein hohes Maß an Übereinstimmung finden. Ich freue mich auf die künftigen Beratungen, die wir sicherlich ebenfalls in einem hohen Maß an Übereinstimmung durchführen werden. Wir stellen uns gemeinsam der Verantwortung und werden gemeinsam etwas für die Geschundenen dieser Welt tun können. Vielen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Kollege Ruprecht Polenz das Wort.

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Alle Vorrednerinnen und Vorredner haben die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs begrüßt. Sie haben dabei das besondere Engagement der Bundesrepublik Deutschland hervorgehoben. Wir erinnern uns daran, dass dieses Vorhaben auch immer von allen Fraktionen und allen Parteien hier im Haus unterstützt worden ist. Ich kann mich deshalb den Ausführungen nur anschließen, ebenso wie dem Dank an die frühere Bundesregierung und an die NGOs, insbesondere Amnesty International, Human Rights Watch, die Vereinigung europäischer Jura-Studenten, das Lawyers‘ Committee for Human Rights und natürlich die internationale NGO-Coalition for an International Criminal Court. Alle haben die Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs zu ihrer Sache gemacht. Ich habe zur Vorbereitung auf die heutige Debatte die Schilderung der abschließenden Verhandlungen in Rom nachgelesen, die der Völkerrechtsreferent im Auswärtigen Amt, Peter Kaul, zu Papier gebracht hat. Es ist für die Bewertung des Erreichten wichtig, sich vor Augen zu führen, dass es vor den entscheidenden Verhandlungen in Rom 1 400 Dissenspunkte und fast 200 verschiedene Optionen zu verschiedenen Stellen des Status gab. Man muss sich also diese Meinungsverschiedenheiten vergegenwärtigen, wenn man den erreichten Kompromiss richtig bewerten will. Es ist ja richtig: Auf der einen Seite gibt es Staaten das gilt bis heute fort, und wir werden es auch in den Folgeverhandlungen noch spüren -, die um ihre Souveränität besorgt sind. Sie wollen einen eher schwachen, mehr symbolischen Strafgerichtshof, dessen Tätigwerden möglichst von Einzelfallermächtigungen des Sicherheitsrats abhängig gemacht werden soll. Ihnen ist es wichtig - dies ist etwa in den USA artikuliert worden -, dass Angehörige des eigenen Staates möglichst nicht vor diesen Gerichtshof gezerrt werden können. Dabei wird das Ziel einer möglichst universellen Akzeptanz dieses Strafgerichtshofs eher vorgeschoben, um das Vorhaben selbst zu verwässern. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite stehen die gerichtshoffreundlichen, so genannten gleich gesinnten Staaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland. Wir wollen einen möglichst effektiven, funktionsfähigen, unabhängigen und damit glaubwürdigen Internationalen Strafgerichtshof. Er soll möglichst klare und obligatorische Zuständigkeitsregeln haben und soll seine Strafgerichtsbarkeit immer dann ausüben können, wenn der nationale Strafrichter seinen Aufgaben nicht oder nur ungenügend nachgekommen ist oder diese nicht wahrnehmen konnte. Vor diesem Hintergrund also müssen wir das Statut bewerten. Der Außenminister hat das Abstimmungsergebnis in Erinnerung gerufen: 120 haben mit Ja gestimmt. Es gab 7 Gegenstimmen: China, Irak, Israel, Jemen, Katar, Libyen und die USA - also eine etwas bunte Reihe. Es gab 21 Stimmenthaltungen, darunter Indien und Pakistan. Vieles ist zur Wirksamkeit des Statuts gesagt worden; aber man muss sich schon vergegenwärtigen, dass in den 28 Staaten, die nicht zugestimmt haben, die Hälfte der Weltbevölkerung lebt. Also so ganz schnell wird es überall für die Diktatoren möglicherweise noch nicht Ernst. Trotzdem schließe ich mich den hier vorgenommenen Bewertungen an, weil im Ergebnis ein Statut erreicht werden konnte, das für die Errichtung eines ausreichend starken und unabhängigen Gerichts eine tragfähige Grundlage bildet. Bis heute haben 94 Staaten dieses Statut unterzeichnet und sieben haben es bereits ratifiziert. Es wird noch etwa zwei Jahre dauern, bis das Statut in Kraft treten kann. Deshalb ist es gut, dass die Bundesregierung heute das Ratifizierungsverfahren einleitet. Frau Ministerin, wir sollten das Ziel vor der Sommerpause erreichen. Wenn das geschieht, wären wir bei den Ersten, die das Ratifizierungsverfahren abgeschlossen haben. Dies dürfte übrigens auch für Österreich gelten. Ich habe mich einmal erkundigt: Die neue Regierung in Österreich wird Mitte April den entsprechenden Gesetzentwurf ins Parlament einbringen. Nach Auskunft der österreichischen Botschaft würde sich die jetzige Regierung und vor allem die neue Außenministerin für die Ratifizierung besonders engagieren. Herr Minister, es ist vielleicht eine Chance, das bei nächster Gelegenheit auch einmal zu registrieren und anzuerkennen. Ich möchte noch etwas zur Haltung der USA sagen, weil die bisherige Einlassung der Vereinigten Staaten von Amerika außerordentlich problematisch ist. Die Bundesregierung sollte alles tun, um die Haltung der USA zu beeinflussen, damit auch die Vereinigten Staaten dem Abkommen schlussendlich beitreten. Auch wir als Abgeordnete haben eine Chance, dabei mitzuhelfen. Das darf allerdings nicht um den Preis einer weiteren Verwässerung geschehen. Die Hauptbedenken der USA lassen sich etwa so zusammenfassen: Ein Ankläger könnte aus politischen Gründen amerikanische Soldaten vor dieses internationale Gericht zerren. Man will amerikanische Soldaten in offizieller Mission schützen. Das sind die Kernbedenken. Aber davor schützt schon der Grundsatz der Komplementarität des Internationalen Strafgerichtshofs. Sobald die USA selbst ein Strafverfahren betreiben, hat dies Vorrang. Gemäß Art. 18 des Statuts können die USA mit dem Hinweis auf eigene Ermittlungen erreichen, dass der Ankläger seine Ermittlungen um sechs Monate zurückstellt. Wenn der Ankläger zu dem Ergebnis käme, diese Ermittlungen seien nicht ernsthaft, dann kann er dies nicht selbst feststellen und seine Ermittlungen einfach wieder aufnehmen; vielmehr obliegt diese Feststellung der Ermittlungskammer des Gerichtshofs. Gegen deren Entscheidung kann der betroffene Staat wiederum Berufung einlegen. Erst wenn die Berufungskammer dies zurückweist, könnte der Ankläger seine Ermittlungen fortführen. Diese Regelungen, meine sehr geehrten Damen und Herren, bringen den Vorrang nationaler Strafverfolgung nun wirklich ausreichend zum Tragen. Man geht hier eigentlich schon ein Stück zu weit. Wenn man sich vor Augen führt, dass der Internationale Strafgerichtshof einen großen Fortschritt in Bezug auf den Schutz der elementaren Menschenrechte bringt, dann haben wir allen Anlass, den Vereinigten Staaten von Amerika vor Augen zu halten, dass ihre ablehnende Haltung - wenn sie denn dabei bleiben sollten - auch einen Bruch mit der eigenen völkerrechtsprägenden Tradition der USA bedeuten würde, die ja wesentliche Impulse für das Entstehen des Völkerbundes und der Vereinten Nationen selbst gegeben haben. Damit einher ginge auch ein erheblicher Glaubwürdigkeitsverlust für die Menschenrechtspolitik der USA. Es ist ja schwer miteinander vereinbar, dass das State Department über alle Staaten dieser Welt jedes Jahr Menschenrechtsberichte erstellt, sich die USA aber gleichzeitig weigern, sich dem Internationalen Strafgerichtshof zu unterstellen, der, wie es in der Präambel des Statuts heißt, die schwersten Verbrechen, welche die internationale Staatengemeinschaft als Ganzes berühren, nicht unbestraft lassen will und der dazu beitragen soll, der Straflosigkeit der Täter ein Ende zu setzen und so zur Verhütung solcher Verbrechen beizutragen. Wir sollten hier gemeinsam jede Chance nutzen, die Haltung der Vereinigten Staaten im Sinne einer Zustimmung zu dem Statut zu beeinflussen. Nun gibt es noch einen weiteren Punkt, der etwas Wasser in den Wein der Hoffnung fließen lässt: Damit Verbrecher sehr schnell einem Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof zugeführt und gegebenenfalls verurteilt werden können, ist - das ist schon gesagt worden - der Gerichtshof auf die Zusammenarbeit mit den Staaten angewiesen. Er selbst hat dazu nämlich keine eigenen Möglichkeiten. Rechtlich zu dieser Zusammenarbeit sind aber nur die Vertragsstaaten verpflichtet. Auch deshalb kommt es auf eine möglichst breite Basis bei der Ratifizierung an. Wenn der oder die Angeklagte dem Gericht nicht überstellt wird, dann kann überhaupt nicht verhandelt werden. Wir haben diese Erfahrung ja mit den zur Fahndung ausgeschriebenen Karadzic und Mladic gemacht. Wir wollen einmal sehen, ob sie noch dem eigentlich für im ehemaligen Jugoslawien begangene Verbrechen vorgesehenen Gerichtshof überstellt werden. Ich möchte aber schon darauf hinweisen, Herr Minister - über den Punkt werden wir auch in einem anderen Kontext noch sprechen müssen -, dass das Defizit an internationalen Polizeikräften immer mehr zu einem Problem wird, das wir nicht nur jetzt in Bosnien und im Kosovo feststellen, sondern das sich zunehmend auch zeigen wird, wenn der Internationale Strafgerichtshof seine Arbeit aufnimmt. Hier müssen wir in Deutschland - wir engagieren uns im Kosovo und in Bosnien in vorderer Linie mit unseren Polizeikräften, aber sicherlich immer noch nicht ausreichend - auch darüber nachdenken, ob nicht die Schnittstellen zwischen Militär und Polizei ein Stück weit neu definiert werden müssen. Diese Debatte brauchen wir heute nicht zu führen, aber sie wird auf uns zukommen. ({0}) - Nicht im Inneren, aber die Schnittstellen im Äußeren stehen zur Debatte, zum Beispiel die Frage, ob die Bundeswehr, Herr Minister, dafür zuständig war bzw. wäre, Kriegsverbrecher sozusagen im polizeilichen Sinne zu verfolgen und sicherzustellen. Diese Debatte haben wir ja geführt. Es zeigte sich, dass es diese Schnittstellen gab. Unsere Fraktion wird dem Statut zustimmen. Es wird mit breiter Mehrheit in diesem Hause - ich denke, einstimmig - ratifiziert werden. Das ist auch gut so. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Margot von Renesse.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es hat uns schon gut getan, dass uns, als wir, der Kollege Hartenbach, die Kollegin Lilo Friedrich und ich, in Ruanda waren, bei dem Internationalen Gerichtshof in Arusha, der sich mit dem Völkermord in Ruanda beschäftigt, immer wieder gesagt wurde, als wie gut man die Rolle Deutschlands bei den Verhandlungen zu den Römischen Verträgen erlebt hat und wie sehr sie noch in Erinnerung ist. Das hat uns umso mehr gut getan, als bei der Lektüre des ersten Urteils jeder Deutschen und jedem Deutschen die zweite Rolle förmlich entgegensprang, die wir bei der Entwicklung des internationalen Strafrechts gespielt haben, zumal wenn dieses sehr stark durch Common Law, also durch das starke Gewicht der Proceedings geprägt ist; denn wesentliche Proceedings stammen aus Nürnberg. Dass in einem Urteil, das in Arusha in Tansania, im schwärzesten Afrika, gefällt wurde, immer wieder deutlich zu sehen ist, dass Nürnberg, der EichmannProzess und der Barbie-Prozess die Entwicklung des internationalen Strafrechts geprägt haben, war auch ein Erlebnis. Beides sollte man im Auge behalten, wenn man die Verantwortung Deutschlands für diesen großen Schritt, den wir gehen, bedenkt und wenn man mit Stolz, aber eben auch mit dem Gefühl für die eigene Geschichte an dieses Thema herangeht. Die alte Bundesregierung hat es gut gemacht, und die neue muss es gut machen und sich auch darin bewähren, wie es weitergeht. Dazu äußere ich eine erste Bitte: Es hat mir nicht gut getan, dass wir im juristischen Staff in Arusha nicht vertreten waren. Die juristische Pipeline zwischen Deutschland und dem auch von unserer Vergangenheit geprägten Strafrecht wäre für die Entwicklung einer internationalen Law-Family wichtig, weil wir nun einmal leidvolle Erfahrungen gesammelt haben. In Arusha ist auch deutlich vermerkt worden, dass dieses Engagement bisher nicht in dem Umfang vorhanden war, wie es hätte sein können und vielleicht hätte sein sollen. Meine zweite Bitte: Die Frau Justizministerin hat schon angedeutet, dass das Engagement für den Internationalen Gerichtshof mit dem, was wir jetzt gesetzlich beschließen, noch nicht abgeschlossen ist. Vielmehr müssen wir auch die Zusammenarbeit mit Gerichtshöfen, die es schon gibt, und dem Ständigen Gerichtshof, den es hoffentlich bald geben wird, tatsächlich befördern. Dazu gehört - auch das ist eine Erfahrung aus Arusha - die Unterstützung der Zeugenschutzprogramme, insbesondere, Kollegin Lilo Friedrich, in Bezug auf Zeuginnen, die, wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht, ihre Existenz und mitunter ihr Leben aufs Spiel setzen, wenn sie wahrheitsgemäß aussagen. Dazu gehört - das sage ich an die Adresse der jetzigen Opposition -, dass man als Unterstützerstaat in Einzelfällen auch bereit sein muss, die Existenz von Zeuginnen und Zeugen durch Aufnahme im eigenen Land mit veränderter Identität zu garantieren. ({0}) Die Zusammenarbeit mit internationalen Gerichtshöfen bedeutet mehr als nur ein Lippenbekenntnis. Wir wissen das und ich weiß, dass gerade auch bei der Bundesregierung diese Erkenntnis vorhanden und dieses Thema gut aufgehoben ist. Wir tun einen Schritt zum Frieden. Gerade weil wir in Arusha und in Ruanda waren, haben wir gesehen, wie aus den nicht aufgearbeiteten, traumatisierenden Erlebnissen der Vergangenheit neuer Hass und neue Rachebedürfnisse entstehen. Die internationale Zivilgesellschaft braucht nicht nur die Bedrohung der Machthaber, sondern auch das Gefühl der Gerechtigkeit für die Opfer. Merkwürdigerweise hat der Internationale Gerichtshof Auswirkungen auf die ruandische Strafjustiz. Die Zurückdrängung der Todesstrafe ist ein Ergebnis der Wirkung von Arusha: In Ruanda wird die Todesstrafe nicht mehr vollzogen und in dem neuen Gerichtsverfahren demnächst wohl auch dann, wenn es um Völkermord geht, abgeschafft. Das ist ein großer Erfolg. ({1}) Ich möchte das Wort, das die Justizministerin auf schönem Latein an den Anfang gestellt hat, „Fiat iustitia ne pereat mundus“, durch ein noch viel älteres Wort ergänzen: „Gerechtigkeit erhöhet ein Volk, Verbrechen ist der Menschheit Verderben.“ ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/2668 und 14/2682 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 14/2668 soll zusätzlich an den Auswärtigen Ausschuss überwiesen werden. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Globalisierung als Chance: Der Weg nach vorne für Europa - zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Rolf Kutzmutz, Dr. Uwe-Jens Rössel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Soziale und demokratische Weltwirtschaftsordnung statt neoliberale Globalisierung - Drucksachen 14/1132, 14/954, 14/2028 Berichterstattung: Abgeordneter Hartmut Schauerte Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort geht zuerst an die beiden antragstellenden Fraktionen, zunächst an die Abgeordnete Gudrun Kopp, F.D.P.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! In einer halben Stunde kann man so ein Thema, welches das weite Gebiet der Globalisierung umfasst, natürlich nicht abhandeln. Deshalb möchte ich ganz kurz auf einen liberalen Zukunftsentwurf für unsere Gesellschaft im europäischen wie auch im globalen Gefüge eingehen. Das Besondere an diesem Antragstext ist, dass dieser - bis auf minimale Änderungen - aus der Feder von Bundeskanzler Schröder und von dem britischen Premier Blair stammt. Große Elemente dieses Textes können wir, die Liberalen, voll und ganz unterstützen; denn sie entsprechen unserem Parteiprogramm aus dem Jahre 1997. Sie finden darin Forderungen nach Übernahme von Eigenverantwortung des Einzelnen, dem nötigen Umbau der Sozialsysteme, spürbaren Steuerentlastungen gerade für den Mittelstand, notwendiger Entbürokratisierung und Flexibilisierung am Arbeitsmarkt. Kurzum: Mit diesen Forderungen soll Deutschland fit gemacht werden für den globalen Wettbewerb. Im Kanzler-Credo heißt es wörtlich: „Soziale Gerechtigkeit lässt sich nicht an der Höhe der öffentlichen Ausgaben messen.“ Es heißt weiter: Ohne ideologische Vorbedingungen wolle er - der Bundeskanzler - nach praktischen Lösungen für Probleme suchen, mit neuen Konzepten für veränderte Realitäten. Diese Auffassung ist zu begrüßen. Unsere Unterstützung hierfür ist aber absolut nicht als programmatische Annäherung an die SPD zu verstehen. Denn Vorsicht: Bei uns zählen allein die Taten. Nur diese sprechen für Glaubwürdigkeit der Politik gegenüber den Bürgern. ({0}) Ich komme damit gleich zu einem wichtigen Thema in Deutschland, zu dem Ladenschluss. Hilmar Kopper hat uns kürzlich wissen lassen, dass man sich beispielsweise in den USA über unseren Streit hinsichtlich der Ladenschlusszeiten köstlich amüsiert. Hierzu heißt es sowohl in dem Schröder/Blair-Papier als auch in unserem Antrag: Dienstleistungen kann man nicht auf Lager halten: Der Kunde nutzt sie, wie und wann er sie braucht zu unterschiedlichen Tageszeiten ... Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Flexibilität. - Absolut richtig! ({1}) Ich hoffe, dass es für unseren Gesetzentwurf zur Abschaffung des Ladenschlusses an Werktagen auch eine entsprechende Mehrheit geben wird. ({2}) Doch Bundeskanzler Schröder und auch Wirtschaftsminister Müller sehen hier leider keinen Handlungsbedarf. Das ist sehr bedauerlich. ({3}) Oder blicken wir auf den wichtigen E-Commerce, den Internet-Handel, dessen Nutzerkreis von heute circa 11 Millionen Personen nach europäischen Schätzungen bis zum Jahre 2001 auf sage und schreibe 39 Millionen Nutzer sprunghaft steigen wird. Dazu hat mir Herr Staatssekretär Mosdorf schriftlich erklärt, dass diese Attraktivität des Internet-Handels in erster Linie an der Tatsache liegt, dass es im Internet keinerlei Öffnungsbegrenzungen gibt. Wenn wir fit für die Zukunft und für die Globalisierung sein wollen, dann müssen wir noch einiges nachholen, damit wir auch den traditionellen Handel in die Lage versetzen, sich in diesem Bereich einen Marktanteil zu sichern. ({4}) Oder blicken wir auf die Rentendiskussion. Im Papier heißt es dazu: „Die sozialen Sicherungssysteme müssen sich den Veränderungen in der Lebenserwartung, der Familienstruktur anpassen.“ Dazu kann ich nur sagen: sehr richtig. Dann wird es Zeit - das sage ich besonders zur SPD-Fraktion -, sich nicht länger gegen die Einführung des demographischen Faktors zu sperren. Besonders bedeutungsvoll ist es, wenn es heißt - ich zitiere -, der Staat solle schädliches Marktversagen nicht korrigieren. Das ist richtig. Nur, ich habe noch die wirklich sehr medienwirksame Holzmann-Rettung in Erinnerung und verweise in diesem Zusammenhang auch gleich auf den Antrag der F.D.P.-Fraktion, auf bestehende Tarifverträge mit Öffnungsklauseln zu reagieren, damit auf betrieblicher Ebene zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern Vereinbarungen getroffen werden können, die dem jeweiligen Zustand des Unternehmens tatsächlich entsprechen. Ich stelle fest: Wir sind noch ein ganzes Stück vom Fitmachen unseres Landes für die Globalisierung entfernt. Ich freue mich ganz besonders auf die Arbeit in der Enquete-Kommission „Globalisierung“, in der wir sicherlich einzelne Punkte sehr genau herausarbeiten werden. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ursula Lötzer.

