Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Zunächst möchte ich zwei Kolleginnen und einem
Kollegen zum Geburtstag gratulieren. Die Kollegin Dr.
Erika Schuchardt feierte am 29. Januar, die Kollegin
Margot von Renesse am 5. Februar und der Kollege
Karl-Hermann Haack am 17. Februar, also heute, jeweils den 60. Geburtstag. Im Namen des Hauses spreche
ich ihnen die besten Glückwünsche aus.
({0})
Die Fraktion der SPD teilt mit, dass der Kollege Dr.
Michael Bürsch sein Amt als Schriftführer niedergelegt
hat. Als Nachfolgerin wird die Kollegin Helga KühnMengel vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Kollegin
Kühn-Mengel als Schriftführerin gewählt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte
sind in der folgenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P. gemäß Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe b GO-BT zu den
Antworten der Bundesregierung auf die Fragen 14 bis 19
in Drucksache 14/2664 zur Haltung der EU zur neuen
österreichischen Regierung ({1})
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle,
Hildebrecht Braun ({2}), Ernst Burgbacher, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Für eine sachgerechte Aufteilung wirtschaftspolitischer Zuständigkeiten
- Drucksache 14/2707 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Faße, Ulrike
Mehl, Anke Hartnagel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Gila Altmann, Albert
Schmidt ({4}), Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sicherung der deutschen Nord- und Ostseeküste vor Schiffsunfällen - Drucksache 14/2684 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
4. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({6})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Fernabsatzverträge
und andere Fragen des Verbraucherrechts sowie zur
Umstellung von Vorschriften auf Euro - Drucksache
14/2658 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des
Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler - Drucksache 14/2675 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
5. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung im Hinblick
auf einen möglichen Schaden für die Demokratie in
Deutschland durch die aktuellen Erkenntnisse zu Praktiken der Parteienfinanzierung und deren mögliche Auswirkungen auf Mehrheitsverhältnisse in Bundesorganen
6. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, CDU/CSU,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: Einsetzung einer
Enquete-Kommission „Nachhaltige Energieversorgung
unter den Bedingungen der Globalisierung und der Liberalisierung“ - Drucksache 14/2687 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidemarie Wright,
Iris Follak, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Steffi Lemke,
Ulrike Höfken, Kerstin Müller ({9}), Rezzo Schlauch und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Waldschäden
durch die Orkane im Dezember 1999 - Drucksache
14/2685 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
8. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Eine
Steuerreform für mehr Wachstum und Beschäftigung
- Drucksache 14/2688 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann
Otto Solms, Hildebrecht Braun ({12}), Rainer
Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P:
Unternehmensteuerreform - Liberale Positionen gegen
die Steuervorschläge der Koalition - Drucksache 14/2706 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({13})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
10. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ergänzung des Untersuchungsauftrages des 1. Untersuchungsausschusses - Drucksache
14/2686 11. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Aus für den Transrapid Hamburg-Berlin; Auswirkungen
für den Wirtschafts- und Technologiestandort Deutschland
Außerdem ist vereinbart worden, den für Freitag mit
Tagesordnungspunkt 11 zur Beratung vorgesehenen Antrag der Fraktion der CDU/CSU „Gegen den Missbrauch
von Kindern als Soldaten“ auf Drucksache 14/2243 abzusetzen.
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich schaue auf die Besuchertribüne und sehe, dass
dort ein Gast Platz genommen hat, der Präsident der Nationalversammlung der Republik Kamerun, Herr Djibril
Cavaye Yeguie, mit einer Abgeordnetendelegation.
Herr Präsident, ich begrüße Sie und Ihre Kollegen im
Namen der Mitglieder des Deutschen Bundestages sehr
herzlich.
({14})
Mit großer Aufmerksamkeit verfolgen wir die Bemühungen Ihres Landes auf dem Weg zu gefestigten demokratischen Strukturen und wirtschaftlichem Wohlstand. Hierbei leistet Ihr Parlament einen wesentlichen
und verantwortungsvollen Beitrag. Seien Sie versichert,
dass der Deutsche Bundestag Sie mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen wird.
In der Hoffnung, dass Ihr offizieller Besuch in unserem Lande unsere parlamentarischen Beziehungen weiter vertiefen möge, wünsche ich Ihnen einen angenehmen und fruchtbaren Aufenthalt. Seien Sie uns herzlich
willkommen.
({15})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 2 a bis 2 c sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
2 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahreswirtschaftsbericht 2000 der Bundesregierung „Arbeitsplätze schaffen - Zukunftsfähigkeit gewinnen“
- Drucksache 14/2611
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss
2 b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Technologie ({17}) zu der Unterrich-
tung durch die Bundesregierung
Zwölftes Hauptgutachten der Monopol-
kommission 1996/1997
- Drucksachen 13/11291, 13/11292, 14/69
Nr. 1.8 und 1.9, 14/1274, 14/2005 -
Berichterstattung:
Abgeordneter: Dr. Uwe Jens
2 c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresgutachten 1999/2000 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
- Drucksache 14/2223 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({18})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Rainer Brüderle, Hildebrecht Braun ({19}), Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Für eine sachgerechte Aufteilung wirtschaftspolitischer Zuständigkeiten
- Drucksache 14/2707 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({20})
Finanzausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Präsident Wolfgang Thierse
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion PDS
zum Jahreswirtschaftsbericht vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache drei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Nunmehr eröffne ich die Aussprache zum Jahreswirtschaftsbericht. Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Herr Eichel.
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
„Arbeitsplätze schaffen - Zukunftsfähigkeit gewinnen“:
Mit dem Titel des diesjährigen Jahreswirtschaftsberichts
bringt die Bundesregierung die wichtigsten Ziele ihrer
Finanz- und Wirtschaftspolitik auf eine Formel: die Bekämpfung der immer noch viel zu hohen Arbeitslosigkeit und die Schaffung von Rahmenbedingungen für eine moderne leistungsfähige Wirtschaft. Die Bilanz des
diesjährigen Jahreswirtschaftsberichts zeigt, dass wir
den richtigen Kurs eingeschlagen haben, um diese Ziele
zu erreichen. Erste Erfolge stellen sich bereits ein, nachdem wir im vergangenen Jahr das Ruder energisch herumgeworfen und in Kursrichtung Zukunft eingeschlagen haben.
Modernisierung ist dabei der Leitgedanke, der die
Richtung angibt. Geradlinigkeit und Verlässlichkeit dieser Politik bilden das Fundament. Dies ist die Grundlage, damit unsere Wirtschaft wieder richtig in Fahrt
kommt und für den langen, steilen Weg zu mehr Wachstum und Investitionen auch die nötige Durchhaltekraft
hat.
Modernisierung heißt dabei erstens, dass unsere Wirtschafts- und Finanzpolitik konsequent auf Europa ausgerichtet ist. Nicht mehr der nationale, sondern der europäische Markt und die einheitliche Währung bestimmen
zukünftig die Entwicklung von Wachstum und Beschäftigung.
In Wirklichkeit ist die Koordinierung der europäischen Wirtschaftspolitiken auch unter elf oder unter
15 Nationalstaaten - unter elf im Blick auf die gemeinsame Währung, unter 15 im Blick auf die Europäische Union - weit vorangeschritten. Die Grundzüge der
Wirtschaftspolitik, die die Kommission aufstellt, die der
Wirtschafts- und Finanzausschuss billigt und die im
Ecofin beschlossen werden, werden künftig Leitplanken
für unsere nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitiken
sein. Wir werden sie in Zukunft hier in die Debatten einführen müssen. Der makroökonomische Dialog, der auf
unseren Vorschlag hin auf europäischer Ebene in Gang
gekommen ist - mit einem sehr positiven Einstieg -,
macht deutlich, dass die großen Partner hinsichtlich der
Geldpolitik, der Lohnpolitik und der Fiskalpolitik dabei
sind, eine Verständigung über den Weg in Europa zu suchen und - der erste Einstieg stimmt hoffnungsvoll auch zu finden.
Die Konvergenzprogramme, die wir im Zuge des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes vorlegen
müssen - und die übrigens nach vorheriger Prüfung
durch die Kommission und dann im Ecofin sehr genau
im Wirtschafts- und Finanzausschuss betrachtet werden,
womit ein ganz starker Druck auf gemeinsames Verhalten ausgeübt wird -, werden künftig auch die Grundlage
für unsere nationale Politik sein müssen.
Zweitens gilt es, solche Rahmenbedingungen zu
schaffen, die die Innovationskräfte in unserem Land
stärken und Investitionen sowie Existenzgründungen erleichtern.
Drittens bedeutet Modernisierung, dass wir die notwendigen Strukturveränderungen, etwa in der Frage der
Alterssicherung, konsequent angehen. Die Leitplanken
für eine solche Politik bilden dabei die Haushaltskonsolidierung auf der einen und Entlastungen bei Steuern
und Abgaben auf der anderen Seite.
Dass wir auf dem richtigen Weg sind, zeigen die
Konjunkturprognosen für dieses Jahr. Die Aussichten
sind gut. Die deutsche Wirtschaft hat nach der Wachstumsdelle Ende 1998 und im ersten Halbjahr 1999 wieder Tritt gefasst. Die Stimmung ist so positiv wie seit
langem nicht mehr. Die Auftragsbücher der Industrie
sind überwiegend - ich sage „überwiegend“, weil es einen kleinen Wermutstropfen bei der Automobilindustrie
gibt ({0})
gut gefüllt. Die Auslandsnachfrage ist lebhaft, die Bestellungen aus dem Inland haben zumeist ordentlich zugelegt.
Auch im internationalen Wettbewerb kann sich die
deutsche Wirtschaft sehr gut behaupten. Die Warenexporte bewegen sich auf einem steilen Wachstumspfad.
Unsere Projektion für dieses Jahr sieht deshalb einen
Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um real 2,5 Prozent
vor und liegt damit ziemlich am unteren Ende der Erwartungen aller internationalen Institutionen und der
Wirtschaftsforschungsinstitute.
Die Verbraucherpreise werden relativ stabil bleiben.
Wir erwarten eine Inflationsrate von 1 bis 1,5 Prozent,
nach dem Preisbuckel, den wir im ersten Quartal dieses
Jahres - das hat mit dem Basiseffekt der Ölpreissteigerungen am Weltmarkt zu tun ({1})
haben werden. Dass das nicht auf die inländische Inflationsrate durchschlägt, hat damit zu tun, dass wir an anderen Märkten im Inneren durch Deregulierung sehr
günstige Preisentwicklungen haben. Ich nenne insbesondere den Strommarkt und den Telekommunikationsmarkt.
Die Europäische Zentralbank hat für sich ein Stabilitätsziel von weniger als 2 Prozent definiert. Von deutscher Seite wird das nicht gefährdet.
Die Zahl der Arbeitslosen wird bis zum Ende dieses
Jahres im Vergleich zum Ende des vergangenen Jahres
um etwa 300 000 geringer sein. Damit werden wir in
diesem Jahr durchschnittlich die 4-Millionen-Marke klar
unterschreiten. Wir gehen davon aus, dass bis zum JahPräsident Wolfgang Thierse
resende 120 000 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen
werden. Die Erwerbstätigkeit wird damit um knapp
0,5 Prozent zulegen.
Doch dies ist längst nicht genug. Deshalb werden wir
mit unserer Politik dafür sorgen, dass die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit weiter vorankommt. Das gilt nicht
nur für Deutschland, sondern auch für die europäische
Ebene. Allein kann ein einzelnes Land dies ohnehin
nicht mehr leisten. Ich habe eben schon darauf hingewiesen, dass auf der europäischen Ebene der makroökonomische Dialog zwischen den Gewerkschaften, der Politik und der Europäischen Zentralbank in Gang gekommen ist. Der Sonderrat von Lissabon im März wird
die Themen Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, inflationsfreies Wachstum in Europa und Modernisierung in
den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellen.
Hier können wir aber auch von den guten Erfahrungen anderer Länder lernen. Wachstumsfördernde Rahmenbedingungen, ein beschäftigungsfreundliches Steuer- und Transfersystem sowie flexible Güter- und Faktormärkte sind die Voraussetzungen für einen Abbau der
hohen Arbeitslosigkeit. Dänemark und die Niederlande haben uns beispielhaft vorgemacht, wie dies funktioniert: flexible Arbeitsmarkt- und Arbeitszeitregelungen,
flankiert von einer Senkung der Steuer- und Abgabenlast
bei gleichzeitiger Haushaltskonsolidierung. Im Falle von
Dänemark hatte die Haushaltskonsolidierung den eindeutigen Vorrang, im Falle der Niederlande spielte die
Senkung der Steuern und Abgaben eine größere Rolle.
Das war dort die Basis für einen lang anhaltenden Aufschwung und eine deutliche Verringerung der Arbeitslosigkeit.
Auch wenn sich diese Rezepte nicht nahtlos übertragen lassen, zeigt sich doch: Positive gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen und strukturelle Reformen
entwickeln zusammen die stärksten Wirkungen. Diesen
Weg werden wir weiterhin verfolgen.
({2})
Zur Schaffung eines günstigen Umfeldes für Wachstum und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hat zunächst die strikte ausgabenseitige Haushaltskonsolidierung Priorität. Hierzu gibt es angesichts unseres Schuldenberges keine Alternative. Bei allen Konsolidierungsanstrengungen verlieren wir aber nicht die Konjunktur
aus den Augen. Im Gegenteil: Mit einer konsequenten
Haushaltssanierung schaffen wir Spielräume an den
Kreditmärkten und leisten so unseren Beitrag dazu, dass
die Zinsen eine gute Basis für Wachstum schaffen. Eine
konsequente Haushaltssanierung bewirkt auch, dass die
Finanzierungsbedingungen gerade für die kleinen und
mittleren Unternehmen vergleichsweise günstig bleiben
und wir Spielräume für Steuersenkungen schaffen können, und zwar Steuersenkungen für alle, insbesondere
für die kleinen und mittleren Unternehmen sowie für die
Familien und die Arbeitnehmer.
({3})
Dies belebt die Nachfrage, fördert Investitionen und
stärkt das Wachstum.
Erste Erfolge nach den Entlastungsschritten durch das
Steuerentlastungsgesetz können wir jetzt schon deutlich erkennen. Ergänzt wird diese Entlastung durch die
Steuerreform 2000, die wir morgen hier im Deutschen
Bundestag in erster Lesung beraten werden. Die Entlastung der Unternehmen von inzwischen fast 9 Milliarden DM im Entstehungsjahr und deutliche Senkungen
der Einkommensteuersätze setzen weitere wichtige Impulse für unsere Wirtschaft.
Eine Steuerentlastung auf Pump - das werden wir
morgen diskutieren - lehnen wir ab. Das lehnen übrigens auch alle Sachverständigen ab. Das lehnt auch, wie
Sie sich werden sagen lassen müssen, die Europäische
Union mit Nachdruck ab.
({4})
Haushaltskonsolidierung und Steuersenkungen: Damit habe ich die Leitplanken für Investitionen und Arbeitsplätze skizziert. Allerdings können wir uns bei der
Schaffung von Arbeitsplätzen nicht allein auf das Wirtschaftswachstum verlassen. Gleichzeitig brauchen wir
Strukturreformen zur Aktivierung von Beschäftigungspotenzialen ebenso wie eine gezielte Arbeitsmarktförderung.
Dabei hat für uns die Förderung von Arbeit, also von
aktivierenden Maßnahmen, sowie die Förderung von
Qualifikation deutlich Vorrang vor reinen Lohnersatzleistungen. Hierzu gehören vor allem auch verstärkte
Anstrengungen in der Aus- und Weiterbildung. Das beste Beispiel für mich ist immer noch das erfolgreiche
Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, das wir fortsetzen werden.
({5})
Bisher haben über 200 000 Jugendliche dadurch eine
neue Perspektive bekommen. In keinem Land der Europäischen Union geht die Jugendarbeitslosigkeit so deutlich zurück wie in Deutschland, seit diese Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröder im Amt ist.
({6})
Besondere Verantwortung für die Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit haben auch die Tarifvertragsparteien.
Deshalb hat die Bundesregierung das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit initiiert.
Ich werte die gemeinsame Erklärung über eine beschäftigungsorientierte und längerfristig ausgerichtete Tarifpolitik als ersten wichtigen Erfolg. Sollte es gelingen,
diese Ankündigung vernünftig umzusetzen, wäre dies
ein wichtiges Signal für eine an längerfristigen Zielen
orientierte und damit kalkulierbare Tarifpolitik. Auch
dies wäre eine wichtige Grundlage für Investitionen und
Wachstum.
Meine Damen und Herren, ich sagte eingangs, der
Leitgedanke unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik auch
im Hinblick auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sei
die Modernisierung unserer Wirtschaft. Es geht darum,
unsere Gesellschaft zukunftsfähig zu machen - mit einer
lebenswerten Umwelt, mit Bildungs- und Ausbildungschancen für alle, mit einem hohen technologischen
Standard und einer modernen, international wettbewerbsfähigen Wirtschaft. So schaffen wir die Basis für
eine dauerhafte Förderung von Innovationen und Investitionen.
Auch die Modernisierung ist immer nur im europäischen Rahmen zu sehen. Nehmen wir das Beispiel Ökosteuer. Mit ihr haben wir eine maßvolle, schrittweise
Verteuerung der Energie vorgenommen. Im Vergleich
der europäischen Preise liegen wir auch nach diesen
Maßnahmen deutlich im unteren Bereich. Wir geben
damit also keineswegs ein Preissignal, das irgendeine
geldpolitische Wirkung haben könnte. Auch einen Wettbewerbsnachteil für den europäischen Binnenmarkt kann
ich beim besten Willen nicht ausmachen - im Gegenteil.
({7})
- Sie müssen ganz vorsichtig sein. Die Richtlinie zur
Ökosteuer ist doch zu Ihrer Zeit, unter Ihrer tätigen
Mitwirkung in Brüssel formuliert worden. Wären nicht
Irland und Spanien dagegen gewesen, wäre dies schon
damals Gesetz geworden.
({8})
Es ist wirklich erstaunlich, was für ein kurzes Gedächtnis Sie haben. Sie haben doch etwas Vernünftiges gemacht. Dass wir Ihre damalige Vernunft nun gegen Sie
verteidigen müssen, ist ein Drama.
({9})
Erstens senken wir mithilfe der Einnahmen aus der
Ökosteuer die Rentenversicherungsbeiträge und gehen
damit ein Problem an, das bisher ein Investitions- und
Arbeitsplatzhindernis ersten Ranges war. Wenn wir über
Europafähigkeit reden, wenn wir darüber reden, wie wir
im europäischen Vergleich dastehen, werden wir feststellen müssen, dass wir mit unseren hohen gesetzlichen
Lohnnebenkosten - nur davon rede ich - in Europa auf
Dauer nicht werden bestehen können. Das haben Sie zu
vertreten. Wir ändern diesen Zustand.
({10})
Zweitens ist es - ich wiederhole es - ein europäischer
Weg. Dies zeigt die Tatsache, dass sich bis auf ein einziges Land, bis auf Spanien, alle darüber einig sind, dass
eine einheitliche Richtlinie zur Energiebesteuerung erlassen werden muss. Man hat erkannt, dass die Wirtschaft von morgen angesichts der globalen Umweltprobleme nicht so produzieren kann, wie es die Wirtschaft
von gestern tun konnte. Der Ressourcenverbrauch muss
verteuert werden, die Arbeit muss billiger werden. Dieses Signal für Modernisierung haben wir gesetzt.
({11})
Drittens ist die Ökosteuer ein wichtiger Beitrag zur
Stärkung der Innovationskräfte unserer Wirtschaft. Sie
bewirkt eine Initialzündung für die Entwicklung neuer,
Ressourcen schonender Produkte und Produktionsverfahren. Dies ist der richtige Weg in die Zukunft.
Ein weiterer wichtiger Beitrag zur Modernisierung ist
die Schaffung eines leistungsfähigen, international wettbewerbsfähigen Steuersystems. Hier leistet die Steuerreform 2000 den entscheidenden Beitrag. Investitionen
werden erleichtert, und mit Investitionen geht in der Regel eine schnellere Umsetzung des technischen Fortschritts einher.
Um eine langfristige Zukunftsfähigkeit zu erreichen,
müssen die Anstrengungen für Bildung und Forschung
heute verstärkt werden. Wenn jeder Bereich seinen Beitrag zur Konsolidierung leistet, gewinnen wir Freiräume
für mehr Investitionen im Bereich Forschung und Bildung, zum Beispiel für die Förderung der modernen
Technologien, für Fachprogramme für den Hochschulausbau, den wir gemeinsam mit den Ländern fortsetzen.
Wir werden neue Ausbildungsberufe schaffen und bestehende Ausbildungsberufe modernisieren. Innovative
Wirkungen verspreche ich mir insbesondere von einer
Erleichterung des Wissenstransfers zwischen Wissenschaft und Wirtschaft.
Meine Damen und Herren, Modernisierung macht natürlich auch nicht vor der öffentlichen Verwaltung
Halt. Die Orientierung der Bundesverwaltung am Gebot
der Wirtschaftlichkeit ist beispielsweise ein wichtiger
Reformbereich. Neue Führungs- und Steuerungsinstrumente, der flächendeckende Einsatz von Informationstechnologien - das sind nur einige Beispiele dafür, dass
der Leitgedanke „moderner Staat und moderne Verwaltung“ für uns keine Worthülse ist.
Natürlich gehört auch der weitere Aufbau Ost zu
dieser Modernisierung zentral hinzu. Denn die Zukunftsfähigkeit Deutschlands setzt voraus, dass die neuen
Länder den wirtschaftlichen Aufholprozess fortsetzen.
Sie werden von dieser Bundesregierung dabei nachhaltig
unterstützt.
({12})
Der Förderschwerpunkt liegt auch hier beim Mittelstand
und bei den Existenzgründern sowie bei dem weiteren
Ausbau der Infrastruktur, den wir noch über lange Zeit
mit allen Mitteln fortsetzen müssen.
Meine Damen und Herren, das Fazit: Der Jahreswirtschaftsbericht 2000 zeigt, dass wir auf dem richtigen
Weg sind. Mit unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik
gehen wir die wichtigsten Probleme unseres Landes an.
Diese Probleme sind nicht nur auf eine, sondern auf ein
ganzes Bündel von Ursachen zurückzuführen. Deswegen haben wir auch ein Maßnahmenpaket geschnürt.
Strukturreformen, verbesserte Rahmenbedingungen und
konkrete Unterstützungsmaßnahmen - das sind unsere
Antworten auf die Herausforderungen, die sich uns jetzt
stellen. Der Jahreswirtschaftsbericht ist die gesamtwirtBundesminister Hans Eichel
schaftliche Projektion der Bundesregierung. Aber er ist
mehr als das: Er zeigt, auf welchem Weg wir sind, damit
Arbeitsplätze geschaffen werden; er zeigt, wie wir die
Zukunftsfähigkeit gewinnen; und er zeigt: Wir sind auf
einem guten Weg.
({13})
Für die CDU/CSUFraktion erteile ich nun dem Kollegen Michael Glos das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass
wir heute endlich wieder über die wichtigen Probleme
unseres Landes diskutieren können.
({0})
Ich glaube, diese Diskussion ist nötig. Wir sind als Politiker dafür gewählt, die Probleme zu lösen.
({1})
Die Bundesregierung hat die wichtigsten Probleme unseres Landes nicht gelöst
({2})
und konnte sich im Schatten von Affären vor der Öffentlichkeit verstecken.
({3})
Ungelöst ist nach wie vor die große Steuerreform,
({4})
die für sofort angekündigt war. Ungelöst ist - trotz aller
Reden - die Rentenproblematik. Ungelöst ist das Problem der Kernenergie - oder Sie wollen aussteigen.
({5})
Ungelöst sind die Tarifauseinandersetzungen, die in
Folge des Bündnisses für Arbeit gekommen sind. Ungelöst ist die Schwäche unserer Währung; das Problem
wird immer stärker. Das sind die Probleme, über die wir
diskutieren müssen.
({6})
Herr Bundeskanzler, es mag Sie freuen, dass man all
dies in den Hintergrund hat rücken können und dass
über andere Probleme diskutiert worden ist.
({7})
Aber diese Probleme werden Sie einholen. Die Freude
darüber, dass es der Union derzeit schlecht geht, wird
nur von kurzer Dauer sein.
({8})
Sie wollten sich zu jeder Zeit am Abbau der Arbeitslosigkeit messen lassen. In Ihrer Amtszeit ist die Zahl der
Arbeitslosen um 328 000 gestiegen.
({9})
Die Eingriffe bei den 630-Mark-Jobs waren ein erfolgreiches Arbeitsplatzvernichtungsprogramm.
({10})
Ich sage es noch einmal: Trotz aller Beteuerungen ist
nach wie vor keine echte Rentenreform in Sicht. Das,
was man mit den Rentnern vorhat, ist Betrug; und wir
nennen es auch so. Ich meine die willkürliche Aussetzung. Das ist bisher das Einzige, was beschlossen worden ist. Eine echte Gesundheitsreform steht nach wir vor
aus. Die jetzige Budgetierung ist nichts anderes als eine
Rationierung zulasten der Patienten und ein Marsch in
die Zweiklassenmedizin.
({11})
Die viel gepriesene Ökosteuer - Herr Eichel hat sich
noch einmal ausdrücklich dazu bekannt - ist ein Rohrkrepierer. Sie trägt nicht zur Energieeinsparung bei. Sie
dient lediglich zum Abkassieren bei den deutschen Autofahrerinnen und Autofahrern.
({12})
Es ist noch nicht zu Ende. Drei weitere Stufen sind beschlossen. Auch diese Stufen werden sich preistreibend
auswirken.
Was jetzt Herr Klimmt auf den Tisch gelegt hat, ist
ebenfalls kein besonders geschickter Klimmt-Zug. Dieses so genannte Notprogramm gegen den Stau wird die
Probleme auf den deutschen Autobahnen nicht lösen.
Das Interessanteste am Jahreswirtschaftsbericht ist
nicht unbedingt das, was darin geschrieben steht, sondern das, was ausgeklammert worden ist. So steht auf
den 91 Seiten des Jahreswirtschaftsberichtes nicht einmal das Wort „Euro-Schwäche“. Das ist eines unserer
größten Probleme. Das hat langfristige Auswirkungen
auch auf die Stabilität bei uns im Land.
Der Bundeskanzler hat am 10. November 1998 bei
seiner Regierungserklärung im Deutschen Bundestag erklärt: Wir wollen nicht, dass der Euro Deutsch spricht.
Wir wollen einmal davon absehen, dass er vielleicht
damit irgendjemand Zucker geben wollte, weil wir ja
wissen, dass auf der linken Seite des Hauses ein gewisser Deutschenhass verbreitet ist.
({13})
- Entschuldigung. Das Schlimme ist, dass der Euro jetzt
offensichtlich Italienisch spricht. Italien ist auch ein
Stück weit kommunistisch regiert, was heute durchaus
en vogue ist. Daran stört sich niemand. Wenn andere
Länder demokratisch andere Entscheidungen treffen,
dann wird das von der gesamten Europäischen Union
zensiert.
({14})
Mit der verräterischen Aussage, der Euro solle nicht
Deutsch sprechen, ist ein verhängnisvoller Kurswechsel
bei der Stabilität eingeleitet worden. 15 Monate nach
dieser Erklärung ist sehr viel bittere Wirklichkeit geworden. Man kann und muss zur Kenntnis nehmen:
20 Prozent Abwertung gegenüber dem japanischen Yen,
13 Prozent Abwertung gegenüber dem britischen Pfund,
16 Prozent Abwertung gegenüber dem amerikanischen
Dollar. Mit einem Kurs von 2 DM muss heute so viel für
den Dollar wie seit über 10 Jahren nicht mehr bezahlt
werden.
Der Präsident der Europäischen Zentralbank Duisenberg hält nationale Preisziele bei anhaltender EuroSchwäche für gefährdet. Das ist die eigentliche verhängnisvolle Langzeitwirkung, so willkommen es kurzfristig einmal für den deutschen Export zu sein scheint.
({15})
- Entschuldigung, Sie können dann später reden, Herr
Kollege. - Ich zitiere nun den französischen NotenbankGouverneur Trichet. Auch er warnt vor einer importierten Inflation.
({16})
Die Briten, in deren Glanz sich der Bundeskanzler
selbstverständlich gerne sonnt - Tony Blair ist schließlich sein bester Freund -, gehen mehr und mehr auf Distanz zu Europa und zur Europäischen Währungsunion,
weil sie Folgen für ihre Stabilität befürchten.
Die Menschen geraten dadurch natürlich in Sorge um
ihr Erspartes. Ein schwacher Außenwert kann sehr
schnell auch den Binnenwert einer Währung gefährden,
wie wir alle wissen. Über die preistreibenden Folgen der
Ökosteuer haben wir schon gesprochen. Die überzogenen Lohnforderungen tragen ebenfalls zu dieser Schwäche bei. Auch Staatsinterventionismus bei bestimmten
Konzernen aus parteipolitischen Werbegründen vor Parteitagen tragen zu dieser Euro-Schwäche bei.
({17})
Was gleichzeitig noch mehr besorgt macht: Der
Preisanstieg hat sich bereits kräftig beschleunigt. Im Januar 1999 lag er bei plus 0,2 Prozent, ein Jahr später, im
Januar 2000, bei plus 1,6 Prozent. Die Tendenz ist leider
weiter steigend. Darüber sollten wir sprechen. Das
macht uns allen Sorge. Im Jahreswirtschaftsbericht heißt
es trotzdem verharmlosend: Die Stabilität des Preisniveaus bleibt ungefährdet.
({18})
Wer Gefahren verharmlost, der läuft Gefahr, dass
sich diese Gefahren verstärken und dass dann das eintritt, was wir alle nicht wollen, nämlich eine neue Lohnpreisspirale. Für mich ist es deshalb unabdingbar: Die
Bundesregierung muss endlich wieder ein klares Signal
geben, dass ein starker Euro im europäischen und im
deutschen Interesse ist.
({19})
Bei aller verständlichen Freude - ich habe es vorhin
schon einmal gesagt - für unsere Exportindustrie: Die
Bundesregierung muss in dieser stabilitätspolitisch
schwierigen Lage die weiteren Stufen der Ökosteuer
aussetzen.
Deutschland braucht mehr Investitions- und Wachstumsdynamik. Das ist unabdingbare Voraussetzung zur
Lösung einer Vielzahl von Problemen. Es ist Voraussetzung für die Lösung des Problems Euro-Schwäche. Es
ist Voraussetzung für die Konsolidierung der Staatsfinanzen. Es ist Voraussetzung für eine Rentenreform, die
den Namen verdient, weil auch die Quellen der Rente
wieder stärker gespeist werden müssen, indem mehr
Leute in Arbeit und Brot kommen. Gleichzeitig ist es
natürlich auch der Schlüssel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Der amerikanische Wirtschaftsmotor brummt seit vielen Jahren. In diesem Jahr wird es dort ein reales Wachstum von 4 Prozent geben.
({20})
Viele Länder in der Europäischen Union verzeichnen
kräftige Zuwächse: Irland plus 7,5 Prozent, Luxemburg
plus 4,75 Prozent, Finnland plus 4,25 Prozent, Spanien
und Schweden plus 3,75 Prozent, Frankreich und Holland plus 3,5 Prozent. Deutschland hinkt mit einem
Wachstum von knapp 2,5 Prozent weit hinterher. Das
sind die Fakten.
Und die Arbeitslosigkeit - das ist die Kehrseite der
Medaille - ist in der EU deutlich gesunken, außer in
Deutschland: um 2 Prozent in Spanien, um 1,4 Prozent
in Irland, um 1,1 Prozent in Frankreich, um 0,8 Prozent
in Holland, Finnland und Dänemark, um 0,6 Prozent in
Belgien. In der Bundesrepublik Deutschland dagegen ist
die Arbeitslosigkeit, wie gesagt, nicht gesunken.
Das ist die Bilanz Ihrer Regierungspolitik zur heutigen Stunde. Sie müssen sich deshalb fragen lassen, Herr
Bundeskanzler, warum das so genannte Bündnis für
Arbeit, das Sie selbst zum Kernstück Ihrer Regierungsarbeit erklärt haben, jetzt schon gescheitert ist. Diese
Bündnisvereinbarung zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften war ein einziges Dokument der Beliebigkeit. Diese Seifenblase ist schon jetzt geplatzt; das ist
nur nicht eingestanden worden. Es sollte ein großer
Durchbruch in Richtung einer mehrjährigen Beschäftigungspolitik sein. Bereits nach wenigen Tagen hat sich
gezeigt: Das war alles nur ein Formelkompromiss.
Plötzlich gab es Lohnforderungen von 5,5 Prozent.
Auch die Schlussfolgerung, das Bündnis für Arbeit
bringe in diesem Jahr eine Abnahme der Arbeitslosenzahl um 200 000, ist, Herr Bundeskanzler, verräterisch.
Die gleiche Prognose stellt übrigens die Bundesanstalt
für Arbeit. Sie sagt allerdings, dass der Rückgang von
200 000 daher kommen wird,
({21})
dass weniger Menschen Arbeit suchen, weil mehr Menschen aus dem Erwerbsleben austreten als in das Erwerbsleben eintreten.
({22})
Es gibt keinerlei Erfolg Ihrer Bemühungen. Wir brauchen diese Erfolge aber für unser Land.
({23})
- Das liegt nicht daran, wie wir mit Zahlen umgehen. Es
zeigt doch vielmehr inzident, dass man letztendlich
selbst nicht an das Ergebnis der Bemühungen glaubt. Ich
finde, auch hierüber verdient die Öffentlichkeit eine realistische Aufklärung.
({24})
Für diese wirtschaftspolitische Nullnummer hätte
man keine Spitzengespräche gebraucht, keine Steuerungsgruppe, keine Benchmarkinggruppe und keine
sonstigen neuen Arbeitsgruppen.
({25})
Ich kann nur sagen: außer Spesen nichts gewesen! Diese
Bundesregierung lässt es zu, dass die IG Metall die
Bündniserklärung als Alibi für verstaubte Vorschläge
für eine Rente mit 60 missbraucht. Wir wissen ganz genau, dass die Jungen diese Rente mit 60 finanzieren
müssten.
({26})
Wir wissen, dass sich unsere Arbeitsmarktprobleme
nicht durch Umverteilung vorhandener Arbeitsplätze lösen lassen. Wir brauchen stattdessen Wirtschaftsdynamik. Wir wissen auch, dass man erfahrene Fachkräfte, die man mit 60 oder noch früher wegschickt,
nicht ohne weiteres durch schlecht ausgebildete junge
Kräfte ersetzen kann, die nicht entsprechend eingearbeitet sind. Das geht nicht so rasch. Letztendlich kann man
dieses Problem nicht statisch lösen.
Gerade für kleine und mittlere Betriebe ist die Erfahrung dieser älteren Arbeitnehmer unverzichtbar.
({27})
Deswegen ist es auch unverantwortlich, sie in die Rente
zu drängen. Wir müssen eine Politik für die Zukunft
machen. Wenn die Jungen neben ihren eigenen Rentenbeiträgen und der notwendigen privaten Zusatzvorsorge
auch noch die vorzeitige Rente für die Älteren finanzieren sollen, ohne dass sich dauerhaft entsprechende Gegenleistungen abzeichnen, dann ist es kein Wunder,
wenn sie aus unserem Rentenversicherungssystem aussteigen.
({28})
Deswegen sage ich es noch einmal: Wir brauchen keine
runden Tische, sondern wir brauchen endlich das Handeln der Regierenden.
({29})
Sie haben gewaltige Mehrheiten. Sie haben derzeit sogar
das Glück, eine Opposition zu haben, die sich sehr stark
mit sich selbst beschäftigt. Ich verspreche Ihnen aber:
Das wird wieder besser.
Wir brauchen eine Steuerreform aus einem Guss.
({30})
Hierfür hat die CSU gemeinsam mit der CDU Eckpunkte vorgeschlagen. Darüber werden wir in dieser Woche
noch diskutieren. Wir brauchen vor allen Dingen eine
rasch wirkende Nettoentlastung, um die Kaufkraft zu
stärken.
({31})
Wir brauchen die Senkung aller Steuersätze über den
gesamten Tarifverlauf.
({32})
Wir brauchen Impulse für Wachstum und Beschäftigung. Auf Ihre Frage, Herr Schwanhold: „Wie viel darf
es denn sein?“, eingehend, sage ich: Wir brauchen eine
Nettoentlastung in einer Größenordnung von circa
50 Milliarden DM. Wir brauchen vor allen Dingen Steuersätze zwischen 15 und 35 Prozent.
({33})
Der Spitzensteuersatz darf nicht aus ideologischen
Gründen von der Steuersenkung ausgenommen sein.
({34})
Sonst laufen wir Gefahr, dass immer mehr leistungsfähige Arbeitskräfte verloren gehen.
({35})
Im Bereich der gut verdienenden Spezialisten wandern
heute durch die Globalisierung und Europäisierung Arbeitskräfte und Arbeitsplätze ins Ausland ab,
({36})
weil man viel vom Bildschirm aus erledigen kann.
({37})
So sehr wir die Globalisierung auch begrüßen, so sind
wir auf der anderen Seite gezwungen, Gegenmaßnahmen durchzuführen. Das kann man aber nur marktwirtschaftlich, indem man den Arbeitskräften bezüglich der
Steuersätze das gleiche Angebot macht.
Ein Bauer kann seine Hühner zwar einzäunen, vor allem, wenn er sie ökologisch halten will - dafür sind die
Grünen sicher -, aber man kann Arbeitskräfte nicht einsperren und immer noch glauben - jetzt greife ich wieder auf die Hühner zurück -, dass goldene Eier gelegt
werden.
Die Bundesregierung will die Wachstums- und Beschäftigungsprobleme von heute mit Steuersenkungen
von übermorgen lösen. Herr Eichel, es wäre redlich gewesen, wenn Sie bei der Darstellung Ihrer Steuerreform,
die Sie gepriesen haben - ein wenig Selbstlob gehört
immer dazu -,
({38})
auch gesagt hätten, dass die entscheidenden Entlastungsschritte erst im Jahr 2005 eintreten sollen.
({39})
Wir brauchen sie allerdings jetzt, um das Pflänzchen
Konjunktur zu kräftigen.
({40})
Ich hätte eigentlich niemals geglaubt, dass es unter
einem sozialdemokratischen Kanzler, der sich auf Ökosozialisten stützt, möglich ist - ({41})
- Sagen Sie einmal, Herr Schlauch, betrachten Sie das
inzwischen als Schimpfwort?
({42})
Habt ihr euch so weit von der Basis, die euch einmal getragen hat, entfernt, nur weil ihr nun in den Sesseln der
Macht sitzt?
({43})
Wenn Ökosozialist ein Schimpfwort ist, dann weiß ich
nicht mehr weiter.
Eigentlich wollte ich aber etwas anders sagen.
({44})
Ich finde es einmalig - das ist ein Skandal -, dass man
großen, leistungsfähigen Konzernen - Bankkonzernen,
Versicherungskonzernen und Industriekonzernen - beim
Beteiligungsverkauf einen Nullsteuersatz einräumen
will, während man bei kleinen Mittelständlern bei Betriebsaufgabe gnadenlos abkassiert.
({45})
Wenn wir einen solchen Vorschlag zu Zeiten von Theo
Waigel gemacht hätten, dann hätten uns Ihre Genossen
nachts die Bude angezündet, der Mob hätte auf den
Straßen getobt.
({46})
Das ist letztendlich die Wahrheit.
Wir wissen doch noch, in welchem Klima des Klassenkampfes wir unsere Steuerreformvorschläge vom Petersberg im Deutschen Bundestag durchsetzen mussten.
Anschließend sind sie von Ihnen, Herr Eichel, sabotiert
worden. Das ist die Wahrheit.
({47})
Etwas anderes: Große Aktiengesellschaften sollen
bevorteilt werden. Darüber kann man reden, aber dann
muss auch Gerechtigkeit für die Kleinen gelten. Bei Ihnen sollen die Kleinaktionäre schonungslos abkassiert
werden.
Herr Eichel, ich kann nur sagen: Wenn man die
Eichelaktie am Neuen Markt einführen würde, wäre sie
nach kurzer Zeit ein Flop, obwohl da heute die tollsten
Dinge laufen.
({48})
Der geplante Übergang vom Vollanrechnungsverfahren bei der Körperschaftsteuer hin zum Halbeinkünfteverfahren trifft nun einmal die Aktionäre mit
mittleren Einkommen, Herr Schwanhold. Wenn es nicht
richtig ist, können Sie es anschließend darstellen.
Wenn jetzt noch jemand von Umverteilung von unten
nach oben redet, so hat er dafür eine Berechtigung. Vor
Jahren haben Sie das immer gesagt; da hatten Sie nie eine Berechtigung für diese Aussagen.
({49})
Wir werden jedenfalls einen Nulltarif bei der Besteuerung weniger großer Leistungsfähiger und ein Abkassieren der Kleinen im Bundesrat nicht mitmachen.
({50})
Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Ausstieg
aus der Kernenergie sagen. Ausstieg aus der Kernenergie bedeutet steigende Strompreise und Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit der stromverbrauchenden Industrie.
Ausstieg aus der Kernenergie bedeutet die stärkere
Abhängigkeit von Energieimporten. Dadurch wird auf
die Dauer auch der außenpolitische Spielraum Deutschlands geringer.
Ausstieg aus der Kernenergie bedeutet einen technologischen Fadenriss in einer wichtigen Zukunftstechnologie.
Ausstieg aus der Kernenergie bedeutet eine geringere
weltweite Reaktorsicherheit.
Ausstieg aus der Kernenergie bedeutet eine Nichteinhaltung der internationalen Klimaschutzvorschriften und das alles, obwohl man sich das Klima und die Umwelt aufs Panier geschrieben hat.
Wir von der CDU und der CSU werden deswegen das sage ich auch Herrn Müller, der hierüber verhandelt - diesen Weg nicht mitgehen, auch nicht, wenn es
Ihnen gelingt, sich mit den Bossen der Kernenergie zu
einigen. Das ist lang nicht unsere Position.
({51})
Wir werden alle rechtlichen und gesetzlichen Möglichkeiten einsetzen, um diese falsche Weichenstellung zu
verhindern, unabhängig davon, was Sie mit den großen
Bossen vereinbaren. Die großen Bosse diktieren nicht
uns, sondern Sie lassen sich vielleicht von denen etwas
diktieren.
({52})
Deswegen sage ich es noch einmal: Ich freue mich,
dass wir heute in großer Sachlichkeit über Wirtschaftsprobleme diskutieren können,
({53})
und kann Sie nur auffordern:
({54})
Herr Bundeskanzler, beziehen Sie die Vorschläge, die
Ihnen die Opposition macht, zum Wohle unseres Landes
auch in Ihre Regierungsarbeit ein.
Vielen Dank.
({55})
Ich erteile dem Kollegen Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Glos, es ist in diesen Tagen wahrlich nicht
leicht, sich mit Sachpolitik auseinander zu setzen, weil
die Spendenaffäre der CDU und auch die Selbstbedienungsmentalität im Parteienfilz alles andere überlagert.
Der Flurschaden, der eingetreten ist, wird uns möglicherweise noch Jahre zu schaffen machen.
Was hier Spitzenpolitiker, allen voran der Altbundeskanzler Helmut Kohl und der ehemalige Innenminister
Manfred Kanther, angerichtet haben, hat das Grundvertrauen in die Politik, in den politischen Betrieb erschüttert und schweren Schaden angerichtet. Es ist wahrlich
tragisch anzusehen, dass selbst die, die um Aufklärung
bemüht sind und heute nicht hier sind, sich aus ihrer
Selbstverstrickung überhaupt nicht befreien können. Ich
bedauere das sehr, weil die politischen Talente - -
({0})
- Ja, natürlich. Das ist durchaus ein Verlust, wenn es
nicht mehr zu dieser Auseinandersetzung kommt, die
wir hier im Parlament brauchen, weil die politischen Talente rar sind und weil auch die Umstände und Maßstäbe
für den Rücktritt und das Verschwinden von der politischen Bildfläche in Deutschland sehr unterschiedlich
und sehr fragwürdig sind. Während die einen wegen
Widersprüchen und Lügen abtreten müssen, können die
anderen sich trotz erwiesener Stasispitzelei halten. Auch
darüber sollten wir einmal nachdenken.
({1})
Sie können mir glauben: Es bereitet keine Lust, mit anzusehen, wie die Grundwerte und Grundfesten dieser
Republik mittlerweile erschüttert werden. Wir haben im
Deutschen Bundestag eine hohe Verantwortung und stehen vor einer großen Bewährungsprobe, dafür zu sorgen,
dass die politische Willensbildung, zu der wir bekanntlich mitverpflichtet sind, jetzt nicht in Politikverdruss
und Aversion umschlägt.
Zum eigentlichen Thema: Der vorliegende Jahreswirtschaftsbericht gibt Anlass zu Optimismus. Während
im vergangenen Jahr das Wirtschaftswachstum bei
1,4 Prozent lag und die Arbeitslosigkeit nur wenig zurückgegangen ist, zeichnet sich zu Beginn dieses Jahres
ein Wirtschaftsaufschwung ab, der sich auf relativ hohem Niveau stabilisieren wird. Abweichend von den üblichen Ritualen könnten wir uns darüber wirklich gemeinsam freuen,
({2})
falls wir in diesen für die Politik lausigen Zeiten noch zu
gemeinsamer Freude fähig sind. Aber vielleicht ist es
genau das, was der Politik manchmal fehlt und ihr einen
zänkisch-neurotischen Charakter verleiht, nämlich dass
wir uns über wichtige und positive Dinge nicht freuen
können;
({3})
denn selten zuvor waren die Aussichten so gut wie in
diesem Jahr und für die kommenden Jahre. Alle Konjunkturindikatoren wie Auftragseingang, Geschäftsklima
und Aktienindex weisen nach oben. Die Prognosen der
Wirtschaftsforschungsinstitute werden in diesem Jahr
möglicherweise sogar noch übertroffen. Es besteht also
Grund für Optimismus. Optimismus ist schließlich eines
der wichtigsten Wachstumshormone in der Wirtschaft.
({4})
Die Zunahme des Bruttoinlandsprodukts um
2,5 Prozent wird sich auch deutlich auf den Arbeitsmarkt auswirken. Kollege Glos, es ist nicht nur auf
demographische Faktoren zurückzuführen, dass mit
200 000 bis 300 000 weniger Arbeitslosen zu rechnen
ist; denn es werden auch 120 000 neue Stellen geschaffen. Wenn Sie den Jahreswirtschaftsbericht genau analysiert hätten, dann wären Sie darauf gestoßen. Sie sind
vielleicht unzufrieden darüber, weil Sie selbst noch in
den letzten Tagen Ihrer alten Regierung von der Halbierung der Arbeitslosigkeit gesprochen haben. Das ist in
fataler Weise auch eingetreten: Ihre Halbierung sah so
aus, dass es etwas über 2 Millionen Arbeitslose im Westen und etwa 2 Millionen Arbeitslose im Osten gab. So
sah die Situation aus, als wir die Regierung in diesem
Land übernommen haben. Jetzt haben wir eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt erreicht. Die Arbeitslosigkeit nimmt wirklich ab.
({5})
Hinsichtlich der Geldwertstabilität und der Zinsentwicklung wird in dem Bericht für meine Begriffe ein
etwas zu optimistisches Bild gezeichnet. Allerdings gehen selbst die größten Pessimisten von einer maximalen
Steigerung der Zinsen um 1 Prozentpunkt auf 4 Prozent
aus. Das wird der wirtschaftlichen Entwicklung keinen
Abbruch tun und das können wir ohne größere Probleme
verkraften.
({6})
Wir sollten diesen Erfolg nicht kleinreden; denn er
hat nicht nur mit der Wirtschaftsentwicklung und der
anhaltenden Konjunktur in den USA sowie damit zu tun,
dass sich die meisten Krisenländer dieser Welt wesentlich schneller erholt haben, als wir das erwartet haben,
und jetzt der wettbewerbsstarken deutschen Industrie
und Wirtschaft Impulse geben. Sicherlich spielt auch die
Schwäche des Euro eine Rolle. Aber das hat, wie man
am Exportboom sieht, auch positive Wirkungen.
Es gibt - es ist viel wichtiger, dass wir das hier herausarbeiten und betonen - aber auch erste und ziemlich
klare Signale für ein Anspringen der Binnenkonjunktur und der Binnennachfrage. Hier lohnt sich schon eine
genauere Betrachtung; denn der unglückliche Start der
rot-grünen Regierung und das erste holprige, wenig
glanzvolle Jahr haben natürlich zunächst in der Wirtschaft zu Skepsis und Attentismus geführt. Nun ist man,
glaube ich, doch eher wieder optimistisch hinsichtlich
der Entwicklung gestimmt. Die Panikmache, die
Schwarzmalerei und so manche Regelung wie die der
630-Mark-Jobs haben sich überhaupt nicht so ausgewirkt, wie das hier dargestellt worden ist,
({7})
im Gegenteil: Das eigentliche Ziel, nämlich den massenhaften Missbrauch dieser Jobs zu verhindern, ist im
Grunde genommen erreicht worden. Das war das eigentliche Anliegen.
({8})
Selbst hinsichtlich der Scheinselbstständigkeit war
die Regierung in der Lage, die erkannten Fehler zu korrigieren. Auch das mögen Sie als Anzeichen für eine
neue Politik betrachten, die in der Lage ist, über sich
selbst kritisch zu reflektieren und Korrekturen vorzunehmen, und die nicht mit Starrsinn reagiert, wie wir es
früher erlebt haben: Augen zu und weitermachen.
Zum Glück haben wir jetzt also eine stabile und
handlungsfähige Regierung, die aus den überhasteten
Anfangstagen gelernt hat und die sich nicht durch die
Schwäche der Opposition, sondern aus eigener Kraft gefestigt hat.
({9})
Sie liefert nun Schritt für Schritt klare Marschrichtungszahlen, an denen man sich orientieren kann. Das hat
Vertrauen geschaffen und wirkt sich positiv auf die Investitionsbereitschaft und auf die Binnenkonjunktur aus.
Hinzu kommt die gelungene Haushaltskonsolidierung. Damit verbunden ist der glaubhafte Wille, mittelfristig einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen und
den geerbten Schuldenberg abzutragen. Ein Staat, der
seine Finanzen im Griff hat und nicht über seine Verhältnisse lebt, erspart sich kontraproduktive Spekulationen über Steuererhöhungen. Im Gegenteil, er kann sich
Steuerentlastungen in angemessenen Größenordnungen
leisten.
Allein durch das, was wir morgen diskutieren, werden die Bürger und die Unternehmen demnächst um etwa 44 Milliarden DM entlastet. Nimmt man die gesamte
Steuerreform und den Familienlastenausgleich, den diese Regierung angeschoben hat, zusammen, dann ergibt
sich eine Nettoentlastung von insgesamt 73 Milliarden DM. Das ist die größte Steuerreform, die diese Republik je erlebt hat. Das müssen wir immer wieder deutlich machen.
({10})
Die Steuerreform ist sozial ausgewogen, an Wachstum und Beschäftigung orientiert; gleichzeitig werden
international wettbewerbsfähige Steuersätze eingeführt.
({11})
Zugegeben, das Steuerrecht wird nicht gerade einfacher und logischer. Allerdings halte ich die Kritik der
Union für kleinkariert und nörglerisch. Abgesehen von
Detailregelungen ist die Reaktion aus der Wirtschaft
Werner Schulz ({12})
überwiegend positiv. Sie können Ihre Vorschläge in den
weiteren Beratungen einbringen.
({13})
Schon heute steht fest: Die vorgesehene steuerliche
Freistellung von Veräußerungsgewinnen hat eine enorme Dynamik ausgelöst. Galt der Standort Deutschland
bis vor kurzem noch als verkrustet und zu teuer, so wird
er bereits im Vorfeld der Steuerreform als Niedrigsteuerland bezeichnet und deutsche Aktien werden als heißer
Anlagetipp gehandelt. Das Allzeithoch des DAX verdeutlicht die Aufbruchstimmung in vielen Bereichen der
deutschen Wirtschaft. Was sich hier abspielt, beschreibt
den Wandel weg von den alten Schornsteinindustrien
hin zu modernen Sektoren der Wissens-, Informationsund Dienstleistungsgesellschaft. Kollege Glos, Sie haben das Ganze, was sich hier abspielt, überhaupt nicht
verstanden. Ich hatte den Eindruck, Ihre Rede war in der
Art eines bayerischen PDS-Vorsitzenden gehalten.
({14})
Fast reziprok zu den steigenden Aktienkursen fällt
das Ansehen früherer Regierungspolitiker. Mit Wucht
erfüllt sich offenbar die so oft dahergesagte Vermutung,
dass nichts so bleibt, wie es war, und dass die Bonner
Republik zu Ende geht. Seit dem Ende der Ära Kohl und
nun mit denkmalstürzender Geschwindigkeit erleben wir
einen Abschied aus dem Beziehungsgeflecht des Nationalstaates, der korporatistischen Gesellschaft.
Wir erleben, dass die Globalisierung eben nicht nur
ein Thema für Talkshows oder der Blickfang unsinniger
Anzeigenkampagnen ist. Die Vernetzung der Welt und
das neue Wirkungsgefüge lassen die erstarrten Strukturen in der Wirtschaft und in der Politik zerfallen. Die
Konsensgesellschaft löst sich dort auf, wo sie als Klüngelwirtschaft bestand.
Vielleicht anders als erwartet und dennoch eindrucksvoll markiert der Beginn des Jahres 2000 einen
epochalen wirtschaftlichen Um- und Aufbruch: auf der
einen Seite die Rettungsaktion des Bundeskanzlers für
den schwer angeschlagenen Holzmann-Konzern, auf
der anderen Seite die so genannte feindliche Übernahme
von Mannesmann durch Vodafone. Treffender könnte
man diesen Umbruch eigentlich gar nicht symbolisieren.
Hier der vermutlich letzte Versuch staatlicher Intervention zur Rettung eines Großunternehmens, dessen Anteilseigner - vor allem die Banken - alles zur Rettung
ihres Kapitals und herzlich wenig zur Rettung des Betriebes getan haben, dort die Schaffung des fünftgrößten
Konzerns der Welt, finanziert, wenn man so will, aus
Eigenmitteln bzw. über die Börse.
Beide Beispiele verweisen allerdings auch auf
schwerwiegende Defizite. So zeigt der Fall Holzmann,
dass die Unternehmensaufsicht in Deutschland nicht
ausreichend ist. Die Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten von Aufsichtsräten sind zu gering und wurden obendrein sträflich vernachlässigt.
({15})
Wir fordern hierfür schon seit langem Veränderungen.
Eine verbesserte Kontrolle durch Aufsichtsrat und
Hauptversammlung ist die wesentliche Voraussetzung
für die Schaffung einer neuen Aktienkultur in Deutschland. Das gibt den Anlegern mehr Sicherheit und Transparenz.
Der Fall Mannesmann/Vodafone hat eine andere
Schwachstelle des deutschen Finanzmarktes bloßgelegt.
Bisher gibt es keine verbindlichen Regeln für die Übernahme von Unternehmen. Die weltweite Fusionswelle
rollt, ohne dass in Deutschland private Kleinaktionäre
vor Nachteilen geschützt sind. Deswegen ist es dringend
geboten, dass wir im Vierten Finanzmarktförderungsgesetz oder in einem speziellen Übernahmegesetz verbindliche Regeln festlegen, die sich an dem EU-Richtlinienentwurf und dem freiwilligen Übernahmekodex der
Kommission orientieren und den Interessen von Anlegern wie Kleinaktionären oder Arbeitnehmern gerecht
werden.
({16})
Grenzüberschreitende, weltumspannende Unternehmen mit Umsätzen, die weit über dem Bruttoinlandsprodukt der meisten Staaten dieser Erde liegen, zeigen allerdings auch die Grenzen politischer Einflussnahme
nationaler Regierungen auf die ökonomische Entwicklung auf. Der Chef der Deutschen Bank, Rolf E. Breuer,
hat kürzlich festgestellt, dass das alte System der Finanzierung und Kontrolle von Unternehmen durch die Banken zusammenbreche. Auch die deutsche Wirtschaft
entwickele sich zunehmend zu einer Wirtschaft der Eigenfinanzierung. Für ihn ist das Signal klipp und klar:
Das bedeutet das Ende der Deutschland AG. Ausgedient
hat damit nicht die soziale Marktwirtschaft, der gebändigte, so genannte rheinische oder westdeutsche Kapitalismus, sondern der reformunfähige, allumfassende, alles regelnde Fürsorgestaat. Es gilt, die Rolle des Staates
neu zu bestimmen. Durch den Jahreswirtschaftsbericht
zieht sich deswegen auch das Leitbild des aktivierenden
Staates: eines Staates, der sich auf seine Kernaufgaben
konzentriert, sich seiner begrenzten Ressourcen bewusst
ist und mehr Freiräume für gesellschaftliche Eigeninitiative und Selbstorganisation schafft.
Wir müssen die unheilvolle Spirale wachsender Ansprüche der Gesellschaft und deren Erfüllung durch den
Staat zurückschrauben, um den Kollaps zu verhindern.
Gute Politik ist gefragt. Sie misst sich nicht an der Höhe
der staatlichen Aus- und Aufgaben. Gute Politik läuft
nicht über geheime Finanzierung, sondern über den offenen und fairen Wettbewerb der Ideen. Den Umbau des
Sozialstaates - Stichworte sind Rentenreform und Gesundheitsreform - und die föderalen Herausforderungen - Länderfinanzausgleich, Ländergebietsreform, Verwaltungsreform - können wir nur im Abwägen des Für
und Wider, im Ausklamüsern der besten politischen Lösung meistern.
Ich will einige Felder herausgreifen, die das neue
Staatsverständnis der rot-grünen Regierung zeigen: Für
den Abbau der Arbeitslosigkeit, um beim dringendsten
Problem anzufangen, wurde eine bessere Koordination
auf nationaler Ebene geschaffen. Hierzu wurde das
Werner Schulz ({17})
Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit ins Leben gerufen. Das ist keine wesensfremde Angelegenheit der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung, wie der Sachverständigenrat kritisiert, sondern es
verhält sich wohl eher so, dass man nicht mehr daran gewöhnt ist, dass es einen regelmäßigen, kontinuierlichen,
verbindlichen und konstruktiven Dialog zwischen Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften gibt.
({18})
Er ist ja gerade in den letzten Jahren der Regierung Kohl
systematisch verhindert worden. Auch erste Erfolge sind
zu vermelden: Man hat sich maßvolle Tarifabschlüsse
vorgenommen, es besteht die Bereitschaft zur Reform
des Flächentarifs, zur Schaffung von Korridoren und
Öffnungsklauseln, zum beschäftigungswirksamen Abbau von Überstunden.
Das Bündnis für Arbeit - das sage ich hier klipp und
klar - kann allerdings nur Erfolg haben, wenn alle Beteiligten zum Geben und Nehmen bereit sind und sich an
die Abmachungen halten. Die Regierung hat mit ihrem
Zukunftsprogramm 2000, mit der Steuerreform und mit
dem Sofortprogramm gegen die Jugendarbeitslosigkeit
immense Vorleistungen erbracht und auch ein hohes
Maß an Geduld bewiesen. Jetzt sind die Arbeitgeber und
Gewerkschaften gefragt. Die Faustzahlen der IG Metall - 5,5 Prozent Lohnerhöhung, Rente mit 60 - sind jedoch nicht gerade hilfreich, um den Produktivitätsfortschritt in Beschäftigung umzusetzen. Das ist eher ein
Rückfall in die Zeiten von Brenner und Steinkühler.
({19})
Man hat mehr den Eindruck, als ob hier ein Bündnis gegen die Arbeitslosen zustande kommen soll. Es empfiehlt sich dabei durchaus noch einmal ein Aufenthalt in
Dänemark oder den Niederlanden, wo das Ganze längerfristig funktioniert hat. Dort kann man studieren, was zu
tun ist, um zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit zu
kommen. Statt Tariffonds für die Frührente einzurichten,
sollten wir Tariffonds eher für eine Offensive nutzen,
um Teilzeitarbeit voranzubringen.
Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition
haben im letzten Jahr mit einer Fülle von Maßnahmen
den Strukturwandel in der Wirtschaft unterstützt und
damit Wachstum und Beschäftigung gefördert. Ich erwähne hier nur das Aktionsprogramm für den Weg in
die Informationsgesellschaft, das jetzt aufgelegt wurde.
Damit wird ein Wirtschaftszweig gefördert, dessen Entwicklung zu den spannendsten in der Wirtschaft überhaupt gehört.
Hier bestehen vor allen Dingen Chancen für kleine
und mittlere Unternehmen. Gerade der Mittelstand und
das Handwerk liegen uns am Herzen. Hier liegt das Gros
der Arbeits- und Ausbildungsplätze. In diesem Bereich
haben wir das Hauptaugenmerk auf die Verbesserung
der Investitionsbedingungen, auf die Unterstützung von
Existenzgründern, die verbesserte Kapitalversorgung,
auf den Bürokratieabbau usw. gerichtet. Gerade in dieser
Woche ist in den zuständigen Ausschüssen der Entwurf
eines Gesetzes zur Verbesserung der Zahlungsmoral beraten worden. Auch dies ist ein wesentlicher Beitrag dafür, Liquiditätsengpässe und Schwierigkeiten im Mittelstand zu verhindern und zu überbrücken.
({20})
Ein Strukturwandel, der die Gemüter am meisten erhitzt, findet in der Energiepolitik statt. Damit meine ich
den Ausstieg aus der Kernenergie und - dies ist ebenso
wichtig und gehört dazu - den Einstieg in eine zukünftige Energieversorgung. Es ist an der Zeit, dass die Kernkraftwerksbetreiber, die erkannt haben müssten, dass sie
noch lange mit der jetzigen Bundesregierung zu tun haben werden, endlich den Ausstieg, den sie intern längst
verfolgen, verbindlich vereinbaren. Dies wäre für uns alle von Nutzen und würde endlich den Blick dahin gehend freigeben, dass wir ein weltweit einzigartiges Programm zur Nutzung der regenerativen Energien eingeleitet haben, und zwar mit den Komponenten 100 000Dächer-Programm, einem Marktanreizprogramm für regenerative Energien und einem geplanten Gesetz hinsichtlich der erneuerbaren Energien.
Diese Veränderungen in der Energiewirtschaft sind
ein wesentlicher Beitrag zur ökologischen Modernisierung und zu einer auf Nachhaltigkeit angelegten Entwicklung. Im dialektischen Duktus eines Trierer Philosophen müsste man heute sagen: Im 20. Jahrhundert
wurde das Problem der Umweltzerstörung nur erkannt,
im 21. Jahrhundert müssen wir es lösen.
Meine Damen und Herren, die Anzeichen deuten auf
einen dauerhaften Wirtschaftsaufschwung. Wir sehen
das mit verhaltenem Optimismus; andere gehen sogar
weiter - wie auch immer. Es gibt jedenfalls keinen
Grund, vom Kurs der Haushaltsdisziplin und der Konsolidierung, der Strukturreform und der Neuorientierung
staatlicher Aufgaben abzuweichen. Die Zeiten des
Wohlfahrtsstaates - egal ob bei BAföG oder Rente sind vorbei. Die Systeme müssen strukturell verbessert
und angepasst werden. Es reicht nicht aus, kurzfristig
Zuschüsse zu erhöhen, weil jetzt die Steuereinnahmen
zufällig wieder sprudeln. In einer Zeit, in der die CDU selbst verschuldet - mit drastischen Einsparungen rechnen muss, gilt es, die Erkenntnis und die Erfahrung zu
vermitteln, dass nur Sparsamkeit, Klarheit und Wahrheit
den Weg aus der Krise bahnen können.
({21})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rainer Brüderle, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! „Nur mit einer konstanten Wirtschaftspolitik ist eine ausreichende Investitionstätigkeit
zu erreichen. Ohne Konstanz ist auch die Wettbewerbsordnung nicht funktionsfähig.“
({0})
Diese Sätze stammen von Walter Eucken, dem geistigen
Wegbereiter unseres Wirtschaftssystems, der sozialen
Marktwirtschaft.
Werner Schulz ({1})
Konstanz in der Wirtschaftspolitik, das ist heute leider keine Selbstverständlichkeit mehr. Dies ist vielmehr
eine notwendige Einleitung einer Rede zu einer Zeit, in
der sich Wirtschaftspolitik immer mehr von ordnungspolitischen Zusammenhängen entfernt, zu einer grünroten Zeit, in der Wirtschaftspolitik durch sprunghafte
Entscheidungen, fehlende Konsequenz und mangelnde
Berücksichtigung marktwirtschaftlicher Funktionsweisen gekennzeichnet ist.
({2})
Der Wirtschaftspolitik fehlt seit anderthalb Jahren
Verlässlichkeit.
({3})
Sie trägt zur Verunsicherung von Bürgern und Unternehmen bei. Sie führt dazu, dass Investoren längst einen
Bogen um den Standort Deutschland machen. Sie trägt
zu Kursverfällen an den Devisenmärkten bei und beschädigt das Image des Wirtschaftsstandortes Deutschland.
({4})
Dass der Euro - Deutschland ist in Euro-Land das größte Land und hat mit Abstand die größte Wirtschaftskraft - täglich derart abgewertet wird, hat seinen Grund:
Die Ursache liegt in der mangelnden Anpassungsfähigkeit in Deutschland.
({5})
Es ist schon merkwürdig: Hier debattieren praktisch
nur Wirtschaftspolitiker miteinander. Nur die Bundesregierung schickt ihren Finanzminister. Herr Eichel, ich
gebe zu, Sie haben schon viele Fehler Ihres Vorgängers
korrigieren müssen. Dennoch fordere ich Sie auf: Korrigieren Sie einen weiteren Fehler!
({6})
Geben Sie die wirtschaftspolitische Grundsatzabteilung dahin zurück, wo sie hingehört, nämlich ins Wirtschaftsministerium!
({7})
Grün-rote Wirtschaftspolitik wird durch mediengerechte Ad-hoc-Entscheidungen bestimmt. Eine ordnungspolitische Linie ist nicht mehr erkennbar. Die
Rückgliederung der Grundsatzabteilung, des ordnungspolitischen Gewissens, in das Wirtschaftsministerium ist
nach unserer Ansicht eine notwendige Voraussetzung,
dieser Entwicklung entgegenzuwirken.
Herr Eichel, wir verfolgen durchaus nicht ohne Sympathie Ihre Versuche, die Schulden abzubauen. Ihr Ministerium ist mit den elementaren Herausforderungen in
der Steuer- und Finanzpolitik gut beschäftigt. Andere
wirtschaftspolitisch wichtige Vorhaben im Geld- und
Kreditwesen, wie etwa ein neues Finanzmarktförderungsgesetz oder eine politische Initiative zu den neuen
Eigenkapitalrichtlinien, werden derzeit aber an den Rand
gedrängt.
Auch die europäische Wirtschafts- und Strukturpolitik wird in Ihrem Haus derzeit stiefmütterlich behandelt.
Ich nenne in diesem Zusammenhang etwa die Problematik des Euro und den Komplex der Landesbanken; die
WestLB lässt grüßen. Außerdem ist es wenig sinnvoll,
wenn europäische Beihilfepolitik im gleichen Ministerium angesiedelt ist, in dem über die Gewährung von Beihilfen fiskalisch entschieden wird. Deshalb, Herr Eichel,
geben Sie im Interesse der wirtschaftspolitischen Leistungsfähigkeit der Bundesregierung die Europaabteilung und die Abteilung Geld und Kredit zurück in das
Ministerium für Wirtschaft!
({8})
Diese organisatorische Rückgliederung ist auch deshalb
geboten, weil sich die praktische Wirtschaftspolitik zusehends von der Konzeption der sozialen Marktwirtschaft entfernt. Das ordnungspolitische Gewissen ist
quasi ruhig gestellt. Statt auf Wettbewerb zu setzen und
die Marktkräfte zu stärken, wendet sich die Bundesregierung der instrumentalen Beliebigkeit zu. Sie betreibt
eine Wirtschaftspolitik, vor der Walter Eucken immer
gewarnt hat: eine Politik des Punktualismus.
Die Liste der ordnungspolitischen Sünden von GrünRot ist lang. Dazu zählen das Zurückdrehen der marktwirtschaftlichen Reformen der alten Bundesregierung,
die Fälle Holzmann und Mannesmann, die Gewinnverwendungssteuerung im Rahmen der Unternehmensteuerreform, die diskriminierende so genannte Ökosteuerreform, die Verzögerung bei der Liberalisierung der Postmärkte und der Versuch der nationalen Abschottung gegenüber dem Ausland etwa in der Energiepolitik.
({9})
Sie betreiben eine korporatistische Politik, statt Verantwortung zu übernehmen und zuzuweisen. Sie wollen
die Koordinierung und Harmonisierung in der europäischen und internationalen Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, statt den Systemwettbewerb zu fördern.
Wo man hinschaut, kann man den Versuch erkennen,
den Markt und den Wettbewerb durch politische Eingriffe quasi auszuhebeln. Sie wollen die Zeit zurückdrehen
und wie in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts sozusagen Wirtschaft machen. Sie wollen vom
Schiedsrichter zum Mitspieler werden.
({10})
Grün-Rot betreibt eine Politik der Intervention, der Protektion und des Kollektivismus.
Mit der Abwendung vom Markt und vom Wettbewerb verlassen Sie nicht nur die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft; Sie behindern vor allem notwendige marktwirtschaftliche Anpassungsprozesse. Sie schaffen dauerhafte Investitions- und Wachstumshemmnisse:
630-Mark-Regelung, Gesetz zur Scheinselbstständigkeit,
Atomausstieg und Ökosteuer.
({11})
Sie verhindern vor allem das Entstehen neuer, wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze.
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage hat zu Recht drei Reformblöcke aufgezeigt, die vor allem die Wirtschaftspolitik
dringend in Angriff nehmen muss: die Reform des Arbeitsmarktes, die Steuerreform und die Reform der Sozialversicherung, hier insbesondere der Reform der Alterssicherung.
({12})
Zum Arbeitsmarkt. Im Jahreswirtschaftsbericht
stellt die Bundesregierung zu Recht fest, dass die Erstarrungen auf den Güter- und Faktormärkten den Abbau
der Arbeitslosigkeit verhindern. Das ist interessant.
Noch interessanter wird es, wenn im gleichen Bericht
Dänemark und die Niederlande lobend erwähnt werden.
Diese konnten ihre Erfolge am Arbeitsmarkt durch moderate, beschäftigungsorientierte Lohnabschlüsse und
flexible Arbeitsmarkt- und Arbeitszeitregelungen erzielen.
({13})
Diese Einsicht ist erstaunlich. Die Worte des Jahreswirtschaftsberichtes stehen aber, wie bei dieser Bundesregierung üblich, wieder einmal in krassem Widerspruch
zu ihren Taten. Grün-Rot sorgt mit seiner Politik dafür,
dass sich die Rahmenbedingungen für den Arbeitsmarkt
weiter verschlechtern. Die Bundesregierung setzt auf
Arbeitsumverteilung statt auf neue Jobs, sie redet, Arm
in Arm mit den Gewerkschaften, dem Überstundenabbau, der Frühverrentung und der Arbeitszeitverkürzung
das Wort. Sie erstickt mit ihrer Politik das zarte Flexibilisierungspflänzchen und zieht das Korsett des Arbeitsmarktes enger, als es ohnehin schon ist.
Des Kanzlers Funktionärsstammtisch, das Bündnis
für Arbeit, hat bis heute nichts bewegt, aber vieles verhindert. Der so genannte Durchbruch bei dieser Gesprächsrunde hat beschäftigungsfeindlichen Lohnforderungen und der volkswirtschaftlich unsinnigen Rente mit
60 den Weg geebnet. Welche Gefahren von diesem
Frühverrentungsmodell für den Arbeitsmarkt ausgehen,
sollten Sie einmal genau im Sachverständigengutachten
nachlesen. Die fünf Wirtschaftsweisen haben das Milliarden teure IG Metall-Modell als Irrweg bezeichnet.
({14})
- Sie mit Sicherheit nicht.
Das Bündnis für Arbeit ist längst ein Bündnis gegen
Reformen geworden. Es ist ein letzter verzweifelter Versuch, das Tarifkartell zu retten. Die Interessen derjenigen, die arbeitslos sind oder Angst um ihren Arbeitsplatz
haben, werden durch den Schulterschluss von Verbandsfunktionären und Bundesregierung nicht beachtet. Dabei
ächzt der Arbeitsmarkt immer mehr unter der Selbstblockade eines erstarrten Tarifkartells. Das HolzmannDebakel belegt eindrucksvoll die Schwäche und Unbeweglichkeit des Tarifvertragsystems. Der Flächentarifvertrag, der alles bis in kleinste Detail regelt, verhindert
neue Arbeitsplätze.
({15})
Er wird zudem von der Wirklichkeit längst ausgehöhlt. Die Mitglieder laufen den Tarifparteien scharenweise davon. Die Tarifverträge werden besonders in den
neuen Bundesländern unterlaufen. 60 Prozent der Arbeitsplätze dort befinden sich außerhalb des Tarifvertragsrechts.
({16})
In Ostdeutschland haben bereits 75 Prozent der Unternehmen den Arbeitgeberverbänden den Rücken gekehrt.
Gerade hier werden Tarifverträge in Übereinstimmung
von Unternehmen und Mitarbeitern immer wieder bewusst verletzt. Die Wirklichkeit in den neuen Ländern
ist weiter als das Gesetz.
({17})
Dieses Beispiel belegt einmal mehr, dass gerade aus
Ostdeutschland wichtige Anstöße für Reformen kommen. Beispiele hierfür sind der Ladenschluss und das
Abitur nach dem 12. Schuljahr, was de facto eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit bedeutet. Die ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger haben sich selbst zur
Chefsache Ost erklärt. Dazu brauchen sie keinen Kanzler, der nur warme Worte, aber keine Taten für sie übrig
hat.
({18})
Meine Damen und Herren, eine Reform des Tarifvertragsrechts ist überfällig. Die F.D.P. fordert deshalb die
Einführung von gesetzlichen Öffnungsklauseln, die
freiwillige Betriebsvereinbarungen zwischen Unternehmen und Belegschaft ermöglichen. Wir wollen zudem
das gesetzliche Günstigkeitsprinzip erweitern. Lohnund Arbeitszeitzugeständnisse müssen möglich sein,
wenn dadurch Arbeitsplätze gesichert werden.
({19})
Wir wollen außerdem der Tendenz zu Verbandsklagen im Arbeitsrecht gesetzlich entgegenwirken. Es kann
nicht sein, dass - wie im Falle Viessmann - dann, wenn
98 Prozent der Belegschaft, um ihre Arbeitsplätze, ihr
Werk in Hessen zu halten, länger arbeiten wollen, dies
durch eine Klage der IG Metall verhindert wird.
({20})
Wir wollen die Rechte des einzelnen Mitarbeiters stärken und die Fremdbestimmung durch Verbände zurückdrängen.
({21})
Wir brauchen ordnungspolitisch klare Rahmenbedingungen, die den einzelnen Unternehmen und Beschäftigten mehr Spielräume für arbeitsplatzsichernde und arbeitsplatzschaffende Vereinbarungen lassen. Statt einer
Strategie, die alleine auf die Umverteilung von Arbeit
setzt, brauchen wir einen Befreiungsschlag Rainer Brüderle
({22})
für mehr Beschäftigung in Deutschland. Die Arbeitsmarktergebnisse der Länder mit flexiblen Regelungen
sind deutlich besser als in Deutschland.
Zur Steuerpolitik. Herr Eichel, Ihre Steuerreform offenbart einige bemerkenswerte Kehrtwendungen der Finanzpolitik der Sozialdemokraten. Sie gehen erstmals
von einem Selbstfinanzierungseffekt von mehreren Milliarden DM aus. Als die F.D.P. diesen steuerpolitischen
Ansatz in ihr Konzept einbezogen hat, galt für Sie - und
das noch bis vor kurzem - immer das Credo: Ohne Gegenfinanzierung läuft nichts. Jetzt schließen Sie sich auf
einmal unserer Auffassung an, dass eine Steuersenkung
in der Wirtschaft Wachstumseffekte auslöst und damit
das Steueraufkommen mittelfristig erhöht. Gratulation
zu dieser Einsicht.
({23})
Anders als Ihr Vorgänger Lafontaine wollen Sie nicht
nur die Nachfrageseite, sondern auch die Angebotsseite
stärken, indem Sie das Investitionsklima der Steuersenkung verbessern. Bis vor kurzem wollte die SPD ausschließlich die Kaufkraft stärken. Auch hier haben Sie
zumindest teilweise die ökonomischen Grundtatsachen
akzeptiert, dass bessere Angebotsbedingungen zu mehr
Wachstum und Beschäftigung führen können.
({24})
Anders als andere wollen Sie keine schuldenfinanzierte Steuerreform. Auch das ist vernünftig, denn bei
einer Staatsquote von fast 50 Prozent sind genug fiskalische Spielräume vorhanden, um eine umfassende Steuerreform ohne eine Ausweitung des Defizits zu finanzieren,
({25})
zumal Ihr Kollege, der Bundeswirtschaftsminister
Müller, große Subventionskürzungen versprochen hat.
Falls er immer noch auf die Kürzungsvorschläge wartet,
etwa im Steinkohlebereich, kann er sicherlich warten,
bis er schwarz wie die Kohle wird. Er muss endlich
selbst aktiv werden, sonst passiert überhaupt nichts.
({26})
Doch nicht nur Ihr Kollege muss mehr tun, auch Sie,
Herr Eichel. Denn bei der Unternehmensteuerreform
haben Sie sich verrannt. Sie haben die Reform aus der
Perspektive der großen Konzerne, der großen Kapitalgesellschaften konzipiert. Nur für sie gibt es eine systematische einfache Lösung. Für den Großteil der Unternehmen in Deutschland, nämlich die mittelständischen Einzelpersonenunternehmen, wollen Sie komplizierte Regelungen durchsetzen.
({27})
Damit stellen Sie sich aber gegen Ihre eigenen Zielvorgaben. Denn im Jahreswirtschaftsbericht heißt es, die
Bundesregierung strebe ein einfaches und gerechtes
Steuersystem an. Das so genannte Optionsmodell ist das
Gegenteil. Die Idee, aus Personenunternehmen per Steuergesetz sozusagen virtuelle Kapitalgesellschaften zu
formieren, ist völliger Unfug.
({28})
Doch den Mittelstand in die Rechtsform der Kapitalgesellschaft zu drängen ist offensichtlich von Ihnen gewollt. Anders sind Ihre Äußerungen, Herr Eichel, nicht
zu verstehen, Deutschlands Unternehmen müssten sich
auch bei der Wahl der Rechtsform an internationalen
Maßstäben messen lassen. Doch gerade um die mittelständische Struktur, die als Grundvoraussetzung das spezifische Eigentumsinteresse des selbsthaftenden Unternehmers hat, wird Deutschland in der Welt beneidet.
Mehr Kapitalgesellschaften bedeuten eben nicht gleichzeitig ein Mehr an Innovation, Wachstum und Beschäftigung.
({29})
- Herr Schwanhold, vielleicht haben Sie auch einmal eine Erkältung, dann lache ich auch. Sie sollten sich vielleicht als Minister ein bisschen mehr Niveau angewöhnen, sonst werden Sie nicht ernst genommen.
({30})
- Ihr Mitgefühl ist wirklich entwaffnend.
Die Unternehmensteuerreform könnte das Ende des
selbsthaftenden Unternehmertums in Deutschland einläuten. Dieser gefährlichen Entwicklung kann die F.D.P.
weder im Bundestag noch im Bundesrat die Hand reichen.
({31})
Meine Damen und Herren, wir müssen Deutschland
zurück zum Steuersystem führen, das die wirtschaftlichen Entscheidungen der Bürger und Unternehmen nicht
von vornherein präjudiziert. Es darf nicht von der Besteuerung abhängen, ob sich jemand selbstständig
macht, seinen Lebensunterhalt mit Wohnungsvermietung bestreitet oder eine abhängige Beschäftigung annimmt. Es darf ebenfalls nicht von der Besteuerung abhängen, ob ein Unternehmen investiert oder rationalisiert. Ein Steuersystem sollte eben nicht bevormunden,
sondern die Entscheidungsfreiheit der Bürger und der
Unternehmen akzeptieren.
({32})
Persönliche Neigungen oder Begabungen, Risikoeinstellung und Marktlage müssen die Maßstäbe sein. Das
Steuerkonzept der F.D.P. trägt diesem Maßstab Rechnung. Alle Einkünfte von natürlichen und juristischen
Personen sollen einfachen, international üblichen Stufentarifen mit Grenzsteuersätzen von 15 Prozent,
25 Prozent und 35 Prozent unterliegen. Die Gewerbesteuer wird gänzlich abgeschafft.
Unser Modell ist so einfach und überzeugend, dass
selbst Ihr Fraktionschef, Herr Struck, den ganzen letzten
Sommer damit hausieren ging.
({33})
Ich fordere Sie deshalb auf: Versuchen Sie nicht, die
wirtschaftliche Realität Ihrem Steuerkonzept anzupassen, sondern passen Sie Ihr Konzept der wirtschaftlichen
Realität an.
({34})
Wenn Sie sich nicht trauen, uns zu fragen, dann gehen
Sie zu Herrn Struck. Er hat sicherlich noch das eine oder
andere Exemplar unserer Vorschläge in seiner Schublade.
({35})
Wie sieht Ihre Finanzpolitik sonst aus? Auch in der
Haushaltspolitik haben Sie eine Kehrtwende vollzogen.
Statt Deficitspending à la Lafontaine wollen Sie jetzt bis
2006 einen ausgeglichenen Haushalt. Diese Zielsetzung
kann ich nur unterstützen. Vor diesem Hintergrund sollten wir alle gemeinsam in diesem Haus darüber nachdenken, ob nicht eine grundlegende Erneuerung unserer
Finanzverfassung notwendig ist. Unsere Finanzverfassung stammt noch aus der Hochzeit keynesianischer
Nachfragepolitik. Das ist nicht mehr zeitgemäß, vor allem seit auch die Sozialdemokratie die Angebotsseite
wenigstens nicht mehr komplett ausblendet. Lassen Sie
uns diese Chance ergreifen und die Finanzverfassung
grundlegend erneuern. Ich denke vor allem an die Verschuldungsklausel des Grundgesetzes. Sie müsste deutlich enger gefasst werden.
({36})
Zur Rentenpolitik. Ich stimme den im Jahreswirtschaftsbericht erwähnten Zielen durchaus zu. Sie haben
Recht, Herr Eichel, wenn Sie einen Beitrag der Wirtschafts- und Finanzpolitik zu einer höheren Erwerbsbeteiligung einfordern, wenn Sie die steuerliche Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Alterseinkünften generationenverträglich ausgestalten wollen und
wenn Sie die Altersvorsorgesysteme mit dem Ziel, dass
sie auch bei veränderter Bevölkerungsstruktur dauerhaft
leistungsfähig bleiben, reformieren wollen. Auch Ihrer
Erkenntnis, dass eine Verlängerung der Lebensarbeitzeit
unausweichlich ist, stimme ich zu.
Die von mir eingangs bemängelte fehlende Konstanz
grün-roter Wirtschaftspolitik spiegelt sich im Rentenkapitel des Jahreswirtschaftsberichts eindrucksvoll wider.
Sie versprechen dort nämlich, die zusätzlichen gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen, um die Rente mit 60
zu ermöglichen. Das bedeutet im Ergebnis nichts anderes als eine geringere Erwerbsbeteiligung, eine Verkürzung der Lebensarbeitzeit und vor allem einen nicht generationenverträglichen Lösungsansatz, sondern eher einen Missbrauch der sozialen Sicherungssysteme.
Statt dass Sie Ihren Zielvorgaben gleich widersprechen, hätte ich wirklich logische Folgerungen erwartet:
die Selbstverantwortung bei den sozialen Sicherungssystemen zu stärken, einen Demographiefaktor in
die Rentenformel einzuführen und das Prinzip der nachgelagerten Besteuerung anzugehen. Wie diese Prinzipien
zusammenpassen, können Sie übrigens wunderbar im
Rentenreformkonzept der F.D.P. nachlesen. Wir schlagen mit einem ganzheitlichen Ansatz eine echte Rentenstrukturreform vor, die dauerhaft Vertrauen in unsere
Altersversorgung aufbauen soll.
({37})
Unsere Ideen bringen wir selbstverständlich auch konstruktiv in die derzeit laufenden Rentengespräche ein.
Die Bundesregierung distanziert sich von der sozialen
Marktwirtschaft nach Ludwig Erhard. Sie setzt auf eine
Politik der punktuellen Eingriffe, bei der die eine Hand
meist nicht weiß, was die andere Hand tut. Die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge geraten dabei zusehends aus dem Blick. Gerade das Wirtschaftsministerium, das einmal von Erhard als ordnungspolitischer
Wächter über die Tätigkeit der Fachministerien angesehen wurde, mutiert immer mehr zum Wettbewerbssünder Nummer eins. Der Wettbewerb wird nunmehr als
störend empfunden. So setzt Herr Müller in der Energiepolitik alles daran, ein Wettbewerbsmodell zu verhindern. Das Duopol im Energiebereich, das Herr Müller
massiv unterstützt, ist wohl der Preis, den die Bundesregierung für einen Atomausstieg zu zahlen bereit ist.
Mit einer solchen diffusen Haltung zu marktwirtschaftlichen Grundsatzfragen gerät Deutschland international immer weiter ins Abseits.
({38})
Es ist interessant, dass im Rating der Liste marktwirtschaftlicher Volkswirtschaften des Fraser-Instituts in
Kanada, das insgesamt 23 Kriterien untersucht, Deutschland nur noch auf Platz 22 zu finden ist.
Wie man aus Ihrem Hause auch hört, Herr Müller,
wollen Sie dem wirtschaftspolitischen Credo, dem bisher alle Wirtschaftsminister der Bundesrepublik
Deutschland gefolgt sind, nämlich „Mehr Markt, Wettbewerb schaffen“, entsagen. Ich fordere Sie auf, Herr
Müller, Ihr Bekenntnis zu Ludwig Erhard ernst zu nehmen und für die soziale Marktwirtschaft einzustehen.
Ansonsten machen Sie selbst das Wirtschaftsministerium völlig überflüssig.
({39})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Christa Luft, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Natürlich ist es wichtig, dass
sich der Deutsche Bundestag endlich wieder einem
Sachthema zuwendet. Es scheint mir jedoch so zu sein,
dass das, was von der CDU/CSU-Fraktion und der
F.D.P.-Fraktion zum Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung vorgetragen worden ist, wenig glaubhaft
ist. Dieser superkritische Rundumschlag ist außerordentlich verwunderlich, denn die neue Bundesregierung setzt
doch in ganz wesentlichen Teilen die angebotsorientierte
Politik der Vorgängerregierung fort.
({0})
Insofern hätten Sie, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU und F.D.P., durchaus Anknüpfungspunkte
feststellen müssen.