Ursula Lötzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003174, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die Globalisierung schreitet tatsächlich mit Riesenschritten voran. Die politische Gestaltung, die wir im Gegensatz zu Ihnen eher wollen, hinkt hinterher, und unserer Meinung nach hinkt die Regierung mit. Mit unserem Antrag wollen wir der Diskussion um die politische Gestaltung Beine machen. Allen, die nur die Fortschritte der Globalisierung und des Fitmachens im Wettbewerb feiern, möchte ich mit dem Schlussdokument der UNCTAD-Konferenz der letzten Woche sagen: Die Einkommensunterschiede bleiben groß, die Anzahl der armen Menschen ist gewachsen, Ungleichgewichte in der internationalen Ökonomie haben zugenommen, die Instabilität der internationalen Finanzarchitektur bleibt ein ernstes Problem. Viele Redner forderten in Bangkok den Abbau von Handelsbeschränkungen zumindest für die 48 ärmsten Länder. Das Ergebnis war eher eine Beerdigung erster Klasse. Vorschläge zur Lösung des Konflikts um soziale Mindeststandards durch einen Mindestlohn für arme Familien, wenn sich diese dazu verpflichten, ihre Kinder in die Schule zu schicken, und im Gegenzug ein weitgehender Verzicht auf die Rückzahlung von Schulden durch die Entwicklungsländer erklärt wird, sind ins Leere gelaufen. In Bangkok mahnte der malaysische Premierminister die Neuordnung der internationalen Finanzarchitektur an und stellte fest: Solange es sie nicht gibt, müssen wir damit rechnen, dass das Wirtschaftssystem weltweit instabil bleibt. Peter Nunnenkamp vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel kommentiert: Die Reform kommt nicht voran. Die Positionen der G 20 sind unvereinbar, die internationalen Banken verlegen sich auf Blockade. - Eine Antwort darauf geben Sie im Jahreswirtschaftsbericht nicht. Circa ein Fünftel des Weltsozialproduktes wird von den multinationalen Konzernen produziert, erklären Sie, Kollege Mosdorf, in Ihrer Presseerklärung zur UNCTAD-Konferenz. Wir haben in unserem Antrag Maßnahmen dagegen vorgeschlagen. Doch während die französische Regierung mit einem Maßnahmenkatalog Front gegen Firmenübernahmen macht, bringen Sie das Fusionskarussell mit der Steuerreform weiter in Schwung. Dass Sie jetzt ein Expertengremium dafür einrichten, ist ein längst überfälliger, aber zumindest ein erster Schritt. ({0}) Ein NGO-Vertreter resümierte die Ergebnisse in Bangkok so: Sie haben die Armut wie einen Fußball behandelt: sich gegenseitig die Pässe zugespielt, aber nie auch nur versucht, ein Tor zu schießen. In der Diskussion hier sind noch nicht einmal die Pässe angekommen, die wir mit unserem Antrag zu schlagen versucht haben. Ich denke, die gesellschaftliche Auseinandersetzung, zum Beispiel die Kampagne zur Regulierung der Finanzmärkte, die gerade europaweit begonnen hat, gewerkschaftliche Auseinandersetzungen und NGOs werden dazu beitragen, Sie eines Besseren zu belehren. Danke. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine sehr bizarre Debatte, die wir heute führen. Von der PDS wird uns vorgehalten, wir würden uns zu sehr auf die Marktwirtschaft konzentrieren. Die F.D.P. zitiert aus einem Dokument des Bundeskanzlers und des britischen Premierministers. Wir befinden uns in der Neuen Mitte und fühlen uns auf beiden Seiten sehr wohl. ({0}) Wir sind sehr sicher, dass dies der richtige Kurs ist. Lassen Sie mich zur PDS sagen: Ich komme gerade von der UNCTAD-Konferenz aus Bangkok zurück. Wenn auf dieser Konferenz eines klar geworden ist, dann das, dass die Schwellenländer und die Entwicklungsländer festgestellt haben, dass Direktinvestitionen heute eine viel größere Bedeutung haben als öffentliche Entwicklungshilfe, die auch weiterhin gesehen wird. Das ist die Kernthese: Länder, deren Märkte über eine längere Zeit relativ weit geöffnet sind, haben doppelt so hohe Wachstumsraten, haben doppelt so positive Entwicklungschancen wie abgeschottete, protektionistische Märkte. Deshalb unterscheiden wir uns von Ihrem Politikkonzept, das noch aus der alten Zeit stammt und nichts mit den modernen Anforderungen zu tun hat. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zur F.D.P. kommen. Frau Kopp, ich habe Ihre Ausführungen mit großem Vergnügen verfolgt. Ich sehe auch mit großem Interesse, dass Graf Lambsdorff der F.D.P. empfiehlt, auf die SPD zuzugehen, ({1}) und klarmacht, dass die SPD im Bund eine vernünftige Politik betreibt. Er hat im Bund eine Koalition der F.D.P. mit der SPD vorgeschlagen. Möllemann hat vorgeschlagen, man solle endlich die Brandmauern zwischen F.D.P. und SPD einreißen. ({2}) Das sind interessante, neue Töne. Dass Sie nun auch noch ein ganzes Dokument abschreiben, hätte nicht sein müssen. Aber Sie haben es getan und damit gleichzeitig gesagt, dass wir im Grunde auf einem richtigen Kurs sind. Meine Damen und Herren, ich habe mir einmal die Mühe gemacht, Ihren Antrag genau anzuschauen. Mir ist aufgefallen, dass Sie einige wenige Sätze aus dem Dokument weggelassen haben. ({3}) Einer dieser Sätze ist für uns Sozialdemokraten ein ganz kardinaler Satz. Es heißt nämlich in dem Dokument, das Gerhard Schröder und Tony Blair unterschrieben haben: Wir unterstützen eine Marktwirtschaft, nicht aber eine Marktgesellschaft. Den Satz haben Sie weggelassen. Daran ist der Unterschied zu erkennen. Wir sind der Auffassung, dass Marktwirtschaft Sinn macht und das Marktwirtschaft der beste Regelungsmechanismus ist. Wir sind aber dagegen, dass man den Markt auf gesellschaftliche Verhältnisse überträgt. Wir sind gegen eine Marktgesellschaft, genauso wie wir gegen eine Machtgesellschaft sind. ({4}) Mir fällt auch auf, dass Sie den Bezug zum Bündnis für Arbeit weggelassen haben. ({5}) - Nein, das ist schon ein wichtiger Punkt. Sie müssen einmal etwas zuhören und versuchen, das zu verarbeiten. Mir ist aufgefallen, dass Sie den ganzen Bereich, der in Holland, in Dänemark und auch bei den Briten eine große Rolle gespielt hat, das, was wir im Bündnis für Arbeit organisieren, einen Dialog zwischen gesellschaftlichen Gruppen, weggelassen haben. Nun werfe ich Ihnen nicht vor, dass Sie den ganzen Steuerentlastungsteil weggelassen haben, der in dem Papier steht. Denn das Papier, das Sie vorgelegt haben, stammt vom 11. Juni. Zu diesem Zeitpunkt war unser Steuerkonzept noch nicht auf dem Markt. Aber Sie müssen doch zugeben, Frau Kopp, dass wir eine Steuerkonzeption vorgelegt haben, die - das sehen wir anders als die PDS - uns weiterhilft und die Dynamik und Wachstum in unseren Markt bringt. ({6}) Das können Sie deshalb in Ihrem Dokument durchaus weglassen, weil wir das schon selber machen. Es gibt einen weiteren Punkt, den Sie weggelassen haben: die ökologische Steuerreform. Da haben wir gesagt, dass wir die Kosten der Arbeit senken wollen, die sehr hoch sind. In Ihrer Regierungszeit sind die Lohnnebenkosten exorbitant gestiegen, sie sind eine enorme Belastung geworden. Wir haben uns dazu durchgerungen, diesen - nicht bequemen - Weg der Ökosteuer zu gehen und haben gesagt: Lasst uns versuchen, alles zu tun, um unsere Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und gleichzeitig zwei Effekte zu erzielen, nämlich den Faktor Arbeit zu entlasten und gleichzeitig Incentives zu geben, damit der Energieeinsatz in Zukunft effizient erfolgt. Es gibt noch eine andere Sache, Frau Kopp, die auch für die F.D.P. interessant ist. Sie haben nämlich in Ihr Papier, dessen Inhalt Sie aus dem Schröder-Blair-Papier sozusagen abgeschrieben und das Sie als Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht haben, den Satz übernommen: Ein aktiver Staat in einer neu verstandenen Rolle hat einen zentralen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung zu leisten. Das ist ein ganz wichtiger Satz. Mir war bekannt, dass Ihre bisherige Linie war: Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt. Der Staat kam da nicht vor. Wir haben die Vorstellung von einem aktiven Staat, der allerdings nicht so sein darf, wie wir ihn übernommen haben, nämParl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf lich mit 49 Prozent Staatsquote. Diese Staatsquote wollen wir zurückführen. Wir wollen aber nicht zurück zum Nachtwächterstaat. Wir wollen einen leistungsfähigen, modernen Staat. Dass Sie diesen Kernsatz in Ihrem Antrag haben, lässt mich hoffen, dass wir, was die Rolle des Staates angeht, in vernünftiger Weise zu einer interessanten Diskussion kommen. Darüber hinaus haben Sie in Ihren Antrag einen Satz aufgenommen, den Gerhard Schröder und Tony Blair ausdrücklich gewollt haben: Armut, insbesondere unter Familien und Kindern, bleibt ein zentrales Problem. Wir brauchen gezielte Maßnahmen für die, die am meisten von Marginalisierung und sozialer Ausgrenzung bedroht sind. Das ist ein wichtiger Satz, der sich auf den Zustand unseres Landes bezieht. Dafür waren Sie 16 Jahre verantwortlich. ({7}) Wir machen jetzt die Kindergeldreform und wir entlasten die Familien. Ich finde es gut, dass Sie diesen Satz aufnehmen, denn das ist ein programmatischer Fortschritt gegenüber der Regierungszeit der F.D.P., den wir vermerken sollten. Außerdem übernehmen Sie aus dem Dokument von Gerhard Schröder und Tony Blair den Satz: Wir sollten sicherstellen, dass die Ausbildung eine wesentliche Rolle in unseren aktiven Arbeitsmarktpolitiken für Arbeitslose und die von Arbeitslosigkeit betroffenen Haushalte spielt. Auch das ist ein wichtiger Satz. Aber wenn ich mir Ihre Kommentierung unseres JUMP-Programms ansehe, wenn ich mir ansehe, wie Sie heruntermachen, was wir für junge Leute tun, gerade für diejenigen, die arbeitslos sind und keinen Ausbildungsplatz finden, stelle ich fest, dass es eine Differenz zwischen dem Antrag, den Sie uns hier vorlegen, und Ihrer praktischen Politik gibt. Das darf man nicht durchgehen lassen. ({8}) Es soll ja so sein, dass es uns allen ein bisschen Spaß macht, solche Dinge zu diskutieren. Mein Vorschlag an die F.D.P. wäre: Nehmen Sie das komplette Dokument von Gerhard Schröder und Tony Blair und verabschieden Sie es auf Ihrem F.D.P.-Bundesparteitag. Erst dann sind Sie glaubwürdig. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Erich Fritz.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Mosdorf, ich finde es schön, dass jetzt, da der Lenz naht, die Werbegespräche anfangen und dass Sie die Signale aus der F.D.P. auffangen. Auch die grünen Kollegen werden schon ganz unruhig. Sie trauen sich gar nicht mehr in diese Debatte. ({0}) Sie Herr Kollege Mosdorf, haben gerade in Anlehnung an den Antrag der F.D.P. gesagt, Sie wollten die Staatsquote deutlich senken. Mir fällt auf, dass Sie dieses Ziel verfolgen, indem Sie die Staatsquote erst einmal von 48 auf 50 Prozent steigern. ({1}) Wir hatten nämlich 1998 eine Staatsquote von 48 Prozent, während wir jetzt bei 50 Prozent liegen. Wir haben sie trotz der hohen Lasten der deutschen Einheit von 51 auf 48 Prozent reduziert. ({2}) Ich hätte es begrüßt, wenn wir über das Thema Globalisierung in einem anderen Zusammenhang etwas ernsthafter hätten diskutieren können als auf der Grundlage dieser beiden Anträge. Auch wir hatten einen Antrag. Wir haben die Diskussion im Plenum mit unserem Antrag damals erst vor der Ministerkonferenz der WTO in Seattle erreicht. Dann hat es eine Diskussion im Ausschuss darüber gegeben und damit war der Diskussionsbedarf für meine Begriffe eigentlich erschöpft. ({3}) Ich finde es nicht in Ordnung, dass man hier eine so seltsame Debattenkultur pflegt, die niemandem etwas bringt. ({4}) Eigentlich hätten wir mit dem vorhergehenden Tagesordnungspunkt einen Ansatzpunkt für einen zweiten Aspekt gehabt, nämlich wie man so etwas wie eine Weltinnenpolitik gestalten kann. Bei diesem Tagesordnungspunkt ist über den Internationalen Strafgerichtshof diskutiert worden. Er ist ein wesentliches Element einer solchen weltweiten politischen Gestaltung. Wir müssen im Zusammenhang mit der Globalisierung eine ähnliche Diskussion führen. Da haben wir eine seltsame Ausgangslage: Die PDS bekämpft den Neoliberalismus, und zwar ungefähr so wie früher die DDR den imperialistischen Monopolkapitalismus, nämlich ohne jede selbstkritische Anwandlung. ({5}) Das Feindbild ist klar. Es steht fest und wird bekämpft. In der Gegenwart sind Sie noch nicht richtig angekommen. Die SPD - einige wenige Ausnahmen gibt es; das will ich zugestehen - verschweigt die Vorteile, die in der Globalisierung stecken, drückt sich nach wie vor daParl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf vor, aus ihrem traditionellen wirtschaftlichen Denken herauszukommen, und diskutiert zum überwiegenden Teil aus der Sicht der Nachteile und der Gefährdungen, die es ohne Zweifel auch gibt. Aber Zukunft gewinnt man eben nicht durch Reparaturgeschäfte und die Diskussion darüber, sondern durch Gestaltungskraft und den Mut, Freiheit und Eigenverantwortung Raum zu geben. ({6}) Die F.D.P. spricht über die Vorteile der Globalisierung und kümmert sich nach meiner Auffassung viel zu wenig um die neu entstehenden Ungleichheiten und die Geschwindigkeit dieses Prozesses, die natürlich zu massiven Verwerfungen führen kann, die man auch im Blick haben muss, wenn man sich um das Ganze kümmern will. Wir denken, dass wir mit unserer Aufmerksamkeit beide Seiten gleichwertig bedienen. Wenn wir genau hinschauen, dann erleben wir eine Beschleunigung des Globalisierungsprozesses, die politisch gewollt begonnen hat und nach der Auflösung der Blöcke sinnvoll ist, die aber durch sich selbst steuernde Faktoren angetrieben wird. Gesunkene Transportkosten beschleunigen die Arbeitsteilung. Schnelle, uneingeschränkte Kommunikationsverbindungen im Zusammenhang mit verändertem Anlageverhalten von Sparern bzw. Kapitalanlegern ermöglichen effektivsten Kapitaleinsatz und führen Rückschläge sind natürlich nie ausgeschlossen - zu einem beschleunigten weltweiten Wachstum. Die wissenschaftliche Forschung bringt heute in kürzester Zeit eine Fülle neuer Ergebnisse und verbreitert die wirtschaftlichen Betätigungs- und Handlungsbereiche mit einer Geschwindigkeit, wie sie vorher nicht vorstellbar war. Aber sie erhöht auch die Geschwindigkeit der Notwendigkeit des Strukturwandels in den entwickelten Volkswirtschaften. Sie stellt uns vor Anpassungsleistungen und -notwendigkeiten und verlangt von uns, dass wir uns auf unbequeme Veränderungen einstellen, vor denen man sich gerne drückt, vor allen Dingen dann, wenn man einen solchen populistischen Wahlkampf gemacht hat wie zu Lafontaines Zeiten. Man muss den Menschen schon erklären, dass aus den Vorteilen, aus den Wohlstandsgewinnen und aus den entstehenden Freiheitsräumen auch Nachteile, Schwierigkeiten und erhöhte Anforderungen erwachsen im Hinblick auf höhere Qualifikation, größere Flexibilität und all das, was damit zusammenhängt. Das, was ich gerade beschrieben habe, führt zu steigender Produktivität und höherer Effizienz. Das ist sehr gut für diese Welt und davon profitieren übrigens nicht nur die großen Industrieländer. Der Kapitalexport bringt Vorteile für Anleger in den reichen Ländern, aber auch für die Arbeitskräfte in den Aufholländern, wie ich es einmal nennen möchte. Der Handel, der das Ganze durch die entstehende Arbeitsteilung noch einmal beschleunigt, ist sowohl für uns als auch für die arbeitende Bevölkerung in den sich entwickelnden Ländern von Vorteil. Allerdings stellt er bei uns weniger Qualifizierte vor große Probleme. Deshalb ist die Entwicklung der Wissensgesellschaft, die Entwicklung zu höherer Qualifikation das eine, die sozialpolitische Aufgabe aber, wie man mit denjenigen umgeht, die in diesem Zusammenhang nicht mehr mitkommen, das andere. Angesichts dieser Beschleunigungsprozesse in den letzten Jahren wird immer deutlicher, dass sich die Anforderungen an politisches Handeln und Regieren verändern. Sie verändern sich schneller, als mancher das wahrhaben will. Die Denkgewohnheiten müssen verändert werden. Sowohl die Finanzkrise in Asien als auch das Zurückfallen der afrikanischen Länder zeigt, dass „good governance“ unerlässlich ist, wenn man diese Prozesse gestalten will und wenn man an den positiven Effekten, die daraus zu erzielen sind, beteiligt sein will. Dazu gehört aber auch, dass man protektionistische Methoden außen vor lässt und nicht der Gefahr erliegt, sich dieser wieder zu bedienen. Das wiederum verlangt, dass man den Menschen deutlich sagt, was auch in unserem Land im Hinblick auf die Steuerpolitik, die Politik der sozialen Systeme, auf Flexibilisierung und Deregulierung verändert werden muss. Das Zweite: Eine entgrenzte Wirtschaft kann nicht mit nationalstaatlich begrenzter Politik gestaltet werden. Wir alle wissen, dass es kompliziert ist, multilaterale Rahmenbedingungen herzustellen; das geht allemal langsamer als das, was sich durch wirtschaftliche Tätigkeit vollzieht. Multilaterale Rahmenbedingungen im Arbeits- und Umweltbereich, Mindeststandards, Regelungen im Kapitalverkehr, für Investitionen und die Wettbewerbsordnung müssen entstehen; ihr Fehlen verstärkt nämlich genau das Gefühl, man sei diesem Prozess hoffnungslos ausgeliefert. Dieses Gefühl gibt es aber nicht nur in benachteiligten Entwicklungsländern, das gibt es auch bei uns. Deshalb denke ich, das Parlament hat allen Anlass, diesen Zusammenhängen noch mehr und intensiver zu begegnen, als wir es bisher getan haben. In Seattle, bei der WTO-Ministerkonferenz ist wohl ziemlich deutlich geworden, dass es - einmal unabhängig von dem tatsächlichen Ablauf, der sehr stark durch die Taktik der US-Position bestimmt war - die Chance gibt, zu vernünftigen Regelungen zu kommen, dass es die Chance gibt, dass sich die Entwicklungsländer als einheitliche Gruppe - oder vielleicht auch als zwei Gruppen - formieren und die Furcht etwa vor der Regelung und der Einführung von Mindeststandards in dem Maße verlieren werden, in dem klar ist, dass es sich nicht um protektionistische Maßnahmen der Industrieländer handelt, sondern dass es darum geht, ihren eigenen Fortschritt zu befördern und sich selbst die Möglichkeit zu geben, Humankapital zu bilden, das dann in Zukunft Wertschöpfung auf einer höheren Ebene erbringen kann. Ich bin der Ansicht, dass die geschilderten Verhandlungen auch eine andere Art des Regierungshandelns verlangen. Der Unterausschuss „Globalisierung“ wird sich voraussichtlich demnächst in dieser Richtung bemerkbar machen. Ich denke, dass unsere Art der ResErich G. Fritz sortpolitik überhaupt nicht mehr in diese Zeit passt und dass sich da etwas verändern muss. Ich finde auch, dass viele Recht haben, die sagen, dass es einen Weg geben muss, diese multilateralen, fundamentale Richtungsentscheidungen treffenden Vereinbarungen stärker demokratisch und damit parlamentarisch zu begleiten. Ich habe deshalb diese Initiative in Seattle unterstützt - wie alle Kollegen, die dabei waren - und bin gespannt, ob es gelingt, innerhalb der WTO eine solche parlamentarische Begleitung zu organisieren, weil sie zusammen mit einer völlig neuen Betrachtung dessen, was heute über das Internet an internationaler Öffentlichkeit von NGOs entsteht, einen wesentlichen Bestandteil einer zukünftigen Legitimation dieser Politik möglich macht. Das wird in den Augen der Menschen, die das von fern staunend betrachten und vielleicht manchen komplexen Zusammenhang nicht verstehen, eine entscheidende Frage sein, dass wir hier nämlich Entscheidungen treffen, die wahrscheinlich auf Generationen hin das Leben der einzelnen Menschen in allen Ländern dieser Welt verändern.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Fritz, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, sofort. - Deswegen denke ich, dass wir gut daran tun, diesen Pfad zu verfolgen. Ein Satz noch, Frau Präsidentin, wenn ich darf: Nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen über Innovationszyklen und langfristige Wellen der Wirtschaftsentwicklung stehen wir im Augenblick an einer Stelle, an der wir damit rechnen können, diesen Prozess in einer Zeit positiver wirtschaftlicher Rahmendaten zu gestalten. Diese Zeit muss man nutzen, denn anschließend wird es nicht mehr möglich sein. In Zeiten, in denen etwa große Wirtschaftsmächte wie die USA in konjunkturelle Schwierigkeiten kommen, werden die protektionistischen Geister schneller wieder da sein, als wir es uns vorstellen können; dann ist die Chance vorbei. Deshalb haben wir allen Grund, denke ich, auch hier gemeinsame Positionen zu finden. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die Länge dieses Satzes war ja fast rekordverdächtig. ({0}) Ich erteile jetzt der Kollegin Margareta Wolf für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Fritz, ich teile fast alles, was Sie hier vorgetragen haben; was ich nicht teile, ist ausschließlich die Bemerkung, dass wir schon ganz unruhig würden, weil sich die F.D.P. im Bewerbungsverfahren befinde. Da werden wir mitnichten unruhig, Herr Kollege Fritz; im gesamten Europa redet man über „Wettbewerb der Ideen“, „Wettbewerb der Kreativität“. Wenn ich mich bewerbe, indem ich - und das auch nur rudimentär - ein Papier von Schröder/Blair abschreibe, ist das nach meinem Empfinden nicht unbedingt Ausweis von Kreativität. Das heißt, die F.D.P. hinkt der Entwicklung wie immer hinterher. Frau Kopp, wenn Sie das Papier um die beiden wesentlichen Punkte Ladenschluss und E-Commerce ergänzen und glauben, damit werde man die Herausforderungen der Globalisierung meistern, ({0}) ist das für mich zumindest kein sehr weit führender Beitrag. Und lassen Sie mich auch noch diese Bemerkung machen: Ich möchte nicht in einer Partei sein, deren Mitglied Kubicki im Wahlkampf mit Herrn Rühe an der Kieler Förde spazieren geht, während nach Frau Wagner nun auch Herr Möllemann seinen Parteivorsitzenden desavouiert und gleichzeitig die Strategie der F.D.P. in Schleswig-Holstein aushebelt. ({1}) Ich weiß nicht, wer sich eine solche Art von Politik bei einem Koalitionspartner wünscht. Ich teile ausdrücklich die Einschätzung von Herrn Fritz, was die Ergebnisse von Seattle angeht: Es gibt so etwas wie die Angst vor der Globalisierung. Ich glaube, das sollten wir in der Tat ernst nehmen. Es ist wenig hilfreich - auch das haben Sie dargestellt -, in den klassischen Schwarz-Weiß-Schemen zu denken. Globalisierung ist weder nur Unheil noch nur Leitstern. Wir tun sehr gut daran, nach den Erfahrungen mit Seattle vermehrt über die Vorbereitung der nächsten WTO-Runde zu reden, vermehrt über Instrumente zu reden, mit denen diese Prozesse transparenter gestaltet werden können, und vermehrt die öffentliche Debatte mit den so genannten Nichtregierungsorganisationen zu führen, innerhalb und außerhalb dieses Hauses. Herr Kollege Mosdorf, Sie haben darauf hingewiesen, dass in dem Antrag, den die F.D.P. hier vorgelegt hat, ein ganz entscheidender Satz fehlt, nämlich dass Tony Blair und Gerhard Schröder für soziale Marktwirtschaft und nicht für die Marktgesellschaft sind. Herr Mosdorf, mich hat es eigentlich nicht gewundert, dass der Satz fehlt. Ich habe gestern extra noch einmal in Ihrem Grundsatzprogramm nachgelesen, Frau Kopp. Dort reden Sie nicht mehr von „sozialer Marktwirtschaft“, sondern ausschließlich von „Gefälligkeitsdemokratie“, ({2}) was, wie ich finde, die „Marktgesellschaft“ noch toppt. Insofern hat es mich nicht tatsächlich überrascht, dass dieser Satz fehlt. ({3}) - Frau Kollegin Kopp, es geht dort um die Gefälligkeitsdemokratie. ({4}) - Dann führen Sie einmal eine interne Debatte. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie Herr Westerwelle dies hier im Grundsatz dargelegt hat. Aber das wechselt bei Ihnen ja wöchentlich. „Gefälligkeitsdemokratie“ steht bei Ihnen drin, auch wenn Sie sagen, dass Sie das nicht wollen. Ich wäre ja zufrieden, wenn wir uns wieder auf die soziale Marktwirtschaft zurückbesinnen würden. Ich glaube, dass es auf dem Weg zu einer neuen Politik jenseits von rechts und links innerhalb von Europa schon jetzt ein Ergebnis gibt: Die großen politischen Lager, auf der einen Seite die Staatsinterventionisten und auf der anderen Seite die Marktideologen, haben beide verloren. Wir haben uns über den Beitrag von Tony Blair und Gerhard Schröder gefreut. Wir sehen in ihm einen Debattenbeitrag innerhalb Europas zur Verständigung über strategisch-programmatische Aktionen in der Wirtschaftspolitik, in der Sozialpolitik, aber auch in der Finanzpolitik. Denn wir glauben, es geht heute nicht mehr darum, sich wechselseitig Vorwürfe zu machen oder sich irgendwelchen ökonomischen Schulen zuzuordnen. ({5}) Vielmehr geht es darum, einen Wettbewerb um die besten Instrumente in Europa zu beginnen. ({6}) Ich bin sehr froh, dass Giddens die Debatte in Europa maßgeblich vorantreibt, dass sich Herr D'Alema mit Herrn Clinton zusammensetzen kann, dass man anders miteinander redet und zum Beispiel über das Wort „Sozialismus“ auch einmal lächeln kann. Man wird in der Bundesrepublik dem Problem hoher Arbeitslosigkeit und der Aufgabe, den Sozialstaat wirklich fit zu machen für den Strukturwandel, nur gerecht werden, wenn man über die nationalen Grenzen hinaus Politik betreibt. Man wird Wirtschaftspolitik durch lebenslanges Lernen ergänzen müssen. Dann werden wir die Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, bewältigen können. Abschließend noch diese Bemerkung - auch das wurde von den Vorrednern schon gesagt -: Ich glaube nicht, dass man dem Thema Globalisierung mit einer Debatte vor dem Hintergrund dieser beiden Anträge und mit Fünf- bis Siebenminutenbeiträgen gerecht wird. Damit ignorieren wir die Debatten, die nach Seattle - auf den Straßen und hier im Hause - stattgefunden haben. Wir sollten diese Kritik ernst nehmen und mit unseren Geschäftsführern in dieser Richtung diskutieren. ({7}) Danke schön. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Dr. Sigrid SkarpelisSperk für die SPD-Fraktion.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann der letzten Bemerkung der Kollegin Wolf nur zustimmen: Eine halbe Stunde für ein solches Thema ist zu wenig. Aber eines muss ich auch sagen: Mit zwei schon angejahrten Anträgen aus dem vergangenen Jahr ({0}) und dem verfrühten Karnevalsscherz der F.D.P. wird leider eine Chance vertan, ernsthaft über eines der zentralen Probleme der Globalisierung und der Weiterentwicklung des Welthandels sowie über die Lehren und Schlussfolgerungen zu sprechen, die wir aus dem Scheitern der WTO-Konferenz in Seattle vom Dezember 1999 ziehen sollten. ({1}) - Herr Kollege Protzner, nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Kollegen der CDU, die in Seattle waren, sich durchaus der überparteilich bestehenden Meinung anschlossen und Ihr Dazwischenreden einigermaßen sinnlos ist. Wir sollten uns hier konsequent über die Probleme unterhalten und nicht einfach dazwischenblöken, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten. ({2}) Denn - täuschen wir uns nicht - was in Seattle auf den Straßen sichtbar wurde, war nicht der Protest einer kleinen gewalttätigen Minderheit, - wie US-Präsident Clinton es zu Recht betonte -, sondern eine breite Koalition aus dem Herzblut der beiden großen Volksparteien der USA. Gewerkschaften demonstrierten friedlich und einträchtig mit Umweltorganisationen, der Verbraucherbewegung, der Bürgerrechtsbewegung, den Verbänden bäuerlicher Familienbetriebe, den kleinen Fischereibetrieben und vielen Intellektuellen. Sie alle einte - wir haben das in Seattle erlebt - gegenüber der Welthandelsorganisation als einer der wesentlichen Akteure der Globalisierung ein zunehmendes Gefühl der politischen Ohnmacht, des wirtschaftlichen Ausgeliefertseins und der sozialen Unsicherheit. Die Menschen hatten - im politischen Spektrum von ganz rechts über die breite Mitte bis ganz links - die Befürchtung, dass eine weitgehend anonyme Handelsbürokratie im Verein mit Big Business über ihre Arbeit, ihr Einkommen, ihre Lebensqualität und über die Zukunft ihrer Kinder verfügt und diese sich zunehmend der demokratischen Kontrolle der Nationen entzögen. Ein Kritikpunkt hat in Seattle Gegner wie Befürworter einer weiteren Liberalisierung des Welthandels geeint, nämlich die mangelnde Transparenz der Welthandelsorganisation, was Inhalte, Abläufe und Entscheidungsverfahren angeht, und - von allen unbestritten die fehlende, demokratische Kontrolle der Organisation selbst. Margareta Wolf ({3}) Der Kollege Fritz hat zu Recht angesprochen, dass es - angeführt von US-Senator Bill Roth - eine breite Unterstützung der in Seattle anwesenden Parlamentarier dafür gegeben hat, vorzuschlagen, der WTO in Genf eine parlamentarische Begleitung und Kontrolle mitzugeben. Ich meine, der Deutsche Bundestag und seine Fraktionen sollten sich dieser Forderung anschließen und sie aktiv unterstützen. ({4}) Die Welthandelsorganisation braucht neben einer demokratischen Legitimation unbezweifelbar eine Reform an Haupt und Gliedern. Es war schlicht skandalös, wie die kleinen Länder, vor allem die ärmsten Entwicklungsländer, auf der Konferenz behandelt wurden. Ihr öffentlicher Protest war berechtigt. Wenn wir so mit den kleinen Nationen umgehen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn sie auf der Konferenz sagen: Nicht mehr so mit uns, sonst habt ihr uns gegen euch. Das kann man nur unterstützen. ({5}) Transparenz, Teilhabe aller Mitglieder und Demokratisierung sind also unabweisbar, wenn wir weiterkommen wollen, reichen aber nicht aus. Auch die Ziele und Inhalte müssen sich ändern. Die Europäische Union hatte mit ihrem Vorschlag eines umfassenden Mandats und der „neuen Themen“ - mit breiter Unterstützung der Bundesregierung und des deutschen Parlaments; wir hatten im Deutschen Bundestag im Oktober vergangenen Jahres darüber diskutiert, unter den Themen waren die Einbeziehung von Arbeits- und Sozialstandards erste Schritte in Richtung einer gerechteren, sozial- und umweltverträglichen Welthandelsordnung vorgeschlagen, die auch einen weltweiten Wettbewerb und dessen Regulierung einbezieht. Die Verwirklichung einer solchen neuen Ordnung wäre ein anspruchsvolles und kühnes Vorhaben für eine immer enger zusammenwachsende Welt, in der Wirtschafts- und Währungskrisen schnell von einer Weltregion in die andere umspringen und globale Konsequenzen von ungebremstem Ressourcenverbrauch und zunehmender Umweltverschmutzung unübersehbar und immer weniger zu verantworten sind. Deswegen ist es notwendig, dass wir uns nicht nur in der Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft - Herausforderungen und Antworten“, sondern auch in unseren aktuellen Diskussionen über die Fortführung der WTO-Verhandlungen nicht allein über mehr Demokratie und eine bessere Organisation, sondern ebenso über die Grundpfeiler einer solchen Weltwirtschaftsordnung unterhalten. Dazu gehören ohne Zweifel die Sicherung einer nachhaltigen Entwicklung und der schrittweisen Umsetzung verbindlicher und sanktionierbarer Umweltabkommen, die Stärkung eines möglichst schwankungsfreien qualitativen Wirtschaftswachstums und eine Vermeidung großer Währungskrisen durch die Reduzierung von Wechselkursschwankungen durch eine verstärkte Regulierung der Weltfinanzmärkte und natürlich effektive Wettbewerbskontrollen weltweiter wirtschaftlicher Macht. Das ist besonders für uns Sozialdemokraten sehr wichtig. Sehr wichtig ist weiterhin die verbindliche Verankerung humanitärer, sozialer, gesundheitlicher und kultureller Rechte in allen Teilbereichen einer solchen Weltwirtschaftsordnung sowie die Verpflichtung aller internationaler Institutionen auf ihre Durchsetzung. Wenn wir nicht wollen, dass die Menschen gegen diese neuen Ordnungen angehen und das Tempo, das Sie, Herr Fritz, zu Recht beschworen haben, beklagen und bemängeln, dass es ihnen zu schnell gehe, dass sie sich aufgefressen fühlten und dass sie Ängste hätten, müssen wir mit den Menschen reden und sie überzeugen, dass wir nicht an einem neuen Turmbau zu Babel oder gar an der Etablierung eines arbeit- und umweltfressenden Molochs arbeiten, sondern an einer Weltverfassung einer globalen Wirtschaft, die den Interessen der Völker der Welt und der Zukunft unserer Kinder wirklich dient. Das bedeutet, Frau Kollegin Kopp, dass es nicht reicht, nur allgemeine Sätze aufzuschreiben. Es reicht auch nicht, wenn wir sagen, dass der Welthandel und die globale Weltordnung uns allen helfen würden. ({6}) Wir dürfen die Bedingungen, unter denen sich eine sozial- und umweltverträgliche neue Weltwirtschaftsordnung wirklich zugunsten der gesamten Menschheit positiv auf die Interessen der Völker auswirkt und der Zukunft unserer Kinderdient, nicht nur beschreiben, sondern wir müssen darüber mit den Menschen diskutieren. Wir müssen diese Bedingungen Schritt für Schritt auf jedem Feld und in jeder internationalen Organisation wirklich umsetzen. Denn sonst werden uns die Menschen entweder für Propagandaredner oder für Windbeutel halten, die nicht darauf hinarbeiten, dass die Politik das tut, was sie tun soll, nämlich Leben, Arbeit und Wirtschaft gestalten. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. zur Globalisierung auf der Drucksache 14/2028, Buchstabe a. Der Ausschuss emp- fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1132 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion an- genommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur Weltwirtschaftsordnung auf der Drucksache 14/2028, Buchstabe b. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/954 abzuleh- nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge- genprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Clau dia Nolte, Manfred Grund, Dr. Michael Lu ther, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Einheitliches Versorgungsrecht für die Eisenbahner herstellen - Drucksache 14/2522 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({0}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner, Monika Balt Heidemarie Lüth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Regelung von Ansprüchen und Anwartschaften aus den Systemen der Altersversorgung der deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post der DDR - Drucksache 14/2729 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion der CDU/CSU hat der Kollege Manfred Grund.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Versorgungsrecht der ehemaligen Reichsbahner der DDR steht keineswegs ein neues Thema auf der Tagesordnung dieses Hauses. Wir haben uns in der Vergangenheit wiederholt damit beschäftigt, zuletzt im April 1998, als die PDS den Antrag gestellt hatte, ein zeitlich befristetes Versorgungssystem sui generis einzuführen. Dieser Vorschlag ist damals von allen anderen in diesem Haus vertretenen Fraktionen einstimmig abgelehnt worden. Gemeinsam waren wir uns aber darin einig, dieses Thema in der kommenden, das heißt in der jetzigen, Wahlperiode noch einmal aufgreifen zu wollen. Diese damals gezeigte Einmütigkeit sollte die Basis für das gemeinsame Bemühen um eine sachgerechte Lösung im Interesse der betroffenen Menschen sein. ({0}) Von daher geht auch jeder Vorwurf fehl, wir als CDU/CSU würden jetzt in der Opposition etwas einfordern, was wir in Zeiten der Regierungstätigkeit noch abgelehnt hätten. Richtig ist, dass das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung bislang stets eine den spezifischen Besonderheiten der Eisenbahnerversorgung der DDR Rechnung tragende Regelung als mit dem Prinzip der Beitragsbezogenheit der gesetzlichen Rentenversicherung nicht vereinbar abgelehnt hat. Aber erstens haben sich nachweislich alle Kolleginnen und Kollegen - auch die von der jetzigen Regierungskoaltion - , die sich früher mit diesem Thema näher beschäftigt haben, mit diesem Ergebnis schon damals nicht abgefunden. Das gilt für mich persönlich ebenso wie für die damaligen Koalitionskollegen von der F.D.P. Zweitens ist jetzt ein umgekehrtes Szenario zu befürchten. Nach allem, was in den vergangenen Monaten an Aussagen zu dieser Thematik von der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesarbeitsministerium, Frau Kollegin Mascher, zu vernehmen war, hat sich die Haltung des Ministeriums in dieser Frage nicht geändert, obwohl es - das ist neu - inzwischen eine Reihe von einschlägigen Urteilen des Bundessozialgerichts gibt, in denen eindeutig nachgewiesen wird, dass die bislang praktizierte Rentenberechnung für die Reichsbahner eindeutig falsch ist. Man darf deshalb gespannt sein, wie sich hierzu die SPD einlassen wird, hatte sie sich doch als Opposition einst selbst für eine dem Anliegen der Eisenbahner gerecht werdende Lösung stark gemacht. Die Tatsache, dass wir es hier mit einer noch offenen Frage im weiten Feld der Rentenüberleitung zu tun haben, darf indessen nicht den Blick dafür verstellen, welche gewaltigen und großartigen Anstrengungen die damalige, von der CDU/CSU geführte Bundesregierung unternommen hat, die Rentenansprüche und Rentenanwartschaften aus der Sozialpflichtversicherung der ehemaligen DDR in die gesetzliche Rentenversicherung der Bundesrepublik zu überführen. ({1}) Trotz mancher Probleme und vieler anfänglicher Ungereimtheiten gehört die Schaffung eines einheitlichen Rentenrechts im wiedervereinigten Deutschland zu den herausragenden Leistungen im deutsch-deutschen Einigungsprozess. In kaum einem anderen Bereich hat die Rechtsangleichung zwischen Ost und West mehr Vertrauen in den bundesdeutschen Rechtsstaat und seine sozialen Sicherungssysteme geschaffen wie im Rentenrecht. Millionen von Rentnern in den neuen Bundesländern erhielten erstmals eine Rente, die in etwa ihrer Lebensarbeitsleistung entsprach. Sie wurden so aus einer sozialen Randlage befreit, in der sie sich vorher über Jahrzehnte quasi als Almosenempfänger von Politbüro-Gnaden befanden. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist mir ein besonderes Anliegen, wenige Monate vor dem zehnten Jahrestag der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion noch einmal daran zu erinnern. Worum geht es bei der zugegeben nicht ganz einfachen Materie? Es geht um die Anerkennung der historisch gewachsenen Ansprüche und Anwartschaften der Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn auf Altersversorgung, vergleichbar der betrieblichen Altersversorgung bei der früheren Deutschen Bundesbahn. Die Besonderheit der Altersversorgung der Deutschen Reichsbahn lag darin begründet, dass es sich Vizepräsidentin Petra Bläss um eine Gesamtversorgung, bestehend aus einem Anteil der Sozialpflichtversicherung und einem aus dem Dienstverhältnis resultierenden Versorgungsanteil, handelte. Die Reichsbahner hatten ab 1956 Anspruch auf eine erhöhte Sozialpflichtversicherungsrente. Die daraus zu erzielende höchste Versorgungsleistung - in Abhängigkeit der Anzahl absolvierter Dienstjahre - lag mit 800 Mark um bis zum 1,8fachen höher als die allgemeine Sozialpflichtversicherung mit ihrer Bemessungsgrenze von 600 Mark. An dieser gesetzlich garantierten höheren Rentenversorgung änderte sich auch nichts mit der Einführung der freiwilligen Zusatzrentenversicherung FZR, im Jahre 1971. Änderungen ergaben sich erst mit der Eisenbahnerverordnung von 1974, mit der die Bewertungskriterien für die Versorgungsleistungen modifiziert wurden. An die Stelle der nach Dienstjahren bemessenen Prozentsätze des anrechnungsfähigen Tariflohnes trat die Einführung eines jährlichen Steigerungssatzes von 1,5 Prozent. Für die Rentenberechnung ist aus heutiger Sicht entscheidend, dass die bis dahin erworbene Altersversorgung der Beschäftigten im Zuge von Günstigkeitsberechnungen letztendlich mit oder ohne Beitritt zur FZR erhalten blieb. Für die Eisenbahner war es deshalb weder rechtlich geboten noch faktisch notwendig, ihre Anwartschaften auf eine erhöhte Sozialversicherungsrente durch Beitritt zur freiwilligen Zusatzrentenversicherung und Zahlung von eigenständigen entsprechenden Beiträgen aufrechtzuerhalten. ({3}) Das Bundessozialgericht hat in seinen bereits erwähnten Entscheidungen angesichts dieser Gegebenheiten der Eisenbahnerversorgung auf der Grundlage geltenden Rechts auf eine Höherbewertung der Altersversorgung erkannt. Die bisherige Begrenzung des für die Rentenberechnung zu berücksichtigenden Arbeitsverdienstes auf 600 Mark ist danach aufzugeben. Vielmehr ist nach § 256 a SGB VI der reale Monatslohn zugrunde zu legen. Vergleichbares gilt übrigens für die Beschäftigten bei der Deutschen Post. ({4}) Meine Damen und Herren, die Rentenversicherungsträger sehen diese Entscheidungen des Bundessozialgerichtes über die entschiedenen Einzelfälle hinaus nicht als bindend an. Weiterhin stellen sie sich auf den Standpunkt, Entgelte oberhalb von 600 Mark nur zu berücksichtigen, insoweit auch Beiträge zur FZR abgeführt worden sind. Es bedarf nicht viel Vorstellungskraft, um nachzuvollziehen, was dies für das Rechtsvertrauen von Tausenden von Reichsbahnern bedeuten muss. ({5}) Wir sind der Meinung, dass die Haltung der Rentenversicherungsträger korrigiert werden muss und die Berechnung der Altersrenten für alle Reichsbahner nach Maßgabe des Urteils erfolgen muss. ({6}) Dabei sehen wir auch durchaus die sich daraus ergebenden schwierigen finanziellen Probleme für die gesetzliche Rentenversicherung. Nach Schätzung der BfA wären bei Bahn und Post ungefähr 130 000 Personen von einer solchen Regelung betroffen. Die zusätzlichen Belastungen würden sich auf ungefähr 130 Millionen DM jährlich belaufen. Diese finanzielle Belastung allein kann nach meinem Rechtsverständnis jedoch keine Rechtfertigung dafür sein, dass berechtigte, durch das zuständige oberste Bundesgericht bestätigte Ansprüche auf Dauer negiert werden. Wenn die Rentenversicherungsträger nicht zu einer dem Bundessozialgericht folgenden Haltung zu bewegen sind, ist die Bundesregierung gefordert, den Reichsbahnern durch eine gesetzliche Klarstellung in § 256 a SGB VI zu ihren berechtigten Rentenansprüchen zu verhelfen. Besonders schwer wiegt aus Sicht der Reichsbahner, dass bislang keine Überführung der Altersversorgung der Deutschen Reichsbahn in bundesdeutsches Recht stattgefunden hat. Dabei ist der Erwerb von Ansprüchen und Anwartschaften aus der betrieblichen Altersversorgung der Deutschen Reichsbahn überhaupt nicht umstritten. Dies wird auch von der Bundesregierung in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage auf Drucksache 14/1426 so gesehen. Jedoch seien - so die Bundesregierung in ihrer Antwort - die Ansprüche aus der betrieblichen Altersversorgung 1974 in die Sozialversicherung überführt worden und von daher nicht mit der Zusatzversorgung für Beschäftigte der Deutschen Bundesbahn vergleichbar. Ich denke, dass die von der Eisenbahnergewerkschaft vorgelegten Dokumente und Unterlagen genügend Anhalt dafür bieten, diese Sichtweise noch einmal einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Wie gesagt war die Altersversorgung der Reichsbahn seit 1956 als eine durch Umlageverfahren finanzierte Gesamtversorgung ausgestaltet, bestehend aus einem Anteil der allgemeinen Sozialpflichtversicherung und einem diesen ergänzenden Versorgungsanteil. Dementsprechend wurden bei der Rentenberechnung durch das Ministerium für Verkehrswesen beide Teile getrennt berechnet und auch getrennt ausgewiesen. Den Sozialpflichtanteil erhielt die Reichsbahn von der Sozialversicherung erstattet. Die Aufwendungen für den Versorgungsanteil wurden als Beitragsleistung der Arbeitnehmer in Form von einbehaltenem Lohn vom Arbeitgeber Deutsche Reichsbahn getragen. Bei dieser gesonderten Ausweisung der Anteile blieb es auch ab 1974 mit der neuen Eisenbahnerverordnung. Die Finanzierung erfolgte von da ab in voller Höhe aus dem Staatshaushalt, wurde aber, was den Versorgungsanteil anbelangt, durch die sich aus der Kostensenkung bei der Deutschen Reichsbahn resultierenden erhöhten Gewinnabführungen an den Staatshaushalt abgesichert. Im Zuge der Zusammenführung der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Reichsbahn zur Deutschen Bahn AG ist im Eisenbahnneuordnungsgesetz der Fortbestand der Zusatzversorgung für die Beschäftigten der Deutschen Bundesbahn gesichert worden. Für die Reichsbahner unterblieb eine entsprechende Regelung, trotz vieler struktureller Parallelen zu der Versorgung der ehemaligen Bundesbahner. Wir sind der Auffassung, dass dieser Sachverhalt in seiner Eigenheit im Interesse der Betroffenen noch einmal ruhig und sachlich im Ausschuss und hier im Parlament aufgearbeitet werden sollte. ({7}) Es macht wenig Sinn, dass alle Parteien in Gesprächen mit den Eisenbahnern ihr Verständnis für deren Situation signalisieren, dass sich aber in der Substanz relativ wenig bewegt. Wir sollten deshalb gemeinsam die Kraft für eine befriedende und befriedigende Lösung finden. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die SPD-Fraktion hat jetzt die Kollegin Erika Lotz.