Wenn Sie, Herr Glos, die Euroschwäche beklagen,
müssten Sie sich mindestens heute sehr deutlich an die
vielen Debatten in diesem Hause erinnern. Speziell meine Fraktion hat immer darauf hingewiesen, dass wir mit
der Einführung des Euro dem europäischen Integrationsprozess zwar eine Krone aufsetzen, dass ihm aber
immer noch die Füße fehlen. Das heißt, diesem Integrationsprozess fehlt ein wichtiges Fundament, ein Fundament in Form abgestimmter Politik zur Bekämpfung der
Massenarbeitslosigkeit in Europa, zur Steuerharmonisierung und zur Weichenstellung für eine Sozialunion.
({1})
Dieses Defizit, das wir in der europäischen Politik haben
und zu dessen Abbau die Bundesregierung zu wenig
beigetragen hat, hat dazu geführt, dass der Euro bislang
wenig Vertrauen gewinnen konnte.
Bei der Regierung fällt mir ein überschäumender und
für mich unerklärlicher Optimismus auf.
({2})
Wir erkennen sehr wohl an, dass es im Verlaufe des letzten Jahres einige positive Trends gegeben hat, sowohl
bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit als auch
beim Einstieg in die Senkung des Eingangssteuersatzes
sowie bei der Anhebung des steuerfreien Existenzminimums. Das sind sehr wohl von uns registrierte positive
Akzente. Insgesamt aber scheint mir dieser Bericht vor
unberechtigtem Optimismus überschäumend zu sein.
({3})
Lassen Sie mich wenigstens drei Probleme nennen.
Erstens. Die rot-grüne Koalition stützt ihren Optimismus
bei der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit im
Wesentlichen auf Wachstumserwartungen. Dies hat aber
schon in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nicht
funktioniert.
({4})
Ein prognostiziertes Wachstum von 3 Prozent ist zum
einen völlig unsicher und zum anderen entwickelt sich
die Arbeitsproduktivität noch schneller, sodass die Rationalisierungseffekte stärker zum Tragen kommen.
({5})
Mit den in dem Bericht erwarteten Beschäftigungswirkungen ist unter dem Strich schwerlich zu rechnen.
In ihrem Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung der
Massenarbeitslosigkeit kommen Überlegungen zur Verkürzung der Arbeitszeit viel zu kurz. Ich kann nur raten:
Richten Sie doch den Blick auf unser unmittelbares
Nachbarland Frankreich! Dort gibt es den Einstieg in die
verkürzte Arbeitszeit.
({6})
Dort gibt es erste positive Tendenzen, trotz all der Komplikationen, die man auch dort noch feststellen kann.
Aber es ist ein Beispiel, das man analysieren kann. Man
muss nicht immer den Blick auf die USA richten. Wir
haben ein Nachbarland, das einen solchen Weg mit Erfolg beschreitet.
({7})
Von Ihnen werden auch keine Überlegungen zur
Aufnahme von Tätigkeiten in Bereichen angestellt, in
denen es zuhauf ungetane Arbeit gibt. Ich nenne beispielsweise Sozialarbeit und humane Dienstleistungen.
Wir müssen in der Bundesrepublik Deutschland Überlegungen anstellen, wie wir Arbeiten in diesen Bereichen
finanzierbar machen. Wir wissen auch, dass das nicht
der wirksame Weg zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit sein kann. Es kann jedoch nicht angehen, dass
wir auf der einen Seite mit einem großen Berg von arbeitslosen Menschen in die Zukunft gehen, während auf
der anderen Seite ein großer Bedarf an Tätigkeiten in
Bereichen besteht, in denen sich Private nicht engagieren.
({8})
In Ihrem Maßnahmenkatalog kommt ebenso wenig
die Verantwortung der öffentlichen Hand als Arbeitgeber vor. Im Gegenteil: Sie kündigen weitere Privatisierungen mit unabsehbaren Folgen für die Beschäftigung
an. Sie müssen doch außer den optimistischen Einschätzungen, wo möglicherweise neue Beschäftigung entstehen kann, gegenrechnen, wo Beschäftigung weiter abgebaut wird. Das geschieht ganz besonders auch im Bereich des öffentlichen Dienstes, für den die Bundesregierung mit die Verantwortung trägt.
Durch Ihr vorrangiges Setzen auf Exportwachstum
machen Sie sich im Übrigen von der Wirtschaftspolitik
anderer Länder und auch vom Devisenmarkt einseitig
abhängig. Beides kann auf Dauer nicht gut gehen.
Kommt die allfällige Korrektur des Wechselkurses, steht
der deutsche Arbeitsmarkt wieder im Regen. Man kann
sich doch nicht nur auf das Exportwachstum, so groß
seine Bedeutung auch sein mag, kaprizieren. Es bleibt
wichtig, die kurze Zeit, in der die Zeichen weltweit auf
Aufschwung stehen, nachfrageorientiert zu nutzen. Diese Erkenntnis aus vielen zurückliegenden Jahrzehnten
ist, so denke ich, aktuell und muss von der Bundesregierung beachtet werden.
Ein zweites Problem: Die rot-grüne Regierung setzt
insbesondere mit ihrer Steuerpolitik darauf, die Standortbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland zu
verbessern. Das ist nicht neu. Wo aber sind die Beschäftigungs- und Investitionswirkungen geblieben, die in
der Vergangenheit durch die Steuersenkungspolitik der
alten Regierung, von CDU/CSU und F.D.P., eingeleitet
werden sollten? Wo sind die Beispiele dafür, dass eine
solche Politik Auswirkungen auf Investitionen und Beschäftigung hat?
Ich erinnere daran, dass die Vorgängerregierung die
Körperschaftsteuer mehrfach gesenkt hat. Ich erinnere
daran, dass die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft worden ist. Ich erinnere an die Aussetzung der Vermögensteuer und den reduzierten Solidarbeitrag. Dies alles waren beträchtliche Entlastungen für die Unternehmen,
insbesondere für große Konzerne. Wo aber sind die beabsichtigten Wirkungen auf Investitionen und Beschäftigung geblieben?
({9})
Woher wollen Sie in einer Marktwirtschaft, in einer
offenen Gesellschaft wissen, wie viele Investoren unter
günstigeren Bedingungen was investieren werden, welche Ideen sie verwirklichen können und wie viel Wachstum sich daraus ergeben wird? Das alles bleibt Spekulation.
Wenn Sie tatsächlich etwas für die Verbesserung der
Standortbedingungen und die Förderung der Beschäftigung tun wollen, dann entschließen Sie sich endlich zu
einer Mehrwertsteuerentlastung für arbeitsintensive
Dienstleistungen.
({10})
Das haben wir hier wiederholt diskutiert. Sie sagen, das
würde Steuerausfälle zur Folge haben, die zu groß seien,
die wir nicht verkraften könnten. Ich habe den Eindruck,
dass die Bundesregierung durch die neue Steuerpolitik
in vielen Bereichen Selbstfinanzierungseffekte in zweistelliger Milliardenhöhe erwartet. Dagegen wären die
Steuerausfälle durch eine geringere Mehrwertsteuer für
arbeitsintensive Dienstleistungen wirklich Peanuts. Sie
sollten sich entscheiden, das zu tun, was andere europäische Länder auf diesem Gebiet inzwischen auf den Weg
gebracht haben. Ich nenne Frankreich, Griechenland und
Holland als Beispiele.
({11})
Auch die gezieltere Förderung regional vernetzter
Wirtschaftsstrukturen gehört zu den Entwicklungspotenzialen, über die stärker nachgedacht werden muss. Insbesondere im Osten Deutschlands wird es noch für eine
ganze Reihe von Jahren unverzichtbar sein, die regionale Wirtschaftsförderung zu intensivieren; denn dort
weltmarktorientierte Großinvestitionen als Königsweg
zu erwarten führt in die Irre. In Ostdeutschland geht es
im Besonderen um die Umsetzung der lokalen Agenda 21, um die Veränderung der Ordnung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und viele andere Dinge. Überhaupt kommt der Osten Deutschlands in diesem Jahreswirtschaftsbericht nur sehr traditionell vor. Ob wirklich
etwas Neues auf den Weg gebracht worden ist, was man
unter „Chefsache Aufbau Ost“ verbuchen könnte, bleibt
im Dunkeln.
Lassen Sie mich drittens sagen: Absolut unterbelichtet ist in Ihrem Bericht die Vorsorge für eine soziale
Gestaltung des europäischen Integrationsprozesses. Sich
für soziale Mindeststandards einzusetzen ist doch unverzichtbar, sollen den Menschen Ängste vor der Osterweiterung der EU genommen werden. Das würde auch
Rechtspopulisten den Boden für eine Rattenfängerpolitik
entziehen.
({12})
Aber Niedriglohnpolitik, die vollständige Aushöhlung
der Tarifverträge und Ladenöffnungen rund um die Uhr
zu propagieren, wie dies eben Herr Brüderle getan hat,
ist doch nichts, womit Sie Menschen, die schon jetzt eine sehr niedrig bezahlte Beschäftigung haben und sich
vor der Zukunft fürchten, auf ein in Zukunft größeres
Europa vorbereiten können. Dabei ist es den Menschen
auch egal, ob das, was gegenwärtig geschieht, eine
Marktwirtschaft im Eucken‘schen Sinne ist oder nicht.
({13})
Menschen messen ihre Zukunftszuversicht doch an dem,
was sie in ihrer täglichen Arbeit spüren, und an den Erwartungen, die sich bislang nicht erfüllt haben.
Danke schön.
({14})
Ich erteile dem Bundesminister Werner Müller das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Eines will ich vorab sagen: Dieser Jahreswirtschaftsbericht ist ein so gutes Dokument, dass er
durchaus eine etwas bessere Würdigung verdient gehabt
hätte.
({0})
Das sage ich insbesondere im Hinblick auf die Rede von
Herrn Glos.
Lassen Sie mich ein Zweites vorneweg schicken. Ich
möchte mich insbesondere im Namen meiner Mitarbeiter sehr herzlich bei dem Finanzminister und seinen
Mitarbeitern für die Art und Weise bedanken, in der dieser Jahreswirtschaftsbericht erstellt worden ist. Er ist ein
insgesamt völlig einvernehmlich erarbeitetes Dokument.
Infolgedessen ist manches von dem, was Sie, Herr Brüderle, gesagt haben, für mich nicht so furchtbar wichtig.
({1})
Wichtig ist, dass wir eine gute Politik machen. Nicht so
wichtig ist, in welchem Ressort das jeweils geschieht.
Ich betone diese große Einvernehmlichkeit, weil das
wirtschaftspolitische Konzept der Renaissance einer
wohlverstandenen sozialen Marktwirtschaft in diesem
Jahreswirtschaftsbericht ganz klar erkennbar ist. Die
Eckpunkte - und es sind Eckpunkte im klassischen Sinne - sind im Grunde einfach: Senkung der Arbeitslosigkeit, Steigerung der Erwerbstätigkeit; Senkung von
Steuern und Abgaben, Steigerung von Investitions- und
Kaufkraft; Senkung der Staatsquote, Steigerung der privaten Initiative.
Besonders wichtig ist - und auch das ist in diesem
Jahreswirtschaftsbericht klar beschrieben -, dass wir uns
angewöhnen müssen, immer weniger auf Kosten der
Zukunft zu leben und auf Kosten der Zukunft zu wirtschaften. Das heißt im Klartext: Wir müssen alle zusammen wesentlich mehr Achtung vor dem vertikalen
Generationenvertrag gewinnen. Wir können uns nicht
immer neu verschulden. Wir können auch nicht immer
mehr der natürlichen Lebensgrundlagen verfrühstücken.
All das formuliert der Jahreswirtschaftsbericht sehr klar,
und er führt auch die notwendigen Konsequenzen auf,
die wir anstreben müssen. Ich will in aller Deutlichkeit
sagen: Dafür ist diese Koalition auch gewählt worden.
({2})
Im Jahreswirtschaftsbericht stehen Ziele, die Sie wenn Sie ehrlich sind - in früheren Jahren nie aufzuschreiben gewagt hätten: etwa das Ziel eines ausgeglichenen Haushaltes. Wir haben dieses Ziel festgeschrieben und werden es spätestens im Jahre 2006 erreicht haben.
({3})
- Das ändert nichts daran, dass Sie sich jetzt freuen, dass
wir solche Ziele haben, weil Sie wissen, dass das für
Deutschland gut ist. Ich habe mir nur die Bemerkung erlaubt, dass das Ziele sind, die man von Ihnen nicht zu
hören gewohnt war.
({4})
Der Jahreswirtschaftsbericht in toto rechtfertigt das
Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, das sie an dem
Wahltag im Herbst 1998 geäußert haben.
({5})
Der Jahreswirtschaftsbericht beschreibt die notwendige
Reformpolitik, um Deutschland in eine wirtschaftlich
bessere und insbesondere sichere Zukunft zu führen.
Natürlich sind Reformen unbequem. Das hat für die
Regierung in gewisser Hinsicht einen scheinbaren Nachteil: Unbequeme Reformen bieten der Opposition immer
die Möglichkeit, zu sagen, sie könnte das alles wesentlich bequemer machen.
Das ist das Kennzeichen der Kritik an der Wirtschaftsund Finanzpolitik. Sie sagen: Das ist für die Bürger alles
zu unbequem, wenn wir es machten, wäre es viel bequemer. Ich sage Ihnen in aller Klarheit: Natürlich, das
haben wir beobachtet. Eine Politik auf Pump und auf der
Basis des Schuldenmachens ist unterm Strich eine bequeme Politik.
Infolgedessen will ich Ihnen einmal zu bedenken geben: Wenn Ludwig Erhard - Sie zitieren ihn immer so
freundlich, auch ich zitiere ihn gerne - den Bürgerinnen
und Bürgern seinerzeit eine Politik der Bequemlichkeit
gepredigt hätte, dann hätten wir das Wirtschaftswunder
nie erreicht.
({6})
Noch eines: Wenn Ludwig Erhard gesehen hätte, was
Sie in Ihren 16 Jahren aus einer sozialen Marktwirtschaft gemacht haben, dann hätte er sich im Grabe umgedreht.
({7})
Über 4 Millionen Arbeitslose, eine Steuerlast, die viele erwürgt, eine viel zu hohe Staatsquote sind alles nicht
Kennzeichen einer sozialen Marktwirtschaft. Deswegen
sage ich: Wir sind angetreten und wir wollen eine Renaissance der wohlverstandenen sozialen Marktwirtschaft erreichen.
Noch eines fällt mir auf, während ich den Reden zuhöre: Sie klagen oft auf einem recht hohen Niveau und
unterlassen auch noch heute das, was Sie seit Jahren unterlassen haben, nämlich das Bewusstsein in der Gesellschaft, in der Wirtschaft wie bei Bürgerinnen und Bürgern zu wecken, dass wir dieses Niveau, das wir haben,
auch verteidigen müssen. Das erfordert Anstrengungen
und eine entsprechende Politik; denn es gibt kein
Grundgesetz, in dem steht, dass unserer Nation, die heute noch einen führenden Platz in der Weltwirtschaft einnimmt, dieser Platz auf ewig zustände.
Jeder von uns, wir alle müssen uns das erarbeiten,
und zwar umso härter, je größer der Wettbewerb der Industrienationen und insbesondere auch der Anwärter, die
Industrienationen werden wollen, ist. Infolgedessen war
ein wirtschafts- und finanzpolitischer Neuanfang notwendig. Sie können diesen Neuanfang in dem Jahreswirtschaftsbericht nachlesen.
Von Neuanfang ist in diesen Tagen viel die Rede.
Aber wem sage ich das? Mir ist dieser Tage eingefallen,
dass sich die Wählerinnen und Wähler glücklich schätzen können, dass sie den Wechsel gewählt haben;
({8})
denn ich mag mir gar nicht vorstellen, wie die CDU angesichts der tiefen Krise jetzt regieren wollte. Dann hätten wir wahrscheinlich echte Probleme. So kann man
sagen: Wir haben eine gut funktionierende Regierung,
übrigens auch eine gut funktionierende Presse. Wir haBundesminister Dr. Werner Müller
ben jedenfalls null Staatskrise. Alle, die auch nur Ähnliches andeuten wollen, wollen von Problemen ablenken.
({9})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so erregen. In diesem Land sind die Aufgaben doch klar verteilt: Sie müssen sich eine Zukunft suchen, wir führen Deutschland in
eine sichere Zukunft hinein.
({10})
Oder etwas anders gesagt: Sie müssen irgendwie wieder
politikfähig werden, wir machen Politik.
({11})
- Ich bin doch nicht arrogant.
({12})
Ich bin doch nicht derjenige, der immer feststellt, dass
Sie zurzeit nicht richtig politikfähig sind. Das steht
überall. Das hat auch Herr Glos gesagt. Herr Glos hat
seine Rede damit begründet, er könne jetzt nicht besser
reden, weil Sie zurzeit nicht richtig sprechfähig seien.
({13})
Eines jedenfalls beobachte ich auch mit einem gewissen Maß an Freude: Das Zutrauen von Wirtschaft und
Gesellschaft zu dieser Bundesregierung wächst.
({14})
Die „FAZ“ schrieb dieser Tage - ich zitiere -: „In
Deutschland herrscht Gründerstimmung.“ Das ist eine
richtige Beschreibung. Sie schrieb weiter: „Die Gründerszene ist das Beste, das der deutschen Wirtschaft seit
langem passiert ist.“ Auch hier muss ich sagen: Das ist
völlig richtig.
Sie können auch heute beispielsweise in der „Berliner
Zeitung“ lesen, dass der BDI nun eine - Zitat - „Trendwende im Verhältnis zwischen Wirtschaft und Regierung“ feststellt. Der BDI begrüßt die Wirtschafts- und
Finanzpolitik dieser Bundesregierung und will - ich zitiere - „die Regierung bei dem begleiten, was sie jetzt
tut“.
Das ist eine richtige Erkenntnis der deutschen Wirtschaft. Sie kommt ein bisschen spät;
({15})
ich habe sie hier ab und an schon einmal kritisch angemahnt. Ich habe immer gesagt: Wir lassen uns gerne für
die Belange der Wirtschaft in Anspruch nehmen. Wir
müssen redlich miteinander umgehen. Ich erkenne, dass
das zunehmend der Fall ist. Wir als Bundesregierung
wissen: Wir können eine erfolgreiche Wirtschafts- und
Finanzpolitik nur mit der Wirtschaft machen, nicht gegen sie. Das haben wir immer gesagt.
Jetzt erkenne ich, dass die Wirtschaft das Vertrauen
gewinnt. So schreibt beispielsweise die „Süddeutsche“
heute in einer Überschrift - ich zitiere - „Konzernchefs
und Mittelständler mutieren zu Anhängern der rotgrünen Regierungskoalition“.
({16})
Auch das ist eine sehr zutreffende Überschrift.
Wenn wir mit den Vertretern der Wirtschaft eine
Energiepolitik konzipieren - wir sitzen ja in mehreren
Runden zusammen -, Sie aber ankündigen, völlig ungeachtet dessen, was die Vertreter der Wirtschaft für vernünftig halten, Ihren eigenen Kurs zu gehen, dann können Sie das machen. Vielleicht finden Sie sogar noch irgendwo jemanden, der eines Tages das umsetzen will,
was Sie politisch fordern. Aber ich habe Ihnen schon öfters gesagt: Ihrer Energiepolitik folgt die Wirtschaft
nicht. Das ist ein Problem, das Sie irgendwann noch
einmal durchdenken sollten.
Zum Abschluss kommend will ich insgesamt sagen:
Deutschland steht vor exzellenten Wachstumsperspektiven. Wir nutzen nun diesen Wachstumsprozess zu Reformen, die nicht immer - wie soll ich sagen? schmerzlos sind. Nur, wann sonst sollen wir solche Reformen machen, wenn nicht in einem Prozess des Aufschwungs?
({17})
Diese Reformen generieren ihrerseits wieder Wachstum.
So führen wir unsere Gesellschaft auf einen stabilen
Weg in eine gute Zukunft und die Gesellschaft gewinnt
erkennbar Zuversicht.
Deswegen habe ich eine Bitte an die Wirtschaft, insbesondere auch an die vielen Unternehmer des Mittelstandes, und an die Bürgerinnen und Bürger in diesem
Lande: Vertrauen Sie weiterhin dieser Wirtschafts- und
Finanzpolitik! Unser Land ist auf einem guten Weg und
wir werden uns mit einer erfolgreichen Bilanz der Wiederwahl stellen.
Vielen Dank.
({18})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Gunnar Uldall, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen! Meine Herren! Es grenzt schon etwas ans Komische, Herr Minister Müller, wenn sich gerade Vertreter einer rot-grünen Bundesregierung auf Ludwig
Erhard berufen. Dabei waren es doch immer die Sozialdemokraten - Sie sind ja parteilos -, es waren immer
die Grünen, die in den vergangenen Jahren, wo immer es
ging, versucht haben, uns dann, wenn wir den Markt
stärken wollten, zu bremsen und zu behindern.
Wenn Sie den Jahreswirtschaftsbericht prüfen, werden Sie erkennen, dass es auch hier nicht darum geht, irgendwo mehr Markt einzuführen, sondern dass Sie, wo
es geht, Rahmenbedingungen schaffen, die mit einer
Ausweitung des Marktes überhaupt nichts zu tun haben.
({0})
Insofern sage ich: Es grenzt ans Komische, wenn Sie
Ludwig Erhard als Zeugen aufrufen.
Aber bevor ich mich dem sachlichen Inhalt des Berichtes zuwende, möchte ich einen besonderen Gruß an
einen langjährigen Kollegen aussprechen, nämlich an
Ernst Schwanhold, der über viele Jahre im Wirtschaftsausschuss mein Visavis gewesen ist. Auch wenn
Ernst Schwanhold noch nicht als neuer Wirtschaftsminister in Düsseldorf vereidigt ist, so möchte ich doch
schon jetzt - auch im Namen meiner Kollegen - Gratulation sagen.
({1})
Wir haben immer gut zusammengearbeitet. Es war so,
wie es sich unter Wirtschaftlern gehört: immer sachlich
und fair. Wir wünschen Ernst Schwanhold viel Glück in
den nächsten drei Monaten.
({2})
Wir wünschen, dass er in den nächsten drei Monaten
möglichst viel an Aufräumarbeiten macht, damit es sein
CDU-Nachfolger anschließend etwas leichter hat. In
diesem Sinne: Alles Gute!
({3})
Sie, Herr Minister Eichel, beginnen den Jahreswirtschaftsbericht mit einer richtigen Feststellung. Sie sagen: Ein entscheidender Abbau der Arbeitslosigkeit ist
nur im wechselseitigen Zusammenspiel günstiger makroökonomischer Rahmenbedingungen und nachhaltiger
Strukturreformen zu erreichen. Das ist richtig.
Es ist aber auch richtig, was Sie danach sagen: Die
Bundesregierung hat Glück, dass sie weltwirtschaftlich
so günstige Rahmenbedingungen vorfindet wie seit langem nicht. Aber deswegen ist es auch nur eine unverdiente Glückslage, dass Sie im nächsten Jahr von einer
Wachstumsrate in Höhe von 2,5 Prozent ausgehen
können. Der Jubel aber, der von Ihnen hier im Parlament
darüber angestimmt wird oder über den heute in der
„Bild“-Zeitung in einer großen Anzeige zu lesen ist, ist
völlig unangebracht, denn Sie erreichen mit diesem Anstieg des Wachstums auf 2,5 Prozent gerade das Niveau,
das im letzten Jahr der Regierung Helmut Kohls in
Deutschland erreicht worden ist. Insofern gibt das überhaupt keinen Anlass zum Jubeln.
Der Jubel ist auch deswegen nicht passend, weil das
Wachstum völlig am Arbeitsmarkt vorbeigeht. Man
kann feststellen, dass die Zahl der Arbeitsplätze in
Deutschland sogar rückläufig ist. Es kommt nicht so
sehr auf die Zahl der Arbeitslosen an, sondern darauf,
wie viele Menschen in Deutschland arbeiten, Steuern
und Versicherungsbeiträge zahlen und unser Bruttoinlandsprodukt erwirtschaften. Das ist die entscheidende
Zahl.
Wenn ich die letzte verfügbare Zahl von November
1999 mit der Zahl von November 1998 vergleiche, dann
muss ich feststellen, dass die Zahl der Beschäftigten in
Deutschland um über 60 000 zurückgegangen ist. Meine
Damen und Herren, das ist kein Erfolg einer Arbeitsmarktpolitik. Deswegen sind wir strikt dagegen, dass
hier immer so getan wird, als wenn es nur auf die Arbeitslosenzahl ankäme. Wir richten stattdessen den Blick
auf das, worauf es tatsächlich ankommt, nämlich auf die
Zahl der Beschäftigten in Deutschland.
({4})
Wenn es möglich ist, in den Statistiken von 200 000
Arbeitslosen weniger zu reden, dann kann ich nur sagen:
Dies ist nichts anderes als der demographische Effekt,
der sich positiv für Sie auswirkt.
({5})
Ein kluger Nationalökonom hat einmal gesagt: Eine
Regierung tut schon viel, wenn sie nichts tut und die
Menschen in Ruhe arbeiten lässt. Wenn sich die Regierung Schröder daran gehalten hätte, wären wir auf dem
Arbeitsmarkt im vergangenen Jahr ein ganzes Stück vorangekommen. Dann hätten wir eine stärkere Senkung
der Arbeitslosenzahlen erreichen können und nicht nur
das, was sich im Umfang des demographischen Faktors
praktisch von allein eingestellt hat.
Dass das Wachstum am Arbeitsmarkt vorbeigeht,
liegt mit daran, Herr Minister Eichel, dass Sie den zweiten Teil der Voraussetzungen, die Sie für eine Verbesserung der Beschäftigungssituation aufzählen, nämlich neben verbesserten makroökonomischen Bedingungen
auch ein mutiges Anpacken nachhaltiger Strukturreformen durchzusetzen, nicht erfüllen. Es ist auch nicht
erkennbar, dass dies in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht
für das kommende Jahr geschehen soll.
Wo immer es geht, vermeiden Sie klare Worte zu
Strukturreformen. Dort, wo es möglich ist, versuchen
Sie, Strukturreformen zurückzunehmen. Dabei sind
Strukturreformen in Deutschland nichts Schlechtes. Sie
haben sich immer zum Guten ausgewirkt. Deswegen
möchte ich Sie ausdrücklich auffordern, in größerem
Umfang als bisher mutig Strukturreformen in Angriff zu
nehmen.
Ich will ein paar Beispiele nennen. Wir haben mit
dem Energiewirtschaftsrecht eine Senkung der Stromkosten für die Familien und die Betriebe erreicht. Jetzt
versuchen Sie, das zurückzunehmen. Sie fordern eine
höhere Vergütung für die Stromeinspeisung. Das bedeutet 0,4 Pfennig pro Kilowattstunde. Die Stadtwerke mit
KWK-Anlagen sollen 0,2 Pfennig zusätzlich bekommen.
Für die ostdeutsche Braunkohle müssen 0,2 Pfennig bezahlt werden, die Ökosteuer macht 4 Pfennig noch einmal obendrauf. Wenn ich das alles zusammenpacke,
meine Damen und Herren, dann ist das, was wir an Entlastung für die Familien im Umfange von 400 DM pro
Jahr bei den Stromkosten erreicht haben, fast schon wieder aufgefressen worden.
Das bedeutet, dass durch diese klammheimliche Politik eine Belastung der Bürger verursacht wurde, die mit
einem Volumen von 15 bis 20 Milliarden DM einen höheren Betrag erreicht als eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Punkt, eine Belastung, die - ohne
dass es von der Öffentlichkeit so richtig gespürt wird 0,2-Pfennig-weise den Bürgern abverlangt wird. Meine
Damen und Herren, das ist nicht unsere Politik.
({6})
Ich erinnere bei den Strukturmaßnahmen, die wir erfolgreich durchgeführt haben, an die Absenkung der Telefonkosten. Wir entlasten den Haushalt damit um rund
300 DM pro Jahr. Die Liberalisierung des Versicherungsmarktes hat die Haushalte im Schnitt um 100 DM
entlastet. Wenn ich das alles zusammenzähle, bin ich bei
einer Entlastung von 800 DM pro Jahr für den Ledigen.
Jetzt vergleichen Sie das einmal mit Ihrer großartig
angekündigten Steuerreform. Ich habe aus Ihren Tabellen herausgesucht, dass die Steuerreform bei einem ledigen Durchschnittsverdiener mit einem Einkommen von
40 000 DM pro Jahr in den Jahren 1999 und 2000 zusammengefasst eine Entlastung von 614 DM ergibt. Das,
was Sie nebenbei einfach durch diese Maßnahmen,
durch das Zurückführen von Strukturmaßnahmen, die
erfolgreich durchgeführt worden sind, den Bürgern wieder wegnehmen, liegt weit darüber.
Diese Beispiele zeigen, dass das Aufbrechen von
Verkrustungen und die Einführung von marktwirtschaftlichen Elementen immer Vorteile für alle Beteiligten
bringt. Deswegen muss es auch sein, dass wir Verkrustungen im Arbeitsrecht, auf dem Arbeitsmarkt, im Sozialversicherungswesen mutig angehen und zu einem stärkeren marktwirtschaftlichen Rahmen auch auf dem Arbeitsmarkt kommen.
({7})
Dazu zähle ich zum Beispiel auch eine Überarbeitung
unseres Tarifrechts.
({8})
Bundeskanzler Schröder hat das inzwischen ja auch erkannt, als er selber bei den „Gerhard, Gerhard!“Demonstrationen bei Holzmann sagte, dass man in einem Zusammenspiel zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung durchaus darauf hinarbeiten muss, das
Günstigkeitsprinzip sozusagen neu zu regeln. Ich kann
dazu nur sagen: Das, was für einen von 8 000 in Schwierigkeiten geratenen Baubetrieben gelten darf und richtig
ist, das muss auch generell für die anderen Betriebe mit
gelten.
({9})
Deswegen plädieren wir nachdrücklich dafür, dass dieses hier vorgenommen wird.
Im Übrigen wird jetzt langsam klar, was eigentlich
bei Holzmann vor sich geht. 5 500 Arbeitnehmer werden
dort ihren Arbeitsplatz verlieren. Sie werden das Unternehmen verlassen.
({10})
Man kann wirklich jetzt nur sagen: Die großartige Demonstration, bei der 5 500 Arbeitskräfte jubelnd „Gerhard, Gerhard!“ gerufen haben, ist wahrscheinlich die
Einzige gewesen, die ich kenne, bei der die Arbeiter, die
aus ihrem Unternehmen entlassen werden, auch noch
gejubelt haben. Aber mit Fernsehevents - so ist eben die
ganze Politik bei Ihnen aufgebaut - lässt sich leider
nichts erreichen.
({11})
Meine Damen und Herren, der Bundesregierung fehlt
der Mut zu echten Strukturreformen für mehr Beschäftigung.
({12})
Deswegen ist es kein Wunder, dass der Jahreswirtschaftsbericht trotz guter weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen von einem erheblich niedrigeren Beschäftigungswachstum als in den übrigen 15 EU-Staaten ausgeht. Schon 1999 lagen wir weit unter dem EUDurchschnitt. Wir haben in Deutschland im vergangenen
Jahr ein Wachstum der Beschäftigung von 0,3 Prozent
gehabt. Der EU-Durchschnitt lag viermal so hoch, bei
1,2 Prozent.
Jetzt zeigen die Grafiken in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht, dass sich diese Schere im Wachstum der Beschäftigung in den nächsten Jahren durch Ihre Politik
nicht nur nicht schließen wird, sondern dass sie sich sogar noch weiter öffnen wird. Ich muss wirklich sagen,
Herr Minister: Dieses ist das Verabschieden von einer
richtigen Arbeitsmarktpolitik.
Sie erklären mit diesem Jahreswirtschaftsbericht, dass
Sie es nicht schaffen, in Deutschland eine solche Politik
zu betreiben, die darauf hinausläuft, dass in Deutschland
in dem gleichen Maße wie in den anderen europäischen
Ländern das Beschäftigungswachstum wieder zunimmt.
({13})
Damit schiebt die Regierung die Lösung der eigentlichen Aufgabe und des eigentlichen Problems, das wir
haben, wiederum auf die lange Bank. Gerhard Schröder
hat gesagt, er wolle sich jederzeit daran messen lassen,
ob er die Arbeitsmarktsituation in Deutschland verbessern kann. Diese Messlatte hat Gerhard Schröder selber
gerissen.
({14})
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Klaus Müller, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Brüderle, als Sie in Ihrer
Rede Walter Eucken zu zitieren anfingen, habe ich gedacht: Aha, einmal lauschen, was jetzt kommt.
({0})
Vielleicht wird er ja etwas zu dem Prinzip ordoliberaler
Wirtschaftspolitik sagen, nach dem nicht nur die Wirtschaft florieren muss, sondern auch der Staat für vernünftige Rahmenbedingungen sorgen muss. Leider
gab es eine Diskrepanz zwischen dem Zitat am Anfang,
mit dem ich durchaus viel anfangen kann - übrigens
auch die gesamte Koalition -, und dem, was Sie nachher
Stück für Stück aufzählten, zum Beispiel 630-MarkKräfte. Natürlich ist es für jede einzelne Person hart gewesen, die auf einen solchen Job verzichten musste. Aber im Sinne einer vernünftigen Wirtschaftspolitik, die
an volkswirtschaftliche Rahmenbedingungen und an die
Setzung eines vernünftigen Ordnungsrahmens denkt,
war diese Reform notwendig und richtig. Mit ihr haben
wir für vernünftige Rahmenbedingungen in der Wirtschaft zu gesorgt.
({1})
Herr Glos, Sie haben vorhin das Vorgehen bei Holzmann hart gegeißelt. Ich erinnere mich, dass neben dem
Kanzler noch eine zweite Person oben auf dem Podest
stand.
({2})
- Herr Wiesehügel? Nein, die Person hieß Roland Koch!
Mir ist ja bewusst, dass die CDU diese Person momentan am liebsten verstecken möchte. Aber zur Wahrheit
gehört, dass die hessische Landesregierung die Maßnahmen zur Rettung von Holzmann genauso mitgetragen hat wie die rot-grüne Bundesregierung.
({3})
Noch ein Satz zu meinem Vorredner: Herr Uldall, ich
habe diese Woche mit Interesse vernommen, dass Sie
sich auch für Höheres berufen fühlen und von Herrn
Rühe als Schattenminister für Schleswig-Holstein vorgeschlagen worden sind.
({4})
Schade, dass sich für Sie in zehn Tagen nichts ändern
wird und dass wir uns im März wieder im Bundestag sehen werden. Ich möchte Ihnen auch sagen, warum das so
sein wird: Schleswig-Holsteinerinnen und SchleswigHolsteiner haben ein feines Gefühl für soziale Gerechtigkeit. Ihr Vorschlag zu Beginn der Legislaturperiode,
Arbeitslose sollten im ersten Monat nach Verlust ihres
Arbeitsplatzes kein Arbeitslosengeld mehr erhalten, oder
Ihr Plädoyer für die Erhöhung der Zuzahlung zu Medikamenten machen Sie, glaube ich, in Schleswig-Holstein
nicht attraktiv. Damit können Sie in Schleswig-Holstein
keine Stimmen sammeln.
({5})
An dieser Stelle einen herzlichen Glückwunsch an
den Finanzminister in Schleswig-Holstein, Claus Möller,
und den Wirtschaftsminister Herrn Bülck; denn das
„Handelsblatt“ titelt heute: Schleswig-Holstein beim
Wirtschaftswachstum vorne! Schleswig-Holstein hat die
höchste preisbereinigte Wachstumsrate, die sogar noch
die von Bayern übertrifft, auf das Sie bei anderen Gelegenheiten so gerne hinweisen.
({6})
Insofern kann man sagen: Rot-Grün ist gut für Schleswig-Holstein und wird mit Sicherheit in zehn Tagen
auch wieder bestätigt werden.
({7})
Jetzt zum Thema ({8})
- das diskutieren wir in zwei Stunden, Herr Kollege; das
wird sehr spannend, und es wird sehr gut für uns ausgehen - Jahreswirtschaftsbericht. Das Klima wird freundlicher, zwar nicht hier im Saal - wir haben die Zwischenrufe gehört - und vielleicht auch nicht immer im
nasskalten Berlin der vergangenen Tage, aber zumindest
in den Führungsetagen der deutschen Unternehmen. Ich
darf nochmals das „Handelsblatt“ zitieren: Führungskräfte erstmals mit Standort zufrieden. In der Mehrheit
schätzen die vom „Handelsblatt“ befragten Führungskräfte das Wirtschafts-, Investitions- und Beschäftigungsklima optimistisch ein.
Auch mir sind die Veränderungen im Klima in den
Führungsetagen kleiner wie großer Unternehmen nicht
entgangen. Das ist wichtig für unser Land und sagt auch
etwas darüber aus, dass der Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt nicht nur auf der demographischen Entwicklungen beruht, sondern auch viel damit zu tun hat, welche Rahmenbedingungen Rot-Grün schafft. Dieser
Stimmungsumschwung liegt nicht allein an günstigen
Konjunkturaussichten; vielmehr hat das, was im „Handelsblatt“ „Standortklima“ genannt wurde, sehr viel mit
konkreter Politik zu tun, nämlich mit den Rahmenbedingungen, die Rot-Grün in den vergangenen anderthalb
Jahren geändert hat und die im Rahmen der morgigen
Diskussion über das vorliegende Konzept von Herrn
Minister Eichel und von der rot-grünen Koalition ausführlich beraten werden. Das heißt - ich glaube, dass
man auch heute schon ein bisschen ins Detail gehen
muss, gewissermaßen als Auftakt für die morgige DeGunnar Uldall
batte -, dass wir uns an ein paar Fakten orientieren müssen.
Herr Uldall hat vorhin nette Zahlenspielereien vorgeführt. Er sprach von einer Familie, die bei einem Jahreseinkommen von 40 000 DM nur um 600 DM entlastet
werden würde. Sie haben schlicht eine Komponente
vergessen: Wenn Sie von einer klassischen Familie ausgehen, dann müssen Sie bedenken, dass Kinder dazugehören. Allein die bereits beschlossene Kindergelderhöhung, die Ihre Fraktion übrigens teilweise belächelt und
am Anfang auch abgelehnt hat, bedeutet für jede Familie
mit zwei Kindern 1 200 DM mehr.
({9})
Dazu kommen die steuerlichen Entlastungen. RotGrün hat eine Steuerreform vorgelegt, die in drei Komponenten entlastet.
Die erste Komponente ist die Entlastung für die Körperschaften. Bei der Gelegenheit will ich einen Satz zu
Kapitalgesellschaften sagen. Gerade in CDU-Presseäußerungen wird es verwirrenderweise oft so dargestellt,
dass Kapitalgesellschaften per se die Großen und Personengesellschaften per se die Kleinen sind. Wenn man
sich junge, innovative Firmen auf dem Neuen Markt, im
Bereich von Technologie und Medien, anschaut, dann
erkennt man, dass es jede Menge Kapitalgesellschaften
gibt. Immer mehr Existenzgründerinnen und Existenzgründer fangen an, auch die Rechtsform der Kapitalgesellschaft zu wählen. Das heißt, unter Mittelstandsgesichtspunkten sind auch Reformen bei Kapitalgesellschaften im Bereich der Körperschaftsteuer notwendig.
Die zweite Komponente betrifft den Mittelstand. Ich
glaube, dass die Grünen gemeinsam mit ihrem Koalitionspartner an einer Mittelstandskomponente deutlich
beigetragen haben.
Die dritte Komponente ist eine weitere Entlastung
für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wenn
wir uns darüber unterhalten, wo es besonders notwendig
ist, in unserem Steuerrecht etwas zu verändern, dann
werden wir zu dem Ergebnis kommen, dass dies für den
unteren Eingangsbereich gilt. Noch vor einem Jahr haben wir den Niedriglohnbereich diskutiert. Wir haben
davon gesprochen, dass man einen Anreiz setzen muss,
eine Arbeit aufzunehmen. Was macht Rot-Grün? - RotGrün senkt den Eingangssteuersatz auf 15 Prozent. Damit wird gerade dort ein besonders wichtiges Signal gesetzt.
({10})
- Dazu komme ich gerne, Herr Michelbach. Ich finde es
schade, dass Sie nicht vor mir geredet haben; sonst hätte
ich dazu jetzt eine Menge sagen können. Ich will Ihre
Rede einmal vorwegnehmen und darauf eingehen.
Wenn wir die Signale von Herrn Merz vom Wochenende und des Hintergrundgesprächs, das Sie am Montag
geführt haben, richtig deuten, dann ist klar, dass Sie sagen: Rot-Grün macht eine gute Steuerreform;
({11}) - Ernst Schwanhold [SPD]: Sie sollten
der Karriere von Herrn Merz nicht schaden!)
die Wirtschaftsunternehmen bestätigen das. Daher übt
man sanften Druck auf die CDU aus. Hans Peter Stihl
hat gestern ganz deutlich gesagt: Wenn die CDU blockiert, wenn die CDU nicht mitmacht, dann erhöhen wir
den Druck, sodass die CDU gar nicht anders kann. Herr
Merz, in allen Ehren: Ich akzeptiere Ihr Angebot, in dieser Frage zusammenzukommen. Dass Sie sich auf uns
zubewegen, ist ein wichtiger Schritt.
Insofern gibt es nur noch einen einzigen Punkt, der
von der CDU/CSU an dieser Stelle streitig gestellt wird.
Es handelt sich um die Steuerbefreiung von Kapitalgesellschaften bei Beteiligungsveräußerungen. Herr Michelbach, ich will Ihnen sagen, warum ich das richtig
finde. Dafür will ich Ihnen drei Gründe nennen.
Der erste Grund: Das ist gut für Existenzgründungen
in Deutschland. Existenzgründerinnen und Existenzgründer bekommen zurzeit leichter Kredite. Daran haben viele rot-grüne Landesregierungen hervorragend gearbeitet. Für Beteiligungsgesellschaften, wie es sie im
angloamerikanischen Raum gibt, ist das aber schwierig,
weil sie in eine Kapitalgesellschaft eintreten und sie mit
Geld und Know-how mit aufbauen; aber wenn sie die
Kapitalgesellschaft später verlassen wollen, gab es immer ein Hemmnis. Darum ist die Absenkung an dieser
Stelle ein richtiger Schritt.
({12})
Der zweite Grund: Sie sagen ja immer, für die Staatskasse komme dabei nichts herum und wir verteilten zu
hohe Steuergeschenke. Gerade wenn die Unternehmen
in Zukunft von einem Körperschaftsteuersatz von
25 Prozent und von einer großzügigen, systematisch
korrekten Regelung bei den Beteiligungsveräußerungen
tatsächlich profitieren werden, dann wird sich der Wert
der Unternehmen erhöhen und die Dividenden, die ausgeschüttet werden, werden ansteigen. Gemäß der
Besteuerung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip wird
der Staat davon profitieren. Auch das ist ein Argument,
warum diese Reform schlichtweg richtig ist.
({13})
Der dritte Grund: Sie sagen, dass Personengesellschaften schlechter gestellt werden würden. Ich entgegne Ihnen ganz deutlich: Wenn Sie das Steuergesetz von
Rot-Grün richtig gelesen hätten, dann hätten Sie gemerkt, dass wir nicht nur ein Steuerschlupfloch geschlossen haben; vielmehr haben wir auch die Fünftelungsregelung eingeführt, sodass unter Rot-Grün gerade
kleine Personengesellschaften bis zu einem Gewinn von
einer halben Million DM weniger Steuern als unter
Schwarz-Gelb zahlen. Das heißt, die Reform ist zwischen Kapitalgesellschaften auf der einen Seite und Personengesellschaften auf der anderen Seite ausgewogen.
Klaus Wolfgang Müller ({14})
({15})
Zum Schluss würde ich gern noch einen Blick in
Richtung Europa bzw. OECD werfen, weil ich glaube,
dass wir die Steuerreform nicht zum Selbstzweck und
nicht nur mit Blick auf die Binnennachfrage machen das ist sicherlich auch richtig und wichtig -, sondern
auch deshalb, um die Steuersätze und den Grundfreibetrag wieder auf ein im internationalen Vergleich ausgewogenes Niveau zurückzuführen, ein Niveau das den
Leistungen, die der Standort Deutschland bietet, entspricht. Unternehmen zahlen ja etwas dafür, dass wir eine gute Hochschullandschaft, eine gute Wirtschaftsstruktur und Rechtsfrieden in Deutschland haben. Diese
Leistungen müssen mit der Höhe der Steuersätze in Einklang gebracht werden.
Wenn Ihre Wirtschaftspolitiker, sei es in Bayern oder
sonst wo, einmal einen Blick auf die Zahlen werfen,
werden sie feststellen, dass Rot-Grün sowohl im Eingangsteuerbereich als auch im Spitzensteuerbereich, im
Körperschaftsteuerbereich und beim Grundfreibetrag eine Position erarbeitet hat, die international wettbewerbsfähig, sozial gerecht und ausgewogen ist und Deutschland insgesamt nach vorne bringen wird.
Insofern gehe ich davon aus, dass wir darüber morgen
eine spannende Debatte führen werden. Im Bundestag
bekommen wir dazu vielleicht noch nicht Ihre Zustimmung, aber spätestens im Bundesrat werden auch die
CDU-regierten Länder einsehen, dass dieser Kurs vernünftig ist. Ich gehe davon aus, dass wir dieses dann
auch bis zum Sommer unter Dach und Fach bringen
werden.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulla Lötzer.
Frau Präsidentin! Kolleginnen
und Kollegen! Nach wie vor stützt sich Ihre Prognose
und die Hoffnung auf günstige Bedingungen vor allem
auf eine relativ stabile weltweite Konjunkturentwicklung
und auf Wachstum des Exports. Träger von Beschäftigungswachstum sind die Exportunternehmen jedoch
nicht, im Gegenteil: Gerade wegen des verschärften
Konkurrenzkampfes um Marktanteile auf dem Weltmarkt hatten die Unternehmen mit einer Außenhandelsabhängigkeit von mehr als 40 Prozent den größten Anteil am Beschäftigungsabbau. Auch der Bericht der Monopolkommission weist nach, dass die 100 größten,
weltweit tätigen Unternehmen einen überproportionalen
Anteil am Beschäftigungsabbau hatten.
Noch dazu hängt das Exportwachstum in hohem Maße von der amerikanischen Entwicklung ab: Wenn Sie
schon unsere Warnungen nicht beachten wollen, Kollege
Eichel, hören Sie doch vielleicht auf amerikanische Ökonomen wie Baldwin, Galbraith und Friedman, die sich
gerade jetzt mit einer Erklärung an die deutschen Kolleginnen und Kollegen gewandt haben, in der sie nachdrücklich vor der Entwicklung in den USA warnen. Sie
sagen: Die Konsumentenverschuldung ist, gemessen am
Anteil der verfügbaren Einkommen, 20 Prozent höher
als zu Zeiten des vorhergehenden Höhepunktes. Das
amerikanische Handelsdefizit ist explodiert. Der USAktienmarkt hat die Kurs-Gewinn-Relation auf mehr als
das Doppelte angehoben. Niemand kann sagen, wie oder
wann diese Trends umkippen, aber sie sind gefährlich,
zu gefährlich, meinen wir, um in dem Umfang, wie Sie
es tun, darauf zu bauen, dass diese Lage stabil bleibt.
Umso dringender sind nach unserer Auffassung Reformen, die der strukturellen Arbeitslosigkeit entgegenwirken und die Nachfrage auf dem Binnenmarkt
stärken. Im Mittelpunkt Ihrer Reformen steht die Steuerreform. Damit würden Arbeitsanreize verstärkt, Investitionen ermutigt und sogar soziale Gerechtigkeit wiederhergestellt, wie Sie sagen. Kollege Eichel, dass es in
diesem Land Vermögende gibt, deren privates Geldvermögen in den letzten Jahren auf 5,7 Milliarden DM gestiegen ist, darüber reden Sie seit dem letzten Parteitag
vielleicht nicht mehr. Aber zu sozialer Gerechtigkeit daran werden wir Sie weiterhin erinnern - gehört die
Einbeziehung von Vermögen in die Besteuerung.
({0})
Eine Entlastung aller angesichts des Zustandes, dass 16
Jahre lang hohe Einkommen entlastet wurden und sich
eine Lage höchster Verteilungsungerechtigkeit herausgebildet hat, ist und bleibt ungerecht und führt zur
Krise auf den Nachfragemärkten. Zur Stärkung der Binnennachfrage wäre hier eine sehr viel entschiedenere
Korrektur erforderlich.
Das Anhäufen großer Vermögen, die nicht mehr produktiv angelegt und steuerlich nicht abgeschöpft werden, auf der einen Seite und Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite sind zwei Seiten einer Medaille. Diese Geldanhäufung hat auch zum Regime des Shareholder-Value in den Betrieben mit seinen
verheerenden Folgen für Beschäftigung und soziale
Demokratie geführt. Sie hat einen gewaltigen Umstrukturierungsprozess ausgelöst. Statt Diversifikation gibt
es nun eine Konzentration auf das Kerngeschäft in
weltmarktorientierten Wertschöpfungsketten. Das wird
begleitet von Fusionen, Übernahmen, Outsourcing, Verlagerungen bis hin zur Schließung vieler Unternehmen.
Dies alles sind Prozesse, die zum Abbau von Beschäftigung geführt haben und führen werden sowie zur „Prekarisierung“ von Arbeit beigetragen haben und beitragen
werden.
Die Regierung sieht hier keinen Handlungsbedarf.
Wir schon! Eine Reform der Mitbestimmung, die ein
Vetorecht für Betriebsräte und Gewerkschaften bei Fusionen, Übernahmen, Verlagerungen und Schließungen
beinhaltet, halten wir im Interesse von Beschäftigung
und sozialer Demokratie für dringend geboten.
({1})
Die Senkung der Unternehmensteuern trägt unserer
Auffassung nach ebenso zu dieser Entwicklung, zur
Klaus Wolfgang Müller ({2})
Stärkung der Finanzmärkte und damit zur Zunahme der
Arbeitslosigkeit, bei. Der Anteil, des Ertrages den Unternehmen in Sachmitteln investieren, ist auf 54 Prozent
des Ertrages von Produktionsunternehmen gesunken.
Drei Viertel aller international tätigen Unternehmen
spekulieren selbst mit Derivaten, ein Viertel der Mittel
wird in Aktienkäufen angelegt.
Auch Produktionsunternehmen verlagern ihre Aktivitäten zunehmend in den Bereich Vermögenswirtschaft
und Spekulation. Dies sind zwei Gründe mehr, Vermögen endlich der Besteuerung zu unterziehen und von einer Senkung der Unternehmensteuern, die vor allem den
Konzernen mehr Geld in die Kasse bringt, Abstand zu
nehmen, wenn man strukturelle Reformen für mehr Beschäftigung will. Die vermissen wir in dem vorliegenden
Jahreswirtschaftsbericht noch deutlich.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ernst Schwanhold.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst an Herrn Glos wenden, der gesagt hat, er freue
sich, dass wir uns wieder der Sachpolitik zuwenden
können. Herr Glos, dies war nicht unser Problem. Wir
haben in den letzten Monaten eine gute Sachpolitik gemacht. Ihr Problem ist es, dass Sie sich daran nicht
beteiligen konnten.
({0})
Anders ist es auch nicht zu erklären, dass der Jahreswirtschaftsbericht 2000 ebenso wie das Sachverständigengutachten Folgendes belegt: Alle wirtschaftlichen Rahmendaten für das Jahr 2000 zeigen nach
oben, zeigen auf Erfolg, auf Wachstum und zusätzliche
Beschäftigung bei gleichzeitiger Preisstabilität und
Haushaltskonsolidierung. Es ist schon erstaunlich, dass
in dem vorliegenden Jahreswirtschaftsbericht - übrigens
anders als bei den von Ihnen in der Vergangenheit vorgelegten - von deutlich geringeren Wachstumszahlen
ausgegangen wird. Dies geschieht deshalb, um sich nicht
hinterher dem Vorwurf aussetzen zu müssen, man habe
diesen nach oben manipuliert. Deutsche Bank Research
und alle anderen Institute prognostizieren bessere Ergebnisse.
Ich habe mir einmal angeschaut, wie dies in der Vergangenheit war, als der Wirtschaftsminister, der meist
der F.D.P. angehörte, diesen Jahreswirtschaftsbericht
noch zu verantworten hatte. Da lagen die vorgelegten
Zahlen immer deutlich oberhalb der realen Zahlen.
({1})
Es ist also dem Finanzminister und dem Wirtschaftsminister dafür zu danken, dass sie mit Realismus an diese Sache herangegangen sind und die Rahmendaten so
gesetzt haben, dass sie auch eingehalten werden können,
damit nicht aus der jetzigen psychologisch positiven
Stimmung wieder eine Enttäuschung wird. Dies wäre
das Schlimmste, was der deutschen Wirtschaft passieren
könnte.
({2})
Es wurde der Vorwurf gemacht, dass wir noch nicht
alle Probleme gelöst haben. Dieser Vorwurf wurde auch
von Herrn Brüderle erhoben. Herr Brüderle, Ihre Rede
war meiner Meinung nach in weiten Passagen eine ausdrückliche Bestätigung der Politik der rot-grünen Koalition-ein Schelm, der irgendetwas dabei denkt. Ich gehe
einmal davon aus, dass dies ein Erkenntniszugewinn ist.
Ich fand Ihre Rede in den Teilen, in denen sie Kritik
enthielt partiell sogar berechtigt. Natürlich haben wir
noch eine zu hohe Arbeitslosigkeit. Aber, Herr Brüderle,
so schlecht kann Ihr Gedächtnis doch nicht sein: Sie
müssen sich doch daran erinnern, dass am Ende der Regierung, der Ihre Partei angehört hat, die Arbeitslosenzahlen deutlich höher als heute lagen, dass Sie uns diese
Probleme hinterlassen haben und dass wir, nebenbei
bemerkt, auch noch eine Haushaltskonsolidierung einzuleiten hatten, was ja keine leichte Aufgabe gewesen ist.
Was meinen Sie, wie es in diesem Land aussehen würde,
wenn wir die 82 Milliarden DM, die wir für Zinszahlungen auszugeben haben, für Strukturreformen, für Infrastrukturmaßnahmen sowie für Forschung und Technologie ausgeben könnten?
({3})
Ich möchte, wie sich das für eine Debatte gehört,
noch auf ein paar Rahmendaten eingehen und nicht allein die positiven Zahlen des Jahreswirtschaftsberichtes
wiederholen. Es wird ein künstlicher Gegensatz - wir alle neigen gelegentlich dazu - zwischen kleinen und
Großbetrieben aufgebaut. Ich möchte ausdrücklich
darauf hinweisen, dass mir die Großbetriebe, die wir in
der Bundesrepublik Deutschland haben, alle sehr willkommen sind, weil wir ohne diese Großbetriebe die
Spitzentechnologien in unserem Land nicht zu der Reife
hätten entwickeln können, die wir jetzt haben.
({4})
Es ist deshalb leichtfertig, so zu tun, als ob man nur
auf die kleinen Betriebe setzen könnte. Diese Betriebe
sind unendlich wichtig für die Beschäftigung. Aber die
Spin-offs, die sich von Großbetrieben zu Kleinbetrieben
ergeben, übrigens auch das Hereinholen von internationalem Kapital und insbesondere das Hereinholen von
neuer Technologie sind ganz wesentliche Elemente für
das Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum in den
nächsten Jahren. Wie anders können wir die Lücken in
der Biotechnologie, in der Informations- und KommuniUrsula Lötzer
kationstechnologie, die leider in Ihrer Regierungszeit
entstanden sind, eigentlich schließen?
Es ist eben nicht gut, wenn Mannesmann Orange
kauft, aber wenn sich ausländische Investoren auf dem
deutschen Markt nicht bewegen können. Natürlich müssen sich ausländische Unternehmen auf dem deutschen
Markt und deutsche Unternehmen auf internationalen
Märkten bewegen können. Es muss nur sichergestellt
sein, dass die Produktionsstandorte und die Kompetenzzentren dort bleiben, wo die Entwicklungen durchgeführt wurden. Darin liegt die Aufgabe - in diesem Punkt
gibt es keine Kritik - des Zusammenschlusses von Vodafone und Mannesmann.
({5})
Ich will auf das hinweisen, was bezüglich der kleinen
Betriebe erreicht worden ist. Die Landespolitik, aber
auch die Bundespolitik haben dabei eine wichtige Rolle
gespielt. Die Zahl von Unternehmensgründungen nimmt
endlich wieder zu, nicht nur in den Bereichen der neuen
Technologien, wie zum Beispiel in der Bio-, Umwelt-,
Informations- und Kommunikationstechnologie, sondern
auch in den klassischen Bereichen. Diese Entwicklung
ist gut und auch richtig, weil wir damit eine Neustrukturierung der Wirtschaft erreichen. Wir sollten darüber
froh sein und den Betrieben Mut machen, indem wir ihnen sagen: Ihr habt alle Chancen auf dem Binnenmarkt
und alle Chancen auf den internationalen Märkten; wir
werden euch dabei helfen, eure Zukunft zu finanzieren.
Wir sollten aber nicht behaupten, dass diese Maßnahmen nicht ausreichend seien, dass nicht genügend
getan werde und dass die Lage schlecht sei. Nein, diese
Unternehmer brauchen Mut, damit sie sich am Markt
bewähren können. Sie haben vor vielen Jahren schon
einmal die Konjunktur schlechtgeredet. Sie sollten nicht
noch einmal den gleichen Fehler machen. Im Übrigen
glaubt Ihnen niemand Ihre Kritik. Herr Henkel und andere sehen die Lage nämlich völlig anders.
({6})
Wenn es noch eines Indizes für die gute Entwicklung
bedarf, dann sind dies die jüngsten Zahlen, die uns vorgelegt worden sind. Es werden plötzlich 7 Prozent mehr
für Forschung und Entwicklung am Standort Bundesrepublik Deutschland ausgegeben. Man würde in diesen
Standort nicht investieren, wenn die Rahmenbedingungen so wären, dass man nicht die Früchte dieser Investition in Forschung und Entwicklung im eigenen
Land ernten und auf den Weltmärkten präsentieren
könnte. Die Hoffnung bezüglich des Weltmarktes wird
von der Tatsache getragen, dass wir in den vergangenen
Jahren die Lohnstückkosten durch Setzen der entsprechenden Rahmenbedingungen deutlich gesenkt haben.
Wir sind durch die Steuerreform und durch Strukturreformen, die wir eingeleitet haben, wettbewerbsfähiger
geworden. Insbesondere sind wir durch das Schaffen
verlässlicher Rahmendaten wettbewerbsfähiger geworden.
({7})
Ich will an dieser Stelle eine Bemerkung zu dem
Thema Kernenergie und Energieversorgung machen,
welches Sie immer wieder in die Debatte - es handelt
sich mittlerweile um eine Mammutdebatte - einbringen.
Wer der investierenden Wirtschaft verspricht, eine sichere Energieversorgung mit Hilfe der Kernkraft sei in
Europa und in der Bundesrepublik Deutschland möglich,
der lenkt sie auf einen falschen Pfad. Gegenwärtig gibt
es nämlich keine Akzeptanz für die Kernkraft. Weil es
diese Akzeptanz nicht gibt, haben wir eine neues Energieszenario mit Steinkohle und Braunkohle, mit alternativen Energieträgern und mit Energieeinsparung aufzubauen. Der Job des Bundeswirtschaftsministers ist es, im
Konsens mit den Unternehmen dafür zu sorgen, dass die
Energieversorgung in diesem Lande auf lange Zeit sichergestellt ist und dass wir Arbeitsplätze und den Energieproduktionsstandort Bundesrepublik Deutschland erhalten. Ihre Kassandrarufe dienen nicht dem Standort
und insbesondere nicht der Entwicklung dieses Marktes.
({8})
Die immer wieder aufgeworfene Frage der sozialen
Gerechtigkeit wird uns sicherlich in der Zukunft von
einer etwas anderen Seite beschäftigen. Ein Teil des
Hauses meint, dass nur Umverteilung soziale Sicherheit
gewährleisten könnte. Ich glaube, dass dies ein Modell
der Vergangenheit ist.
({9})
Soziale Sicherheit wird man sicherlich eher durch Brücken in den ersten Arbeitsmarkt, durch eigene Erwerbstätigkeit, bekommen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir auch jenen in bei uns leicht unterentwickelten Bereichen einen Anreiz geben, in den ersten Arbeitsmarkt zu gehen, diese Stellen und diese Arbeit anzunehmen. Das ist das eigentliche Erfolgsmodell, bei geringerem Wirtschaftswachstum zu einer höheren Zahl
von Beschäftigten zu kommen.
Zuruf des Abg. ({10})
- Herr Glos, machen Sie sich nichts vor: Jedes Land hat
eine eigene Tradition. Keiner sollte diese Tradition über
Bord werfen und wir sollten schon gar nicht so tun, als
ob wir den schwarzen Peter den Gewerkschaften zuschieben könnten. Diese haben eine äußerst große Verantwortung für die Entwicklung dieses Landes übernommen und sie sind in der Vergangenheit wichtiger
Partner wirtschaftlicher Entwicklung gewesen.
({11})
Sie werden dies mit dem notwendigen Maß an Flexibilität auch in Zukunft sein. Wer die Schwarz-WeißDebatte will, der will in Wahrheit den Abbau des Sozialstaates und nicht dessen Fortentwicklung.
({12})
Genau in diesem Bereich setzt das Bündnis für Arbeit an. Ja, man hätte sich wünschen können, dass es
schneller geht, übrigens auf beiden Seiten. Ich will die
Rufe des einen oder anderen Unternehmens- oder Verbandsvertreters nicht noch einmal zitieren, obwohl mir
das sogar aus dem Gedächtnis heraus nicht schwer fallen
würde; denn es brennt sich ein, wenn man ein halbes oder Dreivierteljahr in der Kritik ist. Ja, es hätte schneller
gehen können. Wer uns aber heute das Beispiel von Holland oder Dänemark vorhält, vergisst, dass deren Gesellschaften von Hause aus Konsensgesellschaften sind, die
einen langen Prozess hinter sich haben, in denen das
Wort des einen Partners gegenüber dem anderen Partner
auch noch gilt und in denen in den vergangenen 16 Jahren insbesondere das Wort der Politik verlässlich war.
Dass Ihr Wort nicht verlässlich war, hat Unsicherheit in
diese Gespräche hineingebracht. Sie sind es gewesen,
Kohl ist es gewesen, der dies mutwillig zerstört hat.
({13})
Was sollen Ihnen eigentlich die anderen Partner glauben? Nein, ich halte es für einen ausgesprochen gefährlichen Weg, sich hierher zu stellen und zu kritisieren,
insbesondere auch im Hinblick auf die internationalen
Signale. Damit will ich mich noch einem Punkt zuwenden, über den ich mich ausdrücklich freue.
Wir haben eine gute Exportkonjunktur. Wir sollten
alles tun, damit dieses so bleibt. Es wird übrigens
schwieriger werden, unsere Produkte und Dienstleistungen auf den Weltmärkten zu verkaufen, weil der Globalisierungsprozess voranschreitet.
({14})
Wir können dies am besten dann bewerkstelligen, wenn
wir die Binnenkonjunktur auch stärken.
({15})
Diese Binnenkonjunktur ist in den letzten zwei Jahren
durch die rot-grüne Regierung gestärkt worden,
({16})
weil wir nämlich eine Steuerreform gemacht haben, mit
der wir genau jene, die alles Geld, das sie haben, für den
Konsum ausgeben, mit mehr Geld ausgegeben haben.
Dieses Geld geht nicht in die Sparbücher.
({17})
Genau dies macht die Teilhabe für diejenigen aus, die
jeden Tag in die Fabriken und in die Verwaltungen gehen und am Ende des Monats auch einen Ertrag haben
sollen. Deshalb haben wir die Lohnnebenkosten gesenkt.
Deshalb haben wir die Steuern gesenkt, was übrigens
dazu führen wird, dass vom Jahre 2005 an ein Arbeitnehmerhaushalt mit vier Personen und einem Jahreseinkommen von 50 000 DM keine Mark Steuern bezahlen
wird. Dies ist der richtige Weg, damit sich Arbeit lohnt
und damit es sich nicht lohnt - auch bei jenen nicht, die
sich schon 50-mal beworben haben -, sich nur auf Sozialtransfer und Schwarzarbeit zu kaprizieren. Dies ist eine ernsthafte Gefahr, wenn man sich vergegenwärtigt,
dass 650 Milliarden DM oder gar 700 Milliarden DM
durch Schwarzarbeit umgesetzt werden. Das kann man
auch durch die Senkung um einen halben Mehrwertsteuerpunkt oder durch Senkung der Lohnnebenkosten
nicht beseitigen.
({18})
Schwarzarbeit wird immer preiswerter sein als Arbeit,
die im ersten Arbeitsmarkt geleistet wird. Wir müssen
die Anreize für Arbeit im ersten Arbeitsmarkt stärken.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert
[PDS]
Tun Sie nicht so, als ob dies nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betrifft. Wenn Sie schon kritisieren, dann sollten Sie auch dazu sagen, dass für manchen
Handwerksmeister der Satz gilt: Brauchst du eine Rechnung oder brauchst du keine? Auch das ist Schwarzarbeit, und diese halte ich für mindestens ebenso kritikwürdig, weil sie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
dazu zwingt, ihre Arbeitskraft billig zu verkaufen. Dies
kann nicht das Ziel sozialdemokratischer Politik sein.
({19})
Herr Glos, ich kann ja verstehen, dass Sie momentan
wenig Zeit haben, den Jahreswirtschaftsbericht zu lesen.
Ich hätte ihn an Ihrer Stelle auch nicht gelesen. Es gibt
ja jeden Tag so viel Spannendes an anderer Stelle zu lesen. Wenn Sie sich aber nach den Tagen der Hektik
wirklich einmal dem Jahreswirtschaftsbericht und der
wirtschaftlichen Entwicklung zuwenden, dann werden
wir uns möglicherweise in einem halben Jahr darüber
unterhalten müssen, welche weltwirtschaftlichen Risiken es gibt, wie es mit der Überbewertung des Yen aussieht und wie wir es erreichen können, den völlig unterbewerteten Euro in eine vernünftige Relation zum Dollar
zu setzen.
Aber dafür sind nicht die wirtschaftlichen Fundamentaldaten zum gegenwärtigen Zeitpunkt verantwortlich.
Ich glaube, es ist eine relativ kurzfristige Reaktion,
die sich bald harmonisieren wird, und ich glaube, dass
die Schwäche überwunden wird. Erste Signale gibt es
auch von großen staatlichen Reservebanken, die sagen,
sie wollen in den Euro investieren und teilweise aus dem
Dollar umschichten. Dies ist ein positives Signal. Wir
dürfen als Leitwirtschaftsnation in Europa nicht dazu
beitragen, dass der Euro schlechtgeredet wird. Wir sind
dauerhaft auf einen stabilen Euro angewiesen, der im
Außenwert so stabil sein muss wie im Binnenwert. Ich
bitte Sie sehr herzlich: Weisen Sie darauf hin, wie stabil
der Euro im Binnenwert ist, damit Sie nicht eine Verunsicherungskampagne gegenüber den Kleinsparern in die
Welt setzen. Das würde nämlich deren Investitionsneigung wieder reduzieren und nicht der Wirtschaft und der
Beschäftigung dienen. Vertrauen ist angesagt, gerade
auch in diesen Bereichen.
({20})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss einen ganz kurzen Dank an Sie richten. Ich habe
den einen oder anderen gelegentlich hart attackiert. Herr
Brüderle kann ein Lied davon singen. Der hat sich einmal bei mir beschwert. Ich fand es immer angemessen,
Herr Brüderle. Wer selbst zuschlägt, soll kein Glaskinn
haben. Auch den leicht vergifteten Glückwunsch von
Gunnar Uldall nehme ich so, wie ich ihn verstehe, in
Freundschaft entgegen. Gunnar, das geht auch weiter so.
Ich kann Sie nicht mit einer Abschiedsrede beglücken,
weil ich noch lange Zeit von der Bundesratsbank zu Ihnen reden werde. Ich freue mich darauf.
Herzlichen Dank.
({21})
Lieber Herr
Kollege Schwanhold, ich wollte gerade ankündigen,
dass das vorerst Ihre letzte Rede in diesem Parlament ist.
Sie haben aber zu Recht darauf hingewiesen, dass es die
letzte vermutlich nur in dieser Funktion war. Jedenfalls
wünsche ich Ihnen auch im Namen des Hauses für Ihre
zukünftige Arbeit in Nordrhein-Westfalen alles Gute.
({0})
Das Wort hat die Abgeordnete Dagmar Wöhrl.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Lieber Kollege
Schwanhold, auch von meiner Seite wünsche ich Ihnen
für Ihren persönlichen Lebensweg weiterhin alles Gute.
({0})
Ich glaube, wir haben immer gute Diskussionen im
Wirtschaftsausschuss geführt und werden sie auch zukünftig haben, wenn Sie hier auf der anderen Bank sitzen.
({1})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir haben heute
zum zweiten Mal einen Jahreswirtschaftsbericht vorliegen, den der Bundesfinanzminister verfasst hat. Lieber
Herr Minister Müller, ich bedauere wirklich sehr, dass
Sie es nicht geschafft haben, diesen wichtigen Bereich
wieder in Ihr Ressort zurückzuholen.
Das zeigt uns, welche Bedeutung diese Regierung der
Wirtschaftspolitik zumisst:
({2})
Die Wirtschaftspolitik ist bei Ihnen ein schmückendes
Beiwerk für Finanzpolitik einerseits, für Sozialpolitik
andererseits. Da braucht man sich nicht zu wundern,
wenn uns ein solcher Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt
wird, bei dem nicht sehr viel herauskommt.
({3})
Was war beim letzten Bericht 1999? Wachstumsprognose: 2 Prozent. - Voll daneben gelegen! Herausgekommen ist ein Wirtschaftswachstum von
1,4 Prozent, bei einem EU-Durchschnitt - ich bitte, genau zuzuhören - von 2,1 Prozent. Dann kann man sich
nicht darauf berufen, dass irgendwelche außenwirtschaftlichen Einflüsse daran schuld gewesen sein sollen.
Verantwortlich waren innenpolitische Fehlentscheidungen. Ich denke hier an die Rücknahme arbeitsmarktpolitischer Reformen noch im Dezember 1998. Ich denke an
das so genannte Steuerentlastungsgesetz, das den deutschen Unternehmen im Zeitraum 1999 bis 2002 rund 30
Milliarden DM mehr Belastung bringt. Ich denke an die
zum 1. April eingeführte Ökosteuer, die seitdem die
Energiekosten in die Höhe treibt, ohne irgendeinen umweltpolitischen Nutzen zu haben. Diese Steuer ist weder
öko noch logisch.
({4})
Sie ist sozial ungerecht. Es ist eine Umverteilung zulasten von Pendlern, Rentnern und Einkommensschwachen.
Was das Stärkste ist: Sie berufen sich dabei darauf,
diese Einnahmen zur Senkung der Rentenversicherungsbeiträge zu verwenden. Warum haben Sie dann
kein Junktim zwischen Steuererhöhung und Beitragssenkung in Ihrem zweiten Gesetz? Das fehlt in diesem
Gesetz!
Wenn man sich dann die Zahlen anschaut, stellt man
fest: geplante Einnahmen durch die Ökosteuer im Jahre
2003 38 Milliarden DM; die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge auf 19 Prozent bedeutet eine Entlastung um 20 Milliarden DM. Wo sind denn die 18 Milliarden DM Differenz hingekommen? - Die gehen in Ihren Haushalt, und das ist die Mogelpackung, die Sie
nach draußen verkaufen!
({5})
Ich denke auch an etwas anderes, nämlich an die
Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, die 700 000 Jobs vernichtet hat,
({6})
worüber sich - das verwundert mich wirklich sehr Herr Minister Riester anscheinend noch freut. Das ist eine sehr eigenartige Mentalität.
Lieber Herr Minister Müller, ich habe nachgelesen,
was Sie letztes Jahr zum Jahreswirtschaftsbericht gesagt
haben. Damals haben Sie angegeben, die Steuerreform
komme noch im Jahr 1999, und zwar mit einem reformierten Steuersystem mit einer Steuerbelastung der Unternehmen von höchstens 35 Prozent. Stattdessen haben
wir jetzt einen Gesetzentwurf mit einem steuersystematischen Murks auf dem Tisch liegen, einen Entwurf, der
mit Trippelschritten - ich möchte nicht sagen, dass es
nicht die richtige Richtung ist - vorangeht. Aber Sie
werden eines mit dieser Reform nicht erreichen, nämlich
das Ziel, das Sie sich gesetzt haben.
({7})
Ein ganz großes Manko dieser Reform ist vor allem,
dass Sie den Beschäftigungsmotor Mittelstand immens
krass benachteiligen.
({8})
Außerdem ist dieser Entwurf sogar in den Reihen der
Regierungskoalition nicht unumstritten.
Auch aus den 35 Prozent ist nichts geworden. Denn
selbst die von Ihnen bevorzugten Kapitalgesellschaften
kommen mit der von Ihnen bisher geplanten Unternehmensteuerreform auf eine Gesamtbelastung von circa 38
Prozent. Von Personengesellschaften, Freiberuflern und
Einzelkaufleuten will ich hier jetzt überhaupt nicht reden.
Hinsichtlich der Prognosedaten des Jahreswirtschaftsberichts ist Herr Minister Eichel schon vorsichtiger als sein Vorgänger. Er rechnet mit 200 000 Arbeitslosen weniger. Aber diese Zahl kannten wir schon. Das
war nämlich die Zahl der Bundesanstalt für Arbeit,
({9})
die - was auch hier heute schon erwähnt worden ist aufgrund des demographischen Faktors so prognostiziert
wird.
({10})
Denn es werden weniger Menschen in das Erwerbsleben
einsteigen, als Menschen aus Altersgründen ausscheiden
werden.
Wenn man an das denkt, was Herr Schröder damals
gesagt hat, nämlich dass er sich jederzeit am Rückgang
der Zahl der Arbeitslosen messen lassen werde, muss
man sagen: Dann muss er sich jetzt daran auch messen
lassen. Wir haben allein in dieser Legislaturperiode einen demographisch begründeten Rückgang von über 1
Million Arbeitslosen. Das heißt, diese Regierung müsste
bis Ende der Legislaturperiode eine Quote von unter 3
Millionen Arbeitslosen aufweisen. Erst dann hätten Sie
einen Erfolg, der auf Ihre Arbeit zurückzuführen wäre.
({11})
Wir haben eine Stagnation auf dem Arbeitsmarkt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierung. Diese
Stagnation kommt nicht von ungefähr. Bei Ihrem Kampf
gegen die Arbeitslosigkeit betreiben Sie eine Mangelverwaltung: Sie verteilen knappe Arbeit auf möglichst
viele Köpfe. Da mahnt der Sachverständigenrat vollkommen zu Recht dringend eine Reform der Arbeitsmarktordnung an, die darauf ausgerichtet sein muss,
den Arbeitslosen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. Er kritisiert die Allgemeinverbindlichkeit von
Tarifverträgen und fordert die Abschaffung von § 77
Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes sowie eine Reform des Günstigkeitsprinzips. Und er hat Recht. Die
bestehenden gesetzlichen Regelungen verhindern die
notwendigen betrieblichen und regionalen Bündnisse für
Arbeit. Da braucht man nicht erst einen Fall Holzmann,
um das festzustellen.
Was sagt die Bundesregierung in ihrem Jahreswirtschaftsbericht zu diesen zentralen Anliegen des Sachverständigenrates? Sie wischt sie einfach beiseite. Ich zitiere:
Die Prüfungen durch die Bundesregierung haben
ergeben, dass die Vorschriften nach wie vor erforderlich sind, um das Arbeitsrechtssystem zu erhalten.
Das ist der ganze Kommentar, den Sie dazu abgegeben
haben.
Sie haben aber noch etwas anderes in Ihrer Schublade. Es ist schade, dass Herr Kollege Riester jetzt nicht
da ist. Es gibt nämlich einen Vorschlag von den Gewerkschaften zur Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes. Das ist aber kein Vorschlag zu dringend notwendigen Flexibilisierungen. Stattdessen wird vorgeschlagen, die unternehmerischen Abläufe noch stärker in
ein Korsett einzuspannen und damit den Unternehmen
noch mehr Flexibilität wegzunehmen, noch mehr Mitbestimmung einzuführen sowie den Gewerkschaften ein
noch stärkeres Klagerecht einzuräumen. Wir sind sicher,
dass dieser Entwurf sehr bald hier auf dem Tisch liegen
wird.
Sie haben sich in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht bei
der Arbeitsmarktpolitik nicht an einer neuen Mitte, sondern - ich sage es ganz offen und klar - an einer alten
Linken orientiert. Sie haben seit Ihrem Regierungsantritt
den Mangel an Flexibilität noch verschärft. Das heißt,
wir haben nicht nur einen Stillstand, sondern wir haben
in diesem Bereich einen klaren Rückschritt.
Ich möchte noch ganz kurz Ihr Lieblingsprojekt, das
Bündnis für Arbeit, ansprechen. Am 10. Januar hat das
letzte Spitzengespräch stattgefunden. Herausgekommen
ist ein ziemlich nichtssagendes Papier, in dem von beschäftigungsorientierter Lohnpolitik die Rede ist. Der
Kanzler hat sich hierzu medienwirksam feiern lassen.
Aber schon zwei Tage später legt die IG Metall eine
Forderung von 5,5 Prozent Lohnerhöhung vor. Eine
schlimmere Demontage des Bündnisses kann es nicht
geben. Es ist ein eklatanter Widerspruch zu den Pseudovereinbarungen des Bündnisses.
({12})
Wenn Herr Schulte jetzt noch mitteilt, definitiv nicht
über Tarifpolitik sprechen zu wollen, sieht man den großen Fehler des Bündnisses. Der Sachverständigenrat
sagt zu Recht: Lohn ist die wichtigste Steuergröße auf
dem Arbeitsmarkt. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Arbeitsplätzen. Deshalb ist es widersinnig, dass man hier versucht, Lohn- und Tarifpolitik aus dem Bündnis auszuklammern.
Wir wissen ganz genau, dass unsere Nachbarn in ihren Bündnissen und ihrer Arbeitsmarktpolitik erfolgreich waren, indem sie langjährige moderate Tarifabschlüsse vereinbart und in ihrer Arbeitsmarktpolitik flexibilisiert haben. Aber dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierung, fehlt Ihnen der Mut.
({13})
Unsere Wirtschaft strahlt nicht so hell, wie Sie es
immer wieder darzustellen versuchen. Wir haben ein Risiko für unsere Konjunktur. Das sind die Löhne und die
Zinsen. Sie wissen, dass wir im europäischen und weltweiten Vergleich hinterherhinken. Wir haben einen Aufschwung, aber das ist ein importierter Aufschwung. Das
ist nicht Ihr Aufschwung, auch wenn sich der Kanzler
immer wieder als Aufschwungkanzler darstellt.
Zum Schluss möchte ich noch die Frage stellen: Was
boomt denn außer dem Export? Es boomen Hochtechnologien und Branchen, vor allem des Telekommunikationsbereiches, die wir gegen heftigste Widerstände von
Ihnen liberalisiert haben.
Frau Kollegin,
darf ich Sie darauf hinweisen, dass Sie schon zwei Minuten über die Zeit reden.
({0})
Ja. - Heute ernten Sie
die Früchte unserer Politik.
({0})
Sie machen keine Aufbruchstimmung, denn Ihre Wirtschaftspolitik kann nicht überzeugen und Ihr Jahreswirtschaftsbericht auch nicht.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Mathias Schubert.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht
2000 hat in der Öffentlichkeit ein bemerkenswert positives Echo ausgelöst. Ich glaube, Herr Minister, dass diese
Voten der Öffentlichkeit für uns auch politisch viel
schwerer wiegen als das, was eine Opposition, die ohnehin kaum sprachfähig ist, uns ins diesem Bereich zu sagen hat.
Am bemerkenswertesten war für mich ein Satz eines
Kommentators der „Süddeutschen Zeitung“ vom 27. Januar. Ich zitiere:
Die rot-grüne Bundesregierung ist nicht der stetigen
Versuchung der Schönfärberei erlegen.
Wir haben es ja erlebt: Berichte zum Abfeiern der eigenen Großartigkeit führen, wie dieses Land in den 90erJahren erleben musste, zu Stillstand, zu Reformstau und
vor allen Dingen zu politischer Mutlosigkeit.
({0})
Selbstverständlich sind die Erwartungen bezüglich
einer positiven Entwicklung in der Wirtschaft und einer
endlich zurückgehenden Arbeitslosigkeit darauf zurückzuführen, dass unsere Reformprogramme zu greifen
beginnen, so zum Beispiel die Haushaltskonsolidierung,
die Steuerreform und auch das Bündnis für Arbeit. Aber
wir stehen - das ist ganz klar - erst am Anfang. Der
dauerhafte, der nachhaltige Erfolg dieser Politik wird
sich erst in den nächsten Jahren zeigen. Denn die Wiedergewinnung der Zukunftsfähigkeit in Deutschland
ist nicht mit einem Jahreswirtschaftsbericht zu schaffen;
sie erfordert Verantwortung auch und gerade über den
Tag hinaus. Deshalb sind all unsere Reformvorhaben als
langfristige Prozesse - über diese Legislaturperiode hinaus - angelegt.
Hinter dieser Strategie verbirgt sich aber noch mehr:
Unsere Politik ist auf Dialog angelegt, auf die Einbeziehung möglichst vieler bei der politischen Konsolidierung und Neuorientierung, und zwar gerade nicht im
Sinne eines einseitigen Lobbyismus, sondern orientiert
an dem, was zu nennen immer wieder wichtig ist, dem
Gemeinwohl.
({1})
Mir scheint, dass gerade in dieser Grundüberzeugung
dessen, was Politik bedeutet, was sie sein kann und sein
muss, ein wesentlicher Unterschied zu dem christsozialen und christdemokratischen Politikverständnis vor allem der letzten Jahre Ihrer Regierungszeit liegt. Wir verstehen Politik als Verpflichtung und Verantwortung zum
Gemeinwohl. Bei Ihnen hatte ich zunehmend den Eindruck, Sie betreiben Politik nach dem Motto: Der Staat
gehört uns.
({2})
Es ist wichtig, gerade bei so harten Faktenthemen wie
Wirtschaft und Finanzen auf diese grundsätzliche Motivation hinzuweisen; denn die Menschen haben ein
Recht, zu wissen, von welchen Überzeugungen sich diejenigen, die Politik zu verantworten haben, leiten lassen.
Der Realismus, der sich durch den Jahreswirtschaftsbericht zieht, kommt ebenso wie unser Wille zu gestalten auch in den Passagen, die Ostdeutschland betreffen,
zum Ausdruck. Wir müssen den vielschichtigen Realitäten ins Auge sehen und alle Ideologisierungen hinter uns
lassen. In diesem Sinne möchte ich im Einzelnen Folgendes sagen:
Am höchst erfreulichen Wirtschaftswachstum in diesem Jahr werden die neuen Länder - aufs Ganze gesehen - nicht gleichwertig Anteil haben. Das gilt auch für
die Rückführung der Arbeitslosigkeit. Doch die Wirtschafts- und Arbeitsmarktlandschaft in Ostdeutschland
ist zum Glück längst keine homogene Wüste mehr. Es
gibt Hochtechnologieregionen mit jährlichen Wachstumsraten zwischen 8 und 12 Prozent in den zukunftsorientierten Branchen und mit entsprechend relativ niedriger Arbeitslosigkeit, und es gibt Regionen, die nach
wie vor große Schwierigkeiten haben, überhaupt den
Sprung in die Konsolidierungsphase zu schaffen. Es gibt
Regionen, in denen ein massiver Arbeitskräftemangel
auf der ganzen Breite informationstechnologischer
Branchen herrscht, und es gibt solche, wo die Abwanderung hauptsächlich Jugendlicher deshalb so hoch ist,
weil sie keine beruflichen Perspektiven sehen.
Einerseits beschreibt der Jahreswirtschaftsbericht die
industrielle Basis Ostdeutschlands zutreffend als immer
noch zu schmal, andererseits erwarten nach einer Umfrage des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle vom
vergangenen Montag 70 Prozent der ostdeutschen Unternehmen in diesem Jahr Umsatzsteigerungen. Vor allem die Investitionsgüterindustrie rechnet mit einer Verbesserung des Geschäftsklimas.
Diese regionale Ausdifferenzierung bedingt eine entsprechende Wirtschaftspolitik. Das jahrelang angewandte Gießkannenprinzip wird der Situation überhaupt nicht
mehr gerecht. Darauf hat die Bundesregierung reagiert.
Neben die klassischen Förderprogramme treten mehr
und mehr Programme, die regionale Investitionskräfte
gezielt ansprechen. Als zurzeit vielleicht herausragendstes Beispiel - es ist nicht das einzige, wohl aber das bekannteste und wohl auch derzeit wirkungsvollste - nenne ich das Inno-Regio-Programm. Darin geht es um
die Förderung von regionalen Netzwerken aus Wirtschaft, aus Forschung, aus Wissenschaft und Bildung.
Eine der wesentlichsten Voraussetzungen für den Erfolg
dieses Programms ist, dass es die Selbstorganisation der
Akteure voraussetzt, ja fordert. Es geht um Eigeninitiative statt Druck von oben und Selbstorganisation statt
Amtsstubenbürokratie. Wie diese Chance zur Eigeninitiative auch diejenigen motiviert, die nicht prämiert worden sind, zeigt, welch große Bedürfnisse zur Bündelung
der eigenen Kräfte und welche Energien zur Kooperation bei vielen in Ostdeutschland vorhanden sind und nun
mit diesem und ähnlichen Programmen aktiviert werden.
Darin werden zunehmend nicht mehr chancenlose Wirtschaftsstrukturen alimentiert, darin wird zur Eigenverantwortung motiviert.
Diese Neuorientierung aus einem wachsenden eigenständigen Selbstbewusstsein heraus ist auch bei dem eher konservativen Förderinstrument Gemeinschaftsaufgabe zu beobachten. Seit 1996 gehen die neuen Bundesländer mehr und mehr dazu über, mit diesem Geld die so
genannten weichen Faktoren wie Aus- und Weiterbildung, Managementtraining, Unterstützung von Kooperation zwischen Forschung, Entwicklung und Wirtschaft
usw. zu fördern. Neben die Investitionsförderung tritt also - das ist wichtig und wird im Jahreswirtschaftsbericht
klar hervorgehoben - mehr und mehr die Förderung von
Innovation, die Förderung der Kooperation von Wirtschaft und Forschung sowie die Förderung von regionalen Bündnissen.
Solche Neuorientierungen erfordern natürlich politischen Mut - besonders den, sich vom Althergebrachten
zu verabschieden. Dieser Mut ist in unseren Strukturreformprogrammen für die neuen Bundesländer ganz eindeutig vorhanden.