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir reden heute über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur Schaffung eines einheitlichen Versorgungsrechts für die Eisenbahner. Nun muss ich sagen, dass schon allein der Titel irreführend ist. Speziell zielt der Antrag auf die Verbesserung der Alterssicherung ehemaliger Beschäftigter der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post ab. Sie von der CDU/CSU-Opposition fordern zum einen, dass bei der Berechnung der Renten dieser Personen Arbeitsverdienste auch oberhalb von 600 DM angerechnet werden sollen, ungeachtet dessen, ob Beiträge zur freiwilligen Zusatzrentenversicherung gezahlt wurden. Zum anderen kritisieren Sie - Herr Grund hat es auch schon vorgetragen - , dass historisch gewachsene und rechtmäßig erworbene Ansprüche und Anwartschaften aus der Altersversorgung der Deutschen Reichsbahn bislang nicht in bundesdeutsches Recht überführt worden seien. Bevor ich mich nun in der Sache äußere, möchte ich mein großes Erstaunen über diesen CDU/CSU-Antrag zum Ausdruck bringen, auch wenn Ihnen das vielleicht nicht gefällt. Das Renten-Überleitungsgesetz ist die rechtliche Grundlage für ein einheitliches Rentenrecht in ganz Deutschland. Dieses Renten-Überleitungsgesetz ist am 20. Juni 1991 vom Deutschen Bundestag beschlossen worden. Sie erinnern sich doch hoffentlich noch, dass sich die Regierungskoalition seinerzeit aus CDU/CSU und F.D.P. zusammensetzte. Regiert hat diese Koalition bis Herbst 1998, als der Wähler sie auf die Oppositionsbänke schickte. ({0}) Sie hatten also in all diesen Jahren durchaus mehrfach die Möglichkeit, das Anliegen, das Sie in Ihrem jetzigen Antrag vom 18. Januar 2000 vortragen, rechtlich zu regeln. Oder welchen Zeitraum verstehen Sie unter „historisch“? Lassen Sie mich auch darauf hinweisen, dass sowohl in der 12. als auch in der 13. Legislaturperiode die rentenrechtliche Situation der ehemaligen Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn von verschiedener Seite problematisiert worden ist. Wir von der SPD-Fraktion hatten uns zuletzt 1996 im Bundestag dafür eingesetzt, den in den Beschäftigungszeiten, die im Zeitraum von März 1971 bis Dezember 1973 bei der Deutschen Reichsbahn oder bei der Deutschen Post angefallen sind tatsächlich erzielten Arbeitsverdienst bei der Rentenberechnung - unabhängig von der Zahlung von Beiträgen zur freiwilligen Zusatzrentenversicherung - zu berücksichtigen. Obwohl die entsprechenden Forderungen von den Betroffenen nicht nur an uns, sondern auch an die damalige Regierungskoalition herangetragen worden sind, also an den der heutigen Antragsteller, haben Sie sich in Ihrer Regierungszeit nicht dafür ausgesprochen. Es hat keine Mehrheiten für die Verbesserung der rentenrechtlichen Situation der entsprechenden Personengruppe gegeben, obwohl es sich nur um ein kleines Problem gehandelt hat. Damals haben Sie den Antrag einfach abgeschmettert und heute wollen Sie sozusagen die Rächer der Enterbten spielen. Ich denke, das werden Ihnen die Leute so nicht durchgehen lassen. ({1}) Inzwischen hat das Bundessozialgericht - auch Herr Grund hat darauf hingewiesen - sechs Revisionen aus dem Bereich der Rentenversicherung der Angestellten einschließlich des Rechts der Rentenüberleitung und des Rechts der Überführung von Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der ehemaligen DDR entschieden. Im Kern ging es in diesem Verfahren darum, in welcher Höhe die in der ehemaligen DDR vor dem 1. Juli 1990 aus entgeltlicher Beschäftigung erzielten Arbeitsverdienste von Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn oder der Deutschen Post bei der Ermittlung der persönlichen Entgeltpunkte für eine Rente nach dem Sozialgesetzbuch VI rechtserheblich sein können. Umstritten war vor allem die Frage, ob Arbeitsverdienste, soweit sie über 600 Mark monatlich betragen haben, auch dann als in der Pflichtversicherung versichertes Arbeitsentgelt zugrunde zu legen sind, wenn die Beschäftigten von der Möglichkeit der Beitragszahlung zur freiwilligen Zusatzrentenversicherung keinen Gebrauch gemacht haben. Die Rentenversicherungsträger haben die Rechtspraxis, Entgelte oberhalb von 600 DM für ehemalige Bahnund Postangehörige nur dann zu berücksichtigen, wenn Beiträge zur freiwilligen Zusatzrentenversicherung gezahlt worden sind. Die Urteile des Bundessozialgerichts laufen darauf hinaus, die Kläger ebenfalls so zu stellen, auch wenn sie keine Beiträge zur Freiwilligen Zusatzrentenversicherung gezahlt haben. Wenn Sie nun, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, sich Ihre frühere Beurteilung des Sachverhaltes in Erinnerung rufen, dann müssen Sie sicherlich feststellen, dass die Urteile nicht der Zielsetzung des Gesetzgebers beim Rentenüberleitungsgesetz entsprechen; denn für die Ermittlung der persönlichen Entgeltpunkte aus Arbeitsverdiensten im Beitrittsgebiet sollten ausschließlich die tatsächlich erzielten Arbeitsverdienste und Einkünfte maßgebend sein, für die im Rahmen der bestehenden Beitragsbemessungsgrenzen Beiträge zur Sozialversicherung, einschließlich der freiwilligen Zusatzrentenversicherung, gezahlt worden sind. Die Rentenversicherungsträger sehen nun die zu diesem Sachverhalt getroffenen Entscheidungen des Bundessozialgerichts nicht als ständige Rechtsprechung an und haben deshalb nur die Einzelurteile umgesetzt. Klar ist jedoch allen Beteiligten, dass die durch die Rechtsprechung entstandene Situation auf Dauer nicht als tragfähige Lösung angesehen werden kann. Wir werden deshalb so schnell wie möglich Regelungen schaffen, die den Willen des Gesetzgebers in Bezug auf die Urteile des Bundessozialgerichtes vom 10. November 1998 rechtlich klarstellen. Herr Grund, die von der SPD in der Vergangenheit dazu vertretene Position wird dabei nicht unberücksichtigt bleiben. ({2}) Bereits jetzt kann ich jedoch sagen, dass es für die Schaffung eines neuen Versorgungsrechts ein Aufgreifen der 1956 in der ehemaligen DDR eingeführten betrieblichen Altersversorgung keine gesetzliche Handhabe gibt; denn beide Versorgungssysteme sind bereits 1974 in die Sozialversicherung der ehemaligen DDR überführt worden. Die Geltungsdauer der damaligen Vertrauensschutzbestimmungen ist durch den Einigungsvertrag auf den 31. Dezember 1991 begrenzt worden. Einen darüber hinausgehenden Vertrauensschutz für Versicherte regelt das Renten-Überleitungsgesetz. Nun stellen Sie in Ihrem Antrag fest, dass der Einigungsvertrag eine erneute Überführung der Ansprüche und Anwartschaften in die gesetzliche Rentenversicherung oder in das Tarifrecht des öffentlichen Dienstes erfordert. Dazu möchte ich feststellen, dass dies einfach nicht zutreffend ist. Wenn Sie sich einmal ältere Drucksachen aus Ihrer Regierungszeit zu Gemüte führen, in denen beispielsweise Fragen von Abgeordneten der jetzigen Regierungskoalition beantwortet wurden, dann werden Sie feststellen, dass der damalige Parlamentarische Staatssekretär Kraus dieses am 23. September 1997 in einer Antwort auf eine Frage auch so dargestellt hat. Vielleicht sehen Sie sich das noch einmal an. Mich wundert nämlich schon, dass Sie hier jetzt ganz andere Positionen vertreten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir erscheint es vor diesem Hintergrund sinnvoll, die inhaltliche Diskussion über Ihren Antrag im Rahmen des bevorstehenden Gesetzgebungsverfahrens wieder aufzugreifen. Ich hatte ja gesagt: Eine Klärung ist notwendig, die Bundesregierung arbeitet daran. Wir werden in den Ausschussberatungen und hier im Parlament die Argumente noch austauschen. Meine Bitte wäre, nicht ganz nach dem Prinzip zu verfahren: Was gebe ich auf das, was ich gestern gesagt habe? Vielmehr sollten Sie sich auch das noch einmal genau anschauen, was Sie damals vertreten haben.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Lotz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grund?

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte sie jetzt nicht mehr zulassen. Ich denke, andere Kolleginnen und Kollegen möchten auch noch reden. Wir können die Debatte dann ja im Ausschuss fortführen und uns dort austauschen. Ich danke schön. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Manfred Grund.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, was in der Vergangenheit sowohl von Ihrer als auch von unserer Seite gesagt wurde, kann sich durchaus sehen lassen. Ich habe mir schon die Mühe gemacht, einmal in den Unterlagen der letzten Jahre nachzuschauen, was sowohl von unserer Seite als auch von Ihrer Seite zu diesem Thema kam. Ich habe damals noch im Bundestag in Bonn dazu gesagt, dass bei der Überführung der Altersversorgung der Reichsbahner eine Regelungslücke entstanden ist, die geschlossen werden sollte. ({0}) Ich habe auch davon gesprochen, dass aufgeschoben nicht gleich aufgehoben ist und wir in der jetzigen Wahlperiode das Thema auf die Agenda setzen wollten. Damals hat von Ihrer Seite die Kollegin Rennebach gesprochen und gesagt - das kann sich durchaus sehen lassen, wenn Sie bei der Abfolge bleiben würden -: Die SPD vertritt die berechtigten Anliegen der Beschäftigten der Reichsbahn und Post. In unserem Gesetzentwurf vom Mai 1995 zur Novellierung der Rentenüberleitung haben wir rentenrechtliche Berücksichtigung des vollen Arbeitsentgelts im Zeitraum vom 1. März 1971 bis 30. Juni 1990 verlangt, weil Reichsbahner und Postbeschäftigte - mit wenigen Ausnahmen - angesichts der zugesagten Versorgungsansprüche keine Beiträge zur FZR gezahlt haben. Wenn man die Reden in diesem Kontext sieht, muss man sagen: Die Regierung hat gewechselt, die Stichwortgeber sind die gleichen geblieben. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Lotz, zur Erwiderung, bitte.