({3})
Übrigens sind solche Neuorientierungen auch notwendig, weil zehn Jahre nach Herstellung der deutschen
Einheit auf die Tatsachen reagiert werden muss, dass die
Arbeitslosigkeit im Osten nach wie vor signifikant höher
ist als im Westen, dass die wirtschaftliche Leistungskraft
in den neuen Ländern immer noch bei nur ungefähr
60 Prozent des westlichen Vergleichswertes liegt und
dass es insbesondere im produzierenden Gewerbe und
im Dienstleistungsbereich erheblichen Nachholbedarf
gibt. Dieser Anpassungsprozess wird - machen wir uns
nichts vor! - noch Jahre dauern. Aber die Politik der
Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen - manifest geworden im Jahreswirtschaftsbericht 2000 - mit
der politischen Umorientierung weg vom Gießkannenund Alimentationsprinzip hin zur Förderung und Motivation der Selbstorganisationspotenziale und deren Entwicklungsmöglichkeiten ist genau der richtige Weg; auf
ihm muss weitergegangen werden.
({4})
Insofern gibt die Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht - realistisch anstatt jubelnd eingefärbt nicht nur den Istzustand wieder, sondern auch die künftigen Leitlinien für einen wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Erfolg auch und gerade in Ostdeutschland vor. Als ostdeutscher Abgeordneter kann ich dem
nur zustimmen und sagen: Wir werden von unserer Seite
natürlich alles tun, um die Bundesregierung auf diesem
Weg zu begleiten und zu unterstützen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hansjürgen Doss.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kollegen! „Arbeitsplätze schaffen - Zukunftsfähigkeit gewinnen“ lautet der hochtrabende Untertitel des Jahreswirtschaftsberichts. Er ist übrigens der zweite, der vom
Bundesfinanzminister vorgelegt wird. Das ist durchaus
bemerkenswert. Zwei Kollegen - Rainer Brüderle und
Dagmar Wöhrl - haben das in der Debatte schon angesprochen. Ein Wirtschaftsbericht gehört letztlich ins
Wirtschaftsministerium. Das ist doch das Wächteramt
der sozialen Marktwirtschaft.
({0})
Dort sollte die Kraft der Argumente, der Ordnungspolitik und des freiheitlichen Gedankenguts der sozialen
Marktwirtschaft angesiedelt sein.
({1})
Es ist bezeichnend, dass die SPD Wirtschaftspolitik zur
Finanzpolitik degradiert, also mit dem Geldbeutel
macht. Das bedeutet - so muss vermutet werden - keine
klare Konzeption, sondern die Steuerung über Staatsfinanzen.
Aber zurück zum Titel des Jahreswirtschaftsberichts:
große Worte, schwache Taten. Mit Rot-Grün wird es so müssen wir befürchten - keine neuen Arbeitsplätze
geben. Sie reden darüber, aber schaffen werden Sie keine.
Im Übrigen werden in erster Linie die Mittelständler
Arbeitsplätze schaffen. Das machen sie darüber hinaus
völlig alleine, wenn man ihnen die richtigen Rahmenbedingungen gibt. Diese richtigen Rahmenbedingungen
sind gefragt.
({2})
- Ich komme noch darauf. Ich weiß, Sie sind ungeduldig, wenn Sie meine Ausführungen hören, weil Sie einfach dazulernen wollen. Das kann ich gut verstehen.
Ihre Politik belastet den Mittelstand, hindert die Unternehmer an der freien Entwicklung, will nach wie vor
die Belastbarkeit der Wirtschaft testen und nutzt bestenfalls angeschlagenen Baukonzernen, denen Sie großzügige Staatsgarantien geben und Zuschüsse spendieren,
während Sie die Investitionen beim Mittelstand und die
Mittelstandsförderung großzügig kürzen.
Also: Das augenblickliche Wirtschaftswachstum ist
zu gering. Dem Aufschwung mangelt es an Breite. Er
wird weitestgehend am beschäftigungsintensiven Mittelstand, an den kleinen und mittleren Unternehmen, am
Handel, am Handwerk und an den freien Berufen vorbeigehen. Dort ist nach wie vor die große Flaute.
Für ein beschäftigungswirksames Wachstum ist es
dringend erforderlich, die Gesamtbelastung der kleinen
und mittleren Unternehmen deutlich zu reduzieren. Das
sagt nicht, wie man vermuten könnte, ein ewiger Nörgler der Opposition. Das sagt der Zentralverband des
Deutschen Handwerks - er ist im Übrigen der größte
Arbeitgeber in Deutschland -
({3})
in seiner Presseerklärung vom 26. Januar 2000.
({4})
Vielleicht sollten Sie auf die hören, die das tun, was wir
von ihnen erwarten, und nicht in Ihre eigenen ideologischen Gedanken zurückverfallen, die uns nicht weiterführen.
({5})
Der Aufschwung, den Sie laut reklamieren, ist stark
vom Export getragen. Wenigstens das sollte unstrittig
sein. Er steht nur auf einem Bein. Auf einem Bein zu
stehen ist immer eine wackelige Sache. Deswegen müssten Sie eine andere Politik machen. Sie tun das genaue
Gegenteil.
({6})
- Vielen Dank, liebe Kollegen. Ich sehe hohe Kompetenz und Sachverstand. Wenn meine Ausführungen
nachvollzogen werden können, ist das der Fall.
({7})
Schauen wir uns einmal die Mittelstandsförderung im
Bundeshaushalt an: 1998 gab es insgesamt 1,3 Milliarden DM im Einzelplan des Bundeswirtschaftsministers.
2003 werden daraus 620 Millionen DM. Das ist eine
glatte Halbierung. Das muss man sich vor Augen führen.
Die Förderung von Unternehmensberatung wird im Zeitraum von 1998 bis 2000 von 44 Millionen DM auf
34 Millionen DM gekürzt. Das ist ein Viertel weniger.
({8})
Ich komme zu Forschung und Entwicklung. Sie reden immer davon, das sei die Zukunftsfähigkeit. Was
tun Sie? - Sie reduzieren von 896 Millionen DM auf
680 Millionen DM im Jahr 2003. Dann ist da noch Ihre
Steuerreform. Darüber wird morgen noch zu reden sein.
Sie ist zu spät, zu zaghaft und hat zu wenig Entlastungswirkung.
({9})
Was ich ganz besonders toll finde - ich freue mich,
dass ich Ihre Aufmerksamkeit errege -, ist folgende Tatsache - das sollten Sie sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen -: 200 Milliarden DM mehr Steuereinnahmen bis 2005,
({10})
aber nur 43 Milliarden DM Steuerentlastung durch die
Reform. Wo ist da die Reform?
({11})
Uns Mittelständlern liegt besonders schwer im Magen: Die Steuerreform begünstigt die Körperschaften.
Die Unternehmen in Deutschland sind zu über 80 Prozent - der Kollege von den Grünen, den das beschäftigt
hatte, ist nicht mehr da, - Personenunternehmen oder
Einzelkaufleute. Sie zahlen weiter die hohen Einkommensteuersätze. Ihr Optionsmodell bringt da gar nichts.
({12})
- Hören Sie doch einmal zu. Sie können doch gar nicht
zuhören, wenn Sie dauernd reden.
Der bereits zitierte ZDH sagt, es wird nur 1 Prozent
dieser Personengesellschaften für die Körperschaftsteuer
optieren. Sollte es aber so kommen, dass sie optieren,
dann bedeutet das, es gibt einen Umbau unserer Unternehmenskultur: raus aus der Personengesellschaft, rein
in die Kapitalgesellschaft. Es ist eine qualitative Veränderung, die in Deutschland stattfindet.
Wenn nicht mehr der selbstverantwortliche, persönlich
haftende Unternehmer - er ist der SPD nach wie vor
suspekt -, sondern die anonyme Kapitalgesellschaft, am
besten noch unter Gewerkschaftskontrolle, zur Regel
wird, wie es Ihnen lieber ist, dann ist das eine qualitative
Veränderung in Deutschland.
Was wir brauchen, ist mehr Mut in der Steuerreform,
auch in der Debatte morgen. In der Länderkammer werden, so denke ich, die nötigen Korrekturen erfolgen.
Deswegen nur noch ein paar Bemerkungen zur Ökosteuer. Diese Steuer soll - das ist bereits angesprochen
worden - bis zum Jahr 2003 rund 38 Milliarden DM
einbringen. Die Beitragszahler werden aber nur mit
20 Milliarden DM entlastet. - Dagmar Wöhrl hat das bereits erwähnt, aber wichtige Dinge muss man immer
wieder sagen. ({13})
Die restlichen 18 Milliarden DM steckt der Bundesfinanzminister ein.
Die Entlastung beim Rentenbeitrag beträgt für den
Durchschnittsverdiener 25 DM im Monat, während die
Belastung durch die Ökosteuer für einen Durchschnittshaushalt 85 DM ausmacht. Eine achtköpfige Familie aus
Heidelberg wird deshalb gegen dieses Gesetz klagen.
Der Bundesverband des Groß- und Außenhandels überlegt sich eine Verfassungsklage, ebenso das Güterkraftverkehrsgewerbe - und das aus gutem Grund: Die Regierung bricht nicht nur ihr Versprechen, diese Steuer
voll zur Senkung der Beiträge einzusetzen, dieses Gesetz verstößt auch eklatant gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Grundgesetz. Zu diesem Sachverhalt liegen bereits Gutachten von Rechtswissenschaftlern vor.
Auch der von mir in dieser Frage angesprochene Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat in seiner
Antwort eine Fülle verfassungsrechtlicher Zweifel festgestellt.
Meine Damen, meine Herren, einige Schlaglichter:
Das produzierende Gewerbe wird ohne sachlichen
Grund gegenüber anderen Branchen bevorzugt. Es bezahlt nur rund 20 Prozent des Regelsteuersatzes. So ist
der Strom für die Säge im Sägewerk privilegiert, während der gleiche Strom für die gleiche Säge im Holzgroßhandelsbetrieb mit dem vollen Steuersatz belastet
wird. Der Strom in der Brotfabrik ist privilegiert, während der gleiche Strom für den gleichen Backofen beim
Bäckermeister mit dem vollen Steuersatz belastet wird.
Man muss einmal versuchen, das jemandem zu erklären!
Neben dem gebrochenen Versprechen der Verwendung der Erträge für die Senkung der Rentenbeiträge
und neben den verfassungsrechtlichen Problemen ist die
Ökosteuer drittens auch noch ökonomisch eine schwere
Last für die Betriebe. Beispiel Güterkraftverkehr: Schon
die erste Stufe brachte für einen durchschnittlichen
LKW Mehrkosten von 2 800 DM, während der Rentenbeitrag des Fahrers nur um 280 DM gesenkt wurde. Die
Entlastung beträgt also nur 10 Prozent der Belastung.
Diese Art von Politik führt nicht, wie im Jahreswirtschaftsbericht angekündigt, zu neuen Arbeitsplätzen,
höchstens zur Schwarzarbeit: In der relativ kurzen Zeit
Ihrer Verantwortung ist in diesem Bereich eine Steigerungsrate von 6,8 Prozent festzustellen. Der entgangene
Jahresumsatz ist von 548 Milliarden DM - Sie haben
das angesprochen, Herr Schwanhold - auf 640 Milliarden DM angestiegen. Das sind rund 16 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes. Das sollte uns große Sorge machen.
Durch die zweite Stufe dieser Ökosteuer wird die Belastung des angeführten LKWs bis 2003 auf mehr als
11 000 DM pro Jahr steigen - und das angesichts des
harten internationalen Wettbewerbs und eines offenen
europäischen Verkehrsmarktes. So wird die Ökosteuer
nicht nur zur Wachstumsbremse, sondern auch zum
Jobkiller.
({14})
Deswegen sollten wir einen Rat von den Amerikanern annehmen. Die sagen nämlich: Die beste Wirtschafts- und Mittelstandspolitik ist, wenn du, Staat, von
meinem Rücken gehst und deine Hand aus meiner Tasche nimmst.
({15})
Ich empfehle dieser Bundesregierung: Gehen Sie uns
Mittelständlern vom Rücken und nehmen Sie beide
Hände aus unseren Taschen. Dann wird ein Schuh daraus, dann wird sich ein Aufschwung einstellen und
dann bekommen wir auch wieder mehr Arbeitsplätze.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Nina Hauer.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht dokumentiert, was überall zu spüren ist: Wir haben in Deutschland mehr Beschäftigung und mehr wirtschaftliches
Wachstum. Grund dafür ist mit Sicherheit die erfolgreiche Politik dieser Bundesregierung:
({0})
das Zukunftsprogramm, die steuerlichen Entlastungen
und die aktive Beschäftigungspolitik, die insbesondere
für die junge Generation eine Perspektive bietet.
Wir haben aber auch ein neues wirtschaftliches
Klima in Deutschland.
({1})
Das liegt daran, dass wir nicht nur den Mut hatten, Veränderungen vorzunehmen, sondern auch die Veränderung der Zukunft zu gestalten. „Wirtschaftspolitik unter
Reformdruck“ hat deshalb der Sachverständigenrat das
erste Kapitel seines Jahresgutachtens 1999/2000 überschrieben. Ich denke, wir können das als Bestätigung,
als Ratschlag und Wegweiser für die Zukunft nehmen.
Es gibt in Deutschland weniger Firmenpleiten und eine richtige Gründerwelle von neuen, jungen Unternehmen, die als Botschafter eines Strukturwandels auftreten
und die Dienstleistungsgesellschaft zu einer Wachstumsgesellschaft machen. Das bedeutet auch mehr BeHansjürgen Doss
schäftigung. Zwar ist es richtig zu sagen, dass Rationalisierungsfortschritte Arbeitsplätze kosten können. In der
Dienstleistungsgesellschaft aber wird das nicht mehr in
dem bisher gekannten Maß der Fall sein. Deswegen
schauen wir auf eine Entwicklung, die uns mehr Beschäftigung bringen und das wirtschaftliche Wachstum
unterstützten wird.
Die jungen Unternehmen in Deutschland treten im internationalen Wettbewerb an. Sie verkaufen Dienstleistungen, sie transportieren Informationen, auch im Internet, und durchbrechen damit Monopolstrukturen. Sie
brauchen Freiräume für ihre ökonomische Entwicklung
und sie brauchen einen staatlichen Partner, der mit Beratung und Risikokapital zur Verfügung steht. Die Bundesregierung hat mit ihren Programmen und den Trägern
dieser Programme einiges geleistet.
({2})
Diese jungen Unternehmen werden auch von unserer
Steuerreform profitieren. Sie gehören zu denjenigen,
die von der Senkung der Einkommensteuer profitieren,
und sie gehören zu denjenigen, die davon profitieren
werden, dass mit dieser Steuerreform die Bildung von
Eigenkapital in Deutschland unterstützt wird. Mehr Eigenkapital und mehr Risikokapital in Deutschland heißt
aber auch, die Weichen für den Finanzplatz Deutschland
neu zu stellen.
Dabei ist das, was wir in den letzten Wochen im
Übernahmekampf von Mannesmann zu Vodafone erlebt
haben, mehr als ein unternehmerischer Krimi. Es ist
auch ein Wegweiser dafür, dass sich Strukturen verändern und wir auf einer gemeinsamen europäischen
Grundlage darüber nachdenken müssen, was bei uns in
Deutschland nötig ist. Nötig ist auf jeden Fall, dass wir
die Rechte unserer Aktionäre stärken. Nötig ist, dass wir
zu einem anderen Umgang mit Beteiligungen an Unternehmen finden. Übernahmen bieten Chancen für Unternehmen, aber auch für mehr Beschäftigung.
Selbstbewusste Aktionäre - das lehrt uns Amerika können Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sein, die
in wirtschaftspolitischen Entscheidungen mitreden. Dass
sich ein amerikanischer Gewerkschaftspensionsfonds in
die Übernahme einmischt und Mannesmann Tipps gibt,
was der beste Weg sein kann, wäre in Deutschland undenkbar. Es wäre nicht falsch, wenn wir uns auf die Frage konzentrierten, wie auch wir dahin kommen.
In diesem Zusammenhang muss ich ehrlich sagen:
Ich verstehe den bayerischen Konservatismus nicht, der
sich gegen die Steuerfreiheit von Gewinnen aus Beteiligungsveräußerungen richtet.
({3})
Sie müssen natürlich beachten, dass das Kapital, das in
Deutschland bei den Banken konzentriert ist, ein Moment ist, das mögliche neue ökonomische Entwicklungen im Dienstleistungsbereich und in anderen beschäftigungswirksamen Bereichen verhindert.
Die hohe Kapitalkonzentration bei den Banken war
eines der Probleme, die wir bei Holzmann kennen gelernt haben. Die Beweglichkeit von Beteiligungskapital
wird durch Steuerbelastung unnötig eingeschränkt.
Deswegen ist es richtig zu sagen, wir stellen diesen Bereich steuerfrei. Das ist nicht nur steuersystematisch und
steuerpolitisch richtig, sondern auch aus unternehmenspolitischen und damit auch beschäftigungspolitischen
Gründen richtig.
({4})
Es gibt ökonomische Veränderungen, die in ganz Europa bekannt sind. Es wurde Zeit, dass es in Deutschland
eine Regierung gibt, die den Mut hat, auch hier die Weichen für die Zukunft zu stellen. Das gilt auch für die
mittelständischen Unternehmen. Unser Mittelstand ist
zunehmend darauf angewiesen, auch innerhalb von Europa und gegen europäische Anbieter auf unserem Markt
konkurrenzfähig zu sein. Und er ist natürlich auch daran
interessiert, im eigenen Bereich konkurrenzfähig zu
sein. Da will man weniger Steuern zahlen und auch weniger Bürokratie haben. In beide Richtungen geht die
Bundesregierung mit ihrer Steuerreform. Sie wissen
ganz genau, auch wenn Sie immer das Gegenteil behaupten - der DIHT bestätigt es heute noch einmal offiziell -, dass der Mittelstand einer der Hauptprofiteure
unserer Steuerreform sein wird.
({5})
Die mittelständischen Unternehmen profitieren auch
von dem Abbau bürokratischer Vorschriften und sie profitieren auch vom Steuerentlastungsgesetz. Es gibt einige Dinge, die wir ihnen aus dem Kreuz genommen haben. Ich denke da zum Beispiel an die Auszahlung des
Kindergeldes. Das war eine Belastung für ein kleines
Unternehmen. Diese Belastung haben sie jetzt nicht
mehr.
In einem Klima, in dem sich Mut für die Zukunft
ausbreitet, Mut, neue Wege zu gehen, brauchen wir natürlich auch die Köpfe für die Zukunft. Insofern ist es
gut, dass im Jahreswirtschaftsbericht so großer Wert
darauf gelegt wird, einmal zu schildern, wie die Investitionen in diese Köpfe ablaufen, wie Qualifikationen in
den Branchen - gerade im Informationsbereich und in
der Kommunikationstechnologie - gefördert werden,
wie Ausbildungsgänge überarbeitet werden, wie überdacht wird, welche Qualifikation, welche Ausbildung
für die Zukunft notwendig ist, wie Qualifikationen im
Wettbewerb mit anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geleistet werden.
Dazu zählt natürlich auch die unbürokratischere und
schnellere Zulassung von neuen Berufen. Wir haben Beschäftigte in kleinen Computerunternehmen, bei denen
keiner weiß, welche Ausbildung sie eigentlich benötigen, wenn sie da arbeiten wollen. Das sind keine Industriekaufleute, das sind aber auch noch keine Informatiker. Da gibt es viele Möglichkeiten für Beschäftigung,
da sitzen junge Leute, aber auch ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die eine Bezeichnung für ihren
Beruf haben wollen, die dafür eine Ausbildung haben
wollen.
Auf diesem Gebiet hat die Bundesregierung Steine
aus dem Weg geräumt, die verhinderten, dass diese Berufe schneller anerkannt worden sind. Sie wird weiter
Steine aus dem Weg räumen, damit man in diesen Bereichen ohne komplizierte, jahrelange Verfahren, sondern mit einem guten Konzept in ein oder zwei Jahren
ausbilden kann.
({6})
Es wurde aber auch einiges für die Umsetzung von
neuen Produkten und neuen Ideen geleistet. Es sind
die großen Unternehmen, aber auch die mittelständischen Unternehmen, die in der Kooperation zwischen
Wissenschaft, ihrem eigenen Bereich und Forschung
neue Produkte und neue Dienstleistungen, neue Angebote erfinden. Sie zu unterstützen - ohne ihnen bürokratisch im Wege zu stehen -, und zwar nicht nur in
finanzieller Hinsicht, sondern auch überall dort, wo Moderation und Vermittlung zu leisten sind, war das Ziel
der Bundesregierung. Im Jahreswirtschaftsbericht können wir nun lesen, dass sie dieses Ziel auch erreicht hat.
({7})
Meine Damen und Herren, Investitionen in die Köpfe
heißt natürlich auch, dass wir unsere Arbeitsmarktpolitik
an dem orientieren, was nötig ist. Es nützt nichts, darüber zu jammern, dass irgendeine Entwicklung in einem bestimmten Bereich, in einer Branche dazu führen
wird, dass durch Rationalisierung oder andere Dinge
Arbeitsplätze verloren gehen. Wir werden das nicht aufhalten können und verbieten können wir es auch nicht.
Was wir machen können, ist, den Menschen die Unterstützung zu geben, sich für neue Aufgaben zu befähigen,
in neuen Bereichen Fuß zu fassen und einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Das verstehen wir unter aktiver Arbeitsmarktpolitik: dass ein Staat auch als ein aktivierender Staat auftritt. Ich denke, dass das der richtige Weg
ist, um auch diejenigen, die nicht zu den Gewinnern einer neuen ökonomischen Entwicklung und neuer Strukturen gehören, daran teilhaben zu lassen.
Meine Damen und Herren, im Jahreswirtschaftsbericht 2000 ist zu lesen, was wir nicht erst seit einer Woche, sondern schon länger auch in allen Zeitungen lesen
können und auch überall spüren: Wir haben in Deutschland mehr wirtschaftliches Wachstum, wir haben mehr
Beschäftigung. - Es ist klar: Die rot-grüne Koalition
gestaltet die Zukunft.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Michelbach.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Aus dem
Jahreswirtschaftsbericht 2000 ergibt sich für uns die
vordringliche Aufgabe, eine langfristige und nachhaltige
Sicherung des sozialen, ökonomischen und ökologischen Wohlstandes für uns alle zu entwickeln. Dabei ist
die Euphorie der Bundesregierung, die wir heute gehört
haben, nach meiner Ansicht völlig fehl am Platze.
({0})
Aus der zutreffenden Diagnose des Sachverständigenrats
ziehen Sie immer wieder falsche Schlussfolgerungen.
({1})
Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Illusionen, falsche Versprechungen und Weichenstellungen
haben das letzte Jahr zu einem verlorenen Jahr für die
Wirtschaft gemacht
({2})
und haben die Nettoumsatzrentabilität der mittelständischen Betriebe sinken lassen.
Herr Müller, ich kann nicht nachvollziehen, wie Sie
feststellen können, dass die rot-grüne Politik bei der
mittelständischen Wirtschaft an Sympathie gewinnt.
Ich kann Ihnen nur sagen: Eine Umfrage zeigt,
90 Prozent von 2 500 mittelständischen Betrieben halten
die derzeitige Politik für mittelstandsfeindlich. Sie sind
der Auffassung, die gesamtwirtschaftliche Erholung
schlage sich nicht in der mittelständischen Wirtschaft
nieder. Insbesondere die Mittelstandsfeindlichkeit der
rot-grünen Wirtschafts- und Steuerpolitik verhindert
auch mehr Wirtschaftsdynamik. Zwar beschleunigt sich
das Tempo der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, vor
allem im Lichte der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, aber 2,5 Prozent Wirtschaftswachstum ist keine
Richtgröße, die zum Jubeln Anlass gibt. Bei richtiger
Weichenstellung zugunsten einer mittelstandsfreundlichen Politik ist angesichts der weltwirtschaftlichen
Rahmenbedingungen hier erheblich mehr möglich.
Nach dem selbst ernannten Weltökonomen Lafontaine haben Sie sich, Herr Bundesfinanzminister Eichel,
nun das Image eines großen Modernisierers zugelegt. In
Wahrheit haben Sie eine neue und besser gestylte Tarnkappe aufgesetzt. Sie waren immer der Blockierer. Wir
wären erheblich weiter, wenn Sie nicht blockiert hätten,
insbesondere bezüglich der Arbeitsplätze und insbesondere bezüglich der mittelständischen Wirtschaft. Heute
entwickeln Sie sich, Herr Eichel, vornehmlich zum Mittelstandsvernichter und zu jemandem, der die Wirtschaft
teilt. Ihre Politik der Ungleichbehandlung von Personenund Kapitalgesellschaften sowie der Tarifspreizung bei
der Körperschaft- und Einkommensteuer ist Steuerwillkür und Steuerungerechtigkeit. Das ist ein Mittelstandsvernichtungsprogramm. Das muss ich Ihnen, Herr
Eichel, deutlich sagen.
({3})
Rot-Grün hat keine ganzheitliche Konzeption für eine effiziente Wirtschafts- und Finanzpolitik.
({4})
Statt einer langfristigen Sicherung durch eine effiziente
Renten- und Gesundheitsreform gibt es zweifelhafte
Subventionen von Lohnzusatzkosten durch die Ökosteuer. Damit wird die Steuer- und Abgabenquote insgesamt
nicht gesenkt, sondern erhöht. Das ist für die Kostenfaktoren unserer Betriebe und für die Schaffung von Arbeitsplätzen letzten Endes wesentlich.
Statt der Regulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes gibt es eine zweifelhafte Rationierung von
Arbeit durch die Rente mit 60, durch die bürokratische
Regelung der 630-Mark-Jobs, durch die komplexe Regelung zur Scheinselbstständigkeit und durch die Rücknahme von Reformen.
Statt kurzfristiger Steuerentlastung der Wirtschaft
gibt es Scheingewinnbesteuerung, Behinderung der Investitionen durch hohe Gegenfinanzierungen und neue
AfA-Tabellen. Die Umsetzung der Steuerreform wird
auf das Jahr 2005 hinausgezögert. Bis 2005 werden
200 Milliarden DM mehr an Steuern eingenommen werden. Trotzdem wollen Sie 43 Milliarden DM an Steuerentlastungen als den großen Wurf für die Wirtschaft in
Deutschland darstellen. Da sind Sie auf dem falschen
Weg!
({5})
Statt klarer Vereinbarungen über eine beschäftigungsorientierte, längerfristige Lohnpolitik erleben wir eine
zweifelhafte Show beim Bündnis für Arbeit, das ein
Nullsummenspiel für die Arbeitslosen ist.
Statt einer Begünstigung von Betriebsübernahmen
und Existenzgründungen gibt es mittelstandsfeindliche
Belastungen durch Erhöhung der Erbschaftsteuer sowie
Abschaffung des halben Steuersatzes bei Betriebsveräußerungen und Aufgaben von Personengesellschaften.
Statt einer wirklichen Modernisierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik erleben wir - das müssen wir
sehr ernst nehmen - einen schädlichen Wertverfall des
Euro. Die Tatenlosigkeit der Bundesregierung beim
Wertverfall des Euro-Kurses muss uns mit größter Sorge
erfüllen. Der butterweiche Euro wird von Ihnen geradezu begrüßt. Es ist eine Fehleinschätzung zu meinen, der
Verfall des Euro-Außenwertes würde letzten Endes die
Notwendigkeit zu Reformen in irgendeiner Weise vermindern.
Der anhaltende Verfall des Euro führt zu einer Verschlechterung des Preisklimas und zu steigenden Zinsen,
die wiederum die Investitionen verteuern. Das führt dazu, dass weniger Arbeitsplätze entstehen. Der EuroRaum wird für ausländische Anleger aufgrund der stetigen Entwertung der Währung unattraktiver. Wegen der
vorhandenen Unsicherheit und der Angst, dass sich die
Investitionen durch die Abwertung nicht rentieren,
wird grundsätzlich weniger investiert. Kapital fließt an
Deutschland vorbei. Die Situation ist so, weil in anderen
Ländern wesentlich höhere realwirtschaftliche Renditen
erzielt werden.
Ausländische Investoren meiden unseren Investitionsstandort, weil keine stabilen, optimistischen Erwartungen vorhanden sind. Die Folgen sind weniger Arbeitsplätze und Wohlstandsverluste. Der Markt lässt sich
auch von Ihrer Rhetorik, Herr Eichel, nicht überlisten.
Tatsache ist, dass wir inzwischen einen Wertverfall des
Euro haben. Das ist der Beweis, dass Sie eine falsche
Wirtschafts- und Finanzpolitik betreiben.
Außerdem besteht das Risiko, dass vor dem Hintergrund negativer Preissignale durch die Verteuerung der
Importe von den Gewerkschaften hohe Lohnforderungen
gestellt werden, die sich beschäftigungsfeindlich auswirken können. Dies wird schwerwiegende Folgen für
die Wirtschafts- und Finanzpolitik haben - ich hoffe,
dass Sie dies ernster nehmen -: Liquiditätsprobleme in
den Betrieben, Insolvenzen und - für eine große Zahl
der Arbeitnehmer - Arbeitsplatzverluste.
Ein schwacher Euro-Kurs ist letzten Endes Ausdruck
dieser Entwicklung. So kann man unsere Wirtschaft
nicht erneuern. Es genügt nicht, immer nur von Modernisierung zu sprechen. Ihre Gesetze sprechen gegen
Modernisierung. Lassen Sie Ihren Worten endlich Taten
folgen und modernisieren Sie unsere Wirtschafts- und
Finanzpolitik in der Weise, dass durch eine Steuerreform wirklich Nettoentlastungen von 50 Milliarden DM
bis zum Jahr 2001 herbeigeführt werden.
Die Vorschläge der CDU/CSU liegen auf dem Tisch.
Wir stehen für eine Steuerreform, die alle, Arbeitnehmer
und Arbeitgeber, entlastet, damit Nachfrage schafft, Investitionen fördert und uns in Deutschland insgesamt
weiterbringt.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Fritz Schösser.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Michelbach, wenn Sie Ihre Rede zum Jahreswirtschaftsbericht 1998 gehalten hätten, dann hätten Sie sogar Applaus von mir bekommen. Zum Jahreswirtschaftsbericht
2000 ist sie leider nicht mehr sehr angebracht. Ich will
ein paar Äußerungen zitieren, die aus Ihren Reihen zum
Jahreswirtschaftsbericht 1998 gemacht worden sind:
Wenn Rot-Grün ans Ruder kommt, bekommen wir
eine Regierung, die alles andere als wirtschaftsfreundlich ist.
Heute fordert Stihl den Rücktritt von Koch und die
Wirtschaft lobt die Unternehmensteuerreform - Recht
hat sie damit.
({0})
Weiter wurde damals in der Debatte - vollmundig; mit
diesem Wort beginnt auch das Zitat - gesagt:
Vollmundig will jetzt die SPD im Rahmen ihrer
Steuerreform eine Durchschnittsfamilie mit zwei
Kindern um rund 2 500 DM pro Jahr entlasten.
Dies ist reine Augenauswischerei.
Wir haben nicht nur unser Versprechen gehalten;
vielmehr haben wir es übererfüllt. Wir haben Sie und Ihre Demagogie Lügen gestraft. Wir haben nachgeholt,
was Sie in diesem Hause eineinhalb Jahrzehnte versäumt
haben.
({1})
Im Vergleich zu 1998 ist eine vierköpfige Familie mit
einem durchschnittlichen Einkommen heute um rund
2 200 DM besser gestellt. Bis zum Jahr 2005 soll die
Entlastung auf mehr als 4 300 DM steigen. Im Übrigen
sage ich gerade Ihnen als Unternehmer, Herr Michelbach: Wir haben für Nachfrage gesorgt. Sie haben ein
Hotel und ein Kaufhaus. Wenn Familien mehr Kaufkraft
haben, klingelt doch bei Ihnen die Kasse. Warum beschweren Sie sich denn eigentlich jetzt hier an dieser
Stelle im Bundestag?
({2})
Meine Damen und Herren, nach all den Skandalen
der letzten Wochen kann ich nur sagen: Es wäre nicht
auszudenken, wenn die heutige Opposition noch an der
Regierung wäre. Gott sei Dank haben wir eine andere
Bundesregierung. Diese Bundesregierung saniert endlich
konsequent den Staatshaushalt, statt auf Kosten der
Haushalte von Klein- und Mittelverdienern steuer- und
finanzpolitische Klientelpolitik zu betreiben und sich dafür auch noch einen goldenen Handschlag geben zu lassen.
Diese Bundesregierung sucht in einem Bündnis für
Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit den wirtschafts-, sozial- und beschäftigungspolitischen Konsens,
statt den Wirtschaftsstandort Deutschland kaputtzureden
und Arbeitslose als Drückeberger zu diffamieren.
({3})
Diese Bundesregierung fördert mit Investitionen in
Bildung, Forschung und Wissenschaft die Kreativität
und die Innovationsfähigkeit auch der Facharbeitnehmer
und der kleinen und mittleren Betriebe, statt bis zum
Sankt-Nimmerleins-Tag auf das Beschäftigungswunder
durch hoch subventionierte Großkonzerne zu warten, die
unter Ihrer Verantwortung über Jahre hinweg keine
Mark an Steuern bezahlt haben.
({4})
Diese Bundesregierung hat mit dem Investitionsprogramm für den Ausbau der Schienenwege, der Bundesfernstraßen und der Bundeswasserstraßen in den
Jahren 1999 bis 2002 trotz Sparzwangs endlich einmal
eine verlässliche, mittelfristige Finanzplanung zum Erhalt der Mobilität vorgelegt, anstatt mit dem - von der
Regierung Kohl geerbten - fahrlässig unterfinanzierten
Verkehrswegeplan weiter ein löcheriges Verkehrsnetz
zu häkeln. Sie haben viel versprochen, meine Damen
und Herren, aber in Fragen des Straßenbaus wenig
gehalten.
({5})
Mit dem Jahreswirtschaftsbericht 2000 stellt die Bundesregierung nicht nur eine überaus vorsichtige Projektion der wirtschaftlichen Entwicklung im laufenden Jahr
an, sondern legt über die wirtschafts-, sozial- und arbeitsmarktpolitischen Rahmensetzungen ihres ersten
Regierungsjahres Rechenschaft ab. Sie, meine Damen
und Herren von der heutigen Opposition, haben uns
schwere Altlasten hinterlassen, zum Beispiel eine unakzeptabel hohe Belastung des Faktors Arbeit durch Lohnnebenkosten, weil Sie die deutsch-deutsche Wiedervereinigung zu einem guten Teil über die Arbeitslosen- und
Rentenversicherung finanziert haben. Allein der Beitrag
der Rentenversicherung stieg zwischen 1991 und 1998
um 2,6 Prozentpunkte, nämlich von einem Beitragssatz
von 17,7 Prozent auf 20,3 Prozent.
Frau Wöhrl, zu Ihren Einlassungen zum Flächentarifvertrag kann ich nur sagen: Hören Sie sich einmal
um, was die mittelständischen Bauunternehmer in der
bayerischen Bauwirtschaft zum Flächentarifvertrag gerade vor dem Hintergrund des Falls Holzmann sagen.
Sie klagen diesen Flächentarifvertrag ein. Sie wissen
nämlich, dass Lohn kein taugliches Mittel für den Wettbewerb ist.
({6})
Außerdem wird es nicht angehen, dass ich mich als
DGB-Vorsitzender von Bayern mit dem bayerischen
Ministerpräsidenten auf die Tariftreue im Bausektor im
Rahmen des Beschäftigungspaktes verständige und Sie
hier Lohndumping betreiben. Da sollte die CSU endlich
einmal zu einer einheitlichen Linie finden.
({7})
Ihre so genannten Reformen in der Arbeitslosen-,
Renten- und Krankenversicherung hatten weder für
die Beitragszahler noch für die Leistungsempfänger
Vorteile, sondern nur Leistungskürzungen bei gleich
bleibend hohen Lasten für die Versicherten zur Folge.
Ihr Steuer- und Finanzchaos - ohne irgendeine beschäftigungspolitische Zielsetzung - hat Großkonzernen beim
Steuersparen geholfen. Damit aber noch nicht genug:
Sie haben diese Konzerne auch noch mit Subventionen
belohnt. Den kleinen und mittleren Unternehmen und
den privaten Haushalten haben Sie aber immer stärker in
die Tasche gegriffen und so dauerhaft eine tragfähige
Binnenkonjunktur unterminiert.
Wenn Teile des Mittelstandes nun beklagen, dass sie
in einer schwierigen Situation sind und durchaus große
Hoffnungen in die rot-grüne Koalition setzen, so frage
ich mich immer, wer eigentlich die hohen Belastungen
für den Mittelstand verursacht hat, die wir heute beklagen.
({8})
Ganz ohne Scheinheiligkeit können Sie das Steuerkonzept der Bundesregierung im Augenblick nicht kritisieren. Das traurige Ergebnis Ihrer Politik waren zuletzt
4,3 Millionen Arbeitslose, immer mehr Jugendliche ohne Berufsperspektive und immer mehr Menschen, denen
nach Verlust ihres Arbeitsplatzes - im Übrigen schon ab
Mitte des vierten Lebensjahrzehntes - kaum eine Rückkehr ins Arbeitsleben gelang.
Die neue Bundesregierung hat nicht nur ein schlüssiges Steuerkonzept auf den Weg gebracht. Sie hat daFritz Schösser
rüber hinaus in der Arbeitsmarktpolitik Sofortmaßnahmen ergriffen: Die Mittel für Maßnahmen der aktiven
Arbeitsmarktpolitik wurden deutlich erhöht und das
Arbeitsmarktförderungsinstrumentarium stärker auf die
Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit hin ausgerichtet. Das ist richtig so.
Die Ausgaben für eine aktive Arbeitsmarktpolitik
wurden von 39 Milliarden DM im Jahre 1998 auf
46 Milliarden DM im Jahre 2000 erhöht. Damit machen
wir unser Versprechen wahr und finanzieren Arbeit statt
Arbeitslosigkeit. Das ist die einzige effiziente Möglichkeit, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
({9})
Die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit war
und ist uns so viel wert, dass wir nun im zweiten Jahr
mit Mitteln in Höhe von 2 Milliarden DM Jugendlichen
zu einem Ausbildungsplatz, einer Arbeitsstelle oder einem Trainingsprogramm verhelfen. Wir wollen den jungen Menschen das Trauma eines gescheiterten Einstiegs
in das Erwerbsleben ersparen. Sie haben ihnen das über
viele Jahre hinweg nicht erspart.
({10})
Das sind übrigens Investitionen in die Zukunft, die
den Menschen dienen. Wir schwingen nicht lediglich die
Globalisierungskeule und wir lassen die Menschen mit
ihren Problemen nicht alleine. Wir werden mit aller
Kraft und Entschlossenheit der nationalen Schande, der
Arbeitslosigkeit, zu Leibe rücken und den geerbten arbeitsmarktpolitischen Schlamassel Ihrer Regierungszeit
überwinden.
Die Bundesregierung hat es sich nicht leicht gemacht
und ein Paket geschnürt, das den gestiegenen Anforderungen des globalen Wirtschaftens, der Belebung des
Binnenmarktes, der Nachhaltigkeit des Wachstums und
der sozialen Ausgewogenheit mit der Maßgabe des Abbaus der Arbeitslosigkeit entsprechen soll. Dieses Paket
enthält auch noch offene Fragen, Risiken und Maßnahmen; dies will ich nicht verschweigen.
So besteht für mich im Hinblick auf die künftige finanzielle Ausstattung der Kommunen noch Handlungsbedarf. Denn wer sonst als die Kommunen ist in der Lage, wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Feinarbeit zu
leisten und eine möglichst ausgewogene Entwicklung
zwischen den verschiedenen Regionen Deutschlands zu
ermöglichen? Das Schaffen einer auf Dauer tragfähigen
finanziellen Grundlage für die kommunalen Haushalte
wird daher weiterhin auf der politischen Tagesordnung
der Regierungskoalition oberste Priorität haben.
Von besonderer Bedeutung wird es sein, die Mittel
für investive Maßnahmen des Bundes wieder zu erhöhen. Es ist bedauerlich, dass das Schuldendesaster derzeit nicht mehr Spielräume zulässt.
Lassen Sie mich zum Schluss einen Appell an die
Adresse der Wirtschaft richten: Die Regierungskoalition gibt ihr einen riesigen Vertrauensvorschuss. Wir alle
können nun mit Recht erwarten, dass sie ihren eigenen
Beschwörungen der segensreichen Wirkungen eines
Rückgangs der Staatsquote Glauben schenkt und dies
mit einem gehörigen Zuwachs der eigenen Investitionsund Geschäftstätigkeit mehr als nur wettmacht. Ich warne die Wirtschaft davor, ihre Glaubwürdigkeit endgültig
aufs Spiel zu setzen, indem sie ihrer gesellschaftlichen
Verantwortung trotz hervorragender Rahmenbedingungen nicht nachkommt.
Ich habe aber größte Bedenken dahin gehend, dass
die deutschen Großkonzerne, Versicherungen und
Großbanken das Geschenk der Bundesregierung, nämlich den Verkauf von Unternehmensbeteiligungen steuerfrei zu belassen, auch nur im Ansatz zu würdigen wissen. Ich höre bisher leider keine Silbe von den Häuptlingen der Wirtschaftsverbände, welche Anstrengungen sie
zum Abbau der Arbeitslosigkeit in Deutschland leisten
wollen. Ich kann nur sagen: Es ist schön, dass die Unternehmensverbände jetzt die Bundesregierung für ihr
Unternehmensteuerkonzept loben.
Wie hat Herbert Wehner gesagt: Ihr Lob kann uns
nicht treffen. - Wir wollen jetzt Taten sehen. Sie sind
am Zuge, und zwar schnell. Dies sollte vor allem im
Rahmen des Bündnisses für Arbeit erfolgen. Meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich sehe das
ein wenig anders als Sie: Das Bündnis für Arbeit ist darauf ausgerichtet, dass Politik, Gewerkschaften und Arbeitgeber zu einem vernünftigen beschäftigungspolitischen Konsens kommen. Ich kann die Bundesregierung
nur ermuntern, auf diesem Weg weiterzumachen.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich schließe
damit die Aussprache.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
Technologie zu dem Bericht der Bundesregierung zum
Zwölften Hauptgutachten der Monopolkommission
1996/1997. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der
Unterrichtung durch die Bundesregierung, eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen?
- Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des Hauses mit Ausnahme der F.D.P., die da-
gegen gestimmt hat, angenommen worden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/2611 und 14/2223 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der
Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Druck-
sache 14/2721 soll an dieselben Ausschüsse wie der Jah-
reswirtschaftsbericht auf Drucksache 14/2611 überwie-
sen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Weiterhin wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/2707 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und zur
Mitberatung an den Finanzausschuss, den Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung und
den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union zu überweisen. Gibt es anderweitige Vor-
schläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 a bis 3 f so-
wie den Zusatzpunkt 3 auf:
3. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bauund Wohnungswesen ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Annette
Faße, Ulrike Mehl, Dr. Hans Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Gila
Altmann ({1}), Albert Schmidt ({2}), Angelika Beer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Optimierung des Sicherheits- und Notfallkonzepts für Nord- und Ostsee
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({3}), Dirk
Fischer ({4}), Kurt-Dieter Grill,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Folgerung aus der Havarie der „Pallas“
vor Amrum
- Drucksachen 14/281, 14/160, 14/483 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Michael Goldmann
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Jürgen Koppelin, Ulrike Flach und der Frak-
tion der F.D.P.
Bericht der Unabhängigen Expertenkom-
mission „Havarie Pallas“ unverzüglich
vorzulegen
- Drucksache 14/2454 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Ulrike Flach, Birgit Homburger, Hildebrecht
Braun ({5}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.
Nordseeküste schützen, Küstenwache einrichten, international besser zusammenarbeiten
- Drucksache 14/548 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit
Ausschuss für Tourismus
d) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({7}), Ulrich
Adam, Dietrich Austermann, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Schaffung einer Deutschen Küstenwache
- Drucksachen 14/1229, 14/2430 -
e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der Agrarstruktur und des
Küstenschutzes“ für den Zeitraum 1999 bis
- Drucksache 14/1634 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie/Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
f) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die
künftige Gestaltung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur
und des Küstenschutzes“ ({9});
hier: Rahmenplan 2000 bis 2003
- Drucksache 14/1652 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({10})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie/Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Annette Faße, Ulrike Mehl, Anke Hartnagel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Gila Altmann,
Albert Schmidt ({11}), Dr. Reinhard
Loske, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sicherung der deutschen Nord- und Ostseeküste vor Schiffsunfällen
- Drucksache 14/2684 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({12})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Faße.
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Das „Sicherheitskonzept
Deutsche Küste“ der ehemaligen Bundesregierung weist
eine Reihe von Schwachstellen auf. Darauf haben die
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
seit Jahren deutlich hingewiesen. Die notwendigen Änderungen am Konzept wurden jedoch in der Zeit von
Kohl, Wissmann und Co. nicht als notwendig betrachtet.
({0})
Ich zitiere aus der Antwort der alten Bundesregierung
auf eine Kleine Anfrage:
Die Bundesregierung bekräftigt ihre Auffassung,
dass die breite Palette der teilweise gemeinsam mit
den Küstenländern eingeleiteten Vorsorge- und Bekämpfungsmaßnahmen die Sicherheit und den
Schutz der maritimen Umwelt in der Deutschen
Bucht gewährleisten.
Jetzt frage ich mich: Sind die in den letzten Monaten
und im letzten Jahr vonseiten der CDU/CSU und
der F.D.P. vorgebrachten Anschuldigungen eigentlich
schlüssig? Ihre Anschuldigungen in den vergangenen
Monaten sind ein Bumerang. Er wird schneller wieder
bei Ihnen sein, als Sie es ahnen.
Unser Hauptkritikpunkt über die ganzen Jahre hinweg
war, dass das alte Konzept als Schwerpunkt die Bekämpfung der Folgen eines Schiffsunfalls und leider
nicht die Prävention hatte. Auf die Prävention war bisher nur zweitrangig gesetzt worden. Erfahrungen anderer Nationen haben jedoch deutlich gemacht, dass der
Schwerpunkt eines Sicherheitskonzeptes auf der Verhinderung von Havarien sowie auf dem zügigen und effektiven Eingreifen bei Schiffsunfällen liegen muss.
Die durch den Tanker „Erika“ ausgelöste Umweltkatastrophe vor der bretonischen Küste hat uns vor Augen geführt, dass Schiffsunfälle und Havarien verhindert
werden müssen, bevor es zu Schäden durch Ladung und
Treibstoffe kommt. Darüber hinaus hat sie erneut gezeigt, dass die Bekämpfung eines Schadstoffunfalls mit
den vorhandenen Einsatzkonzepten und -mitteln nur begrenzt möglich ist.
Konkreter Anlass für unsere Bemühungen um eine
Verbesserung des Sicherheits- und Notfallkonzeptes für
Nord- und Ostsee ist die Havarie des Holzfrachters
„Pallas“ vor Amrum im Oktober 1998. Diese Havarie
hat die von SPD und Grünen aufgezeichneten Schwachstellen bestätigt. Sie hat zudem gezeigt, dass national
und international Optimierungsbedarf bei der Prävention
von Schiffsunfällen, aber auch beim Unfallmanagement
besteht.
Die Bundesregierung hatte nach der „Pallas“-Havarie
umgehend mit einer lückenlosen Aufklärung und Analyse des Unfallhergangs begonnen. Kurzfristig wurden
Verbesserungen am bisherigen Notfallkonzept umgesetzt. Es bleibt festzuhalten, dass der federführende
Bundesminister bereits bei Amtsantritt der rot-grünen
Regierung den Chartervertrag mit dem Hochseeschlepper „Oceanic“ - entgegen den Planungen der damals
abgewählten Regierung - verlängert hat. Weitere bereits
im Bericht des Bundesverkehrsministeriums vom
8. März 1999 genannte Maßnahmen sind inzwischen realisiert. Dazu gehören die Überwachung und Überarbeitung der Alarmpläne, die Definition von Entscheidungskriterien für den Notschleppereinsatz, die Bestimmung
der Vor-Ort-Einsatzleitung und die Ausrüstung der
Schiffe „Neuwerk“ und „Mellum“ mit hochfesten
Schlepptrossen. Die Realisierung weiterer Maßnahmen
ist bereits eingeleitet. Dazu gehören die vertragliche
Bindung zusätzlicher allwettertauglicher Hubschrauber,
die Bereitstellung zusätzlicher Mannschaften für Notschleppeinsätze und das Zusammenwirken mit den für
den verbesserten Katastropheneinsatz zuständigen Stellen der Länder.
Umgehend wurde auch mit den Arbeiten zum Gesetzentwurf zur Umsetzung des internationalen Übereinkommens zur Haftungsbeschränkung für Seeforderungen begonnen. Gleiches gilt für das internationale Bergungsübereinkommen. Der Gesetzentwurf zu Haftungsfragen liegt inzwischen vor. Mit dem Referentenentwurf
zum Bergungsübereinkommen ist innerhalb kürzester
Zeit zu rechnen.
Diese Abkommen gibt es bereits, meine Damen und
Herren, nur leider gelten sie nicht in Deutschland. Das
heißt, internationale Haftungsabkommen sind immer
verändert worden, aber die alte Bundesregierung hat sie
schlicht und einfach nicht ratifiziert. Dies holen wir
nach.
({1})
Dem 1996 in Kraft getretenen internationalen Bergungsübereinkommen von 1989 ist die Bundesrepublik
tatsächlich nicht beigetreten. Die Übereinkommen hätten die „Pallas“-Havarie sicherlich nicht verhindern, die
negativen ökologischen und ökonomischen Folgen auf
deutscher Seite aber wesentlich reduzieren können. Ich
möchte an die Summen erinnern: Wir hätten über
8 Millionen DM zurückbekommen können, aber wir bekommen nur eine Entschädigung von 3 Millionen DM.
Dieses Versäumnis haben allerdings nicht wir, sondern
andere zu verantworten.
({2})
Gleichzeitig tragen solche Übereinkommen natürlich
mit zur Prävention bei; denn sie haben eine abschreckende Wirkung. Wenn es darum geht, den Transport
mit Schiffen sicherer zu machen, ist es sehr wichtig,
auch zu wissen, welche Strafe ansteht, wenn ein Unglück passiert.
Die durch die „Erika“ ausgelöste Umweltkatastrophe
macht deutlich, wie wichtig diese internationalen
Abkommen und eine europaweit effizientere Koordinierung der Sicherheits- und Notfallmaßnahmen sind.
Besonders zu begrüßen ist deshalb die von Minister
Klimmt und seinem französischen Kollegen am
3. Februar in Saarbrücken auf den Weg gebrachte
„Gemeinsame deutsch-französische Initiative zur
Verbesserung der Sicherheit auf See“.
({3})
Diese Initiative ist ein bedeutsamer Schritt, der neue
Wege für die Sicherheit des Seeverkehrs und der europäischen Küsten aufzeigt.
Deutschland und Frankreich werden sich durch aktive
Mitarbeit in der IMO und in der EU dafür einsetzen, die
Sicherheit nicht nur in der Tankschifffahrt, sondern für
alle Bereiche der Seeschifffahrt zu verbessern.
Maßgebliche Bausteine für das zukünftige Sicherheits- und Notfallkonzept sind vor allem durch die
Umsetzung der Empfehlungen der Unabhängigen Expertenkommission zu erwarten. Sie war kurz nach dem
Unfall der „Pallas“ mit dem Auftrag eingesetzt worden,
„unter Auswertung der Havarie der ‚Pallas‘ eine Bewertung des bisherigen Notfallkonzeptes und dessen Weiterentwicklung für die Sicherung der deutschen Küsten
an Nord- und Ostsee vor den Folgen von Schiffsunfällen
zu erarbeiten, das sowohl Vorschläge für Optimierungen
im Bund/Küstenländerbereich als auch im internationalen Bereich enthalten“ soll. Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass der Abschlussbericht der Kommission seit
gestern und damit vor der Landtagswahl in SchleswigHolstein vorliegt. Damit wird den Vorwürfen der CDU
und der F.D.P., die Wahrheit solle erst nach der Landtagswahl ans Licht kommen, der Boden entzogen. Ihren
Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der F.D.P.,
können Sie also vergessen.
({4})
Denn im Gegensatz zu einigen anderen politischen Vertretern sind wir an einer vorbehaltlosen Aufklärung interessiert. Wir werden uns sehr wohl mit den entsprechenden Empfehlungen der Kommission auseinander setzen.
Durch die Arbeit dieser Kommission ohne Öffentlichkeit und die absolute Verschwiegenheit ihrer Mitglieder
hat sie im Übrigen ihre Unabhängigkeit auf bemerkenswerte Weise gewahrt. Auch uns hat es manchmal geärgert; so ist es ja nicht. Wenn ich das Ergebnis sehe, so
möchte ich mich an dieser Stelle herzlich für die zielorientierte, konstruktive Arbeit dieser Kommission bedanken.
({5})
Nach der ersten Durchsicht des gestern vorgelegten
Berichts habe ich festgestellt, dass der Auftrag des Ministeriums auf bemerkenswerte Weise erfüllt worden ist.
Einer Optimierung des Notfall- und Sicherheitskonzeptes steht auf der Basis der Grobecker-Empfehlungen
aus meiner Sicht inhaltlich nichts mehr im Wege. Im
Bereich der präventiven Maßnahmen ist für uns von
großer Bedeutung, dass BGS, Zoll, Fischereiaufsicht
und Wasser- und Schifffahrtsverwaltung - unter Beteiligung der Wasserschutzpolizeien der Länder - möglichst
eng zusammenarbeiten. Daher begrüßen wir die Empfehlung der Expertenkommission, dass die mit Aufsichtsaufgaben betrauten, auf See tätigen Dienste des
Bundes zu einer Seewache mit einer gemeinsamen Flotte zusammengefasst werden. Sämtliche Fahrzeuge, so
der Vorschlag der Kommission, sollen mit gemischtem
Personal aus den beteiligten Behörden besetzt und darüber hinaus einheitlich gekennzeichnet werden. Zur
Führung der Seewache empfiehlt die Expertenkommission die Bildung eines Havariekommandos. Dieses soll
die bisherigen Einrichtungen und Stellen ersetzen und
deren Aufgaben übernehmen.
Meine Damen und Herren, wir alle sind gefordert, die
Vorschläge, die in großer Zahl vorliegen, ernsthaft zu
prüfen. Wir alle sind gefordert, dann an die konsequente
Umsetzung zu gehen.
Die Verantwortlichen für das Unfallmanagement sowie alle Einsatzkräfte müssen umfassend ausgebildet
und trainiert werden. Nur so kann der flexible gemeinsame Einsatz der Kräfte sichergestellt werden.
Sowohl bei Notfällen als auch bei länger andauernden
Notschlepp- und Schadstoffbekämpfungseinsätzen müssen zusätzliche Einsatzkräfte und -mittel eingesetzt
werden können. Dafür müssen die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden. Wir wollen, dass die Einsatzkräfte mit bestmöglicher Ausrüstung für die Gefahrenabwehr bei Schiffsunfällen versorgt werden. Dazu gehört eine Ausrüstung, die sich natürlich auf die Schleppkapazität genauso bezieht wie auf Feuerlösch- und
Schadstoffunfallbekämpfungsschiffe. Notwendig ist die
Bereithaltung von Schleppgeschirr und Einrichtungen an
Bord von Mehrzweckschiffen und Schleppern, die auch
unter ungünstigen technischen Voraussetzungen und
Witterungsbedingungen eine dauerhafte Schleppverbindung herstellen können.
Ein Schwachpunkt sind Vorrichtungen an den Schiffen zur Herstellung einer Schleppverbindung im Notfall.
Das hat sich bei der Havarie der „Pallas“ eindeutig gezeigt. Es ist schwierig, selbst kleinere Schiffe auf den
Haken zu nehmen, wenn kein Haken an Bord ist. Das
heißt, wir müssen dafür sorgen, dass überhaupt die notwendigen Einrichtungen auf den Schiffen vorhanden
sind. Dass dies nicht eine nationale, sondern eine internationale Aufgabe ist, ist klar. Darum halte ich es auch
für wichtig, dass wir hier nicht nur national und EUweit, sondern international denken. Gerade der Unfall
der „Erika“ hat gezeigt, dass wir international fragen
müssen: Warum wird schweres Heizöl auf Schiffen
transportiert, die dafür nicht die notwendige Sicherheit
bieten? Es darf nicht sein, dass bei einem Schiff entsprechende Klassifizierungen vorgenommen worden sind,
das fast auseinander gebrochen wäre, weil es durchgerostet war. Ich habe mit Leuten gesprochen, die vor Ort
gewesen sind.
Das Thema Hafenstaatkontrollen dürfen wir auch
nicht unter den Tisch fallen lassen. Auch hier gilt es, europaweit und international konsequent zu arbeiten.
Ein weiterer wichtiger Punkt auch auf internationaler
Ebene ist die Sicherung der Ausbildung für Schiffsoffiziere, aber auch für das gesamte Personal an Bord, ganz
besonders für Krisensituationen. Es ist unbestritten, dass
unzureichende Schiffsbesatzungen auf Seeschiffen, sowohl was deren Qualifikation als auch was deren Stärke
betrifft, ein weiteres Risiko bilden. Nach Meinung von
vielen Fachleuten hätten sich zahlreiche Unfälle in den
letzten Jahren mit besser ausgebildeten Besatzungen
vermeiden lassen. Dieser Punkt ist uns ganz besonders
wichtig. Es gilt natürlich auch, für eine konsequente
Umsetzung der schon geltenden Sicherheitsvorschriften
bis hin zu Sanktionen bei Verstößen gegen die Flaggenstaatpflichten zu sorgen.
Wir müssen uns auch darüber unterhalten, wie weit
die Übergangszeiten für Tanker noch gelten sollen. Es
ist zum Beispiel die große Frage, ob wir nicht hinsichtlich der Übergangsfrist von 25 Jahren für Einhüllentanker eine Veränderung vornehmen müssen.
Internationale Übereinkommen zu Haftungs- und
Bergungsfragen bei Schiffsunfällen müssen ratifiziert
werden. Es besteht hier weiterhin dringender Handlungsbedarf.
Die Koordination, auch innerhalb Europas, hapert.
Das sieht man deutlich an dem, was sich zwischen
Deutschland und Dänemark abgespielt hat. Es gilt, ein
besseres länderübergreifendes Frühwarnsystem zur
Meldung von Schiffsunfällen und eingeleiteten Maßnahmen aufzubauen.
Es gibt eine Vielfalt von Fragen und Problemen, mit
denen wir uns schon befassen oder auch in Zukunft auseinander setzen müssen. 30 Empfehlungen hat die Expertenkommission aufgelistet. Wir sind nun gefordert,
uns sachlich mit den Vorschlägen zu befassen. Lassen
Sie uns gemeinsam alles tun, um die Sicherheit in Nordund Ostsee zu erhöhen. Schadensvermeidung und Schadensbegrenzung werden eine Daueraufgabe bleiben.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Herr Kollege Austermann.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man sich bemüht,
die Tagesordnungspunkte zusammenzufassen und ein
gemeinsames Thema zu suchen, kommt man, glaube
ich, zu dem Ergebnis: Wie geht eine Regierung - egal,
wie sie gebildet wird, aber Sie erwarten sicher von uns,
dass wir danach fragen, wie es eine rot-grüne Regierung
tut, sowohl im Bund als auch im Land, zum Beispiel in
Schleswig-Holstein - mit der Natur, mit Tier- und
Pflanzenwelt um?
({0})
Wie wird auf Katastrophenfälle reagiert? Wie werden
vorbereitende Maßnahmen getroffen, um Katastrophen
nach Möglichkeit zu vermeiden und um die Landschaft
und die Natur optimal zu schützen?
Wenn man sich dann die Berichte, die in den Ausschüssen erörtert worden sind, und Auswertungen dazu
anschaut und diesen die Fakten gegenüberstellt, insbesondere die Fakten der letzten 15 Monate, kommt man
zu einer ziemlich klaren Bewertung.
({1})
- Ich habe ja gesagt, Frau Kollegin Mehl, dass ich sowohl die Regierung des Bundes als auch die Regierungen der Länder anspreche.
Ich nenne das Thema Küstenschutz. Küstenschutz ist
ja auch Natur- und Landschaftsschutz. Die rot-grüne
Landesregierung in Schleswig-Holstein hat jahrelang
Bundesmittel, die für den Küstenschutz bereitstanden,
nicht in Anspruch genommen, weil das Land seine Ergänzungsmittel nicht bereitstellen konnte.
({2})
Das waren für die letzten vier, fünf Jahre allein Bundesmittel in der Größenordnung von 32 Millionen DM.
Ergänzt um die Landesmittel sind weit mehr als
50 Millionen DM für den Küstenschutz nicht ausgegeben worden.
({3})
Ich erinnere mich - der Kollege Carstensen wird darauf noch eingehen -, dass wir uns einmal gemeinsam
bemüht haben, zusätzliche Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des
Küstenschutzes“ für Schleswig-Holstein und für den
Schutz von Sylt vor die Klammer zu ziehen und dass das
vom Landwirtschaftsminister in Schleswig-Holstein,
Hans Wiesen - die Älteren werden sich noch an ihn erinnern -, blockiert worden ist.
Das heißt, wir können Ernsthaftigkeit beim Küstenschutz und eigene Interessen des Landes nicht verzeichnen. In den letzten vier Jahren hätten dort über
50 Millionen DM mehr dafür ausgegeben werden können. Wenn jetzt vor der Wahl die Erklärung kommt,
man werde in diesem Jahr zusätzliche Mittel für den
Küstenschutz bereitstellen, dann sage ich, dass auch davor wieder der Finanzminister des Landes stünde wenn er denn im Amt bliebe, wovon ich nicht ausgehe ({4})
weil er sagte, er brauche eine globale Minderausgabe.
Ich komme zu dem zweiten Themenkomplex, der anzusprechen ist, nämlich zum Thema Agrarstruktur.
„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ heißt eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund und
Ländern. Ich bedaure, dass der Finanzminister nicht
mehr da ist; aber der Bundeslandwirtschaftsminister ist
ja anwesend. Durch Entscheidungen im Haushalt für das
Jahr 2000 werden Mittel hin und her geschoben. Dabei
geht es um die Gasölbetriebsbeihilfe und um Sozialmaßnahmen zugunsten der Landwirtschaft. Wir stellen
fest, dass im Haushalt dieses Jahres die Mittel für die
Landwirtschaft drastisch nach unten korrigiert worden
sind und mittelfristig weiter nach unten korrigiert werden. Das soll jetzt in einer Notaktion wieder aufgefangen werden, indem man einen Ausgleich für die Ökosteuer in Höhe von 900 Millionen DM schafft.
Aber schauen wir uns einmal an, welche Auswirkungen das auf die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ hat, die ja
nicht nur für den Küstenschutz, sondern auch für die
Frage wichtig ist, wie wir mit den Flächenregionen umgehen und welche landwirtschaftlichen Strukturmaßnahmen in der breiten Fläche gefördert werden können.
Hier stelle ich fest, dass allein beim Bund die Mittel von
1,78 Milliarden DM auf 1,4 Milliarden DM heruntergefahren werden. Das hat Folgewirkungen auf die Situation in den Bundesländern, denn sie werden entsprechend
kleinere Förderanteile erbringen. Die Agrarstruktur wird
also unter dieser Regierung schlechter behandelt als in
den Jahren vorher von den vorangegangenen Regierungen.
Ein drittes Thema ist die Frage, wie ernst wir es mit
dem Küstenschutz nehmen, wenn man in den Ländern
und im Bund auf Notfallmaßnahmen reagieren muss.
Auch hier muss ich feststellen, dass es große Probleme
gibt. Ich erinnere mich an das Jahr 1994, als es darum
ging, eine gemeinsame Küstenwache von Bund und
Ländern zu schaffen. Damals sagte der Innenminister
des Landes Schleswig-Holstein, Zuständigkeiten trete er
nicht ab, der Bund möge seine Zuständigkeit koordinieren, er könne aber nicht mit der Wasserschutzpolizei des
Landes rechnen, es gebe in diesem Bereich keine Zusammenfassung der Aufgaben. Heute behauptet der
Umweltminister des Landes Schleswig-Holstein, der
noch wenige Tage im Amt sein wird, die CDU weigere
sich, eine Bündelung der Interessen des Küstenschutzes
mittels einer stärkeren, leistungsfähigen Küstenwache
vorzunehmen.
({5})
- Das ist doch lächerlich! Noch sind Sie an der Regierung, Herr Müller. Sie hätten längst Maßnahmen ergreifen können, um auf die Bundesregierung zuzugehen und
gemeinsam eine kraftvolle Küstenwache zu installieren.
({6})
Ich möchte den vierten Punkt ansprechen, der hier eine Rolle spielt. Frau Kollegin Faße, Sie haben es sich
sehr einfach gemacht, als Sie andeuteten, die „Pallas“Katastrophe sei eingetreten, weil wir seinerzeit eine
CDU-geführte Bundesregierung gehabt hätten. Derlei
Konsequenzen sind von Ihnen ganz schnell gezogen
worden. Schauen wir uns demgegenüber doch einmal
den zeitlichen Ablauf an.
Am 25. Oktober letzten Jahres, wenn ich mich nicht
irre
({7})
- vorletzten Jahres -, ging es im Verkehrsministerium
vor allen Dingen darum, dass die Abteilungsleiter alle
politisch richtig ausgerichtet wurden.
({8})
Der Verkehrsminister hat so brutal wie kein anderer
vorher durch die Neubesetzung von Ämtern in die
Strukturen eingeschnitten. Das hatte zur Folge, dass in
jenen Tagen keine handlungsfähige Mannschaft da war,
({9})
die seitens des Bundes hätte konkret reagieren können.
Das lag an der Umverteilung von Ämtern und Zuständigkeiten.
Auf der anderen Seite ist die Situation bei der Landesregierung in Schleswig-Holstein zu betrachten. Sie
kennen den Kalender und wissen, wie sich das Unglück
abgespielt hat. Am 25. Oktober 1998 ist das Schiff in
Brand geraten. Schauen Sie sich an, wann die zuständige
Landesregierung, der zuständige Minister begonnen haben, Entscheidungen zu treffen. Am 25. Oktober 1998
ist das Unglück passiert. Am 10. November - jeder kann
leicht ausrechnen, wie viele Tage später das war - beschließt die Landesregierung die Einsetzung eines Leitungsstabes. Das war 14 Tage später!
Am 11. November, nach Aufforderung durch die Ministerpräsidentin, findet sich der grüne Umweltminister
endlich bereit, mit dem Innenminister des Landes darüber zu reden, welche Maßnahmen wohl die geeignetsten seien, die eingeleitet werden könnten.
Ich habe großen Respekt vor denen, die vor Ort gehandelt haben, die sich bemüht haben, das Schlimmste
zu verhindern, vor den Bergungsmannschaften und denen, die betroffen waren.
({10})
Ich habe weniger großen Respekt vor den vielen anderen
in den Verwaltungen - das meine ich jetzt nicht politisch -, die offensichtlich nicht auf solche Fälle
vorbereitet waren, die nicht wussten, wie groß die
Tankerkapazität eines Rettungsschiffes und wie groß die
Schlepperzugkraft sein müssen, auch nicht, welche
Ministerien sich abzustimmen haben.
({11})
- Wenn Sie gerecht wären, würden Sie weiter heruntergehen auf den Bereich der Fachleute. Es kann doch nicht
Aufgabe eines Ministers
({12})
oder der Abgeordneten hier sein, sich darum zu kümmern, wie stark das Schleppseil eines Schiffes sein sollte.
({13})
Ich glaube schon, dass die Verantwortung in den einzelnen Verwaltungen gesucht werden muss. Wenn es um
andere Dinge geht, meldet sich die Verwaltung auch tatkräftig zu Wort.
({14})
Wenn man sich die Bewertung der GrobeckerKommission ansieht - ich habe den Bericht gestern bekommen; ich weiß nicht, ob Sie ihn eher hatten - und
die gut 100 Seiten querliest, dann kommt man zu der
Empfehlung, die eigentlich dem entspricht, was wir seit
langer Zeit wollen.
({15})
Wir haben eine Küstenwache eingerichtet, die Maßnahmen durch den BGS, den Zoll und die Fischereiaufsicht koordiniert, die aber nicht die Wasserschutzpolizei einbeziehen kann. Jetzt wird gefragt, ob es
möglich sei, die Kräfte zu bündeln, ohne dass das
Grundgesetz tangiert wird. Es muss also an der Verweigerung der betroffenen Länder gelegen haben, dass das
Angebot von Wissmann damals nicht angenommen
wurde, dass nicht gesagt wurde: Wir kommen zusammen und gehen erst dann auseinander, wenn wir ein gemeinsames Konzept beschlossen haben.
({16})
Nach den Details der Feststellungen, die in dem Bericht aufgezeichnet sind, hat es viele Tage lang kein aktuelles Lagebild gegeben, nach dem Menschen und Rettungsmittel hätten koordiniert werden können. Für bestimmte Dinge reichte das Personal nicht aus, weil nicht
entschieden wurde, dass es zur Verfügung gestellt wird.
Es heißt, die Reaktion auf das „Pallas“-Unglück durch
die Behörden der Landesregierung sei falsch gewesen,
sei zu spät erfolgt. Dies alles können Sie zwischen den
Zeilen dieses Berichtes lesen. Natürlich wird ein ordentlicher Sozialdemokrat wie der Herr Grobecker davon
Abstand nehmen, massiv zu kritisieren, was tatsächlich
vorgefallen bzw. nicht vorgefallen ist. Aber dass man
überhaupt eine Verwaltung auffordern muss, in Katastrophenfällen ein Lagebild aufzuzeichnen und eine Behörde einzusetzen, die die Hilfsmaßnahmen koordiniert!
Die Lehre, die wir aus den verschiedenen Berichten
zur Kenntnis nehmen mussten und müssen, wird deutlich: Durch Nichtannahme der Entscheidungsbefugnisse durch den grünen Umweltminister sind 16 000
Seevögel verendet. Die Umwelt hat Schaden genommen. Das ist ein Fazit. Und: Sowohl von der rot-grünen
Bundes- wie auch von der rot-grünen Landesregierung
sind die Maßnahmen, die vorgesehen sind, um Natur
und Landschaft stärker zu schützen, offensichtlich nicht
mit der notwendigen Aufmerksamkeit versehen worden;
es wird lieblos gehandelt. Ich glaube deshalb, dass es erforderlich ist, eine Kurskorrektur vorzunehmen, wenn
man tatsächlich Natur und Landschaft dienen will.
Herzlichen Dank.
({17})
Als
nächster Redner hat der Kollege Müller vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Austermann, ich
verstehe ja, dass Sie in solchem Maße Geschichtsklitterung betreiben müssen, um sich in Schleswig-Holstein
in den nächsten zehn Tagen wenigstens noch an die 35Prozent-Grenze heranzurobben. Ich verstehe auch, dass
Sie dafür tief in die Mottenkiste greifen müssen.
({0})
Aber was Sie hier darstellen, ist falsch. Mir fällt auch
noch mehr dazu ein.
({1})
- Lieber Peter Carstensen, brüllen Sie nicht so durch die
Gegend! Ihr designierter Ministerpräsident verkündet
landauf, landab eine zehnjährige Pause im Umweltschutz.
({2})
Wer sich in einem Land wie Schleswig-Holstein so diskreditiert, sollte in Umweltfragen nicht mehr den Mund
aufmachen.
An dieser Stelle können wir uns wieder ein Stück
weit der sachlichen Debatte zuwenden.
({3})
Deutschland ist ein maritimes Land. Ein Großteil unseres Außenhandels wird über die Häfen abgewickelt.
Lassen Sie mich das als Kieler sagen: Das ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Gleichzeitig wissen wir, dass die
Interessen der Küstenländer in einem Spannungsverhältnis stehen: in dem Spannungsverhältnis zwischen
einem zügigen Seehandel auf der einen Seite, den wir
durchaus wollen, und dem Interesse des Naturerbes, des
Küstenschutzes und des Naturschutzes auf der anderen
Seite. Wenn wir schon auf das zu sprechen kommen,
was in Schleswig-Holstein wirklich passiert ist, dann
muss man feststellen, dass es eine Menge Verfehlungen
gegeben hat, die unter anderem von einem Herrn zu verantworten sind, der dieser Debatte wohlweislich nicht
beiwohnt.
({4})
Das ist Ihr Kollege Wissmann. Er hat sich in seiner Zeit
als Verkehrsminister - mit Verlaub - einen feuchten
Kehricht darum gekümmert, was in Sachen Vorsorge,
Naturschutz und Küstenschutz zu machen ist.
({5})
Das ist das Problem, das wir jetzt auszubaden haben.
({6})
Umso empörender ist es, dass CDU und CSU jetzt versuchen, aus der „Pallas“-Havarie politisches Kapital zu
schlagen,
({7})
statt mit konstruktiven Lösungen aufzuwarten und eine
ernsthafte Debatte zu führen, was die Menschen in
Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen und Hamburg wirklich brauchen.
({8})
Sie haben in Ihrem Antrag, der mit „Folgerungen aus
der Havarie der ‚Pallas‘ vor Amrum“ überschrieben ist,
keine konstruktiven Vorschläge gemacht.
({9})
Es ist ja richtig, einen Blick in die Vergangenheit zu
werfen, und, wie gesagt, ich verstehe auch billige Wahlkampfmanöver. Aber Sie haben wirklich nichts vorgeschlagen, um in Zukunft etwas zu ändern, damit so
etwas wie mit der „Pallas“ nicht noch einmal passieren
kann.
Gerade gestern hat die bereits erwähnte Expertenkommission, die fraktionsübergreifend gefordert worden ist, ihre Empfehlungen dem Herrn Bundesminister
Klimmt übergeben. Vieles davon deckt sich mit den
Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen.
({10})
Manches werden wir kritisch zu hinterfragen haben.
({11})
- Gerade Bündnis 90/Die Grünen und gerade auch mein
Kollege Rainder Steenblock, als er noch Bundestagsabgeordneter war, haben mehrfach auf die Probleme hingewiesen. Ihr Minister war nicht in der Lage, etwas Entsprechendes vorzubereiten, und hat uns eine Erblast hinterlassen.
({12})
Gerade Rainder Steenblock hat mehrfach darauf hingewiesen, dass die Schlepperkapazitäten unbedingt gesichert werden müssen, dass es um ausreichende Schlepperkapazitäten im Seegebiet in Stand-by-Position geht
und dass die Bereitschaft eines einsatzstarken Hochseeschleppers garantiert sein muss.
({13})
Ferner müssen wir - das wird auch von der Kommission empfohlen - die bisherigen Einrichtungen von
Bund und Ländern zusammenfassen
({14})
- brüllen Sie doch nicht so, Herr Koppelin ({15})
und ein Havariekommando mit Durchgriffsrechten und
Weisungsbefugnissen einsetzen. Zudem wird die Einrichtung einer Seewache gefordert, die mit verschiedenen Aufsichtsmitteln zentral zusammengeführt
wird. Gerade mit den letzten beiden Punkten - Einrichtung einer Seewache und dem Havariekommandos können deutliche Zeichen in die richtige Richtung gesetzt werden.
Diese Forderungen bleiben allerdings hinter den Vorstellungen des schleswig-holsteinischen Landtages zurück. Dort ist man - was die konstruktive Zusammenarbeit anbelangt, nicht aber, was die polemischen Töne betrifft - schon etwas weiter als hier.
({16})
Am 26. Januar dieses Jahres wurde im Kieler Landtag
fraktionsübergreifend mit nur einer Gegenstimme des
SSW ein gemeinsamer Beschluss gefasst. Gefordert
wird die Einrichtung einer deutschen Küstenwache, die
die vorhandenen Kräfte stärker bündeln und die Kommunikationswege noch stärker vernetzen würde.
({17})
Dies haben im November 1998 die Umweltminister der
Länder auf Initiative Schleswig-Holsteins gegenüber
dem Bund gefordert.
({18})
Insofern ist es aus der Mottenkiste gegriffen, wenn sich
Herr Austermann hinstellt und versucht, die Bemühungen Schleswig-Holsteins kleinzureden oder schlicht
nicht zu berücksichtigen.
({19})
Vorhandene Strukturen haben so funktioniert, wie es
eben ging. Notwendig ist größtmögliche Effizienz bei
der Bekämpfung von Havarien. Dazu braucht man, wie
gesagt, eine einheitliche Kommandostruktur sowie eine Mannschaft von Expertinnen und Experten in ständiger Einsatzbereitschaft und steter Übung. Ich bin froh,
dass wir uns für die Auswertung der Havarie und der
daraus resultierenden Ereignisse sowohl in einem Untersuchungsausschuss in Schleswig-Holstein als auch in
der Expertenkommission genügend Zeit genommen haben. Aber wir sollten in der Diskussion - das meine ich
gerade mit Blick auf Herrn Austermann - die Kirche im
Dorf lassen. Das „Pallas“-Unglück war furchtbar. GeraKlaus Wolfgang Müller ({20})
de als Schleswig-Holsteiner, der vor Ort war, weiß ich,
wovon ich spreche. Dennoch war das „Pallas“-Unglück
vor allem ein Schuss vor den Bug,
({21})
damit wir wissen, was wir jetzt besser machen müssen.
Stellen wir uns vor, dort wäre kein Holzfrachter, sondern womöglich ein Öltanker gestrandet. Dann wären
nicht 100 Tonnen ausgelaufen,
({22})
sondern, Herr Carstensen, wesentlich mehr, etwa das
Zehn- oder Hundertfache davon. Dann hätten wir wirklich eine ökologische Katastrophe gehabt. Dann hätten
wir ein Fiasko gehabt. Dann wären nicht nur die 16 000
Vögel, die furchtbar, grausam und schrecklich dort verendet sind - das ist keine Frage -, gestorben, sondern
dann wäre die Katastrophe noch größer gewesen. Insofern sollten wir dieses Unglück tatsächlich als eine
Mahnung annehmen, aus der wir jetzt Konsequenzen
ziehen müssen.
Ich will an dieser Stelle ein paar Sätze zu meinem
Kollegen Rainder Steenblock sagen, Umweltminister
in Schleswig-Holstein. Ich verstehe, dass Sie gerne eine
Person, die kein schwarzes Parteibuch hat, im Zentrum
der Kritik sehen wollen. Dafür habe ich menschlich volles Verständnis. Aber dann lassen Sie uns ehrlich darüber reden: Was kann man Rainder Steenblock an dieser Stelle vorwerfen?
({23})
- Blödsinn. Die Grünen sind ein Stück weit für Selbstkritik bekannt. Dazu stehen wir.
Was er nicht gemacht hat, ist, noch am gleichen Tage
zum Strande zu eilen, um dort mit der Schippe im Öl die
richtigen Fernsehbilder zu liefern. Das räumen wir ein.
Das ist richtig. Er hat im Kapitel Show leider nicht die
100 Punkte bekommen, die man sich hätte wünschen
können.
({24})
Aber es gibt keinen einzigen Punkt, bei dem Sie ihm
ein fachliches Fehlverhalten vorwerfen können. Es gibt
keinen einzigen Punkt, bei dem er in der Sache andere
Handlungsmöglichkeiten gehabt hätte.
({25})
Herr Austermann, Sie sprachen gerade von den
15 Tagen, an denen vermeintlich nichts geschehen sei.
Sie wissen, dass in dieser Zeit Dinge geschehen sind. Sie
wissen, dass in dieser Zeit, aufbauend auf den katastrophalen Strukturen, die Sie uns durch Ihren ehemaligen
Verkehrsminister hinterlassen haben, das getan wurde,
was möglich war. Die „Oceanic“ war eben nicht sofort
verfügbar, so wie das Bündnis 90/Die Grünen und die
SPD immer gefordert haben. Insofern gab es dort Mängel. Aber das hat nicht der schleswig-holsteinische Umweltminister zu verantworten. In dem Moment, wo
schleswig-holsteinische Landeskompetenz gefragt war,
hat er gehandelt. Die Ölbeseitigung hat hervorragend
geklappt. Es ist dort nicht festzustellen, dass irgendwo
dauerhafte Schäden geblieben sind. Das müssen auch
Sie akzeptieren.
Wenn Sie hier eine redliche Diskussion führen würden, Herr Carstensen, wenn wir tatsächlich über die Sache streiten würden und es nicht um Ihren Wahlkampf
ginge, weil Sie Herrn Steenblock doch gerne beerben
möchten, und zwar nicht als Umweltminister, sondern
als Landwirtschaftsminister - die Umwelt würde dann
bei Ihnen irgendwo drangeheftet -,
({26})
wenn Sie ernsthaft darüber reden würden, müssten auch
Sie eingestehen, dass dort die Aufräumarbeiten sachlich
gut funktioniert haben, dass es dort tatsächlich in dem
Sinne keine bleibenden Schäden gegeben hat. Wir, die
rot-grüne Bundesregierung, und wir, die wir hier im Parlament in der Verantwortung sind, wir sind dabei, die
Strukturen zu schaffen und durchzusetzen, die wirklich
erforderlich sind, um beim nächsten Unglück nicht wieder so dazustehen, sondern von Bundesseite her die
Kompetenzen und die Ausstattung zu haben, um auf so
eine Katastrophe angemessen reagieren zu können.
Sie haben hier versagt. Ihr ehemaliger Verkehrsminister Wissmann hat hier versagt. Insofern sollten Sie
sich ein Stück weit dafür schämen, zu Ihrer eigenen
Verantwortung bekennen
({27})
und uns jetzt dabei unterstützen, die richtigen Strukturen
zu schaffen, um auf das nächste Unglück angemessen
reagieren zu können oder es idealerweise sogar zu verhindern.
Vielen Dank.
({28})
Als
nächster Redner hat der Kollege Jürgen Koppelin von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte jetzt eigentlich vor,
intensiv zu dem Bericht Stellung zu nehmen und natürlich auch das eine oder andere zu dem zu sagen, was der
Untersuchungsausschuss des Schleswig-Holsteinischen
Landtages vorgelegt hat. Das muss man beides in einem
Paket sehen.
Aber nach der Rede des Kollegen Müller, glaube ich,
muss man doch noch das eine oder andere bemerken und
dem Kollegen Müller einen Spiegel vorhalten. Er hat natürlich das Vorurteil, das man draußen in der Bevölkerung hat, voll bestätigt. Er redet hier über etwas, was er
Klaus Wolfgang Müller ({0})
überhaupt nicht selber gelesen hat; sonst könnte er hier
eine solche Rede überhaupt nicht halten.
({1})
Was den Bericht angeht: Dazu muss ich noch etwas
sagen. Wir haben einen Antrag gestellt, dass der Bericht
rechtzeitig, und zwar vor der Landtagswahl in Schleswig-Holstein, vorgelegt wird. Er ist jetzt vorgelegt worden. Wir sind nicht ganz ohne darauf gekommen, diesen
Antrag zu stellen. Herr Steenblock ist im Lande Schleswig-Holstein durch die Gegend gereist und hat erklärt das können Sie auch nachschauen, wenn Sie die Pressekonferenz der Ministerpräsidentin mit Herrn Steenblock
nachlesen -, am 29. Februar käme der Bericht heraus.
Insofern ist es gut, dass er jetzt da ist. Aber dazu wird
gleich noch etwas zu sagen sein.
Noch eine Vorbemerkung. Ich bedaure sehr, dass
kein Mitglied des Bundesrates aus den norddeutschen
Ländern hier anwesend ist, einschließlich des Herrn
Steenblock - auch das darf ich einmal sagen -, wenn wir
so ein Thema hier behandeln.
({2})
Nun, Herr Müller, kommen wir tatsächlich zu den
Fakten, die Sie alle völlig verdrängt haben. Rückblick
auf das Geschehen: Am 25. Oktober 1998 - Sie dürfen
sich die Daten mitschreiben - geriet die „Pallas“ vor der
dänischen Küste in Brand. Es war übrigens kein
Schrottkahn, wie der Herr Bundesumweltminister erklärt
hat, sondern auf diesem Schiff ist ein Brand ausgebrochen. Tage später driftet dann die „Pallas“ in Richtung
der deutschen Nordseeküste aus Dänemark kommend.
Von da an, Herr Kollege Müller, zieht sich die Unfähigkeit des schleswig-holsteinischen Umweltministers
Steenblock wie ein grüner Faden durch das Geschehen:
({3})
Erst 20 Tage nach dem Geschehen beginnen die Löscharbeiten.
({4})
Austretendes Öl sorgt für den Tod von Tausenden von
Seevögeln und die Verschmutzung des Wattenmeeres.
Und wenn Sie schon von Selbstkritik sprechen, Herr
Kollege Müller: Es gab nicht nur Selbstkritik, sondern
auch massive Kritik an Ihrem Umweltminister. Wissen
Sie noch, was auf Ihrem Bundesparteitag - oder wie
immer man das bei den Grünen nennt - in Leipzig im
Dezember 1998 beschlossen wurde? Man sprach von einem - Sie waren ja wahrscheinlich dabei; vielleicht haben Sie sogar den Parteitag geleitet - „dilettantischen
Katastrophenmanagement“. Ja, wer hat denn das Katastrophenmanagement in der Hand gehabt? Herr
Steenblock hatte es in der Hand.
({5})
Herr Müller, wie konnte das geschehen?
({6})
Sie sagen, sein Fehler war, dass er nicht sofort zur Küste
gefahren ist. Das konnte er auch gar nicht. Herr Steenblock ist nämlich in Urlaub gefahren, als die Katastrophe entstand. Das ist die Wahrheit.
({7})
Als er aus dem Urlaub zurückgerufen wurde, hat er noch
nicht einmal die betroffene Bevölkerung informiert und
vor der Strandung der „Pallas“ gewarnt. Er hat die Bevölkerung auch nicht auf die Verschmutzung durch Öl
vorbereitet. Nichts hat er getan.
({8})
Herr Minister Steenblock hat zu keinem Augenblick die
Zeit für die Klärung der Zuständigkeiten, für die Koordinierung eines Einsatzes, für die Bereitstellung des Materials genutzt.
Hinzu kommt noch etwas - das ist auch im Untersuchungsbericht des Landtages festgestellt worden -:
Dreimal bietet der schleswig-holsteinische Innenminister dem grünen Umweltminister die Krisenzentrale des Innenministeriums an. Die dort vorhandene Technik sowie für solche Einsätze geschultes Personal hätten
zahlreiche Versäumnisse und Pannen verhindern können. Der grüne Umweltminister Steenblock lehnt ab.
Das müssen Sie einmal der Bevölkerung in SchleswigHolstein erklären.
({9})
Erst als die Empörung an der Westküste immer größer wurde, hat die Ministerpräsidentin - ich sage diesmal: Gott sei Dank! - persönlich eingegriffen und veranlasst, dass der Krisenstab des Innenministers tätig wurde.
({10})
- Das können Sie uns gleich erklären. Machen Sie eine
Kurzintervention! Erklären Sie uns einmal, wie denn
Frau Simonis dazu kommt, ihrem grünen Umweltminister zu raten, er möge doch einmal für drei Tage nach Hause fahren und ausschlafen - nicht weil der
Mann überarbeitet, müde und kaputt war, sondern weil
er unfähig war und im Weg gestanden hat, als die Leute
anpacken wollten.
({11})
Das war das Entscheidende. Sonst hätte Frau Simonis
das doch niemals gesagt.
Einmal in vier Jahren Rot-Grün in SchleswigHolstein hätte Schleswig-Holstein den Umweltminister
wirklich gebraucht, und zwar bei der Katastrophe der
„Pallas“. Da hat er versagt, da ist er im Urlaub gewesen.