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Grund, ich will es einfach wiederholen: Sie hatten seit 1991 - ich sage an der Stelle nicht: seit 16 Jahren - und vor allen Dingen, nachdem die Betroffenen die Anliegen vorgetragen hatten, Gelegenheit, dies zu tun. Das haben Sie nicht gemacht. Ich hatte vorhin ja auch gesagt, dass unser Anliegen, also das, was die SPD-Fraktion in der Vergangenheit vertreten hat, auch Berücksichtigung finden wird. Ich weiß gar nicht, warum Sie diese Kurzintervention hier jetzt noch gemacht haben. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Irmgard Schwaetzer für die F.D.P.-Fraktion.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser kurze Wortwechsel hat schon deutlich gemacht, wie schwierig es ist, die in der DDR entstandenen Rentenanwartschaften nach den Prinzipien des alten, gewachsenen westdeutschen Rentenrechtes zu übertragen. Wir haben uns in all den Jahren sehr schwer damit getan. Mit dem heute zu debattierenden Problem haben sich in der vergangenen Legislaturperiode alle Fraktionen beschäftigt. Ich erwähne hier besonders die Kollegin Dr. Gisela Babel, aber auch die Kollegin Pieper und den Kollegen Lühr, die immer wieder versucht haben, diese Frage, die nach unserer Auffassung unbefriedigend geregelt war, einer Lösung zuzuführen. In einem Punkt möchte ich Sie, liebe Frau Lotz, noch ergänzen. Natürlich kann man sich immer darauf zurückziehen, dass man das seit 1991 hätte anders regeln können. Aber jetzt gibt es einen Anlass, nämlich das Urteil des Bundessozialgerichtes vom November 1998. Das war nach dem Regierungswechsel. ({0}) Insofern ist es durchaus folgerichtig, dass das Thema jetzt wieder hier auf den Tisch kommt. Sie haben gesagt, die Regierung denke nach. Das ist immer gut. Aber wir möchten schon sehr schnell wissen, wo dieses Nachdenken enden wird. Die F.D.P. wird sich auf der Grundlage dieses Urteils dem berechtigten Anliegen der Eisenbahner nicht verschließen. ({1}) Auch die Bundesregierung hat im Übrigen schon im letzten Jahr auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU zutreffend darauf hingewiesen, dass mit dem Urteil des Bundessozialgerichts - sie hat es nicht auf die Einzelfälle beschränkt und sich damit erkennbar nicht der Interpretation der Rentenversicherungsträger angeschlossen, dass das Urteil nur auf die vor dem Bundessozialgericht verhandelten Fälle anzuwenden sei - offensichtlich auch Einkommen über 600 Mark rentenrechtlich zu werten seien, selbst wenn keine Beiträge zur freiwilligen Zusatzrentenversicherung gezahlt worden sind. Insofern wünsche ich mir, Frau Mascher, dass Sie heute die Zusage geben, dass die Bundesregierung an der in ihrer Antwort im Juli des letzten Jahres gegebenen Haltung festhält. Natürlich muss dann geklärt werden, wie diese Zeiten finanziert werden. Dabei sollte sie allerdings berücksichtigen, dass, auch wenn hier kein Generationenvertrag vorliegt, eine Finanzierung gefunden werden kann, wie es zu anderen Zeiten bei in die Rentenversicherung übernommenen Lasten auch schon gemacht worden ist. Zum Schluss möchte ich noch darauf hinweisen, dass sich die F.D.P. in der vergangenen Legislaturperiode schon hätte vorstellen können, dass es andere Lösungen für diese Frage gibt. ({2}) Wir haben immer wieder angeregt, dass dieses Anliegen der Eisenbahner in den Tarifverträgen Berücksichtigung findet oder dass Ansprüche gegenüber dem Bundeseisenbahnvermögen geltend gemacht werden können. Beides wäre eine tragfähige Lösung gewesen. Allerdings haben sich die Gewerkschaften um dieses berechtigte Anliegen der Eisenbahner nicht gekümmert. Insofern ist jetzt der Gesetzgeber am Zuge. Wir werden den Antrag der CDU/CSU unterstützen. Ich danke Ihnen. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Helmut Wilhelm.