Er war nicht präsent, er hat völlig versagt.
({12})
Hilflosigkeit, Tatenlosigkeit, Konzeptlosigkeit - das hat
diesen Umweltminister zu einer tragischen Figur in der
Landesregierung von Schleswig-Holstein gemacht.
({13})
Es möge jetzt kein Grüner kommen und sagen: Dass
ich diese Aussage treffe, hat mit dem schleswigholsteinischen Wahlkampf zu tun.
({14})
- Ich erspare Ihnen sogar, all das zu zitieren, was die
Ministerpräsidentin über Herrn Steenblock im
Zusammenhang mit dieser Katastrophe gesagt hat.
({15})
Oder ist etwa auch das Wahlkampf gewesen?
Wir müssen weiter feststellen: Auch der Bundesverkehrsminister - das war damals übrigens Herr Müntefering - wäre zuständig gewesen. Denn die Katastrophe
fand ja in einer Wasserstraße des Bundes statt. Wo war
er? Er hat nichts gemacht. Und da es sich um eine Bedrohung des Nationalparks Wattenmeer handelte, muss
man auch fragen: Wo ist eigentlich der Bundesumweltminister gewesen? Ich habe von ihm nichts gehört
und nichts gesehen.
({16})
Die Staatssekretärin Altmann ist auf ein Schiff gestiefelt
und hat sich das Ganze einmal von Ferne angeguckt.
Dann ist sie wieder abgedüst. Sie hat mit ein paar Parteigenossen von den Grünen gesprochen und war dann
wieder weg. Das war der Einsatz des Umweltministeriums.
({17})
In der Zwischenzeit, Frau Altmann, sind Tausende von
Seevögeln verendet und ist das Wasser verseucht worden.
({18})
Der Umweltminister hat sich nicht zuständig gefühlt,
Herr Müntefering, damals Verkehrsminister, war nicht
zuständig, Herr Steenblock war nicht zuständig, die
Staatssekretäre waren alle nicht zuständig. Festzustellen
ist ein Versagen aller politisch Verantwortlichen. Wenn
die Bürger, wenn die Amtsvorsteher dort nicht angepackt hätten, dann wäre die Katastrophe noch viel größer geworden.
({19})
Jetzt komme ich auf das, was uns beim hier zu debattierenden Bericht der Bundesregierung und beim Untersuchungsbericht des Landtages bewegen muss: Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen, was nutzen diese Berichte, was nutzen die Empfehlungen, wenn man einen
Minister hat, der nicht in der Lage ist, mit solchen Konzepten zu arbeiten? Wo war denn Minister Steenblock
zum Beispiel,
({20})
als es um die Feuerwehren in Cuxhaven und in Hamburg ging? Warum hat er den Einsatz nicht nach den
vorhandenen Richtlinien koordiniert? Er konnte damit
gar nichts anfangen.
({21})
Wir haben einen Minister, der unfähig war, mit den vorhandenen Konzepten zu arbeiten. Umweltminister
Steenblock hat sich, so meinen wir, in der Katastrophe
der „Pallas“ weder nach den Einsatzmöglichkeiten des
Hochseeschleppers „Oceanic“ noch nach den Einsatzmöglichkeiten der Feuerwehren von Hamburg und Cuxhaven erkundigt. Das hat übrigens auch der Untersuchungsbericht des Landtags festgestellt. Allein der Einsatz der Feuerwehren von Hamburg und Cuxhaven, Herr
Kollege Müller, hätte eine sachgerechte Brandbekämpfung ermöglicht. Der Brand auf dem Schiff hätte mindestens eingedämmt werden können, sodass die anfangs
noch funktionsfähige Betriebstechnik des Schiffes und
somit die Manövrierfähigkeit der „Pallas“ erhalten
geblieben wären. Damit hätten wir das Schiff auf einen
Notliegeplatz bringen können.
Herr
Kollege Koppelin, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Heyne?
Ja.
Lieber Herr Kollege Koppelin, über die „Oceanic“ sowie
deren Einsatzmöglichkeiten haben wir hier schon häufig
diskutiert. Könnten Sie meine Einschätzung bestätigen,
dass die „Oceanic“ vonseiten des Bundes finanziert und
selbstverständlich auch von Bundesseite eingesetzt
wird?
Selbstverständlich kann
ich das.
({0})
Allerdings hat die Kollegin Altmann aus bestimmten
Gründen bessere Kontakte als ich zur „Oceanic“. Ich
will dies nicht näher erläutern.
({1})
Ich will noch einmal sagen: Wir waren uns - auch im
Haushaltsausschuss - immer darüber einig, was wir wollen. Es geht nicht darum, ob das Schiff einsatzfähig ist
oder nicht. Herr Steenblock hat doch gar nichts gemacht.
({2})
- Frau Kollegin Heyne, er hat sich nicht einmal erkundigt.
({3})
Sie können das alles im Bericht des Untersuchungsausschusses nachlesen. Das ist festgestellt worden. Wenn
ein zögerlicher, unentschlossener und hilfloser Landesminister wie der grüne Umweltminister Steenblock unfähig zur Zusammenarbeit ist, wenn dieser Minister in
einer Situation der Gefahr handlungs- und führungsunfähig ist, nutzen auch die besten Konzepte und Papiere
nichts. Diese Erfahrung haben die Menschen an der
schleswig-holsteinischen Westküste machen müssen.
Tausende von Seevögeln haben den Tod gefunden. Verantwortlich dafür ist der grüne Umweltminister Steenblock und kein anderer.
Vielen Dank.
({4})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Eva
Bulling-Schröter von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Gut 16 Monate nach dem
„Pallas“-Unglück und knapp drei Monate nach der verheerenden Ölkatastrophe der „Erika“ an der bretonischen Küste liegt nun der abschließende Untersuchungsbericht vor.
Im Kern enthält er einige wichtige Forderungen, die
auch die Umweltverbände zum Schutz der Nord- und
Ostsee gestellt haben. So ist die Gründung eines zentralen Havariekommandos, das das Recht haben sollte,
auf alle Einsatzkräfte und Einsatzmittel von Bund, Ländern und Kommunen zuzugreifen, notwendig.
Der Bericht macht auch klar, dass auch das beste Katastrophenmanagement keine Unglücke verhindern kann
und die Bekämpfung der Folgen nur sehr schwer möglich ist. In diesem Sinne unterstützen wir auch die
Hauptintentionen des Koalitionsantrags.
Zur vorbeugenden Sicherheitsphilosophie gehört für
uns aber noch einiges andere. Im Expertenbericht wird
in klarer Sprache darauf verwiesen, dass bei der Unfallursache „menschliches Versagen“ die wirklichen Gründe meist tiefer liegen. Um Lohnkosten einzusparen,
rekrutieren sich die Schiffsbesatzungen erstens „aus aller Herren Länder“, wie der Bericht schreibt, und zweitens aus oft unqualifizierten Mannschaften. Um Tarifverträgen aus dem Weg zu gehen, wird fleißig ausgeflaggt, auch von deutschen Reedereien.
Wohl in keinem Bereich greift das internationale
Lohndumping, das andere für Wettbewerb halten, so
stark wie in der vermeintlich christlichen Seefahrt.
Nutznießer auf Kosten der Schiffssicherheit, also auf
Kosten der Umwelt oder gar von Menschenleben, sind
nicht nur Reedereien oder beauftragte Privatunternehmen, Nutznießer ist beispielsweise auch die Bundesregierung.
So führte Ende September letzten Jahres die Internationale Transportarbeiter-Föderation eine europaweite
Aktionswoche durch, bei der Sicherheits- und Ausbildungsstandards von unter Billigflagge fahrenden Seeschiffen überprüft wurden und die Reedereien zum Abschluss eines Tarifvertrages bewegt werden sollten.
Die Aktion wurde von der ÖTV unterstützt und führte
dazu, dass für 17 Schiffe Tarifverträge abgeschlossen
werden konnten. In diesem Zusammenhang wurde am
29. September in Cuxhaven die wie die „Pallas“ unter
der Flagge der Bahamas fahrende „Ravenna Bridge“
beim Laden bestreikt, weil für die Besatzung kein Tarifvertrag bestand. Laut ÖTV hat sich hier niemand anderes als die Bundeswehr als Streikbrecher betätigt. Sie
war nämlich Auftraggeber und wollte Güter für die
Truppe in den Kosovo verschiffen.
Aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage der PDS
ergibt sich, dass 70 Prozent der Schiffscharterungen der
Bundeswehr durch „offene Register“, also Billigflaggen,
realisiert werden. Die Charterung der Schiffe erfolge in
erster Priorität nach Wirtschaftlichkeit und Zuverlässigkeit, begründet die Bundesregierung ihre Strategie des
Lohndumpings. Dass in der Seefahrt das Konzept der
Billigflaggen in der Regel der Zuverlässigkeit genau
diametral entgegengesetzt ist, weiß allerdings jeder, der
mit der Materie nur ein bisschen zu tun hat. Das hat außerdem der vorliegende Expertenbericht bestätigt.
Hier zeigt sich im Übrigen eine Kontinuität. Die
„Ausflaggung“ von gesicherten Arbeitsplätzen aus Verwaltungen oder Betrieben des Bundes, der Länder und
Kommunen zu Privatfirmen spart Geld. Doch seien es
Reinigungskräfte, Postangestellte oder Bundestagspförtner - das Ganze geht auf die Knochen und Geldbörsen
der Beschäftigten, die fast immer deutlich niedriger entlohnt werden und deren Arbeitsbedingungen sich verschlechtern.
Ein Rätsel bleibt übrigens, warum seinerzeit die
Treuhand die ausreichende Bekämpfungskapazität der
DDR zum Schutz der Ostsee an Private verscheuert hat.
Alle Bekämpfungsschiffe und sonstiges Ölgerät wurden
verkauft. Mecklenburg-Vorpommern musste sich einen
Teil davon zurückchartern, damit nicht der Sicherheitsstandard gegen Null gefahren wird. Das sage ich an Ihre
Adresse, die Adresse der CDU/CSU.
Zum Schutz des Wattenmeeres scheint es uns geboten, die Verlegung der Hauptschifffahrtsstraße nach
Norden zu prüfen. Vorwarnzeiten und Sicherheitsabstände zum hochsensiblen Schutzgebiet können damit
vergrößert werden.
Wir fordern einen zweiten Hochseeschlepper mit der
Schleppkapazität der „Oceanic“. Dieser sollte vorgehalten werden.
Wir meinen, dass die Frist zum Übergang auf Doppelwandigkeit bei Tankern als Standard verkürzt werden muss. 25 Jahre sind hierfür zu lang. Wir fordern
weiter schärfere Haftungsverpflichtungen für Havaristen
und eine grenzüberschreitende polizeiliche Verfolgung
von Öl- und Müllsündern.
Danke.
({0})
Als
nächstem Redner erteile ich dem Bundesminister Reinhard Klimmt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Pallas-Katastrophe vom Oktober
1998 hat über viele Wochen hinweg die Öffentlichkeit
bewegt. Das Schicksal der gequälten Kreatur, gleichzeitig die Belastung der Natur, die wir immer wieder in den
Bildern der Medien gesehen haben, haben uns alle getroffen und betroffen gemacht. Deswegen haben wir
heute eine ganze Reihe von parlamentarischen Initiativen zu diesem Thema zu behandeln.
Bereits am 18. November 1998 hatte Ihnen mein
Amtsvorgänger Franz Müntefering einen Bericht vorgelegt, der die erste Thematik der Schadensbegrenzung,
die Bekämpfung der Ölverschmutzung und gleichzeitig
auch weitere Vorhaben, zum Beispiel die Einsetzung einer Kommission, zum Inhalt hatte.
Ich möchte Herrn Austermann in einem Punkt etwas
korrigieren. Mein Ministerium, das ja aus zwei Häusern
zusammenwächst, wurde in seiner personellen Ausgestaltung in den Hauptteilen nicht unbedingt durch Sozialdemokraten besetzt, sondern durch Vorgänger, die sowohl die F.D.P. als auch die CDU und die CSU gestellt
haben. Ich kann Ihnen versichern, dass wir uns auf die
Loyalität und die Fähigkeiten der im Baubereich und im
Verkehrsbereich Beschäftigten, der Beamten und auch
der Angestellten, voll verlassen können. Ich möchte
ausdrücklich die Beamten und Angestellten meines
Hauses gegen den Vorwurf in Schutz nehmen, sie würden unqualifizierte, parteipolitisch motivierte Arbeit
leisten.
({0})
Eingesetzt wurde, wie sich das gehört, eine unabhängige Expertenkommission. Diese Expertenkommission
hat unter der Leitung von Senator a. D. Claus Grobecker
getagt. Sie konstituierte sich vor etwa einem Jahr und sie
hatte den Auftrag, das Notfallkonzept zu bewerten und
gleichzeitig Vorschläge für seine Weiterentwicklung zu
machen, um einen optimalen Küstenschutz sowohl für
die Nord- als auch die Ostsee zu garantieren.
Dieser Bericht ist gestern vom früheren Senator
Grobecker vorgelegt worden. Ich möchte ihm für seine
gründliche Arbeit danken. Es war richtig, dass man
gründlich gearbeitet und sich Zeit genommen hat. Es
gab zwischendurch den Wunsch, etwas mehr Druck auf
die Pipeline zu bringen, damit der Bericht schneller zustande kommt. Aber die 30 Punkte, die nach wirklich
gründlicher Analyse erarbeitet worden sind, können sich
sehen lassen. Deswegen ein ganz herzliches Dankeschön
an Claus Grobecker und seine Mitstreiter, die diesen Bericht erstellt haben.
({1})
Anhand der 30 Punkte ist deutlich geworden, dass
einiges veränderungswürdig und veränderungsbedürftig
ist. Deswegen gibt es eine Reihe von zukunftsorientierten Empfehlungen. Es ging nicht darum, festzustellen,
wie die Verantwortlichkeit in der Vergangenheit war. Es
gibt andere Einrichtungen und auch andere parlamentarische Gremien, um individuelle Schuld und Verantwortung zu definieren oder entsprechende Ursachen auf
ihre Konsequenz etwa in strafrechtlicher Hinsicht zu
überprüfen.
Nein, es geht vor allem darum - das sind auch die
vier wichtigsten Kapitel des Berichts -, die Sicherheit
der Verkehrswege und die damit verbundene Landorganisation zu garantieren. Es geht auch darum, die Sicherheit an Bord und des Schiffbetriebs zu garantieren. Es
muss also auch die Sicherheit des Schiffbetriebs selbst
überprüft werden, um zu erkennen, was dort verbessert
werden kann. Es geht auch um das wichtige und große
Thema der Ausbildung; denn wir müssen darauf achten,
dass angesichts der Standards, die trotz einer immer
komplizierter werdenden Technik erfüllt werden müssen, auch diejenigen, die die Schiffe führen und die Arbeiten auf den Schiffen erledigen, optimal ausgebildet
sind, damit sie nicht aufgrund von Unkenntnis - nicht
aus bösem Willen heraus - Fehler machen.
({2})
Wir müssen überprüfen, wie wir den Schutz der Meeresumwelt und der Küste garantieren können. Auch hier
gibt es einiges, was durch die Forschung geklärt werden
muss, etwa der Einsatz von Chemikalien, mit deren Hilfe Ölkatastrophen bekämpft werden können, die aber
möglicherweise neue Risiken in sich bergen. Hier muss
eine ausführliche Forschung betrieben werden.
Wir müssen prüfen - das gehört zu unserer Gesellschaft dazu -, wie die jeweilige Rechtslage ist, ob unsere
Rechtsinstrumente ausreichen und ob das, was die Versicherungen anbieten, noch den entsprechenden Risiken
und Gefährdungen entspricht, gerade auch im Hinblick
auf unsere sehr dicht befahrenen Wasserstraßen.
30 Empfehlungen sind ausgesprochen worden. Das,
was mir und sicherlich auch dem Herrn Innenminister
gut schmeckt, ist, dass nicht vorgeschlagen wurde,
grundsätzlich die Zuständigkeiten durch eine Änderung
des Grundgesetzes zu korrigieren.
({3})
In der Diskussion über die Frage, ob nach amerikanischem Vorbild etwas verändert werden muss, ist deutlich geworden: Veränderungen können wir auch mit den
vorhandenen Zuständigkeiten, Regelungen und Organisationen erreichen. Es ist völlig unbestritten, dass wir
dabei für eine klare und eindeutige Leitungsstruktur sorgen müssen - vielleicht darf man in diesem Zusammenhang auch den Begriff Kommandostruktur verwenden -,
und zwar unabhängig davon, wie wir das im Einzelnen
in Übereinstimmung mit den betroffenen Küstenländern
organisieren.
Ich bin auch der Meinung, dass wir uns sehr viel Gedanken darüber machen müssen, was auf der internationalen Ebene dazu beigetragen werden kann. Es liegt
nicht nur in unseren Händen, die entsprechenden Veränderungen vorzunehmen; denn ein Großteil hängt natürlich von Vereinbarungen ab, die wir bilateral mit unseren Nachbarländern treffen, bzw. von dem, was auf EUEbene geregelt werden kann. Natürlich spielt für den gesamten internationalen Bereich die IMO eine ganz besondere Rolle. Im Rahmen dieser Organisation müssen
wir versuchen, mit unseren Vorstellungen durchzudringen, um zweifellos notwendige Verbesserungen zu erreichen.
Auch die schrecklichen Bilder von der Katastrophe
der „Erika“ vor der bretonischen Küste haben ganz Europa und insbesondere Frankreich aufgeschreckt. Ich bin
sehr dankbar, dass die damit verbundene gewachsene
Sensibilität den französischen Verkehrsminister dazu
gebracht hat, sich mit mir zusammen vorzunehmen, etwas auf der internationalen Ebene zu verändern. Es geht
darum, die Vorschläge der Expertenkommission, die wir
bei uns nicht umsetzen können, auf der EU-Ebene und
gleichzeitig gemeinsam mit anderen interessierten Ländern in der IMO zu realisieren.
Wir haben uns auf folgende Themen verständigt, die
wir aufgreifen wollen. Wir wollen ein europäisches System für die Überwachung des Seeverkehrs schaffen.
Das gibt es noch nicht. Es europaweit zu garantieren, ist
meines Erachtens eine der wichtigen Aufgaben für die
Zukunft. Wir dürfen nicht nur Normungen schaffen;
vielmehr müssen wir auch dafür Sorge tragen, dass die
Kontrollen tatsächlich ausgeübt werden. Mit diesem
Punkt müssen Garantien verbunden sein.
({4})
Auch der „Erika“ wurde von einer zuständigen und
anerkannten Stelle ihre Seetüchtigkeit bestätigt. Man
bedenke, in welchem Zustand sich dieses Schiff befunden hat. Von einer deutschen Überwachungsbehörde
wäre es nicht als tauglich anerkannt worden. Insofern
müssen wir diese Frage nicht nur bei uns, sondern natürlich auch international klären.
Dazu gehören die Verschärfung der technischen
Normen und Transparenz auf dem Seeverkehrsmarkt. Es
ist zu klären - mit den vorhandenen Möglichkeiten ist
das durchaus machbar -, in welchem Zustand sich ein
Schiff, das unterwegs ist, eigentlich befindet, wie alt es
ist und wann es das letzte Mal eine Überprüfung seiner
Einrichtungen gehabt hat. Wir brauchen selbstverständlich Sanktionsmöglichkeiten bei Nichtbeachtung der
IMO-Normen. Auch auf diesem Gebiet muss etwas zustande gebracht werden.
Die französische Ratspräsidentschaft in der zweiten
Hälfte dieses Jahres bietet uns dazu die Gelegenheit. Gerade in der Phase einer so hohen Sensibilisierung ist diese Ratspräsidentschaft ein günstiges Zusammentreffen.
Vor dem Hintergrund des gigantischen Verkehrs, der
sich etwa auf dem Kanal abwickelt, ist Frankreich ständig in einem hohen Maße gefährdet. Die Bereitschaft
müsste dort eigentlich vorhanden sein, die Lösung dieses Problems jetzt endlich in Angriff zu nehmen. Wir
haben auf unsere Initiative eine deutsch-französische
Arbeitsgruppe vereinbart, die entsprechende Lösungsvorschläge im Vorlauf entwickeln wird, sodass der
Startschuss hierfür nicht erst fällt, wenn im Sommer die
Ratspräsidentschaft an die Franzosen übergeht.
({5})
Es ist für mich eine Selbstverständlichkeit, dass wir
auch mit unseren anderen Nachbarn zusammenarbeiten
müssen. Ich denke an Dänemark. Eines der Probleme,
das uns besondere Sorgen gemacht hat, war, wie das Zusammenspiel zwischen den beiden Ländern funktioniert.
Bisher hat es eher nicht funktioniert. Ich erinnere darüber hinaus an die Zusammenarbeit mit den Holländern
und den Belgiern.
Für die Ostsee ist es von großer Bedeutung, was dieses endlich wieder zum Binnengewässer gewordene
Meer eigentlich macht. Wie schützen wir es in Zusammenarbeit mit den Polen, mit den skandinavischen Ländern und auch mit Russland? Wie können wir die entsprechenden Abmachungen treffen? Wir werden Regelungen finden, damit man nicht meint, die Behandlung
dieses Themas sei auf die Zusammenarbeit zwischen
Deutschland und Frankreich beschränkt.
Herr
Bundesminister, Ihre angemeldete Redezeit ist bei weitem überschritten. Sie können natürlich weitersprechen;
aber das geht dann zulasten Ihrer Fraktionskollegen.
Das würde auf das Konto
meiner verehrten Freunde von der sozialdemokratischen
Fraktion gehen. Das möchte ich natürlich nicht, weil
diese Abgeordneten mindestens so viel an Argumentation wie ich sachkundig vortragen können.
Es sei mir erlaubt, nur noch eines zu sagen: Hundertprozentige Sicherheit werden wir nicht erreichen können. Aber es ist unsere Aufgabe, mit Sofortmaßnahmen,
von denen es eine ganze Reihe gibt und die die Bundesregierung eingeleitet hat, dafür Sorge zu tragen, dass wir
die Risiken, so weit es mit unseren menschlichen Kräften möglich ist, ausschließen.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Wolfgang Börnsen von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Verkehrsminister, dat hört sik good an, wat Se seggt hebben. Man
glöben doon wi dat erst, wenn dat Wirklichkeit ward.
({0})
Der Verkehrsminister wird auch von uns bei der Ergreifung von Maßnahmen unterstützt, die wir für sinnvoll halten und die für die nationale Küstensicherung
wichtig sind. Bisher hat in diesem Parlament über diese
Grundsätze immer Einvernehmen geherrscht, querbeet
durch alle Fraktionen. Dabei soll es auch bleiben.
Herr Verkehrsminister, ich muss aber noch eine Korrektur vornehmen: Niemand hat gesagt, dass Ihre Mitarbeiter nicht loyal arbeiten.
({1})
Der Vorwurf lautete, dass Ihr Vorgänger - dafür können
Sie nichts - genau in den Tagen der „Pallas“-Krise von
acht Abteilungsleitern sechs ausgewechselt hat,
({2})
weil er der Auffassung war, sie würden nicht loyal mitarbeiten. In einer Krisenzeit muss man sich aber auf die
bewährten Kräfte verlassen. Allein so lautete der Vorwurf und nicht anders.
({3})
Um einen Eindruck davon zu bekommen, um was es
uns eigentlich geht, will ich auf einige Tatsachen aufmerksam machen: Jährlich haben wir 420 000 Schiffspassagen in der Nordsee, 80 000 davon in der Deutschen
Bucht. Es handelt sich um eines der meistbefahrenen
Seereviere in der Welt. Entsprechend groß ist die Anzahl
der Havarien; in den letzten zehn Jahren gab es immerhin 48. Über 122 größere Ölunfälle hat es allein zwischen 1985 und 1995 gegeben.
({4})
Die Anzahl der verdeckten und unentdeckten Umweltsünder und der Beinahe-Katastrophen geht in die Tausende. Mindestens 20 Prozent aller Tanker haben Substandard, nur ein Bruchteil ist mit modernen Doppelhüllen ausgestattet. Menschen, Tiere und Pflanzen an der
Küste leben ständig auf einem Pulverfass, und die Lunte
brennt.
({5})
Stellen Sie sich vor, dass dpa gerade meldet: Supertanker im Orkan vor Helgoland havariert - 50 000 Tonnen Öl laufen aus! Panik auf See und an der Küste. Die
Meldung geht dann weiter: Deutschlands Nachbarn haben bereits reagiert, Frankreich hat seine Taskforce
alarmiert, Hubschrauber aus England sind im Einsatz,
Dänemarks Marine ist bereits auf dem Weg zum Unglücksort, Brandexperten aus den Niederlanden sind unterwegs. Die Meldung endet mit dem Satz:
({6})
In Deutschland laufen schon lange die Kabel zwischen
Berlin und Bremen, Kiel und Hamburg, Wilhelmshaven
und Bremerhaven heiß. Drei Krisenstäbe sind eingesetzt.
Klärungsbedarf gibt es über die Zuständigkeit, doch
Bund und Länder sind sich einig: Wir müssen handeln. Ende der fiktiven Meldung.
({7})
Ein havarierter Großtanker vor der deutschen Küste das kann uns täglich treffen. 16 Monate nach der „Pallas“-Havarie sind wir immer noch nicht für ein Meeresunglück dieser Art ausreichend gerüstet, Herr Verkehrsminister.
({8})
Dabei hat die „Pallas“ den Finger auf die Wunde gelegt.
Das politische Krisenmanagement hat versagt, nicht das
administrative und nicht die Rettungsorganisationen. Ein
grüner Umweltminister hat sich als unfähig erwiesen,
die Umwelt zu schützen. Das ist die Wirklichkeit.
({9})
Auch das Konzept „Küstenwache“ zeigt deutliche
Schwächen. Ein Holzfrachter mittlerer Größe hat das
trügerische System Küstensicherheit am 26. Oktober
1998 demaskiert. Noch immer liegt die Führungskompetenz im Ernstfall nicht klar in einer Hand. Noch immer
liegen wichtige Seerechtsabkommen ununterschrieben
auf dem Tisch,
({10})
noch immer gibt es Widersprüche bezüglich der Zuständigkeiten von Bund und Ländern, noch immer haben wir
keine einheitliche nationale Küstenwache wie die Amerikaner, die Franzosen oder die Dänen.
({11})
Dabei haben wir bereits vor über einem Jahr über die
Konsequenzen aus der „Pallas“-Katastrophe diskutiert.
Wir waren uns damals parteiübergreifend einig: Die nationale Küstenwache muss her - so zügig wie möglich.
Greifbare Ergebnisse fast 500 Tage nach der Havarie:
Fehlanzeige! Gutachten ja, Konzepte nein, und das, obwohl die Idee einer schlagkräftigen Wasserschutztruppe
nicht neu ist.
Mehrfach hatte bereits Matthias Wissmann Mitte der
90er-Jahre mit Unterstützung des Parlamentes versucht,
eine nationale Küstenwache einzurichten.
({12})
Manch einer auch Ihrer Kollegen wird sich daran erinnern, dass unsere Freunde in den Bundesländern die
Verhinderer eines nationalen Konzeptes gewesen sind.
({13})
Das war bereits Anfang 1990 so und das war 1994 so.
Inzwischen hatte man zwar Küstenzentren für die Nordsee und für die Ostsee geschaffen. Aber die Straffung aller Maßnahmen im Hinblick auf eine nationale Führungskompetenz ist ausgeblieben.
({14})
Die Begründung der Bundesländer war immer - dafür
muss man Verständnis haben -: Verfassungsmäßig sind
wir für die Polizeiaufgaben zuständig. Wenn uns auch
das noch verloren geht, welche Kompetenzen bleiben
denn dann bei uns Bundesländern, ob sie nun schwarz,
rot, gelb oder grün regiert werden? Dahinter steckt eben
mehr als nur das Problem eines gemeinsamen Handelns
im Falle der Notwendigkeit von Rettungsmaßnahmen.
Ich denke schon, dass es richtig gewesen ist, dass die
frühere Regierung trotz dieses Widerstandes mit Unterstützung des Parlamentes Rettungsstrukturen durchgesetzt hat, die zu einer Straffung geführt haben, zwei
Küstenwachzentren eingesetzt hat und dass es zu einer
ersten Vernetzung von Küstenwachorganisationen gekommen ist.
Was wir jetzt noch brauchen, ist Entscheidungsklarheit und mehr Entscheidungskompetenz in einer Hand.
Die „Pallas“-Havarie hat die Notwendigkeit eines übergreifenden Schutzkonzeptes deutlich gemacht. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat bereits 1998 auf eine
verbesserte Sicherheitsstruktur aufmerksam gemacht.
Was hat der damalige Verkehrsminister, Herr Müntefering, geantwortet? Es bestehe kein Handlungsbedarf hier im Parlament. Das Wrack der „Pallas“ sprach und
spricht, wie ich finde, immer noch eine andere Sprache.
Im Frühjahr 1999 hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in einer Großen Anfrage sachbezogen
nachgefragt. Denn es ging uns um die Schaffung einer
nationalen Küstenwache und um die Aufforderung zu
einem gemeinsamen parlamentarischen Handeln. Auch
hier haben wir leider Fehlmeldungen zu verzeichnen.
Denn von 54 Fragen in unserer Anfrage sind 26 nicht
vernünftig bzw. ausweichend beantwortet worden. Das
ist gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit
nicht vertretbar. Die Regierung ist zu einer sachkundigen Aussage angehalten und dafür verantwortlich. Ich
glaube schon, dass das jetzt vorgelegte Gutachten dazu
beitragen kann, die diesbezügliche Diskussion gemeinsam neu auszurichten.
16 Monate nach der „Pallas“-Havarie fehlt noch immer ein vertretbares Regierungshandeln. Wir müssen
weg vom Kompetenzwirrwarr, hervorgerufen von vier
Bundesministerien, 16 Landesministerien und fünf Bundesbehörden, die alle eingeschaltet werden, wenn es ein
Unglück in der Nordsee gibt. Im Krisenfall muss in einer Zentrale, aus einer Hand entschieden werden. Auch
sollte überlegt werden, ob nicht in Zukunft die Bundesmarine, wie in anderen Ländern auch, Teil eines solchen
maritimen Krisenkonzeptes wird. Dänemark zeigt, wie
es geht.
({15})
In einer Katastrophe muss uns ein gemeinsames Handeln von einer Zentrale aus möglich sein.
Wir schlagen vor, eine nationale Küstenwache einzurichten. Die Einsetzung einer Seewache und die Havarieorganisation sind ein guter Anfang, aber noch nicht
die ideale Umsetzung des gesetzten Zieles. Wir brauchen eine jährliche Küstenwachekonferenz. Wir brauchen in Europa eine verstärkte Vernetzung zwischen den
Nordseeanrainern, um ein Euro-Schutzkonzept aufzustellen. Auf dem nächsten Ministerrat sollte über dieses
Thema verhandelt werden. Herr Minister, Ihre Initiative
zusammen mit Frankreich ist ein erster guter Schritt.
({16})
Wir brauchen eine Optimierung der internationalen
Schiffssicherheit. Sie muss auf den Prüfstand. Die
Mehrzahl der Schiffe wird tadellos gefahren. Doch die
Seelenverkäufer, die schwarzen Schafe, sind auszugrenzen. Doppelhüllentanker sind für die Deutsche Bucht zur
Pflicht zu machen.
({17})
Gefahrgüter wie Öltransporte auf gefährdeten Wasserstraßen müssen bei widrigem Wetter durch Schlepper
begleitet werden. Wir brauchen ferner eine Datenautobahn für eine vernetzte europäische Küstenwache.
Wir müssen - dieser Punkt ist ganz wichtig - immer
wieder an die Ursachen von Havarien und Meeresunglücken denken. Neben der technischen Schiffssicherheit ist
menschliches Fehlverhalten immer noch Ursache Nummer eins für die Katastrophen. Ich glaube schon, es ist
richtig, dass man eine Bildungs- und Ausbildungsoffensive startet, damit besonders bei dem Faktor Mensch angesetzt werden kann.
Abschließend möchte ich sagen, dass die Expertenkommission auch von uns allen Dank verdient. Aber es
bleibt die Kardinalfrage - der Verkehrsminister ist ihr
Wolfgang Börnsen ({18})
ausgewichen -: Kommen wir im Hinblick auf die jetzigen Vorschläge ohne eine Verfassungsänderung aus?
Kann man die Maßnahmen ohne eine Verfassungsänderung umsetzen? Das ist eben nicht möglich.
Wir haben zehn Jahre lang bezüglich dieser Frage mit
den Ländern im Streit gelegen. Nach meiner Auffassung
erreichen wir erst dann eine einheitliche, vernünftige
und vertretbare nationale Küstenwache - wie sie auch
von unserer Fraktion in Kiel inzwischen gefordert
wird -, wenn wir zu einer Verfassungsänderung kommen. Sie gibt Klarheit, Ausblick und eine europäische
Dimension, die wir brauchen.
Herzlichen Dank.
({19})
Als
nächster Rednerin erteile ich der Kollegin Gila Altmann
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Herr Börnsen, eens is seker: Wat wi hier vertellen, dat
mok wi ok - anners als ji 16 Johr lang.
Trotz des Wahlkampfes muss man sich über einige
Punkte doch wundern. Zum ersten Punkt. Man muss
sich zunächst über das wundern, was uns Herr Koppelin
gerade verkauft hat. Ich möchte hinsichtlich des Zeitablaufes der Wahrheit etwas nachhelfen. Am 25. Oktober
gerät die „Pallas“ vor der dänischen Küste in Brand. Am
26. Oktober treibt sie führerlos in deutsche Hoheitsgewässer.
({0})
Erst am 27. Oktober wird die „Oceanic“ nach Scheitern
des Abschleppversuches durch die Mehrzweckschiffe
angefordert. Die „Oceanic“ kann aber wegen zu großen
Tiefganges nicht mehr eingreifen, weil die „Pallas“
schon zu weit in Richtung auf die Küste getrieben ist.
({1})
Herr Koppelin, am 27. Oktober ist aber noch etwas
passiert. Erst an diesem Tag hat der Regierungswechsel
stattgefunden. Das heißt, wenn die damalige Regierung
und unsere jetzige „fitte“ Opposition hätte handeln wollen, dann hätte sie es am 25. und 26. Oktober noch tun
können. Das ist der erste Punkt.
({2})
Zum zweiten Punkt. Die „Oceanic“ ist erst mit
17 Stunden Verspätung eingesetzt worden, weil der
zentrale Meldekopf - das ist eine Bundesbehörde - erst
verspätet reagiert hat. Die Gründe waren, wie wir inzwischen wissen, Kompetenzgerangel und auch Eifersüchteleien. Aber auch wenn es Ihnen nicht passt und Sie es
nicht mehr hören können: Es sind Ihre Altlasten.
({3})
- Von wegen Steenblock. - Es sind Ihre Versäumnisse,
die wir jetzt aus dem Weg räumen müssen.
({4})
Bis zum Regierungswechsel haben CDU/CSU und
F.D.P. gemeinsam auf die Sturmgewalten, die die Frachter und Tanker vor der deutschen Nordseeküste in Gefahr brachten, weitgehend mit geistiger Windstille reagiert, nach dem Motto „Lieber nie als gar nicht“. Insofern wollte ich Sie eigentlich heute zu der späten Einsicht beglückwünschen, dass das Konzept der alten
Bundesregierung nicht ausreicht und dass es dringend
nachgebessert werden muss. Aber Ihr Reden ist ein zu
durchsichtiges Manöver und enthält zu viel Wahlkampfgetöse auf Kosten der Umwelt.
({5})
Jetzt komme ich zur Sache.
({6})
Sie koffern gegen Steenblock, dass es nur so kracht. Ich
frage Sie aber: Auf welcher Grundlage? Auf welche
konkrete Eingriffsermächtigung und auf welches Auswahlermessen beziehen Sie sich? Aber einmal angenommen, es würde stimmen: Was hätte Steenblock dann
tun können? Welche Einsatzmittel hatte er denn zur Verfügung? In dieser Frage möchte ich mit Herrn Börnsen
und mit Herrn Koppelin auf der Grundlage der Ergebnisse des Untersuchungsausschusses in SchleswigHolstein einmal zehn kleine Jägermeister spielen.
79 Schlepper waren in der Deutschen Bucht. Davon
kamen Schiffe mit weniger als 34 Tonnen Pfahlzug
nicht in Frage, das heißt 48 schieden aus. Von den
verbleibenden Schleppern hätten 14 eine zu lange Anreise gehabt. Bleiben 17. Von den 17 Schleppern wären
sieben nicht einsetzbar gewesen, weil sie ab Windstärke 7 nur noch bedingt schleppen können. Wir hatten
aber Orkan, also Windstärke 9 bis 11.
({7})
- Nein, das steht im Untersuchungsbericht des Landestages von Schleswig-Holstein. - Bleiben also noch
zehn Schiffe. Davon gehören zwei der Bundesmarine,
über die Schleswig-Holstein nicht verfügen kann.
({8})
Fünf sind Hafenschlepper, das heißt für Häfen und nicht
für die hohe See. Verbleiben drei, nämlich die Mehrzweckschiffe „Mellum“ und „Neuwerk“ und der Sicherheitsschlepper „Oceanic“, die auch, vom Bund geordert,
am Einsatzort waren.
Wolfgang Börnsen ({9})
Frau
Kollegin Altmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin?
Nein, nicht von Herr Koppelin. Ich finde, er hat
heute schon genug dummes Zeug reden können.
({0})
Was also hätte Herr Steenblock tun können? Sich an
den Strand stellen und rufen, die „Pallas“ solle nicht näher kommen? Das wäre es doch gewesen!
Herr Austermann, Sie singen hier die Arie vom Respekt gegenüber den Leuten. Sie tun aber Folgendes: Sie
diskreditieren all jene, die bei der Havarie der „Pallas“
ihr Leben und ihre Knochen riskiert haben.
({1})
Sie stempeln sie als faul und unfähig ab.
({2})
Aber im Wahlkampf ist Ihnen ja jedes Mittel recht.
Folgendes möchte ich noch sagen: Wenn Sie von
Herrn Steenblock so etwas wie eine Django-Manier erwarten, dann heißt das ja, dass Sie eine Art Noteintrittsrecht im Zusammenhang mit Art. 31 GG fordern. Dieses
Recht hätte er aber nur wahrnehmen können, wenn die
Bundesbehörden völlig untätig und völlig unfähig gewesen wären.
({3})
Dort haben jedoch Beamte 16 Jahre lang loyal das gemacht, was ihnen letztendlich von der alten Bundesregierung auferlegt worden ist.
({4})
Diese Leute diskreditieren Sie ebenfalls. Ich muss sagen,
Sie leisten hier wirklich ganze Arbeit.
({5})
Aber nach vorne gucken ist angesagt, und zwar sachorientiert. Eine entscheidende Schwäche war das Kompetenzgerangel. Deshalb wollen wir eine Bündelung
der Entscheidungsstrukturen, das heißt, wir wollen
die verschiedenen Ebenen zu einem Gesamtkonzept zusammenschließen. Was wir nicht wollen, ist ein weiteres
Aufblähen der bestehenden Strukturen zu einem bürokratischen Wasserkopf. Erst recht nicht wollen wir die
verschiedenen Versuche der CDU - die Herr
Austermann heute auch wieder unternommen hat -, über
den Schutz der Küsten andere ordnungsrechtliche oder
sonstige Ziele zu verfolgen.
Die Große Anfrage der CDU/CSU zum Thema Küstenschutz hat hierüber sehr viel Aufschluss gegeben. Sie
besteht ungefähr zur Hälfte aus Fragen, die sich auf andere Themen beziehen, wie Kriminalitätsbekämpfung,
Drogen, die Umsetzung des Schengener Abkommens,
also das Verfolgen von Flüchtlingen. Auch die CDU in
Mecklenburg-Vorpommern hat sich ja dazu geäußert.
Sie verfolgt in Anlehnung an die Aufgaben der US
Coast Guard, bei der übrigens der Umweltschutz nur ein
Punkt von vielen ist, sogar eine Änderung des Grundgesetzes, um Hoheitsrechte umzuverteilen. Das heißt, Sie
wollen den Küstenschutz als Vehikel benutzen, um den
Law-and-Order-Staat durch die Hintertür zu installieren.
Genau das machen wir nicht mit.
Einziger Maßstab, wenn es darum geht, Entscheidungs- und Verantwortungsstrukturen zu effektivieren,
kann der größtmögliche Schutz des Wattenmeeres, der
Küste und der Inseln sein.
({6})
Hierfür hat die neue Bundesregierung bereits eine ganze
Menge getan, und sie wird noch viel mehr tun. Das ist
hier schon ausgeführt worden. Deshalb erspare ich mir
weitere Ausführungen dazu. Man muss aber sehen, dass
Prävention das beste und erfolgreichste Mittel ist. Wenn
der Unfall erst passiert ist, ist alles zu spät. Das hat uns
der Unfall des Tankers „Erika“ vor der bretonischen
Küste drastisch vor Augen geführt. Dabei sind über
300 000 Vögel elendig verreckt, und der Albtraum ist
noch längst nicht zu Ende.
Diese Katastrophe hat aber auch die technischen Grenzen der Ölbekämpfung aufgezeigt. Es waren zehn Ölbekämpfungsschiffe aus ganz Europa vor Ort. Sie haben
aber zusammen nur einen Bruchteil der ausgelaufenen
Ladung, nämlich gerade einmal 400 der insgesamt
10 000 bis 12 000 Tonnen Schweröl aufnehmen können.
Immerhin ein Viertel davon, nämlich 100 Tonnen, hat
die „Neuwerk“ geleistet. Aber insgesamt war es nur ein
Tropfen auf dem heißen Stein.
Die Erfahrungen mit „Lucky Fortune“ und „Ruby
XL“ haben auf der anderen Seite deutlich gemacht, dass
Vorsorge auch in der akuten Notsituation möglich ist.
Sie erinnern sich: Im Dezember trieb die „Lucky Fortune“ bei Orkan mit Maschinenschaden und mit 1 200
Tonnen Schweröl im Bauch auf Sylt zu. Mit dem rechtzeitigen und beherzten Einsatz des Sicherheitsschleppers
„Oceanic“ ist es gelungen, die „Lucky Fortune“ zwölf
Meilen vor der Küste vor einer Strandung zu bewahren.
Der Havarist wurde später mit Unterstützung des Mehrzweckschiffes „Mellum“ in einen sicheren Hafen gebracht. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir mindestens einen Sicherheitsschlepper mit mindestens 165
Tonnen Pfahlzug in der Deutschen Bucht weiterhin stationieren.
Meine Damen und Herren, Verkehrsminister Klimmt
hat schon angesprochen, dass es keine absolute Sicherheit gibt. Es bleibt immer ein Restrisiko. Wir können
Schäden an Bord nicht verhindern, aber wir können das
kalkulierbare Risiko minimieren. Alles andere wäre
fahrlässig.
Gestern Abend haben wir den Bericht der unabhängigen Expertenkommission erhalten. Die Ergebnisse des
Berichtes müssen jetzt Punkt für Punkt bewertet und wo
nötig auch kritisch hinterfragt werden. Die Koalition
und die Bundesregierung arbeiten mit Hochdruck an einem Sicherheitskonzept, das diesen Namen verdient was Sie in 16 Jahren nicht geschafft haben -, das bei der
Verkehrslenkung beginnt und beim Unfallmanagement
noch lange nicht endet.
Ich danke Ihnen.
({7})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ulrike Flach von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Das Unglück des Holzfrachters „Pallas“
war keine ökologische Katastrophe, liebe Frau Altmann,
es war eine organisatorische Katastrophe für die rotgrünen Regierungen in Schleswig-Holstein und Berlin.
({0})
Durch die Unfähigkeit, eine schnelle Koordination
der zuständigen Behörden zu gewährleisten, ist der
Schaden wesentlich größer geworden, als es bei einer
funktionierenden Krisenbewältigung der Fall gewesen
wäre. Da hilft es auch nicht, das durch das Aufzählen
von Schlepperkapazitäten zu beschönigen, Frau Altmann. Frau Simonis hat Ihretwegen bzw. wegen Herrn
Steenblock eine Regierungskrise, eine Koalitionskrise,
ausgerufen. Ich glaube, das spricht für sich.
({1})
Wir alle wissen - ich habe heute einen friedlichen
Tag -, dass Unfälle in der Schifffahrt nicht hundertprozentig zu vermeiden sind. Die Zusammenarbeit von
Bundes- und Landesbehörden und privaten Rettungsorganisationen ist dringend verbesserungsbedürftig. Das
hat der Unfall eindeutig bewiesen, und das hat das Seeamt Kiel noch vor der dankenswerten Arbeit der Kommission schon am 21. August 1999 eindeutig bestätigt.
Bereits im Frühjahr 1999 haben wir alle Anträge zur
Verbesserung des Küstenschutzes vorgelegt. Sie haben immer darauf verwiesen, man müsse erst den Bericht der unabhängigen Sachverständigenkommission
abwarten. Wir haben auf eine sehr schnelle Vorlage gedrängt. Es ging dabei nicht darum, die Arbeit von Senator Grobecker und seiner Kommission unter Druck zu
setzen.
Die Regierung selbst hat mehrfach eine Vorlage des Berichtes angekündigt und das dann nicht eingehalten. Wir
haben Sie zum Schluss sogar mit einem Antrag auffordern müssen, den Bericht unverzüglich vorzulegen. Ich
frage mich zu Recht, Herr Koppelin: Warum diese
Langsamkeit? Es geht schließlich um den Schutz von
einmaligen Naturräumen, seltenen Vogelarten und nicht
zuletzt um den Schutz von Menschenleben.
({2})
Ich habe den Eindruck, bei der Langsamkeit geht es
auch um den Schutz von Herrn Steenblock.
Dass eine bessere Koordination dringend notwendig
ist, beweist folgender Vorfall unter Ihrer Ägide: Am
5. November 1999 brach auf dem norwegischen Frachter „MS Mercator“ ein Feuer aus. Auf ihrem Weg von
Hamburg nach Berlin wollte die „Mercator“ deshalb
Brunsbüttel als Nothafen anlaufen. Die schleswigholsteinischen Behörden lehnten es jedoch ab, einen
Liegeplatz zur Verfügung zu stellen. Die Feuerwehr
Brunsbüttel, die zur Brandbekämpfung bereits an Bord
gegangen war, musste unverrichteter Dinge wieder abziehen.
({3})
Unter dem Geleit des Schleppers „Mellum“ musste die
brennende „Mercator“ in den Hamburger Hafen einlaufen, wo sie von der Hamburger Feuerwehr gelöscht
wurde.
({4})
Das ist ein Skandal, der gefährliche Folgen hätte haben können. Es kann nicht sein, dass brennende Schiffe
aufgrund bürokratischer Borniertheit über unsere Meere
fahren müssen.
({5})
Gestern Abend hat die unabhängige Expertenkommission ihren Abschlussbericht vorgelegt. Ich möchte
mich bei dieser Gelegenheit bei Senator Grobecker und
seinem Team herzlich für die geleistete Arbeit bedanken.
Ich stelle fest, dass die 30 Empfehlungen des Berichtes eine sehr hohe Übereinstimmung mit den von der
F.D.P. geforderten Maßnahmen aufweisen, die wir im
letzten Jahr in unserem Antrag vorgeschlagen haben. Da
ist die Kernforderung nach Zusammenführung der mit
Aufsichtsaufgaben betrauten, auf See tätigen Dienste des
Bundes zu einer Einheit mit gemeinsamer Flotte und
gemeinsamem Kommando. Wir haben dies „Küstenwache“ genannt, die Kommission nennt es „Seewache“.
Das ist wohl treffender, weil es schließlich nicht nur um
den Schutz von Küstengewässern geht. Ein gemeinsames Havariekommando soll den zentralen Meldekopf,
Meldestelle, Einsatzleitgruppe, Sonderstellen von Bund
Gila Altmann ({6})
und Ländern ersetzen und autonom entscheiden, in welchen Fällen es das Kommando mit Durchgriffsrecht auf
alle erforderlichen Einsatzkräfte übernimmt. Auch dies
finden Sie in unserem Antrag.
Ganz wichtig ist auch eine verbesserte Öffentlichkeitsarbeit, wie sie in Empfehlung 13 vorgeschlagen
wird. Ein Mitarbeiter des Havariekommandos soll zentral als Ansprechpartner für Medien und Öffentlichkeit
dienen. Ich weise nur darauf hin, dass die F.D.P. auch
dies gefordert hat.
Beide Papiere enthalten die Forderung nach verbesserter Zusammenarbeit mit den Niederlanden und Dänemark sowie nach Modernisierung der Ausrüstung der
Schlepper. Im Bericht der Kommission finden Sie außerdem - das ist für uns Umweltpolitiker sehr begrüßenswert - den Vorschlag zur Weiterentwicklung von
Ölbekämpfungsmitteln mit möglichst geringen Umweltschäden.
Von der rechtlichen Seite empfehlen F.D.P.-Antrag
und Kommissionspapier die schnelle Ratifizierung des
internationalen Bergungsabkommens, des internationalen Abkommens über die Beschränkung für Seeforderungen sowie die Weiterentwicklung der IMO-Richtlinien für ein Haftungsübereinkommen für austretendes
Bunkeröl.
Ganz wichtig ist aus unserer Sicht, meine lieben Kollegen von der SPD, dass die Kommission ausdrücklich
keine Notwendigkeit für eine generelle Ausweitung der
Schutzzonen und eine generelle Verlegung von Verkehrstrennungsgebieten sieht, sondern ein System der
flexiblen Wegeführung bevorzugt. Das widerspricht
eindeutig dem überzogenen Vorschlag von SPD und
Grünen nach einer Ausweisung des Wattenmeeres als
Particular Sensitive Sea Area mit Durchfahrverboten für
Sub-Standard-Schiffe.
({7})
Wir fordern, dass das Machbare schnell umgesetzt
wird, damit ein verbesserter Umweltschutz gewährleistet
werden kann. Auch die Kommission kommt zu der Erkenntnis - da stimme ich Herrn Klimmt zu -, dass für
die Umsetzung der Maßnahmen keine Grundgesetzänderung nötig ist und die Kosten für die Umsetzung aller
Empfehlungen mit rund 130 Millionen DM erträglich
sind, wenn man bedenkt, dass allein die Kosten für den
„Pallas“-Unfall bei rund 25 Millionen DM liegen, von
denen nur 3,5 Millionen DM über Versicherungen gedeckt sind.
Aufgrund der sehr hohen Übereinstimmung zwischen
dem F.D.P.-Antrag und dem Kommissionsbericht sind
wir der Ansicht, mit der Unterstützung unseres Antrages
könnte der Bundestag nach dem langen Warten nun
schnelle Handlungskompetenz beweisen. Wir bitten um
Ihre Unterstützung.
({8})
Als
nächster Rednerin gebe ich der Kollegin Kersten Naumann von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich möchte trotz der Wichtigkeit
des Küstenschutzes und sicher auch des Wahlkampfes
zu einem weiteren Schwerpunkt dieses Tagesordnungspunktes sprechen, nämlich der Agrarpolitik. Denn die
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur
und des Küstenschutzes“ ist eines der wichtigsten Instrumente der Bundesregierung zur Durchsetzung der
Agrarpolitik.
({0})
Sie ist aber auch das Ergebnis einer starken Einflussnahme der Bäuerinnen und Bauern auf die Regierungspolitik, die wir für dringend notwendig erachten. Sie
enthält deshalb viele Maßnahmen, die auch von der PDS
nachdrücklich unterstützt werden.
Aus der Sicht der PDS und der Landwirte sind allerdings noch einige Schwachstellen zu kritisieren und zu
beseitigen, die ich hier benennen möchte.
Erstens. Auch die Regierung von Bundeskanzler
Schröder setzt den unter Kanzler Kohl eingeleiteten rigorosen Sparkurs fort. Standen 1993 noch 2,6 Milliarden DM für die Gemeinschaftsaufgabe zur Verfügung,
so sind es im Haushaltsjahr 2000 nur noch
1,7 Milliarden DM. Das entspricht einer Kürzung um
über 35 Prozent. Eine Aufstockung der Mittel ist nicht
zu erwarten, wie uns Minister Funke gestern im Ausschuss vermittelte.
Gemessen an der Dynamik des Strukturwandels in
der Landwirtschaft und den sich daraus ergebenden Anforderungen an eine gestaltende Agrarpolitik ist diese
Mittelkürzung Ausdruck einer verantwortungslosen Politik. Sie wird leider durch viele andere agrarpolitische
Maßnahmen der Bundesregierung noch verstärkt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die Haushaltskürzungen bei der landwirtschaftlichen Sozialpolitik und
die Auswirkungen der Steuerpolitik auf die Landwirtschaft. Das bestärkt den Eindruck, dass die Agrarpolitik
mehr und mehr zu einem Restposten verkommt.
Ein zweiter Schwachpunkt der Gemeinschaftsaufgabe
ist die Verteilung der Mittel auf die verschiedenen Maßnahmen. Darunter wird die „Förderung der agrarstrukturellen Entwicklungsplanung“ genannt. Unter diesen
Grundsätzen ist das Ziel formuliert: „Erarbeitung gebietsspezifischer Leitbilder zur Landentwicklung sowie
von Vorschlägen sachlicher und/oder räumlicher Entwicklungsschwerpunkte.“ Und weiter: „Mitwirkung der
Öffentlichkeit an der agrarstrukturellen Entwicklungsplanung“.
Welche Bedeutung dieser Maßnahme beigemessen
wird, lässt sich daran erkennen, dass lediglich 0,3 Prozent der Gesamtmittel dafür zur Verfügung stehen. Von
einer Mitwirkung der Öffentlichkeit kann unter diesen
Bedingungen überhaupt nicht die Rede sein. Es ist deshalb kein Wunder, wenn es lautstarke Proteste gegen die
Einrichtung neuer Naturschutz- oder FFH-Gebiete gibt.
Die Vernachlässigung dieser Planungsaufgabe ist
auch ein wesentlicher Grund dafür, dass es erhebliche
Rückstände bei der Vorlage der Länderprogramme
zur ländlichen Entwicklung gibt. Sie sind aber die
Voraussetzung dafür, dass von der EU die Mittel für die
Förderung der ländlichen Entwicklung bereitgestellt
werden.
Wir halten die Aufstockung der Mittel für die agrarstrukturelle Entwicklungsplanung und eine tatsächliche
Beteiligung der Öffentlichkeit an dieser Planung für
dringend erforderlich. Mehr noch: Die im Ergebnis dieser Planung getroffenen Entscheidungen müssen zu Kriterien für die Investitionsförderung der landwirtschaftlichen Betriebe werden. Wir erwarten, dass die Regierung
ihre Grundsätze ernst nimmt und tatsächlich, wie es in
der Unterrichtung der Bundesregierung heißt, „die Fördermaßnahmen so aufeinander abstimmt, dass auch zukünftig eine integrierte Förderpolitik in allen Regionen
ermöglicht“ wird.
Damit komme ich zu einem dritten Problem der Gemeinschaftsaufgabe: Der größte Anteil der Mittel aus
der Gemeinschaftsaufgabe wird für die einzelbetriebliche Investitionsförderung eingesetzt. Das entspricht
dem Grundsatz der Regierungspolitik „Stärkung der
Wettbewerbsfähigkeit der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe“. Mit diesem Grundsatz befördert die
Bundesregierung aber nachdrücklich den Verdrängungswettbewerb und das Höfesterben; denn förderfähig
sollen nach ihren eigenen Aussagen vor allem „Rationalisierung und Kostensenkung“ sein. Damit, meine Damen und Herren, ist die Arbeitsplatzvernichtung vorprogrammiert. Zwar lässt die Agrarinvestitionsförderung
auch die „Förderung von Betriebszusammenschlüssen“,
also der Agrarkooperation, zu. Doch dieses Thema spielt
für die Bundesregierung nur in Sonntagsreden eine Rolle.
Wir halten es für dringend erforderlich, den Erfahrungen der neuen Bundesländer zu folgen, die trotz großer Betriebseinheiten die „Prioritäten zugunsten überbetrieblicher Maßnahmen ... verschieben“, wie es in der
Unterrichtung der Bundesregierung heißt. Ziel der Gemeinschaftsaufgabe muss es sein, das betriebliche Interesse an der Steigerung der Effektivität mit der Schaffung von Arbeitsplätzen im ländlichen Raum zu verbinden.
({1})
Das erfordert Förderung der Kooperation zur Angleichung der Arbeits- und Lebensbedingungen in Stadt und
Land.
Ich komme zu einem letzten Problem: Der von der
Bundesregierung durchgesetzte Sparzwang hat dazu geführt, dass in einer Reihe von Bundesländern bei den
Schwächsten gespart wird, nämlich bei den Betrieben in
den benachteiligten Gebieten. Ihnen wurde kurzerhand
die Ausgleichszulage gekürzt.
Meine Damen und Herren, die PDS hält eine flächendeckende Landwirtschaft für unverzichtbar und fordert
deshalb, die natürlichen Ertragsunterschiede durch angemessene Ausgleichszulagen abzufangen. Außerdem
erneuern wir unsere Forderung, eine Steuer- und Haushaltspolitik zu betreiben, die die Handlungsfähigkeit des
Bundes und der Länder erhöht und nicht schmälert.
Danke schön.
({2})
Als
nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Peter
Carstensen von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ik glöv, dat is vielleicht ganz goot, um dat ook mol op
Plattdüütsch zu seggen, dat eener vun de Küst, der sogoor op een Insel wohnen deit, mit beiden Küstenschutzmaßnahmen een beten wat to doon hett und
bedropen is, eniges dorto seggt.
Leev Kollege Müller, man wunnert sik ja manchmol.
Man wunnert sik, wie so’n jungen Kerl wie Sie so goot
vergeten kann. Ik kööm dor glieks nochmol dorop.
({0})
- Ja, aber man kann nicht nur mit Vergessen Zukunft
machen, sondern man muss dabei auch etwas tun. Das
aber vergessen Sie offensichtlich auch.
({1})
Meine Damen und Herren, die „Pallas“ fing am
25. Oktober 1998 an zu brennen, und bis heute, 16 Monate später, hat man den Eindruck, es habe sich nicht
viel geändert.
({2})
- Reden Sie einmal mit den Leuten auf den Inseln! Die
Wut ist ihnen noch immer ins Gesicht geschrieben, Wut
darüber, dass noch immer über Küstenwache und dauerhafte Schlepperkapazitäten diskutiert wird, Wut
darüber, dass man sich noch immer allein gelassen fühlt,
Wut darüber, dass noch immer nicht entschieden wird,
Wut darüber, dass es offenbar auch wenig Interesse dafür gibt.
({3})
Ich habe einen Artikel gelesen, in dem es heißt:
„Das Thema ist so tot wie der Friedhof von Chicago“, erklärt Helmut Plüschau ({4}) seine „Pallas“Pause. Im Hamburger Umland interessiere das
niemanden mehr ...
Das ärgert die Leute; denn sie haben das Gefühl, sie
werden nicht ernst genommen.
({5})
Die Menschen ärgern sich auch darüber, wenn der
Innenminister auf einer Wahlkampfveranstaltung in
Schleswig-Holstein - dass er dort ist, ist ja in Ordnung sagt: Berlin will alle Vorschläge genau prüfen. Er hat
gesagt, es gebe gewisse Probleme und für die Aufgabenwahrnehmung seien verfassungsrechtliche, rechtliKersten Naumann
che und finanzielle Fragen zu prüfen. Prüfen, prüfen,
prüfen - bloß nicht entscheiden!
({6})
Auch ich vergesse manchmal etwas nach anderthalb
Jahren. Da ich aber im Hinterkopf noch etwas in Erinnerung hatte, habe ich nachgesehen, wie die Situation damals war. Ich will sie Ihnen noch einmal vor Augen führen.
({7})
- Ja, das ist die ganze Wahrheit. - Ich habe damals mit
den Amtsvorstehern, mit den Leuten auf Amrum gesprochen. Sie haben mir gesagt - das ist wörtlich aus
meiner Rede am 18. November 1998 im Bundestag -:
Es gab keine Ansprechpartner. Informationen, die
anfangs aus Cuxhaven kamen, wurden abgeschnitten mit dem Hinweis, jetzt sei das Umweltministerium in Kiel zuständig. Per dortigen Verteiler gingen die Informationen an zwei offizielle Stellen
und neun Umweltverbände, nicht aber zum Beispiel
an die Wasserschutzpolizei. Das alles ist erst später
erfolgt.
({8})
Dazu passt, dass auf Hilfsangebote vor Ort nicht
reagiert wurde.
Sie wurden geradezu verhindert, so zum Beispiel das
Angebot der örtlichen Feuerwehren zu helfen. Erst am
11. November um 8 Uhr - die „Pallas“ brannte seit dem
25. Oktober, am 29. Oktober ist sie auf Grund gelaufen
- wurde die Arbeitsbereitschaft des innenministeriellen
Leitungsstabes der Landesregierung hergestellt.
Und da wundern Sie sich, dass diese Katastrophe untrennbar mit dem Namen Steenblock verbunden ist?
Nennen Sie einmal an der Westküste den Namen Steenblock und fragen Sie die Leute, was ihnen dazu einfällt!
Sie werden „Pallas“ sagen.
({9})
Fragen Sie die Leute an der Westküste: Was fällt dir
zum Namen „Pallas“ ein? Sie werden sagen: Steenblock.
Diese beiden Namen sind miteinander verbunden.
({10})
Ich darf daran erinnern, wie es damals war. Heide
Simonis war es - nicht wir waren es -, die nach zwei
Wochen ihren Umweltminister anfauchte: „Rainder,
schlaf endlich einmal aus, und dann pack deine Akten
und sieh zu, dass du nach Amrum kommst!“ Steenblock
ist dann am Abend des 10. November mit der Fähre um
18.30 Uhr nach Amrum gefahren, hat sich dort in der
Dunkelheit informiert und ist noch vor Tagesanbruch am
11. November um 6.15 Uhr wieder abgefahren. Das war
die Informationsbeschaffung des Herrn Steenblock, eines Ministers, der dafür zuständig war, dort etwas zu
tun.
({11})
Meine Damen und Herren, die Leute haben das Gefühl, dass sie allein gelassen werden, dass immer noch
nicht gehandelt wird. Ich glaube, es ist notwendig, hier
zu handeln. Wir brauchen ein Zeichen, dass die Bundesregierung etwas tun will. Wir brauchen endlich eine
zentrale, schlagkräftige Küstenwache und eine dauerhafte Schlepperkapazität für die Notfälle in der Deutschen
Bucht.
Ich sage ein bisschen kritisch - ich habe den Bericht
auch nur überfliegen können -:
Da helfen die Vorschläge der Grobecker-Kommission
nicht, wo geschrieben steht, dass der Bedarf mit kleineren seegängigen Schleppern abgedeckt bzw. sogar Kapazität auf dem Londoner Schleppermarkt über Makler
gebunden werden soll. Will man bei der nächsten Katastrophe erst eine Ausschreibung machen oder wie hat
man das vor? Wir brauchen keine Schiffe, die zur Not
auch schleppen können. Wir brauchen Schiffe, die in der
Not schleppen können. In dieser Richtung müssen wir
etwas machen.
({12})
So sind auch die Resolutionen der Kreistage von Dithmarschen und Nordfriesland zu verstehen, die eine dauerhafte Stationierung der „Oceanic“ oder eines vergleichbaren Schiffes fordern. Herr Minister Klimmt, ich
glaube, diese Resolutionen sind Ihnen in den letzten Tagen zugegangen.
Außerdem glaube ich - das ist allerdings meine persönliche Meinung -, es reicht nicht aus, den Vertrag mit
der „Oceanic“ immer wieder nur für kurze Zeit zu verlängern. Die „Oceanic“ ist alt; und auch dieses Schiff
wird nicht jünger und kommt an seine Grenzen. Deswegen bitte ich ganz herzlich darum, einmal zu überprüfen,
ob es nicht notwendig ist, ein eigenes Schiff - eventuell
mit den Dänen oder den Holländern zusammen - auf
Kiel zu legen, das durchaus auch andere Aufgaben übernehmen kann, aber in der Not eben auch wirklich
schleppen kann.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sicherheit
muss dauerhaft gewährleistet werden. Das gilt auch für
den klassischen Küstenschutz. Damit meine ich den
Schutz der Leute, die hinter den Deichen wohnen. Offensichtlich ist für sie Hilfe in Sicht. Es sind nicht nur
die Küstenländer, die sich um Küstenschutz bemühen,
sondern wohl auch andere Länder. Ich meine Ministerkollegen von Ihnen, Herr Minister, die Sie sehr gut kennen und die - auch aus Nordrhein-Westfalen - vor kurzem wohl vor Ort gewesen sind und sich über die Probleme des Küstenschutzes informiert haben.
Ich habe einen Artikel vorliegen, der mit „Geheime
Deichschau oder Jux-Tour?“ überschrieben ist. Die Minister Heinemann, Schleußer, Schwier und der leider
verstorbene Matthiesen sind auf Sylt gewesen und haben
sich dort nach dem Küstenschutz erkundigt.
Peter H. Carstensen ({13})
({14})
Vor dem Untersuchungsausschuss in Düsseldorf wurde
- so der Zeitungsbericht - gesagt, sie hätten
bei ihrem Abflug mit Gummistiefeln und Angelroute bewaffnet den Eindruck vermittelt, auf dem
Weg zur privaten Angeltour zu sein ...
({15})
Weder Westerlands damaliger Bürgermeister und
Vorsitzender des Landschaftszweckverbands, Volker Hoppe, noch Amtsvorsteher Claus Andersen
waren informiert. „Das ist schon ´ne komische
Nummer.
({16})
Da will mein Freund Hans Wiesen auf Sylt jemandem die Sandvorspülung zeigen und ruft mich nicht
an? Das hat´s nicht gegeben. Wenn das man nicht
doch ´ne Juxtour war.“
Herr Minister, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie uns
einmal sagen würden, wie das Ergebnis dieser Informierung über den Küstenschutz lautet und ob wir jetzt den
Rückhalt der nordrhein-westfälischen Landeregierung
haben, wenn es bei der Gemeinschaftsaufgabe darum
geht, mehr für den Küstenschutz zu machen.
({17})
Küstenschutz wird zu 70 Prozent vom Bund und zu
30 Prozent von den Ländern finanziert. Ich habe mit Interesse festgestellt, dass Sie, Herr Kollege Opel, gleich
noch reden werden. Ich kenne die ganzen Äußerungen,
die Sie gemacht haben. Wahrscheinlich werden Sie sagen, der Bund müsse mehr für den Küstenschutz tun.
({18})
Der Bund müsse - richtig, nationale Aufgabe! - mehr in
die Finanzierung des Küstenschutzes eingebunden werden. Es gehe um eine Übernahme des Küstenschutzes zu
100 Prozent durch den Bund. Das und nicht das, was wir
im Moment in Schleswig-Holstein erleben, wäre der
richtige Weg.
Herr
Kollege Carstensen, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Hendricks?
Aber sicher.
({0})
Frau
Hendricks, bitte schön.
Herr Kollege Carstensen, ich kann ja verstehen, dass Sie vor dem Hintergrund, dass Sie im November noch sicher waren, demnächst Landwirtschaftsminister in Schleswig-Holstein
zu werden,
({0})
nunmehr ein bisschen Amok laufen.
({1})
Sind Sie trotzdem bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
die Aussage, die Sie vor dem deutschen Parlament wiederholen, von einer zwielichtigen Zeugin im Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtages stammt,
({2})
deren Aussage vom „Spiegel“ gekauft und im Untersuchungsausschuss von ihrem eigenen früheren Mitarbeiter widerlegt worden ist, der ausdrücklich gesagt hat, es
habe eine solche Reise nicht gegeben?
({3})
Sind Sie im Übrigen bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass der ehemalige Minister Heinemann in der vergangenen Woche ausgesagt hat, es habe die Reise genau so
gegeben, wie sie beschrieben worden ist, es sei aber
selbstverständlich niemand mit Gummistiefeln gereist,
denn alle Beteiligten seien aus Sitzungen heraus dorthin
gekommen und hätten deswegen normale Kleidung getragen?
({4})
Sind Sie vor diesem Hintergrund vor allen Dingen bereit, dieses Hohe Haus nicht in der schäbigen Weise, in
der Sie es jetzt getan haben, für Ihren doch schon verloren gegangenen Wahlkampf zu benutzen?
({5})
Frau Kollegin, erst einmal ist dieser Wahlkampf nicht
verloren. Ich gehe davon aus, dass wir diese Wahl gewinnen.
({0})
- Kollege Müller, Sie sollten lieber erst einmal dafür
sorgen, dass Sie in Schleswig-Holstein 5 Prozent bekommen.
({1})
Peter H. Carstensen ({2})
Die Grünen sind bei den Kreistagen in Dithmarschen
und in Nordfriesland schon in hohem Bogen herausgeflogen, auch wegen „Pallas“ und vieler anderer Dinge.
({3})
Dass die Grünen in diesen beiden Kreistagen nicht vertreten sind, hat sich in der letzten Zeit überaus bewährt um auch das nur einmal kurz zu sagen.
({4})
Ich darf Ihnen, Frau Kollegin, aus diesem Artikel zitieren, der noch weiter geht: Das Landwirtschaftsministerium bestätigte gestern, dass die Herren dort auf einer
Tour gewesen sind.
({5})
- Gerade haben Sie gesagt, das sei nicht der Fall gewesen.
({6})
- Sie haben doch gesagt, das sei nicht der Fall und ich
solle es zurücknehmen. Es ist bestätigt worden - ich habe auch Volker Hoppe zitiert, der sich ebenfalls darüber
gewundert hat -, dass vier hochrangige Leute aus Nordrhein-Westfalen nach Sylt angeflogen kommen, dort herumlaufen und sich auch informieren.
({7})
- Das kann ich einmal nachsehen: 14. und 16. Juni 1990.
({8})
- Entschuldigen Sie bitte, lieber Herr Opel, Sie müssen
die Tagesordnung lesen und zur Kenntnis nehmen, dass
wir auch über Küstenschutz und über die Gemeinschaftsaufgabe reden. Sie werden doch wohl noch wissen, dass das etwas mit Küstenschutz zu tun hat.
Jetzt wollen wir das noch einmal für Sie aufdröseln.
Herr
Kollege Carstensen, befinden Sie sich noch in der Beantwortung der Frage von Frau Hendricks?
Ich
befinde mich noch in der Beantwortung. Das dauert
noch lange.
Dann
würde ich die Frau Kollegin Hendricks bitten, stehen zu
bleiben.
Das waren vier Fragen.
Es gibt
den Wunsch nach einer weiteren Frage. Wenn Sie mit
der Beantwortung dieser Frage zu Ende sind, dann
möchte ich Sie bitten, eine weitere Frage zu genehmigen.
Ich
stelle noch einmal fest: Es hat dort eine Reise von vier
Ministern gegeben. Es ist völlig gleichgültig, wann das
gewesen ist. Hier geht es um den Küstenschutz, nicht
um die „Pallas“.
({0})
Es gab diese Reise dorthin. Es hat nicht eine Pressemitteilung darüber gegeben. Es hat darüber anschließend
keine Diskussion gegeben, weder in NordrheinWestfalen noch bei uns.
({1})
Auch gab es keinen schriftlichen Bericht. Ich fordere in
diesem Zusammenhang den Minister auf, der hier für die
Gemeinschaftsaufgabe zuständig ist, in seinem Hause
einmal nachzuforschen, ob diese Informationsreise mit
vier hochrangigen Ministern, die sich den Küstenschutz
und die Sandvorspülung auf Sylt ansehen wollten, etwas
bei der Bewilligung, der Ausgabe und der Diskussion
über den Küstenschutz in Nordfriesland, an der Westküste und wo auch immer bewirkt hat.
({2})
Herr
Kollege Carstensen, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Koppelin?
Aber gerne.
Bitte,
Herr Koppelin.
Lieber Herr Kollege
Carstensen, erkenne ich es bei Ihnen richtig, dass Sie
nach diesem Beitrag und nach der Frage völlig überrascht sind, dass der Minister Schleußer in NRW zurückgetreten ist?
({0})
Die
Frage kann ich so beantworten: Ich bin völlig überrascht. Das ist schon richtig.
Herr Präsident, ich komme jetzt wieder zu meinem
Redetext. Es ist schon erstaunlich, wenn bei einer so
wichtigen Aufgabe wie der Gemeinschaftsaufgabe, finanziert mit 60 Prozent vom Bund und 40 Prozent von
Peter H. Carstensen ({0})
den Ländern in der normalen Gemeinschaftsaufgabe, ein
Land wie Schleswig-Holstein 1 DM ausgibt und zusätzlich 1,50 DM an Bundesmitteln erhält; beim Küstenschutz ist es noch mehr. In den letzten Jahren, wie Dietrich Austermann auch schon gesagt hat, hat das Land
auf 34 Millionen DM an Bundesmitteln verzichtet.
({1})
- Natürlich stimmt das, Herr Opel. Sie sind nicht informiert. Es wurde auf 34 Millionen DM verzichtet.
22 Millionen DM sind an Landesmitteln für den Küstenschutz und für die Verbesserung der Agrarstruktur nicht
dazugegeben worden.
({2})
- Nein, das hat er eben nicht.
({3})
- Nein, Herr Opel. Sie haben keine Ahnung.
({4})
Das ist an sich schade. Sie haben keine Ahnung, aber
Sie sind trotzdem immer noch sehr laut.
({5})
Schleswig-Holstein hat hier darauf verzichtet, Ausgaben in einer Größenordnung von 56 Millionen DM in
diesem Bereich zu tätigen. Wenn Sie das auf Investitionstätigkeiten im ländlichen Raum umrechnen, Herr
Opel, dann sind das 250 Millionen DM, die im ländlichen Raum in Schleswig-Holstein nicht investiert worden sind, weil die Landesregierung nicht bereit ist, hier
mitzumachen.
Jetzt zu meinen, dass die zukünftigen Küstenschutzaufgaben über Brüsseler Mittel finanziert werden können, nun herumzulaufen und überall laut zu verkünden
und zu versprechen, ihr bekommt auf Sylt wesentlich
mehr Sandvorspülung und mehr Geld für den Küstenschutz, und dann darauf zu hoffen, dass Brüssel dies genehmigt, das ist schon ein dreistes Stück.
Ich finde, es ist unredlich, erst jetzt den Antrag auf Genehmigung dieser Mittel für den Küstenschutz zu stellen, aber draußen und zu verkünden: Jawohl, wir werden
die Küstenschutzmaßnahmen verstärken.
Herr
Kollege Carstensen, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja Der beste Küsten- und der beste Katastrophenschutz ist,
eine Landesregierung wie die in Schleswig-Holstein abzuwählen.
({0})
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, es gibt keine Geschäftsordnungsregelung, die denjenigen, der eine Zwischenfrage
stellt, zwingt, bei der Antwort stehen zu bleiben. Aber es
ist ein Akt der Höflichkeit und für die Zuschauer ein
Zeichen, dass hier ein Frage-und-Antwort-Spiel stattfindet.
({0})
Deswegen wäre ich dankbar dafür, wenn man sich an
diese Regelung halten würde. Der Inhalt der Antwort
liegt in der Kompetenz des Redners; dazu kann ich
nichts sagen.
({1})
Jetzt gebe ich das Wort zu einer Kurzintervention der
Kollegin Ulrike Höfken von Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank. - Die Verzweiflung muss groß sein, wenn
man sich schon darüber unterhalten muss, ob jemand vor
100 Jahren mit Gummistiefeln herumgelaufen ist oder
nicht.
({0})
Wenn das zum Wahlkampfthema wird, dann sind die
Chancen für die CDU aber gering.
Ich möchte auf einen anderen Punkt eingehen, nämlich auf das Märchen der mangelnden Ausgaben für
den Küstenschutz, das hier verbreitet wird. Ich will nur
darauf hinweisen, dass sich das Land SchleswigHolstein gerade in den letzten Jahren erheblich ins Zeug
gelegt hat.
({1})
Das gilt im Übrigen auch für den Bund. Im Jahr 1998
hat es 151 Millionen DM für den Küstenschutz gegeben,
im Jahr 1999 waren es 243 Millionen DM.
({2})
Schleswig-Holstein hat 61 Millionen DM für den Küstenschutz zur Verfügung gestellt bekommen, zusammen
mit der Kofinanzierung mehr als 80 Millionen DM
Um auch das noch einmal zu sagen: Die alte Bundesregierung hatte die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe
- und damit für den Küstenschutz, der ja hilft, Herrn
Carstensen, vor dem „Land unter“ zu bewahren - um ein
ganzes Drittel gekürzt. Dagegen hat das Land Schleswig-Holstein, das oft wegen mangelnder Kofinanzierung
gescholten wurde, was natürlich auch damit zusammenhing, dass andere Schwerpunkte gesetzt wurden gerade der Agrarbericht weist aus, dass die BetriebserPeter H. Carstensen ({3})
gebnisse in Schleswig-Holstein gut sind, sogar viel besser als in anderen Ländern -, erhebliche Anstrengungen
unternommen, um die Kofinanzierung hinzubekommen.
Das gilt - das muss man betonen - gerade für die letzten
drei Jahre: Im Jahr 1997 gab es noch ein Defizit von
16,5 Millionen DM - Sie haben das einfach alles zusammengerechnet -, aber im Jahr 1999 nur noch eines
von 4,5 Millionen DM. Jetzt hat Schleswig-Holstein ein
großes Programm gemeldet. Ich finde, das ist eine erhebliche Leistung, die die rot-grüne Landesregierung
hier vollbracht hat.
Schließlich noch zur Gemeinschaftsaufgabe: Diese
Bundesregierung hat die Gemeinschaftsaufgabe stabilisiert, trotz der finanziellen Engpässe. Das hat der Minister auch gestern im Ausschuss laut und deutlich gesagt.
Das bedeutet keineswegs - wie Frau Naumann gesagt
hat- eine Reduzierung der Unterstützung für die Entwicklung der ländlichen Räume. Vielmehr wird die
Entwicklung mit einer Reform der Gemeinschaftsaufgabe vorangebracht. Das ist, finde ich, eine gute Sache.
Danke schön.
({4})
Zur Erwiderung Herr Carstensen.
Frau Kollegin Höfken, ich stelle noch einmal fest: Von
1996 bis einschließlich 1999 sind - seinerzeit von Hans
Wiesen und jetzt von Klaus Buß unterschiedlich gehandhabt - ungefähr 34 Millionen DM an Bundesmitteln aus der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ entweder wieder
zurückgegeben - das war die Zeit von Hans Wiesen oder gar nicht erst abgerufen worden, nämlich zu der
Zeit von Klaus Buß.
Die nicht abgerufenen Mittel betrugen im Jahr 1999
4,8 Millionen DM. Durch die globalen Minderausgaben,
die Finanzminister Möller in Schleswig-Holstein
beschlossen hat, ist zu erwarten - und keiner bestreitet
das -, dass auch im Jahre 2000 4,6 bis 4,8 Millionen DM der Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe
nicht abgerufen werden. - Das ist der erste Punkt.
({0})
Der zweite Punkt ist: Frau Kollegin, ich begrüße es,
wenn man versucht, für den Küstenschutz Mittel aus europäischen Töpfen zu gewinnen.
Aber ich halte es für unredlich - das hat überhaupt
nichts mit Wahlkampf zu tun -, im Moment nach Sylt,
Föhr, Amrum oder Pellworm zu fahren und dort zu verkünden, dass das Land Schleswig-Holstein in diesem
Jahr 12 Millionen DM mehr in den Küstenschutz stecken will.
Es ist gut, wenn man das will. Aber es ist unredlich,
wenn man die Finanzierung über die Mittel aus Brüssel
sicherstellen will und noch nicht einmal weiß, ob Brüssel die Verwendung dieser Mittel, die nach Art. 33 dieser Richtlinie für Katastrophenvorsorge gegeben werden
können, für den Küstenschutz genehmigt. Dieses bemängele ich.
Ich wäre dankbar, wenn der Minister dazu etwas sagen und vielleicht auch ankündigen würde, dass der Antrag von Schleswig-Holstein unterstützt wird. Es wäre
gut, wenn er sagen würde: Die Mittel fließen in den
Küstenschutz; wir haben nichts dagegen, dass die Mittel,
die in den ländlichen Raum fließen sollen, auch für den
Küstenschutz herangezogen werden. - Man kann aber
nicht vorher sagen: Ihr werdet mehr Geld für den Küstenschutz bekommen; wir müssen aber immer noch auf
die Genehmigung aus Brüssel warten. - Das halte ich
für unredlich.
({1})
Das
Wort hat nun die Kollegin Ulrike Mehl von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich höre immer von der Opposition auch bei anderen Gelegenheiten -, man möchte sich
unbedingt wieder inhaltlich politisch auseinander setzen.
Das, was Sie heute abgeliefert haben, war keine inhaltliche Auseinandersetzung,
({0})
es sei denn, Sie hätten andere Vorstellungen von dem,
was Inhalte sind.
Ich finde es auch ziemlich öde, dass jedes Mal dann,
wenn in Schleswig-Holstein eine Wahl ansteht, der
Bundestag zum Landtag gemacht wird und hier Debatten geführt werden, die zu 90 Prozent in den SchleswigHolsteinischen Landtag gehören. Der einzige qualifizierte Beitrag war der von Herrn Kollegen Börnsen; ihn
möchte ich ausdrücklich von meiner Kritik ausgenommen wissen.
({1})
Alles andere waren Debatten, die im Landtag von
Schleswig-Holstein längst geführt worden sind und nicht
hierher gehören.
({2})
Man hätte mit dieser Debatte eigentlich noch eine
Woche warten können. Auch das wäre noch vor der
Wahl gewesen. Man hätte sich dann in Ruhe mit diesem
Bericht auseinander setzen können, der ausgesprochen
differenziert ist. Jetzt musste man in einer Nachtschicht
den Bericht lesen und kann ihn nicht in Ruhe in den eigenen Reihen diskutieren. Das finde ich sehr schade,
zumal darin sehr viel Arbeit steckt.
Ich will noch einmal auf Herrn Carstensen zurückkommen, der gesagt hat, dass die Bevölkerung der
Westküste stinkwütend sei und eineinhalb Jahre nach
dem Unfall noch immer mit Blutdruck 180 darüber geredet werde. In dem Gutachten für die Ministerpräsidentin - der Schwachstellenanalyse - steht als Schwachstelle acht: Eine Region mit einem Außendarstellungsproblem wie die Westküste hatte kein Konzept, einen
populären Unglücksfall so darzustellen, dass der Freizeitsektor minimal geschädigt wurde. Statt dessen wurde
gefährlich lamentiert. Alleingänge betroffener Gemeinden können einfallsreich sein, sind aber doch insgesamt
eher bedenklich. - Dies kann ich nur betonen. Es gibt
noch andere kritische Dinge.
({3})
- Nein. Ich glaube, dass gewisse Debatten dazu beitragen, dass nicht Lösungen gebracht werden, sondern nur
Dinge unter den Teppich gekehrt werden, und genau das
finde ich zynisch.
Frau
Kollegin Mehl, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Herrn Kollegen Koppelin?
Ja.
Bitte
schön, Herr Koppelin.
Liebe Kollegin Ulrike
Mehl, haben Sie in diesem Bericht unter Schwachstelle
sechs auch gelesen, dass das gesamte Landeskabinett
unter unerwarteten symbolischen Druck geraten sei?
Das steht dort. Das kann ich bestätigen.
Können Sie noch einmal
kommentieren, wie das zustande gekommen ist? Kann
das nicht doch an Minister Steenblock gelegen haben?
Herr Kollege Koppelin, genau
das wollte ich eben nicht tun, weil ich hier im Bundestag
und nicht im Landtag bin. Deswegen werde ich mich
jetzt dem Thema widmen.
({0})
- Man muss ja wenigstens reagieren.
Also zum Bericht: In dem Bericht, der glücklicherweise in einer gut lesbaren und nachvollziehbaren Form
geschrieben ist - das kann man nicht von allen Berichten
sagen -, gibt es viele Lösungsansätze, wie das Risiko
von Schiffsunfällen durch ein verbessertes und optimiertes Notfallkonzept von Bund und Ländern sowie gemeinsam mit den europäischen Nachbarn verringert
werden kann. Ich komme noch auf einzelne Punkte zu
sprechen.
Aber klar ist auch - das ist in mehreren Beiträgen gesagt worden -, dass wir Gefahren oder Havarien natürlich nicht hundertprozentig ausschließen können. Es
wurde jetzt mehrmals das Beispiel des Tankers „Erika“
angeführt, der vor der bretonischen Küste verunglückte,
auch wenn dort andere Standards oder Messlatten angelegt werden müssen. Trotzdem können wir nicht hundertprozentig ausschließen, dass eine Katastrophe passiert.
Wir können in dem Zusammenhang durchaus froh
sein, dass bisher an der deutschen Küste keine Katastrophe und kein Super-GAU passiert ist. Die „Pallas“ war
ein Holzfrachter und hatte nur relativ wenig Öl an Bord.
Es sind da nur 244 Kubikmeter Öl ausgelaufen. Trotzdem hat das gerade im Wattenmeer eine enorme negative ökologische Wirkung entfaltet. 16 000 Seevögel sind
verendet, 600 Kubikmeter ölverseuchter Sand mussten
entsorgt werden.
Man muss sich einmal vorstellen - es gibt ja auch andere Beispiele, nicht nur der Fall der „Erika“ -, was geschähe, wenn ein solcher Unfall wie jener der „Braer“,
die 1993 vor den Shetland-Inseln zerschellte - damals
sind 95 000 Tonnen Rohöl ins Meer geflossen -, oder
beispielsweise die Havarie der „Sea Empress“ 1996 vor
Wales sich bei uns ereignet hätten. Das wäre für das
Wattenmeer eine absolute Katastrophe, wenn so etwas
passieren würde. Das gilt nicht nur für die Ökologie des
Wattenmeeres, sondern natürlich auch für die Menschen, die dort leben.
({1})
Deswegen drängen wir als SPD-Fraktion natürlich
auch seit vielen Jahren darauf, dieses Problem der Sicherheit durch eine Küstenwache oder irgendetwas
Ähnliches konzentriert zu lösen. Darüber sind wir uns in
Teilen auch einig gewesen, aber die alte Bundesregierung hatte offenbar nicht vor, das umzusetzen.
({2})
Das ist meine Kritik: Wenn Sie immer mit dem Finger
in unsere Richtung zeigen, dann erinnert das daran, dass
drei Finger in Ihre eigene Richtung zeigen müssten.
Die Expertenkommission hat Grundsätze erarbeitet,
die ich außerordentlich begrüße, und zwar hat sie folgende Reihenfolge aufgestellt: Schadensvermeidung hat
Vorrang vor Schadensbegrenzung. Die Rettung von
Menschen hat Vorrang vor der Rettung von Ökosystemen. Die Rettung von Ökosystemen hat Vorrang vor der
Rettung von Sachwerten. Ich finde, das ist genau die
richtige Reihenfolge. Das kann ich nur begrüßen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht jetzt nicht
um Schuldzuweisungen, sondern wir müssen schnell die
Frage beantworten, wie das Risiko von SchiffstransporUlrike Mehl
ten möglichst minimiert wird. Wenn wir schon auf ganz
bestimmte Stoffe wie Rohöl, Chemikalien und andere
gefährliche Stoffe nicht grundsätzlich verzichten können, müssen wir wenigstens alles für den vorsorgenden
Schutz und für ein reibungslos funktionierendes Katastrophenmanagement tun. Das heißt konkret:
Erstens müssen wir uns auf internationaler Ebene dafür einsetzen, dass die passive Transportsicherheit der
Schiffe insgesamt und insbesondere bei gefährlichen
Gütern wie Chemikalien und Schweröl erhöht wird.
Doppelhöhlentanker sind ja für bestimmte Bereiche vorgeschrieben, aber die Übergangsfrist, bis sie eingeführt
werden müssen, ist zu lang. Wir müssen darauf drängen,
dass diese Fristen verkürzt werden.
({3})
Zweitens müssen Schiffe mit hohem Risikopotenzial
auf küstenfernere Fahrwasser verwiesen werden können,
und es muss auch möglich sein, Einlaufverbote für Häfen auszusprechen. Diesem Ansatz folgt auch die Expertenkommission zum Teil. Sie empfiehlt, Schiffen mit erhöhtem Risikopotenzial küstenfernere Fahrwasser zuzuweisen. Das wäre jedenfalls ein wesentlicher Schritt
in die richtige Richtung.
Drittens müssen die Reeder und die Flaggenstaaten
stärker in die Pflicht genommen werden. Das ist vorhin
auch schon angesprochen worden. Haftungssummen und
Haftungsregelungen für ökonomische und ökologische
Schäden müssen eine wirksame Abschreckung gegen
Sicherheitsdumping bieten. Auch dieser Ansatz wird
von der Expertenkommission teilweise aufgegriffen.
Viertens - das ist der zentrale Ansatzpunkt für die
Expertenkommission - brauchen wir für den schnellen
Einsatz bei Schiffshavarien dringend ein zentrales, ständig besetztes Havariekommando, das ein schnelles und
effizientes Eingreifen bei Schiffsunfällen ermöglicht. Es
wird empfohlen, die bisherigen Einrichtungen des Bundes und der Länder in Cuxhaven zusammenzufassen.
Ein solches ständig besetztes Kommando hätte im Ernstfall Durchgriffsrecht und Weisungsbefugnis bezüglich
aller erforderlichen Ressourcen von Bund, Ländern und
Kommunen. Dazu gehört auch, dass die auf See tätigen
Aufsichtsfahrzeuge von Einheiten des Bundesgrenzschutzes bis zur Wasser- und Schifffahrtsverwaltung zu
einer zentral geführten Seewacht zusammengefasst werden. Genau diese Punkte entsprechen auch unseren Vorstellungen.
({4})
Der Expertenbericht hat den Kompetenzwirrwarr, der
stellenweise beim Abwickeln des Unfalls der „Pallas“
gegeben war, deutlich gemacht, einen Wirrwarr, den wir
uns sicherlich kein zweites Mal leisten können und auch
nicht wollen. Deshalb kommen wir auf jeden Fall an einer gut organisierten, von bürokratischen Hürden befreiten deutschen und - langfristig gesehen - auch europäischen Küstenwache - hier sind erste Schritte bereits
gemacht worden - nicht vorbei.
Die Expertenkommission hat geprüft und geht davon
aus, dass ihre Vorschläge auf der Basis der geltenden
Rechtslage umgesetzt werden können. Das steht ausdrücklich in dem Bericht. Aber wenn sich herausstellen
sollte - das nehme ich im Moment nicht an -, dass für
die Umsetzung notwendiger Maßnahmen eine grundgesetzliche Änderung erforderlich ist, dann dürfen wir davor nicht zurückschrecken. Herr Kollege Börnsen sagt
zu Recht, dass es immer sehr schwierig sei; man brauche
andere Mehrheiten; man müsse vor allem die Länder ins
Boot holen. Aber gerade angesichts solcher Fragen und
der Unfälle in jüngster Zeit kann es nicht nur um Rechthaberei und darum gehen, was wer behalten und nicht
abgeben möchte; vielmehr müssen wir einen Anlauf versuchen. Ich hoffe, dass die Expertenkommission Recht
hat und dass es ohne eine grundgesetzliche Änderung
möglich ist. Der Schleswig-Holsteinische Landtag hat
übrigens partei- und fraktionsübergreifend auch so etwas
anvisiert.
Wenn wir über Öltanker, Schiffsunfälle und mögliche
Vorsorgemaßnahmen sprechen, dann dürfen wir nicht
vergessen, was dem Wattenmeer neben der Gefahr von
Unfällen ständig zugemutet wird. Jedes Jahr geraten
schätzungsweise 100 000 Tonnen Öl aus dem regulären
Schiffsverkehr oder durch den Betrieb von Ölplattformen in die Nordsee, genauso wie 1 Million Tonnen
Stickstoffe vornehmlich aus dem Kfz-Verkehr und auch
aus der Landwirtschaft. Hier müssen wir dringend eine
Vorsorge organisieren, speziell in diesem Fall. Aber die
Vorsorge zu organisieren ist eine ständige und dauernde
Aufgabe. Wenn Sie, Herr Kollege Koppelin - Sie haben
mir das reihenweise vorgemacht -, und die Opposition
anmahnen, dass aus ökologischen Gründen dringend
Maßnahmen durchgeführt werden müssten - 16 Jahre
lang ging es nicht; wir müssen es jetzt in anderthalb Jahren schaffen -,
({5})
dann müssen Sie erklären, wie dazu passen soll, dass Sie
mit einer Partei in Schleswig-Holstein koalieren wollen,
die sagt: Wir müssen den Umweltschutz zehn Jahre aussetzen.
({6})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Gert Willner
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Traurige Tatsache ist, dass wir 16 Monate
nach dem Ereignis „Pallas“ nicht durchgreifend besser
auf ein solches Unfallgeschehen vorbereitet sind, als es
die Beteiligten damals waren.
({0})
Es gibt vielleicht jetzt ein bisschen mehr Routine, aber
mehr auch nicht.
Die rot-grünen Regierungen im Bund und in Schleswig-Holstein haben die vergangenen Monate nur für
Rechtfertigungen genutzt. Es wurde versäumt, einige
Veränderungen in wenigen beherzten Schritten anzugehen.
({1})
Bis zur gestrigen Vorlage des Expertenberichtes bestand
offensichtlich ein Denk- und Handlungsverbot. Dabei
gibt es genügend Fachleute in Bund und Land. Da hätte
selbstständig weitergedacht werden können. Die in der
Beantwortung unserer Großen Anfrage als praktisch
einziges Handeln der Bundesregierung herausgestellte
Überarbeitung der Alarmpläne, die Definition von Entscheidungskriterien für den Notschleppeinsatz, die Ausrüstung der Mehrzweckschiffe des Bundes mit - man
höre und staune - hochseefesten Schlepptrossen und die
Schließung von Verträgen über den Einsatz von Hubschraubern sind, gemessen an der Erwartungshaltung der
Bürgerinnen und Bürger, bitter wenig. Das ist nämlich
ganz normales Verwaltungshandeln. Dazu braucht es
keines politischen Impulses und es bedarf erst recht keiner Havarie oder massiver Forderungen. Im Klartext:
16 Monate ist politisch nicht gehandelt worden.
({2})
Auch mit der heutigen Vorlage des Expertenberichtes ist die Welt nicht plötzlich in Ordnung. Alle wortreichen Erklärungen der rot-grünen Politiker in Bund und
Land kaschieren nur notdürftig, dass bisher kein gemeinsames Handlungskonzept der Küstenländer vorliegt. Grundsätzliche Meinungsunterschiede zwischen
den Einsatzkonzepten von Bund und Ländern bestehen
weiterhin.
Es ist nicht einmal zu den von allen Seiten geforderten gemeinsamen Übungen der Einsatzstäbe von Bund
und Ländern gekommen, obwohl die Bundesregierung
zugesagt hat, die Konzepte für solche Übungen fortzuschreiben. Das ist ein Defizit. Ich hoffe, dass es Bund
und Ländern gelingt, auf der Basis des Expertenberichtes die Kraft zu einer wirklich durchgreifenden Neuausrichtung des Sicherheitskonzeptes für die Küsten von
Nord- und Ostsee zu finden. Das ist unser gemeinsames
Anliegen.
({3})
Welche Fakten müssen heute genannt werden? Nicht
einmal die Landesregierung Schleswig-Holstein verfügt
über ein geschlossenes Konzept. Der Landesumweltminister und der Landesinnenminister sind zerstritten. Der
Landesumweltminister kann sich in Schleswig-Holstein
in der alles entscheidenden Frage der Küstenwache innerhalb der Landesregierung nicht durchsetzen. Heute
darf er wohl nicht reden, weil es in Schleswig-Holstein
keine klare Regierungsposition gibt.
Deshalb fordert der Umweltminister am liebsten
gleich eine europäische Coast Guard. Das ist risikolos.
Dazu gibt es kaum einen Widerspruch; nur löst es kein
Problem. Denn schon 1998 wurde deutlich, dass die
EU-Mitgliedstaaten eine zentrale Leitung aller Küstenwachen nicht für zweckmäßig erachten. Deshalb fordern
wir nach dem schwedischen Vorbild eine deutsche Küstensicherung mit starken, im Krisenfall jederzeit aus
dem Routinebetrieb heraus operierenden Einsatzkräften.
Die Überlegungen hinsichtlich der Seewache sind für
uns sehr diskutierenswert, wenn die Führung durch ein
Havariekommando ausgeübt wird, das die Möglichkeit
zum Durchgriff hat. Wir müssen uns vor Augen führen:
Schwerpunktaufgabe bleibt die Vermeidung von Unfällen. Das ist der Knackpunkt. Wir fordern eine einheitliche Führung aller auf See eingesetzten Kräfte des Bundes. In den Einsatzstäben muss die verantwortliche Einpersonenleitung auch organisatorisch verankert sein; die
Mannschaft muss eingespielt sein und sie darf nicht erst
mit der Buschtrommel zusammengerufen werden müssen.
Alle rechtlichen Möglichkeiten unterhalb einer
Grundgesetzänderung müssen genutzt werden. Die Experten haben gute Ansätze vorgeschlagen. Die internationale Zusammenarbeit muss verbessert werden und der
Schiffsverkehr muss besser überwacht werden. In der
Ostsee findet praktisch keine Überwachung statt. Überwachung ist Vorsorge zur Vermeidung von Unfällen.
Für Schiffe mit gefährlicher Ladung in der Nordsee
müssen erforderlichenfalls Routenverlegungen durchgesetzt werden; denn nicht nur die Leichtigkeit, auch die
Sicherheit des Seeverkehrs ist Aufgabe einer Küstenwache.
({4})
Die Brandbekämpfung auf See muss neu geordnet
werden. Dafür sind ausgebildete und ständig geschulte
Seeleute einzusetzen - nicht Feuerwehrleute, die erst
von Land abgezogen werden. Das ist nicht der richtige
Weg. Wir müssen überlegen, ob die Notschleppkapazität
in dieser Form ausreicht. Peter Harry Carstensen hat dazu ein Wort gesagt.
Lassen Sie mich noch ein Wort zu den Erwartungen
der Betroffenen sagen. Die Menschen an den Küsten,
die beruflich und wirtschaftlich von sauberen Meeren
und Stränden abhängig sind, können - auch aus Sorge
um mögliche ökologische Auswirkungen von Havarien - erwarten, dass es endlich zu den nach der „Pallas“-Havarie versprochenen durchgreifenden Veränderungen kommt und dass nicht nur alter Wein in neue
Schläuche gegossen wird.
Die rot-grüne Landesregierung in Schleswig-Holstein
will offenbar - das muss ich hier deutlich sagen - nur
eine gemeinsame Führung im Krisenfall mit Unterstützung aus dem Bundesinnenministerium und aus den
Küstenländern. Dies ist nicht der richtige Weg.
({5})
Die Große Anfrage der CDU/CSU zur Schaffung einer Deutschen Küstenwache hat dazu geführt, dass die
grundsätzliche Problematik aufgearbeitet wurde. Ich sage meinem Kollegen Wolfgang Börnsen ein herzliches
Dankeschön für die Arbeit, die er hineingesteckt hat.
Das muss einmal deutlich und klar gesagt werden.
({6})
Meine Damen und Herren, mancher von Ihnen hat
sich gegen Mitternacht auch mit dem dicken Gutachten
der Expertenkommission befasst. Dort steht, dass die
Umsetzung der Empfehlungen der Expertenkommission
einmalig 130 Millionen DM kostet. Die laufenden Kosten konnten noch nicht ermittelt werden. Diese
130 Millionen DM sind ein Betrag, mit dem, verteilt auf
Bund und Länder, schnell Verbesserungen erreicht werden können.
Schadensvermeidung hat Vorrang vor Schadensbegrenzung. Jetzt muss zügig und schnell ausgewertet, beraten und entschieden, also gehandelt werden. Noch
einmal dürfen 16 Monate nicht ungenutzt verstreichen!
({7})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Gila
Altmann.
Ich möchte noch einmal auf den Redebeitrag von
Frau Flach eingehen, in dem sie gesagt hatte, dass
Schleswig-Holstein der brennenden „MS Mercator“
quasi die Hilfe verweigert habe, weil man ihr untersagt
habe, in Brunsbüttel einzulaufen. Ich hatte diesen Vorgang anders in Erinnerung, habe aber in der Zwischenzeit noch einmal Recherchen angestellt, um ganz sicherzugehen. Ich möchte Ihnen deshalb noch einmal zur
Kenntnis geben, dass dieses Schiff mit Eisenspänen beladen war, die schon brannten, die Feuerwehr Brunsbüttel an Bord gegangen ist und in Absprache mit der Besatzung und dem Hamburger Hafen die Freigabe erteilt
hat, weil die brennenden Eisenspäne, die ja ein gewisses
Gefahrenpotenzial darstellten, besser in Hamburg gelöscht werden konnten. Genau so ist es dann ja auch passiert. Die von Ihnen konstruierte Unterstellung, dass
Schleswig-Holstein in einer akuten Gefahrensituation
keine Hilfe geleistet habe, ist nach meinen Informationen falsch.
({0})
Wollen
Sie erwidern? - Bitte.
Nichtsdestoweniger stimmen
Sie mir doch sicherlich zu, Frau Staatssekretärin, dass
dieses Schiff brennend über das Meer gefahren ist. Es
ging darum, dass hier etwas ablief, was nicht hätte sein
müssen.
({0})
Zu einer
weiteren Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Jürgen Koppelin.
Die Kollegin Ulrike
Mehl hat mich ja direkt im Zusammenhang mit dem
Thema Umweltschutz in Schleswig-Holstein angesprochen. Sie hat behauptet, eine Koalition aus
CDU/CSU und F.D.P. würde den Umweltschutz für
zehn Jahre stoppen.
({0})
- Entschuldigung, das haben Sie gesagt. Deswegen habe
ich mich gerade gemeldet. Ich bin mir auch sicher, dass
die Kollegin Mehl, die ich sehr schätze, zu intelligent
ist, um nicht selber zu wissen, dass es Unsinn ist, was
sie da erzählt hat.
Der Sachverhalt - das wissen Sie, Kollegin Mehl - ist
doch folgender: Es geht nicht darum, dass der Umweltschutz in Schleswig-Holstein gestoppt wird, sondern
darum, dass die Drangsalierung vor allen Dingen der
Menschen an der Westküste durch die Politik des Umweltministers Steenblock aufhören muss. Darum geht es.
({1})
Ich fahre auch gerne mit Ihnen dahin, damit Sie sehen,
dass es sich so verhält.
Ich will Ihnen auch noch ein Beispiel nennen: Wird
ein Landwirt an der Westküste Schleswig-Holsteins, der
einen Bauantrag stellt, um am Stall noch etwas anzubauen, eine Baugenehmigung dafür bekommen? Nein! So
werden die Leute dort drangsaliert. Das muss aufhören.
Dafür stehen wir ein.
({2})
Zur Erwiderung Frau Mehl, bitte schön.
Jetzt sind wir schon wieder bei
Themen aus dem Schleswig-Holsteinischen Landtag.
Aber Ihre Aussage kann man so nicht stehen lassen.
Zumindest ist herübergekommen, dass Herr Rühe das
so sieht. Auf einer Pressekonferenz und bei verschiedenen Veranstaltungen in Schleswig-Holstein hat er auch
konkrete Beispiele gebracht, wo der Amtsschimmel
wiehert. Er sagte sogar: Der Amtsschimmel wiehert röhrend. Vorstellen kann ich mir das nicht, da Hirsche röhren und keine Schimmel, erst recht keine Amtsschimmel. Aber das nur nebenbei. Er brachte dann zwei Beispiele, die wirklich neben der Kappe lagen, um es so
auszudrücken.
Es ging zum Beispiel um eine Boßelbahn in einem
Naturschutzgebiet, um die ein 1 Kilometer langer Zaun
gebaut werden sollte. Zwei Tage später las man in einem
Presseartikel, dass diejenigen, die diese Bahn beantragt
hatten, sehr großen Wert darauf legten, dass dieser Zaun
gebaut wird, weil sie sich nicht vorhalten lassen wollten,
dass die Leute in diesem Gebiet irgendetwas zerstörten.
Diese Frage ist dann absolut einvernehmlich geregelt
worden. Die waren nämlich sauer darüber, dass das als
Beispiel gebracht wurde.
In diesem Zusammenhang kann ich nur sagen: Dafür
sind die Kreise zuständig. Man kann darüber diskutieGert Willner
ren, ob man den Kreisen Kompetenzen abnimmt. Wir
wollen das nicht tun.
({0})
Herr
Carstensen, ich habe Ihnen nicht das Wort gegeben. Wir haben jetzt eine Reihe von Kurzinterventionen erlebt. Es macht keinen Sinn, dass die Redner, die bereits
gesprochen haben, diese Debatte durch Kurzinterventionen verlängern.
({0})
Ich schlage vor, dass jetzt der Kollege Opel von der
SPD-Fraktion das Wort bekommt.
({1})
- Jetzt hat Kollege Opel das Wort.
({2})
({3})
Werte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal
möchte ich als der Abgeordnete, in dessen Wahlkreis die
„Pallas“ gestrandet ist und wo im Moment das, was von
der „Pallas“ noch übrig ist, im Sand des Wattenmeeres
langsam versinkt, einen Dank aussprechen. Mein Dank
gilt jenen Helferinnen und Helfern, die damals zum Teil
unter Einsatz ihres Lebens bei schwierigster See und unter schwierigsten Verhältnissen auf einem brennenden
Frachter mit Holzladung - Holz ist, wenn es sehr heiß
wird und wenn alle Planken glühen, bekanntlich sehr
schwierig zu handhaben - die erforderlichen Lösch- und
Bergearbeiten, soweit es möglich war, durchgeführt haben. Dies war eine besondere Leistung. Deswegen herzlichen Dank an alle, die geholfen haben!
({0})
Ich habe mit Freude festgestellt, dass Kollege Willner
gesagt hat, man wolle eine saubere Nordsee haben. Dies
steht im Programm der SPD bzw. der Koalition. Herr
Kollege Willner, ich kann mich aber erinnern: Als wir
den Bau der dritten Klärstufe, Uferrandstreifenprogramme oder Ähnliches gefordert haben, war die
CDU/CSU immer dagegen.
({1})
Heute haben wir zwar eine sauberere Nordsee; aber dies
ist nur deswegen so, weil wir vor Ort die Politik der
SPD bzw. der rot-grünen Landesregierung über Jahre
durchgesetzt haben. Dies wird auch weiter so sein.
({2})
Herr Kollege Opel,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Carstensen?
Aber selbstverständlich. Mit
größtem Vergnügen.
Herr Kollege Opel, können Sie bestätigen, dass zum
Beispiel auf der Insel Nordstrand vor zwei Jahren alle
Ackerrandstreifen wieder umgepflügt worden sind, weil
das Landesnaturschutzgesetz es nicht erlaubt, solche
Streifen außerhalb von Naturschutzgebieten anzulegen,
wenn man sie länger als fünf Jahre belässt?
Herr Kollege Carstensen, ich
kann bestätigen, dass es Rechtsstreitigkeiten gibt, die
bisher nicht entschieden worden sind. Ich kann aber
auch bestätigen, dass Sie, Herr Carstensen, noch vor einigen Jahren gesagt haben, man solle das Umweltministerium in Schleswig-Holstein abschaffen. Jetzt lese ich
in der Zeitung, dass Sie selber Umweltminister werden
wollen. Das ist ein Widerspruch.
({0})
Ich möchte auf einen Punkt eingehen, den Kollege
Willner angesprochen hat: Er hat gesagt, man habe in
den letzten 16 Monaten nicht gehandelt. Kollege Carstensen hat gesagt, es werde geprüft, geprüft und geprüft,
aber nicht entschieden. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir müssen doch erst einmal untersuchen, was
wir tun müssen. Wir können nicht in Aktionismus verfallen. Wir müssen wissen, wohin die Reise gehen soll.
Genau das hat dankenswerterweise die Bundesregierung
getan. Der diesbezügliche Bericht, der uns von der
Grobecker-Kommission sehr schnell vorgelegt worden
ist - Herrn Grobecker ist dafür heute schon gedankt
worden -, sowie die Arbeit des Untersuchungsausschusses des schleswig-holsteinischen Landtages haben in
diesem Zusammenhang viel aufgezeigt.
Wir alle sind dafür, dass sich solche Unglücke nicht
wiederholen. Wir alle sind für Prävention und nicht so
sehr für eine Beseitigung hinterher. Auch die ist erforderlich; aber Prävention ist wichtiger. Darauf werde ich
zurückkommen.
Herr Kollege Carstensen - darin stimme ich Ihnen
zu -, wir wollen nach Möglichkeit für die Durchführung
von Rettungsmaßnahmen ein eigenes Schiff haben. Der
entsprechende Prüfauftrag - es muss natürlich erst geprüft werden, ob das sinnvoll bzw. billiger ist - befindet
sich im Moment beim Bundesverkehrsminister. Der
Bundesverkehrsminister hat mir dankenswerterweise
geantwortet, dass er die Prüfung dieser Frage in die
Aufarbeitung des Untersuchungsberichtes mit einarbeiten wird. Ich hoffe, dass wir nach Abschluss der Arbeiten eine gute Nachricht für die Menschen an der Westküste bzw. überhaupt an der Küste haben.
Darüber hinaus gestehe ich Ihnen gerne zu, dass nach
meiner Auffassung und übrigens auch nach Auffassung
des damaligen Ministerpräsidenten Björn Engholm der
Küstenschutz eine nationale Aufgabe ist. Nur: Sie müssen bedenken, dass sich die Finanzierung des Küstenschutzes verändert hat; sie hat sich nämlich für das Land
verschlechtert.
Sie und auch der Kollege Austermann haben mehrfach gesagt, die Mittel für den Küstenschutz seien nicht
ausgegeben worden.
({1})
Hinterher ist diese Aussage korrigiert worden: Für die
Gemeinschaftsaufgabe sind die Mittel nicht ausgegeben
worden. Dafür gibt es einen Grund - ich weiß, dass der
Minister Buß Ihnen persönlich diesen Grund mehrfach
genannt hat -: Innerhalb der Gemeinschaftsaufgabe sind
nämlich Einzelanträge nicht genehmigt worden; entsprechende Mittel konnten nicht in Anspruch genommen
werden und damit nicht abfließen.
({2})
Im Übrigen erwecken Sie den Eindruck, als liege im
Bereich des Küstenschutzes irgendetwas im Argen. Das
stimmt nicht. Die Küsten an der Nordsee sind sicher.
Alle Aussagen, die Angstmacherei beinhalten, sind
schlichtweg falsch.
({3})
Wenn Sie, Herr Kollege Carstensen, sagen, die Information der Wasserschutzpolizei sei nicht erfolgt,
dann bitte ich Sie doch einmal nachzulesen, was auf die
Kleine Anfrage der F.D.P. am 29. Januar 1999 von der
Bundesregierung geantwortet wurde. Die Wasserschutzpolizei in Husum ist nämlich schon am
27. Oktober 1998 um 7.37 Uhr informiert worden. Im
Gegensatz zu Ihrer Aussage war die Wasserschutzpolizei also informiert.
({4})
Verehrter Herr Kollege Carstensen, wenn man Sie
und andere Wahlkämpfer von der CDU und F.D.P. hört,
dann könnte man wirklich meinen, die „Pallas“ sei ein
Holzfrachter der Landesregierung gewesen, eingesetzt
von der Reederin Heide Simonis, der Kapitän sei
Rainder Steenblock gewesen und er habe die Weisung
der Reederin Simonis erhalten, diesen Frachter ausgerechnet vor Amrum auf Grund zu setzten. Ich darf Ihnen
sagen, dass es nicht so war.
({5})
Richtig ist nur ein Punkt: Die „Pallas“ ist eine Billigflaggen-Lösung gewesen. Deswegen sind bei diesem
Schiff viele Mängel zu verzeichnen gewesen. Ich will
Sie daran erinnern, dass Sie gegen unseren erbitterten
Widerstand die Billigflaggen ins deutsche Schifffahrtsregister eingeführt haben. Sie haben auf diese Weise das
Problem erzeugt, welches wir nun lösen müssen.
({6})
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass unsere Forderungen
nach umfassender und wirksamer Unfallprävention richtig sind! Der Reeder, dem die „Pallas“ gehörte, war ein
Italiener, dem 25 solcher Schiffe gehören. Er hatte dafür
25 Reedereien gegründet. Alle 25 Schiffe dieser insgesamt 25 Reedereien fuhren unter Billigflaggen. Genau
das darf in Zukunft nicht mehr passieren! Wir müssen
diese unselige Billigflaggen-Politik von CDU/CSU und
F.D.P. endlich überwinden.
Ich möchte auf einen Widerspruch hinweisen, den der
Kollege Austermann vorgetragen hat. Ich freue mich ja,
dass Sie jetzt eine zentrale Küsten- oder Seewache fordern. Das ist prima. Es ist gut, wenn dieses Haus gemeinsam eine entsprechende Lösung mit einer Expertenkommission erarbeiten will.
Aber Ihr Antrag vom 8. Dezember 1998 spricht von
„Durch das Nordsee-Schutz-Abkommen und im Rahmen des auf Subsidiarität aufbauenden Sicherheitskonzepts ...“. Was heißt das? Das heißt doch, dass Sie keine
zentrale Lösung wollen. Sie wollen vielmehr eine auf
Subsidiarität aufgebaute Lösung. Das kann es aber nicht
sein. Wir möchten einen länderübergreifenden Küstenschutz, möglichst in ganz Europa. Ich freue mich, dass
Sie heute Ihre Meinung in diesem Punkt geändert haben.
Die Küsten- oder Seewache ist eine nationale und - besser noch - eine europäische Aufgabe, der wir uns alle
stellen müssen.
({7})
Ich möchte auf den endgültigen Spruch des Seeamtes
in Kiel zurückkommen. Verehrter Herr Kollege
Börnsen, Sie haben gesagt, Dänemark zeige, wie es
geht. Ich bin anderer Meinung. In dem Spruch des Seeamtes Kiel heißt es nämlich:
Die Einschätzung der Gefahrensituation durch die
dänischen Sicherheitsbehörden wurde der Gefahrenlage nicht gerecht.
({8})
Ich möchte also nicht, dass so wie in Dänemark gehandelt wird.
Was sind die Schlussfolgerungen? Es gibt vier
Schlussfolgerungen, denen wir uns anschließen. Erstens.
Wir wollen eine Küstenwache bzw. Seewache neuer Art,
wie sie vorgeschlagen worden ist. Zweitens. Wir wollen
eine leistungsfähige Schleppkapazität in der Deutschen
Bucht, und zwar möglichst schnell. Drittens. Wir möchten international verbesserte Melde- und Informationssysteme, die funktionieren. Viertens. Wir möchten
eine seewärtige Verlegung der Schifffahrtsstraßen, damit die Gefährdung unserer Küsten, vor allem die Gefährdung des Wattenmeeres, geringer wird.
Herzlichen Dank.
({9})
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Cajus Caesar.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Die CDU/CSUFraktion hat heute diesen Antrag eingebracht, um noch
einmal auf die Konsequenzen dieser großen Katastrophe
hinzuweisen. Wichtig ist, dass die Verantwortlichen
endlich aus den Fehlern, die sie seinerzeit gemacht haben, ihre Schlüsse ziehen, ja aus ihren Fehlern lernen.
({0})
Solch verheerende Folgen für Umwelt und Wirtschaft
waren nicht nötig: zerstörte Meeresbiologie und 16 000
tote Vögel, und das unter der Verantwortung von zwei
grünen Umweltministern.
({1})
Beide waren nicht in der Lage, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Katastrophe rechtzeitig abzuwenden. Sie haben das Problem schlichtweg ausgesessen. Das ist das erschreckende Fazit dieser Vorgehensweise.
({2})
Erinnern wir uns noch einmal an die Ereignisse von
damals, meine Damen und Herren. In der Nacht vom 25.
auf den 26. Oktober 1998 brach an Bord des Frachters
„Pallas“ ein Feuer aus. Technische Mängel und unsachgemäße Brandbekämpfung führten schließlich dazu,
dass das Schiff von der Besatzung aufgegeben und verlassen werden musste. Es trieb dann einige Tage führerlos auf See, und es strandete am 29. Oktober 1998 vor
Amrum.
Ein offensichtlich völlig desinteressierter und inkompetenter - noch im Amt befindlicher - Umweltminister
Rainder Steenblock ließ sich ebenfalls dahintreiben;
denn er ergriff keine Maßnahmen.
({3})
Noch am 6. November 1998, als klar war, dass sich
die Lage dramatisch verschärft hatte - zwischenzeitlich
war ein Riss im Rumpf entstanden, Öl trat aus -, lehnte
der Umweltminister ein erneutes Angebot seines eigenen Innenministeriums ab und schlug die Hilfe aus.
Tagelang tritt Öl aus, verschmutztes Wasser und verschmutzte Küsten verölte Vögel werden gefunden - und
das unter den beiden Umweltministern Steenblock und
Trittin, die mehr oder weniger tatenlos zusehen.
Man schiebt die Verantwortung zwischen Land und
Bund hin und her. Der frühzeitige Einsatz des Hochseeschleppers „Oceanic“ erfolgt nicht. Es bleibt eigentlich
nur ein Schluss: Überforderung und Gleichgültigkeit.
({4})
16 000 tote, ölverschmutzte Vögel und eine langfristig geschädigte Umwelt gehen auf das Konto der beiden
Umweltminister.
({5})
Kompetenzwirrwarr ist zu verzeichnen. Die Verantwortung wird vom Land auf den Bund geschoben, und man
ist nicht in der Lage, Hilfe zu leisten, Verantwortung zu
übernehmen und Gefahren von der Umwelt abzuwenden.
({6})
100 000 Liter Öl liefen ins Meer. Wenn wir uns die
gutachterlichen Stellungnahmen von Experten ansehen,
Herr Minister Fischer, dann stellen wir fest: Versäumnisse und Fehleinschätzungen. Sie hätten sich das einmal durchlesen sollen.
Die „Kieler Nachrichten“ weisen darauf hin: Das
Land darf sich bei der Gefahrenabwehr in Küstengewässern nicht hinter dem Bund verstecken. Das Seeamt in
Cuxhaven stellt fest: Gefahrenlage bei dem Unglück
falsch eingeschätzt. Greenpeace bringt zum Ausdruck:
Der unprofessionelle und nachlässige Umgang mit der
Ölverschmutzung ist nur ein Aspekt des mangelhaften
Krisenmanagements im Fall „Pallas“.
({7})
- Die SPD selbst bestätigt Reibungsverluste - dies zu
Ihrem Zwischenruf, Herr Minister Fischer -, spricht aber
ansonsten von einem „ganz normalen Schadensfall“. Na
ja, bei der Politik, die Sie leisten, ist es normal, wenn die
Umwelt geschädigt wird.
({8})
Daraus müssen Konsequenzen gezogen werden. Die
Bundesregierung sollte endlich etwas unternehmen, um
die Schlüsse aus diesem Vorgehen zu ziehen.
({9})
Wir fordern deshalb nachdrücklich - und dies nicht erst
heute -, dass die internationale Zusammenarbeit in diesem Zusammenhang verbessert wird.
({10})
Hierbei gilt es, Vereinbarungen über die Sicherheit der
Schiffe zu treffen.
({11})
Das bestehende Sicherheitskonzept muss in Zusammenarbeit zwischen Ländern und Bund dahin gehend
überarbeitet werden, dass Kompetenzen und Verantwortlichkeiten geklärt werden und klar zugeordnet werden können. Mit rot-grünem Kompetenzwirrwarr muss
jedenfalls endlich Schluss sein. Es muss eine einheitliche deutsche Küstenwache geschaffen werden. In diesem Zusammenhang muss es endlich zu einer handlungsfähigen Umweltpolitik kommen. Nur - wie bei
Rot-Grün - über die Restlaufzeiten von Kernkraftwerken zu diskutieren ist in der Umweltpolitik einfach zu
wenig.
({12})
Meine Damen und Herren, ein effizienter Schutz von
Mensch, Tier und Natur muss durch eine Kompetenzfusion erreicht werden. Uns, der CDU/CSU, geht es darum, den Menschen vor Ort zu helfen.
({13})
Jeder vierte Arbeitnehmer in diesem Raum ist mit dem
Tourismus und der Fischerei in Zusammenhang zu bringen. Durch Inkompetenz und dadurch, dass die Bundesregierung die notwendige finanzielle Unterstützung
nicht geleistet hat, ist hier viel Schaden entstanden.
Bei Rot-Grün stehen die Fragezeichen im Vordergrund. Die Ausrufungszeichen fehlen oder sind nicht in
Sicht. Wo bleiben bei der rot-grünen Politik - neben
dem Vorgehen in diesem konkreten Fall - die Weiterentwicklung der Naturschutzgesetzgebung, die Entscheidungen zur Verpackungsverordnung, die Umsetzung der FFH-Richtlinie, das Konzept zur CO2Reduzierung und zum Klimaschutz? Sie propagieren
den Atomausstieg, haben aber keine Konzepte. Sie wollen auf der grünen Wiese zwischenlagern.
({14})
Wir mahnen Handlungsbedarf an. Nicht Lamentieren,
sondern Handeln ist angesagt.
({15})
Wir wollen eine sinnvolle Vernetzung von Ökonomie
und Ökologie. Verantwortliches Handeln im Sinne zukünftiger Generationen ist gefordert.
Herzlichen Dank.
({16})
Herr Kollege Caesar,
dies war Ihre erste Rede, nicht im römischen Senat, sondern im Plenum des Deutschen Bundestages. Im Namen
aller Kolleginnen und Kollegen möchte ich Sie an dieser
Stelle herzlich beglückwünschen.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Bundesminister für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten, Kollege
Karl-Heinz Funke.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte auf zwei
Punkte hinweisen, die in dieser Debatte vor allem bei
den Rednern der CDU/CSU-Fraktion eine Rolle gespielt
haben.
Erstens ist unterstellt worden, dass es angesichts der
Tatsache, dass Schleswig-Holstein - aus welchen Gründen auch immer - die Gemeinschaftsaufgaben nicht voll
bedient habe, auch Vernachlässigungen des Küstenschutzes gegeben habe. Das ist eindeutig falsch.
({0})
Jeder, der sich im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe
auskennt, weiß - -
({1})
- Doch, doch, ich habe sehr genau zugehört; aber es ist
ja schön, wenn Sie es jetzt zurücknehmen, Herr Kollege
Carstensen. Ich bin sehr froh darüber, dass das so ist.
({2})
Ich stelle das mit großer Genugtuung fest. Denn jeder
weiß, dass die Länder Schwerpunkte innerhalb der Gemeinschaftsaufgabe setzen können. Hier mag man beklagen, dass für die agrarstrukturelle Vorplanung, für
Dorferneuerung und anderes zu wenig getan worden ist.
Das will ich jedem selbst überlassen. Aber SchleswigHolstein ist seinen Verpflichtungen im Küstenschutz
genauso vorbildlich wie Niedersachen, Bremen und
Hamburg nachgekommen.
({3})
Das muss man eindeutig feststellen oder man ist - Herr
Carstensen, um mit Ihren Worten zu reden - unredlich.
Zweitens, Schleswig-Holstein hat ein Programm im
Rahmen der so genannten zweiten Säule der Agenda
gemacht und dabei auch Maßnahmen zum Küstenschutz
angemeldet.
({4})
Es ist eindeutig so, dass die Maßnahmen, die SchleswigHolstein angemeldet hat, im vorgegebenen Rahmen dieses Programms aus der zweiten Säule der Agenda dazu
geeignet sind, von der EU mitfinanziert zu werden. Das
zeigen unsere Unterlagen. Deswegen haben wir das von
Schleswig-Holstein gemeldete Programm zur Beurteilung, zur Notifizierung nach Brüssel weitergegeben.
Sie haben mich aufgefordert zu sagen, ob wir das,
was Schleswig-Holstein gemeldet hat, unterstützen. Ich
sage dazu: Es gibt erstens überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass Institutionen oder Stellen der Europäischem Union genötigt sein könnten, irgendeinen Teil
dieses Programms in Frage zu stellen. Denn mit Beihilferecht oder Ähnlichem hat das überhaupt nichts zu tun.
({5})
Zweitens unterstützen wir nachdrücklich das Begehren
Schleswig-Holsteins und wollen helfen, dass dieses Programm, wie von Schleswig-Holstein vorgetragen und
vorgelegt, auch notifiziert wird, gerade im Interesse der
Küstenbewohner des Landes Schleswig-Holstein.
({6})
In Ihrer Rede wäre es, wenn Sie denn schon aus politischen Gründen Zweifel anmelden, unheimlich wertvoll
gewesen, wenn Sie genau diesen Satz, dass Sie dem
Kollegen Buß dabei helfen, das durchzusetzen, gesagt
hätten.
({7})
- Wenn Sie ihn gesagt haben, habe ich ihn überhört,
Entschuldigung. Dann nehme ich das jetzt ausdrücklich
zurück und freue mich, dass wir gemeinsam die bewährte Linie Schleswig-Holsteins, über Küstenschutz die Sicherheit von Menschen, Sachen und Biotopen sicherzustellen, unterstützen.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu
dem Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis
90/Die Grünen zur Optimierung des Sicherheits- und
Notfallkonzepts für Nord- und Ostsee auf Drucksache
14/843. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/281
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 14/843, den Antrag
der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/160 zu
den Folgerungen aus der Havarie der „Pallas“ vor Am-
rum abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion
angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion der F.D.P. zur unverzüglichen Vorlage des
Berichts der Unabhängigen Expertenkommission „Ha-
varie Pallas“ auf Drucksache 14/2454. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der F.D.P.-
Fraktion abgelehnt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 14/548, 14/1634 und 14/1652 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist of-
fensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Weiterhin wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/2684 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
und zur Mitberatung an den Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten, den Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie den Ausschuss
für Tourismus zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige
Vorschläge? - Auch das ist nicht der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b so-
wie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf:
Überweisungen im vereinfachten Verfahren
14 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Flurbereinigungsgesetzes
- Drucksache 14/2445 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
b) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung des Melderechtsrahmengesetz ({1})
- Drucksache 14/2577 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ({3})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
Fernabsatzverträge und andere Fragen des
Verbraucherrechts sowie zur Umstellung
von Vorschriften auf Euro
- Drucksache 14/2658 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
Festlegung eines vorläufigen Wohnortes
für Spätaussiedler
- Drucksache 14/2675 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen unter Punkt 14 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind auch diese Überweisungen so beschlossen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/2658 zur federführenden Beratung an
den Rechtsausschuss und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss
für Gesundheit, den Ausschuss für Tourismus und den
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Auch das ist nicht der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Weiterhin wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/2675 zur federführenden Beratung an
den Innenausschuss und zur Mitberatung an den
Rechtsausschuss und den Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige
Vorschläge? - Auch das ist nicht der Fall. Dann sind
diese Überweisungen ebenso beschlossen.
Damit kommen wir zu den Tagesordnungspunkten
15 a bis 15 h. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 15 a:
Zweite und Dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Wehrsoldgesetzes ({6})
- Drucksache 14/2498 ({7})
Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({8})
- Drucksache 14/2625 Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Göllner
Helmut Rauber
Der Verteidigungsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/2625, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der PDSFraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung! Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung bei Enthaltung der
PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 15 b auf:
Zweite und Dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes
- Drucksache 14/2094 ({9})
Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({10})
- Drucksache 14/2602 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Meinrad Belle
Dr. Max Stadler
Petra Pau
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung! Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 15 c auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und Berichts
des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
({11})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gunnar
Uldall, Dr. Bernd Protzner, Karl-Heinz Scherhag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
„Jahr-2000-Problem“ in der Informationstechnik ernst nehmen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit
Homburger, Ulrike Flach, Horst Friedrich
({12}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Jahr-2000-Problem - Unterstützung zur
Problemlösung
- Drucksache 14/1334, 14/1544, 14/2115 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Axel Berg
Wir stimmen zuerst über die Beschlussempfehlung
auf Drucksache 14/2115, Buchstabe a ab. Der Ausschuss
Vizepräsidentin Petra Bläss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1334 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU
und F.D.P. angenommen.
Wir kommen nun zu der Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem
Antrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/2115,
Buchstabe b. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/1544 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. bei
Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 d auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelbericht 117 zu Petitionen
- Drucksache 14/2585 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 117 einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 e auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelbericht 118 zu Petitionen
- Drucksache 14/2586 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 118 bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 f auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelbericht 119 zu Petitionen
- Drucksache 14/2587 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 119 einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 g auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelbericht 120 zu Petitionen
- Drucksache 14/2588 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 120 ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 h auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelbericht 121 zu Petitionen
- Drucksache 14/2589 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 121 gegen die
Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist
vereinbart, den Tagesordnungspunkt 7 - es handelt sich
um die abschließende Beratung des Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes - von der heutigen Tagesordnung abzusetzen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDIS 90/DIE
GRÜNEN
Haltung der Bundesregierung im Hinblick auf
einen möglichen Schaden für die Demokratie
in Deutschland durch die aktuellen Erkenntnisse zu Praktiken der Parteienfinanzierung
und deren mögliche Auswirkungen auf Mehrheitsverhältnisse in Bundesorganen
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Kerstin
Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
gestrige Rücktritt des Fraktionsvorsitzenden Wolfgang
Schäuble war aus unserer Sicht ein überfälliger, ein
notwendiger Schritt. Ich glaube, der Kollege Schäuble
konnte nicht mehr glaubwürdig aufklären und konnte
nicht zur Erneuerung beitragen, weil er viel zu sehr
selbst im Gestrüpp des Systems Kohl verfangen war.
Dennoch möchte ich hier zu Beginn sehr klar sagen das ist von meiner Fraktion aufrichtig gemeint -: Wir
haben großen Respekt vor dieser persönlichen Entscheidung des Kollegen Schäuble.
({0})
Allerdings ist das allein - das möchte ich auch ganz klar
sagen - noch nicht der Neuanfang, von dem Sie in diesen Tagen so viel reden. Es kann allenfalls ein erster
Schritt sein. Der Fraktionsvorsitzende Schäuble, so sagen selbst Abgeordnete aus Ihren Reihen, hat mit seinem
Rücktritt Maßstäbe gesetzt. Ich glaube, dass andere diesen Maßstäben folgen sollten.
({1})
Wo ist zum Beispiel der Abgeordnete Kohl? Seit
Aufdeckung der Spendenaffäre habe ich den Abgeordneten Kohl in diesem Hohen Hause nicht mehr gesehen.
({2})
Ich frage mich: Hat er so viel in seinem Wahlkreis zu
tun, oder in welcher Form kommt er seinen Pflichten als
Vizepräsidentin Petra Bläss
Abgeordneter nach? Bis heute hat der ehemalige Bundeskanzler die Namen der Spender nicht genannt. Er begeht an jedem Tag, an dem er schweigt, einen Bruch von
Gesetz und Verfassung.
({3})
- Darüber lachen Sie auch noch? Das finde ich wirklich
ungeheuerlich.
Heute hat der Untersuchungsausschuss mit einer erstaunlich turbulenten Anhörung begonnen. Allein dieser
erste Tag hat gezeigt, dass die CDU die Aufklärung behindert, statt wirklich etwas zur Aufklärung beizutragen.
Mit ausgesprochen krimineller Energie und offensichtlich in großem Stil hat das frühere Kanzleramt Akten
manipuliert und verschwinden lassen.
({4})
Ich finde, das Mindeste ist, dass der Abgeordnete Kohl
sein Mandat niederlegt.
({5})
Und was ist mit dem hessischen Ministerpräsidenten
Koch, dem selbst ernannten brutalsten Aufklärer aller
Zeiten? Seine vorgelegte Chronologie der schonungslosen Aufklärung - erweist sich inzwischen als Chronologie der konsequenten Verschleierung und Trickserei anders kann man das wirklich nicht mehr nennen -: manipulierter Rechenschaftsbericht, um den Schwarzgeldzufluss von 1,5 Millionen DM zu verschleiern,
({6})
und mehrfache Lügen in der Öffentlichkeit, in den Pressekonferenzen am 10. und am 14. Januar. Am 14. Januar
wurde aus einem von Koch selbst erfundenen Brief zu
diesem Darlehen, das es niemals gegeben hat, von ihm
zitiert, nur um die ungeklärte Herkunft von
1,5 Millionen DM zu verschleiern.
Um es mit einem Zitat aus der „Berliner Zeitung“
vom 10. Februar auszudrücken:
Doch nun hat sich Koch als das entpuppt, was er
immer war: der legitime Erbe Kanthers. Der Aufklärer selbst hat gelogen, auch er hat getarnt, getrickst und getäuscht.
Und weiter heißt es:
Wie Helmut Kohl hat ... ({7}) gegen Amtseid, Gesetz
und Verfassung verstoßen.
Dem ist, so glaube ich, nichts mehr hinzuzufügen.
({8})
Mit diesem Geld wurde aber nicht nur diese brutalpopulistische, ausländerfeindliche Kampagne finanziert,
die ja schließlich zum Wahlsieg führte, also schwarzes
Geld für einen schwarzen Sieg. Ich frage Sie auch:
Glauben Sie denn wirklich, die Wählerinnen und Wähler
hätten die CDU gewählt, wenn sie gewusst hätten, dass
ausgerechnet diese Partei, die Partei von Law and Order,
über Jahrzehnte hinweg systematisch und mit hoher
krimineller Energie Geld verschoben hat? Das glauben
Sie heute selbst nicht mehr; denn sonst würde Ministerpräsident Koch zurücktreten.
({9})
Der einzige Weg, um die politische Glaubwürdigkeit
wiederherzustellen, ist deshalb, dass Ministerpräsident
Koch Schäubles Beispiel folgt und in Hessen den Weg
für Neuwahlen frei macht.
({10})
Ich möchte noch zur F.D.P. kommen. Es reicht nicht,
nur die Person Koch auszuwechseln; das wäre eine offensichtliche Mogelpackung. Die F.D.P. führt zurzeit eine ganz nette Inszenierung auf: Auf Bundesebene spielen Sie die Saubermänner und schwadronieren über
Glaubwürdigkeit, während in Hessen der Landesverband
des Bundesvorsitzenden Gerhardt mit Ruth Wagner an
der Spitze wie mit Pattex an den Sesseln klebt.
({11})
Ich halte das für ein ziemlich durchsichtiges Doppelspiel.
Was wäre eigentlich, wenn keine Landtagswahlen in
Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen anstünden? Was würden Sie dann machen? Würden Sie dann
auch auf Bundesebene über den Rücktritt von Herrn
Koch diskutieren? Wären Sie dann auch so um eine
weiße Weste bemüht? Das wäre wirklich etwas Neues.
Nein, ich glaube, der einzig saubere Weg sind Neuwahlen. Dafür sollten Sie sich heute hier ganz deutlich aussprechen.
({12})
Frau Kollegin
Müller, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Eines finde ich - Frau
Merkel, die bei einer solchen Debatte nun wirklich anwesend sein sollte, ist leider nicht da -
({0})
wirklich unglaublich: die Angriffe und Einschüchterungsversuche gegen den Bundestagspräsidenten,
({1})
der Sie nach Recht und Gesetz zur Rückzahlung von
41 Millionen DM verpflichtet hat. Wenn Sie nicht wollen, dass diese Debatte in der Gesellschaft eskaliert und
dass sich die Menschen mit Grauen von der Politik und
den Parteien abwenden,
Kerstin Müller ({2})
({3})
dann kann ich Ihnen nur raten: Pfeifen Sie Ihre Anwälte
zurück! Die vergrößern nur den Schaden für die Demokratie.
Und das alles zeigt doch: Ihnen ist es mit der Erneuerung nicht Ernst. Machen Sie Ernst! Hören Sie auf mit
diesen Spielchen! Schaffen Sie einen echten Neuanfang
und reden Sie nicht nur davon.
({4})
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Herr Kollege Dr. Klaus
Lippold.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Müller, Sie fordern den Wechsel in Hessen,
weil Sie nicht wollen, dass durch die dortige Koalition
eine miserable Politik auf Bundesebene nach wie vor
korrigiert werden kann.
({0})
Das ist doch der wahre Sachverhalt. Ihr Versagen bei
der Steuerreform und bei der Gesundheitsreform können
wir mit der Koalition in Hessen korrigieren.
({1})
Ohne diese Koalition geht es aber nicht.
({2})
Damit deutlich wird, wie es läuft: Was ist denn mit
NRW? Wo ist denn die schonungslose und zügige Aufklärung in Nordrhein-Westfalen?
({3})
Scheibchenweise lässt sich der dortige Ministerpräsident
die Würmer aus der Nase ziehen. Scheibchenweise gibt
Herr Schleußer zu,
({4})
dass manches privat genutzt war. Scheibchenweise wird
deutlich - im Gegensatz zu den Vorgängen bei der Union -, dass es sich um persönliche Vorteile handelt.
({5})
Das sind Dinge, die Sie der Union in dieser Form nicht
nachweisen können.
Was Sie in der aktuellen Diskussion machen wollen,
ist ganz einfach: Sie wollen davon ablenken, dass der
hessische Ministerpräsident in unheimlich harter Arbeit
({6})
nahezu 97 Prozent der Vorgänge aufgeklärt hat. Davon
wollen Sie ablenken, weil Ihnen das nicht gefällt.
({7})
Wenn dabei Äußerungen kommen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt richtig sind, und sich das hinterher
anders darstellt, dann ist das nur so zu beurteilen, dass
damit die Richtigkeit der Rechenschaftsberichte nicht in
Frage steht. Wir haben neutrale Gutachter beauftragt, die
nachgewiesen haben, dass der Rechenschaftsbericht korrekt abgegeben worden ist.
({8})
Davon wollen Sie, Frau Kollegin Müller, schlicht und
ergreifend ablenken. Das ist ein Punkt, den wir Ihnen so
nicht durchgehen lassen.
({9})
Kommen wir auf etwas anderes zu sprechen. Gerade
wurde gesagt, Frau Kollegin Merkel sei nicht anwesend.
Ich halte fest: Soweit ich sehe, ist auch Herr Kollege
Struck nicht anwesend. An dieser Stelle fängt es an, interessant zu werden. Ich lese in der „Wirtschaftswoche“:
Zunächst schien es wieder nur eine der zahlreichen,
schon sattsam bekannten Filzgeschichten im SPDMilieu zu sein: gut dotierte Pöstchen gegen nützliche
politische Kontakte. Doch je länger die „Wirtschaftswoche“-Hauptstadtkorrespondenten recherchierten - und
die Verbindungen, die sich dabei offenbarten, deutlich
wurden -, desto mehr stellte sich der Verdacht ein, dass
Sozialdemokraten mit Geld, jedenfalls mit Spendengeld,
womöglich besser umgehen können, als ihnen oft nachgesagt wird.
({10})
So, liebe Freunde, nun klären Sie doch einmal die Verstrickung des Kollegen Struck mit einer Institution, in
der er Aufsichtsratsvorsitzender war, und mit Spendengeldern, die von dort Vereinigungen zuflossen, die ihm
nahe stehen, auf!
({11})
Klären Sie doch einmal die Situation, dass ein früherer
Mitarbeiter von Lafontaine mit einem mit 1 Million DM
dotierten Posten abgefunden wurde.
({12})
Sie haben in Ihrem Bereich wirklich mehr als genug zu
tun
({13})
und brauchen gar nicht mit dem Finger auf andere zu
zeigen. Ich gehe davon aus, dass das erst der Anfang eines langen Weges ist und dass da noch einige Positionen
hinzukommen werden.
Im Übrigen: Frau Kollegin Müller, warum adressieren Sie Ihre Forderung, dass Aufklärung betrieben wird,
denn nicht mehr an die Kollegen von der SPD? Dem
Kerstin Müller ({14})
Vernehmen und den Mitteilungen nach soll Ministerpräsident Clement, als es um eine Erweiterung des Auftrages des Untersuchungsausschusses in NRW ging und
dieses von Ihrer Kollegin Höhn befürwortet wurde, mit
dem Bruch der Koalition und dem Rausschmiss von
Frau Höhn gedroht haben. Diese Pressemitteilungen sind
nach wir vor nicht dementiert. Sagen Sie mir doch einmal, was das mit Aufklärung in Sachen SPD zu tun hat.
Das macht doch deutlich: Sie sprechen mit doppelter
Zunge. Sie ziehen über andere her. Dazu haben Sie aber
nicht das Recht.
({15})
Machen Sie es wie wir in Hessen. Klären Sie auf schonungslos und deutlich! Dann kommen Sie weiter.
({16})
Herzlichen Dank.
({17})
Für die SPDFraktion spricht jetzt der Kollege Franz Müntefering.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie uns über das sprechen,
was dieses Haus angeht. Erstens. Demokratie braucht
Regeln und Gesetze. Die Regeln und die Gesetze haben
wir gemacht. Diese Gesetze für die Parteien, die Parteienfinanzierung, auch die Regelungen bei Verstößen gegen Parteienfinanzierung, haben wir gemeinsam im Angesicht des Flick-Ausschusses beschlossen. Die CDU
hat dabeigesessen und hinterrücks das verraten, was wir
alle miteinander beschlossen haben.
({0})
Deshalb will ich noch einmal feststellen: Das, was
der Bundestagspräsident am 15. Februar 2000 hier entschieden hat, war eine Entscheidung nach Recht und
Gesetz. Das musste so sein. Es findet unsere ausdrückliche Unterstützung.
({1})
Zweitens. Demokratie braucht gleiche Chancen. Sie
haben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten versucht, diese gleichen Chancen auch für uns zu reduzieren, und zwar als Überzeugungstäter. Sie haben über die
Jahre immer wieder versucht, sich eigene - besondere Möglichkeiten gegenüber anderen demokratischen Parteien zu verschaffen.
({2})
Kohl, Kanther und andere lebten in der Vorstellung,
dies sei ihr Land.
({3})
Sie haben sich im Recht gefühlt, was noch einmal deutlich wurde, als in diesen Tagen Herr Dregger von der
„Kampfgemeinschaft CDU“ gesprochen hat - und über
sein Geld, das wahrscheinlich aus der Kriegskasse
stammt.
Die CDU hat sich als „originärste“ Westpartei nach
dem Krieg in Abgrenzung zum Kommunismus definiert.
Sie versucht auch, Sozialdemokraten und andere Parteien in diese Ecke zu stellen. Ich bin alt genug, um mich
an die fiese Art und Weise erinnern zu können, in der
Sie versucht haben, Willy Brandt und andere klein zumachen.
({4})
Ich sage Ihnen heute: Wir Sozialdemokraten haben einen Ehrenvorsitzenden, auf den wir jetzt und auch in
Zukunft stolz sein können.
({5})
Sie werden sich damit abfinden müssen, dass die
CDU in Zukunft eine demokratische Partei unter anderen ist, nicht mehr und nicht weniger. Dieses Land gehört Ihnen nicht. Das wird mit der Aufarbeitung dieser
Affäre klar, die wir in diesen Tagen zu bewältigen haben.
({6})
Drittens. Demokratie braucht Transparenz. Schäubles
Rücktritt ist kein Ersatz für Transparenz. Es wird in der
Chronologie dieser Wochen vielleicht einmal beachtenswert sein, dass Schäuble gegangen ist, während
Koch und Kohl noch selbstgerecht ihre Runden drehen.
Das wird noch einmal besonders zu bewerten sein.
({7})
Aber es muss zum Beispiel noch das Jahr 1990 unter
dem Stichwort „Transparenz“ aufgearbeitet werden.
Dies war das Jahr, in dem sich die CDU in einem Jahr
um 34,8 Millionen DM entschuldet hat, um 82 Prozent
innerhalb eines Jahres. Am 1. Januar 1990 waren es
noch 42,5 Millionen DM Schulden, am Ende des Jahres
7,7 Millionen DM Schulden. Der Wahlkampf im vereinten Deutschland ist von der CDU um 36,1 Millionen
DM billiger durchgeführt worden als der Wahlkampf
1987. Wenn man nicht an Wunder glaubt, muss man sagen: Auch das bedarf noch der Aufklärung. Da stimmt
etwas nicht, meine Damen und Herren.
({8})
Schauen wir uns einmal an, was der damalige Generalsekretär Volker Rühe dazu gesagt hat. Ich möchte ihn
zweimal zitieren. Volker Rühe sagte am 11. März 1992,
als er darauf angesprochen wurde: Ich hätte eigentlich
öffentliches Lob dafür verdient, dass ich die Überschuldung der Partei zurückgeführt habe.
({9})
Dr. Klaus W. Lippold ({10})
Am 30. November 1999 sagte Volker Rühe: Ich hatte in
meiner Zeit als Generalsekretär keinen Überblick über
die Finanzen und somit auch keine Verfügungsgewalt.
({11})
Es wird noch zu klären sein: War der Herr nun General
und wusste alles, oder war er Sekretär und wusste
nichts?
({12})
Nun höre ich - das geht ja auch Rühe an -, die Wahl
Ihres Fraktionsvorstandes solle möglicherweise doch
nicht nächsten Dienstag stattfinden, sondern eine Woche
später. Ergänzend dazu lese ich, dass Rühe für Eventualitäten zur Verfügung stehen könnte.
({13})
Den können Sie jetzt schon nehmen, der wird in
Schleswig-Holstein nicht gebraucht. Das darf ich Ihnen
versprechen.
({14})
Der Streit um die Termine in den letzten Stunden macht
deutlich, dass die Grabenkämpfe bei Ihnen fröhlich weitergehen. Das werden Frau Merkel und Herr Merz noch
merken. Man kann in Anlehnung an ein altes Wort nur
sagen: „Merzlein, du gehst einen schweren Gang!“.
({15})
Viertens. Demokratie braucht Parteien. Affären widerlegen das nicht. Politische Parteien haben die Möglichkeit, Interessen zu bündeln, Dialoge zu führen,
Kompromisse zu finden und politische Arbeit zu organisieren. Ich wende mich gegen jene im Land, die - mit
mancher Larmoyanz - Politikverdrossenheit verkünden.
Richtig ist: Es gibt guten Grund, selbstkritisch zu sein,
auf Ihrer Seite in besonderer Weise.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen - ich wende
mich an alle in diesem Haus -, wir müssen als politische
Parteien auch deutlich machen, dass wir mit dem nötigen Selbstbewusstsein darauf hinweisen können: Weil
wir uns bemühen und weil wir uns in dieser Gesellschaft
engagieren, ist die Demokratie in diesem Lande möglich
geworden. Da schließe ich manche von denen mit ein,
die zu den 630 000 Mitgliedern der CDU gehören. Denjenigen, die draußen herumlaufen und sich das Maul zerreißen, anstatt mitzuhelfen, muss ich sagen: Derjenige,
der sich anstrengt, ist auch dann, wenn er Fehler macht,
gerechtfertigter als derjenige, der von ferne aus dem
Busch heraus das ignoriert, was Politik versucht. Deshalb braucht Demokratie Parteien, jetzt und in Zukunft.
Und abschließend: Politik in demokratischen Parteien
macht sogar Spaß - ich glaube, im Augenblick uns mehr
als Ihnen. Aber das kann ich Ihnen nicht ersparen.
({16})
Das Wort für die
F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Dr. Guido Westerwelle.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Ich
glaube nicht, dass diese von der Tonlage des Wahlkampfes geprägte Debatte geeignet ist, das Vertrauen der
Bürgerinnen und Bürger in diesen Zeiten zurückzuerobern.
({0})
Ich glaube, dass es ein großer Fehler ist, wenn auf diese
Art und Weise eine Debatte entsteht, von der die Menschen den Eindruck gewinnen müssen: Es geht lediglich
darum, den Splitter im Auge der anderen Parteien zu
finden.
Wir, die wir hier gemeinsam Verantwortung tragen,
müssen meiner Meinung nach begreifen, dass das Ansehen der deutschen Parteien - und zugleich das Ansehen
der Politik insgesamt - in großer Gefahr ist. Ich habe die
Sorge - und ich denke, viele von Ihnen teilen, jenseits
des Wahlkampfes, diese Sorge -, dass aus den derzeitigen Affären zunächst eine Glaubwürdigkeitskrise erwächst und irgendwann eine Krise der demokratischen
Institutionen erwachsen kann. Das ist die Aufgabe, die
wir hier haben: den Menschen zu sagen, dass wir als
Parlamentarier bemüht sind, jenseits der Parteitaktik zur
Aufklärung dieser Affären und zur Transparenz beizutragen. Deshalb dürfen wir die Vorkommnisse nicht für
kleine parteitaktische Manöver missbrauchen. Es geht
vielmehr darum, dass die Bürgerinnen und Bürger wieder zur Wahl gehen wollen. Dazu bedarf es aber Parteien, die den Eindruck erwecken, dass sie um Aufklärung
bemüht sind.
({1})
Die Tatsache, dass diese Affären aufgedeckt werden, ist
kein Zeichen für das Versagen der Demokratie, es ist ein
Zeichen für das Funktionieren von Demokratie.
Die Spendenaffäre oder die Roter-Filz-Affäre in Düsseldorf oder die Mandatsträgeraffäre im Zusammenhang
mit der Finanzierung Ihrer Partei sind in meinen Augen
kein Anlass zu Triumphgeheul und zur Schadenfreude.
({2})
Ich kann für meine Partei sagen: Unsere Kassen sind
gewiss nicht voll, aber sie sind transparent. Wir sind als
F.D.P. zwar nicht belastet, aber wir sind nicht froh darüber, dass dies bei den anderen Parteien der Fall ist.
Denn ich glaube, dass keine Partei von diesen Affären
profitieren wird. Das Ansehen der Politik insgesamt
nimmt Schaden.
({3})
Sie vergrößern den Schaden, wenn Sie in diesem Hause
ein reines Wahlkampfmanöver veranstalten.
({4})
Herr Schäuble hat gestern eine, wie ich finde, honorige Erklärung abgegeben. Er hat gesagt:
... ohne einen sichtbaren, also auch personellen
Neuanfang sich die Union nicht aus der Umklammerung dieser Krise befreien kann.
Das waren die Worte von Wolfgang Schäuble. Er hat
damit Maßstäbe gesetzt und Konsequenzen aus Fehlverhalten gezogen. Dieser Maßstab ist auch für andere beispielgebend. Diese Maßstäbe sollten für alle gelten. Für
meine Fraktion im Deutschen Bundestag füge ich hinzu:
Dieses gilt auch für den hessischen Ministerpräsidenten
Roland Koch.
({5})
Die Koalition von F.D.P. und CDU in Hessen hat einen klaren Wählerauftrag. Diesen Wählerauftrag wollen
wir erfüllen. Mit einem Ministerpräsidenten Koch, der
die Unwahrheit gesagt und wissentlich einen falschen
Rechenschaftsbericht abgegeben hat, wird weiterer
Schaden für die Glaubwürdigkeit der Politik eintreten.
Herr Schäuble musste sich gewiss nicht mehr vorwerfen
als Herr Koch. Herr Koch sollte genauso konsequent
und honorig handeln.
({6})
Wir Liberalen im Deutschen Bundestag halten aus
diesem Grunde einen Wechsel des Regierungschefs in
Hessen für notwendig. Dabei geht es längst nicht nur um
die Angelegenheit einer Partei. Es geht um das Ansehen
der Politik und der demokratischen Institutionen insgesamt. Wenn wir nicht Acht geben, sind wir sehr schnell
auf einer schiefen Bahn. Erst ist es eine Partei, dann ist
es eine andere Partei, in Düsseldorf mit rotem Filz, dann
ist es die nächste Partei, und irgendwann ist die Partei
der Nichtwähler die größte Partei in Deutschland. Das
gilt es zu verhindern und das kann man nur, wenn man
wirklich die gleichen Maßstäbe bei allen anlegt.
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen sagen, was
mich ärgert - Sie von den Grünen haben diese Debatte
beantragt -: Ich habe den Eindruck, die Grünen fragen
nicht danach, was sie zur Bewältigung der Krise der
Demokratie tun können, sie fragen nur, was die Krise
der Demokratie für sie tun kann, und das ist falsch. Das
ist nicht gut.
({7})
Wir sind sehr schnell beieinander, wenn wir darüber
sprechen, dass die Losung in diesen Tagen Klarheit und
Wahrheit heißt. Das gilt für alle, das gilt selbstverständlich auch für den amtierenden Bundespräsidenten.
({8})
Ich glaube, es geht weniger um die Fragen, die gestellt, und die Vorwürfe, die in der Öffentlichkeit gemacht werden. Ich glaube vielmehr, dass die meisten
Bürgerinnen und Bürger bereit wären zu akzeptieren,
dass Fehler gemacht worden sind, wenn sie wenigstens
zugegeben würden. Die Taktik des Verschleierns - es
wird immer nur so viel zugegeben, wie sowieso herauskommt - ist das Problem, und das muss auch durch personelle und persönliche Konsequenzen gelöst werden.
({9})
Ich teile die Auffassung, dass ein Abgeordneter dieses Hauses, der Mitglied eines Verfassungsorgans ist
und sich im Zustand des permanenten Verfassungsbruchs befindet, wohl kaum parlamentarische Arbeit
leisten kann. Es handelt sich hier nicht um irgendeine
Petitesse, es handelt sich um Art. 21 unseres Grundgesetzes.
({10})
Das Transparenzgebot - das müssen wir zur Kenntnis
nehmen - ist die Folge von Fehlentwicklungen in der
Weimarer Republik gewesen. Wir reden hier über ein
ungeheuer hohes Gut. Dieses Gut, nämlich das Ansehen
der Politik, die bewährte Demokratie zu verteidigen,
({11})
ist die Aufgabe, die an dieses Hohe Haus gestellt ist. Es
ist ganz gewiss nicht Aufgabe, diesen oder jenen kleinkarierten Vorteil in einer solchen Debatte zu erlangen.
Wir nehmen alle Schaden in diesem Hause, wenn die
Debatte auf diese Art und Weise weitergeführt wird.
Ich danke Ihnen.
({12})
Das Wort für die
PDS-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Dietmar Bartsch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Zusammenhang mit dem
größten Spendenskandal in der Geschichte der Bundesrepublik noch von einem möglichen Schaden für die
Demokratie zu sprechen ist meines Erachtens nicht angemessen. Sieht man die der CDU nachgewiesenen Verstöße gegen Recht und Gesetz einerseits und das latente
Unrechtsbewusstsein, das auch Herr Lippold ausgedrückt hat, andererseits, kann es nur einen Schluss geben: Die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland
hat Schaden genommen.
Wir haben eine Krise des parlamentarischen Systems,
wir haben eine Krise des Parteiensystems, wir haben eine Staatskrise. Wer daran zweifelt, der schaue sich das
Agieren des ehemaligen Bundeskanzlers an, der die Verfassung bricht, der Gesetze bricht und keinerlei Konsequenzen zieht; der schaue sich die Wahlen an, die am
letzten Wochenende stattgefunden haben. Bei den Landratswahlen in Quedlinburg lag die Beteiligung bei unter
20 Prozent und bei den Oberbürgermeisterwahlen in
Halle bei knapp über 30 Prozent.
Die CDU sollte sich endlich darüber klar werden,
dass die zu Tage getretenen Missstände zuerst Resultat
eines verheerenden Partei- und Demokratieverständnisses sind und erst in zweiter Linie auf das - allerdings
grandiose - Fehlverhalten Einzelner zurückzuführen
sind. Herausgefordert sind allerdings, wie Herr Westerwelle richtig sagte, alle demokratischen Parteien. Herausgefordert ist zuallererst die CDU. Machen Sie den
Menschen in diesem Land glaubhaft, dass Sie für den
ungeheuren Schaden, den Sie angerichtet haben, geradestehen wollen.
({0})
Verzichten Sie auf juristische Winkelzüge gegenüber
dem Bescheid des Bundestagspräsidenten! Das Aussitzen war ein Markenzeichen jenes Systems, das Sie vorgeben überwunden zu haben.
({1})
Überzeugen Sie die Öffentlichkeit davon, dass Sie
angesichts finanzieller Einschnitte Ihre politische Arbeit
neu ordnen, ohne in Abhängigkeit von Großspenden zu
geraten. Machen Sie sich gemeinsam mit allen Fraktionen dieses Hauses Gedanken darüber, wie die unheilvolle Verquickung von Politik und Geld, von Politik und
Wirtschaft beendet wird. Geben Sie den Weg für Neuwahlen in Hessen frei!
({2})
Es ist doch in der Tat bemerkenswert, dass eine schmutzige politische Kampagne in Hessen mit schmutzigem
Geld geführt worden ist. Bei der Hessenwahl ist gegen
das Prinzip der Chancengleichheit verstoßen worden.
Die Landesregierung hat sich selbst die Vertrauensgrundlage entzogen. Stellen Sie Aufklärung vor Machterhalt! Das gilt natürlich auch für die hessische F.D.P.
({3})
Die Stellung zu Neuwahlen in Hessen ist in gewissem
Sinne eine Nagelprobe für die Demokratie.
({4})
- Ja, das sagen wir. Man kann gut dazulernen.
Die Veränderung der Mehrheitsverhältnisse - um das
auch zu sagen, Frau Müller - kann natürlich Resultat
von Neuwahlen sein, aber nicht das Motiv dafür, was da
zu geschehen hat.
Letztlich ist ganz klar: Wir alle sind gefordert. Es
geht um die politische Moral, es geht um Glaubwürdigkeit, es geht um das Vertrauen der Bürgerinnen und
Bürger. Weitreichende Konsequenzen stehen auf der
Tagesordnung, aber einige Schritte sollten ohne Zeitverzug gegangen werden.
Das Parteiengesetz gehört auf den Prüfstand. Die
Pflicht zur Rechenschaftslegung ist zwingender auszugestalten, um dem verfassungsrechtlichen Transparenzgebot gerecht zu werden. Verstöße müssen wirkungsvoll
geahndet werden. Unzulässige Einflussnahmen juristischer Personen müssen strukturell ausgeschlossen werden.
({5})
Wir haben gestern auf einer Pressekonferenz unsere
Vorschläge für die Modifizierung des Parteiengesetzes
vorgelegt. Die Berichtspflicht des Bundestagspräsidenten zu den Parteifinanzen sollte erweitert und öffentlich
gemacht werden. Spenden juristischer Personen sollten
nicht mehr statthaft sein. Spenden natürlicher Personen
sollten begrenzt werden und die Publizitätsgrenze sollte
gesenkt werden. Nicht zuletzt sollte das Führen von
Auslandskonten für Parteien verboten werden.
({6})
- Ja, das sollte verboten werden. Dazu stehen wir.
Schließlich ist ein sofortiger gemeinsamer Beitrag aller Fraktionen möglich, um ein Stück Vertrauen in die
Demokratie zurückzugewinnen. Die CDU sollte sich bereit erklären, den vom Bundestagspräsidenten auferlegten Sanktionen ohne Wenn und Aber nachzukommen.
Alle Fraktionen - letztlich die Parteien - sollten gemeinsam entscheiden, von diesen Geldern nicht zu profitieren, sondern sie dem Gemeinwohl zuzuführen. Wie wäre
es, wenn wir der Forderung von Arbeitsloseninitiativen
nachkämen und diese Mittel für eine aktive Beschäftigungspolitik einsetzten?
Mir ist klar, dass die Mehrheit in diesem Hause dem
nur eingeschränkt Folge leisten kann. Vielleicht können
Sie aber dem Neujahrsgebet des Pfarrers von St. Lamberti in Münster folgen, der gesagt hat:
Herr, lasse die Leute kein falsches Geld machen,
aber auch das Geld keine falschen Leute.
Danke schön.
({7})
Herr Kollege
Bartsch, dies war Ihre erste Rede hier im Plenum des
Deutschen Bundestages. Im Namen aller Kolleginnen
und Kollegen möchte ich Sie dazu herzlich beglückwünschen.
({0})
Nächste Rednerin in dieser Debatte ist Kollegin Rita
Streb-Hesse für die SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Redebeitrag des Kollegen
Lippold aus Hessen, aber auch die Stellungnahme der
CDU über Frau Merkel zu der Strafe, die das Parteiengesetz vorsieht, hat gezeigt - ich bedauere, das so sagen
zu müssen, weil ich heute insbesondere aufgrund des
Rücktritts Ihres Partei- und Fraktionsvorsitzenden,
Herrn Schäuble, gern anders geredet hätte -,
({0})
dass die Aufklärung weder in Ihren Köpfen stattgefunden hat noch dass Sie bis heute bereit sind, irgendeine
Art von Verantwortung zu übernehmen.
({1})
Das zeigt sich besonders deutlich dann, wenn - sicherlich zu Recht - darauf hingewiesen wird, dass es auch
bei anderen Parteien Schwierigkeiten gibt. Aber Sie sind
sich bis heute nicht über die Dimension Ihres Gebarens
im Klaren; denn Mitglieder Ihrer Partei haben einen
Rechtsbruch und einen Verfassungsbruch begangen. Sie
haben den Wettbewerb der Parteien - ein wichtiges
Element - bis zur totalen Verzerrung verkommen lassen.
({2})
Sie räsonnieren über 41,3 Millionen DM und bezweifeln die Rechtmäßigkeit dieser Summe. Sie wissen offenbar nicht, dass sich allein die Schwarzgelder in Hessen, deren Existenz scheibchenweise enthüllt worden ist,
deutlich auf diese Summe belaufen. Ich möchte Ihnen
das vorrechnen: Es wurden 22 Millionen DM in die
Schweiz gebracht. Sie sollten 1983/84 vor den Folgen
des Parteiengesetzes in Sicherheit gebracht werden. Das
hat der ehemalige Finanz- und Innenminister, Herr
Kanther, im Januar offenbart.
({3})
24,3 Millionen DM sind zurückgeflossen, aber nicht auf
legalem Weg, sondern als Vermächtnisse, Darlehen,
Spenden und Zuwendungen, und zwar über eine höchst
dubiose Stiftung namens Zaunkönig in Liechtenstein.
({4})
- Kollegin Blank, ich zitiere nur aus Aufklärungsberichten der hessischen CDU, nicht aus eigenen Quellen;
denn diese sind mir nicht zugänglich.
({5})
Am meisten davon profitiert hat der Frankfurter
CDU-Kreisverband mit seiner damaligen Vorsitzenden
und heutigen Oberbürgermeisterin, Frau Petra Roth.
Hier werden alleine von der CDU 9,1 Millionen DM benannt. Man schämt sich noch nicht einmal, das Verschwinden eines Defizits von 3 Millionen DM in den eigenen Kassen mit dem Hinweis auf Vermächtnisse
deutschstämmiger Juden zu erklären und dies auch nach
Wochen nicht richtig gestellt zu haben.
({6})
Dies ist schon ein Skandal im Skandal und zeigt ein
Höchstmaß an politischer Verantwortungslosigkeit.
({7})
Es gibt auch eine wundersame Geldvermehrung: Von
22 Millionen DM - 24 Millionen DM sind zurückgeflossen - lassen sich noch immer 17 Millionen DM auf
Schweizer Konten finden. Meine Damen und Herren
von der CDU, wenn Sie Probleme mit der Rückzahlung
haben, dann wenden Sie sich an die hessische CDU; dort
gibt es noch einiges zu holen.
({8})
Seit In-Kraft-Treten des Parteiengesetzes ist von der
CDU in Hessen eine Parteienfinanzierung betrieben
worden, die selbst Roland Koch als „ausgeklüngeltes“,
geheimbündlerisches System bezeichnet.
Es kommt noch viel dicker. Wenn man nachfragt:
„Wer trug denn die Verantwortung?“, dann taucht ständig das Bild der drei Affen auf. Keiner hat etwas gewusst; niemand hat gefragt; niemand wurde misstrauisch, nicht der CDU-Geschäftsführer, nicht die jeweiligen Vorsitzenden und auch nicht die Parteivorstände. Es
gibt ein System der organisierten Verantwortungslosigkeit in Frankfurt bzw. in Gesamthessen, leider auch in
Berlin. In Hessen sollen allein ein Edelmann, ein Saubermann und ein Geldmann ohne Kompetenz und ohne
Befugnisse entschieden haben, wer wann was an Zuwendungen erhielt. Rupert von Plottnitz hat zu Recht im
Hessischen Landtag gesagt: Das waren wohl keine
feindlichen Agenten im Netz der CDU. Sie sind nicht
Opfer von Machenschaften; vielmehr müssen Sie sich
Ihrer Verantwortung endlich bewusst werden.
({9})
Man darf nicht bei der notwendigen Aufklärung stehen bleiben. Sie gestehen wohl auch zu, dass diese Aufklärung ein Verdienst der Presse und der Parlamente war
und noch immer ein Verdienst der Justiz ist. Ein solches
von Ihnen praktiziertes und geduldetes Verhalten übertrifft bei weitem die Dimension aller bisher bekannten
politischen Skandale. Es erfordert nicht erst seit gestern
Konsequenzen in Ihrer und durch Ihre Partei - auch in
Hessen und vielleicht auch in Frankfurt.
Der „brutalmöglichste Aufklärer“ Herr Koch darf bei
der eigenen Aufklärung nicht Halt machen.
({10})
Er hat selbst zugegeben, vor Weihnachten den Rechenschaftsbericht seiner Partei als Landesvorsitzender gefälscht zu haben, indem er Schwarzgeld als Kredit deklarierte. Dies hat er dem Parlament und der Öffentlichkeit über Wochen verschwiegen, obwohl er mehrfach
die Möglichkeit gehabt hat, anders zu handeln.
Das ist keine Dummheit mehr. Und Kolleginnen und
Kollegen von der F.D.P., siehe Frau Wagner, es ist nicht
nur ein Fehler, sondern auch eine bewusste Täuschung.
Sogar Herr Stihl sagt: Das ist eine Lüge.
({11})
Frau Kollegin, Sie
haben Ihre Redezeit schon um eine Minute überschritten. Ich bitte Sie, jetzt zum Schluss zu kommen.
So gilt für Roland Koch
jetzt das, was er selbst 1994 als Maßstab für sein Handeln gegenüber der Vorgängerregierung formuliert hat:
„Diese Landesregierung hat den Anspruch verwirkt, den
Menschen Vorbild zu sein und sie zu führen.“ Lassen
Sie mich zum Schluss ergänzen: Es ist nicht mit dem
Rücktritt des Ministerpräsidenten allein getan.
({0})
Zu viele Mitglieder der Landesregierung sind involviert.
Ich danke Ihnen.
({1})
Frau Kollegin
Streb-Hesse, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Ich darf Ihnen dazu gratulieren.
({0})
Nun hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege
Hartmut Schauerte das Wort.
Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Müntefering, ich möchte mich zu Anfang etwas mit Ihnen beschäftigen.
({0})
Wir haben eine wirklich schwierige Krise. Wolfgang
Schäuble hat gestern und vorgestern für sich unendlich
schwere Entscheidungen treffen müssen. Ihr
Bundeskanzler hat - das konnte man heute in allen
Zeitungen lesen - Worte gefunden, um ihm gegenüber
sein Mitgefühl und seine Betroffenheit zum Ausdruck zu
bringen. Und Sie halten hier eine Rede, als wäre nichts
passiert - in einer besserwisserischen, pharisäerhaften,
unüberlegten Art,
({1})
dass ich nur sagen kann: Das ist eine wirklich doppelte
Moral, die nicht weit trägt. Das wird Ihnen nicht gut bekommen.
({2})
Ich bin wirklich von dem betroffen, was mit Finanzen
in unserer Partei passiert ist.
({3})
Aber, Herr Müntefering, ich habe wieder ein bisschen
Vertrauen, weil ich erkenne, dass wir uns wirklich
ernsthaft mit der Lösung dieses Problems beschäftigen.
({4})
Das macht mir langsam wieder etwas Mut. Gleichzeitig
bin ich aber auch betroffen, dass Sie hier so tun, als hätten Sie kein einziges Problem in dieser Richtung. Das
macht mich in einer Weise betroffen, die Sie sorgfältig
studieren müssten.
({5})
Herr Müntefering, es ist eigentlich ärgerlich, dass wir
gegeneinander aufrechnen müssen; denn wir sollten uns
um die Sache kümmern. Aber wer so pharisäerhaft jede
eigene Fehlentwicklung leugnet, dem darf man das nicht
durchgehen lassen und den muss man mit seiner doppelten Moral stellen.
({6})
Dann fangen wir doch einmal an. Herr Nau hat damals 6,7 Millionen DM abgegeben. Das Gesetz galt
schon; es war nur noch keine Strafe da. Niemand redet
darüber. Der Herr Maschmeyer hat eine Spende in Höhe
von 1 Million DM gezahlt. Das sollte anonym geschehen - eine klare Umgehung der Parteienfinanzierung.
Um für die Zukunft zu verhindern, dass so etwas wieder
passieren kann, müssen Sie einmal bei sich selbst nachsehen.
Im Land Nordrhein-Westfalen sind 2,5 Millionen DM
für Flugkosten ausgegeben worden, die im Wesentlichen
privat oder parteipolitisch bedingt waren. Das ist eine
verdeckte Parteienfinanzierung. Das muss aufgeklärt
werden.
({7})
Das hat doch nichts mit gleichen Chancen zu tun.
({8})
Es gibt sogar den Verdacht, dass hier tatsächlich Bestechung stattgefunden hat.
({9})
Ich will Ihnen das erklären: Die WestLB wollte die
Wohnungsbauförderungsmittel des Landes für sich. Das
Land hat diese Mittel verschenkt.
({10})
Als Belohnung dafür, dass das Kabinett dem zustimmte,
durfte es fliegen, wann und wohin auch immer es wollte.
Die EU aber hat gesagt: Ihr habt 1,5 Milliarden DM verschenkt, ihr müsst sie zurückfordern. So verhält es sich.
({11})
Das Land Nordrhein-Westfalen hat aufgrund dieser
Verflechtungen große Schwächen, Herr Müntefering.
Um Ihren Landesverband - Sie sind ja auch Generalsekretär der gesamten Partei - kümmern Sie sich nicht ein
Jota. Clement geht hin und sagt, es sei eine Luftnummer.
({12})
Er hat erklärt, eher wolle er sich erschießen, als Herrn
Schleußer zu entlassen.
({13})
Wir müssen uns jetzt Sorge um die Gesundheit von
Herrn Clement machen. So klären Sie auf.
({14})
Uns meinen Sie vorwerfen zu müssen, wir machten
zu langsam. Sie machen sich jetzt lustig darüber, dass
wir nach der Entscheidung von Wolfgang Schäuble sagen, Gründlichkeit in der Neubestimmung unserer Personalstruktur geht vor Schnelligkeit.
({15})
Das ist doch unter Niveau, Herr Müntefering.
({16})
Man braucht doch, wenn 50 oder 60 Positionen neu mit
Leuten zu besetzen sind, die für zwei bis drei Jahre
wichtigste Ämter in diesem Staat übernehmen sollen,
eine Phase der Überlegung. Wer sich darüber lustig
macht, ist doch im Unrecht. Geben Sie es doch zu, stellen Sie Ihr Lachen ein wenig ein und werden Sie etwas
nachdenklicher. Gehen Sie ein wenig in sich und fragen
Sie sich, ob Sie so mit dem politischen Gegner umgehen
können.
({17})
Wir wollen diese Dinge ändern, Herr Müntefering.
Auch etwas anderes tut weh. Warum ist denn der
Bundespräsident, der sonst in solchen Fragen moralische
Kompetenz hat, genau bei diesem Thema so still?
({18})
Das hat doch seine ganz besonderen Gründe. Auch Sie
müssen bereit sein, darüber noch einmal selber nachzudenken.
Ich sage daher: Wir haben genug zu tun. Wir müssen
ein neues Parteienfinanzierungsgesetz erarbeiten und
wirklich klare Strukturen herstellen.
({19})
Wir müssen zum Beispiel überlegen, ob es angesichts
der föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland
wirklich richtig ist, auf Dauer jedes Verhalten eines
Kreisverbandes oder eines Landesverbandes dem
gesamten Bundesverband anzulasten.
({20})
Lasst uns darüber einmal reden. Nicht mit Blick auf die
Vergangenheit, wohl aber auf die Zukunft. Ich glaube
nämlich, dass es eine wichtige Frage ist, ob wir das richtig miteinander organisiert haben.
Wir haben noch genug aufzuräumen. Für Häme und
Fingerzeigen auf andere Leute gibt es wirklich keinen
Anlass. Ich entschuldige mich dafür, dass ich es teilweise musste, aber Sie haben eine unerträgliche Vorlage dafür geliefert.
Ich bedanke mich.
({21})
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Matthias Berninger für Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
noch nicht allzu lange her, da hat ein Bundesinnenminister aus meiner Sicht Maßstäbe für die Übernahme von politischer Verantwortung gesetzt. Er ist
hier im Raum. Es war Herr Seiters. Er hat für das Vorgehen in Bad Kleinen die politische Verantwortung übernommen und ist deshalb zurückgetreten.
({0})
Seitdem hat sich einiges getan. Sein Nachfolger, der
schwarze Sheriff Herr Kanther, hat sich als wahrer Experte für Geldwäsche im Ausland im Amt des Innenministers profilieren können.
({1})
Er hat uns hier über Jahre mit seiner Null-Toleranz- und
Law-and-Order-Politik genervt und genau das Gegenteil
gemacht.
({2})
Der Dritte im Bunde ist der, der sich so gerne als
hundertprozentiger Kohlianer bezeichnet hat: Roland
Koch. Dieser Roland Koch hat vor nicht mehr als einem
Jahr in Hessen eine Landtagswahl gewonnen. Er hat
diese Landtagswahl aus vielen Gründen gewonnen. Er
hat sie unter anderem deshalb gewonnen, weil die jungen Menschen gesagt haben: Wir wollen lieber diesen
Roland Koch als die rot-grüne Koalition. - Das hat uns
sehr geschmerzt.
Nur, was mich wundert, ist, dass bei Ihnen keiner
darüber nachdenkt, dass genau diese jungen Menschen,
die ihre erste Stimme Herrn Koch gegeben haben, heute
fordern, sie wollten ihre Stimme zurück, dass Sie an
keiner Stelle, nicht ein einziges Mal auf die Idee kommen, darüber nachzudenken, was es in der Demokratie
für eine Erfahrung ist, wenn man jemanden wählt, der
zunächst mit Schwarzgeld seinen Wahlkampf bezahlt
hat und der dann bei der Übernahme politischer Verantwortung Maßstäbe setzt, die nichts anderes sind als der
Beweis für die Verrottung des politischen Systems.