Helmut Wilhelm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002825, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Anträge von CDU/CSU und PDS sind auf die Umsetzung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 10. November 1998 zur rentenrechtlichen Bewertung von Beschäftigungszeiten bei der Deutschen Reichsbahn und darüber hinaus auch der Deutschen Post in der ehemaligen DDR gerichtet. Gefordert wird aus Gründen der Gleichbehandlung mit ehemaligen Bundesbahn- und Bundespostmitarbeitern und zur Überführung der Ansprüche aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen die Überleitung der Altersvorsorge dieses Personenkreises in bundesdeutsches Recht. Das Bundessozialgericht hat am 10. November 1998 entschieden, in welcher Höhe die in der DDR erzielten Arbeitsverdienste bei der Berechnung einer Rente nach dem Sechsten Buch des Sozialgesetzbuches rechtserheblich sein können. Diese Frage war im Übrigen auch Gegenstand einer Petition, über die der Petitionsausschuss des Bundestages im September 1999 zu entscheiden hatte. Hierbei wurde einstimmig beschlossen, die Petition dem Bundesarbeitsminister als Material zu überweisen, weil der Ausschuss hier Regelungsbedarf gesehen hat. Das Bundesarbeitsministerium wird eine Gesetzesinitiative zur gesetzlichen Klarstellung der sich aus den UrteiErika Lotz len des Bundessozialgerichts ergebenden Fragen initiieren. Die Einbeziehung von Ansprüchen ehemaliger Reichsbahnmitarbeiter in die Zusatzversorgung der Deutschen Bundesbahn bzw. der Deutschen Bahn AG ist dabei allerdings nicht möglich, weil diese nach dem Eisenbahnneuordnungsgesetz - das ebenso wie das Renten-Überleitungsgesetz unter der CDU/CSU-Ägide zustande gekommen ist - nur auf die Arbeitnehmer Anwendung finden kann, die vor Gründung der DB AG dort versichert waren. Auch im Einigungsvertrag gibt es für diese Forderung keine Grundlage. Das Bundesverfassungsgericht hat im Übrigen nicht etwa entschieden, dass im Beitrittsgebiet erworbene Ansprüche aus Zusatz- oder Sonderversorgungen der Eigentumsgarantie des Art. 14 Grundgesetz unterliegen, sondern es hat klargestellt, dass Art. 14 erst mit dem Beitritt der DDR nach Maßgabe des Einigungsvertrages zum Tragen kommt. Die Bundesregierung wird also eine Gesetzesinitiative zur Klarstellung des Rahmens der Entscheidung des Bundessozialgerichtes ergreifen. Dies wird sie auch für die Beschäftigten der Deutschen Post entsprechend tun. Die Forderung zwei im CDU/CSU-Antrag kommt aber hierbei nicht in Betracht; denn diese käme der Neuschaffung einer zusätzlichen Sicherung für ehemalige Beschäftigte von Reichsbahn und Deutscher Post gleich. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Monika Balt für die PDSFraktion.

Monika Balt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003030, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ausgangssituation für unseren Antrag war, dass die Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post in der DDR historisch gewachsene Ansprüche auf eine Altersversorgung erworben haben. Im Prozess der deutschen Einheit wurden aber keinerlei Regelungen zur Weitergewährung der erworbenen Ansprüche und Anwartschaften getroffen. Das muss ja wohl die damalige Bundesregierung veranlasst haben. ({0}) Wohl aber wurde das Vermögen der Deutschen Reichsbahn, aus dem die Beiträge rechtmäßig gezahlt wurden, in das Bundesvermögen überführt. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Nun haben ehemalige Beschäftigte von Reichsbahn und Post zum einen eine Lücke in der rentenrechtlichen Anerkennung ihrer Einkünfte nach dem SGB VI. Zum anderen berücksichtigt das bundesdeutsche Rentenrecht nicht ihre Versorgungsansprüche. Trotz der Entscheidung des Bundessozialgerichtes - im Urteil wird die Fehlerhaftigkeit der bis dahin praktizierten Rentenberechnung eindeutig nachgewiesen - handeln die Rentenversicherungsträger nicht danach. Die Rechtsprechung durch das Bundessozialgericht sei noch nicht gefestigt. Außerdem argumentierten sie mit einer fehlenden Erstattungsregelung durch den Bund. Das Bundessozialgericht entschied auch für die Beschäftigen, die am 1. Januar 1974 nicht der freiwilligen Zusatzrentenversicherung beitraten, dass deren Einkommen über 600 Mark bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen seien. Mit dem Urteil sollte die Ungleichbehandlung in der Alterssicherung gegenüber den Kolleginnen und Kollegen der bundesdeutschen Bahn und Post beseitigt werden. Die Altersversorgungsansprüche der Bundesbahner wurden ja schon beispielhaft gesichert; eine befriedigende und gerechte Regelung für die Reichsbahner steht aber immer noch aus. ({1}) Deshalb fordert die PDS-Fraktion die Bundesregierung auf, bis spätestens 30. September 2000 eine rechtliche Regelung vorzulegen, welche die rentenrechtlichen Ansprüche der Reichsbahner und Postler in vollem Umfange berücksichtigt. Darüber hinaus müssen Versorgungsregelungen geschaffen werden, die die Ansprüche und Anwartschaften aus den Versorgungsordnungen der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post entsprechend anerkennen. Eine Anspruchsberechtigung soll rückwirkend ab 1. Juli 1990 für alle hiervon Betroffenen gelten. ({2}) Die Finanzierung kann durch den Bund erfolgen, da die Sondervermögen der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post nach der Einheit zu Bundesvermögen wurden. Außerdem ist das Bundeseisenbahnvermögen für die finanzielle Sicherung einzusetzen. Bei Bahn und Post darf es im gleichen Betrieb keine Ungleichbehandlung in der Altersversorgung geben. Deshalb muss das Gleichbehandlungsprinzip für Ost und West endlich Realität werden. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/2522 und 14/2729 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 a auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einbürgerungsverfahren human gestalten - Einbürgerungshindernisse beseitigen - Drucksachen 14/1757, 14/2565 Berichterstattung: Abgeordnete Lilo Friedrich ({1}) Helmut Wilhelm ({2}) Meinrad Belle Marieluise Beck ({3}) Dr. Max Stadler Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kol- leginnen und Kollegen Lilo Friedrich, Wolfgang Zeitl- mann, Marieluise Beck, Max Stadler, Ulla Jelpke und die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast haben ihre Reden zu Protokoll gege- ben.*) Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Wir kommen deshalb gleich zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Gestaltung des Einbürgerungsverfahrens auf Drucksache 14/2565. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1757 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Erleichterung der Verwaltungsreform in den Ländern ({4}) - Drucksache 14/640 ({5}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({6}) - Drucksache 14/2797 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Bürsch Hans-Otto Wilhelm ({7}) Dr. Max Stadler Petra Pau Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kol- leginnen und Kollegen Michael Bürsch, Hans-Otto Wilhelm.**) Ekin Deligöz, Max Stadler, Petra Pau und der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.***) ({8}) Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den Ge- setzentwurf des Bundesrates zur Erleichterung der Ver- waltungsreform in den Ländern in der Aus- schussfassung. Dies betrifft die Drucksachen 14/640 und 14/2797. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen __________ *) Anlage 3 **) Der Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor ***) Anlage 4 von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/2801 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag? - Wer stimmt dage- gen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig ange- nommen. Wer stimmt für den Gesetzentwurf in der Ausschuss- fassung mit der soeben beschlossenen Änderung? - Ge- genprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Interfraktionell ist vereinbart, trotz der in der zweiten Beratung angenommenen Änderungen unmittelbar in die dritte Beratung einzutreten. Sind Sie damit einverstan- den? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies mit der erforderlichen Mehrheit beschlossen. Wir kommen damit zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetz- entwurf ist damit gegen die Stimmen der PDS-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion der CDU/CSU angenom- men. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Pass- und Personalausweisrechts - Drucksache 14/2726 - Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kol- leginnen und Kollegen Rüdiger Veit, Wolfgang Bos- bach, Cem Özdemir, Max Stadler, Petra Pau sowie der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper ha- ben auch hierzu ihre Reden zu Protokoll gegeben.*) Deshalb kann ich an dieser Stelle bekannt geben, dass interfraktionell die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/2726 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen wird. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten Hübner, Dr. Barbara Höll, Heidi Lippmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Aufnahme der Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba im Jahr 2000 - Drucksache 14/2263 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({9}) Auswärtiger Ausschuss __________ *) Anlage 5 Vizepräsidentin Petra Bläss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS ein Redezeit von fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Carsten Hübner für die PDS-Fraktion.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war deswegen dagegen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben, weil die Ministerin Kuba im Mai einen ersten Besuch abstatten will. Dies wird der erste Besuch eines deutschen Ministers auf Kuba seit der Revolution sein. Ich war auch deshalb dagegen, weil es sich dabei wohl weniger um einen Anstands- als um einen Arbeitsbesuch handeln wird. Warum sollte das Parlament vor diesem Hintergrund darauf verzichten, der Ministerin eine erste Positionsbestimmung mit auf den Weg zu geben bzw. hier ihre Meinung und ihre Pläne abzufragen - und sei es anhand unseres Antrages? Ich persönlich bin daran interessiert, weil die Ministerin seit Ihrem Amtsantritt in dieser Frage in der Öffentlichkeit eine konsequente Haltung eingenommen hat und sich zudem andeutet, dass die Koalitionsfraktionen in dieser Frage ebenfalls eine parlamentarische Initiative anstreben werden. Doch nun zum Antrag selbst: Ich erwarte nicht, dass gerade aufseiten der CDU/CSU ein großer Jubel bezüglich Inhalt und Charakter unseres Antrages ausbrechen wird. Ich erwarte jedoch, dass hier nicht mit gespaltener Zunge geredet wird, dass nicht mit zweierlei Maß gemessen wird. ({0}) Es ist richtig und auch von uns nicht zu bestreiten, dass die Menschenrechtslage auf Kuba in vielen Bereichen problematisch ist. Es gibt politische Gefangene, eine restriktive Justiz inklusive der Todesstrafe, Einschränkungen der Meinungsfreiheit und anderer demokratischer Rechte. Dies zu sagen und anzumahnen, meine Damen und Herren, ist auch für uns eine Selbstverständlichkeit. ({1}) Aber es muss ebenso eine Selbstverständlichkeit sein, dies nach dem Gebot der Verhältnismäßigkeit zu tun und auch nach diesem Gebot zu reagieren und gegebenenfalls zu sanktionieren. Da befindet sich die Bundesrepublik im Gegensatz zu vielen anderen Ländern derzeit noch in einer erheblichen Schieflage, die allein ideologisch motiviert ist. Anders ist es nicht zu erklären, dass es seit langer Zeit bundesdeutsche Entwicklungszusammenarbeit und enge politische Beziehungen mit Staaten wie Nigeria, Indonesien, Kolumbien usw. gibt. Selbst mit dem Südafrika der Apartheid waren enge ökonomische Beziehungen die Praxis, während Kuba bis heute bewusst abgekoppelt bleibt, obwohl die dortige Menschenrechtslage bei aller Kritik ungleich besser ist als etwa in den angesprochenen Ländern. Dieser Widerspruch muss endlich überwunden werden. ({2}) Zweitens. Die Verwirklichung von sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechten ist auf Kuba trotz des inzwischen international geächteten Wirtschaftsembargos der USA und erheblicher ökonomischer Einbrüche nach dem Ende des RGW weitaus fortgeschrittener als in den umliegenden Ländern der Region. Ich nenne hier nur das Schul- und Universitätssystem oder das Gesundheitswesen. Das gilt es anzuerkennen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass mit entwicklungspolitischen Maßnahmen eine Erosion dieser Errungenschaften und der weitere Verfall der Infrastruktur aufgehalten und ins Gegenteil verkehrt wird. In diesem Prozess die Rolle der Zivilgesellschaft, der Kirchen und weiterer gesellschaftlicher Akteure zu stärken ist eine Kernforderung unseres Antrags. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kuba ist ein ganz besonderer Fall. Es kann aus vielerlei Gründen ein überaus interessantes entwicklungspolitisches Modell sein. Ich will hier nur einige Aspekte nennen. Erstens. Die Befürworter dieses Projektes reichen von Olaf Henkel über die Bundesregierung bis hin zu Kirchenvertretern. Andere westliche und lateinamerkanische Länder sind trotz des Drucks der USA bereits aktiv. Es gibt also gesellschaftsübergreifend und international eine ganze Reihe von Partnern. Zweitens. Das, was in vielen Entwicklungsländern erst mühevoll entstehen muss - ich nannte als Beispiel das flächendeckende Gesundheits- und Bildungswesen -, ist in seiner Struktur bereits etabliert und muss deshalb lediglich reformiert und gefördert werden. Drittens. Kuba ist bereits jetzt trotz aller Probleme bereit, anderen Ländern Hilfe zu leisten. Ich nenne nur den Schuldenerlass gegenüber Nicaragua nach der Mitch-Katastrophe, immerhin 50 Millionen US-Dollar, die Ausbildung von Ärzten und Technikern aus Entwicklungsländern oder den Einsatz kubanischer Ärzte in vielen armen Ländern der Region und auch in Afrika. ({3}) Viertens. Die Menschenrechtslage ist ein strukturelles Problem. Reformen sind unabdingbar. Dennoch haben wir es nicht mit einem verselbstständigten Militär- oder Polizeiapparat mit den entsprechenden Konsequenzen zu tun. Das gilt es bei Reformvorhaben hervorzuheben. Das macht Hoffnung auf einen Erfolg partnerschaftlichen Dialogs und Engagements. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie schlicht darum bitten, unseren Antrag sachlich zu diskutieren, mehr nicht. Damit wäre in diesem Land und für die Menschen auf Kuba schon viel gewonnen. Danke. ({4}) Vizepräsidentin Petra Bläss

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPDFraktion spricht jetzt die Kollegin Adelheid Tröscher.