({3})
Meine Damen und Herren, Herr Koch hat nicht nur
systematisch getäuscht und Herr Koch war nicht nur der
Meister der Salamitaktik. Dafür will ich Ihnen ein Beispiel nennen; denn es gibt dafür sehr viele Sachstandsdarstellungen der CDU. Eine betrifft den Fall
Reischmann. Dieser Mitarbeiter der CDU hat 1 Million DM veruntreut.
({4})
- Lassen Sie mich das erst einmal ausführen. - Dazu gibt
es folgende Sachstandsdarstellung vom 8. Februar dieses
Jahres seitens des Herrn Koch - das ist noch nicht lange
her -:
Am 14. August 1992 gab Reischmann ein notarielles Schuldanerkenntnis ab, in dem ein Betrag von
1 Million DM als Schadenssumme genannt wurde.
Das Schuldanerkenntnis machte
- jetzt kommt es -
den raschen Zugriff auf die Vermögenswerte
Reischmanns möglich. Als Treuhänder für den
Landesverband trat dabei die Firma Weyrauch &
Kapp GmbH auf.
Was stellt sich heraus? Nicht einmal eine Woche später veröffentlicht der „Spiegel“, dass man nicht etwa auf
das Vermögen von Herrn Reischmann zugegriffen hat,
sondern dass man ihm weitere 1,2 Millionen DM gezahlt
hat. Warum hat man das getan? Weil man Schweigegeld
zahlen wollte.
({5})
Warum sagt Herr Koch das nicht eine Woche vorher?
Warum stellt er sich nicht hin und sagt die Wahrheit?
Warum versucht er, die Öffentlichkeit wiederholt zu
täuschen? Weil er Roland „Pattex-Koch“ heißt, weil er
am Amt des Ministerpräsidenten, an seinem Posten
klebt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, Sie
haben in dieser Woche vorexerziert, dass auch Sie damit
nicht mehr zufrieden sind.
({6})
Auch heute ist die Zahl der Kritiker groß. Norbert
Lammert sagt, Roland Koch sollte besser zurücktreten.
Christa Thoben sagt, Roland Koch sollte besser zurücktreten. Rita Süssmuth sagt: Ich würde Roland Koch
nahe legen, zurückzutreten.
({7})
Nichts dergleichen tut dieser Mann. Denn er ist eben
doch der „Pattex-Koch“. Wenn Herr Lippold sich hier
aufregt und einerseits die Verflechtungen von Posten in
der Wirtschaft und andererseits von Posten in der Politik
anspricht, dann ist das schon ein starkes Stück für jemand, der seit Jahren gleichzeitig Verbandsfunktionär in
der Wirtschaft und Bundestagsabgeordneter ist.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD] - ({8})
Er hätte besser auf die beiden Wirtschaftskapitäne, nämlich auf Herrn Stihl und Herrn Henkel vom BDI hören
müssen, die auch sagen: Roland Koch muss zurücktreten.
Nun komme ich zu dem entscheidenden Punkt dieser
Aktuellen Stunde, zum Verhalten der F.D.P. Herr Kollege Westerwelle, ich verstehe, dass Sie sich sozusagen
als Lautsprecher des politischen Anstandes hier hinstellen und dass Sie hier als Übervater, der über politischen
Anstand referiert, sprechen,
({9})
ohne auf das Thema F.D.P. deutlich einzugehen. Ich bezweifle, dass die Koalition in Hessen noch über Legitimität verfügt.
({10})
Dies bezweifle ich genauso wie die vielen jungen Wähler, die ihre Stimme in Unkenntnis der jetzigen Situation
gegeben haben. Ich bezweifle, dass eine Kampagne gegen mehr Rechte für junge Migrantinnen und Migranten
noch einmal einen solchen Erfolg, wie dies vor einigen
Monaten der Fall war, hätte angesichts dessen, dass wir
uns beim Staatsbürgerinnen- und Staatsbürgerrecht
durchgesetzt haben.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., ich bezweifle, dass Sie hier als Saubermänner und Moralisierer auftreten können, solange sich Frau Wagner und die
hessische F.D.P. gegen Neuwahlen sperren. Ich halte das
für ein ziemlich komisches Vorgehen.
({12})
Für Hessen muss es aus drei Gründen einen Neuanfang geben: Es muss ihn geben, weil die CDU seit Jahren Schwarzgelder im Ausland parkt, weil sie noch heute stolz ist, dort diese Vermögenswerte zu haben,
({13})
und weil sie die Öffentlichkeit seit Jahren getäuscht hat.
Die Regierung muss zurücktreten
({14})
- ich weiß nicht, warum Sie so aufgeregt sind - , weil
der Ministerpräsident, der so getan hat, als wüsste er von
nichts, von diesen Dingen nicht nur frühzeitig wusste,
sondern weil er auch als Fraktionschef zusammen mit
seinem Generalsekretär Jung zumindest für den Fall
Reischmann selbst die Verantwortung getragen hat.
Denn dabei ging es zum Teil um Fraktionsgelder und er
war Fraktionschef.
({15})
Die hessische Regierung muss zurücktreten, weil der
Neuanfang, der durch solche Aktionen wie durch die des
Rücktritts von Herrn Schäuble möglich wird, nur dann
eine Chance hat, wenn man für klare Verhältnisse sorgt.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung
machen: Nicht Herr Koch, sondern Herr Schäuble, der
jetzt zurückgetreten ist, hat sich damals für diesen unglaublichen Ausfall des Prinzen zu Sayn-Wittgenstein
entschuldigt, der gesagt hat, die Vermächtnisse stammten von jüdischen Mitbürgern.
({16})
Nicht Herr Koch, sondern Herr Schäuble hat sich zuerst
entschuldigt. Das hat mir sehr imponiert.
({17})
- Später hat sich auch Herr Koch entschuldigt. Aber am
Tag der Pressekonferenz war davon keine Rede.
Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen.
Herr Schäuble ist unter dem Strich wegen 100 000 DM
zurückgetreten. Wenn Sie allein die 2,2 Millionen DM
nehmen, deren Herkunft noch unsicher ist, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, dass Herr Koch 22-mal zurücktreten müsste. Einmal würde mir schon reichen.
({18})
Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Gerald Weiß.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich
möchte mich mit einigen Debattenbeiträgen auseinander
setzen, aber nicht mit dem von Herrn Bartsch von der
PDS. Es wäre ja noch schöner, wenn sich die PDS als
Hüterin der parlamentarischen Demokratie hier aufspielen könnte und eine vermeintlich blütenweiße Weste
nachweisen wollte. Das darf nicht sein.
({0})
Herr Berninger, was Sie eben als Ansammlung von
Verleumdungen und Lügen geboten haben, ist unakzeptabler Tobak.
({1})
Ich mache diese Aussage an einigen Beispielen fest. Ministerpräsident Koch hat sich beispielsweise sehr wohl
bei der jüdischen Gemeinde dafür entschuldigt, dass
Prinz Wittgenstein die jüdischen Erblasser als vermeintliche Geldgeber in Anspruch genommen hat.
({2})
So billig kommen Sie mir nicht davon: Erst Behauptungen aufstellen, diese dann aber nicht beweisen können.
Auf diese Weise können wir in der jetzigen Debatte
nicht verfahren.
({3})
Frau Streb-Hesse, zu dem angeblich gefälschten Rechenschaftsbericht.
({4})
Wir haben inzwischen Rechtsgutachten und Wirtschaftsprüfergutachten vorliegen. Herr Koch hat von
dem Geldzufluss von einem Anderkonto, das er nicht
kannte, nichts gewusst.
({5})
Um diese Zahlung zurückweisen zu können und dieses
Geld als Eigentum der hessischen Union abwehren zu
können, hatte er rechtlich keine andere Wahl, als dieses
Geld als Darlehen zu verbuchen.
({6})
Bei seinem Wissensstand am Ende des Jahres und bei
Abgabe des Rechenschaftsberichts blieb keine andere
Möglichkeit übrig. Lesen Sie die entsprechenden Gutachten! Wir lassen Roland Koch von Ihnen nicht in die
Ecke der Verleumdung und der Denunzierung rücken.
({7})
Frau Streb-Hesse, zu welchen Plattitüden und zu welchen maßlosen Anschuldigungen - diese absolute Maßlosigkeit ist ja das Kennzeichen der Debatte - Sie greifen,
({8})
wird deutlich, wenn Sie von den Vorwürfen Verfassungsbruch, Staatskrise und Demokratiekrise sprechen.
({9})
Wir verniedlichen nicht das Fehlverhalten und die Fehler Einzelner. Aber es ist doch keine Staatskrise, keine
Demokratiekrise und kein Verfassungsbruch. Herr Isensee hat Ihnen unlängst ins Stammbuch geschrieben, dass
es diese Maßlosigkeit ist, die die Demokratie in der
Bundesrepublik Deutschland vergiftet.
({10})
Herr Berninger - Frau Müller, Sie haben sich vorhin
ähnlich ausgedrückt, - was ist denn das für eine Vorstellung, dass man in dieser Demokratie Stimmen kaufen
kann?
({11})
Wählerstimmen gibt es nicht für Geld; Wählerstimmen
gibt es für Argumente.
({12})
Wenn es Wählerstimmen für Geld gäbe, dann müsste ja
die SPD die Wahl in Hessen gewonnen haben, weil sie
6 Millionen DM im hessischen Landtagswahlkampf
ausgegeben hat.
({13})
Die hessische Union hat aber nur 4 Millionen DM, ordentlich finanziert, ausgegeben.
({14})
Wenn ich die Aktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft und für Integration nehme, dann muss ich sagen - diese Feststellung ist richtig -, dass diese Aktion
sehr viel mit dem Wahlerfolg zu tun hatte.
({15})
Was hat aber die hessische CDU angesichts dieser
Aktion gesagt? Lasst den monetären und den materiellen
Aspekt beiseite! Sie hat nur 230 000 DM aus dem
Wahlkampfbudget umfinanziert. Wer diese Aktion groß
gemacht und ins Bewusstsein gerückt hat, waren manche Medien und Sie selbst von der SPD und den Grünen,
sodass diese Aktion zum Schluss wahlrelevant wurde.
({16})
Eigentlich haben wir Ihnen dafür zu danken.
Der Kollege Schauerte hat sich vorhin verdienstvoll
mit dem Beitrag von Herrn Müntefering auseinander gesetzt. Diese Einäugigkeit, diese Selbstgerechtigkeit ist
nur Ihnen, Herr Müntefering, zu Eigen. Das Kompliment muss man Ihnen schon machen. An allen jetzt im
Raume stehenden Vorwürfen - Struck, Rau, Clement,
Schleußer -, an allen diesen Fragestellungen vorbei, die
sich letztlich auch an Sie richten, sich in der Attitüde des
Saubermanns vor den Deutschen Bundestag zu stellen,
ist schon eine unglaubliche Heuchelei, ein unglaubliches
Pharisäertum.
({17})
Und wenn Sie uns pathetisch sagen: Ihr dürft euch
diesen Staat nicht zu Eigen machen, dann halte ich Ihnen vor, wie Sie das Bundesland Nordrhein-Westfalen
einschließlich WestLB vereinnahmt haben.
({18})
Dort haben Sie nach Gutsherrenart Mittel gebraucht, um
nicht den Begriff des Missbrauchs zu verwenden. Was
hier abläuft, meine sehr verehrten Damen und Herren,
diese Schlammschlacht gegen den - auch in der Aufklärung der Missstände - verdienstvollen Roland Koch, hat
ein einziges Ziel: Machtumverteilung. Hinter dieser Frage steht die Machtfrage. Sie wollen im Bundesrat und in
Hessen Macht umverteilen, weil Sie eine andersfarbige
Regierung wollen.
({19})
Wir wollen die Farbe der jetzigen hessischen Regierung,
weil diese eine leistungsfähige Landesregierung ist.
Deshalb und auch um seiner Aufklärungsverdienste willen stellen wir uns vor Roland Koch, wie die F.D.P. in
Hessen auch.
({20})
Für die SPDFraktion spricht der Kollege Bernd Reuter.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich will zunächst die
unverschämten Unterstellungen, die hier vom Kollegen
Weiß im Hinblick auf Johannes Rau vorgetragen wurden, zurückweisen.
({0})
Ich kann mich nicht erinnern, dass seit Friedrich Ebert
ein amtierender Präsident in Deutschland so falsch angegiftet wurde, wie das hier geschehen ist.
({1})
- Ihr Gelächter ist schon in Ordnung. - Solange Sie sich
hier so selbstgerecht wie Herr Weiß, Herr Lippold und
Herr Schauerte hinstellen, so lange werden Sie nicht in
der Lage sein, Ihre Probleme einer Lösung zuzuführen.
({2})
Meine Damen und Herren, welchen Schaden hat denn
die Demokratie durch diese verwerflichen Taten, die bei
Ihnen begangen wurden, genommen? Es gibt einen Verlust an Glaubwürdigkeit in der Politik, Ihrer höchsten
Repräsentanten. Aber am meisten ärgert mich, dass die
F.D.P. mit dranhängt. Das, was Herr Westerwelle hier
vorgetragen hat, war ja alles sehr schön. Es hört sich
immer an wie das Wort zum Montag.
(Dirk Niebel [F.D.P.]: Jetzt werden Sie nicht
übermütig ({3})
Aber Sie brauchen uns doch nicht vorzuhalten, wir
würden das wegen eines billigen Wahlerfolges machen.
Sie freuen sich doch, dass Ihre Pünktchen nach oben
wandern. Das ist doch auch Tatsache.
({4})
Am meisten ärgert es mich, dass die Frauen und
Männer, die vor Ort treu und brav ihre Arbeit machen,
jetzt alle in einen Sack mit denen gesteckt werden, die
gegen Recht und Gesetz und gegen die Verfassung verstoßen haben. Das ist das Ärgerliche, auch in der CDU,
meine Damen und Herren.
Gerald Weiß ({5})
({6})
Ich sage Ihnen: Willy Brandt hat einmal ausgeführt:
Demokratie ist keine Frage der Zweckmäßigkeit, sondern der Sittlichkeit.
({7})
Seien Sie ruhig!
({8})
Meine Damen und Herren, ich komme ja nun aus
Hessen. Hessen ist ja die Schaltstelle der BimbesSchwarzkonten gewesen. Ich will auch hinzufügen: Ich
war derjenige, der am meisten mit Manfred Kanther zu
kämpfen hatte.
Dazu möchte ich Ihnen auch einmal etwas sagen. Sie
haben das seltene Talent entwickelt, sofort von der Täterrolle in die Opferrolle zu schlüpfen. Sie fühlen sich
von allen verfolgt, so ähnlich wie dies Manfred Kanther
auch getan hat. Stellen Sie sich vor, meine Damen und
Herren, er hat erklärt: Ich mache hiermit der Treibjagd
ein Ende und trete zurück. Ein unterfränkischer Kabarettist, Urban Priol, hat dazu ausgeführt: Das ist genau so,
als wenn bei einer richtigen Treibjagd die Sau aus dem
Unterholz kommt und erklärt den staunenden Jägern:
Jetzt ist die Treibjagd zu Ende. So mutet das an.
({9})
Dann will ich Ihnen noch sagen: Der spätere Ministerpräsident Koch konnte seine unselige Unterschriftenkampagne nur machen, weil er wusste, dass er Geld im
Rücken hat.
Ich kann Ihnen sagen, wo das Ganze seinen Anfang
genommen hat. Ich habe hier einen Brief:
Seit Beginn der 80er-Jahre wütet in Mittelhessen
ein „kleiner Haider“ ...
Der „kleine Haider“ hat auch einen Namen. Der heißt
nämlich Irmer. Herr Reif feierte seinen fünfzigsten Geburtstag. Am 14. Januar 1999 begann in Mittelhessen
diese Unterschriftenaktion. Bei dieser Geburtstagsfeier
hat Herr Irmer Herrn Koch, der verspätet eingetroffen
war, als Hauptredner des Abends vorgestellt, hat gesagt,
dass er in Sachen doppelte Staatsbürgerschaft der erste
Spitzenpolitiker sei, der sich hinter Wolfgang Schäuble
gestellt habe. Das heißt im Klartext: Wer ist denn Herr
Clemens Reif?
({10})
Clemens Reif ist der Schatzmeister, der Prinz Wittgenstein abgelöst hat. Ich behaupte steif und fest: Die Herren wussten, wo das Geld ist. Sie waren deshalb willens
und entschlossen, diese Kampagne zu führen. Ich höre
von Herrn Weiß immer, der brutalstmögliche Aufklärer
sei Koch. Meine Damen und Herren, ich erwarte von einem Parteivorsitzenden, dass er aufklärt. Aber warum
sagt er, er wolle dieses Geld nicht haben? Dann hätte er
es zurückweisen müssen und nicht als Darlehen verbuchen dürfen.
({11})
Wer einen Rechenschaftsbericht fälscht, kann nicht Ministerpräsident bleiben.
({12})
Es geht nicht nur darum, meine Damen und Herren,
so wie die F.D.P. sagt: Der Herr Koch muss weg. Es
geht auch nicht darum, dass uns die Farbe der Regierung
nicht gefällt.
({13})
- Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Schauerte, bin ich ein
überzeugter Demokrat.
({14})
Ich sage Ihnen: Ich bin der Meinung, dass die Wählerinnen und Wähler von diesem Herrn Koch getäuscht wurden und dass jetzt die Wählerinnen und Wähler entscheiden müssen, welche Regierung sie in Hessen haben
wollen. Dann wird sich herausstellen, ob noch einmal
jemand wie Herr Koch Ministerpräsident von Hessen
werden kann. Wer das Parlament und die Öffentlichkeit
belügt, muss seinen inneren Schweinehund überwinden
und sagen: Ich trete zurück. Andere haben das vorgemacht.
({15})
Meine Damen und Herren, meine Redezeit ist leider
zu Ende. Ich könnte Ihnen noch einiges aus dem schönen Hessen erzählen. Ich sage Ihnen: Kehren Sie in sich,
räumen Sie auf! Wir sind gerne bereit hier mitzuwirken.
({16})
- Ihr Gelächter beweist mir, dass Sie noch nicht die Reife haben, um die Dimension Ihrer moralischen Verwerfung zu begreifen. Sie sollten sich als Demokraten eigentlich schämen.
({17})
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Wolfgang Bötsch von der CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Den unterfränkischen Kabarettisten kenne ich persönlich. Er ist wirklich gut, auch
wenn ich diese Aussage in diesem Zusammenhang nicht
begrüßen kann.
({0})
Frau Kollegin Müller, ich weiß nicht, wer Ihnen berichtet hat, die Sitzung des Untersuchungsausschusses
heute früh sei turbulent verlaufen.
({1})
Sie habe ich dort jedenfalls nicht gesehen, während ich
als stellvertretendes Mitglied an der Sitzung vier Stunden teilgenommen habe. Da war von Turbulenzen überhaupt keine Rede.
({2})
Nicht einmal Ihr Fraktionskollege Ströbele hat dort Turbulenzen angerichtet, obwohl er dafür immer ganz gut
ist. Sie sollten Ihren Informanten noch einmal fragen,
auf was er sich bezieht.
Von Ihnen hätte ich gerne noch etwas zu dem gehört,
was der Kollege Westerwelle in einem Halbsatz angesprochen hat: Ihren Parteitagsbeschluss zu der Finanzierung der Fraktion oder der Partei aus Mitteln der Kostenpauschale.
({3})
Ich bin der Auffassung: Jeder sollte die Probleme in seinem eigenen Bereich selbst klären.
({4})
Probleme gibt es überall. Es gibt mehr oder weniger.
Ich will sie nicht alle in gleicher Gewichtung darstellen.
({5})
Aber wenn jeder in seinem eigenen Bereich die Probleme klärt - die CDU ist mittendrin -,sie zu klären dann
tun wir alle miteinander der Demokratie einen guten
Dienst.
({6})
Denn eines steht fest: Die Vorgänge der letzten Wochen haben viele Bürger unseres Staates irritiert, verärgert, bei vielen Diskussionen Zweifel und auch berechtigte Kritik ausgelöst sowie die Sympathie für die eine
oder andere Partei etwas anders gewichtet - zu Ihrer
Freude wahrscheinlich, Herr Generalsekretär -, als dies
im letzten Jahr durch Wahlergebnisse zum Ausdruck gekommen ist.
({7})
Fest steht, dass es hierbei eigentlich bei niemandem
etwas zu beschönigen gibt. Jeder der Beteiligten hat sich
an Recht und Gesetz zu halten. Ich sage auch: Keiner ist
da gleicher als der andere. Ich meine, es ist selbstverständlich, dass jeder Betroffene die gesetzlich vorgesehenen Konsequenzen zu tragen hat, was aber auch bedeutet, dass die Anwendung von Sanktionen unparteiisch zu erfolgen hat und das Parteiengesetz nicht der
Hebel dafür sein darf, andere, in Konkurrenz zur CDU
stehende Parteien etwa auf Kosten der Union zu bereichern,
({8})
Der Chef der Mittel verwaltenden Behörde Deutscher
Bundestag - so hat es der Bundestagspräsident in seiner
Pressekonferenz vorgestern selbst bezeichnet - hat dazu
Ausführungen gemacht, die ich jetzt nicht rechtlich bewerten will. Er war übrigens souveräner als manch anderer. Er hat gesagt, dass das rechtlich möglicherweise angegriffen werde, liege in der Natur der Sache. Aber
wenn Sie so hehre Ziele verfolgen, wenn Sie so großzügig und großherzig sind, dann könnten Sie ja einmal
überlegen, ob Sie - ob das nun gesetzlich vorgeschrieben
ist oder nicht - den auf Sie entfallenden Anteil vielleicht
einem guten Zweck zuführen. Sonst stehen Sie möglicherweise in dem Verdacht, aus der Misere der CDU
selbst politischen Vorteil ziehen zu wollen.
({9})
- Ist es keine Misere? Herr Fraktionsvorsitzender, das
Rechtsstaatsverständnis der Grünen ist heute vielleicht
besser, als es früher war, aber dazu sollten Sie keine allzu umfangreichen Ausführungen machen.
({10})
Ich sorge mich, dass der breite Eindruck entstehen
könnte, dass Parteispenden grundsätzlich etwas Schädliches, Verderbtes oder Unanständiges sind.
({11})
Herr Kollege Müntefering, Sie haben am Ende Ihrer
Rede einen Satz gesagt, dem ich zustimme - ansonsten
schließe ich mich der Bewertung des Kollegen Schauerte an -, nämlich: Politik braucht auch in Zukunft Parteien. Das stimmt. In diesem Zusammenhang haben Sie ein
paar nachdenkliche Sätze gesagt, für die ich Ihnen ausdrücklich dankbar bin. Das bedeutet aber, dass die Parteien auch in Zukunft Spenden brauchen.
({12})
- Ja, öffentlich und transparent. Ich sage Ihnen: Ich war
17 Jahre Kreisvorsitzender und habe viele Spenden gesammelt. Ohne Spenden hätte ich keinen einzigen
Wahlkampf durchführen können. Ich werde mich auch
in Zukunft um Spenden bemühen, entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen.
({13})
Auch das will ich der Öffentlichkeit einmal sagen.
({14})
Wer dies bezweifelt, sollte einmal darlegen, wie politische Parteien ohne Parteispenden überhaupt tätig werden können.
Ich glaube, unsere repräsentative Demokratie hat sich
bewährt. Sie bewährt sich auch in dieser Krise und sie
bewährt sich ebenso in der demokratischen Auseinandersetzung um die Krise. Das sollten wir nicht vergessen, auch wenn wir hier streitig miteinander umgehen
müssen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({15})
Für die SPDFraktion spricht der Kollege Ludwig Stiegler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben zu untersuchen, welche
Auswirkungen das Verhalten der Union in Hessen und
anderswo auf die Mehrheitsverhältnisse in den Bundesgremien hat. Da kann ich mich jetzt nicht mit all den
Ablenkungsmanövern befassen, bei denen Sie Splitter
suchen, um Ihren eigenen Balken zu bedecken, um das
einmal biblisch auszudrücken. Nein, wir müssen die
Auswirkungen auf die Mehrheitsverhältnisse in den
Bundesgremien untersuchen.
Nach dem Grundgesetz geht die Staatsgewalt vom
Volke aus. Sie wird durch Wahlen ausgeübt. Ohne korrekte Wahlen ist die Legitimität der Herrschaft in einer
Demokratie nicht gegeben, denn nur korrekte Wahlen
führen dazu, dass die Minderheit die Mehrheit anerkennen kann.
Vor diesem Hintergrund haben wir in Hessen Dopingwahlen. Herr Koch hat mit schwarzem Geld gedopt.
({0})
Deshalb sind das Ergebnis und das Verfahren dieser
Wahl nicht anzuerkennen.
({1})
Das Wahlverfahren in Hessen war durch Schwarzgelder,
die verfassungswidrig verwendet worden sind, gedopt,
korrumpiert, verdorben.
({2})
Die Herkunft der Mittel ist nicht offen gelegt worden,
der politische Wettbewerb ist durch Verfassungsbruch
verletzt worden.
({3})
Deshalb kann das Ergebnis keinen Bestand haben. Die
Voraussetzung dafür, dass die Minderheit die Mehrheit
anerkennt, liegt nicht mehr vor.
Das hessische Wahlprüfungsgericht muss berücksichtigen, dass die Staatsgewalt in Hessen, soweit sie sich
derzeit in Parlamentsmehrheit und Regierung darstellt,
von schwarzem Geld und von korrupten Verfahren und
nicht vom Volke ausgeht, meine Damen und Herren.
({4})
Deshalb muss das Wahlprüfungsgericht das Verfahren
wieder aufnehmen und die Wahl annullieren.
Schauen wir uns an, was das für Berlin bedeutet. Der
Bundesrat ist falsch zusammengesetzt. Der Vermittlungsausschuss ist falsch zusammengesetzt. Der Richterwahlausschuss ist falsch zusammengesetzt. Alle
Gremien, die Sie mit besetzen, sind falsch zusammengesetzt. Damit ist auch das Bundestagswahlergebnis beschädigt, weil Herr Koch mit seiner korrupten Mehrheit
dafür sorgt, dass keine soziale Steuerreform mehr zustande kommen kann.
({5})
Meine Damen und Herren, die Verteilungswirkung
dieser illegitim eingesetzten Geldmittel schreit zum
Himmel. Dies kann nicht akzeptiert werden. Hier ist eine Entscheidung notwendig und hier kommt die Stunde
der F.D.P.
({6})
- Ich habe unlängst in freier Rede etwas zu harte Worte
gewählt; das gebe ich zu. Ich habe mit Herrn Kinkel bereits darüber geredet. Wenn ich die Rede vorbereitet gehabt hätte, hätte ich das Thema - ich will das Wort gar
nicht mehr in den Mund nehmen - anders bezeichnet.
({7})
Aber, Herr Kinkel, die F.D.P. reitet auf einem schwarzen Ross, das Rotz hat. Steigen Sie von diesem schwarzen Pferd ab und geben Sie den Weg frei. Nicht Herr
Koch allein ist das Problem. Koch ist ein Symptom. Entscheidend ist, dass Sie an einer Wahlmehrheit beteiligt
sind, die keine Legitimation hat.
({8})
Das kann zu einer Staatskrise führen, weil keine Achtung vor dieser Entscheidung mehr besteht.
({9})
Hier ist die F.D.P. gefordert, nicht die scheinheiligen
Brüder, die sich an der Macht festklammern, die sich mit
Schwarzgeld wählen lassen.
({10})
- Das hätte ich mir denken können, dass man aufhören
soll, wenn man Ihnen die Wahrheit sagt.
({11})
Sie haben die Macht in Hessen illegitim inne und
bestimmen illegitim auf Bundesebene mit. Das ist die
Staatskrise, meine Damen und Herren; sie kann nur
durch Neuwahlen in Hessen beendet werden.
({12})
Deshalb fordere ich Sie auf, zum Thema zurückzukommen und aufzuhören, zum Beispiel Peter Struck zu
verleumden. Das war eine Schweinerei. Hier liegt die
Spendenquittung an das Forum Ostdeutschland der Sozialdemokratie e. V. vor. Sie stammt vom 3. September,
also von einem Zeitpunkt, längst bevor Struck mit dem
Unternehmen im Aufsichtsrat etwas zu tun hatte. Sie
graben hier herum und schleudern mit Dreck, um von
Ihrer Schande abzulenken. Sie sollten sich schämen, andere Kolleginnen und Kollegen in Anspruch zu nehmen.
({13})
Meine Damen und Herren, wer die politische Macht
gestohlen hat und damit auch die Ergebnisse auf Bundesebene verfälscht, kann nicht sagen, er habe nun den
Schäuble abgeräumt und jetzt sei alles in Ruhe und Frieden. Richtig ist vielmehr, dass Sie den Schaden, den Sie
angerichtet haben, wieder gutmachen müssen. Der erste
und wichtigste Schritt dazu sind Neuwahlen in Hessen.
Herr Westerwelle, geben Sie den Weg frei!
({14})
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Vereinbarte Debatte
zur Eröffnung der Regierungskonferenz über
institutionelle Reformen der EU und zu den
Ergebnissen der Tagung des Allgemeinen Rates am 14./15. Februar 2000
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst für die
SPD-Fraktion dem Kollegen Michael Roth das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es fällt mir als hessischem Abgeordneten, ehrlich gesagt, ein wenig schwer,
nach diesem doch außerordentlich brisanten Thema auf
Europa zu sprechen zu kommen. Aber es lohnt sich allemal, über dieses Thema eine ernsthafte Debatte zu führen.
Am Montag wurde die Regierungskonferenz eröffnet. Mit ihr haben sich die Bundesrepublik Deutschland
und die anderen Partnerländer in der Europäischen Union ein ambitioniertes Ziel gesetzt. Wir verfolgen drei
wesentliche Projekte: Zum einen wollen wir die Europäische Union erweiterungsfähig gestalten. Zum anderen wollen wir den Integrationsprozess voranbringen.
Und zum Dritten - dieser Punkt scheint mir besonders
wichtig zu sein - werden wir die demokratische Legitimität innerhalb der EU vor allem auch gegenüber den
Bürgerinnen und Bürgern stärken müssen.
Der Fahrplan dieser Regierungskonferenz ist eng gesteckt, so eng wie noch nie. Wir wollen Ende dieses Jahres unter französischer Präsidentschaft unsere Arbeit beenden. Gerade weil dieser Fahrplan so eng gesteckt ist,
haben sich die SPD-Fraktion und der Deutsche Bundestag insgesamt für ein begrenztes Mandat der Regierungskonferenz ausgesprochen. Ich halte das für ganz
wesentlich und will mit einigen wenigen Argumenten
darauf eingehen.
Zuvor aber will ich fragen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, welche Rolle uns, den Mitgliedern des Deutschen Bundestages, bei dieser wichtigen europapolitischen Weichenstellung zukommt. Ich meine, wir sollten uns noch stärker als bisher als ein zentrales Forum
der Auseinandersetzung über den richtigen Weg in Europa begreifen.
Geben wir es doch offen zu: Die Begeisterungsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger im Hinblick auf die
Regierungskonferenz hält sich sehr in Grenzen. Wie ich
an dem Interesse an dieser Debatte sehe, scheint das
auch für viele Kolleginnen und Kollegen zuzutreffen.
Was mich, offen gestanden, am meisten stört - ich nehme mich von der Kritik ausdrücklich nicht aus -, ist diese unsägliche Phraseologie, mit der wir gelegentlich die
Öffentlichkeit überschütten. Außerhalb der Expertenrunden versteht uns häufig niemand mehr.
Dabei finde ich es wichtig, dass wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier auch in diesem Bereich unsere Hausaufgaben machen. Wir sollten die europäische
Idee greifbarer und transparenter machen. Das gelingt
uns wahrscheinlich nur, wenn wir ganz selbstbewusst
mit kreativen Vorschlägen in die Debatte eingreifen,
auch als Deutscher Bundestag im Hinblick auf unsere
Regierungsvertreter in der Regierungskonferenz.
Ich will nur auf einen Vorschlag hinweisen, den ich
als kreativ erachte und der einen ganz bedeutenden
Punkt aufgreift. Er betrifft die Begrenzung der Anzahl
der Kommissare, einhergehend mit der Einsetzung von
politischen Vertretern, so genannten Juniorkommissaren. Ich werde anschließend noch einige Bemerkungen
dazu machen.
Das Problem ist doch, dass die Debatten der Regierungskonferenz überwiegend hinter verschlossener Tür
stattfinden.
({0})
Wir Parlamentarier können die Debatten zwar nicht aus
diesem Hinterzimmer herausholen, können aber hier, im
Blickpunkt der Öffentlichkeit, darüber diskutieren.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, einer, der nun wirklich von uns allen sehr respektiert wird, Jacques Delors,
hat sich kürzlich wieder in die Diskussion über die Zukunft der europäischen Integration eingebracht. Dabei
hat er eine Frage aufgeworfen, die uns alle sehr bedrängt: Wie können wir der drohenden Gefahr einer
Verwässerung des europäischen Integrationsgedankens
durch das rasche Anwachsen der EU auf fast 30 Mitgliedstaaten entgegentreten? Er spricht von einer Avantgarde, von einer so genannten Föderation der Nationalstaaten. Der dahinter stehende Gedanke ist sehr sympathisch: Innerhalb der EU-Strukturen müssen wir zu einer
verstärkten Flexibilisierung kommen. Wir machen das
schon bei der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion; wir betreiben das beim Schengener Abkommen und bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Das alles sind wichtige Flexibilisierungsfelder und es werden nicht die einzigen bleiben.
Bei dieser gesamten Debatte habe ich allerdings ein
Problem. Bei der „Kerneuropa“-Debatte, die von der
CDU maßgeblich angestoßen wurde, haben wir das vor
Jahren sehr kritisch angemerkt. Der Solidaritätsgedanke in der Europäischen Union ist lebensnotwendig. Diesen Solidaritätsgedanken dürfen wir nicht aufgeben. Vor
allem dürfen wir keine verstärkte Zusammenarbeit außerhalb der EU-Institutionen organisieren.
({2})
Wir sprechen häufig über die berühmt-berüchtigten
„leftovers“ - wobei ich behaupte, dass außerhalb dieses
Kreises niemand weiß, worum es dabei geht -:
({3})
erstens die Größe und die Zusammensetzung der Kommission, zweitens die Stimmengewichtung im Rat, drittens den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen als Regelfall. Bei den Debatten im Deutschen Bundestag in der
Vergangenheit hatte ich manchmal den Eindruck, es
handele sich bei diesen Fragen um belanglose Lappalien. Die Bundesregierung hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir in diesen drei Bereichen, die auf der
Amsterdamer Konferenz unerledigt geblieben sind, nach
vorne gehen und dass wir vorrangig auf diesen Feldern
zum Durchbruch kommen müssen. Dann hätten wir am
Ende dieses Jahres eine ganze Menge erreicht. Das muss
im Mittelpunkt der Regierungskonferenz stehen.
Alles andere wird jetzt auf Vorschlag der portugiesischen Präsidentschaft in eine so genannte Crazy Box gestopft. Ich finde diesen Begriff sehr interessant. Allerdings ist nicht das „crazy“, was sich in dieser Box befindet - das sind ja Notwendigkeiten. Es wäre aber ganz
schön „crazy“, wenn die Umsetzung im Rahmen dieser
Regierungskonferenz auf den Weg gebracht werden
sollte. Das halte ich in der Tat für verrückt und das sollten wir gegenüber den anderen Mitgliedstaaten sehr
deutlich machen.
({4})
In der Vergangenheit haben wir es uns relativ einfach
gemacht. Bei jeder Erweiterung haben wir die Organe
der EU einfach aufgebläht. Das wurde bei der Regierungskonferenz von Amsterdam schon recht schwierig.
Wir haben gesehen: Es geht so nicht mehr weiter. Deshalb stehen wir vor einer Gezeitenwende. Den Weg, die
Organe immer wieder personell aufzustocken, bis jeder
überall vertreten ist, können wir nicht weiter beschreiten.
Machen wir uns nichts vor: Wir befinden uns, ob wir
es wollen oder nicht, in einem Prozess der europäischen
Verfassungsgebung. Ich weiß um die Irritationen, die
das in einigen Partnerländern hervorruft. Der Begriff
„Verfassung“ wird dort etwas anders oder bisweilen
auch überhaupt nicht verwandt. In der deutschen Debatte sollten wir das Kind aber beim Namen nennen. Denn
es geht um die Überlebensfähigkeit der EU. Dazu gehört, dass wir die Organe der EU sehr radikal weiterentwickeln.
Ich habe schon einiges zur Europäischen Kommission gesagt. Der Vorschlag der Europäischen Kommission erscheint mir problematisch. Wir können nicht einfach eine Obergrenze einführen und damit ein so genanntes Rotationsprinzip verbinden. Das würde bedeuten, dass bevölkerungsreiche Mitgliedstaaten mitunter
fünf Jahre nicht in der Kommission vertreten wären.
Schon alleine vor dem Hintergrund der Handlungsfähigkeit muss es unterhalb der Kommissare eine weitere politische Ebene geben - ähnlich dem, was wir in der Bundesrepublik von den Parlamentarischen Staatssekretären
her kennen: politische Stellvertreter der Bundesministerinnen und Bundesminister.
Zudem müssen wir das Ressortprinzip mit dem Kollegialitätsprinzip verknüpfen.
({5})
In den vergangenen Monaten haben wir auch im Bundestag viele Skandale innerhalb der Kommission diskutiert. Wer die Übernahme von politischer Verantwortung
durch die Kommissionsmitglieder einfordert, der muss
ihnen zuvor die klare Verantwortung für ein Ressort zuordnen.
Wir fordern eine Reform der Stimmgewichtigung im
Ministerrat. Wir debattieren im Augenblick über die
doppelte Mehrheit. Das heißt, die Mehrheit im Rat muss
durch eine Mehrheit bei der Bevölkerung der Mitgliedstaaten ergänzt werden.
Wir fordern den Übergang zur qualifizierten Mehrheit
als Regel. Was ich bei der qualifizierten Mehrheit als
Regel als besonders bedeutsam erachte, ist die Verknüpfung mit dem Mitentscheidungsverfahren im EuropäMichael Roth ({6})
ischen Parlament. Wenn wir das Mitentscheidungsverfahren grundsätzlich einführen, haben wir ein stärkeres
Europäisches Parlament und eine damit einhergehende
Stärkung der demokratischen Legitimität.
Lassen Sie mich noch einen Aspekt anbringen, der
mir auch vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte
wichtig ist: die europäische Grundrechtscharta. Einige
von uns fordern, dass wir die europäische Grundrechtscharta in diese Debatte einbeziehen. Ich gehe aber davon
aus, dass wir mit der Grundrechtschartadebatte bis Ende
des Jahres nicht fertig werden.
Gerade in diesen Zeiten, wo nationalistisches, rassistisches und auch intolerantes Gedankengut innerhalb der
Europäischen Union regierungsfähig geworden ist,
müssen wir uns dessen vergewissern, was Europa im
Kern ausmacht. Europa ist und bleibt eine Wertegemeinschaft, die sich in all ihrem Handeln immer auf die
Freiheits- und die Grundrechte berufen muss. Lassen Sie
uns das in diesen Monaten sehr deutlich machen!
({7})
Ich bin nach der Debatte, die wir gestern im Europaausschuss geführt haben - Bundesminister Fischer hat
hier einige wichtige Vorschläge unterbreitet, die wir
noch ein bisschen intensiver diskutieren müssten -, sehr
optimistisch, dass wir gemeinsam eine ganze Menge an
guten Vorschlägen auf den Weg bringen können. Wir
müssten nur öfter als bislang die Gelegenheit nutzen,
auch hier im Deutschen Bundestag und nicht nur im Europaausschuss über Europapolitik zu diskutieren.
({8})
Ich will mit einem Beispiel aus meiner Kindheit abschließen. Damals habe ich gerne mit Lego gespielt.
({9})
Dabei setzt man Stein auf Stein. Diese Debatte ist dem
nicht unähnlich. Wir bauen am Haus Europa. Wir sollten immer bemüht sein, es sorgfältig und behutsam zu
bauen. Das Schöne am Legospiel war immer, dass man
kein Architekt sein musste, damit es trotzdem auch mit
der Statik funktioniert. Wir konnten unserer Kreativität
freien Lauf lassen.
Das ist bei der europäischen Aufbauarbeit und bei der
Integrationsarbeit leider nicht so. Aber vielleicht möge
es uns beflügeln, unsere kreativen Vorschläge in den
nächsten Monaten einzubringen. Der Bundesregierung
wünsche ich für die schwierigen Verhandlungen alles
Gute. Auf die Unterstützung der SPD-Fraktion kann sie
sich zweifellos verlassen.
Danke schön.
({10})
Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Peter Altmaier.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Es geht bei der Regierungskonferenz nicht um irgendwelche technischen Detailregelungen, sondern es geht um eine ganz zentrale Weichenstellung, die für Millionen von Menschen in Europa Auswirkungen bis in ihren persönlichen Lebensbereich hinein haben wird und die die politische Landkarte und die
politische Situation auf unserem Kontinent so oder so,
bei Erfolg oder Scheitern, auf Jahre hinaus beeinflussen
wird.
Herr Bundesaußenminister, bei allem Respekt vor
dem großen Einsatz der Beamten Ihres Hauses, den wir
unterstützen, bei allem Respekt auch für Ihren persönlichen Einsatz: Wir haben den Eindruck und die zunehmende Sorge, dass die Bundesregierung ohne wirkliches
Konzept und ohne wirkliche Strategie in diese große
Regierungskonferenz hineinstolpert. Das kann für das
Ergebnis dieser Regierungskonferenz nichts Gutes bedeuten.
({0})
Es geht darum, dass wir bei der Regierungskonferenz
eine grundlegende Reform der Europäischen Union zustande bringen, eine Reform, die uns in die Lage versetzt, ab dem Jahre 2003 die ersten Mitgliedstaaten aus
Mittel- und Osteuropa aufzunehmen, die sich ihrerseits
für den Beitritt qualifiziert haben.
Das ist uns ein Anliegen, für das wir bereit sind zu
kämpfen. Aber es bedeutet, dass wir in der verbleibenden Zeit unsere Hausaufgaben machen müssen, damit
die Union überhaupt erst erweiterungsfähig wird. Wenn
man Zwischenbilanz zieht, stellt man fest, dass Sie mit
Ihren Hausaufgaben im Rückstand sind, dass Sie einen
großen Teil der Hausaufgaben entweder gar nicht oder
nicht ausreichend gemacht haben. Ich will das bei den
einzelnen Themen jetzt ansprechen.
Es geht darum, die europäischen Institutionen effizienter zu machen. Wir müssen erreichen, dass die Europäische Union in den Bereichen, in denen sie Kompetenzen hat, diese auch wirksam wahrnehmen kann. Denn
es ist keine Lösung - auch in den Augen der europäischen Bürger nicht -, wenn Kompetenzen nach Brüssel
übertragen werden, der Ministerrat und das Parlament
aber aufgrund der Schwerfälligkeit der Entscheidungsprozeduren nicht imstande sind, diese Kompetenzen in
angemessener Zeit wirksam auszuüben, damit Ergebnisse herauskommen, die im Interesse der europäischen
Bürger für die Lösung der bestehenden Probleme notwendig sind.
Das heißt konkret: Wir brauchen Mehrheitsentscheidungen in praktisch allen Bereichen des Gemeinschaftshandelns, weil es nicht vorstellbar ist, dass eine
Union mit 20, 25 oder 28 Mitgliedstaaten in wichtigen
Bereichen weiterhin einstimmig entscheidet. Herr Außenminister Fischer, Sie tragen dieses Ziel ja vor sich
her. Wir unterstützen Sie auch dabei. Aber ich sage Ihnen voraus: Sie werden die Zustimmung für die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen auf der Regierungskonferenz nicht bekommen, wenn Sie nicht bereit sind,
auf dieser Regierungskonferenz auch über eine genauere
Michael Roth ({1})
und klarere Kompetenzabgrenzung in den europäischen
Verträgen zu diskutieren.
({2})
Wie ist denn die Situation? Die Widerstände gegen
eine Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen werden
doch in dem Maße wachsen, wie die Sorge besteht, dass
aufgrund unklarer Kompetenzverteilungen weitere
Kompetenzen auf die europäische Ebene abwandern.
Das sind alles keine Hirngespinste. Sie brauchen sich
nur bei den Bundesratsvertretern der Länder zu erkundigen, auch bei denen, die sozialdemokratisch und grün
regiert sind. Dort teilt man diese Sorgen über alle Parteigrenzen hinweg. Deshalb sollten Sie darüber nachdenken, wie man in der Europäischen Union eine vernünftige Kompetenzabgrenzung hinbekommen kann.
Das kann man nicht von heute auf morgen leisten. Sie
werden auf der nächsten Regierungskonferenz keinen
Kompetenzkatalog hinbekommen, aber Sie können zumindest den Anfang machen: zum Beispiel indem man
in einzelnen Bereichen dafür sorgt, dass die Abgrenzungen klarer werden.
Ich bin zum Beispiel überzeugt davon, dass der Europäische Gerichtshof seine Kompetenzen beim Thema
„Dienst an der Waffe für Frauen“ nicht überschritten
hat; aber ich glaube nicht, dass die Staats- und Regierungschefs, als sie vor vielen Jahren diese Zuständigkeit
geschaffen haben, davon ausgingen, dass sie so weit reichen würde, wie sie der Europäische Gerichtshof derzeit
definiert.
({3})
Deshalb glauben wir - bei allem Verständnis für eine
begrenzte Tagesordnung -, dass dieser Ansatz nicht
durchhaltbar ist. Wir fordern Sie auf, auf die Vorschläge
einzugehen, die Richard von Weizsäcker, die der ehemalige belgische Premierminister Dehaene und andere in
diesem Zusammenhang gemacht haben. Wir wollen eine
Europäische Union, die sich nicht um alles und jedes
kümmert. Wir wollen eine Europäische Union, die sich
vor allem auf ihre Kernaufgaben konzentriert. Das sind
für die europäischen Bürger der Binnenmarkt, die Währungspolitik und ein Euro, der stabil ist und nicht jeden
Tag weicher wird, die gemeinsame Außen-, Sicherheitsund Verteidigungspolitik, die Asyl- und Flüchtlingspolitik, die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität und der Umweltschutz. Wenn wir uns auf diese
Kernaufgaben beschränken und den Mitgliedstaaten die
Angst nehmen, dass ihre verbleibenden Kompetenzen in
allen anderen Bereichen - Tourismus, Fremdenverkehr
und andere Fragen - zunehmend nach Brüssel wegrutschen, dann werden Sie auch Fortschritte in diesem Bereich erzielen.
Sie müssen auf der Regierungskonferenz auch über
die so genannte Flexibilisierung reden. In einer Europäischen Union von 28 Mitgliedstaaten wird es nicht möglich sein, dass alle Mitgliedstaaten bei allen Vorhaben
mitmachen. Das ist nicht erforderlich und das führt auch
zur Reduzierung des Erpressungspotenzials, das derzeit
darin besteht, dass jeder einzelne Mitgliedstaat verhindern kann, dass andere Mitgliedstaaten gemeinsam Entscheidungen treffen, die nur für ihren Bereich Gültigkeit
haben. Deshalb brauchen wir eine verstärkte Zusammenarbeit, die nicht mehr durch ein Veto eines einzelnen Mitgliedstaates ausgehebelt werden kann. Es muss
möglich sein, in bestimmten Bereichen - ohne irgendjemanden zu überstimmen und ohne irgendjemanden zu
bevormunden - unter einer begrenzten Anzahl von Mitgliedstaaten Fortschritte zu erreichen und die Integration
voranzubringen.
({4})
Es geht um die Größe der Kommission, um das Europäische Parlament, die Ausweitung seiner Mitentscheidungsrechte, die Sicherstellung einer doppelten Mehrheit im Ministerrat, die dafür sorgt, dass weder die Großen die Kleinen noch die Kleinen die Großen überstimmen. Es gibt Themen über Themen!
({5})
Ich wiederhole: Dies alles ist schon seit dem letzten Jahr
bekannt, Sie haben es aber unterlassen - auch während
der deutschen Präsidentschaft -, weiterführende inhaltliche Vorstellungen zu entwickeln, wie man kreative, zukunftsweisende Lösungen zu entwickeln.
({6})
Herr Bundesaußenminister, Sie befinden sich in der
Situation eines Schülers, der mit Hausaufgaben ein ganzes Jahr im Rückstand ist und sie nun an einem Wochenende erledigen soll. Da darf man sich nicht wundern, wenn am Ende, in der Hektik der Regierungskonferenz, die europäischen Verträge und Institutionen
komplizierter statt einfacher werden, sodass sie am Ende
kaum noch jemand in Europa versteht.
({7})
Es geht bei all den Diskussionen über die Regierungskonferenz, die wir in diesem Jahr führen werden,
nicht nur um technische Fragen. Es geht darum, dass wir
das große Projekt der Osterweiterung auch in der innenpolitischen Diskussion akzeptanzfähig halten. Die
Union steht zur Osterweiterung.
({8})
Wir stehen zu den ambitionierten Zeitplänen. Sie müssen aber auch in diesem Bereich die Hausaufgaben machen. Die Osterweiterung bringt riesige Chancen, die
Osterweiterung löst aber auch - zum Teil berechtigte,
zum Teil unberechtigte - Ängste aus. Sie löst bei vielen
Menschen in den neuen Bundesländern Besorgnis aus:
zum Beispiel bei Handwerkern und bei Arbeitnehmern,
die Angst vor verstärkter Konkurrenz durch vermehrte
Freizügigkeit haben.
Deshalb unsere Aufforderung an Sie: Sagen Sie uns,
wie Sie sich die Übergangsvorschriften in diesem Bereich vorstellen. Sagen Sie uns, wie Sie sich, das ZuPeter Altmaier
sammenwachsen in diesem Bereich vorstellen. Es macht
wenig Sinn, die Ängste zunächst entstehen zu lassen, um
sie dann mühsam wieder zu bekämpfen und aufzulösen.
Die entscheidende Frage wird sein, mit welcher Strategie Sie die Regierungskonferenz angehen werden. Sie
werden unsere Unterstützung haben, wenn Sie uns eine
Strategie präsentieren, die es möglich macht, in einem
geordneten Diskussionsprozess sowohl in der europäischen Öffentlichkeit als auch bei uns zu Hause die notwendigen Diskussionen zu führen und die Entscheidungen vorzubereiten. Wir haben den Eindruck, dass bislang nicht klar ist, wie die Strategie aussieht und wer
dabei unsere Partner sind.
Bisher war es so, dass bei allen großen Projekten der
europäischen Integration, angefangen von den Römischen Verträgen über die Einheitliche Europäische Akte,
den Vertrag von Maastricht und den Euro, die deutschfranzösische Zusammenarbeit eine ganz wesentliche
Rolle gespielt hat.
({9})
Wir haben den Eindruck, dass der deutsch-französische
Motor seit einigen Monaten stottert und inzwischen
möglicherweise ganz zum Stillstand gekommen ist.
({10})
Und deshalb, Herr Kollege Wieczorek, bitte ich Sie: Erklären Sie uns, ob es eine deutsch-französische Initiative
zu den Inhalten der Regierungskonferenz geben wird
und wo die Parallelität der Interessen liegt, die wir brauchen, um in diesem Prozess der Regierungskonferenz
einen konstruktiven Input für die weiteren Verhandlungen zu ermöglichen.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage?
Ja, bitte sehr.
Herr Kollege Altmaier, Sie haben das deutsch-französische Verhältnis
angesprochen. Es geht hier um die drei großen Komplexe, die fälschlich „leftovers“ genannt werden. Können
Sie sich daran erinnern, dass es vor dem Amsterdamer
Gipfel einen gemeinsamen Brief des französischen
Staatspräsidenten und des damaligen Bundeskanzlers
gab, in dem gerade für die Frage der Abstimmung im
Rat zwei Alternativen vorgeschlagen wurden und in dem
man sich gegenseitig versicherte, man könne mit der jeweils anderen Alternative leben? Können Sie bestätigen,
dass diese gemeinsame Initiative wegen eines Konfliktes
zwischen Frankreich und der Bundesrepublik eben nicht
zustande gekommen ist und bereits beim informellen
Gipfel in Noordwijk und erst recht in Amsterdam eine
Lösung nicht mehr möglich war? Insofern meine Frage:
Wie bewerten Sie dies im Hinblick auf das Verhältnis
zwischen der früheren deutschen Regierung und der damaligen - und jetzigen - französischen Regierung?
Herr Kollege
Wieczorek, ich gehöre zu denen, die mit den Ergebnissen der Regierungskonferenz von Amsterdam genauso
wenig zufrieden waren wie Sie und viele andere in diesem Hause. Aber darf ich Sie daran erinnern, dass die
Probleme, die wir in der allerletzten Phase der Regierungskonferenz hatten, insbesondere im Hinblick auf die
Einführung von Mehrheitsentscheidungen in ganz bestimmten Bereichen, auf eine Initiative des Bundesrates
zurückgingen und dass der rheinland-pfälzische Ministerpräsident, Herr Beck, an dieser Initiative ganz
maßgeblich beteiligt war. Dieser kommt, wenn ich mich
recht erinnere, aus Ihren Reihen.
({0})
Andere Beteiligte kamen aus unseren Reihen.
Wenn die Bundesregierung, Herr Kollege Wieczorek,
verhindern will, dass wir in der Endphase der nächsten
Regierungskonferenz eine ähnliche Erfahrung machen,
das heißt, dass wir uns hier auf Mehrheitsentscheidungen und auf ein bestimmtes Vorgehen einigen, das dann
am Widerstand auch des Bundesrates, möglicherweise
parteiübergreifend, scheitert, tut die Bundesregierung
sehr gut daran, die vom Bundesrat formulierten Bedenken nicht beiseite zu wischen, sondern sie ernst zu nehmen und darüber nachzudenken, wie man sie im Vorfeld
so auflösen kann, dass ein Konzept daraus wird. Ich
glaube, dass die Diskussion über die Kompetenzabgrenzung einen ganz wichtigen Beitrag dazu leisten könnte,
eine solche Blockade zu verhindern.
({1})
Gestatten Sie
eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Wieczorek?
Bitte sehr.
Ich habe Ihre Antwort gehört. Ich habe allerdings nach dem deutschfranzösischen Verhältnis und nicht nach dem Verhältnis
zum Bundesrat gefragt. Aber wenn Sie schon darauf
eingehen, möchte ich Sie Folgendes fragen. Die Stellungnahmen, die die Ministerpräsidenten abgegeben haben, gehen ja genau davon aus, dass zunächst einmal
das, was in Amsterdam übrig geblieben ist, was jetzt
praktisch mit ein paar Ergänzungen angegangen wurde,
später geregelt werden sollte - so der Wortlaut. Insofern
wundere ich mich, dass Sie auf die Frage nach dem
deutsch-französischen Verhältnis - ich mache der alten
Bundesregierung da ja keinen Vorwurf - mit dem Hinweis auf den Bundesrat antworten.
Deshalb meine Frage: Können Sie mir zumindest in der
Bewertung zustimmen, dass das deutsch-französische
Verhältnis auch damals schon in dieser Frage gestört
war? Das hat nichts mit dem Bundesrat zu tun.
Herr Kollege Wieczorek, über eines sollten wir uns doch einig sein: Wir wisPeter Altmaier
sen alle, dass es auch im deutsch-französischen Verhältnis in der Vergangenheit Schwierigkeiten gegeben hat.
Aber das ist doch keine Entschuldigung dafür, dass Sie
jetzt und gerade in der jüngsten Zeit dieses deutschfranzösische Verhältnis vernachlässigen
({0})
und damit auch die Gefahr von Missverständnissen größer wird.
Unser Anliegen besteht darin, dass wir diese Probleme, die in der französischen Presse, die in der französischen politischen Diskussion jeden Tag Thema sind Sie brauchen nur die Zeitungen zu lesen -, ernst nehmen
und dass wir im Vorfeld versuchen, eine abgestimmte
gemeinsame deutsch-französische Position zustande zu
bringen. Meine Frage an den Bundesaußenminister war,
ob es eine solche Position im Hinblick auf die Regierungskonferenz geben wird und was die Kernpunkte dieser Position sein werden.
Meine Damen und Herren, ich halte es für wichtig,
dass wir die Debatte über die Regierungskonferenz im
Plenum des Deutschen Bundestages, im Forum des Europaausschusses regelmäßig führen.
({1})
Die Zeiten, in denen Regierungskonferenzen hinter verschlossenen Türen stattgefunden haben, in denen die Ergebnisse - ganz egal, wie sie aussahen - anschließend
akzeptiert und ratifiziert wurden, sind lange vorbei.
Wir könnten einen Beitrag zur politischen Diskussionskultur, zum Entstehen einer europäischen öffentlichen
Meinung leisten, wenn wir diese Debatte, so wie wir es
heute begonnen haben, in den nächsten Wochen und
Monaten regelmäßig und konstruktiv fortführten. Die
Bereitschaft unserer Fraktion dazu besteht, aber die
Hausaufgaben werden Sie machen müssen. Aus dieser
Verpflichtung werden wir Sie nicht entlassen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat
jetzt Herr Außenminister Joschka Fischer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrter,
geschätzter Kollege Altmaier, ich weiß jetzt, was mich
in jungen Jahren daran gehindert hat, der Jungen Union
beizutreten, nämlich ein grundsätzlich anderes Verhältnis zu Hausaufgaben. Sie haben ja eine fast schon erotische Bindung an diese Qual einer jeden Schulzeit.
({0})
Ich weiß nicht, warum Sie sich hier mit solcher Leidenschaft für Hausaufgaben aussprechen. Ich kann Ihnen
nur sagen: Das Ergebnis ist bekannt. Sie sehen, dabei
kann am Ende sogar noch etwas Vernünftiges herauskommen.
({1})
Aber jetzt im Ernst: Wir sollten alle miteinander die
Differenzen - Sie tragen hier mit großem Tremolo vor nicht überbetonen. Die Differenzen zwischen uns beiden
sind, behaupte ich, minimal. Die Differenzen liegen woanders. Wenn ich mich hier umschaue, vermute ich, dass
sich die meisten Zuhörerinnen und Zuhörer im Saal fragen werden: Worum streiten die sich eigentlich? Ich
glaube nicht, dass jemand hier versteht, worum wir streiten.
Wenn ich mich hier unten umschaue, scheinen es die
Kolleginnen und Kollegen auch nicht zu begreifen, worüber wir hier reden. Ich meine nicht diejenigen, die hier
sind, sondern die vielen, die nicht da sind, die Fachpolitiker.
Es geht faktisch darum, ob der Deutsche Bundestag in
Zukunft weniger und die europäische Ebene mehr zu sagen haben wird. Darum geht es und das findet nicht sehr
großes Interesse. Das zeigt, dass offensichtlich noch
nicht begriffen wird, in welchem Stadium wir uns da befinden.
({2})
Wenn ich einmal die Summe der Erfahrungen - nicht
parteipolitisch; da werden wir uns weiter zu streiten haben - aus einem starken Jahr, das ich jetzt als Außenminister und vor allen Dingen in der exekutiven Europapolitik - sie ist hauptsächlich Regierungspolitik - tätig
bin, bilanzieren darf, dann kann ich Ihnen nur sagen:
Wenn wir dieses Europa nicht schneller schaffen, als
viele unserer Bürger es für erforderlich halten, dann
werden wir unter dem Gesichtspunkt Arbeitsplätze, unter dem Gesichtspunkt Sicherung unseres Sozialstaates,
unter dem Gesichtspunkt Einkommen, unter dem Gesichtspunkt Gewinne Positionen verlieren.
Unsere Wettbewerber in der Welt von heute und vor
allem in der Welt von morgen schlafen nicht, sondern
sind sehr dynamisch dabei, Positionen zu beziehen. Wir
werden das als Nationalstaat Bundesrepublik Deutschland, der größte innerhalb der EU, nicht schaffen, die
kleineren für sich genommen auch nicht. Das heißt: Im
Grunde genommen wird es darum gehen - das wird die
schwierige Aufgabe sein -, Verständnis dafür zu schaffen, dass wir dieses Europa brauchen, dass wir in dieses
gemeinsame Europa heute investieren müssen, um morgen ernten zu können.
Die Regierungskonferenz ist einer der nächsten,
ganz entscheidenden Schritte. Nur, wie so oft in Europa,
wird es ein Schritt sein, von dem man noch nicht klar
sagen kann, wie er aussehen wird. Das hat nichts mit
nicht gemachten Hausaufgaben der Bundesregierung zu
tun; vielmehr müssen 15 Interessen gebündelt werden.
Sie wissen selber, dass das schwer ist. Ich habe noch
von gestern die Aussagen von Herrn Stoiber im Ohr. Ich
habe jenseits der Polemik sehr genau zugehört. Ich kenne seine europapolitischen Positionen. Ich weiß, er ist
zwar kein engagierter Antieuropäer, aber er ist letztlich
jemand, der meint, dass der Zug verlangsamt werden
sollte. Ich glaube, das wäre ein großer strategischer Fehler.
({3})
- Ich höre sehr sorgfältig zu. - Er ist jemand, der meint,
dass am Ende doch noch die volle Integration infrage
gestellt werden sollte. Dies hielte ich unter vielen Gesichtspunkten ebenfalls für einen großen Irrtum.
Zu den Kleinigkeiten, die Sie angesprochen haben,
möchte ich Ihnen sagen: Dem, was Sie über Mehrheitsentscheidungen und Kompetenzabgrenzungen gesagt
haben, stimme ich zu. Aber außerhalb des Verfassungsgefüges des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gibt es in Europa kaum Erfahrung mit konkurrierender Gesetzgebung. Das heißt, über Mehrheitsentscheidungen werden wir Kompetenzabgrenzungen erzielen, nicht umgekehrt. Ich halte Kompetenzabgrenzungen
für dringend notwendig. Wir befinden uns bereits in einer - nicht offiziell erklärten - Verfassungsdebatte über
die Frage: Was soll auf der nationalstaatlichen und was
auf der europäischen Ebene getan werden? Ich kann Ihnen nur versichern: Wir wollen in den drei entscheidenden Punkten, die in Amsterdam nicht gelöst worden
sind, vorankommen.
Die Größe und die Zusammensetzung der Kommission betrifft schwierige Fragen: Sollen alle Länder
nach ihrer Größe bewertet werden? Wenn ja, werden die
zwei größten Nationen weiterhin zwei EU-Kommissare
stellen? Ist eine Kommission mit über 30 Kommissaren
überhaupt noch handlungsfähig, wenn sich die Zahl der
Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf 20 oder 25
erhöht? Ich halte das für praktisch nicht machbar und für
nicht gut. Die Handlungsfähigkeit der Kommission wäre
nicht mehr gegeben. Aber dann stellt sich die Frage:
Verzichten die großen Staaten auf einen Kommissar?
Das hieße wiederum, dass ein Land wie Luxemburg genauso bewertet wird wie die Bundesrepublik Deutschland oder Frankreich. Das ist ebenfalls eine Frage der
Repräsentation. Das sind alles schwierige Fragen, bei
denen Interessen aufeinander stoßen.
Wir sind in der Tat dabei - diesen Punkt möchte ich
noch ansprechen -, auf deutsch-französischer Ebene voranzukommen. Wenn Sie behaupten, wir hätten unsere
Hausaufgaben nicht gemacht, dann möchte ich Sie darauf hinweisen, dass wir auf dem deutsch-französischen
Gipfel in Toulouse zum ersten Mal gut vorbereitet über
die Regierungskonferenz gesprochen und vereinbart haben, dass es keine überladene Tagesordnung geben soll;
denn wir verfolgen nicht die Strategie - die andere unter
der Hand verfolgen -: Überladen wir doch die Tagesordnung, dann wird es ad calendas graecas gelöst. Wir
verfolgen eine realistische Strategie. Für uns ist es wichtig, dass die Regierungskonferenz bis zum Ende der
französischen Präsidentschaft auf dem Gipfel in Nizza
Ergebnisse zeitigt. Das wollen wir erreichen; das ist
realistisch. Deswegen gibt es nur ein reduziertes Programm: Zusammensetzung und Größe der Kommission
sowie die Stimmgewichtung.
Das Wort Stimmgewichtung sagt unseren Bürgerinnen und Bürgern auch nichts. Damit ist die entscheidende Frage gemeint: Wie viel ist eine Stimme in der EU
wert? Von der Beantwortung dieser Frage hängt sehr
viel ab, nämlich wie weit die Interessen von kleinen im
Vergleich zu großen Mitgliedstaaten zum Tragen kommen. Hier kann es um sehr wichtige Fragen gehen, die
dem einen oder anderen weniger wichtig erscheinen, die
aber in anderen nationalen Öffentlichkeiten von zentraler Bedeutung sind.
Schließlich geht es um das Prinzip der Mehrheitsentscheidung. Zu diesem Prinzip haben wir gestern im
Ausschuss - ich möchte hier deswegen nicht mehr ins
Detail gehen - unser Konzept vorgestellt. Wir unterstützen den ersten Entwurf, der während der Präsidentschaft
vorgelegt worden ist, sozusagen um hier ein entsprechendes Screening vorzunehmen und abzugleichen, was
möglich ist. Aber das Prinzip der Mehrheitsentscheidung
ist natürlich eine delikate Frage. Ich möchte ein Beispiel
nennen: Dann, wenn sich eine Mehrheitsentscheidung zum Beispiel über den Sherryexport oder über das Reinheitsgebot beim deutschen Bier - gegen die nationalen
Interessen des jeweiligen Landes und seiner Öffentlichkeit richtet, wird es eine riesige Debatte geben. Das
heißt, ohne gleichzeitige Unterfütterung durch eine entsprechende parlamentarische Stärkung wird es meines
Erachtens im Konfliktfall sehr schwierig werden. Dennoch sind wir für eine Ausdehnung des Prinzips der
Mehrheitsentscheidung, weil dies ein unabweisbarer
Schritt ist.
({4})
Ich kann Ihnen versichern: Das, was Sie über
Deutschland und Frankreich gesagt haben, ist grundfalsch. Hier gibt es überhaupt keinen Dissens.
Der deutsch-französische Motor der europäischen Integration ist unersetzbar, unabhängig von den Regierungsmehrheiten in Paris und in Berlin bzw. früher
Bonn. Die deutsch-französische Verbindung ist der entscheidende Motor, der den europäischen Einigungsprozess voranbringen muss. Daran arbeiten wir auf das Intensivste. Es gibt keinen Kollegen, den ich öfter sehe
und den ich mehr konsultiere als den von mir sehr geschätzten Hubert Védrine. Für den Bundeskanzler gilt,
was die Konsultationen auf bilateraler Ebene mit Präsident Chirac und Premierminister Jospin betrifft, dasselbe. Das gilt ganz genauso für die Kollegen der Fachressorts. Da brauchen Sie sich wirklich keine Sorgen zu
machen.
Ich bin der Meinung, wir sollten eine parallele Vorgehensweise an den Tag legen. Sie haben die Frage nach
der Strategie der Bundesregierung gestellt. Meine Redezeit ist hier begrenzt; ich habe es gestern im Ausschuss
detailliert dargestellt: Wir wollen einerseits eine realistische Strategie verfolgen, das heißt, dass das, was aus
heutiger Sicht wirklich gemacht werden kann, auch erreicht wird. Wir wollen andererseits aber parallel dazu nicht als Alternative - eine Diskussion vor allen Dingen
unter dem Gesichtspunkt der zukünftigen Verfasstheit
Europas, sozusagen eine Maastricht-II-Diskussion über
die politische Integration.
Wenn es eine Mehrheit für weitergehende Schritte in
dem anvisierten Zeitraum bis zum Ende der französischen Präsidentschaft geben sollte, dann wollen wir die
Möglichkeit nutzen, energische, weiterführende Schritte
zu gehen. Vielleicht können die Konturen der nächsten
Entscheidungen nach der Regierungskonferenz auch
schon konkretisiert werden.
Ich darf mich bedanken.
({5})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Sabine LeutheusserSchnarrenberger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir müssen uns nicht rechtfertigen, überzeugte Europäer zu sein;
denn wir haben das in vielen Jahren mit einer sehr zielorientierten europäischen Politik unter Beweis gestellt.
Deshalb sagen wir ganz klar: Die dritte Regierungskonferenz in diesem Jahrzehnt muss für die Europäische
Union zu einem deutlichen Qualitätssprung führen.
({0})
Wie alle richtig gesagt haben: Es ist eben keine
Technik, die jetzt auf der Tagesordnung steht. Es kommt
ja nicht von ungefähr, dass in den europäischen Gremien
eine Einigung über offene Punkte - sie sind hier genannt
worden - bisher nicht erzielt werden konnte. Diese so
nüchtern klingenden Verhandlungspunkte sind in Wirklichkeit ein entscheidender Schritt zur Staatswerdung
der Europäischen Union. Natürlich ist das in einem gewissen Umfang mit der Verringerung nationalen Einflusses verbunden. Deshalb konnten diese Fragen bisher
trotz ambitionierten Vorgehens nicht gelöst werden und
deshalb hat diese Regierungskonferenz eine riesige Aufgabe.
Sie muss die Handlungs- und Funktionsfähigkeit der
Europäischen Union für die eingeleitete Erweiterung,
die wir immer propagiert haben, herstellen. Auch muss
die mit der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion initiierte Dynamik für den Integrationsprozess
der Europäischen Union jetzt genutzt und umgesetzt
werden; denn es war unsererseits immer ein Argument
für den Euro, dass damit Dynamik in den Integrationsprozess der politischen Union kommt.
({1})
In ihrer jetzigen Verfasstheit ist die Europäischen
Union eben nicht in der Lage, sich von derzeit
15 Mitgliedern in eine Europäische Union mit bis zu
28 Mitgliedern auszuweiten. Herr Außenminister, wir
sind deshalb der Auffassung, dass die Regierungskonferenz mit großem Ehrgeiz, mit großem Elan, mit sehr klaren Vorstellungen und mit der Perspektive, einen bedeutenden historischen Verfassungsgebungsprozess in Gang
zu setzen, durchgeführt werden muss.
Zur erfolgreichen Durchführung der Erweiterung ist
jetzt ein sehr ambitionierter Vertiefungsprozess gefordert, bei dem die Bundesregierung zusammen mit
Frankreich natürlich eine besondere Verantwortung besitzt, der sie gerecht werden muss. Sie muss entsprechend initiativ werden, um diesen Prozess in Gang zu
setzen und zu einem Erfolg zu führen.
({2})
Wir sind der Auffassung, dass das Mandat für die
Regierungskonferenz nicht nur die genannten und bekannten Themen umfassen muss; vielmehr gehören zusätzliche Punkte auf die Tagesordnung. Einmal sollte
das Prinzip der kollektiven Verantwortung der Kommission der Europäischen Union sehr viel stärker durch die
Verankerung der individuellen Verantwortung der
Kommissare ersetzt werden. Die Entwicklungen im letzten Jahr zeigen ganz deutlich, dass das ein notwendiger
und überfälliger Schritt ist.
Wir wollen aber auf alle Fälle auch anstreben und alles versuchen, um dazu beizutragen, dass die in der Erarbeitung befindliche europäische Grundrechtscharta in
den Vertrag übernommen wird. Wir wollen nicht von
Anfang an sagen, das sei nicht zu schaffen, sondern wir
meinen, dass man hier sehr ambitioniert herangehen
sollte.
Schließlich sollte man in diese Überlegungen natürlich auch die Strukturen des Europäischen Gerichtshofes, für den es ja schon umfangreiche Änderungsvorschläge gibt, einbeziehen.
Deshalb stellt diese Regierungskonferenz eine entscheidende Weichenstellung für die Europäische Union
dar. Sie braucht die nötigen Kompetenzen und die klare
Abgrenzung von Kompetenzen, sie braucht die Souveränität, aber ganz klar auch die demokratische Legitimation und ein ausgewogeneres Verhältnis als bisher in den
Beziehungen der Mitgliedstaaten untereinander. Europa
braucht für diesen Prozess eine klare politische Perspektive.
Mehr als eine halbe Milliarde Menschen, die künftig
Unionsbürger in der politischen Europäischen Union
sein werden, wollen wissen, in welche Richtung sich die
Europäische Union entwickelt.
({3})
Sie muss sich über den derzeitigen Staatenverbund hinaus entwickeln. Man muss es deutlich sagen: Europa befindet sich mitten in einem Verfassungsgebungsprozess, der hin zu einer europäischen Verfassung führen soll, die sich unserer Auffassung nach sehr wohl
auch am Leitbild des europäischen Bundesstaates orientieren sollte.
({4})
Jeder, der das bestreitet und sagt, mit Verfassung habe
das nichts zu tun, drückt sich vor der Verantwortung und
klärt die Unionsbürger nicht richtig auf. Diese erwarten
es aber; sie haben ein Recht auf umfassende Beteiligung
und Information über diesen wirklich einmaligen Verfassungsgebungsprozess.
Wir sollten jetzt die richtigen Lehren ziehen. Das
heißt, die anstehenden Beratungen müssen durchschaubar und verständlich sein. Sie müssen für die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar sein. Diese müssen wissen und verstehen können, warum sich Europa zu mehr
Staatlichkeit hin orientiert und warum ein abnehmender
Einfluss der nationalen Parlamente durch eine stärkere
demokratische Legitimation und eine stärkere Ausgestaltung des Europäischen Parlamentes ersetzt und ausgeglichen werden muss. Sie wollen wissen, was mit einer europäischen Grundrechtscharta verbunden ist, in
welchem Verhältnis sie zu den nationalen Grundrechten
steht und wie der Schutz dieser Grundrechte aussieht.
Damit die Bürger diesen Prozess begleiten und auch
unterstützen können, müssen wir die entsprechenden
Vorgaben machen. Deshalb brauchen wir regelmäßige
und sehr viel offenere Debatten über die nächsten
Schritte, die auf der Tagesordnung der Regierungskonferenz stehen. So können wir die Argumente austauschen
hinsichtlich der Frage, ob die Kommission künftig vielleicht sogar nur mit 15 Kommissaren auskommt. Ein
Modell müssen wir auf jeden Fall diskutieren - wir vertreten es so -, dass nämlich künftig nicht mehr jeder
Mitgliedstaat einen Kommissar wird stellen können.
Auch hier wird eine Form des nationalen Einflusses reduziert werden.
Wir brauchen eine Kommission, die sich gemeinsam
an europäischen Interessen orientiert. Natürlich ist das
nicht leicht. Das wissen wir, die wir jahre- oder jahrzehntelang in europäischen Gremien Verhandlungen geführt haben und Verantwortung getragen haben. Gerade
vor diesem Hintergrund wissen wir auch, dass man
dann, wenn man nicht mit hohem Anspruch an diese
Aufgaben herangeht, hinterher ein Ergebnis erzielen
wird, das vielleicht nur kleine Münze ist. Das wäre das
schlechteste Ergebnis, das bei dieser Regierungskonferenz herauskommen könnte.
({5})
Deshalb ist - ich komme zum Schluss, meine Damen
und Herren - natürlich auch die Grundrechtscharta,
die der Wertegemeinschaft Europa Ausdruck verleiht,
von so herausragender Bedeutung. Angesichts unserer
Grundrechtstradition und unseres Verständnisses von
Grundrechten wollen wir, dass es einen wesentlichen
Bestand von Grundrechten gibt, der nicht antastbar ist
und vor Einschränkungen sicher ist. Wir Liberalen haben uns dieses fest vorgenommen und wollen dabei
mitwirken. Insofern können Sie, Herr Außenminister,
wenn Sie diesen Prozess ambitioniert vorantreiben, mit
unserer Unterstützung rechnen.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Uwe Hiksch.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Eröffnung der Regierungskonferenz werden die Grundlagen für eine Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union geschaffen. Die PDS möchte die Erweiterung der Union mit einer klaren Perspektive auch für eine demokratische Türkei, die in die Europäische Union eingeschlossen werden muss.
Wir treten ausdrücklich dem entgegen, was gestern in
reaktionärer Manier vom Ministerpräsidenten Bayerns,
Herrn Stoiber, dargelegt wurde, der die Europäische
Union als christlich-abendländisches Bollwerk begreift
und nicht mehr als weltoffenes, multikulturelles Europa,
das auch für Minderheiten, Asylbewerber und Flüchtlinge offen sein muss.
({0})
Der Gründer des Freistaates Bayern, der Sozialist Kurt
Eisner, würde sich im Grabe umdrehen, wenn er feststellen würde,
({1})
was aus dem Freistaat Bayern geworden ist, welche Reden unter dem Begriff des Freistaates, der eine Ablösung
vom Kaiserreich bedeutet hatte, heute gehalten werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa darf keine
Festung werden. Europa muss weltoffen sein und muss
auch Asylbewerbern eine Perspektive geben, wenn sie
verfolgt werden. Deshalb tritt die Partei des Demokratischen Sozialismus dafür ein, dass im Rahmen der
Grundrechtscharta darüber geredet und möglichst
durchgesetzt wird, ein Individualrecht auf Asyl auf europäischer Ebene festzuschreiben, und dass Europa nicht
zu einem Bollwerk aufgebaut wird.
({2})
Die Regierungskonferenz muss dazu beitragen, dass
wir zu einer Demokratisierung der Europäischen
Union kommen. Es darf nicht mehr so sein, dass über
die Zukunft der Europäischen Union in nicht öffentlichen Sitzungen diskutiert wird. Vielmehr muss endlich
durchgesetzt werden, dass das demokratische Gremium
der Europäischen Union, das Europäische Parlament,
gestärkt und mit wesentlich mehr Rechten ausgestattet
wird.
Wir müssen die Europäische Union auch erweiterungsfähig machen. Wir brauchen sowohl eine Höchstgrenze für die Zahl der Abgeordneten im Europäischen
Parlament, weil das EP arbeitsfähig bleiben muss, als
auch eine Höchstgrenze für die Zahl der Kommissare,
damit die Kommission das tun kann, was sie tun muss,
nämlich arbeiten.
Lieber Kollege Altmaier, ich habe sehr genau zugehört, wie Sie das Europa der Zukunft beschrieben haben.
Sie haben ein Europa beschrieben, das sich auf Kernkompetenzen beschränken soll, die vor allen Dingen in
drei Bereichen angesiedelt sind: Wirtschaftspolitik für
ein wirtschaftsfreundliches Europa, Sicherheitspolitik
und Militarisierung. Ein solches Europa allein möchte
die PDS nicht. Das Europa, das wir wollen, muss für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer da sein, muss einen der Schwerpunkte der Politik auf die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit setzen und muss ökologische und
soziale Mindeststandards in den Mittelpunkt seiner Politik stellen. In der CDU spielt ein soziales Europa keine
Rolle mehr.
({3})
Deshalb wundert es mich, sehr geehrter Herr Außenminister Fischer, wenn Sie in diesem Hause keine Unterschiede mehr feststellen können. Wir sehen durchaus
große Unterschiede zwischen dem, was die rot-grüne
Bundesregierung wenigstens angekündigt hat, in Europa
durchsetzen zu wollen, und dem, was vor allen Dingen
vonseiten des rechten Teiles des Hauses, der CDU/CSU,
beschrieben wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erweiterung der
Europäischen Union bringt für viele Menschen auch
Ängste mit sich. Ängste kann man auf zwei verschiedene Arten aufgreifen: so, wie es in reaktionären Tönen
gestern durch Stoiber passiert ist, oder dadurch, dass
man sich die Ängste anschaut und konkrete Antworten
gibt. Menschen, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben,
müssen wissen, wie Arbeit in Zukunft gesichert wird.
Menschen, die Angst um die sozialen Standards haben,
müssen wissen, dass in Europa Sozialpolitik eine Rolle
spielt. Vor allen Dingen müssen auch Handwerker wissen, wie durch Übergangsvorschriften beispielsweise im
Bereich der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit
gewährleistet werden kann, dass sie ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer weiter beschäftigen können.
Wir, die PDS, treten dafür ein, dass die Grundrechtscharta nicht nur ein Schriftstück wird, das einen
deklaratorischen Charakter hat. Wir treten ausdrücklich
auch dafür ein, dass die EU-Charta und die Grundrechtscharta zusammengeführt werden und dass die
Grundrechtscharta integraler Bestandteil der EU-Verträge wird. Wir wollen, dass das, was in der Grundrechtscharta stehen wird, von den Menschen auch eingeklagt werden kann und dass sie einen Anspruch darauf
haben, die festgelegten Rechte durchzusetzen und vor
dem Europäischen Gerichtshof auch einzuklagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa darf durch
die Erweiterung nicht zu einem Kerneuropa werden, das
sich immer weiterentwickelt und das um sich herum eine Freihandelszone hat, die vor allen Dingen die Funktion hat, den kerneuropäischen Ländern zu helfen. Wir
wollen ein Europa, in dem sich alle europäischen Länder
weiterentwickeln können und aus dem sich nicht die
wirtschaftlich starken Länder herauslösen. Wir wollen
ein Europa, von dem die kleinen Länder wissen, dass sie
integraler Bestandteil dieses Europas sind. Wir wollen
ferner ein Europa der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ein Europa der Menschen und nicht eine Freihandelszone und ein Europa der Wirtschaft.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Herr Staatsminister Christoph Zöpel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ein Zwischenruf von Ihnen, Herr
Kollege Haussmann, enthielt das Wort Vision, eine Vision, die Europa brauche. Ich stimme Ihnen auf der einen Seite zu, schränke aber auch auf der anderen Seite
ein.
Das Wort Vision sollte nicht inflationär gebraucht
werden. Im Augenblick gibt es für mich hinsichtlich des
Zusammenlebens in Europa eine Vision, nämlich dass
nach realistischer Einschätzung der Lebenserwartung
der Generation, zu der ich gehöre - dazu zähle ich die
westdeutsche Generation, die die Entwicklung Europas
seit 1956/1957 erleben konnte, aus persönlicher Erfahrung sage ich: dazu gehören auch die Menschen, die
durch Zufall der Geschichte in Ost-Mitteleuropa geboren wurden, aber in Westdeutschland aufgewachsen
sind -, wir erleben können, dass die Friedensgemeinschaft für ganz Europa gilt. Für ganz Europa heißt, dass
sie auch in den Ländern gilt, mit denen derzeit verhandelt wird, und auch in denen, die nordwestlich von Griechenland liegen. Das ist die Vision.
Dieser Vision ordnen sich auch die anderen Ziele der
Bundesregierung unter, die mit der jetzt anstehenden
Regierungskonferenz verbunden sind.
Wenn wir über politische Moral sprechen, dann
müssen wir erkennen, dass es eine Ebene der politischen
Moral gibt, die gerade heute nicht vergessen werden
darf. Diese politische Moral ist eine Verpflichtung meiner Generation. Wir müssen den Frieden, den wir in Europa erfahren durften, auf das ganze Europa erweitern.
Das ist unsere moralische Verpflichtung.
({0})
Angesichts dieses Oberzieles kommt man zu der
Feststellung, dass die Regierungskonferenz am Ende
dieses Jahres das Vertragswerk so ändern muss, dass die
EU erweiterungsfähig ist. Erweiterungsfähig bedeutet realistisch formuliert - die Erweiterung um 70 Millionen
Menschen. Ich gebrauche bewusst die Formulierung
„Erweiterung um 70 Millionen Menschen“ und nicht die
Formulierung „Erweiterung um maximal 10 Staaten“,
weil die Zahl von den 10 Staaten die Dimension verzerrt. Aber die Zahl von zusätzlich 70 Millionen Menschen in der Europäischen Union macht deutlich, dass
die Union um weniger Menschen erweitert wird, als die
Bundesrepublik Deutschland Einwohner hat. Diese Zahl
ist im Verhältnis zu der Zahl von 370 Millionen EinUwe Hiksch
wohnern, die jetzt der Europäische Union angehören,
überschaubar.
Das ist die Perspektive bis zum Jahr 2006. Bis zu diesem Jahr reichen auch die finanziellen Perspektiven der
Agenda 2000. Die Durchsetzung dieser Agenda war der
wesentliche Erfolg der deutschen Präsidentschaft. Darum geht es.
({1})
- Es gibt überhaupt keinen Zweifel, dass dieser Rahmen
bis zum Jahre 2006 hält.
Dieses Ziel verbindet sich nun - vielleicht durch die
List der Vernunft - mit dem Ehrgeiz Frankreichs, am
Ende dieses Jahres unter französischem Vorsitz ein Vertragswerk zu erarbeiten, das den Namen einer französischen Stadt trägt - wahrscheinlich Nizza. Ich halte diese
List der Vernunft für geeignet, diese Kopplung zu erreichen.
Auf beides kann in diesem Jahr hingearbeitet werden.
Dabei ist so viel wie möglich zu erreichen, aber eben soviel, wie in den verbleibenden zehn Monaten möglich
ist. Den Ehrgeiz, Herr Kollege Haussmann, bestimmt in
diesem Falle Frankreich, und an Ehrgeiz ist die Grande
Nation ja nicht zu überbieten.
Nun aber zu den Hausaufgaben, die Sie - Herr
Minister Fischer hat dazu eine richtige Bemerkung gemacht - so gerne im Munde führen. - Vielleicht sollte
manches Vokabular erwachsener sein. - Zu den Aufgaben der Bundesregierung hinsichtlich der drei wichtigsten zu verhandelnden Punkte gehören zwei, bei denen
die vorschnelle Formulierung einer deutschen Position
nicht hilfreich wäre, nämlich die Zahl der Kommissare
und die Quantifizierung der Stimmrechte. In dem einen Fall wird Deutschland im Ergebnis auf irgendetwas
verzichten müssen. In dem anderen Fall wird man
durchsetzen müssen, dass kleinere Länder zugunsten bevölkerungsreicher Länder etwas nachgeben. Sich voreilig festzulegen würde in beiden Fällen nicht helfen.
({2})
Beim dritten Bereich sollten wir, wieder einmal das
Wort „Haus“ gebrauchend, darüber reden, dass die Probleme in der Bundesrepublik und nicht anderswo liegen.
In der Frage der Kompetenzabgrenzung, in der Frage
der Mehrheitsentscheidungen im Verhältnis des Bundes zu den Ländern gibt es quer durch die Parteien noch
nicht ausdiskutierte Positionen. Dies ist auch nicht einseitig eine Frage der Regierung, dies ist nicht einseitig
eine Frage von Opposition und der die Regierung tragenden Parteien, nicht einseitig eine Frage der A- und
der B-Länder, sondern ein wichtiger Prozess, der intensiver als bisher betrieben werden muss. Dieser verschränkt sich noch zusätzlich mit wirtschaftsphilosophischen und wirtschaftskonzeptionellen Einsichten;
denn einer der Hauptreizpunkte der derzeitigen vorgeblichen Überkompetenzen der EU hängt ja mit einer sehr
unterschiedlichen Bewertung der Wettbewerbspolitik
zusammen. Und einheitlich und parteiübergreifend streiten die deutschen Länder dagegen, dass die EU darüber
diskutiert, ob es in Deutschland Sparkassen geben darf.