Adelheid Tröscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben Glück, dass so viele Reden zu Protokoll gegeben worden sind, sodass wir die Zeit nun wunderbar für die Debatte nutzen können. Bereits im letzten Jahrtausend hat die Ministerin die Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba verkündet, nämlich am 17. Dezember, wenn ich mich recht erinnere. Das heißt, wir gehen schon einer neuen Zeit entgegen, aber jetzt muss noch Butter bei die Fische kommen. Kuba, ein Land mit 11 Millionen Einwohnern, lebt zunehmend vom Tourismus sowie vom Zuckerrohr-, Tabak- und Kaffeeanbau. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen in Zentral- und Osteuropa und dem weitgehenden Entzug der Unterstützung durch die betreffenden Länder sieht sich Kuba nach wie vor großen wirtschaftlichen und sozialen Problemen ausgesetzt. In Kuba gibt es keine parlamentarische, pluralistische Demokratie. Vielmehr herrscht ein die politischen Grund- und Freiheitsrechte verletzendes System mit einem die Bevölkerung überziehenden Überwachungsnetz. Die Planwirtschaft führt auch in diesem Land zu Ineffizienz und Mangel, zur Verschwendung von Arbeitskraft, Material und Rohstoffen sowie zu weitgehender Lähmung von Eigeninitiative und Kreativität. Auf der anderen Seite hat Kuba eine Reihe von entwicklungspolitischen Erfolgen aufzuweisen: Die Kindersterblichkeit ist niedriger, als sogar in manchen Industrieländern, alle Kinder und Jugendlichen haben kostenlosen Zugang zu Bildung und Ausbildung, die Lebenserwartung ist mit 76 Jahren etwa so hoch wie in der Bundesrepublik Deutschland, sie liegt ein bisschen darunter. Das, was in der Entwicklungszusammenarbeit als zentral angesehen wird, nämlich die Befriedigung der Grundbedürfnisse, war in Kuba weitgehend gelungen, ist jedoch jetzt, nach dem Zusammenbruch der osteuropäischen Diktaturen, aber auch durch das 1962 verhängte US-Embargo, aufgrund ausbleibender Hilfen in vielen Bereichen infrage gestellt. Richtig ist auch, dass sich Castro gegen Veränderungen wehrt, wie sie etwa in Zentral- und Osteuropa stattgefunden haben und noch immer stattfinden. Aber ohne politische und wirtschaftliche Reformen und eine sie von außen unterstützende Politik wird es keine durchgreifende, auf Dauer tragfähige Verbesserung der Lebenssituation der kubanischen Bevölkerung geben. ({0}) Nachhaltige Entwicklung braucht diese unterstützende Politik von außen. Deswegen begrüßt es die SPDBundestagsfraktion ausdrücklich, dass die Bundesregierung, insbesondere die Leitung des BMZ, beschlossen hat, erstmals die offizielle EZ mit Kuba aufzunehmen. ({1}) Frau Ministerin, Sie bekommen in dieser Frage unsere volle Unterstützung. ({2}) Im „Spiegel“ vom 7. Februar dieses Jahres habe ich unter der Überschrift „Heide bei Fidel“ zur Aufnahme der Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba gelesen: Der entwicklungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag - ich sehe ihn leider nicht Klaus-Jürgen Hedrich geißelt das Vorhaben als „bewusste Stärkung eines Gewaltregimes“. Die „Hofierung eines Diktators mit Millionen deutscher Entwicklungsgelder“ stehe in eklatantem Widerspruch zur Menschenrechtspolitik der Bundesregierung. Kollege Hedrich - ich kann ihn jetzt leider nicht ansprechen -, das ist schade. Es geht nicht um die Hofierung eines Diktators, sondern schlicht darum, durch die Entwicklungszusammenarbeit zum demokratischen Wandel auf Kuba beizutragen, indem auch oppositionelle Gruppen auf Kuba unterstützt werden. Denn es waren doch gerade die oppositionellen Gruppen, die uns im Vorfeld der Entscheidung bestätigt haben, dass auch sie sich von der Aufnahme der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit längerfristig positive gesellschaftliche und politische Impulse erhoffen. Dies nehmen wir ernst und dies setzen wir um. Ein weiterer Aspekt zur vorgetragenen Kritik: Unter der alten Bundesregierung gehörte die Volksrepublik China mit zu den größten Empfängern deutscher Entwicklungshilfe. Man kann ja wohl kaum sagen, dass China ein Musterland der Demokratie sei, wo Partizipation und Menschenrechte groß geschrieben werden. Ich denke, das hier postulierte Beispiel ist ein eklatantes Beispiel für Doppelmoral. ({3}) Kollege Spranger sprach heute Morgen davon, dass Menschenrechtsverletzungen in Kuba verharmlost werden, um die Entscheidung der zuständigen Ministerin nicht zu diskreditieren. Ich denke, er hat nicht verstanden, was es bedeutet, ein Land zu unterstützen, das auf einem sehr holprigen Wege zur Demokratie ist, und was Entwicklungszusammenarbeit in diesem Zusammenhang leisten kann. ({4}) Er hat heute Morgen auch noch andere Dinge über Kuba gesagt, die ich besser nicht wiederhole. Denn dies wären wieder Beispiele für Doppelmoral und die wollen wir ja hier nicht noch zahlreicher werden lassen. ({5}) Viele Länder - Frankreich, Spanien, Italien oder auch Kanada - haben längst mit der Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba begonnen. Wir sind da etwas spät dran, aber nicht zu spät. Die Vorgängerregierung hat eben nicht auf praktischen Realismus gesetzt, wie er bereits bei anderen Regierungen, Wirtschaftsverbänden, Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen anzutreffen ist. Gleichwohl stelle ich fest: Wir können nicht davon ausgehen, dass sich die Situation in Kuba kurzfristig verbessert. Aber über welches andere Entwicklungsland können wir das schon sagen? Es wäre sicherlich auch eine Illusion, wenn wir auf Kuba mit den nun avisierten Mitteln weit reichende Bewegungen auslösen könnten. Dennoch sage ich: Eine weitere Blockade von Kuba wäre verkehrt. Die Politik des Embargo und der Isolierung, ausgehend besonders von den USA, hat keine Veränderungen bewirken können. Sie trägt vielmehr zur inneren Verhärtung bei. Der politische Dialog und die Aufnahme von entwicklungspolitischen Beziehungen zu Kuba sind daher der einzig richtige Weg, um mittel- und langfristig Fortschritte zu erreichen. Nur durch einen aktiven Beitrag von unserer Seite können wir zu einem friedlichen Wandel auf Kuba beitragen. ({6}) Überdies stand in Art. 29 des Einigungsvertrages, dass die gesamtdeutsche Regierung verpflichtet ist, die gewachsenen außenwirtschaftlichen Strukturen der Beziehungen der alten DDR unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten und unter Beachtung marktwirtschaftlicher Grundsätze sowie der Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaften fortzuentwickeln und auszubauen. Die Regierung Kohl hat sich daran nicht gehalten. Auch deshalb sollte die Bundesregierung mit zu jenen Staaten gehören, die einen positiven Wandel in Kuba unterstützen. Sie ist meines Erachtens dazu verpflichtet. Schon in früheren Legislaturperioden sind Delegationen des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Kuba gewesen. Ziel der Reise, so heißt es in einem Reisebericht, war es nicht, dort Entwicklungsprojekte zu besuchen, sondern Möglichkeiten der Aufnahme der Entwicklungszusammenarbeit im Hinblick auf die Kriterien der Bundesregierung und im Hinblick auf die diesbezüglichen Beschlüsse des Deutschen Bundestages zu prüfen. Eine Veränderung der Situation durch eine wirtschaftliche Öffnung - auch durch Entwicklungshilfe aus Deutschland - ist als wahrscheinlich anzusehen. Das wurde schon 1986 geschrieben. Wir sind jetzt dabei, dies zu realisieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schade, dass sich die damalige Leitung des Hauses diese Position nicht zu Eigen gemacht hat. Wir könnten heute zum Beispiel in der Förderung der Zivilgesellschaft weiter sein, als wir es sind. ({7}) Dies betrifft einen weiteren Punkt, die konkrete Projektarbeit. Die Bundesregierung startet ihre Zusammenarbeit mit Kuba mit einem Umweltschutzprojekt. Damit steht die Bundesregierung nicht nur im Einklang mit dem Bundestagsbeschluss von 1993, in dem die Umwelt als eines von möglichen Zusammenarbeitsfeldern mit Kuba ausdrücklich erwähnt worden ist. Sie bewegt sich mit ihrer Neuausrichtung auch auf einer Linie mit dem gemeinsamen europäischen Standpunkt von 1996, der im November 1999 bestätigt und bekräftigt wurde. Wie sehr sich die Rahmenbedingungen sowohl politisch als auch wirtschaftlich geändert haben, zeigt auch der Besuch einer Delegation des BDI und des IberoAmerika-Vereins in Kuba im letzten Jahr. Die Delegation wurde im Übrigen von Olaf Henkel angeführt - wir haben das schon gehört -, wobei ich davon ausgehe, dass sich das ganze Haus sicher ist, dass der BDIPräsident nicht zur Hofierung eines Diktators nach Kuba reiste. Henkel hat nur weniger Berührungsängste als die CDU. - Vielleicht raucht er auch gern Havannas; das müssen wir ihn einmal fragen. ({8}) In der Pressemitteilung des BDI vom 7. Mai des letzten Jahres heißt es, dass der kubanische Markt ein interessanter Zukunftsmarkt sei, den wir uns sichern sollten. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Blocks - so heißt es weiter - habe Kuba 85 Prozent seines Handels mit den sozialistischen Ländern verloren. Jetzt geht der Handel in umgekehrter Richtung. „Heute ist die Europäische Union Kubas wichtigster Wirtschaftspartner.“ Und weiter heißt es: Die Bedingungen für ein deutsches Engagement sind auch deswegen gut, weil rund 30 000 Kubaner in der ehemaligen DDR gearbeitet oder studiert haben und Deutsch sprechen. Dieses Pfund sollten wir nutzen. Vor dem Hintergrund der Globalisierung, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollte nicht nur die deutsche Wirtschaft auf Kuba aktiv werden; gerade die Politik, insbesondere die Entwicklungszusammenarbeit, sollte diesen Prozess ebenfalls positiv begleiten. Im Januar war ich zusammen mit dem Kollegen Kraus und dem Kollegen Günther in Kuba. Wir haben dabei in verschiedenen Gesprächen mit offiziellen Gesprächspartnern auf bekannte kritische Positionen zu Aspekten der kubanischen Politik hingewiesen und dazu Stellung genommen, was politische Rechte und Bürgerrechte angeht. Wir waren uns auch einig in der Ablehnung jeglicher Isolations- und Konfrontationspolitik wir alle drei -, wie ja gerade auch die vorgesehene Aufnahme amtlicher Entwicklungszusammenarbeit zeigt. Wir haben zugleich darauf hingewiesen, dass auch Kuba gefordert ist, für den gewünschten Aufbau insbesondere der Wirtschaftsbeziehungen die erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Einig war sich die Delegation aber vor allem in einem Punkt: Auch bei fortbestehenden Differenzen mit Kuba - etwa im Bereich der politischen Bürgerrechte - gibt es eine große Bereitschaft zur Intensivierung der Zusammenarbeit. Die jetzige neue Situation ermöglicht es der Politik auch, die schon jetzt auf Kuba arbeitenden Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen verstärkt zu unterstützen. Ich nenne hier die Friedrich-EbertStiftung und die Hanns-Seidel-Stiftung oder die Deutsche Welthungerhilfe, den DAAD und die HumboldtStiftung. Wir als Entwicklungspolitiker haben allen Grund, stolz auf die Stiftungen und auf die NGOs zu sein, die dort ihre Arbeit tun und im Vorfeld der Entscheidung der Ministerin schon sehr, sehr gute Arbeit geleistet haben, auf der sie aufbauen kann. Auch in unserem Gespräch mit Kardinal Ortega kam deutlich zum Ausdruck, dass er sich eine fortgesetzte Zusammenarbeit des Auslandes mit Kuba wünsche, denn diese trage zu Veränderungen zunächst im wirtschaftlichen Bereich bei, die auf längere Sicht auch politische Veränderungen mit sich brächten. Auch das Gespräch mit Vertretern nicht zugelassener Parteien sowie mit Menschenrechtsorganisationen zeigte Übereinstimmung darin, dass die Gesprächsteilnehmer eine fortgesetzte und intensivere Zusammenarbeit des Auslands mit Kuba wünschen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer dies alles bedenkt und die Realitäten richtig einschätzt, der kann nur zu dem Urteil gelangen, dass die Aufnahme der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit Kuba der richtige und zukunftsweisende Weg ist. Die jetzige Entscheidung der Bundesregierung, den Start der Beziehungen mit einem bilateralen entwicklungspolitischen Umweltschutzprojekt zu beginnen, ist von GTZ und DED sorgfältig vorbereitet worden. Mit der Entwicklungsmaßnahme unterstützt die Bundesrepublik Deutschland den kubanischen Aktionsplan gegen Wüstenausbreitung und Dürre. Es sind dies konkrete Pilotmaßnahmen gegen Versalzung, gegen Bodenerosion und zum Schutz der Ufer des größten kubanischen Flusses, des Rio Cauto. Beteiligt werden an dem Projekt auch kubanische Nichtregierungsorganisationen und nicht organisierte Bauern. Dies ist eine von uns allen gewollte Stärkung der Zivilgesellschaft. Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich nochmals auf den Disput eingehen, - -

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, das müssten Sie ganz, ganz kurz machen, denn Ihre Redezeit ist schon vorbei.

Adelheid Tröscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, das mache ich jetzt ganz kurz. Ich bin gleich fertig. Ach so, da ist schon ein Minuszeichen vor der Zeit! Das habe ich nicht gesehen. ({0}) Ich bin gleich fertig. Der Vorsitzende der Kommission Weltkirche der Katholischen Deutschen Bischofskonferenz, der von uns allen geschätzte Limburger Bischof Franz Kamphaus, der sehr viel für die Entwicklungszusammenarbeit getan hat, hat in einer Stellungnahme eindeutig Position zugunsten eines Besuchs bezogen. Laut Bischof Kamphaus steht Kuba seit Jahren im Blick kirchlichen Interesses. Es sei daher ausdrücklich zu begrüßen, wenn nun das staatliche Interesse an dem Land wachse. Ich kann dazu nur sagen: Der Bischof ist ein kluger, aufgeschlossener Mann, und wo er Recht hat, hat er Recht. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nur noch einmal zur Erläuterung an alle: Bei der Redezeit ist alles nach der Null minus. Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Erika Reinhardt.

Erika Reinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Entwicklungspolitik ist ja nicht nur ein Instrumentarium zur direkten Behebung von Not und Elend; vielmehr ist Entwicklungspolitik auch ein politisches Instrument mit dem Ziel Hilfe zur Selbsthilfe. Sicherlich ist Kuba, die größte Insel der Großen Antillen, eine sehr wichtige Region und hat sicherlich auch Bedeutung; das ist gar keine Frage. Ich war selber in Kuba und habe erlebt, was sich dort entwickelt hat und was nicht. Es war natürlich auch in der Vergangenheit richtig, Gespräche zu führen, Kuba zu besuchen und den Versuch zu unternehmen, zu einer Zusammenarbeit zu kommen. In erster Linie muss es aber unser Ziel sein, die Nichtregierungsorganisationen zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag, also dieses Parlament, hat am 14. Januar 1993 einen Beschluss gefasst, der immer noch seine Gültigkeit hat. Da heißt es: Die Zusammenarbeit mit Kuba ist so zu gestalten, dass sie nicht als Unterstützung der dortigen Diktatur verstanden werden kann. - Der vorliegende Antrag der PDS missachtet diesen Beschluss und hat nur ein Ziel: nämlich eine Diktatur zu unterstützen. Denn die PDS will nicht Hilfe für die Kubaner, sondern Solidarität mit einem der letzten kommunistischen Dinosaurier dieser Erde. ({0}) Die PDS fordert die Aufnahme offizieller - ich betone immer wieder: offizieller - Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba. Damit man auch gleich weiß, was zu tun ist, schlägt die PDS natürlich Projekte in Sektoren wie Infrastruktur, Umwelt, Energie, Gesundheitsvorsorge, Agrarproduktion und Bildung vor, also ein Rundumpaket, mit dem man den Staat von außen wieder aufbauen möchte. ({1}) Begründet wird das Ganze mit der Versorgungskrise in Kuba, die durch das US-Wirtschafts- und Handelsembargo ausgelöst worden ist. ({2}) Nur damit das klar ist: Ich halte Embargos grundsätzlich nicht für Erfolg versprechend, weil solche Maßnahmen es dem Diktator - oder dem Staatsmann - im Grunde genommen ermöglichen, die Verantwortung, die eigentlich er hat, ins Ausland zu schieben, anderen zuzuschieben und zu sagen: Ich bin ja eigentlich nicht schuld; nur die sind schuld, weil sie mich boykottieren. - Ich halte nichts von Embargos, weil sie wenig verändern. Sie von der PDS verschweigen, dass die Krise in Kuba in erster Linie durch interne Faktoren verursacht wurde: durch eine kurz vor dem Staatsbankrott stehende Planwirtschaft - machen wir uns da nichts vor -, ein totalitäres Einparteiensystem, Menschenrechtsverletzungen und durch Unterdrückung der individuellen Bürgerrechte und Grundfreiheiten. ({3}) - Das ist schon ein Unterschied, liebe Kollegin Tröscher - wir sind nicht auf einem Auge blind - China hat zumindest freie Wahlen. ({4}) Kuba ist jedenfalls die letzte klassische Diktatur. ({5}) Verstehen Sie mich bitte richtig: Eine offizielle bilaterale Entwicklungszusammenarbeit kann es nicht geben, solange sich die Rolle des Staates nicht verändert und solange nicht einmal ein kleiner Schritt auf dem Weg zur Demokratisierung zugelassen wird. ({6}) Was wir wollen, ist die Unterstützung auf nichtstaatlicher Ebene, bei den Kirchen, Stiftungen - das ist schon angesprochen worden - und sonstigen Nichtregierungsorganisationen. Das ist Hilfe. Dort wird gute Arbeit geleistet und den Kubanern im Grunde genommen geholfen. Seit Jahrzehnten machen dies die Stiftungen, die Kirchen und die Zivilgesellschaft dort. ({7}) Die relative Unabhängigkeit dieser Entwicklungshilfe von diplomatischen und administrativen Zwängen staatlicher Regierungspolitik bietet die Chance zu direkter Hilfe, auch ohne das System politisch aufzuwerten. Sie helfen eher, den Umbruch des totalitären Einparteiensystems in Richtung eines demokratischen Mehrparteiensystems zu beschleunigen, indem die Menschenrechte und die Beteiligung der Bevölkerung am politischen Meinungsprozess ausreichend Beachtung finden. Deswegen ist diese Art der Hilfe die bessere. Es war Minister Spranger, der in Kuba in den letzten Jahren auf nichtstaatlicher Ebene sinnvolle Kooperationsansätze wie Beratungsprojekte der politischen Stiftungen, der Kirchen und der Nichtregierungsorganisationen initiiert hat. Die rot-grüne Regierung hat aber genau in diesem Bereich der Entwicklungshilfe den Nichtregierungsorganisationen, Kirchen und Stiftungen die Mittel im Haushalt massiv gekürzt und die Zahl der Partnerländer soll wesentlich reduziert werden. Sozusagen im Gegenzug kündigt nun die Ministerin Wieczorek-Zeul die Aufnahme der offiziellen bilateralen Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba an: Also auf der einen Seite steht wieder ein Land mehr, aber auf der anderen Seite werden Mittel abgebaut. Als erste Maßnahme schlägt die Ministerin ein Projekt zur Wüstenbekämpfung in Höhe von 11 Millionen DM vor. Ich dachte zuerst, das wäre ein Karnevalsscherz. Aber nein, die Ministerin meint es ernst. In der Entwicklungspolitik gibt es klare Vorgaben, um mit Empfängerländern eine offizielle Entwicklungszusammenarbeit aufzunehmen. Der vom ehemaligen Minister Spranger entwickelte Kriterienkatalog für die Aufnahme der Entwicklungszusammenarbeit ist auch von Ihnen, Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, akzeptiert worden. In Kuba, einem der letzten kommunistischen Zwangsregime dieser Erde, ist keines der fünf Kriterien erfüllt. Ich erläutere Ihnen diese Kriterien sehr gern noch einmal; denn es scheint, dass einige Entwicklungspolitiker in den Reihen von PDS, SPD und auch der Bündnisgrünen diese vergessen haben. ({8}) In Kuba wird die Bevölkerung nicht an der politischen Willensbildung beteiligt. Es existieren weder Rechtsstaatlichkeit noch Rechtssicherheit. ({9}) - Das ist so. Die Wirtschaftsordnung orientiert sich nicht am Markt. ({10}) Das Handeln Fidel Castros ist nicht entwicklungsorientiert. Kuba unterhält nach wie vor eine der größten Armeen Lateinamerikas. Bei solchen Dingen sind Sie sonst immer sehr skeptisch, aber hier scheint das keine Rolle zu spielen. ({11}) Und schließlich: Die Menschenrechte werden von Fidel Castro mit Füßen getreten. Die nun von Ministerin Wieczorek-Zeul angekündigte Aufnahme der offiziellen bilateralen Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba steht daher in eklatantem Widerspruch zu den elementarsten Grundsätzen deutscher Entwicklungszusammenarbeit und manövriert Deutschland in ein entwicklungspolitisches Glaubwürdigkeitsdilemma. ({12}) Das, was die rot-grüne Regierung hier beabsichtigt, ist ein verhängnisvoller Einschnitt in der deutschen Entwicklungspolitik, ich würde sogar sagen: in der deutschen Außenpolitik. Nebenbei bemerkt: Sie müssen sich schon die Frage gefallen lassen, warum Sie Österreich zukünftig in den bilateralen Beziehungen wie ein halbautoritäres Entwicklungsland behandeln wollen, ({13}) während der Diktator Castro von Ihnen auf dem diplomatischen Parkett hofiert wird. Aber zurück zu Kuba: Es ist nicht so, als habe sich außer Ihnen bislang noch niemand mit der Frage offizieller entwicklungspolitischer Beziehungen zu Kuba auseinander gesetzt. Im Gegenteil! Aber die vergangenen Versuche, mit dem Regime in Kuba ins Gespräch zu kommen, sind alle gescheitert, weil die kubanische Staatsführung strikt am Ziel der zentralen Lenkung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft festhält, weil Kuba am Einparteiensystem festhält, weil Kuba die Meinungsund Pressefreiheit nicht zulässt. Das war genau das Bild, das wir auch 1996 von Kuba hatten. Ich sage noch einmal: Wir sind zur Zusammenarbeit bereit. Ich halte es für sinnvoll, dass man mehr im Bereich der Nichtregierungsorganisationen macht. Da müssen Sie Geld zur Verfügung stellen, aber nicht auf staatlicher Ebene. ({14}) „Die Rolle des Staates bleibt eben unangefochten, das sozialistische System soll beibehalten werden“, so sprach Fidel Castro noch vor wenigen Wochen. Das Ziel einer verantwortungsvollen Entwicklungspolitik ist: Demokratisierung, Marktöffnung, Beachtung der Menschenrechte, Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen, Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit. Die PDS würde mit ihrem Antrag genau das Gegenteil dessen bewirken. ({15}) - Ich habe ihn ganz genau gelesen. Mir ist kein Satz entgangen. - Mit der offiziellen Aufnahme der Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba kommt es zur Aufwertung einer der letzten Diktaturen dieser Erde und zur Verlängerung der Unterdrückung und der Not des kubanischen Volkes. ({16}) Ich betone nochmals: Zusammenarbeit ja, aber keine staatliche, sondern eine auf der Ebene der Stiftungen, Kirchen und Nichtregierungsorganisationen. ({17}) Die CDU/CSU-Fraktion wird nicht nur den Antrag der PDS ablehnen, sondern auch weiterhin wachsam bleiben, ({18}) wenn Alt-68er die deutsche Entwicklungspolitik zu einem Instrument der internationalen Solidarität mit kommunistischen Diktaturen degradieren wollen. Danke schön. ({19})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt der Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist nicht die Zeit - ich sage an die Adresse der CDU: auch nicht der Anlass -, in einer Regierungserklärung zu der Frage der Entwicklungsarbeit mit Kuba zu sprechen. Das werden wir in einer eigenen entwicklungspolitischen Debatte tun und dann unsere Position im Detail darstellen. Ich wollte nur an die Adresse der Kollegin gerichtet, die vor mir gesprochen hat, etwas zitieren und damit meine Position zum Ausdruck bringen - ich hoffe, Sie stimmen dieser Position auch zu -: Die Frage ist doch, auf welche Weise wir die Menschenrechte am wirksamsten fördern können. Und deshalb muss die Antwort die Gegebenheiten in den Partnerländern berücksichtigen. Die Maßstäbe, die wir dabei anwenden, sind weltweit die gleichen. Wenn ... abzusehen ist, dass sich die Lage der Menschenrechte alleine durch Druck von außen kaum verbessern lässt, ist es sinnvoller, mit gemeinschaftlich vereinbarten Programmen Reformen von innen zu unterstützen. Ich teile diese Position. Wir wollen mit Programmen von innen Reformen bewegen. Bezogen auf China ist das die Position, die der damalige Minister Spranger in einem Papier zur Frage der Entwicklungszusammenarbeit im Zusammenhang mit den Menschenrechten bezogen hat. ({0}) Da muss ich ehrlich sagen: In solchen Fragen verbitte ich mir wirklich eindrücklich diese Art von Doppelzüngigkeit und Heuchelei, die da an den Tag gelegt wird. ({1}) In Bezug auf China hat die frühere Regierung im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit in manchen Jahren Mittel in Milliardenhöhe zur Verfügung gestellt. Jetzt geht es bei Kuba zunächst einmal um 3 Millionen DM. Ich fordere Sie auf, nicht nur in Bezug auf das jetzt diskutierte Thema, sondern auch in Bezug auf andere Fragen - vielleicht erinnern Sie sich ein Stück an Ihre Geschichte - solche Unterstellungen, die den Positionen widersprechen, die Sie selbst zur Frage der Menschenrechte eingenommen haben, zu unterlassen. Ich danke Ihnen. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung erteile ich das Wort der Frau Kollegin Reinhardt, bitte.