({3})
- Sie streiten einheitlich darüber, ob es in Deutschland
Sparkassen geben darf, habe ich gesagt. Mir ist noch
nicht aufgefallen, dass sie ganz einheitlich über Landesbanken diskutieren.
Die Antwort darauf hat aber in der französischen
Terminologie etwas mit Service publique zu tun, also
mit einer wirtschaftspolitischen Auffassung, die in
Deutschland wiederum von der Wettbewerbsphilosophie
her nicht einheitlich geteilt wird. Bei der letzten Regierungskonferenz wäre es möglich gewesen, die Sparkassen sichernden Bestimmungen in das Vertragswerk aufzunehmen, wenn nicht die damalige deutsche Regierung
dagegen gewesen wäre. So kompliziert ist das mit der
Frage der Kompetenzabgrenzung und der Mehrheitsentscheidung.
({4})
Ich hatte vor 14 Tagen die Möglichkeit, im Bundesrat
zu sprechen. Damals konnte ich mich bei Herrn Ministerpräsidenten Teufel so wie heute bei Ihnen, Herr Kollege Altmaier, dafür bedanken, dass Sie dem Hauptziel
der Bundesregierung, wegen der Osterweiterung bis Ende 2000 das Vertragswerk abzuschließen, zugestimmt
haben.
({5})
- Das ist unstreitig. - Das wollte ich an dieser Stelle
festhalten und ich wollte zu der Frage, was umgesetzt
wird, das wiederholen, was ich im Bundesrat gesagt habe. Die Bundesregierung - ich fühle mich in meiner derzeitigen Zuständigkeit diesbezüglich besonders verpflichtet - ist zu intensivstem Dialog mit allen Fraktionen dieses Hauses wie auch mit allen im Bundesrat vertretenen Ländern bereit, um - Herr Kollege Altmaier,
Sie haben das auch angedeutet - darüber zu sprechen,
was an Beschwernissen der Länder noch in dieses Vertragswerk passt und was darüber hinaus formuliert werden muss. Herzlichen Dank, dass Sie mit ähnlichen
Formulierungen, wie ich sie im Bundesrat gewählt habe,
aufgezeigt haben: Darüber sollte über das Ende dieses
Jahres hinaus intensiver diskutiert werden. Dies gilt
auch für die Fragen: Wann wird der Grundrechtskatalog
aufgenommen? Kann daraus ein anders gegliedertes
Vertragswerk werden, wie es das Europäische Parlament
will? Jetzt schon muss gefragt werden: Muss es nicht
Bestimmungen unter den Stichworten Flexibilität und
verstärkte Zusammenarbeit geben?
Dies alles möchte die Regierung mit Ihnen allen und
mit den Ländern sehr schnell, in der ersten Hälfte des
Jahres 2000, diskutieren. Ich habe den Prozess zu organisieren, habe ihn eingeleitet und erste Termine gemacht. Wenn die Länder, die Opposition, die Regierung
und die Regierungsfraktionen in der Frage, was unter
diesen Gesichtspunkten noch ins Vertragswerk kommen
kann bzw. unbedingt kommen muss - ich stelle noch
einmal die Frage, wie wir vielleicht jetzt schon die
Sparkassen im Vertragswerk sichern -, zu einem gemeinsamen Ergebnis kämen, dann wäre das gut.
({6})
- Herr Haussmann, wer sagt, es gäbe solche - da werden
Sie mir zustimmen, Herr Altmaier -, stößt auf das Problem und sieht, wie kompliziert es ist. Darüber hinaus
wäre zu verabreden, welche weiteren Schritte danach
von Deutschland unter Wahrung des Gedankens des Föderalismus - das im Bundestag zu formulieren ist nicht
immer populär - nach draußen getragen werden.
Zum Föderalismus eine Bemerkung. Ich halte den
deutschen Föderalismus für ein Geschenk für Europa.
Probleme in einigen europäischen Ländern, wie zum
Beispiel in Bosnien-Herzegowina, werden sich ohne den
Grundgedanken des Föderalismus nicht lösen lassen.
Dies in Europa weiter zu verbreiten kann ein echter Auftrag auch der deutschen Länder sein. - Ich wiederhole
hier eine Bemerkung, die ich auch im Bundesrat machen
konnte.
Lassen Sie mich zum Schluss aufgrund meiner Erfahrungen aus meiner Tätigkeit in den europäischen Institutionen sagen: Ich sehe mit einer gewissen Faszination
einen für die Beurteilung der Politik bedeutsamen Prozess einer politischen Entwicklung. Jeder Gipfel gibt
sich einen Auftrag, der angegangen werden muss, der
nächste nimmt ihn auf und Schritt für Schritt wird tatsächlich erreicht, was drei oder vier Gipfel vorher noch
als Vision galt. Das ist bemerkenswert. So habe ich
überhaupt keinen Zweifel daran, dass manches, was heute zu Recht als Notwendigkeit in den Debatten über
Europa formuliert wird, aber im Vertrag von Nizza nicht
steht, im nächsten Vertragswerk stehen wird.
Nach dem Sondergipfel von Tampere hatten wir eine Debatte, in der der eine oder andere fragte: Was hat
sich in Europa in der Rechts- und Verfassungslage geändert? Die Antwort war zu Recht: heute nichts. Dasselbe konnte man über den Gipfel sagen, auf dem der Euro
verabredet wurde: heute nichts. Nur, wir werden den
Euro haben. Wir werden ein mehr und mehr einheitliches europäisches Straf- und Zivilrecht, eine europäische Verfassung und einen kompetenzabgegrenzten Vertrag haben. Ich bin sicher, dass wir das erreichen können.
Um die viel zitierten Bürger nicht zu verunsichern:
Lassen Sie uns bei den Auseinandersetzungen über die
Perspektive Europas die Notwendigkeiten, die erfüllt
werden müssen, wenn Europa als Ganzes da ist, nicht
deshalb als gescheitert definieren, weil sie noch nicht im
Vertrag von Nizza stehen. Das ist ganz wichtig.
({7})
Ich schließe mit dem, was ich dem neuen, derzeitigen - eine große Hoffnung für Europa - Premierminister
von Kroatien, Herrn Racan, gesagt habe, als ich ihn als
ersten ausländischen Besucher an seinem ersten Arbeitstag nach seiner Amtsernennung besuchen durfte:
Ich wünsche uns, Herr Ministerpräsident, dass Sie mich
zu Ihrem 75. Geburtstag einladen. Dann haben wir beide
einen europäischen Pass in der Tasche. Diese Vision habe ich. Ich bin jedem dankbar, der sie mit mir teilt.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Gerd Müller.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Entgegen der Erwartung einiger Kollegen möchte ich heute nicht den Dissens in
den Vordergrund stellen, sondern daran anknüpfen, was
wir gestern im Europaausschuss sehr interessant miteinander entwickelt haben und was Außenminister Fischer
auch dargelegt hat. Wir stehen in der Europäischen Union vor einem Quantensprung von 15 auf 25, ja vielleicht
30 Mitgliedstaaten. Es stellt sich in der Tat die Frage:
Wohin geht dieser Weg? Frau Kollegin LeutheusserSchnarrenberger, der europäische Staat mit 25 Mitgliedstaaten? Ich würde sagen: nein.
Ich möchte einleitend mit sieben Punkten zur Frage
sprechen: Welche neuen Kriterien muss die Regierungskonferenz - Herr Roth und andere - für die europäische
Rechtsetzung schaffen? Der Außenminister hat dazu
gestern einige wichtige Dinge gesagt.
Erstens. Wir brauchen bei der europäischen Rechtsetzung in Brüssel über die Mitgliedstaaten die Verwirklichung des Prinzips der Demokratie. Die Rechtsetzung
der Europäische Union entspricht nicht den demokratischen Mindeststandards, wie sie in allen Mitgliedstaaten
für die Rechtsetzung umgesetzt werden. Mit anderen
Worten: Die EU könnte, wenn sie ein Staat wäre, unter
diesem Gesichtspunkt niemals Mitglied der Europäischen Union sein.
Der Bürger als Souverän muss hinsichtlich der Zusammensetzung über Wahlen beteiligt sein. Seine Wahlentscheidung muss direkt oder indirekt einen Einfluss
auf die europäische Politik haben.
({0})
Dies ist nicht der Fall. Der Bürger kann durch seine
Wahlentscheidung im Augenblick kaum etwas bewegen,
was die europäische Rechtsetzung anbetrifft.
Stichwort Demokratie. 80 Prozent der Gesetzgebung
auf europäischer Ebene erfolgen in so genannten Beamtenausschüssen - die Insider wissen das, kaum einer
spricht das an - im Umlaufverfahren unter Ausschluss
der Öffentlichkeit. Dies ist absolut inakzeptabel. Ich will
nicht auf die Rolle des EuGH beim Thema Frauen in der
Bundeswehr - ein eklatantes Beispiel - eingehen. Von
Demokratie ist die europäische Rechtsetzung weit entfernt.
({1})
Zweitens. Das Grundprinzip der Gewaltenteilung ist
nicht umgesetzt. Gewaltenteilung in der europäischen
Rechtsetzung widerspricht allen Grundregeln demokratischer Systeme. Der Rat ist Exekutive und Legislative.
Das wäre in einem Mitgliedstaat nicht möglich. Die
Kommission als Exekutive hat das alleinige Initiativrecht. Das wäre in einem Mitgliedstaat absolut unmöglich.
({2})
Ich möchte als drittes Kriterium das Stichwort Repräsentation aufgreifen. Wenn wir im Rat oder im Europäischen Parlament Mehrheitsentscheidungen, Mitentscheidungsrechte usw. fordern, Frau Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger, wenn das Europäische
Parlament wirklich die Vertretung der europäischen
Bürgerinnen und Bürger sein will und muss, dann müssen wir das Prinzip „One man, one vote“ auch dort
umsetzen. Aber Faktum ist: Ein deutscher Abgeordneter
vertritt 800 000 Wählerinnen und Wähler, ein Niederländer zum Beispiel vertritt 500 000. Wie ist das zu
rechtfertigen? Wir müssen die Proportionalität im Rat,
in der Kommission und im Europäischen Parlament
wahren.
Vierter Punkt: Transparenz und Öffentlichkeit.
Niemand von Ihnen und kein einziger Bürger oder Journalist in Europa ist in der Lage, das Zustandekommen
von Entscheidungen, Richtlinien oder Verordnungen im
europäischen Regelungswerk nachzuvollziehen. Damit
kann es auch nicht kontrolliert werden. Es kann keine
verantwortliche Zuweisung erfolgen. Das ist absolut
nicht akzeptabel.
Fünftens. Daraus erwächst das Problem der Akzeptanz. Ich erinnere an die Beteiligung bei den Wahlen
zum Europäischen Parlament.
Sechstens. Wir brauchen, was Kollege Altmaier gesagt hat, eine klare Abgrenzung der Kompetenzen und
das Strukturprinzip des Föderalismus. Die Proportionalität ist die Voraussetzung für Mehrheitsentscheidungen
und Mitentscheidungen.
Wir brauchen siebtens, wenn ich das sagen darf, eine
Debatte über die Finalität der europäischen Entwicklung, die über diese technischen Details hinausgeht.
({3})
Wo ist die europäische Vision für das neue Jahrhundert?
Die Idee von der europäischen Integration hat uns Frieden, Freiheit und Wohlstand für das 20. Jahrhundert gebracht. Wo ist die Vision, die uns darüber hinaus in das
21. Jahrhundert führt?
Da stellt sich natürlich die Frage im Zusammenhang
mit 25, 30 Mitgliedstaaten: Muss die Türkei Vollmitglied sein? Warum die Türkei? Ich bin der Meinung:
nein! Warum nicht die Ukraine? Warum nicht Israel?
Wo sind die Grenzen der Europäischen Union? Wo sind
die Wertefundamente der Europäischen Union? Gibt es
nicht auch eine andere Form der Kooperation in Europa,
von Sizilien bis Skandinavien, von Portugal bis Weißrussland, als den Weg der Vollmitgliedschaft?
Mir wird immer wieder bestätigt, auch von Regierungschefs, dass es leider zu spät ist; ein EWR Ost wäre
vermutlich der vernünftigere Weg gewesen. Auch bei
der Frage der Einbindung der Türkei stellt sich doch für
alle Bürgerinnen und Bürger und für uns die Frage: Ist
die Vollmitgliedschaft der richtige Weg? Ich meine:
nein.
Mir bleiben vier Minuten. Ich möchte die gestrige
Debatte aus dem Ausschuss aufgreifen. Ich bitte Sie aus
allen Fraktionen um Unterstützung oder Widerspruch.
Wir müssen diese Debatte führen über die Frage: Europa - wo bleibt der Deutsche Bundestag? Wir haben hier
eine Stunde Redezeit für diese zentrale, wichtige Frage.
({4})
Für den Sportbericht nachher stehen eineinhalb Stunden
zur Verfügung.
Wo bleibt also der Deutsche Bundestag in der europäischen Rechtsetzung? Das Bundesverfassungsgericht
hat in seinem Maastricht-Urteil festgelegt, dass sich
die Legitimation der europäischen Rechtsetzung in erster Linie über die Wahl des Deutschen Bundestages und
der anderen Parlamente in den Mitgliedstaaten durch die
Bürgerinnen und Bürger und sodann über die daraus resultierenden Wahlen der nationalen Regierungen, die im
Ministerrat mitwirken, ergibt. Das ist der Legitimationsstrang. Die erste Legitimation ergibt sich über uns, die
Parlamente der Mitgliedstaaten, und erst in zweiter Linie
- so das Bundesverfassungsgericht - ergänzend über die
Wahl des Europäischen Parlaments. Im Deutschen Bundestag müssen daher substanzielle Rechte verbleiben,
was Mitsprache und Kontrolle im Zusammenhang mit
der europäischen Gesetzgebung angeht.
({5})
Gestern hat mit Bundesaußenminister Fischer im Europaausschuss zum ersten Mal, wie ich meine, sich ein
Außenminister über die Frage Gedanken gemacht, wie
die nationalen Parlamente ihrer Rolle gerecht werden
können. Es ist eigentlich ein Armutszeugnis für das Parlament, wenn uns dies ein Außenminister servieren
muss.
({6})
Aber Respekt! Ich nehme es gerne auf, und wir sollten
mit ihm den Gedanken weiterentwickeln, wie wir die
Rolle der nationalen Parlamente in der europäischen
Rechtsetzung verstärken können.
({7})
Ich möchte diese Frage nicht nur aufwerfen, sondern
dazu sieben Punkte in die Diskussion einbringen:
Erstens. Den nationalen Parlamenten sollte auch im
Rahmen der Regierungskonferenz im sekundärrechtlichen Rechtsetzungsprozess künftig ein maßgebliches
Mitwirkungs- und Kontrollrecht zuerkannt werden.
({8})
Das heißt, bei grundlegenden Richtungsentscheidungen
des Ministerrates ist das Mitentscheidungsrecht der nationalen Parlamente vorzusehen.
Zweitens. Das Mitwirkungsrecht der nationalen Parlamente bei grundlegenden Richtungsentscheidungen
des Ministerrates könnte in der Weise erfolgen, dass
nach Einbringung einer Kommissionsinitiative im Rat
und der ersten Lesung keine Abstimmung im Ministerrat
erfolgen darf, bevor die endgültige Stellungnahme der
nationalen Parlamente dem Ministerrat vorliegt.
({9})
Das Votum der nationalen Parlamente sollte bindende
Wirkung für die Vertretung im Ministerrat haben.
({10})
- Ich bin gern bereit, im Ausschuss dies im Detail auszuformulieren.
Drittens. Die nationalen Parlamente sollten ein Klagerecht vor dem EuGH bekommen, welches die Durchsetzung ihrer Mitwirkungsrechte und des Subsidiaritätsgrundsatzes sicherstellt.
Viertens. Dem Deutschen Bundestag sollte ein Fragerecht bei den europäischen Institutionen eingeräumt
werden.
({11})
Es ist ja paradox, dass wir nicht einmal eine Frage an die
EU-Kommission richten können, sondern zu diesem
Zweck den Weg über den Europaabgeordneten gehen
müssen.
Fünftens. Bei der Regierungskonferenz 2000 sind
die Mitwirkungsrechte der nationalen Parlamente vertraglich abzusichern.
Sechstens. Im Zuge einer Parlamentsreform sind neue
Formen der Parlamentarisierung des EU-Prozesses
umzusetzen. Wir haben gestern im Ausschuss dazu einige interessante Ansätze diskutiert.
Siebtens. Wir brauchen eine Parlamentarisierung der
Gemeinschaft, weil wir die Legitimation über die nationalen Parlamente, über die Bürger brauchen.
Herr Außenminister Fischer, Sie haben nicht alle
meine Ausführungen vorhin gehört. Ich wollte das noch
einmal verdeutlichen.
Herr Kollege,
denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme zum
Schluss. - Wir sollten an das, was Sie gestern im Ausschuss angedeutet haben, parteiübergreifend anknüpfen
und vielleicht auch eine Enquete-Kommission oder eine
Expertenkommission einsetzen, die sich wirklich einmal
vertieft mit der Frage beschäftigt: Wie schaffen wir es,
den Deutschen Bundestag und die Mitgliedsparlamente
insgesamt in die europäische Rechtsetzung effektiver wirkungsvoller auch im Sinne unserer Bürger - einzubinden?
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Sterzing.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde die Vorschläge, die Kollege Müller gemacht hat,
durchaus diskussionswürdig. Allerdings muss ich daran
erinnern, dass Sie sich gestern im Ausschuss darüber beschwert haben, wie kompliziert die Entscheidungsprozesse innerhalb der Europäischen Union sind. Ob Sie
durch diese Vorschläge durchsichtiger und einfacher
werden, mag mit Fug und Recht bezweifelt werden.
({0})
- Nein.
Wir beschäftigen uns heute mit einem Ereignis, das
von der breiten Öffentlichkeit eigentlich kaum
wahrgenommen wird, der Regierungskonferenz. Noch
viel mehr im Verborgenen ist geblieben, dass in dieser
Woche die Beitrittsverhandlungen mit sechs weiteren
Kandidatenländern aufgenommen werden. Überdeckt
wurden diese beiden Ereignisse schließlich von einem
dritten Ereignis, von der Auseinandersetzung über die
Reaktion der 14 EU-Staaten auf die Regierungsbildung
in Österreich. Diese drei Ereignisse werfen zusammengenommen sehr grundsätzliche Fragen auf, fern aller
parteipolitischen Auseinandersetzung und fern allen innenpolitischen Streits zum Beispiel über die angemessene Reaktion auf die Regierungsbildung in Österreich.
Gerade wenn wir uns mit der Reaktion der 14 Mitgliedstaaten auf die Situation in Österreich beschäftigen,
stellen sich - darüber haben wir gestern diskutiert - folgende Fragen: Wie soll es mit der Integration weitergehen? Was verstehen wir unter einer Politischen Union?
Wie tief verändert sich durch die Entwicklung dieser Politischen Union auch das Verhältnis der Mitgliedstaaten
innerhalb der EU? Wie weit verschiebt sich die Grenze
zwischen Außenpolitik und europäischer Innenpolitik?
Müssen wir nicht das völkerrechtliche Gebot der Nichteinmischung in die so genannten inneren Angelegenheiten in einer Politischen Union neu definieren? Müssen
wir nicht auch den Begriff der Wertegemeinschaft, der
für unsere Europäische Union so prägend ist, neu konkretisieren? Wo liegen also die Grenzen dieses politischen Europas, die Grenzen der Vertiefung?
Um Grenzen geht es auch bei dem zweiten Ereignis,
bei den Beitrittsverhandlungen, von denen ich gesprochen habe. Es geht um die geographischen Grenzen Europas. Wo liegen diese Grenzen? Kann die EU unbegrenzt wachsen, ohne dass das, was bislang an politischer Integration erreicht ist, Schaden erleidet? Wird
sich der Charakter der Politischen Union notwendigerweise verändern müssen? Droht der Rückfall in eine europäische Freihandelszone?
Diese beiden Problemkreise, die Vertiefung und
Erweiterung, verschränken sich sozusagen im dritten
Ereignis, der Regierungskonferenz. Hier wird versucht
werden, auf einige Fragen, die sich in diesem ZusamDr. Gerd Müller
menhang stellen, Antworten zu geben, nämlich darauf,
was Vertiefung und Erweiterung für das institutionelle
Gefüge der Europäischen Union bedeuten.
Wir sagen - das ist sehr leicht dahingesagt -: Die EU
muss fit gemacht werden für die Erweiterung. Aber die
pragmatische Bescheidenheit, mit der wir die Tagesordnung dieser Regierungskonferenz behandeln, und die
begrenzte Reichweite dieser Reformen, auf die wir uns
jetzt auch schon einzustellen beginnen, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir uns mehr und mehr einem Wendepunkt der europäischen Geschichte nähern,
einem Wendepunkt, der uns zwingt, über die Perspektiven und Grenzen von Vertiefung und Erweiterung stärker nachzudenken und sie auch zu definieren.
({1})
Wir haben in den letzten Jahren immer sehr deutlich
gesagt, dass wir besser nicht über das Ziel reden, sondern einfach nach der „Methode Monnet“ vorgehen:
pragmatisch, einen Schritt nach dem anderen. Es stellt
sich die Frage, inwieweit wir am Ende der „Methode
Monnet“ angelangt sind, inwieweit wir die Debatte über
die Gestalt und Zukunft dieses Europas viel offensiver
führen müssen.
({2})
Sie wurde bislang tabuisiert. Ich glaube, es muss uns gelingen, diese Debatte parallel zur Regierungskonferenz
mit ihrer begrenzten Tagesordnung innerhalb, aber natürlich auch außerhalb des Parlamentes anzustoßen und
zu intensivieren. Denn anders wird es uns nicht gelingen, die Bürgerinnen und Bürger in Europa auf diesem
Wege mitzunehmen. Insofern müssen wir uns darum
bemühen - das hat die Kollegin LeutheusserSchnarrenberger ja auch angesprochen - die Tendenz
der Reduzierung der Tagesordnung im Hinblick auf die
europapolitische Debatte umzukehren. Wir müssen uns,
was das notwendige Maß an Kreativität, an Fantasie und
an Engagement für die europäische Debatte anbelangt,
sozusagen umgekehrt proportional verhalten.
Herr Kollege,
ich muss Sie auf die Zeit hinweisen.
Insofern sollten wir, glaube ich, diese Regierungskonferenz dazu nutzen, diese Debatte gemeinsam fortzuführen.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe
die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Eine
Abstimmung ist nicht vorgesehen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
9. Sportbericht der Bundesregierung
- Drucksache 14/1859 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({0})
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Einen
Widerspruch sehe ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Es handelt sich um den 9. Sportbericht.
Damit wahrt die Bundesregierung die Kontinuität hinsichtlich ihrer Sportberichte. Man sollte berücksichtigen,
dass es sich bei diesem Sportbericht um den Bericht der
alten Bundesregierung handelt. Sie sehen mir mit Sicherheit nach, wenn ich mich mehr auf die Aktivitäten
und Initiativen, die im Bereich des Sports unter der Ägide der neuen Bundesregierung ergriffen worden sind,
beziehe.
Deshalb mache ich jetzt einige Bemerkungen zur
Sportsituation in Deutschland insgesamt. Ich denke,
wir können stolz darauf sein, 87 000 Sportvereine mit
sage und schreibe 27 Millionen Mitgliedern zu haben.
Das ist ein gutes Zeichen. Wenn das fort- und weiterentwickelt wird, ist es gut. Denn der Sport übernimmt
auf vielfältige Weise eine soziale Funktion, die für den
Zusammenhalt unserer Gesellschaft von außerordentlich
hoher Bedeutung ist.
({0})
In diesem Zusammenhang möchte ich - weil mich meine Kollegin aus dem Bundesverteidigungsministerium
darauf hingewiesen hat - einmal auf die Leistungen im
Bereich des Sports durch die Bundeswehr und - das füge ich hinzu, Frau Kollegin - durch den Bundesgrenzschutz aufmerksam machen. Ich denke, in diesem Bereich wird eine hervorragende Arbeit geleistet.
Viele Leute reden über das Ehrenamt. Vielleicht wäre es besser, nicht so viel über das Ehrenamt zu reden,
sondern es zu praktizieren. An dieser Stelle möchte ich
all denjenigen ein ganz herzliches Dankeschön aussprechen, die ehrenamtlich in Sportorganisationen tätig sind,
insbesondere denjenigen, die sich auch heute noch für
die Arbeit im Jugendbereich des Sports zur Verfügung
stellen. Ihnen allen gebührt ein ganz besonderer Dank.
({1})
Die Bundesregierung hat handfeste finanzielle Entlastungen geschaffen, um das Ehrenamt zu stärken.
({2})
- Das sage ich: beispielsweise, dass die Übungsleitungspauschale ab Januar dieses Jahres um 50 Prozent
von 2 400 DM auf 3 600 DM angehoben worden ist
({3})
und dass zugleich der Kreis der Begünstigten über den
Kreis der Übungsleiter hinaus auf die Betreuer erweitert
worden ist. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sollten mit der Kritik vorsichtig sein. Das sind
Entscheidungen, die Sie jahrelang überhaupt nicht zustande bekommen haben.
({4})
Zudem können - anders als beim bisherigen Pauschalbetrag - von den Einkünften, die den Steuerfreibetrag
übersteigen, entstandene Kosten wie zum Beispiel
Fahrtkosten anteilmäßig abgesetzt werden. Ich denke,
auch das muss erwähnt werden.
Heute klagen auch vielfach Vereine des Breitensports, dass es immer weniger Menschen gibt, die sich
ehrenamtlich zur Verfügung stellen. Ich denke, dass das,
was auf den Weg gebracht worden ist, nämlich das arbeitsaufwendige so genannte Durchlaufspendenverfahren über Gemeindeverwaltungen und Stadtverwaltungen
abzuschaffen, eine gute Tat für die Sportvereine ist. Jetzt
können alle gemeinnützigen Vereine, auch Sportvereine,
Geldspenden unmittelbar entgegennehmen
({5})
und Spendenquittungen selbst ausstellen. Diese Maßnahme baut zugleich unnötige Bürokratie ab und wird
helfen, die Vereine finanziell zu stärken.
({6})
Auch ist es notwendig, deutlich zu machen, dass in
diesem Haushaltsjahr die Mittel für die Sportförderung
trotz schwierigster Haushaltslage erhöht worden sind,
nämlich um den Betrag von 41 Millionen DM. Die
Sportförderung hat jetzt das beachtliche Volumen von
fast 280 Millionen DM erreicht. In Anbetracht der
schwierigen Haushaltslage ist das ein sehr positives Ergebnis.
({7})
Wir haben eine Initiative mit dem Sonderförderprogramm Goldener Plan Ost vollzogen. Ich denke, dass
gerade auch für den Sportstättenbau in den neuen Bundesländern damit ein guter Ansatz gewählt worden ist.
Ich könnte mir vorstellen, dass sofort kritisiert wird,
dass das finanzielle Volumen noch größer hätte sein
können. Aber mit diesen 60 Millionen DM können wir
bis zum Jahre 2002 wesentliche Impulse auch für den
Sportstättenneubau in den neuen Bundesländern geben.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, festzuhalten,
dass zwar die Länder für den Breitensport und der Bund
für den Spitzensport zuständig ist, dass man dies aber
nicht trennen kann. Ich bringe das auf den einfachen
Nenner: ohne Breite keine Spitze, ohne Spitze keine
Breite. Deswegen gehören beide Komplexe zusammen.
({8})
Nur nebenbei möchte ich erwähnen, dass diese Bundesregierung mit der Zurverfügungstellung von insgesamt 200 Millionen DM für die Sanierung des Olympiastadions Berlin und des Leipziger Zentralstadions einen
ganz wesentlichen Beitrag für eine vielleicht erfolgreiche Bewerbung für die Fußballweltmeisterschaft 2006
leisten wird. Dieses große Ereignis würde uns gut anstehen. Hoffentlich gelingt es, das nach Deutschland zu holen.
({9})
Der Sportförderhaushalt 2000 gewährleistet auch,
dass Vorbereitung und Entsendung der deutschen Mannschaften zu den Olympischen Spielen und zu den Paralympics nach Sydney im vorgesehenen Umfang realisiert werden können. Das möchte ich hier noch einmal
festhalten.
Aber der Sport wird auch nicht umhinkönnen, sich zu
fragen, wo er sich effektiver und effizienter organisieren
kann. Ich bin dem Deutschen Sportbund sehr dankbar,
dass er sich konstruktiv an diesem Prozess beteiligt. Die
von ihm angeregte Konzentration, etwa zukünftig nur
noch einen speziell geförderten internationalen Hauptwettkampf in den einzelnen Sportarten pro Jahr durchzuführen, wirkt nicht nur finanziell entlastend, sondern
schützt auch die Athletinnen und Athleten vor den Gefahren einer permanenten gesundheitlichen Überforderung. Deswegen ist der Vorschlag nicht schlecht.
In solchen Maßnahmen liegt auch ein Ansatzpunkt
für konsequente Dopingbekämpfung, die zugleich
Grundvoraussetzung für staatliche Spitzenförderung ist.
In dieser Zielsetzung nämlich mit Nachdruck die humane Gestaltung des Leistungssports einzufordern, besteht
Grundkonsens zwischen allen im Deutschen Bundestag
vertretenen Parteien.
({10})
Unser Land belegt bei Dopingkontrollen weltweit einen führenden Platz. Dies hat die Jahresstatistik gezeigt,
die am 10. Februar dieses Jahres von der Anti-DopingKommission von DSB und NOK vorgelegt wurde. Insgesamt gab es mehr als 7 700 Dopingtests, davon 4 265
Trainingskontrollen. Die seit Bestehen des Dopingkontrollsystems höchste Anzahl gaben die im DSB zusammengeschlossenen Verbände 1999 in Auftrag. Wenn
man über dieses Thema redet, ist festzuhalten, dass lediglich 39 dieser Tests aus Wettkampf und Training positiv waren; das sind - um einmal die Relation deutlich
zu machen - 0,5 Prozent. Es ist ein gutes Zeichen, dass
trotz vermehrter Trainingskontrollen die Zahl positiv getesteter Sportler nicht gestiegen ist.
Intensivere Trainingskontrollen und verfeinerte Analysemethoden haben wohl zur verstärkten Abschreckung
geführt. Diese Entwicklung ist maßgeblich durch die Politik der Bundesregierung mitbestimmt worden. So wurden 1999 die Bundesmittel für die beiden deutschen Dopingkontrolllabore und für die Dopingforschung um
400 000 DM aufgestockt, nachdem wir den noch von
der alten Bundesregierung hierfür zunächst vorgesehenen Ansatz bereits um 100 000 DM erhöht hatten. Allein
in den Jahren 1999 und 2000 wird rund 1 Million DM
für Forschungen auf den Gebieten Wachstumshormone
und EPO bereitgestellt werden. Dies unterstreicht die
Entschlossenheit der Bundesregierung im Kampf gegen
Doping.
Mit dem Deutschen Sportbund und dem Nationalen
Olympischen Komitee weiß ich mich auch darin einig,
dass die gemeinsame Anti-Doping-Kommission von
DSB und NOK möglichst rasch zu einer eigenständigen
nationalen Anti-Doping-Agentur fortentwickelt wird.
Wichtig ist eine Zusammenführung des Sachverstandes,
wenn es darum geht, konkreten Anhaltspunkten für eine
Beteiligung des Athletenumfeldes an Dopingverstößen
nachzugehen. Die Einrichtung einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft ist dabei ein aus meiner Sicht Erfolg versprechender Ansatz.
Die Bundesregierung bekennt sich nachdrücklich zur
Förderung des Leistungssports der Behinderten, deren Leistungen nicht nur Anerkennung, sondern auch eine angemessene Darstellung in den Medien verdienen.
({11})
Behinderung ist nicht gleichbedeutend mit Leistungsminderung. Behindertensport trägt viel zu einer humanen Gesellschaft bei. Deswegen verdient er unsere Unterstützung.
({12})
Ein besonderes Anliegen ist in diesem Zusammenhang die Berichterstattung über den Behindertensport.
Gerade mit Blick auf die Berichterstattung über die Paralympics in Sydney im Oktober dieses Jahres appelliere
ich auch von dieser Stelle noch einmal eindringlich an
die Medien, den Behindertensport in Zukunft stärker zu
berücksichtigen.
({13})
- Sie können ja dazu beitragen, dass das erhört wird. Ich
bin sicher - das wird dann auch dem Breitensport der
Behinderten dienlich sein -, dass das Interesse durch eine verstärkte Darstellung in den Medien weiter steigen
wird, wenn beispielsweise von Sydney in den Fernsehprogrammen breit berichtet wird.
Mit der Fußballeuropameisterschaft steht uns in
diesem Jahr ein herausragendes Sportereignis bevor. Wir
freuen uns alle und hoffen, dass die deutsche Nationalmannschaft in den Niederlanden und Belgien entsprechend gut abschneidet.
({14})
Damit diese Europameisterschaft auch ein schönes,
großes und friedliches Fußballfest werden kann, bei dem
Spieler und Zuschauer nicht durch Randalierer oder gar
Kriminelle gefährdet werden, wird es eine umfängliche
Zusammenarbeit der Polizeibehörden aller beteiligten
Länder über die Grenzen hinweg geben. Gestern hat
Bundesminister Otto Schily mit seinen belgischen und
niederländischen Kollegen vereinbart, dass wir zur Verhinderung von Gewalt bei der Europameisterschaft 2000
sowie zur zügigen Ahndung eventueller Ausschreitungen eng zusammenarbeiten werden. Dies können wir nur
gemeinsam tun und wir hoffen, dass wir erreichen, dass
für Rowdys und Hooligans bei solchen Sportereignissen
kein Platz bleibt.
({15})
Die weitere Gestaltung der Spitzensportförderung
vonseiten der Bundesregierung ist eine Aufgabe mit
großer Tragweite. Ihre Auswirkungen gehen weit über
den engeren Sportbereich hinaus. Ein Engagement zum
Wohle des Sports sollte ein über alle Parteigrenzen hinweg einheitliches und verbindliches Ziel sein, dem wir
uns alle verpflichtet fühlen.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Riegert.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der 9. Sportbericht belegt mit Zahlen und Dokumenten die Zielsetzung und Leistung der
Bundesregierung bei der Förderung des Sports, vornehmlich des Spitzensports, in den Jahren 1994 bis
1997, zum Teil noch 1998.
Dieser Bericht ist eine Bilanz des Erfolges, der Zuverlässigkeit und der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Sport. Deutschland gehört zu den TopNationen des Spitzensports sowohl im Bereich der nicht
behinderten als auch der behinderten Sportler. Diese erfolgreiche Bilanz lässt sich an den Medaillenzahlen bei
den Olympischen Spielen und bei den Paralympics ablesen.
({0})
Diese erfolgreiche Bilanz lässt sich vor allem ableiten
aus der Breite, in der Spitzensport heute in Deutschland
erfolgreich gefördert wird.
Diese erfolgreiche Bilanz ist möglich, weil der deutsche Spitzensport über eine hervorragende Infrastruktur
an Trainings- und Wettkampfeinrichtungen verfügt und
die sportwissenschaftliche Forschung in den vergangenen Jahren vorangebracht worden ist. Wir verfügen heute über qualifizierte Trainer, unsere Athleten werden
sportmedizinisch und sozial gut betreut. Dies ist möglich
durch eine konsequente und verlässliche Förderung des
Spitzensports durch die früheren Bundesregierungen.
({1})
Der Vizepräsident des Deutschen Sportbundes traut unseren Athleten ein hervorragendes Abschneiden in Sydney zu, weil alle Koordinaten des Spitzensportkonzepts
stimmen. Wir wünschen unseren Athleten diesen Erfolg
als Ergebnis von jahrelangem, oft entbehrungsreichem
Training.
({2})
Es wäre deshalb fatal, junge Menschen durch Kürzung von Fördermitteln in ihrer Leistungsentwicklung
zu hemmen. Es wäre fatal, Spitzensport nur dort zu fördern, wo er international erfolgreich ist. Dies wäre eine
Rückkehr zur Förderpraxis des ehemaligen DDRSystems. Dort wurden nur die Bereiche des Spitzensports gefördert, die mit wenigen Mitteln sehr effektiv
und erfolgreich waren. Die Folgen sind bekannt: Wegbrechen der Breite des Spitzensports, Vernachlässigung
von Talenten, die nicht zu den förderfähigen Sportarten
gehörten.
({3})
Dies wollen wir nicht und dies hat die alte Bundesregierung stets verhindert. Sie hat in den vier Jahren des
Berichtszeitraumes von 1994 bis 1997 die Förderung des
Spitzensports auf einem sehr hohen Niveau gehalten.
Die Mittel für den Spitzensport sind in diesen Jahren
nicht angehoben, aber auch nicht abgesenkt worden.
Zum ersten Mal nun werden die Mittel für die Förderung
des Spitzensports im Haushalt 2000 drastisch gekürzt.
Da hilft, Herr Staatssekretär, auch kein Gesundrechnen.
Es ist unredlich, die Kosten für die Entsendung zu
den Olympischen Spielen und zu den Paralympics in
Höhe von 9,4 Millionen DM in die Fördermittel des
Sports hineinzurechnen.
({4})
Sie kürzen real die Leistungen für den Spitzensport um
8,2 Millionen DM,
({5})
und zwar im Bereich der Olympiastützpunkte und Bundesleistungszentren, für Wettkampf- und Trainingsmaßnahmen, für medizinische Versorgung der Spitzenathleten usw. Da können Sie herumrechnen, wie Sie
wollen. Ich schließe mich der Aussage des Präsidenten
des Deutschen Sportbundes an,
({6})
der Ihre Art des Rechnens und Ihren Haushalt schlicht
und einfach eine Mogelpackung nennt.
({7})
In dem Berichtszeitraum 1994 bis 1997/98 hat der
deutsche Sport seine Kooperation unter Beweis gestellt,
die Fördermittel des Bundes sparsam und effizient einzusetzen. Das nationale Spitzensportkonzept bewirkt eine Konzentration der Olympiastützpunkte und Leistungszentren, sieht doch das Förderkonzept 2000 Förderung nach Leistung vor; es setzt Qualifizierung von
Trainern voraus und betreibt gezielt Nachwuchsförderung.
Diese Konzeption ist nicht zum Nulltarif zu haben,
im Gegenteil. Internationale Konkurrenz nimmt zu, immer mehr Länder etablieren sich erfolgreich im Spitzensport. Es wird nicht gelingen, dieses international
hohe Spitzenniveau auf breiter Basis zu erhalten, wenn
die Bundesregierung die Fördermittel drastisch kürzt bei den Olympiastützpunkten, den Bundesleistungszentren, den Trainings- und Wettkampfmaßnahmen.
Sie wollen zusätzlich die Investitionen für Sportstätten im Spitzensport bis zum Jahre 2003 um 60 Prozent, von jetzt 68 Millionen DM auf 32 Millionen DM,
kürzen.
({8})
Wie wollen Sie eigentlich noch Sportstätten für den
Spitzensport finanzieren? - Schon heute gibt es eine
Bugwelle von Verpflichtungsermächtigungen für die
nächsten Jahre, und Sie wissen ganz genau, dass der
deutsche Spitzensport die ihm jetzt gekürzten Mittel aus
dem Investitionshaushalt herausschneidet. Wie wollen
Sie in drei oder vier Jahren noch Sportstätten für den
Spitzensport fördern, wenn Sie die Mittel so drastisch
kürzen?
({9})
Wir werden - dies sagen Experten - auf Dauer keine
Sportstätten und keine Trainingseinrichtungen mit einem
solch hohen internationalen Niveau mehr haben.
Der Aktivensprecher der deutschen Sportlerinnen und
Sportler hat bei der Anhörung im Sportausschuss zum
Thema Doping deutlich gesagt, sollten Sie es nicht gehört haben, können Sie es in seinem Statement nachlesen - :
Die sehr gute Infrastruktur des deutschen Sportes
darf nicht gefährdet werden, wenn unsere Sportler
international mithalten wollen, ohne auf illegale
Methoden, sprich: Doping, zurückgreifen zu müssen.
Diese Warnung der Aktiven sollten Sie ernst nehmen.
({10})
Deshalb fordere ich Sie auf: Kürzen Sie nicht. Bleiben Sie bei Ihrer früheren Aussage. Jede Mark, die dem
Sport entzogen wird, muss dreifach im sozialen Bereich
zugezahlt werden. Dies haben Sie uns im Sportausschuss immer wieder vorgehalten. Dies sollte für Sie
heute auch Gültigkeit besitzen.
({11})
Der Herr Minister - leider ist er vor Beginn der Debatte gegangen; ich weiß nicht, wohin er musste -
({12})
inszeniert sich ja gern selbst.
({13})
So hat er zu Recht darauf hingewiesen, dass die Einheit
im Sport hervorragend und beispielhaft gelungen sei.
Nur, der Herr Minister schmückt sich mit fremden Federn. Er hat dazu nichts, aber auch gar nichts beigetragen.
({14})
Mit 665 Millionen DM hat die Bundesregierung bis
1998 den Aus- und Neubau von Spitzensporteinrichtungen in den neuen Ländern gefördert. Wo sind Ihre Mittel
für die zusätzliche Förderung des Spitzensports?
({15})
Sie gefährden durch Ihre Haushaltspolitik diese Leistungen.
Zu Beginn seiner Tätigkeit hat sich der Minister in
Dopingaktionismus und in geradezu hysterischer Überbewertung von Einzelfällen geübt.
({16})
Manchmal hatte man den Eindruck, als wimmle es in
seinen Vorstellungen geradezu von gedopten Sportlern.
({17})
Diese Aufregung hätte er sich sparen können. Er hat in
Sachen Doping ein gut bestelltes Haus vorgefunden.
({18})
Wir haben das Arzneimittelgesetz geändert. Er will oder
wollte - man weiß es nicht genau - ein eigenständiges
Antidopinggesetz, wir nicht. Die Sachverständigen geben uns Recht. Das deutsche Dopingkontrollsystem
funktioniert sehr gut. Der Herr Staatssekretär hat es auch
ausgeführt. Es arbeitet effektiv und die Abschreckung
funktioniert. Von 7 726 Kontrollen - Wettkampf und
Training - waren 39 positiv, davon 14 in einer Kraftsportart. Dies sind weniger als 0,5 Prozent der untersuchten Proben. Das ist erfolgreiche Prävention und Dopingbekämpfung und ein Verdienst der alten Bundesregierung.
({19})
Der Leiter des Dopingkontrolllabors in Köln warnt
vor einer Dopinghysterie und gibt Ihnen, Herr Minister
und Herr Staatssekretär, Hausaufgaben auf.
({20})
Wir brauchen eine kontinuierliche Erhöhung der Zahl
unangemeldeter Trainingskontrollen von 4 000 auf
6 000, um auch die C- und D-Kader im Nachwuchsbereich stärker zu erfassen.
({21})
Wir brauchen eine unabhängige Antidopingagentur.
Stellen Sie hierfür Mittel bereit!
({22})
Wir brauchen auch mehr Mittel für Dopingforschung
und -analytik.
({23})
Sie dagegen kürzen die Mittel.
Ihre Behauptung, Sie gäben mehr Mittel für die Dopingbekämpfung aus, wird durch die Zahlen des Haushaltes widerlegt. 1998 gab die Bundesregierung für die
Förderung der sportwissenschaftlichen Forschung und
die Durchführung der Dopinganalytik 5,86 Millionen DM aus. 1999 waren es noch 5,094 Millionen DM.
Im Jahre 2000 sind es nur noch 4,498 Millionen DM.
Sie haben diesen Bereich von 1998 bis 2000 um rund
12 Prozent gekürzt. Das sind über 600 000 DM. In welchen Bereichen der Forschung wollen Sie sonst kürzen,
wenn nicht im Dopingbereich, etwa bei der Forschung
im Bereich des Behindertensports? Sagen Sie uns das!
Das würde uns interessieren.
Ihre Aktivitäten in Sachen Doping beschränken sich
auf Drohgebärden: Dies geht vom Entzug der Fördermittel über Verschärfung der Gesetze,
({24})
über den juristischen Flop mit der Androhung einer
Mindeststrafe von zwei Jahren bei Ersttätern bis hin zum
Olympiaboykott. Aber Drohgebärden ersetzen keine
Sachpolitik. Wir, aber vor allem der Sport, erwarten von
Ihnen sachliche, konstruktive und kontinuierliche Arbeit. Aber die ist beim besten Willen nicht zu erkennen.
Wenn Sie in Sachen Doping hohe Anforderungen an andere stellen, dann müssen Sie auch die erforderlichen
Haushaltsmittel bereitstellen. Diese verweigern Sie. Wir,
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, fordern ein Forschungsprogramm zur Dopingbekämpfung.
({25})
Auch im Bereich des Behindertensports müssen Sie
sich an den Leistungen der Vorgängerregierung messen
lassen. In den letzten Jahren haben sich die Leistungen
im Bereich des Behindertensports geradezu explosionsartig entwickelt. Immer mehr Nationen schicken
Athleten zu den Paralympischen Spielen. Es wird deshalb zukünftig von herausragender Bedeutung sein, den
behinderten Sportlerinnen und Sportlern die gesamte
Infrastruktur des Spitzensports zur Verfügung zu stellen.
Dies sind wir den Behinderten schuldig.
({26})
Behinderte müssen kurze Wege zu den Trainingsund Wettkampfeinrichtungen haben. Darauf sind sie
mehr angewiesen als andere Sportler. Tägliches Training
ist auch bei unseren behinderten Spitzensportlern zukünftig gefragt, damit sie international konkurrenzfähig
bleiben können.
({27})
- Hören Sie bitte zu! Ich bin gerade dabei, dies zu erklären.
({28})
Lesen Sie den Sportbericht! Dort steht, dass wir den behindertengerechten Ausbau und Zugang zu den Einrichtungen des Spitzensports auf den Weg gebracht haben.
Setzen Sie diesen erfolgreichen Weg fort
({29})
und kürzen Sie nicht willkürlich bei Olympiastützpunkten und Leistungszentren!
({30})
Wir wollen, dass den behinderten Leistungssportlern das
gesamte Leistungsangebot der Olympiastützpunkte und
Leistungszentren zur Verfügung steht.
Sie verhindern dies durch Ihre Kürzungen.
Ziehen wir das Fazit des 9. Sportberichts für die Jahre
von 1994 bis 1998: hervorragende Leistungsbilanz für
den deutschen Sport, Kontinuität und partnerschaftliche
Zusammenarbeit mit dem deutschen Sport. Trotz angespannter Haushaltslage hat der Spitzensport bei der alten Bundesregierung einen hohen Stellenwert gehabt.
({31})
Spitzenleistungen - auch im Sport - sind kein Selbstzweck. Spitzenleistungen sind Voraussetzungen für eine
gesunde Breite und umgekehrt. Deshalb sind die Mittel
für den Spitzensport nicht gekürzt worden. In der Bewertung von Leistungen für unsere Gesellschaft liegt der
wesentliche Unterschied zu der neuen Regierung. Spitzensport und damit Spitzenleistungen scheinen für Sie
Luxus zu sein, bei dem man ruhig sparen kann. In diesem Sinne äußerte sich der sportpolitische Sprecher der
Grünen im Sportausschuss des Bundestages.
({32})
Dementsprechend ist Ihre Bilanz: Unzuverlässigkeit,
drastische Kürzungen im Spitzensport und Unklarheit.
Trotz aller Differenzen, die es naturgemäß gibt, sind
wir zu einer fairen und konstruktiven Zusammenarbeit
bereit. Wir werden Sie daran messen, ob Sie dem Sport
die erforderlichen Mittel zur Verfügung stellen. Wir
werden Sie daran messen, ob Sie alle Voraussetzungen
für Sportlerinnen und Sportler aufrechterhalten, eine faire Chance im internationalen Wettbewerb zu haben. Wir
werden Sie auch daran messen, ob Sie Talente in der
ganzen Breite des Spitzensports fördern.
Noch ein Wort zum Minister. Das Vorwort des
9. Sportberichtes strotzt vor vollmundigen Ankündigungen, die ein sportpolitisch neues Zeitalter prophezeien.
Leider können wir nicht erkennen, wer hier so tönt. Wir
nehmen aber an, dass es der Herr Minister ist, der dahinter steckt. Wenn das so ist, dann soll er sich dazu bekennen, dass er der Sportminister dieses Landes sein soll.
({33})
Mir stellt sich oft die Frage: Haben wir überhaupt einen Sportminister? Seine Abwesenheit heute spricht eine deutliche Sprache.
({34})
Herr Staatssekretär, richten Sie bitte Herrn Schily
aus, er solle das Vorwort des Sportberichtes unterschreiben, er solle sein Konterfei dem Bericht hinzufügen und
diesen Bericht als Broschüre herausgeben. Auch alle
seine Vorgänger haben dies bei einem Regierungswechsel so gehalten. Wir versichern Ihnen: Sein Vorwort und
sein Konterfei interessieren nicht; doch der Bericht ist
für Sportinteressierte sehr interessant.
({35})
Jetzt hat der
Abgeordnete Winfried Hermann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Sportfreunde, liebe Sportfreundinnen!
({0})
Kollege Riegert, sehen Sie es etwas lockerer und
nicht ganz so verbiestert, wenn Sie über Sport reden.
Behalten Sie ein bisschen die Lockerheit, die Freiheit
und die Leichtigkeit des Sports auch in Ihren Reden; das
würde die Sache auch in der Debatte etwas einfacher
machen.
({1})
Ich möchte meine Rede gern mit einer kleinen persönlichen Anekdote beginnen. Als ich - Sie verzeihen
mir, dass ich so persönlich werde - vor 15 Jahren zum
ersten Mal in einem deutschen Landtag, nämlich in dem
von Baden-Württemberg, zur Sportpolitik gesprochen
habe, bin ich mit Rollschuhen angereist.
({2})
Danach bin ich häufig auch mit dem Rad gekommen.
Damals waren Rollschuhe die totale Sensation und
das Rad war wie eine Provokation. Heute kommen ausgewachsene Abgeordnete - übrigens aus Ihrer Fraktion - auf Tretrollern. Ich sage das nicht, um die Kollegen
lächerlich zu machen; vielmehr ist das heute sozusagen
Zeitgeist. An schönen Tagen gibt es heute schon
Schwierigkeiten, einen Fahrradparkplatz zu bekommen,
({3})
weil so viele Abgeordnete, sogar ehemalige Minister
und Noch-Minister, Rad fahren.
Warum erzähle ich das? Es ist zum einen Ausdruck
dafür, dass die politische Klasse, die vor 15 Jahren eher
dickbäuchig-männlich war, heute eher sportiv ist und
selbst ein ganz anderes Leben als damals lebt.
({4})
Sportpolitiker sind tatsächlich auch aktive Sportler.
Das ist gut so. Es ist aber auch ein Stück weit Ausdruck
einer Veränderung der gesamten Gesellschaft. Heute ist
Sport weit mehr Teil des Alltags. Der Sport ist weit
mehr in die Breite der Gesellschaft gegangen. Sport ist
nicht nur Sport in der Sportstätte; vielmehr ist Sport tatsächlich auch sportives Handeln im Alltag.
Der Sportbericht selber ist, wie ich meine, ein schöner Spiegel der ganzen Vielfalt des Sports in unserer
Gesellschaft während der letzten Jahre. Er ist hinsichtlich der aufgezeigten Facetten durchaus interessant. Es
wird deutlich, dass Sport auch im Sportverein nicht nur
der „kleine Hochleistungssport“ ist, sondern auch eine
ganz eigene Sport-, Spiel- und Bewegungskultur, die einen eigenständigen Charakter hat. Insofern widerspreche
ich übrigens auch den beiden Vorrednern. Für mich ist
der Breitensport nicht nur der untere Teil des Hochleistungssports, sondern stellt eine eigenständige Bewegungskultur in der Gesellschaft dar.
({5})
Sportpolitik muss von daher breiter gedacht werden,
sie kann sich nicht nur auf herkömmliche Sportförderung und insbesondere auf Spitzensportförderung konzentrieren. Trotzdem ist und bleibt diese wichtig. Da
Sie, Kollege Riegert, ja immer wieder gerne meinen
Ausspruch zum Spitzensport zitieren, sage ich es gerne
auch an dieser Stelle: Wir haben ein sehr gut ausgestattetes System. Es ist das System eines reichen Landes,
das sich ein gutes bis luxuriöses Sportleistungssystem
leistet. Dafür müssen wir uns nicht schämen. Aber diese
Gesellschaft braucht das eigentlich nicht unbedingt,
sondern sie leistet es sich. Das halte aber auch ich für
gut.
Wenn wir uns den Sportbericht anschauen, finden wir
eine sehr beeindruckende Darstellung dessen, was Sie in
Ihrer Regierungszeit alles geleistet haben.
({6})
Wir können sagen, dass wir in der Bundesrepublik hervorragende Trainingsmöglichkeiten und fachlich sehr
gut qualifizierte Trainer sowie hervorragende Olympiastützpunkte und Leistungszentren zur Sportförderung
haben. Es gibt auch eine exzellente Förderung des
Sports im Rahmen der Bundeswehr und des Bundesgrenzschutzes, wodurch es gelingt, einerseits berufliche
Qualifizierung und andererseits Förderung sportlicher
Leistung miteinander zu verbinden. All das verdient Anerkennung. Sie haben uns in dieser Hinsicht durchaus
ein gut bestelltes Haus hinterlassen. Wir werden das
aber auch weiterführen.
Sie brauchen jetzt nicht anzufangen, über das zu
jammern, was wir alles kaputtmachten - das tun Sie ja
schon die ganze Zeit im Sportausschuss -, sondern
schauen Sie sich doch einmal die Haushalte der letzten
zwei Jahre an: von wegen „alles gestrichen“. Auch wenn
wir in allen Bereichen sparen mussten, haben wir die
Sportförderung auf höchstem Niveau erhalten und haben
für die Olympischen Spiele sogar eins drauflegen können.
({7})
Wir werden weiterhin alles tun, damit wir in diesem Bereich Spitze bleiben. Es kann aber durchaus sein, dass
man da und dort im Sportsystem nachschaut, ob alles
wirklich effizient ist oder ob nicht da und dort zu viel
nebeneinander und parallel gearbeitet wird und Geld herausgeht, das man sparen könnte. Auch das muss möglich sein.
Ein nächster Punkt, bei dem in den letzten Jahren
wirklich Vorbildliches geleistet wurde, ist der Behindertensport. Es wurde viel für den Behindertensport
und den Leistungssport von Behinderten getan. Ich finde
es ausgezeichnet, dass wir es geschafft haben, nicht mit
zweierlei Maß zu messen, sondern beide Bereiche nach
denselben Kriterien zu fördern. Das ist ein Gebot der
Fairness und gute Politik. Diese Politik werden wir fortsetzen.
Ich habe bei der Anhörung zum Behindertensport gelernt, dass man in diesem Bereich durchaus auch noch
etwas verbessern kann, etwa den Transfer. Sehr beeindruckt hat mich, dass zwischen dem Hochleistungssport
von Behinderten und dem von Nichtbehinderten ein reger Austausch in den Zentren besteht und dass zum Teil
in den technisch-wissenschaftlichen Abteilungen dieser
Zentren Prothesen entwickelt werden, die auch für den
alltäglichen Breitensport von Behinderten taugen. Ich
würde mir wünschen, dass hier ein Transfer in die Gesellschaft hin zu den Behinderten stattfindet, die Breitensport betreiben.
Ich komme nun zu einem Bereich, der mir große Sorgen bereitet. Ich finde, dass man in dieser Frage nicht so
polemisieren darf, wie Sie es, Herr Riegert, getan haben.
Wir sollten darüber gemeinsam weiter nachdenken. Ich
rede von Doping. Doping ist
({8})
nach wie vor trotz der geringen Zahlen, die wir bei Proben finden, neben der totalen Kommerzialisierung des
Sports die größte Bedrohung des Sports überhaupt.
({9})
Das gilt nicht nur, weil Doping eine Gefahr für Leib und
Leben mit sich bringt und wir auch immer wieder feststellen müssen, dass Sportler in jungen Jahren aufgrund
von Dopingmissbrauch plötzlich sterben oder schwer
erkranken, sondern auch, weil durch solche Manipulationen des Körpers das Leitbild des Sports, nämlich Fairness und fairer Wettkampf, im Grunde genommen ad
absurdum geführt wird. Dem fairen Wettkampf wird sozusagen faktisch die Manipulation entgegengestellt.
Dem Leitbild des Sportes, Gesundheit zu schaffen, wird
die Maxime entgegengesetzt: Es ist völlig egal, was mit
dem Körper geschieht, Hauptsache gewonnen. Das ist
die völlige Untergrabung des sportlichen Ideals und insofern eine schwerwiegende Bedrohung des Sports.
Wir dürfen nicht müde werden, Doping mit allen uns
zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen und tatsächlich ernsthaft zu suchen, wo das bisherige System
Lücken hat und wo es verbessert werden muss.
Lange Zeit hieß es: Doping ist wie eine Hydra; wenn
man ein Mittel verbietet, kommt ein anderes zum Vorschein. Daraus hat sich eine fatale Haltung - bisweilen
auch in der Politik - abgeleitet. Man hat gesagt: Da kann
man sowieso nichts machen; das gehört halt irgendwie
zum Leistungssport.
Ich bin froh, dass es hier in den letzten Jahren zu einem völligen Umdenken gekommen ist. Heute sagt im
Sportausschuss kein Mensch mehr so etwas. Auch in
den Medien herrscht eine ganz andere Grundstimmung.
Die Politik, die Wissenschaft, die Medien, aber auch der
Sport selber sagen: Wir müssen dieses Dopingelend gemeinsam mit allen Mitteln bekämpfen. - Das ist meines
Erachtens die einzige Chance, zu verhindern, dass aus
dem Sport ein Festival der chemiegesteuerten Giganten
wird. Das wäre fatal.
Ich möchte übrigens ausdrücklich dem Innenminister - ich hätte es ihm gerne persönlich gesagt - dafür Dank sagen, dass er den Mut gehabt hat, die Laisserfaire-Haltung der alten Innenminister nicht weiter zu
pflegen, sondern zu sagen: Dort, wo der Sport versagt,
dort, wo auch aus dem Sport selber Stimmen kommen,
die den Staat, der den Sport fördert und unterstützt, um
Hilfe bitten, greifen wir ein, ohne die Autonomie des
Sports zu gefährden.
({10})
Ich meine, der Sport hat in der Politik durchaus einen
guten Partner. Wir in der Politik haben auch eine eigenständige Verantwortung.
In der Anhörung ist deutlich geworden: Der Kampf
gegen Doping ist schwierig, aber nicht aussichtslos. Mit
einem konsequenten Kontrollsystem im Training ist
viel zu machen. - Herr Riegert, ich kann Ihnen versichern: Es wird da keine Kürzungen geben. Im Gegenteil
werden wir dafür sorgen, dass dieses System eher verbessert als verschlechtert wird.
Die Anhörung hat auch deutlich gemacht, dass wir
weiter arbeiten müssen. In der Exekutive bestehen offensichtliche Lücken. Zollpolizei und Staatsanwaltschaft
erfahren eher zufällig vom Schmuggel von Dopingmitteln. Sie erinnern sich vielleicht an die Beispiele, die da
genannt wurden: Hunderttausende Medikamentenpackungen wurden in wenigen Taschen über die Grenzen transportiert.
Neu ist - jedenfalls wird es von der Öffentlichkeit als
neu wahrgenommen -, dass diese Dopingmittel nicht alleine im Spitzensport Verwendung finden, sondern zunehmend auch im Breitensport, in den Fitnessstudios.
Man hat ausgerechnet - ich habe mir heute eine neuere
Untersuchung aus Lübeck angeschaut -, dass vermutlich
an die 300 000 Menschen regelmäßig ihren Körper in
Fitnessstudios anabolisch behandeln. Diesen Punkt müssen wir unbedingt in den Fokus unserer Bemühungen
nehmen. Ich glaube, die bisherigen gesetzlichen Regelungen reichen hier nicht aus. Wir werden noch abwarten und schauen, was die Verbesserung im Arzneimittelgesetz bringt. Aber ich persönlich glaube, dass das
Gesetzeswerk, das wir jetzt haben, nicht ausreicht und
dass wir erstens eine nationale Antidopingagentur und
zweitens eine gesetzliche Grundlage dafür brauchen,
auch und nicht zuletzt um das Doping im Breitensport
zu bekämpfen.
({11})
Ich komme nun zu einem ganz anderen Bereich, zum
Breitensport, dem wir uns im Koalitionsvertrag verpflichtet haben. Sie haben das sehr aufmerksam verfolgt:
Wir haben uns im Koalitionsvertrag verpflichtet, neben
dem Spitzensport zukünftig auch den Breitensport stärker zu fördern, ihn gewissermaßen gleichartig zu behandeln. Damit tragen wir der Tatsache Rechnung, dass der
Sport sich verändert hat und nicht nur der Spitzensport,
sondern gerade auch der Breitensport für uns als Gesetzgeber interessant ist.
Es muss uns interessieren, was im Bereich des Sports
im Sinne von Gesundheitsförderung geschieht. Es muss
uns interessieren, wie Sport Lebensstile prägt und entwickelt. Das ist auch für den Nationalstaat von Bedeutung, wenn wir über Entwicklungskonzepte, über
Verbrauch und Konsumverhalten oder beispielsweise
über die Gesundheitsreform nachdenken.
Insofern glaube ich nicht, dass das alte System trägt,
wonach die Kommune für den Breitensport, das Land
für den Schulsport und der Bund für den Spitzensport
zuständig ist. Wir müssen da zu einer sinnvollen VerWinfried Hermann
schränkung, zu einer ganzheitlichen Betrachtung auf allen Ebenen kommen. Wir müssen auf Bundesebene ein
neues Breitensportförderkonzept erarbeiten, in dem
wichtige Fragen geklärt werden, beispielsweise: Wie
können wir Gruppen, die ausgegrenzt sind, an den Sport
heranführen? Wie können wir etwa Senioren und Frauen
besser in den Sport eingliedern? Welche Arten von
Spiel- und Bewegungskultur müssen wir im Sinne der
Gesundheit fördern?
Damit bin ich bei einem weiteren wichtigen Punkt,
der Gesundheitspolitik. Aus unserer Sicht war es ein
Riesenschritt, dass wir es im Rahmen der Gesundheitsreform endlich geschafft haben, § 20 des Sozialgesetzbuches V zu korrigieren und im Rahmen dieser Änderung die primäre Prävention zu fördern.
({12})
- Für sinnvolle Maßnahmen der Gesundheitsprävention
und nicht zum Beispiel für einen Segeltörn.
Die alte Koalition hatte leider diese Regelung gestrichen. Wir haben es jetzt geschafft, pro Versicherten pro
Jahr fünf Mark dafür bereitzustellen. Das sind im ersten
halben Jahr 170 Millionen DM und im zweiten Jahr
schon 350 Millionen DM. Das ist eine Menge Geld, mit
dem sich der Sport an der Gesundheitsförderung beteiligen wird. Der Sport wird dadurch seinen Beitrag zur
Gesundheitsförderung leisten. Das ist gut so.
({13})
Nun können Sie natürlich wieder jammern und sagen:
Gemessen an den hohen Kosten des Gesundheitssystems
ist dieser Beitrag zu gering; da haben Sie vollkommen
Recht. Aber Sie haben einst diese Regelung gestrichen.
Wir haben sie wieder eingeführt und werden dafür
kämpfen, dass dieser Beitrag systematisch erhöht wird,
weil wir wissen, dass die beste Sparpolitik für die Krankenkassen eine gute Primärprävention durch Sport ist.
({14})
Sportpolitik im neuen Sinne muss auch neue Sichtweisen haben. So ist es zum Beispiel dringend notwendig, dass wir darüber nachdenken, wie wir außerhalb der
Sportstätten dafür sorgen, dass Menschen zur Bewegung, zur sportlichen Aktivität angeregt werden. Ich sage immer: Ein guter Sportpolitiker ist zugleich ein guter
Stadtpolitiker, ein guter Architekt; denn er muss sich
darüber Gedanken machen, wie er die Stadt, die Kommune und den nahen Wohnort so gestalten kann, dass
sie spiel- und bewegungsfreundlich sind, sodass Kinder
und Menschen jeden Alters zur Bewegung angeregt werden. Sie dürfen aber nicht in Gefahr sein, wenn sie zum
Beispiel mit dem Fahrrad fahren. Es müssen also Räume
geschaffen werden, in denen man sich frei, sicher und
spielerisch bewegen kann.
Das ist eine neue Qualität, von der ich glaube, dass
der Bund diesbezüglich eine Leitbildfunktion hat. Wir
müssen auf der Bundesebene beispielhaft für die Länder
und für die Kommunen wissenschaftliche Modellstudien
anstoßen und müssen Modelle fördern und unterstützen.
Dies muss beispielhaft, aber nicht flächendeckend geschehen. Die Aufgabe des Bundes ist es nämlich,
beispielhaft auf Bundesebene auszuprobieren, was
andere dann nachmachen können.
({15})
Modellhaft in sozialer und ökologischer Hinsicht
muss etwa auch die Sanierung von Sportstätten mit guter Verkehrsanbindung durchgeführt werden. Modellhaft
müssen auch die Sportstätten in den neuen Bundesländern ausgebaut werden, von denen wir bewusst gesagt
haben: Im Zuge des Goldenen Planes Ost wollen wir
nicht einfach irgendwelche Sportstätten fördern, sondern
wir wollen auch neue sozialökologische Kriterien anlegen, damit nicht einfach so wie bisher weitergemacht
wird, sondern damit auch neue Gesichtspunkte berücksichtigt werden können.
({16})
- Wir haben Geld dafür bereitgestellt. Damit lösen wir
andere Investitionsströme aus. Ich denke, dass dies ein
guter Anfang ist. Wir hätten natürlich gerne mehr Geld
ausgegeben. Immerhin aber handelt es sich jetzt um
60 Millionen DM. Das ist weit mehr, als Sie uns zugetraut haben.
({17})
Ich komme zum Schluss. Ich glaube, es ist klar geworden, dass moderne Sportpolitik mehr sein muss als
herkömmliche Leistungssportförderpolitik. Sie muss
auch andere Felder berühren. Die Sportpolitik muss es
schaffen, dass diese Gesellschaft spiel- und bewegungsfreundlich ist, dass beispielsweise Gebäude, in denen
sich viele Menschen aufhalten, nicht ohne Umkleidekabinen und nicht ohne Möglichkeit zum Duschen gebaut
werden. Auch im Reichstag fehlt eine solche Möglichkeit.
Herr Kollege,
Sie müssen zum Schluss kommen.
Hier gibt es nämlich kein Studio und keine Dusche. Wir
sollten gemeinsam dafür eintreten, dass beispielsweise
auch hier im Reichstag die Bedingungen für Bewegung
und Spiel im Alltag besser werden.
Vielen Dank.
({0})
Jetzt spricht
der Abgeordnete Klaus Kinkel.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Im Sportausschuss des
Deutschen Bundestages, dem anzugehören ich seit kurzem die Ehre habe,
({0})
sind wir uns in den letzten Monaten sehr oft in der
Grundaussage einig gewesen: Deutschland muss eine
große Sportnation bleiben. Das muss unser Stolz und das
muss sozusagen auch Grundlage all unserer Anstrengungen sein.
Der Bund ist ja nur für den Spitzensport zuständig.
Dennoch möchte ich in den zehn Minuten, die mir heute
zur Verfügung stehen, einige grundsätzliche Ausführungen zu ein paar Fragen machen, die über die Zuständigkeit des Bundes hinaus gehen, weil ich das Gefühl habe,
dass es sich der Deutsche Bundestag nicht nehmen lassen sollte, über die Kernfragen des Sports zu sprechen,
auch wenn er nur für die Förderung des Spitzensports
zuständig ist.
Deutschland ist und bleibt eine große und wichtige
Sportnation. Ein großes Problem - ich will hauptsächlich auf Problemfälle eingehen - ist aber der Schulsport. Ohne guten Schulsport wird es in Deutschland
künftig keinen Leistungssport, keinen Spitzensport und
keinen Breitensport geben, und auch für den Behindertensport und dort, wo wir in anderen Sportbereichen Unterstützung brauchen, werden wir auf den Schulsport
angewiesen sein.
Wie sieht die Situation aus? 40 Prozent unserer 12jährigen Schüler haben Kreislaufprobleme, 30 Prozent
haben Haltungsfehler und 20 Prozent haben Übergewicht. Beim Schulsport in Deutschland - das muss man
klar und deutlich sagen - liegt einfach vieles im Argen.
({1})
Deshalb drängen wir auch darauf, dass wir zu Anhörungen kommen, obwohl die Kultusministerkonferenz erneut ein wenig bockt. Sie sollte für meine Begriffe froh
sein, dass sich der Sportausschuss des Deutschen Bundestages um dieses Thema kümmert.
({2})
In Deutschland haben wir ja derzeit die Situation,
dass die Elterngeneration einer Fitnesswelle huldigt und
in die Sportstudios rennt, während es beim Schulsport an
allen Ecken und Enden hapert. Es gibt in starkem Umfange Unterrichtsausfall. Die dritte wöchentliche Sportstunde fällt weitgehend weg. In einzelnen Bundesländern ist dies besser, in anderen schlechter. Bei den
Sportlehrern ist eine Überalterung zu verzeichnen, und
es gibt eine zu freizügige Vergabe von Attesten zur Befreiung vom Schulsport.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Niedergang des
Schulsports in Deutschland - das wird auch bei der
Anhörung herauskommen - ist eine gesundheitspolitische
Zeitbombe. Wir werden uns noch mächtig wundern.
({3})
Der alte Spruch „Der Alte joggt, der Junge hockt“ darf
nicht mehr gelten. Das hat natürlich auch ein wenig damit zu tun, dass wir unseren Kindern beim Hinübergleiten von der Industrie- und Produktionsgesellschaft in die
Informations- und Wissensgesellschaft so viele andere
Dinge bieten, dass das meiste von dem, was notwendig
ist, um insgesamt zu Leistungen zu kommen, leider Gottes unterbleibt.
Was mich besonders bedrückt - darüber haben wir im
Ausschuss schon öfter gesprochen - ist, dass es in
Deutschland zu wenig sportbetonte Schulen gibt. Es
sind, wenn ich es richtig im Kopf habe, 31 an der Zahl,
davon 21 in den neuen Bundesländern. Das ist für ein
Land mit 82,2 Millionen Menschen ein Witz. Ich habe
kürzlich meinem Ministerpräsidenten in BadenWürttemberg einen Brief geschrieben und habe gefragt:
Wäre es nicht gut, wenn unser Heimatland hier vorangehen würde?
({4})
Man schämt sich fast, dass ein Land wie BadenWürttemberg nur zwei sportbetonte Schulen hat. Wenn
man sich einmal ansieht, woher die Olympia- und die
Weltmeisterschaftskader kommen, dann stellt man fest:
Sie kommen natürlich aus den sportbetonten Schulen.
Hier sitzen einige, die dies erfahren haben und wissen,
dass wir die sportbetonten Schulen unterstützen und viel
mehr, als es bisher der Fall ist, antreiben müssen.
Nochmals: Die Kultusministerkonferenz sollte da
nicht bocken, sondern sollte auch joggen und zu uns in
den Sportausschuss des Deutschen Bundestages kommen.
({5})
Fußballweltmeisterschaft 2006: Es wird schwierig
sein. Gerade ich als früherer Außenminister weiß das.
Aber wir sollten uns gemeinsam anstrengen, um sie
hierher zu holen.
({6})
Man sollte auch sehen, was dies im Hinblick auf Werbeeffekte bedeuten würde, welchen Image - und auch welchen wirtschaftlichen Gewinn dies bringen würde. Die
Kosten, die dafür aufgewendet würden, wären gut angelegt.
Ich möchte auch noch einmal deutlich sagen - das
beziehe ich auch auf meine frühere Tätigkeit -: Ich habe
auf vielen Reisen erlebt, dass unsere Spitzensportler mit
weitem Abstand die besten Botschafter waren, die
Deutschland überhaupt haben kann. Insoweit bin ich vor
allem der Bundeswehr und dem Bundesgrenzschutz
dankbar, die den Spitzensport außerordentlich stark unterstützen. Dabei soll es auch bleiben.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Höhepunkt des
Sportjahres 2000 werden natürlich die Olympischen
Spiele und die Paralympics sein. Ich bin überzeugt davon, dass unsere Sportler dort gute Ergebnisse erzielen
werden. Darauf können wir hoffen und darauf können
wir auch stolz sein. Mich beunruhigt allerdings, dass wir
für unsere Mannschaft möglicherweise zu stark daran
festhalten, dass eine Chance auf die Endkampfteilnahme
ein strenges Nominierungskriterium ist. Sollten wir uns
als große und verhältnismäßig reiche Sportnation nicht
leisten können, bei jeder olympischen Sportart unseren
besten Sportler oder unsere beste Sportlerin zur Olympiade zu schicken? Das müsste doch eigentlich möglich
sein.
({8})
Meine Damen und Herren, man muss natürlich auch
über die Finanzierung, über das Geld sprechen. Geld
ist bei den Olympischen Spielen leider Gottes zum Faktor Nummer eins geworden. Das ist bedauerlich, es ist
aber so. Ich mache mir überhaupt große Sorgen um die
Denaturierung des Sports durch Geld. Bei vielen Sportarten sind auch durch Fernsehvermarktung exorbitant
hohe Summen im Spiel, so dass jede Verhältnismäßigkeit verloren gegangen ist.
({9})
Ob wir wollen oder nicht: Die Olympischen Spiele sind
nicht mehr die fröhlichen Jugendspiele, sondern es sind
teure Fernsehspiele geworden. Da muss man sich natürlich ein paar Gedanken machen. Zwei Gedanken will ich
hierzu kurz einführen: Könnten nicht Teile der vom IOC
durch Vermarktung der Spiele, insbesondere durch TVVermarktung, erzielten Gelder auch zur Finanzierung
der Teilnehmer an Olympischen und vor allem Paralympischen Spielen herangezogen werden? Ich bitte, das zu
überlegen.
({10})
Könnte die Industrie nicht etwas mehr die Olympiabeteiligung sponsern? Wäre es nicht möglich - das interessiert mich auch aufgrund meines früheren Amtes als
Justizminister sehr -, beispielsweise Patenschaften für
die Athleten aus Entwicklungsländern zu übernehmen?
({11})
Wenn wir von der Herrschaft des Geldes im Sport reden, dann sind wir zwangsläufig sehr schnell beim Doping. Warum? Weil die Zuschauer Höchstleistungen
erwarten und sich die Sportler selbst Höchstleistungen
zutrauen müssen, um mithalten zu können. Dann sind
wir bei der Geißel Doping. Ich nenne das „Geißel Doping“. Wir müssen uns natürlich überlegen, wie wir das
in den Griff bekommen können und wie wir das Dreckszeug wegbekommen, mit dem sich die Sportler im
wahrsten Sinne des Wortes aufpumpen. Der Sportausschuss hat hier wirklich gute Arbeit geleistet. Wir
waren in dem bekannten medizinischen Labor in Köln.
Wir haben uns auch in der Anhörung, die für meine
Begriffe sehr gut war, sehr intensiv mit dieser Frage beschäftigt. Als ehemaliger Justizminister bin ich für harte
Strafen. Dennoch glaube ich, dass trotzdem nur dort
gemacht werden sollten, wo sie unbedingt notwendig
sind. Was die Subsidiarität angeht, Herr Kollege, teile
ich Ihre Meinung. Es sollte bei der Autonomie des
Sports bleiben, soweit es nur geht. Wir brauchen dringend eine nationale Dopingagentur. Wir brauchen natürlich auch europäische Vorschriften auf diesem Gebiet.
Wir sollten uns anstrengen, dass die Sanktionierung auf
eine professionelle Ebene gehoben wird, was auch angesichts der hohen Verantwortung durch eventuelle Regressansprüche wichtig ist.
({12})
Der Kollege aus meiner Heimat Tübingen hat darauf
hingewiesen, dass in Sportstudios und Fitnesscentern
heute schon über 20 Prozent der Männer und fast
10 Prozent der Frauen Mittel zur Leistungssteigerung
nehmen. Solange das mit dem Arzneimittelgesetz in
Einklang steht, ist das kein staatliches Problem. Es wird
aber natürlich aus anderen Gründen ein staatliches Problem. Deshalb müssen wir uns Doping im Breitensport
genau ansehen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einen
Punkt aufgreifen, der die Sportmedizin betrifft. Bei der
Aufklärung von Dopingfällen spielen die Sportmediziner eine große Rolle. Sie sind mehr als Doping-Päpste.
Die medizinische Betreuung unserer Leistungssportler
ist gut. Von der Hochleistung in der deutschen Sportmedizin sollte aber stärker als bisher auch die breite Öffentlichkeit profitieren. Das Bindeglied, das Gelenk zwischen Sportmedizin und allgemeiner Medizin funktioniert noch nicht. Die Sportmedizin - ich schlage dies jedenfalls vor - sollte in die Approbationsordnung der
Ärzte aufgenommen werden.
({13})
Als jemand, der aus einer nicht ganz kleinen Arztfamilie
stammt und zunächst selber Medizin studiert hat, rege
ich an, dass eine Facharztausbildung für Sportärzte eingeführt wird, weil dies heute notwendig und richtig ist.
({14})
Goldener Plan Ost: Hier hat die Koalition den Mund
ein wenig voll genommen. Es ist nur wenig dabei herausgekommen. Natürlich kritisiere ich, wie der Kollege
Riegert, dass bei den Sportmitteln gekürzt wird. Ich
möchte das jetzt nicht mit Zahlen belegen. Ich appelliere
an die Koalition, besonders an die Kolleginnen und Kollegen im Sportausschuss, dass hier mehr als bisher getan
wird.
Dazu wäre einiges zu sagen.
Ich persönlich habe mich sehr für die Verankerung
des Sports in den Amsterdamer Verträgen eingesetzt.
Das ist uns in dieser schwierigen Nacht nicht so gelungen, wie wir es uns vorgestellt hatten. Aber ich meine
schon, dass wir alles tun sollten, damit der Sport in Zukunft im europäischen Vertragswerk verankert wird.
({15})
Zum Schluss ein Wort zu einem Gebiet, von dem die
Kollegen wissen, dass es für mich wichtig ist, nämlich
zum Behindertensport: Ich bin vor allem deshalb in
den Sportausschuss gegangen, um mich in besonderer
Weise für die behinderten Sportler einzusetzen. Warum?
Wir haben 5 bis 7 Millionen Behinderte in Deutschland,
aber lediglich 250 000 bis 300 000 Behinderte, die sich
in Behindertensportvereinen betätigen.
({16})
Die Zahl klingt sehr gering. Auf der anderen Seite müssen wir aber sehen, dass die Tendenz immer mehr zu integrierten Sportveranstaltungen geht. Ich möchte die
Kollegen, gerade die aus dem Sportausschuss, auffordern, dass sie, wenn sie um die Teilnahme an Sportveranstaltungen, um die Übernahme von Schirmherrschaften usw. gebeten werden, sagen: Wir kommen gern, aber
vor allem dann, wenn zum Beispiel im Tennis, in der
Leichtathletik usw. eine Behindertensportveranstaltung
integriert wird. Ich glaube, dass das ein gutes Beispiel
wäre.
({17})
Sie alle wissen, was es bedeutet, beispielsweise einen
Spastiker dazu zu bringen, dass er zusammen mit Spastikern Fußball spielt. Das tut er nicht, ohne dass man
ihm die Möglichkeit dazu gibt. Sie alle wissen, was es
bedeutet, Behinderten zu helfen, in einer schwierigen Situation durch Sport über manches leichter hinwegzukommen. Da muss eine gewisse Hemmschwelle überwunden werden. Dabei muss man helfen. Ich finde, es
ist des Schweißes der Edlen wert, dass sich unsere Gesellschaft um die Behinderten, die wir haben, mehr kümmert. Es ist schon vieles besser geworden, vor allem
auch bei geistig Behinderten, bei denen das natürlich besonders schwierig ist.
Ich habe insgesamt nicht den Eindruck, dass es bei
uns in Deutschland um die schönste Nebensache der
Welt, nämlich den Sport, schlecht steht. Das ist gut so.
Das verdanken wir vor allem den Millionen Aktiven und
Funktionären, die sich im und für den Sport engagieren.
Ein Lob auch all denen, die es wegen der Übernahme
eines Ehrenamtes verdienen, noch mehr hervorgehoben
und gewürdigt zu werden.
({18})
Politik sollte, kann und darf sich nur subsidiär, helfend, ergänzend einmischen. Für politische Grabenkämpfe bestehen im Sport nicht so viele Möglichkeiten - zum Glück!
Herr Kollege
Kinkel, Sie haben Ihre Redezeit schon lange überschritten.
Das ist minimal.
Nein, das ist ein
Langstreckenlauf, den Sie hier machen.
Geben Sie mir einen
zweiten Schuss Luft. Ich komme zum Schlusssatz.
Ich möchte die Diskussion des Sportberichts, der im
Wesentlichen der alten Koalition zugeschrieben wird,
zum Anlass nehmen, ein ausdrückliches Angebot zur
Zusammenarbeit im Interesse des deutschen Sports zu
machen. Ich habe in der relativ kurzen Zeit, in der ich im
Sportausschuss bin, den Eindruck gewonnen, dass jedenfalls der Spitzensport dort nicht schlecht aufgehoben
ist. Wir sollten uns noch ein bisschen mehr um andere
Bereiche kümmern dürfen und uns nicht kleinkariert mit
der Kultusministerkonferenz herumschlagen müssen.
Vielen Dank.
({0})
Nun gebe ich das
Wort dem Kollegen Gustav-Adolf Schur für die Fraktion
der PDS.
Herr Präsident! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Ein Sportbericht in einem
Parlament wie dem deutschen ist für die Sportler eigentlich eine gewaltige Sache, weil mit einem solchen Bericht zugleich die Leistung derer gewürdigt wird, die
draußen tätig sind,
({0})
von Millionen von Sportlern, die sich dafür interessieren, was sich hier im Bundestag tut. Die Ehrenamtlichen
sind genannt worden, deren Leistungen wir hier nicht
ermessen können. Deswegen hätte ich eigentlich erwartet, dass sich bei diesem Punkt, bei dem es grundsätzlich
um die Gesundheit der Bevölkerung geht, mehr Abgeordnete im Saal befinden. Das muss ich als ehemaliger
Aktiver schon sagen. Jedenfalls möchte ich mich bei den
Abgeordneten bedanken, die anwesend sind, aber auch
bei denen, die oben auf den Zuschauertribünen zuhören.
Herzlichen Dank!
({1})
Ein Sportbericht, selbst wenn ihn die Bundesregierung schreiben ließ, bietet viele Möglichkeiten zur Diskussion. Aber als ehemaliger Radrennfahrer habe ich gelernt, auf kürzestem Wege möglichst schnell zum Ziel
zu kommen. Deswegen halte ich mich kurz; ich versuche es zumindest. Ich lasse mich auch nicht über unsere
Olympiamannschaft und den Spitzensport aus. Darum
kümmern sich unsere Spezialisten; sie brauchen kaum
Tipps, weder von der Regierung noch von Abgeordneten.
Aber ich möchte einiges zum Goldenen Plan Ost sagen. Zunächst rufe ich kurz in Erinnerung, dass Mitte
der 50er-Jahre die Deutsche Olympische Gesellschaft
eine Riesenkonzeption auf den Weg brachte, den Goldenen Plan für Gesundheit, Spiel und Erholung. In einem
beispielhaften Gemeinschaftswerk von Bund, Ländern
und Gemeinden wurde dieser Plan in die Tat umgesetzt.
Von 1960 bis 1975 wurden für die Verbesserung der
Sportstätteninfrastruktur 17,4 Milliarden DM aufgebracht. Von 1976 bis 1991 sind nochmals 20 Milliarden
DM in die Sportstätten investiert worden. Nach der
Wiedervereinigung wurde auf Initiative des Deutschen
Sportbundes für die neuen Bundesländer der Goldene
Plan Ost konzipiert und mit der Bitte um zügige Umsetzung ohne Vorbehalte an die Politik übergeben. Eine
Wiederholung der enormen Leistungen von 1960 bis
1975 war gefordert.
Seither ist im Osten zweifelsohne viel erreicht worden. Durch das Investitionsförderungsgesetz und das
Sportstättenprogramm Goldener Plan Ost der neuen
Bundesregierung sind, wie heute schon ausführlich bemerkt wurde, bereits 1990 sichtbare Ergebnisse zu verzeichnen. Aber jeder von uns weiß - die einen sagen es,
die anderen reden drum herum und noch andere verschweigen es -, dass mit dem bisherigen Tempo die
schrittweise Angleichung der Lebensverhältnisse an das
Niveau der alten Länder nicht realisierbar ist.
({2})
Alle auch noch so lobenswerten Maßnahmen sind kein
adäquater Ersatz für den eigentlichen Goldenen Plan
Ost.
Die neuen Bundesländer benötigen eine wirkungsvollere Anschubfinanzierung. Zur berühmten Frage „Woher
nehmen?“ ein einfaches Rechenexempel: 15 Millionen
DM hat die Bundesregierung erstmals in den Haushalt
eingestellt. Das sind haargenau 14,4 Prozent der Kosten
eines einzigen Eurofighters, dessen Stückpreis
104,5 Millionen DM beträgt, wie wir kürzlich lesen
konnten. Da die Bundesregierung 180 dieser Todesengel
anschaffen will, betragen die Ausgaben für das Sportstättenprogramm Goldener Plan Ost also 0,08 Prozent
der Ausgaben für die Eurofighter. Ich denke, ein Kommentar ist hier überflüssig.
({3})
Zu meinem zweiten Anliegen: Am 30. September
machte ich hier an dieser Stelle einige Ausführungen
über Defizite in der sportlichen Ausbildung an unseren Schulen und wiederholte die Beschreibung dieser
Mängel im Dezember anlässlich des 30-jährigen Bestehens des Sportausschusses. Als wir den Saal verließen,
gab mir Herr Bundesminister Schily zu verstehen:
Herr Schur, der Schulsport ist nicht Ihre Sache. Er wollte mich wohl aufklären, dass Schulsport Ländersache
sei. Um ehrlich zu sein, das wusste ich.
({4})
Aber damit darf und werde ich mich nicht zufrieden geben. Ich sage auch, warum: Der Schulsport erreicht als
einzige Form des Sports grundsätzlich alle Kinder und
Jugendlichen. In ihm verwirklicht sich vordergründig
das sozialpolitische Ziel „Sport für alle“. In der Schule
wird das Fundament für sportliche Begeisterung oder
sportliche Antipathie gelegt. Ich verstehe es als unsere
moralische Pflicht, den Schulsport zu unserer Sache zu
machen.
({5})
Offene Ohren dafür gibt es in allen Ländern und Kommunen.