Erika Reinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, Sie haben natürlich korrekt zitiert. Nur sollten Sie berücksichtigen, dass sich „von innen“ - was wir immer gesagt haben - auf Nichtregierungsorganisationen, Kirchen und Stiftungen bezieht. Mit dem, was Sie jetzt vorhaben, beschreiten Sie einen ganz anderen Weg. Auch den Vergleich mit China halte ich für falsch, denn in China dort gefällt uns vieles nicht und ich würde mir wünschen, dass manches schneller geht - waren zumindest klare Anzeichen einer schrittweisen Demokratisierung vorhanden. ({0}) - Das mag Ihnen gefallen oder nicht, aber es ist so. Jedenfalls hat man freie Wahlen zugelassen. ({1}) In Kuba sind selbst die Nichtregierungsorganisationen an den Staat gebunden. Und das ist der Unterschied. Deshalb glaube ich, dass unser Weg, nämlich Nichtregierungsorganisationen, Kirchen und Stiftungen zu unterstützen, der richtige ist. Im Staat Kuba selbst muss sich aber auch etwas bewegen, damit man erkennt, dass überhaupt ein Wille da ist, den Weg der Demokratisierung zu gehen, nämlich die Zivilgesellschaft an dem Prozess zu beteiligen. Das ist bisher nicht der Fall. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Hans-Christian Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte eigentlich von der Kollegin Reinhardt erwartet, dass sie mir erläutert - das haben Sie mir über die Bänke hinweg versprochen -, wieso man durch eine technische Zusammenarbeit in einem sinnvollen Projekt ein Regime hofiert und auf dem diplomatischen Parkett gesellschaftsfähig macht, wieso es aber etwas anderes ist, wenn man als Oberhaupt der katholischen Kirche nach Kuba fährt, Fidel Castro umarmt und küsst. Was der Unterschied zwischen diesen beiden Verhaltensweisen ist, das wollten Sie mir eigentlich erklären. Ich glaube, selbst Sie hätten von diesem Podium aus den Papst nicht kritisiert, oder? ({0}) Ich möchte nicht über Kuba reden, ohne die Vergangenheit Kubas und auch meine Vergangenheit, die mit Kuba zu tun hat, zu erläutern. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Ströbele, bevor Sie das tun, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Weiß?

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, im Augenblick nicht, danach. ({0}) Ich gehöre zu denen, die überhaupt keinen Hehl daraus machen und auch gar nicht verbergen wollen, dass sie einmal große Hoffnungen in Fidel Castro und die kubanische Revolution gesetzt haben. Ich gehöre zu denen, die auch in Berlin mit dem Slogan auf der Straße waren: Kuba si, Yankee no! Damit wollten wir eine freie, unabhängige und unbeeinflusste Entwicklung in Kuba. Und wir wollten den Krieg der USA gegen Kuba brandmarken - Schweinebucht und Ähnliches. Heute stelle ich aber fest - und das fehlt mir ein bisschen in dem Antrag und bei der Argumentation der PDS -, dass man der Wahrheit und der Realität im heutigen Kuba ins Auge schauen muss. Denn leider ist Fidel Castro bei allen Verdiensten, die er sicherlich in der Dritten Welt erworben hat, heute ein autoritärer Diktator, der es zulässt, dass in seinem Land Menschenrechte verletzt werden, und der demokratische Entwick lungen - jedenfalls die Entwicklung eines Mehrparteiensystems - nicht zulässt und der - da haben Sie sicher Recht - keine Rechtssicherheit gewährt. Aber unsere Hoffnungen haben sich damals auf Kuba gerichtet, weil es das einzige Land Lateinamerikas war, in dem es tatsächlich gelungen ist, das Analphabetentum nachhaltig zu bekämpfen; in dem es tatsächlich gelungen ist, für die gesamte Bevölkerung eine Gesundheitsversorgung zu garantieren, wie es in keinem der anderen Länder Lateinamerikas der Fall war; in dem es möglich war; - und ich habe mir das selber angeschaut -, jedem Kleinkind in einem karibischen, also tropischen Land einen halben Liter Milch pro Tag zu geben. Das konnte man sehen; das war von der DDR dort eingeführt worden. Und in dem Land ist es heute noch so, dass keine Menschen an Hunger sterben, anders als in vielen anderen Ländern Lateinamerikas. Das muss man zunächst einmal zur Kenntnis nehmen. ({1}) Und wenn man das weiß und wenn man die verhängnisvolle und negative Entwicklung in Kuba beobachtet, muss man natürlich die Frage stellen: Woher kommt das? Hat das Embargo, hat die US-Politik, hat die Politik Europas, die zu einer Isolierung Kubas beigetragen haben, vielleicht auch etwas damit zu tun, dass eine solche abgeschottete Entwicklung in diesem Land möglich gewesen ist, sodass es unabhängig und unbeeindruckt vom Niedergang der realsozialistischen Staaten nach wie vor und in dieser Weise existiert? Um damit Schluss zu machen, sollte man die Isolation durchbrechen. Damit befinden wir uns nicht nur auf der Seite des Papstes und der kirchlichen Organisationen, die uns das empfehlen - diese sind für mich nicht immer Vorbild -, sondern wir befinden uns damit auch auf der Seite der Europäischen Union, die meiner Ansicht nach zu Recht gefordert hat, dass man eine technische Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen in Kuba organisiert, dass man dort fördert, dass NGOs überhaupt entstehen können, weil dies im her8408 kömmlichen Sinne dort gar nicht möglich ist. Sie fordert, dass man so etwas fördert, dass man diese Projekte finanziell unterstützt und Ansätzen dazu Hoffnung macht. Vielleicht gelingt es durch eine solche Politik, die den Realitäten ins Auge schaut und die natürlich auch die dortigen Fehlentwicklungen benennt, Einfluss in Kuba zu gewinnen - für eine andere, eine friedliche Entwicklung zu einem anderen Kuba, zu einer anderen Gesellschaftsordnung, ohne dass dann das passiert, was viele befürchten, ohne dass die Contras aus den USA, aus Florida herüberkommen und all das dort wieder installieren, wogegen die kubanische Revolution einmal angetreten ist und damals zu Recht angetreten war. ({2}) Das wollen wir mit unseren Partnern in der EU erreichen. Wir sagen natürlich auch den offiziellen Vertretern Kubas und Fidel Castro: Wir erwarten von ihnen, dass sie zu demokratischen Verhältnissen finden und dass sie die Menschenrechte achten. Das wird Begleitmusik zu dieser technischen Zusammenarbeit mit Kuba sein. Jeder weitere Schritt, auch zu offiziellen Beziehungen, die ich grundsätzlich für die Zukunft bejahe, muss davon abhängig sein, dass Fortschritte in diesen Bereichen gemacht werden. Wenn wir das überall immer anmelden, dann kann die Durchbrechung der Isolation zu einer besseren Gesellschaftsordnung in Kuba führen, die all das, was wir sonst in Lateinamerika in Diktaturen beobachten, feststellen und kritisieren müssen, in Zukunft vermeidet und in der das Horrorbild der Contras von Florida auf keinen Fall Wirklichkeit wird, nämlich die Wiedererrichtung einer Diktatur in Kuba, wie sie vorher unter Batista bestand.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Ströbele, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Deshalb finden wir das, was die Ministerin, was das BMZ angedacht hat, richtig: dass wir die technische Zusammenarbeit aufnehmen und damit mit unseren EU-Partnern einen wichtigen Schritt nach vorne machen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Joachim Günther für die F.D.P.-Fraktion.

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich könnte sagen, wir können es kurz machen: Im Prinzip hat sich der PDS-Antrag überholt. Die Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba wird trotz aller Bedenken, die wir auf Menschenrechtsebene haben, weitergeführt und zum Teil ausgeweitet. Aus Sicht meiner Partei geht es vor allem darum, Entwicklungshilfe auf solchen Gebieten zu leisten, auf denen sie unmittelbar der Bevölkerung zugute kommt. Ich denke da an Landwirtschaft, an Ernährung. Auf diesen Sektoren hat zum Beispiel die Deutsche Welthungerhilfe in Kuba bereits einiges vollbracht. Es geht darum, dass wir auf Gebieten etwas voranbringen, bei denen es um unwiederbringbare Verluste bei Natur und Umwelt geht. Hierfür ist der HumboldtNationalpark ein sehr positives Beispiel. Es geht weiter um die Gefahr der Wüstenbildung in Ostkuba. Ich kann es mir ersparen, das weiter auszuführen, denn das hat Kollegin Tröscher bereits ausführlich - in der Minuszeit, wie gesagt wurde - hier dargelegt. Aus Sicht der F.D.P.-Bundestagsfraktion bildet der so genannte gemeinsame Standpunkt der Europäischen Union vom 2. Dezember 1996 die Grundlage der Gestaltung der Beziehungen zwischen Deutschland und Kuba. Die EU verfolgt damit das Ziel, durch einen intensiven politischen Dialog den Prozess des Übergangs zu einer pluralistischen Demokratie, zur Achtung der Menschenrechte und zu den Grundfreiheiten sowie eine nachhaltige Erholung und Verbesserung des Lebensstandards der kubanischen Bevölkerung zu ermöglichen. Zu diesem Dialog zählen wir auch die Entwicklungshilfe, die wir ungeachtet von Meinungsverschiedenheiten bei den Menschenrechten, bei der Situation der politischen Gefangenen - auch das haben wir in Kuba gehört - und bei den rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen fortsetzen wollen. Dies entspricht auch dem deutschen Interesse an der Verbesserung der Lage in Kuba sowie auch der Pflege von Beziehungen, die es zum einen früher zwischen der DDR und Kuba gegeben hat, ist aber zum anderen auch gegenüber den vielen Deutsch sprechenden Kubanern gerechtfertigt, die ebenfalls ein Interesse an einer intensiven Zusammenarbeit pflegen. Die Kubapolitik der USA, die von einflussreichen Exilkubanern vorrangig mitgestaltet wird, ist wegen ihrer Auswirkungen auf die kubanische Bevölkerung aus unserer Sicht kontraproduktiv. Sie fördert nicht den Übergang zu einer demokratischen Gesellschaft und erst recht nicht den Übergang zu einer liberalen Wirtschaftsordnung. ({0}) Diese Auffassung haben schon die frühere Bundesregierung und die Europäische Union den amerikanischen Partnern wiederholt mitgeteilt. Sie gilt, soweit ich das erkennen kann, auch für die neue Bundesregierung. Die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit Kuba - das haben Sie richtig dargelegt - fand bisher unterhalb der staatlichen Ebene statt. Die Bundesregierung hebt die Entwicklungshilfe auf die staatliche Ebene. Das entspricht auch unseren Vorstellungen. Deshalb ist aus der jetzigen Sicht der Antrag der PDS eigentlich überflüssig. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2263 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- sung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung des Mitgliederkreises von Bundesknappschaft und See-Krankenkasse - Drucksache 14/2764 - Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kolleginnen und Kollegen Hans-Eberhard Urbaniak, Wolfgang Lohmann, Katrin Dagmar Göring-Eckardt, Dr. Dieter Thomae sowie Dr. Ruth Fuchs haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.*) - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 14/2764 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Gesundheit und zur Mitberatung an den Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit bereits am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 25. Februar, 9 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen allen einen geruhsamen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.