Der sportpolitische Sprecher der bayerischen SPDLandtagsfraktion, Wilhelm Leichtle, sagte auf einer Tagung am 25. Januar, dass, obwohl der Schulsport als Bestandteil der bayerischen Gemeindeordnung eine staatliche Aufgabe darstellt, der Schulsport in Bayern faktisch
am Ende sei, und bezog darin aus seinem Wissen das
Saarland ein. Die dritte Sportstunde ist selbst im „Ländle“ weggefallen und in mehreren Ländern nicht einmal
mehr Planansatz. Der Karlsruher Sportwissenschaftler
Professor Dr. Klaus Bös warnt vor einer gesellschaftlichen Zeitbombe. Er führt an, dass Kinder, die zu wenig
Bewegung haben und sich nicht ausreichend spielerisch
und sportlich betätigen können, später gesundheitliche
Probleme bekommen. Nüchtern formuliert: Deutschland
wird krank. Der Freiburger Professor Aloys Berg - Kollege Kinkel, hier haben wir dieselben Veröffentlichungen studiert - wies in Untersuchungen nach, dass
40 Prozent der zwölfjährigen Kinder bereits Kreislaufprobleme haben, jedes dritte Kind Haltungsfehler aufweist, jedes zweite Muskelschwächen hat und jedes
fünfte Kind übergewichtig ist. Weitere Negativerfahrungen: Viele Ärzte sind zu großzügig bei Attesten zur Befreiung vom Sportunterricht. Zunehmende Überalterung
der Sportlehrer signalisiert mit Deutlichkeit, dass sie den
gestellten Anforderungen eines modernen Sportunterrichts nicht mehr gewachsen sind.
Zu allem Übel führt der Sportwissenschaftler der FU
Berlin, Dr. Kuhlmann, aus, dass die Freie Universität
nach 50 Jahren ihres Bestehens beschlossen hat, sämtliche Studiengänge ihres Instituts für Sportwissenschaft
spätestens im Jahr 2001 auslaufen zu lassen.
Der Weltschulsportgipfel tagte im November bei
uns in Berlin. Die Präsidentin des Weltrates für Sportwissenschaft und Leibeserziehung, Frau Doll-Trepper,
stellte in Auswertung einer weltweiten Studie zum
Schulsport fest, dass die meisten Kongressteilnehmer
über den katastrophalen Stand im Schulsport, insbesondere in Deutschland, nicht informiert waren. Umso mehr
ist die Berliner Agenda des Weltschulsportgipfels auch
als ein Appell an die deutsche Regierung zu verstehen.
Sehr geehrter Herr Bundesminister Schily - schade,
er ist heute nicht hier, aber das Wort gilt ihm -, beim
Schulsport geht es um die Herstellung gleichwertiger
Lebensverhältnisse im Bundesgebiet, wie in Art. 72 des
Grundgesetzes nachzulesen ist. Eine bundesgesetzliche
Regelung ist im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich.
Durch konkurrierende Gesetzgebung sollte festgeschrieben werden, dass in allen allgemein bildenden Schulen
und Berufsschulen eine Mindestanzahl von drei Unterrichtsstunden Sport in der Woche gesetzlich verankert
wird.
({6})
Bis zur Realisierung des alten Traums von der täglichen
Sportstunde blieben noch genügend Freiräume. Aber der
erste Schritt von der Vision zur Gegenwartsaufgabe wäre getan.
Auch hier abschließend eine Bemerkung zur möglichen Finanzierung. Der ehemalige Präsident des Deutschen Sportlehrerverbandes, Hansjörg Kofink, sagte in
einem Interview:
Die großen Krankenkassen bieten längst Fortbildungen an - auch für Sportlehrer -, wie Jugendliche zeitgemäß, konditionell und koordinativ zu belasten sind. Die Konzerne haben Angst vor der
Kostenlawine, die auf sie zurollt.
Nutzen wir das Interesse der Konzerne! Jüngstes Beispiel: Telekom. 40 000 Schulen in Deutschland sollen
bis zum Jahr 2001 kostenlos mit Internetzugängen und
ISDN-Anschlüssen versorgt werden. Das Programm
kostet die Telekom jährlich circa 125 Millionen DM.
Werte Kolleginnen und Kollegen, potenzielle Partner
für die Bundesregierung hätte ich damit benannt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich gebe der Kollegin Dagmar Freitag für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In diesem Jahr ist der eher seltene Fall eingetreten, dass eine Bundesregierung einen Bericht über einen Zeitraum vorlegt, in dem sie in der Opposition war
und die Sportpolitik naturgemäß nur in beschränktem
Maße gestalten konnte. Heute sollte aber ganz sicher
nicht die Stunde sein, ausschließlich die Ergebnisse der
alten Bundesregierung zu diskutieren; denn wie vieles
andere sind diese bereits weitgehend Vergangenheit.
Dennoch lohnt sich rückblickend die eine oder andere
Anmerkung.
Meine Damen und Herren, die Förderung des Spitzensports - wir haben dies heute mehrfach gehört - ist
das Kernstück der Sportförderung durch das Innenministerium. Aber auch andere Ressorts - ich möchte ausdrücklich das Verteidigungsministerium nennen - tragen
in erheblichem und, wie ich finde, vorbildlichem Maße
zur Förderung des Spitzensports bei.
({0})
Im Zuständigkeitsbereich des Innenministeriums sind
vorrangig die zentralen Maßnahmen zu fördern: Lehrgänge, Trainingsmaßnahmen, Teilnahmen an nationalen
und internationalen Wettkämpfen, Finanzierung von
Leistungs- und Olympiastützpunkten sowie Leistungszentren.
Bekanntlich hat sich die Bundesregierung - dies dürfte Ihnen nicht entgangen sein - mit der zwingend erforderlichen Konsolidierung des Haushalts ein ehrgeiziges
Ziel gesetzt. Da verwundert es schon, Herr Kollege
Riegert, wenn Sie von einer Mogelpackung im Sporthaushalt sprechen. Vielleicht haben Sie vergessen, dass Ihre
Sporthaushalte weitgehend auf Pump finanziert worden
sind. Wir sind dabei, den Laden in Ordnung zu bringen.
({1})
Das führt - übrigens in jedem Ressort - dazu, lieb
Gewonnenes zu überprüfen, und, wenn es notwendig ist,
möglicherweise auch dazu, Prioritäten neu zu setzen.
Wir werden diese Diskussion im engen Dialog mit dem
Deutschen Sportbund führen. Ziel unserer Bemühungen
muss und wird es sein, unseren Athletinnen und Athleten bestmögliche Vorbereitungs- und Trainingsbedingungen zu bieten.
({2})
Ich bin davon überzeugt, dass uns das in Zukunft auch
gelingen wird.
Aber nicht nur der Spitzensport hat in unserer Gesellschaft einen unbestreitbar hohen Stellenwert. Auch die
Vielfalt des breitensportlichen Angebots hat unter
sport-, sozial- und gesundheitspolitischen Aspekten eine
nicht zu unterschätzende Bedeutung. Anders als die frühere Regierung hat die jetzige Koalition dieses ausdrücklich anerkannt. Von dieser Thematik ist die Diskussion um die Sportstättensituation nicht zu trennen.
Der Deutsche Sportbund hatte bereits im zweiten Jahr
nach der Wiedervereinigung den Goldenen Plan Ost
vorgelegt und die katastrophale Sportstättensituation in
den neuen Bundesländern eindrucksvoll dokumentiert.
Unter Hinweis auf die unverzichtbare Angleichung
der Lebensverhältnisse in Ost und West hatte die
SPD-Bundestagsfraktion bereits in der letzten Wahlperiode die Forderung erhoben, diesen Plan zu verfolgen
und umzusetzen. Mit den verschiedensten - unter anderem mit verfassungsrechtlichen - Argumenten hat die
damalige Bundesregierung die Umsetzung dieses sinnvollen Plans stets abgelehnt.
({3})
Zwar ist der Hinweis, Länder und Gemeinden in den
neuen Bundesländern hätten Gelder aus dem IFG für die
Instandsetzung und teilweise auch für den Neubau von
Sportstätten verwenden können, durchaus zutreffend.
Das ist mit Einschränkungen auch so geschehen. Der
Ehrlichkeit halber muss jedoch festgestellt werden, dass
IFG-Mittel gemäß der Protokollerklärung eben nicht für
den Sportstättenneubau eingesetzt werden dürfen. Spätestens seit 1997/98 - übrigens hat damals Ihr Finanzminister darauf hingewiesen - mussten die Gemeinden
in den neuen Ländern und auch die neuen Länder selber
den Neubau von Sportanlagen vollständig aus Eigenmitteln finanzieren. Was das angesichts der Situation in den
kommunalen Haushalten bedeutet, muss ich an dieser
Stelle nicht ausdrücklich beschreiben.
Wir haben unsere entsprechende Aussage in der Koalitionsvereinbarung umgesetzt, auch wenn wir uns - das
ist heute schon angeklungen; ich räume das an dieser
Stelle gern ein - einen höheren Betrag als insgesamt
60 Millionen DM bis 2002 hätten vorstellen können.
Aber der Goldene Plan Ost - und an der Erkenntnis
führt kein Weg vorbei - ist und bleibt ein zusätzliches
Förderinstrument, das im Übrigen von den Kommunen
in den neuen Ländern zügig und äußerst erfolgreich genutzt worden ist.
({4})
Die ständig verbreitete Kritik der Opposition, die
15 Millionen DM jährlich seien nur der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein, ist vor dem Hintergrund ihrer
jahrelangen völligen Untätigkeit schlicht und einfach
unglaubwürdig. Ihre Bilanz beim Goldenen Plan Ost
war nichts anderes als eine Nullnummer im wahrsten
Sinne des Wortes.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
bereits kurz die Bedeutung des Sports unter gesundheitspolitischen Aspekten erwähnt. In diesem Zusammenhang darf ich Sie - Sie werden es mir nachsehen an das Jahr 1996 erinnern, in dem die damalige Parlamentsmehrheit die Regelungen in § 20 SGB V gegen alle Vernunft abgeschafft hat. Alle Grundlagen einer sinnvollen und für die Menschen nachvollziehbaren Gesundheitspolitik wurden von CDU/CSU und F.D.P. damals mit einem Federstrich zerstört. Insofern war es nur
folgerichtig, dass die neue Bundesregierung das SGB V
im Rahmen der Gesundheitsreform geändert hat. Künftig „sollen“ - das ist im Übrigen weit mehr als „können“ - die Krankenkassen in ihren Satzungen wieder finanzielle Leistungen zur primären Prävention vorsehen.
({6})
Nach meinen heutigen Informationen findet in Kürze
ein Gespräch zwischen Deutschem Sportbund und Vertretern der Krankenkassen statt, in dem der Kriterienkatalog des § 20 SGB V abschließend beraten werden soll,
um die Zusammenarbeit von GKV und dem organisierten Sport zu regeln. Um es einmal sportlich auszudrücken: Es ist wieder Bewegung in den § 20 SGB V gekommen. Für uns Sportpolitiker ist wichtig: Die Bedeutung des Sports im Bereich der Primärprävention wird
mit dieser Novelle im Interesse einer vorausschauenden,
flächendeckenden Gesundheitspolitik ausdrücklich anerkannt, in der die Angebote von Sportverbänden und
Sportvereinen eine ganz wichtige Funktion haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zu
einem letzten Aspekt kommen. Die SPD-Bundestagsfraktion teilt ohne jede Einschränkung die Auffassung
des Bundesministers des Innern zur Dopingbekämpfung. Wir begrüßen insbesondere, dass der Minister mit
vielfältigen Initiativen vor allen Dingen auf internationaler Ebene neue Akzente in der Dopingbekämpfung gesetzt hat. Doch auch die nationale Diskussion ist frei von
jeglicher Langeweile. Im 9. Sportbericht ist nachzulesen,
dass es ein Gesetzentwurf der SPD-Fraktion aus dem
Jahre 1996 war, der zu einer öffentlichen Anhörung des
zuständigen Fachausschusses 1997 und letztendlich zur
Änderung des Arzneimittelgesetzes im Jahre 1998 führte.
({7})
Wie die Sachverständigen anlässlich der jüngsten
Anhörung am 26. Januar 2000 feststellten, war und ist
diese Änderung des AMG ein durchaus wichtiger Beitrag im Rahmen der Dopingbekämpfung. Wenn ich
mich an die parlamentarische Diskussion in der letzten
Wahlperiode erinnere, insbesondere im Sportausschuss,
dann kann ich feststellen: Sie, meine Herren von CDU,
CSU und F.D.P. sahen dies damals völlig anders. Wenn
es damals nach Ihnen gegangen wäre, wäre dieses Gesetz nicht geändert worden.
Wie aktuelle Fälle zeigen, ist die Diskussion über
Doping noch lange nicht beendet. Im Gegenteil: Sowohl
in rechtlicher als auch in medizinischer Hinsicht sind
noch viele Fragen offen. Wir erleben es fast täglich: Es
kommen immer neue Fragen hinzu. Diesen Herausforderungen werden sich Sport und Politik gemeinsam stellen
müssen. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion sind dazu
bereit.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Klaus Riegert das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich wollte nur kurz zu der Nullnummer Stellung nehmen. Die Frau Kollegin Freitag hat
von Redlichkeit und Wahrhaftigkeit gesprochen,
({0})
sie hat von Nullnummer gesprochen. Zur Redlichkeit
und Wahrhaftigkeit gehören in der Tat einige Ausführungen zum so genannten Goldenen Plan Ost - ein
Schwabe nennt so etwas „Plänle“; denn er ist nur mit
schlaffen 15 Millionen DM jährlich ausgestattet. Der
Kollege Schur hat darauf hingewiesen, dass der Investitionsbedarf etwa bei 25 Milliarden DM liegt. Man kann
sich dann ausrechnen, wie lange man bei 15 Millionen DM braucht, um diesen Investitionsstau aufzulösen.
Zur Wahrhaftigkeit gehört aber auch, dass über das
Investitionsförderungsgesetz 1995 350 Millionen DM,
1996 über 400 Millionen DM und 1997 über 460 Millionen DM in Sportstätten in den neuen Ländern geflossen sind. Wir werden daran die Zahlen 1999 und in den
Folgejahren messen, um zu sehen, was durch das IFG
und den Goldenen Plan Ost in der Addition tatsächlich
herauskommt. Dann werden wir vergleichen und wissen,
wer mehr für die Sportstätten getan hat. Wenn weit über
1 Milliarde DM eine Nullnummer ist, dann kenne ich
mich nicht mehr aus.
({1})
Zu einer Erwiderung erhält das Wort die Kollegin Dagmar Freitag.
Herr Kollege Riegert, diese
Diskussion führen wir nun nicht zum ersten Mal. Ich
bin - ich muss es einräumen - etwas erschüttert, dass
Sie das offensichtlich immer noch nicht verstanden haben. Ich will es Ihnen aber gerne zum wiederholten Male erklären.
Das Investitionsförderungsgesetz kann durch den
Goldenen Plan Ost nur ergänzt werden. Im Investitionsförderungsgesetz sind nur Maßnahmen zur Sanierung
und Modernisierung von maroden Sportanlagen unterzubringen. Dass teilweise Mittel aus dem IFG über eine
gewisse Zeit auch in den Neubau geflossen sind, wissen
wir. Aber Sie wissen auch, dass das nicht der Zweckbestimmung des Gesetzes entsprochen hat.
Ich wundere mich ein wenig, dass Sie von einem Investitionsstau sprechen. Der müsste dann allerdings in
Ihrer Regierungszeit aufgelaufen sein. Die von uns veranlassten 15 Millionen DM sind eine zusätzliche Förderung über das hinaus, was das IFG bietet. Das IFG bietet
die gleichen Möglichkeiten, die es früher gegeben hat.
Das heißt, wir satteln drauf. Das ist einfach nicht zu
bestreiten. Ich weiß auch nicht, warum Sie das nicht verstehen wollen.
Ich sage Ihnen noch einmal: Die 15 Millionen DM
zusätzlich in 1999 haben zu Gesamtinvestitionen in den
neuen Bundesländern von 78 Millionen DM geführt, also zu weit mehr, als wir gemeinsam erwartet haben.
Wenn Sie jemals eine solche Bilanz hätten vorweisen
können, wären Sie darauf sehr stolz gewesen. Wir jedenfalls sind es. Wir wissen, dass man sich in den neuen
Ländern über den Goldenen Plan Ost durchaus freut.
({0})
Nun gebe ich das
Wort dem Kollegen Peter Letzgus für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Freitag, da Sie
nicht unbedingt Ausführungen zu den Ergebnissen sprich: Erfolgen - der Sportpolitik der alten Bundesregierung machen wollten, setze ich Ihr vollstes Verständnis voraus, dass ich das jetzt nachholen werde.
({0})
Ich werde mich bei den Ausführungen allerdings auf den
Sportstättenbau in den neuen Ländern beschränken.
„Sportler sind Diplomaten im Trainingsanzug“, so
hieß es in der ehemaligen DDR. Das ist heute nicht anders; der Kollege Kinkel hat darauf hingewiesen. Unsere
Sportler sind tatsächlich die besten Diplomaten, die wir
in die Welt hinausschicken können. Damals sollten die
sportlichen Erfolge vor allen Dingen dazu beitragen,
dass die DDR international Anerkennung erfährt.
({1})
- Ja, das hat funktioniert. Das streite ich überhaupt nicht
ab. Es waren allerdings sehr viele Mittel recht.
({2})
Infolgedessen hatte in der DDR der Spitzensport absolute Priorität.
Der Breitensport lebte überwiegend von der Eigeninitiative seiner Mitglieder, und die war zum Glück recht
groß. Trotzdem - darauf ist heute schon mehrfach hingewiesen worden - befand sich die Sportstättenstruktur der neuen Bundesländer vor zehn Jahren in einem
desolaten Zustand. So wurde dann vom Deutschen
Sportbund der Goldene Plan Ost aufgestellt, mit einem
Investitionsbedarf von sage und schreibe rund 25 Milliarden DM - eine gewaltige Summe! Obwohl die alte
Bundesregierung kein spezielles Programm, also auch
keinen Goldenen Plan Ost für die Sanierung der Sportstätten in den neuen Bundesländern, auflegte, ging sie
doch zügig daran, den Nachholebedarf auf diesem Sektor zu beseitigen.
Führen wir uns die Situation nach der Wiedervereinigung Deutschlands noch einmal kurz vor Augen: Bis
1993 wurden allein aus dem Sportetat des BMI mehr als
40 Prozent aller Mittel in die neuen Bundesländer transferiert. Für den Bau der Olympiastützpunkte wurden
jährlich rund 10 Millionen DM bereitgestellt. Weitere
erhebliche finanzielle Mittel sicherten die Weiterbeschäftigung von haupt- und nebenamtlichen Trainern ab,
eine ganz wichtige Sache in der damaligen Zeit.
Für die Fortführung von FES, IAT und dem Dopinglabor Kreischa wurden die notwendigen Mittel eingeplant und ausgegeben. Nur so - das darf, das muss man
hier eigentlich sagen - konnten diese für den Sport in
der Bundesrepublik so wichtigen Einrichtungen überhaupt erhalten werden.
({3})
Öffentliche Investitionen im Sportstättenbau sind
Grundvoraussetzung für den Breiten- und Spitzensport. Wir brauchen eine ausreichende Anzahl vielfältiger Sportstätten für die Grundversorgung des Breitensports und wir brauchen Trainings- und Wettkampfmöglichkeiten für den Leistungssport, für unsere Spitzensportler. Die Infrastruktur der Sportstätten bedarf einer ständigen Erneuerung, Sanierung und Modernisierung. Die Länder sind dabei zuständig für die Breitensporteinrichtungen, der Bund - dies ist unbestritten für den Bau und die Unterhaltung von Spitzensporteinrichtungen wie Olympiastützpunkten, BundesleistungsKlaus Riegert
zentren, Bundesstützpunkten und Sportinternaten mit
bundeszentraler Funktion.
Dieser Verantwortung ist die alte Bundesregierung
gerecht geworden. Rund 270 Millionen DM hat der
Bund im Berichtszeitraum, also von 1994 bis 1997, für
Sportstätten des Spitzensports bereitgestellt. Dass diese Summe nicht zu üppig bemessen war, zeigen die
Verpflichtungsermächtigungen für die nächsten Jahre.
Deshalb ist das Vorhaben der jetzigen Bundesregierung,
die Investitionen bis zum Jahr 2003 von heute 68 Millionen DM auf 32 Millionen DM um beinahe 60 Prozent
zu kürzen, fast als abenteuerlich zu bezeichnen. So werden die Sportstätten für unsere Spitzensportlerinnen und
Spitzensportler keine geeigneten Trainingseinrichtungen
und Wettkampfstätten mehr sein. Diese aber brauchen
sie, um im immer härter werdenden Wettkampf bestehen
zu können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition: Nehmen Sie die Hinweise unserer Sportler ernst. Eine hervorragende Infrastruktur ist Voraussetzung für Spitzensport mit legalen Mitteln. Kürzungen im
Spitzensport beschneiden diese fundamentalen Voraussetzungen, das heißt, sie gefährden die Trainingsstätten,
die unsere Sportler brauchen.
Bis 1997 hat die alte Bundesregierung 665 Millionen DM in die Sportstätten des Spitzensports und in die
Sportinfrastruktur der neuen Länder gesteckt. Diese Infrastruktur steht auch dem Breitensport zur Verfügung.
Sie hilft unter anderem dabei, Jugendliche von der Straße zu holen. Das ist eine vordringliche Aufgabe, speziell
in den neuen Bundesländern, aber nicht nur dort.
Nun zu dem Goldenen Plan, über den schon viel gesagt worden ist und auf den auch Herr Kollege Riegert
schon hingewiesen hat. Insgesamt war vorgesehen,
100 Millionen DM jährlich für die Förderung von Sportstätten des Breitensports in die neuen Länder zu geben.
Das war allerdings vor der Bundestagswahl. Es sind erhebliche Hoffnungen geweckt worden, die sich jedoch
längst wieder verflüchtigt haben. Immerhin haben Sie
mit Mühe 50 Millionen DM in den Haushalt eingestellt.
Mit den von den Ländern und Kommunen aufzubringenden Komplementärmitteln macht dies eine Summe
von 45 Millionen DM jährlich aus.
({4})
- Hinsichtlich der Zahlen ist zu sagen: Der eine sieht es
so und der andere sieht es anders, Frau Kollegin Freitag.
({5})
- Herr Küster, bei Ihnen fällt mir immer ein: Kurz vor
der Küste küsste der Küster Käthe komischerweise. Ich
weiß nicht, wieso.
Der Goldene Plan des DSB sah einen Investitionsbedarf von 25 Milliarden DM vor. Also hätten Sie wenigstens bei der Wahl des Begriffs etwas ehrlicher sein können. Ein goldenes Zeitalter wird mit diesen 15 Millionen DM für den Sport in den neuen Bundesländern
wahrlich nicht ausbrechen.
({6})
Natürlich sind 15 Millionen DM mehr als nichts, das ist
richtig.
({7})
Wir würden das auch gern anerkennen, wenn Sie dies
nicht an anderen Stellen wieder kürzen würden.
Die alte Bundesregierung hat die neuen Länder mit
großem Erfolg ermuntert, verstärkt Mittel aus dem Investitionsförderungsgesetz für Sportstätten heranzuziehen. Frau Staatssekretärin Dr. Hendricks vom Bundesministerium für Finanzen war so freundlich, für die Jahre 1995 bis 1997 die Mittel projektbezogen aufzulisten.
Wir sind somit in der Lage, genau zu sagen, in welchem
Umfang und wo etwas saniert, erneuert oder auch neu
errichtet worden ist.
({8})
Kollege Riegert hat die Zahlen schon genannt. Es waren allein 1997 über 450 Millionen DM. Das heißt: Der
Bund hat in drei Jahren in den neuen Ländern Sporteinrichtungen mit rund 1,2 Milliarden DM gefördert. Hinzu
kommen über 770 Millionen DM an Komplementärmitteln der Länder und Kommunen. Einschließlich der Mittel für den Spitzensport sind damit rund 2,65 Milliarden DM für Einrichtungen des Sports in die neuen Länder geflossen. Das ist, so glaube ich, wahrlich eine stolze Summe.
({9})
Interessant ist - das wurde hier auch schon gesagt -,
dass darin nicht nur Mittel für die Sanierung und den Ersatzneubau, sondern auch für Neubauten enthalten sind.
Das waren in den letzten drei Jahren insgesamt 87 Millionen DM. In Verbindung mit den Komplementärmitteln
kommt ebenso eine große Summe zusammen. Allein in
meinem Bundesland, Sachsen-Anhalt - das wird Sie,
Herr Küster, freuen -, wurden auch zwei Hallen errichtet, nämlich die Leichtathletikhalle in Halle an der Saale
und die Bördelandhalle in Magdeburg. In Berlin nenne
ich als Ersatzneubauten beispielhaft die Max-Schmeling-Halle und die Radsporthalle an der Landsberger
Allee.
Wenn Sie, die Kollegen der Koalition, in dem Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit beklagen, dass erst 15 Prozent der nach
dem Goldenen Plan notwendigen Investitionen realisiert
werden konnten, so frage ich: Was heißt hier an dieser
Stelle „erst“? Eigentlich müsste es doch „schon“ heißen;
denn wenn wir die von Ihnen eingestellten 15 Millionen
DM zum Maßstab nähmen, was wir natürlich alle nicht
tun wollen, dauerte die völlige Angleichung im SportPeter Letzgus
stättenniveau zwischen Ost und West noch locker
150 Jahre.
({10})
Herr Kollege
Letzgus, ich muss Sie jetzt bitten, doch zu den letzten
Sätzen zu kommen.
({0})
Abschließend ist noch
zu sagen: Wir werden Sie an den Leistungen der vergangenen Jahre messen, daran, wie viel Mittel insgesamt
in die Sportstättenförderung der neuen Ländern fließen.
Dann werden wir Bilanz ziehen und hoffentlich nicht
feststellen müssen, dass durch den Goldenen Plan Ost
Investitionen durch das Investitionsförderungsgesetz für
Sportstätten zu kurz gekommen sind. Investitionsförderungsgesetz plus Goldener Plan Ost kann somit die
Formel für die Sportstättenförderung in den neuen Bundesländern nur heißen, und wenn wir da konform gehen,
ist das besonders nett.
Ich bedanke mich.
({0})
Nunmehr spricht für
die SPD-Fraktion die Kollegin Christine Lehder.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Von meinen Vorrednern wurden schon viele Bereiche aus dem 9. Sportbericht aufgegriffen und die sich daraus ergebende Problematik wurde ausführlich dargestellt. Ein Bereich wurde bisher noch gar nicht angesprochen, nämlich der Bereich, den das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend abzudecken hat. In dessen Verantwortungsbereich fällt die Förderung von Jugendsport im Rahmen
des Kinder- und Jugendplanes des Bundes, der Sport für
Frauen und Mädchen sowie der Seniorensport.
Der erste große Bereich, auf den ich eingehen möchte, ist der Jugendsport. Die meisten Mittel des Ministeriums stehen für die sportliche Jugendbildung zur Verfügung. Daran ändert auch die neue Regierungskoalition
nichts.
Ein wesentliches Instrument zur Förderung des außerschulischen Jugendsports ist der Bundesjugendplan
des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen
und Jugend. In ihm sind die konzeptionellen und finanziellen Möglichkeiten der Förderung der freien und öffentlichen Jugendarbeit zusammengefasst. Er ist unter
anderem Finanzierungsgrundlage der Deutschen Sportjugend und anderer zentraler Jugendverbände sowie für
die Bundesjugendspiele.
Diese Bundesjugendspiele werden hauptsächlich
von dem Gedanken getragen, dass alle Jugendlichen
teilnehmen können, dass jeder einen Anreiz erhalten
soll, teilzunehmen, zu üben und die für ihn optimalen
Leistungen zu erzielen. Dabei werden unterschiedliche
Veranlagungen angesprochen und sie sollen auch entwickelt werden. Hierbei geht es nicht um sportliche
Höchstleistungen; vielmehr sollte jeder Schüler seine im
Unterricht erlernten Fertigkeiten erproben können.
({0})
Im Berichtszeitraum 1994 bis 1997 wurde eine Koordinationsgruppe aus Vertretern des Deutschen Leichtathletikverbandes, des Deutschen Turnerbundes, des Deutschen Schwimmvereins und der Deutschen Sportjugend
gegründet, die ein Konzept erarbeitet hat, um die Bundesjugendspiele neu und zeitgemäß zu gestalten. Die
Erprobung fand im Schuljahr 1998/99 statt, sodass nach
entsprechender Auswertung die neuen Bundesjugendspiele in die Ausschreibung für das Schuljahr 2000/2001
aufgenommen werden. Hierfür sind im Haushalt für das
Jahr 2000 jetzt zusätzlich 100 000 DM eingestellt worden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein weiteres
wichtiges Gebiet des Jugendsports sind die internationalen Beziehungen und der Jugendaustausch. Neben der
gemeinsamen sportlichen Betätigung können sich dabei
freundschaftliche Beziehungen entwickeln. Die Jugendlichen lernen so das gesellschaftliche und das kulturelle
Umfeld des jeweiligen Landes kennen.
({1})
Einen besonderen Stellenwert haben hierbei das
deutsch-französische und das deutsch-polnische Jugendwerk. Ich persönlich würde mir wünschen, dass es in
Zukunft noch mehr solcher länderübergreifender Jugendwerke gibt, die das Ziel haben, Vorurteile abzubauen, den Weg zur Versöhnung zu ebnen sowie gute
Nachbarschaft und das gegenseitige Kennenlernen der
jungen Menschen zu fördern.
Aus meiner Sicht kann man sagen, dass der bisher beschrittene Weg der Förderung des Jugendsports in die
richtige Richtung geht. Sicherlich gibt es noch einige
Felder, die der besonderen Förderung bedürfen. Aber bei
der Aufdeckung solcher bestehenden Defizite sind wir
auch auf die Zuarbeit der jeweiligen Sportverbände angewiesen.
Auch wenn wir mit der Förderung der Jugend im
Rahmen der Sportpolitik relativ konform mit der alten
Bundesregierung gehen, erschreckt mich dagegen in besonderem Maße die in meinen Augen verfehlte Politik
im Bereich des Seniorensports in unserem Berichtszeitraum von 1994 bis 1997. So sind die Ausgaben in diesem Bereich von 428 000 DM im Jahre 1996 über
245 000 DM im Jahre 1997 auf sage und schreibe
78 000 DM im Jahre 1998 gesunken.
({2})
Diese Entwicklung ist umso bemerkenswerter, weil man
nicht erst seit gestern weiß, dass der Anteil der älteren
Menschen an der Gesamtbevölkerung zunimmt. Wenn
man von einer zukunftsgestaltenden Politik für ältere
Mitbürger und mit der älteren Generation sprechen
möchte, dann müssen deren Wünsche und Bedürfnisse
noch stärker berücksichtigt werden; denn nur so kann
man Bedingungen für ein sinnerfülltes und selbstständiges Leben im Alter schaffen oder verbessern.
Die Mehrzahl unserer älteren Menschen ist rege, leistungsfähig und vital. Seniorinnen und Senioren möchten
aktiv am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Lang gehegte Wünsche, die wegen Berufstätigkeit oder Verpflichtungen in der Familie zurückgestellt wurden, können jetzt im Alter erfüllt werden. Viele Freizeitaktivitäten werden in der nachberuflichen Phase erweitert oder
treten neu hinzu, auch im sportlichen Bereich. Bewegung, Spiel und Sport im Alter tragen wesentlich zur
Verbesserung der Lebensqualität älterer Menschen bei.
Sportliche und spielerische Betätigung hilft, soziale
Kontakte zu knüpfen und einer eventuellen Vereinsamung entgegenzuwirken.
Sportliche Betätigung ist jedoch nicht nur für Jungund Fitgebliebene von hohem Stellenwert. Auch manchem hilfs- und pflegebedürftigen älteren Menschen bieten Spiel und Sport gewisse Möglichkeiten, Selbstständigkeit, Kompetenz und Lebensfreude zu erhalten.
All dies hat die alte Bundesregierung erkannt und
verweist in ihrem 8. wie auch in dem vor uns liegenden
9. Sportbericht immer wieder darauf. Nur, man muss
feststellen, dass dies keinen Niederschlag in ihrer finanziellen Förderung im Bereich des Seniorensports fand.
Als im Herbst 1998 die neue Regierungskoalition ihre
Arbeit aufnahm, wurden die Ausgaben für den Seniorensport um 50 000 DM erhöht. Natürlich war auch das
nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Leider war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich. Jedoch unmittelbar
im Anschluss an die parlamentarischen Beratungen hat
die SPD-Fraktion die Initiative ergriffen und den DSB
gebeten, eine eigene neue Konzeption bezüglich des Seniorensports vorzulegen. Dies ist durch die Mitarbeiter
des Deutschen Sportbundes zügig geschehen. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich meinen herzlichen Dank
dafür aussprechen.
({3})
Nur dadurch war es möglich, dass die Konzeption mit
dem Ministerium abgestimmt werden konnte und
im Haushalt 2000 eine nochmalige Erhöhung um
90 000 DM eingestellt werden konnte. Man mag sich
über den relativ bescheidenen Betrag wundern. Wenn
man jedoch sieht, wie die Kampagne für den Seniorensport konzipiert ist und wie diese durch Eigenmittel und
engagierte Sponsoren mit finanziert wird, dann muss
man feststellen, dass hier eine positive Entwicklung begonnen hat, die die alte Regierung nicht in der Lage war
in Gang zu setzen.
({4})
An dieser Stelle möchte ich abschließend auch noch
auf den dritten Förderbereich des Bundesministeriums
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Frauenund Mädchensport, eingehen. Es ist besonders hervorzuheben, dass im 9. Sportbericht dieser Thematik zum
ersten Mal ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Dies ist für
mich auch ein Indiz, dass die Rolle der Frau in der Gesellschaft einen höheren Stellenwert bekommen hat.
Sport hat im Leben von Mädchen und Frauen verstärkt
an Bedeutung gewonnen. Die zunehmenden sportlichen
Aktivitäten von Mädchen und Frauen schlagen sich auch
deutlich in den Mitgliedszahlen des DSB nieder. Wurden hier 1970 noch 28 Prozent weibliche Mitglieder
verzeichnet, so bestanden 1997 bereits 38,1 Prozent
weibliche Mitgliedschaften. Aber diese erfreuliche Entwicklung hat sich leider nicht in der Besetzung von Vorständen und Präsidien niedergeschlagen.
Dort sind Frauen nämlich nur zu circa 15 Prozent vertreten. Daran hat sich bis heute bedauerlicherweise nicht
viel geändert. Es stellt uns vor die besondere
Herausforderung, diesen Missstand zu beheben.
Ein besonderes Anliegen der alten und der neuen Regierung war und ist es, verstärkt den frauen- und mädchenpolitischen Interessen im Sport Rechnung zu tragen.
Dies wird besonders an der Entwicklung mädchen- und
frauengerechter Trainingsangebote deutlich. Hierfür hat
die rot-grüne Regierung zum Beispiel im Jahr 2000 Fördermittel in Höhe von 400 000 DM zur Verfügung gestellt. Diese werden für ein Modellprojekt des Deutschen Basketball Bundes und der Damenbasketballbundesliga eingesetzt.
({5})
Ich möchte noch auf ein von der alten Bundesregierung initiiertes Forschungsvorhaben hinweisen, das
mich als ostdeutsche Politikerin besonders interessiert
und auf dessen Ergebnisse ich mit Spannung warte.
Hierbei handelt es sich nämlich um die Erforschung der
Entwicklung des Frauensports in der DDR - eine bisher
vollkommen unbeachtete Thematik. Ich könnte mir vorstellen und ich würde mir wünschen, dass sich daraus
nachahmenswerte Anregungen für die Vereinbarkeit von
Familie, Beruf und sportlicher Betätigung im Bereich
des Breiten- und des Leistungssports auch für Frauen
unserer jetzigen Gesellschaft ergeben.
({6})
Abschließend kann ich nur sagen: Sport frei und vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Es spricht jetzt der
Kollege Dr. Klaus Rose für die CDU/CSU-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe sportliche Kolleginnen und Kollegen! Ich
meine nicht bloß diejenigen, die jetzt im Plenarsaal sind,
sondern auch die vielen anderen Kolleginnen und Kollegen, die zur Stunde außerhalb des Hauses Sport treiben.
({0})
Denn das Interesse an der Sache, lieber Herr Kollege
Schur, ist sicherlich viel größer, als es den Anschein hat.
Die geringe Zahl von Anwesenden liegt mehr an der Tageszeit und weniger am Interesse.
Wir praktizieren im Sportausschuss - ich greife gerne das auf, was Kollege Dr. Kinkel sagte - eine große
sportpolitische Zusammenarbeit. Es geht um gemeinsame Ziele und um die Vertretung der Interessen des
Sports, der Sportlerinnen und Sportler. Uns eint auch der
faire Wille zum Erfolg im Interesse der Sache. Wir haben auch deshalb im Laufe der Jahre einiges gemeinsam
erreicht.
({1})
Nur, das heißt nicht, dass man nicht sportlich fair Punkte
sammeln will
({2})
und dass wir uns Gedanken machen, wie es in Zukunft
noch besser wird - so wie Sie es uns versprochen haben.
Wir Sportpolitiker wissen auch, dass wir eine verschworene Gemeinschaft sind und gerne mehr möchten,
auch wenn wir von den Finanzpolitikern und von den
Fraktionsführungen nicht ganz so viel gehört werden.
Deshalb müssen wir über unseren eigenen Bereich hinaus Freunde sammeln. Das macht man am besten, wenn
man miteinander sportlich umgeht.
Die unterschiedlichen Auffassungen möchte ich nicht
verschweigen. Im Laufe meiner parlamentarischen Karriere sind sie mir immer wieder bewusst geworden. Ich
musste mich immer wieder, wenn das Stichwort „Sport
und Umwelt“ kam, damit auseinander setzen, dass mir
vonseiten der Grünen ganz andere Vorstellungen entgegnet wurden. So hieß es, dass man Sport fast nicht
mehr betreiben dürfe, weil man eigentlich die Umwelt
zerstöre.
Ich war mir auch bei der SPD nicht immer so sicher,
dass sie zum Leistungs- und Spitzensport ein wirklich
gutes Verhältnis gehabt hat. Dies galt zwar für viele
Kolleginnen und Kollegen; aber die Gesamtaussage war
oft sehr differenziert, sodass ich festhalten muss: Begriffe wie „Leistung“ und „Elite“ sind manchem nicht so
leicht über die Lippen gegangen. Wenn Sie sich in der
Regierungsverantwortung jetzt verantwortlich fühlen
und das anders wird, dann kann ich das im Interesse des
Sports und der vielen Sportlerinnen und Sportler nur
dankbar begrüßen.
({3})
Auch einen zweiten Hinweis kann ich Ihnen nicht ersparen: Es ist die unsportliche Politik der Bundesregierung im Zusammenhang mit dem 630-Mark-Gesetz.
({4})
Das tut Ihnen noch immer weh; aber es hat den Sportvereinen viel mehr wehgetan, weil sie damit wichtige
Aufgaben nicht vollenden und wichtige Leistungen nicht
anbieten konnten. Zusätzlich beabsichtigen Sie jetzt eine
erneute Belastung des Ehrenamts durch Sozialabgaben
auf Aufwandsentschädigungen. Wir spüren die Folgen
zurzeit bei den Feuerwehren, die sich rühren. Ich weiß
noch nicht, ob diese Welle auf die Sportvereine überschwappt. Ich traue ihnen zu, dass sie an ähnliche Reaktionen denken.
Meine Damen und Herren, wir debattieren zwar heute
den 9. Sportbericht, also unsere Leistungsbilanz, aber im
Vorwort haben Sie ja doch sehr vollmundig davon gesprochen, dass Sie für die Zukunft eine klare Handschrift anbieten.
({5})
Sie wollten ja überhaupt alles neu erfinden. Ich erinnere
mich an manche Aussagen nach dem Regierungswechsel, in denen es hieß: Jetzt geht es mit dem Sport erst
richtig los.
({6})
Ich frage: los, ohne Moos? Sie führen doch so gerne an,
dass Sie sparen müssen und nur mit großen Schwierigkeiten überhaupt einige Millionen für den Goldenen
Plan gefunden haben.
({7})
Wir werden das auch in Zukunft intensiv beobachten
und Ihre Versprechen dann daran messen, was Sie in die
Tat umgesetzt haben.
({8})
Wer sich mit den Spitzen des deutschen Sports unterhält, der weiß, dass die derzeitige Förderung der Spitzensportler durchaus gewürdigt wird. Ich sage aber auf
den bisherigen Bericht bezogen auch: Wie steht es um
künftige Investitionen in Sportstätten? Zieht man nämlich eine Bilanz der Leistungsfähigkeit der derzeitigen
Leistungszentren, dann taucht die klare Erkenntnis auf,
dass man nicht nur reparieren und flicken darf, sondern
dass man modernisieren und klotzen muss, weil allein
das den deutschen Sportlern angemessen ist. Sie werden
also über den Goldenen Plan Ost hinaus einen Plan aufstellen müssen, wie in den nächsten Jahren wirklich eine
konzentrierte Sportstättenförderung im ganzen Lande
durchgeführt werden kann. Auch daran werden wir Sie
messen.
Kommen Sie mir bitte nicht mit der Leier, Sie hätten
eine dramatische Finanzlage vorgefunden.
({9})
Zunächst einmal sprechen die gesamtwirtschaftlichen
Daten dagegen. Sie alle wissen, dass Faktoren wie Inflationsrate und Geldwertstabilität eine deutlich andere
Sprache sprechen. Außerdem geben Sie in anderen Bereichen ja auch mehr als zuvor aus, beim Sport allerdings nicht. Sie sagen, beim Sport müsse man einsparen
und den Gürtel enger schnallen. Vor dem Hintergrund,
dass der Bundeshaushalt im Jahre 1999 Ausgaben in
Höhe von 485 Milliarden DM vorsah, die nach Ihrem
Finanzplan im Jahre 2003 auf 504 Milliarden DM anwachsen, kann es nicht heißen, auch beim Sport müsse
gespart werden. Wir werden Sie also beobachten und an
den Taten messen.
Wir werden Sie natürlich auch - das sage ich als alter
Haushaltspolitiker - daran messen, wie viel Schulden
Sie machen. Uns werfen Sie das ja immer vor. In Ihren
derzeitigen Haushaltsplänen machen Sie Schulden in
Höhe von 50 Milliarden DM pro Jahr. Wenn Sie einmal
die nächsten vier Jahre zusammenrechnen, dann ergibt
sich, dass der Schuldenberg danach um 200 Milliarden
DM höher sein wird. Sie können dann nicht mehr sagen,
das liege leider an der Situation, die Sie vorgefunden
hätten.
Im Vorwort des Sportberichtes haben Sie auch geschrieben, dass Haushaltskonsolidierung und Einsparungen bei der Sportförderung eine Chance für Strukturverbesserungsmaßnahmen bieten. Das sah ich immer so.
Jede Sparmaßnahme und jeder Druck auf öffentliche
Haushalte führte immer auch zu Verbesserungen. Aber
auch da werden wir Sie daran messen, ob Sie wirkliche
Verbesserungen vorweisen können. Wenn Sie diese
nachweisen, dann - das verspreche ich Ihnen heute sind wir auf Ihrer Seite.
({10})
- Ich verteile dann gerne auch die goldene Rose. Sehr
richtig.
Ich setze Ihr Einverständnis voraus, wenn ich jetzt
zwei Bereiche des Spitzensports noch einmal besonders
erwähne, weil ich mich für diese auch verantwortlich
fühlte, nämlich die Förderung durch Bundeswehr und
Bundesgrenzschutz. Die Frau Kollegin Parlamentarische Staatssekretärin Schulte war nur am Anfang der
Debatte anwesend, als die Bundeswehr gelobt wurde,
um die Blumen entgegenzunehmen. Vielleicht ist ja
noch jemand da, der ihr auch meine Worte mitteilt. Wir
freuen uns, dass hier die Kontinuität gewahrt bleibt und
die Bundeswehr weiterhin als bedeutsamer Förderer des
Sports auftritt. Auch Bundesminister Scharping scheint
diese bisher gut entwickelte Politik in Bezug auf die 25
Sportfördergruppen fortzusetzen.
({11})
- Der Zwischenruf kommt mir gerade gelegen, lieber
Kollege Dr. Ramsauer. Bezüglich des Wintersportes
sollten wir Bayern natürlich besonders stolz auf unsere
bayerischen Sportstätten und besonders auch auf unsere
Aushängeschilder sein; ich nenne Martina Ertl, Uschi
Disl, Claudia Pechstein, Barbara Niedernhuber
({12})
oder den legendären Schorsch Hackl - bei der Erwähnung seines Namens bekomme ich jetzt natürlich Durst - und Fritz Fischer.
Aber nicht nur der Freistaat Bayern, auch der Freistaat
Thüringen, der Freistaat Sachsen und die „Freiburg“
Schwabenland werden nicht vergessen. Sie bringen große Leistungen für den Sport.
Olympiastützpunkte und Bundesleistungszentren
in ganz Deutschland fördern Talente im Sommersport.
Bundeswehr und Bundesgrenzschutz bieten auch berufliche Perspektiven. Dafür sind wir dankbar. Das sollte
fortgesetzt werden. Ich sage heute das Gleiche wie gestern im Ausschuss: Ich persönlich hoffe, dass die allseits
diskutierte und befürchtete Verkleinerung der Bundeswehr die Sportplanstellen unangetastet lässt, und zwar
über das Olympiajahr hinaus.
({13})
Beim Stichwort Olympia fällt mir ein, dass Uli Feldhoff davon gesprochen hat, dass wir in diesem olympischen Sommer noch erfolgreicher als die Amerikaner
abschneiden werden. - Na gut, Funktionäre sprechen so.
Ich hoffe, dass sich die Gedanken in Medaillen umsetzen. Wir können uns darüber nur freuen.
Lassen Sie mich abschließend einige gesellschaftspolitische Auswüchse im Umfeld des Sports erwähnen.
Zum Doping ist schon viel gesagt worden; das kann ich
mir also jetzt sparen. Aber ich finde es traurig und aufrüttelnd zugleich, dass die diesjährige Fußballeuropameisterschaft -
Herr Kollege Rose,
Sie müssen langsam zum Schluss kommen, bitte.
- in Holland und Belgien zu einem Ausnahmezustand im Nordwesten unseres Kontinents führt. Ich finde es unsportlich und menschenverachtend, dass junge Skiflieger wegen Geld und
Fernsehrechten Sturmböen und Lebensgefahr vergessen sollen. Es gibt also über den Erfolg hinaus eine Reihe von Aufgaben, die wir demnächst behandeln müssen.
Dazu rufe ich uns gemeinsam auf.
({0})
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Friedhelm Julius Beucher
für die SPD-Fraktion.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Präsidentin! Mögen Sie meinen Solidarbeitrag zu dieser Debatte
daran messen, dass ich mit gebrochenem Zeh zu Ihnen
geeilt bin.
Sport ist, wie Sie wissen, Ausdruck von Lebensfreude. Dazu passte die Rede des Kollegen Riegert nicht
ganz. Sie war zu verbiestert und hat zu sehr das Trennende, das wir im Sport haben, hervorgehoben.
({0})
Dabei haben wir doch seit über 30 Jahren die gute Tradition im Sportausschuss des Deutschen Bundestages, dass
wir uns oft als die Fraktion des Sports bezeichnen dürDr. Klaus Rose
fen, das heißt über die Parteigrenzen hinweg - ausschließlich an der Sache orientiert - für den Sport zusammenarbeiten.
Es ist ebenso richtig - das kann man denjenigen, die
das nicht begriffen haben, nicht oft genug sagen -, dass
der Sport die größte Personenvereinigung in dieser Republik ist. Über 26 Millionen Mitglieder hat der Deutsche Sportbund, dem der Berliner von Richthofen vorsteht, der auf eine gute Bilanz seiner Vorgänger zurückgreifen kann und der diese noch ausgeweitet hat. Das
heißt, dass der Sport ein gesellschaftlich ungeheuer
wichtiger Faktor ist.
Ich bin dem Kollegen Rose dankbar, dass er ein paar
nachdenkliche Akzente eingebracht hat. Denn Sport befindet sich in einigen Bereichen in der Krise. Das hängt
mit der zunehmenden Kommerzialisierung zusammen.
Das ist genau das, was Sie bei den Skiflugweltmeisterschaften beklagt haben: Sehr oft wird bei uns nach telegenen und nicht telegenen Sportarten unterschieden, und
danach gerät der Sport vor Ort in eine Abhängigkeit von
der Finanzierung. Wir haben Gegensätze mit Millioneneinkommen Einzelner auf der einen Seite und Vereinsleuten vor Ort, die manchmal nicht wissen, wie sie ihre
Schülermannschaften zum nächsten Spiel transportiert
bekommen, auf der anderen Seite.
({1})
Diese Gegensätze gilt es aufzuarbeiten und da gilt es gegenzusteuern.
Wir dürfen hier nicht unerwähnt lassen, dass wir uns
vor einem Jahr durch einen Skandal, ausgelöst vom
IOC, erschüttert sahen. Ich freue mich, dass es darum
ruhiger geworden ist. Die olympische Idee war in Gefahr. Besonnene Sportführer in der ganzen Welt haben
dazu beigetragen, dass das vergessen gemacht werden
konnte.
Doping ist hier genannt worden. Es ist nicht genannt
worden, was Doping ist. Doping ist Betrug, und Betrug
lassen wir nicht zu.
({2})
Doping ist Betrug am eigenen Körper und Betrug im fairen Wettkampf miteinander.
Wenn wir immer mehr Gelder für die Dopingforschung fordern, dann dürfen wir nicht nur auf die staatliche Seite schauen, sondern wir müssen auch die Pharmaindustrie an diesen Kosten beteiligen. Es geht nicht
an, dass eine Seite Geld mit den Pillen verdient, die andere Menschen schädigen. Auch dieser Punkt gehört in
die Debatte.
({3})
Den Schulsport bewerte ich nicht danach, ob wir zuständig sind oder nicht. Es ist von allen Fraktionen einhellig gesagt worden: Wir können nicht zulassen, dass
diese Entwicklung in die falsche Richtung läuft. Die
Entwicklung bei unseren Kinder ist einfach zu dramatisch. Herr Kollege Kinkel, ich muss aber die Kultusministerkonferenz verteidigen. Sie bockt hier nicht, sondern sie hat zum Zeitpunkt unserer Anhörung - diesen
Punkt muss man anerkennen - ihre Jahrestagung „Jugend trainiert für Olympia“. Das respektiere ich.
({4})
Wir nehmen diese Situation zum Anlass, zusammen mit
der Kulturministerkonferenz und mit der Sportministerkonferenz eine Extraveranstaltung durchzuführen.
Der 9. Sportbericht beschreibt die gute Grundlage in
der Sportpolitik der früheren Regierung, in einigen Teilen; - das erkenne ich an. - Ich freue mich aber, dass
die neue Regierung mit Unterstützung der Koalitionsfraktionen und innerhalb des Sportausschusses oft mit
Unterstützung aller Fraktionen des Hauses einige wesentliche Akzente hinzugefügt hat.
Alles, was recht ist: Sie haben bei all den Zahlenvergleichen einfach vergessen, dass insgesamt 13 Millionen DM mehr im Haushalt 2000 als im Haushalt 1999
enthalten sind. Sie haben nur zum Teil erwähnt, dass der
Behindertensport der Bereich ist, der sozusagen den
größten Schluck aus der Pulle bekommen hat. Das ist
aber eine Fortsetzung der guten Politik in Sachen Behindertensport, die wir von der Vorgängerregierung
übernommen haben. Ich erkenne diese Tatsache ausdrücklich an und freue mich, dass wir diese Entwicklung
weitergeführt haben.
Zu dem Geschaffenen gehört, dass nach der Regierung Brandt/Scheel, die erstmals eine Übungsleiterpauschale von 1 200 DM eingeführt hat, die Regierung
Schmidt/Genscher diese Pauschale auf 2 400 DM erhöht
hat. Danach gab es 16 Jahre lang einen Stillstand. Wir
haben jetzt aber konsequent das Ehrenamt nicht nur mit
Worten anerkannt, sondern wir haben eine steuer- und
sozialversicherungsfreie Pauschale von 3 600 DM eingeführt.
({5})
Es muss auch klar gesagt werden, dass wir zurzeit ein
neues Stiftungsrecht diskutieren. Das heißt, dass demnächst mit rückwirkender Geltung über Stiftungen Geld
für den Sport gesammelt werden kann, was es bisher
nicht gegeben hat.
Wir haben zum Goldenen Plan schon viel gehört. Ich
sage dazu: Auch kleine Schritte sind Schritte. Verinnerlichen Sie dies bitte und schauen Sie, was schon geschaffen worden ist!
Zu den Aufgaben und Zielen. Es ist wichtig, dass wir
die Bundeswehr weiterhin als größten Förderer des
Leistungssports in der Republik auch mit finanziellen
Mitteln stärken. Der Sport in der EU darf nicht nur in
Fußnoten vorkommen, sondern er muss einen eigenen
Artikel bekommen. Bei der Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes, muss der Sport berücksichtigt
werden, wie es in der Koalitionsvereinbarung heißt. Das
wird den Kollegen Rose sicher beruhigen.
Wir haben bei Olympia 2000 schöne Spiele zu erwarten. Das wünsche ich mir. Ich wünsche mir aber
auch den notwendigen Erfolg. Die Grundlagen für die
Erfolge bei Olympia und bei den Paralympics sind geschaffen. Ich wünsche mir auch, dass am 6. Juni entschieden wird, die WM 2006 in Deutschland durchzuführen. Insofern hoffe ich, das Haus hinsichtlich der Ziele und Aufgaben des Sportes in den Jahren 2000 und
folgende wieder geeint zu haben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/1859 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Einundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des
Abgeordnetengesetzes zur Änderung der
Europaabgeordnetengesetzes
- Drucksache 14/2235 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({1})
- Drucksache 14/2660 Berichterstattung
Abgeordnete Roland Claus
Joachim Hörster
Steffi Lemke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Dr. Uwe Küster das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Nach einem langen Diskussionsprozess
können wir heute über einen reifen Entwurf zur Änderung des Abgeordnetengesetzes beschließen. Dieser ist
ein bedeutender Schritt zur Reform des Abgeordnetenrechts. Er ist insbesondere ein überzeugender Nachweis
unseres Sparwillens. Wer von den Bürgern zur Konsolidierung des Haushaltes Opfer verlangt, muss selbst mit
gutem Beispiel vorangehen. Dies tun wir mit dem von
den Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf zur Änderung des Abgeordnetengesetzes, und zwar in mehrfacher Hinsicht.
Der Präsident des Bundestages hatte eine moderate
Erhöhung der Diäten vorgeschlagen. Hierzu ist er nach
dem Abgeordnetengesetz verpflichtet. Gleichwohl haben
wir auf die Anhebung der Entschädigung für die Tätigkeit als Abgeordneter verzichtet.
Dies ist die zehnte Nullrunde für Abgeordnete seit
1977. Es wäre gut, wenn sich dies auch einmal in der
Öffentlichkeit herumspräche. Keine gesellschaftliche
Gruppe hat in diesem Zeitraum in gleicher Weise auf
Einkommenserhöhungen verzichten müssen. Keine Berufsgruppe - auch nicht die Rentner - war in der Vergangenheit von Nullrunden betroffen.
Ich bin mir ganz sicher: Eine Anhebung der Diäten
wäre keinem Nachrichtenmagazin entgangen. Ob die
jetzt vorgenommenen Kürzungen von Abgeordneteneinkünften ähnlich breite Aufmerksamkeit finden, ist eher fraglich.
Meine Damen und Herren, es ist erklärter politischer
Wille von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, konsequent
- ich sage es ganz deutlich: konsequent - ungerechtfertigte Mehrfachbezüge von Abgeordneten zu streichen.
Das Bundesverfassungsgericht verlangte bereits in seinem Diätenurteil von 1975 die Beseitigung von Doppelalimentationen. Die Union und die F.D.P. haben sich
dieser Forderung in den vergangenen Jahren immer wiedersetzt. In dieser Richtung ist nichts passiert.
({0})
Jetzt haben wir die Mehrheit. Jetzt setzen wir endlich
diesen Gesetzgebungsauftrag des Bundesverfassungsgerichtes um. Mehrfachversorgungen werden mit dem nötigen Augenmaß - ich sage es ganz deutlich: mit dem
nötigen Augenmaß - auf ihren berechtigten Umfang zurückgeschnitten.
Dabei geht es uns um zwei Fälle von Überversorgung. Erstens. Aus dem Amt scheidende Bundesminister
und Parlamentarische Staatssekretäre erhalten nach der
alten Regelung auch dann ein Übergangsgeld, wenn sie
ihre politische Arbeit als Abgeordneter fortsetzen. Das
ist nicht einzusehen. Für ihre wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe als Abgeordneter erhalten sie eine
Entschädigung. Diese sichert bereits den Lebensunterhalt. Deshalb sagen wir: Mit sofortiger Wirkung soll das
Übergangsgeld ab dem zweiten Monat nach dem Ausscheiden aus dem Regierungsamt in voller Höhe ruhen.
Lassen Sie mich das anhand eines konkreten Beispiels verdeutlichen. Ein früherer Bundesminister erhält
bisher neben seiner Abgeordnetenentschädigung ein
Übergangsgeld von bis zu 244 000 DM.
({1})
Wir kürzen den Höchstbetrag des Übergangsgeldes auf
unter zehn Prozent. Ich wiederhole: auf unter zehn Prozent. Ein höheres Übergangsgeld verfehlt deutlich seinen Zweck.
({2})
Zweitens. Mit gleicher Entschlossenheit kürzen wir
zusätzlich zur Abgeordnetenentschädigung bezogene
Versorgungsbezüge aus öffentlichen Kassen. Wen
trifft dies aus unserem Hohen Hause? Einzelne unter Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, waren vor ihrer
Mitgliedschaft im Bundestag als Oberbürgermeister,
Landräte, als kommunale Wahlbeamte tätig. Andere blicken auf eine Tätigkeit als politische Beamte zurück.
Dafür haben sie zu Recht Versorgungsansprüche erworben. Aber warum verbleiben Abgeordneten hiervon neben der Abgeordnetenentschädigung 50 Prozent, während Beamte nur 20 Prozent behalten dürfen? Das ist
nicht in Ordnung. Deshalb rechnen wir künftig alle Versorgungseinkünfte aus öffentlichen Kassen zu 80 Prozent auf die Abgeordnetenentschädigungen an.
Einige fordern hier eine vollständige Anrechnung. Ich
warne aber vor übertriebenem Populismus. Richtig ist
auch: Versorgungsbezüge beruhen auf beruflichen Leistungen. Diese genießen deshalb den Schutz unserer Verfassung. Nach meiner Überzeugung haben wir mit unserer verschärften Anrechnungsbestimmung den politisch
notwendigen und überfälligen Schritt vollzogen. Wir haben den Gestaltungsspielraum, den uns die Verfassung
lässt, vollständig ausgeschöpft.
({3})
- Aber die Zukünftigen wird es betreffen. Das ist genau
der Zweck, den wir haben wollen.
({4})
Wie wirkt sich nun die neue Anrechnungsbestimmung konkret aus? Dazu ein Zahlenbeispiel: Erhält ein
Abgeordneter eine monatliche Amtsversorgung von
vielleicht 9 000 DM, verbleiben ihm nach der alten Anrechnungsregelung 4 500 DM, nach neuem Recht werden ihm neben der Abgeordnetenentschädigung nur
noch1 800 DM ausgezahlt. In diesem Beispielsfall erhält
der Abgeordnete 2 700 DM weniger.
Diese verschärfte Anrechnungsregelung tritt ab der
15. Wahlperiode in Kraft. Dies gebietet das Rückwirkungsverbot unserer Verfassung. Entgegen der Auffassung der Damen und Herren von der CDU/CSUFraktion halten wir es für falsch, bei der Anrechnung
von Versorgungseinkünften zwischen neu gewählten
und wieder gewählten Abgeordneten zu unterscheiden.
Abgeordnete stellen sich zu jedem Bundestag unter den
jeweils geltenden Rahmenbedingungen zur Wahl. Niemand würde es verstehen, wenn Überversorgung aus öffentlichen Kassen als Besitzstand von Abgeordneten gesetzlich festgeschrieben würde. Nicht gerechtfertigte
Überversorgung soll deshalb über die jetzige Wahlperiode hinaus keinen Bestandsschutz genießen.
Es freut mich zu betonen, dass wir wenigstens zu unserer Reform der Amtsausstattung für Abgeordnete den
Konsens aller Fraktionen des Hohen Hauses festzustellen ist. Die Arbeitsbedingungen für Abgeordnete sind
nicht mehr zeitgemäß. Sie halten mit den an sie gerichteten Forderungen hinsichtlich Quantität und Qualität der
für ihre politische Arbeit notwendigen Informationen
nicht mehr Schritt. Die Arbeitsbedingungen für Abgeordnete genügen nicht mehr den hohen Mobilitätsansprüchen des Mandats. Wir können uns nicht den Luxus
erlauben, weniger professionell zu arbeiten als beispielsweise die Wirtschaft. Wie kann die Politik ernsthaft den Anspruch erheben, den Wandel in der Informationsgesellschaft zu gestalten, wenn sie sich dieser
Entwicklung verschließt? Wenn wir keinen Zugang zu
modernen Informations- und Kommunikationstechnologien finden, traut uns niemand die Kompetenz zur
Zukunftsgestaltung zu. Die Anforderungen an die
Betreuung der Wahlkreise sind deutlich gewachsen. Die
Bürgerinnen und Bürger erwarten in ihrem Wahlkreis
einen schnell und zuverlässig informierenden Abgeordneten. Deshalb führt kein Weg daran vorbei: Die gemeinsame Informations- und Kommunikationsplattform
des Deutschen Bundestages muss mit dem technischen
Fortschritt im Bereich der Kommunikations- und Informationstechnologien Schritt halten. Nur dann - ich betone es ganz deutlich: nur dann - kann es gelingen, den
für politische Entscheidungen notwendigen hohen Informationsbedarf zu sichern. Aber auch bei der Reform
der Amtsausstattung für Abgeordnete vergessen wir unsere Sparziele nicht. Alle Kosten in diesem Bereich
werden deshalb aus den bestehenden Haushaltsansätzen
finanziert.
Ich stelle fest: Die Bilanz der von den Fraktionen
SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Novelle
zum Abgeordnetengesetz kann sich sehen lassen. Mehrfachversorgungen von Abgeordneten werden konsequent zurückgeschnitten. Die Arbeitsbedingungen für
Abgeordnete werden modernisiert. Wir rüsten unser Parlament für die Herausforderungen der Informationsgesellschaft. Mehr Gerechtigkeit und mehr Modernität
müssen nicht unbedingt mehr Geld kosten. Im Gegenteil: Wir sparen. Solche Reformen erwarten die Bürgerinnen und Bürger von uns. Ich hoffe, dass wir damit einen guten Beitrag geleistet haben.
Vielen Dank.
({5})
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Joachim Hörster.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Das fulminante Werk, das
der Kollege Küster hier so gepriesen hat, lässt sich im
Grunde in drei Bestandteile zerlegen.
({0})
Das Erste ist, dass in diesem Abgeordnetengesetz eine ganze Reihe sprachlicher und technischer Regelungen getroffen worden sind, die die Verweisungssystematik vereinfachen und das Gesetz etwas lesbarer machen.
Das Zweite ist, dass wir im Bereich der Amtsausstattung im § 12 Abs. 4 die Informations- und Kommunikationstechnik einbezogen haben, eine Regelung, die in
der Sache vernünftig ist und die mitgetragen worden ist.
Das Dritte, was der Herr Kollege Küster als Ausdruck
eines optimalen Sparwillens bezeichnet hat, ist nur
nicht konsequent zu Ende gedacht worden. Denn man
könnte ja noch mehr einsparen, wenn man das Parlament
noch kleiner machte und die Abgeordneten vielleicht ehrenamtlich tätig sein ließe oder Ähnliches.
({1})
Das Ganze, was Sie hier vorgelegt haben, Herr Kollege Küster, entspricht zum Beispiel überhaupt nicht
dem Paket, das der Herr Bundestagspräsident den Fraktionen in seinem Schreiben vom 21. April 1999 empfohlen hat, weil in diesem Paket beispielsweise auch einige
Regelungen hinsichtlich der Transparenz enthalten waren, die merkwürdigerweise von Ihnen nicht aufgenommen worden sind, obwohl Sie die Mehrheit gehabt
hätten, diese hier einzubringen und entsprechend durchzusetzen.
Im Übrigen haben Sie vergessen - auch das will ich
Ihnen gleich entgegenhalten -, dass die Regelung mit
der Doppelalimentation einem Gesetz von 1996 entspricht, das von CDU/CSU und SPD in diesem Hause
alleine getragen worden ist. Die F.D.P. hat ihm nicht zugestimmt, weil in diesem Gesetz eine Regelung über eine Diätenanhebung enthalten war, die die F.D.P. nicht
mittragen wollte. Deswegen richtet sich Ihr Vorwurf,
CDU/CSU und F.D.P. hätten nichts gegen Doppelalimentation unternommen, ganz massiv gegen die F.D.P..
Denn die letzten Änderungen des Abgeordnetengesetzes
sind gemeinsam von unseren beiden großen Fraktionen
getragen worden.
Wir haben bei dieser Änderung des Abgeordnetengesetzes zum Beispiel die Verringerung der Zahl der
Wahlkreise festgelegt. Wir haben ebenfalls festgelegt,
wie der Streit entschieden werden soll, was denn nun die
richtige Ausstattung der Abgeordneten und die richtige
Höhe der Abgeordnetenentschädigung sei. Mit dem Kollegen Dr. Struck bin ich in früheren Jahren einmal gemeinsam in eine Pressekonferenz gegangen, um anhand
von zwei Gutachten, die Sachverständige erstellt haben,
die nicht dem Bundestag angehört haben, zu begründen,
warum die Abgeordnetenbesoldung, die wir gegenwärtig haben, den verfassungsrechtlichen Geboten nicht entspricht. Ich finde, man macht sich einen sehr schlanken
Fuß, wenn man sich einfach aus der Vergangenheit verabschiedet.
Im Übrigen - auch das ist eine Erfahrung, die sicher
jede Kollegin und jeder Kollege, die oder der hier sitzt,
mitgenommen hat - hat uns der Verzicht auf eine Diätenerhöhung noch nie ein größeres Ansehen in der Bevölkerung eingebracht.
({2})
Ganz im Gegenteil, wir haben immer erlebt, dass die
Reaktion war: Offenbar haben die genug, die können ja
verzichten.
Dabei geht es uns überhaupt nicht darum, ob das
100 DM mehr oder 100 DM weniger sind, sondern es
geht entscheidend darum, ob das Ansehen des Parlamentarismus und einer parlamentarischen Tätigkeit in unserer Gesellschaft so ist, dass sie auch in entsprechender
Weise vergütet wird. Das ist der entscheidende Punkt.
({3})
Das Ganze beim Abgeordnetengesetz mit Sparwillen
und Populismus zu begründen scheint mir nicht sehr
vernünftig zu sein.
Da dieses Gesetz, wie wir wissen und wie ich es eben
dargelegt habe, aus drei unterschiedlichen Bereichen besteht, von denen jedenfalls zwei in unserer Fraktion absolut unbestritten sind, haben wir in unserer Fraktion beschlossen, keine Fraktionsmeinung herbeizuführen.
Das heißt, jeder kann nach Lust und Laune abstimmen.
({4})
Für so wichtig halten wir dieses Opus der Koalition
nicht, dass wir darüber länger diskutieren müssten.
Ich persönlich werde gegen das Gesetz stimmen und
will das damit begründen, dass ich mich, im Gegensatz
zu dem Kollegen Küster, aus dem gemeinsamen Wirken
an dem Abgeordnetengesetz mit SPD-Kollegen in Geschäftsführerfunktion über viele Jahre hinweg nicht verabschieden möchte. Denn das, was wir damals gemeinsam für richtig gehalten haben, wird von mir auch heute
noch für richtig gehalten.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Cem
Özdemir.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stehen, was
die Seriosität des Parlaments und des Parlamentarismus
angeht, vor einem Scherbenhaufen, der von „Don
Kohleone“ und seiner Fraktion, der CDU/CSU, ausgelöst wurde. Aber jeder von uns, in welcher Fraktion und
Partei er auch immer ist, wird im Wahlkreis darauf angesprochen und damit konfrontiert. Die Bürgerinnen und
Bürger tun sich zunehmend schwer zu unterscheiden,
wer hier was angerichtet hat. Insofern können wir es uns
nicht so einfach machen und sagen, das sei ein Problem
zwischen Regierung und Opposition. Jeder von uns ist
gefragt, Beiträge zu leisten.
Wir stehen erst am Anfang der Debatte über die völlige Neustrukturierung der Finanzierung des Politikbetriebs in der Bundesrepublik Deutschland. Wir werden
neue Regelungen brauchen, was die Parteienfinanzierung und die Parteispenden angeht. Tragender Gedanke
im Hinblick auf den gesamten Bereich der Parteienfinanzierung wird zukünftig die Transparenz sein müssen.
({0})
Was wir seit November Tag für Tag erfahren, darf nicht
ohne tief greifende Auswirkungen auf die Gestaltung
und Finanzierung unserer demokratischen Institutionen
bleiben.
Ich glaube allerdings nicht, dass wir von einer Staatskrise reden müssen, auch wenn das immer wieder kolportiert wird. Wir hätten vielleicht eine Staatskrise gehabt, wenn es nicht zu einem Regierungswechsel gekommen wäre.
({1})
Auch das ist ein wichtiges Argument dafür, dass es gut
ist, dass es zu diesem Regierungswechsel gekommen ist.
Wir sehen in diesen Tagen, warum.
Da in unserem Berufstand gelegentlich eine gewisse
Form von Amnesie um sich greift, möchte ich die Gelegenheit auch nutzen, daran zu erinnern, dass vieles an
der Diskussion, die wir heute führen, so neu nicht ist.
Ich erinnere an die Diskussion in der Gemeinsamen
Verfassungskommission nach der deutsch-deutschen
Einheit, in der viele Vorschläge, über die wir heute diskutieren, bereits angesprochen worden sind. Wir werden
es Ihnen nicht ersparen, Sie daran zu erinnern, wie damals die Union, aber leider auch die F.D.P. nahezu jeden
Vorschlag in Sachen Transparenz, Reform und direkte
Demokratie abgelehnt haben. Herr Kollege, Sie sollten
sich einmal die Protokolle der damaligen Gemeinsamen
Verfassungskommission durchlesen; es lohnt wirklich
die Lektüre.
({2})
Wir werden viele sinnvolle Vorschläge zur Weiterentwicklung unserer Demokratie, die damals auch mit unseren Freunden und Freundinnen aus den neuen Ländern
erarbeitet worden sind, aufgreifen.
Herr Kollege Küster hat bereits darauf hingewiesen,
dass diese Reform eine Reform mit Augenmaß ist. Es
geht hier nicht darum, dass wir unseren eigenen Berufsstand diskreditieren. Es geht auch nicht darum, dass wir
so tun, als müssten wir in Sack und Asche herumlaufen.
Wir sollten die Diätendiskussion von dem trennen, was
wir hier tun. Hier machen wir notwendige Einschnitte in
die Doppelalimentation von politischen Würdenträgern. Hier geht es darum, dass Dinge, die von niemandem verstanden werden, so nicht länger Bestand haben
können.
Der von uns eingebrachte Vorschlag - Bündnis 90/
Die Grünen hat das früher schon gefordert - ist sinnvoll
und es wert, dass wir ihn durchsetzen. Wir wollen die
Mehrfachversorgung von Abgeordneten kräftig zusammenstreichen. Die Bürgerinnen und Bürger haben das
„Sterntalersyndrom“ vom unbegrenzten Aufsammeln
himmlischer Wohltaten zu Recht nie verstanden.
({3})
Im ersten Punkt geht es darum, dass ab der kommenden Legislaturperiode - insofern könnte man sagen, wir
schädigen uns selbst, da wir davon ausgehen, dass es zu
einer Wiederauflage der rot-grünen Koalition kommt;
auch daran sehen Sie, wie seriös wir arbeiten, denn wir
treffen uns mit dem, was wir hier machen, selbst - alle
aus öffentlichen Kassen bezogenen Versorgungsbezüge
zu 80 Prozent auf die Diäten angerechnet werden. Das
heißt, frühere Landesminister und hauptamtliche Bürgermeister dürfen neben der Abgeordnetenentschädigung nur noch 20 Prozent ihrer Versorgungsbezüge behalten. Das ist übrigens im Beamtenrecht üblich und
insofern auch keine Schlechterstellung, sondern angemessen. Das Übergangsgeld für Bundesminister und
Parlamentarische Staatssekretäre wird künftig bereits ab
dem zweiten Monat neben den Abgeordnetendiäten ruhen. Bisher bekamen sie bis zu drei Jahre lang Übergangsgeld. Auch das scheint mir eine Maßnahme mit
Augenmaß zu sein.
Die drastischen Kürzungen, die wir jetzt vornehmen,
sollen zu einer Reform der Politikfinanzierung beitragen. Ich nehme an, dass auch Herr Eichel sich darüber
freuen wird, auch wenn dies nur einen symbolischen
Beitrag zur Haushaltskonsolidierung darstellt. Aber es
ist ein wichtiger Beitrag in einer Zeit, in der wir über
Zukunftsgestaltung und Sparpakete reden. Auch dies unterscheidet uns von der alten Regierung. Während die alte Regierung - Kohl und die Minister, insbesondere der,
der für Recht und Ordnung zuständig war - den Staat im
Wesentlichen als Ressource für eigene Privilegien verstanden hat, sehen wir unsere Aufgabe auch darin, sie
dort zu beschneiden, wo sie überflüssig oder unangemessen sind. Auch das ist ein Signal gegen Politikverdrossenheit, ein Signal dafür, dass diese Regierung und
die sie tragenden Fraktionen bereit sind, diese Diskussion selbstkritisch zu führen.
Sicherlich gibt es Bereiche, in denen uns die Regelungen - Herr Kollege Hörster hat dies, zugegebenermaßen ironisch, aufgegriffen; ich meine es ernst - nicht
weit genug gehen. Wir haben uns daher in der Koalition
darauf verständigt, weiter darüber zu diskutieren und
noch in dieser Legislaturperiode ein Angebot vorzulegen. Meine Fraktion ist der Meinung, dass zum Beispiel
die geltenden gesetzlichen Regelungen bezüglich der so
genannten politischen Beamten weder sachlich gerechtfertigt noch gegenüber der Öffentlichkeit zu erklären
sind. Ich weiß, dass viele mit den herkömmlichen
Grundsätzen des Berufsbeamtentums ankommen. Aber
wir erwarten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, dass sie sich veränderten Gegebenheiten anpassen, dass sie bereit sind, sich umzustellen, sich weiterzubilden und auch Tätigkeiten in einem völlig anderen
Umfeld anzunehmen. Ich glaube durchaus, dass wir
auch beamteten Staatssekretären Selbiges zumuten können.
({4})
Deshalb meine Bitte: Lassen Sie uns nach diesem ersten Schritt den zweiten folgen; das wäre nur konsequent.
In der Zeit tiefer Einschnitte wird niemand für sich in
Anspruch nehmen können, dass diese Maßnahmen vor
ihm Halt machen.
Danke sehr.
({5})
Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt der Kollege Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Kollege Özdemir hat einen
bunten Strauß von Themen angesprochen, allerdings nur
ganz wenig zu dem gesagt, was wir im Augenblick debattieren. Ich möchte mich auf dieses Thema beschränken; denn ich denke, dass es uns hilft, wenn wir uns mit
den Debattenthemen intensiver auseinander setzen.
({0})
Im Gegensatz zu der größeren Oppositionsfraktion
werden wir als F.D.P. diesem Gesetzentwurf zustimmen - nicht, weil wir mit allem einverstanden wären,
sondern weil wir der Auffassung sind, dass die Richtung
stimmt.
({1})
Dass die Richtung stimmt, können Sie daran ersehen,
dass wir als Regierungskoalition versucht haben, einen
Teil dessen, was heute verabschiedet werden wird, umzusetzen, nämlich die Anrechnung der Bundestagsdiäten
auf die Übergangsgelder.
Es ist völlig falsch, wenn hier, insbesondere vom
Kollegen Özdemir, der Eindruck erweckt wird, als seien
in der letzten Legislaturperiode in diesem Bereich keine
Änderungen vorgenommen worden. Wir haben erhebliche Einschnitte vorgenommen, übrigens mit dem Ergebnis, das wir alle kennen, nämlich dass die Akzeptanz der
Tätigkeit der Abgeordneten nicht besser geworden ist.
Jeder, der hier die Illusion erweckt - Gott sei Dank hat
dies in der bisherigen Debatte nach meiner Beobachtung
niemand getan -, dass dadurch eine größere Zufriedenheit mit der Tätigkeit der Parlamentarier zu erreichen
wäre, wird sich täuschen.
({2})
Es wird weiterhin Kritik geben, egal was wir machen.
Ich denke aber, dass es berechtigte Kritik ist, und wir
haben die Verpflichtung, auf berechtigte Kritik einzugehen.
Für uns hat zur berechtigten Kritik immer gehört,
dass Übergangsgelder nur dazu dienen sollen, einen
Übergang abzufedern. Wer ein Regierungsamt übernommen hat, wie zum Beispiel das der Parlamentarischen Staatssekretärin im Innenministerium, der unterliegt dem Berufsverbot, der darf keinen anderen Beruf
ausüben und dem kann es passieren, dass er, wenn er
sein Amt verliert, von heute auf morgen auf der Straße
steht. Deshalb muss es Übergangsgelder geben. Der
Sinn der Übergangsgelder tritt jedoch dann nicht ein,
wenn ein Beruf ausgeübt wird, wie es eben bei der genannten Parlamentarischen Staatssekretärin der Fall ist.
Sie ist Abgeordnete und bekommt Abgeordnetenbezüge;
sie steht nicht auf der Straße. Es macht also Sinn, dann
das Gehalt, das man als Abgeordneter bezieht, anzurechnen. Das wird von uns unterstützt.
Der zweite Punkt, den wir für richtig halten, ist die
Änderung der Bestimmung, durch die es uns ermöglicht
wird, die moderne Kommunikationstechnologie in unsere Arbeit einzubeziehen, und zwar im Rahmen der Gelder, die uns dafür zur Verfügung stehen. Von daher sagen wir Ja zu der Zielrichtung.
Trotzdem - das will ich deutlich machen - bleiben
wir bei unseren Überlegungen, zu einer radikalen Neuordnung zu kommen. Der Kollege Hörster hat schon gesagt, dass die letzte große Initiative zur Regelung der
Abgeordnetendiäten von CDU/CSU gemeinsam mit
der SPD erfolgt ist, weil wir der Auffassung sind, dass
wir nicht wie Beamte besoldet werden sollten, uns also
nicht am öffentlichen Dienst orientieren sollten, sondern
dass unser Beruf den Freiberuflern gleichgestellt werden
sollte. Deshalb bleiben wir dabei, dass uns eine Kommission, bestehend aus unabhängigen Persönlichkeiten,
Vorschläge machen soll und dass unsere Altersversorgung so geregelt werden soll, wie es bei Freiberuflern
üblich ist.
({3})
Unsere Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf hindert
uns nicht daran, dieses Ziel, das ich hiermit noch einmal
deutlich machen wollte, weiter zu verfolgen.
Lassen Sie mich noch folgende Bemerkung machen. Sie
alle wissen, dass die Landtage Jahr für Jahr ihre Diäten
erhöhen. All die Diskussionen, die bei uns geführt werden, finden dort nicht statt. Sie wissen, dass fast alle
Landtage keine Bestimmungen haben, die dem entsprechen, was wir heute verabschieden. Ich habe den
Wunsch, dass die vernünftigen Gründe, die uns dazu
bewegen, diese Änderungen vorzunehmen, bald auch in
den Landtagen gesehen werden und dass die Landtage
uns folgen.
Herzlichen Dank.
({4})
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Roland Claus für die
PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch unsere Fraktion will diesem Gesetzentwurf die Zustimmung geben. Uns bewegen dabei
die heute schon geschilderte Vermeidung von Doppelvergütungen und die Möglichkeit der Nutzung moderner
Technik. Das ist nicht viel von dem, was man sich insgesamt gewünscht hätte, aber es geht in die richtige
Richtung.
Der Einwand, den der Kollege Hörster für die Christdemokraten gemacht hat, ist uns aber nicht verständlich.
Ich fand seine Argumentation auch reichlich gestelzt.
Wenn es Ihnen wirklich darum geht, viel weiter gehende
Vorschläge einzubringen, so hätten Sie das mit einem
Änderungsantrag locker machen können. Wenn Sie sich
dem verweigern, was die anderen Fraktionen heute beschließen, wird die öffentliche Botschaft über die
CDU/CSU wiederum lauten: Bescheidenheit ist uns
immer noch fremd. Ich glaube, das ist nicht gut.
({0})
- Das ist für uns alle nicht gut.
Eines ist übrigens bemerkenswert: Während Sie im
federführenden Ausschuss noch geschlossen gegen das
Gesetz gestimmt haben, haben Sie, Herr Kollege
Hörster, heute gesagt, die Abgeordneten könnten nach
„Lust und Laune“ abstimmen. Vielleicht hat es auch bei
Ihnen einiges an Bewegung gegeben.
An der Einbringung des Gesetzentwurfes hat mich
das etwas zu dick geratene Eigenlob der Koalition etwas
gestört.
({1})
Der Kollege Küster hätte mir die Zustimmung beinahe
ausgeredet. Es hat nur noch gefehlt, dass Sie das gesagt
hätten, was wir jetzt immer zu hören bekommen, nämlich das Gesetz sei „alternativlos“. Sie wissen, wovon
ich rede.
Eine Reform wurde angekündigt; ein „Reförmchen“
ist daraus geworden. Die Sache bewegt sich aber in die
richtige Richtung. Deshalb lassen wir uns unsere Zustimmung auch nicht von Ihrem Eigenlob ausreden.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Abgeordneten- und Europaabgeordnetengesetzes auf den Drucksachen 14/2235 und 14/2660. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen einige Stimmen aus der CDU/CSUFraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen einiger Mitglieder
der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 6 der Tagesordnung
auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Nachhaltige Energieversorgung unter den Bedingungen der Globalisierung und der Liberalisierung“
- Drucksache 14/2687 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die
Kollegin Monika Ganseforth für die Fraktion der SPD.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! Viele sagen, sie
wüssten genug, um eine nachhaltige Energieversorgung
einzuleiten, und fragen, wozu wir noch eine EnqueteKommission brauchen. In der Tat haben sich in der Vergangenheit diverse Kommissionen mit dem Thema einer
nachhaltigen Energieversorgung beschäftigt und dem
Bundestag ausführliche Berichte mit einer Fülle von
Empfehlungen vorgelegt. Ich habe den letzten Bericht
auf der Drucksache 12/8600 vom 31. Oktober 1994 mitgebracht. Das ist nicht der dickste, der unter der Überschrift „Mehr Zukunft für die Erde - Nachhaltige Energiepolitik für dauerhaften Klimaschutz“ steht. Obwohl
wir so viel wissen, ist es in der Vergangenheit kaum gelungen, diese Empfehlungen umzusetzen.
Eines der größten Hemmnisse war dabei das Festhalten an den überkommenen Strukturen der angebotsorientierten Energiebereitstellung. Ein wesentlicher
Grund dafür war der Preis. Mit der bisherigen Energieerzeugung wurde sehr viel Geld verdient, wie sich an
dem Sinken der Strompreise seit dem Aufbrechen der
Monopole zeigt. Langsam werden diese Luft und diese
Zusatzverdienste herausgedrückt.
Der zweite Grund für den Stillstand in der Energiepolitik der Vergangenheit war der Streit um die Zukunft
der Atomenergie. Die Atomenergie trägt in Deutschland
mit etwa 10 Prozent zur Primärenergie bei. Bei der
Stromerzeugung sind es allerdings 30 Prozent. Weltweit
ist der Anteil der Atomenergie sogar nur halb so groß.
Aber der Streit um diesen Teil hat eine nachhaltige
Energiepolitik in der Vergangenheit weitgehend blockiert und verhindert.
({0})
Es wurde beispielsweise das Ausschöpfen der enormen
Effizienzpotenziale verhindert. Wir haben in der Enquete-Kommission damals ermittelt, dass es rund
40 Prozent sind. Der Wirkungsgrad von der Primärenergie bis zur Nutzenergie beträgt ungefähr 10 Prozent. Das
heißt, 90 Prozent der eingesetzten Energie geht im Wesentlichen auf dem Umwandlungsprozess bis zur Nutzenergie verloren. Weltweit ist es sogar noch viel
schlechter. Da gehen ungefähr 95 Prozent verloren. Hier
wäre also sehr viel zu tun. Man könnte mit der halben
Primärenergie genau dieselbe Wirkung haben, wenn
man diese Potenziale nutzen würde.
Auch die Nutzung erneuerbarer Energien wie Solarenergie, Biomasse, Wasser und Wind wurde wegen der
Blockade nicht in dem notwendigen Maß vorangetrieben.
({1})
Es gelang noch nicht einmal, die Hemmnisse zu beseitigen, die den ökonomischen Potenzialen für eine nachhaltige Energieversorgung im Wege stehen.
Es ist richtig: Es hat sich seit dem Regierungswechsel
einiges getan. Wir haben das 100 000-Dächer-Programm
auf den Weg gebracht. Wir haben die Ökosteuer eingesetzt, die die Energieeffizienz verbessern soll. Wir haben
ein Anreizprogramm mit den eingenommenen Mitteln
aufgelegt, die nicht für die Senkung der Lohnnebenkosten verwendet werden. Wir sind dabei, ein hervorragendes Gesetz für die Förderung erneuerbarer Energien zu
machen. Die Energieeinsparverordnung, die den Namen
auch verdient, ist in Arbeit. Gleiches gilt für die Kampagne „Solar - Na klar!“ usw. Wir haben also mehr
Tempo in die Sache gebracht.
({2})
Dann stellt sich, wenn wir auf so einem guten Weg
sind, natürlich die Frage: Was soll eine neue EnqueteKommission noch leisten? Was ist neu? Seit den letzten
Arbeiten haben sich die Rahmenbedingungen für Energiepolitik durch die Liberalisierung der Energiemärkte
und die Globalisierung durchgreifend geändert. Das sind
neue Gesichtspunkte. Nationale Energiepolitik muss
diese Bedingungen stärker berücksichtigen als in der
Vergangenheit. Das wird der Schwerpunkt der Arbeit
der neuen Enquete-Kommission sein.
Es heißt zum Beispiel im Einsetzungsbeschluss: „Im
Zentrum sollen die kurz-, mittel- und langfristigen
Klimaschutzziele … stehen.“ Wichtig sind hier die
25 Prozent CO2-Reduktion, die wir zugesagt haben,
sowie die völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands im Rahmen des Kioto-Prozesses. Es geht um die
Konkretisierung dieser Ziele einmal bis zum Jahr 2010,
aber auch der Ziele bis zum Jahr 2050. Die EnqueteKommission hat damals gesagt, dass die Industriestaaten
ihre Emissionen bis zu 80 Prozent reduzieren müssen.
Das ist wahrlich eine anspruchsvolle Aufgabe.
Trends, Ziele und Gestaltungsspielräume sind national, europäisch und im globalen Rahmen aufzuzeigen.
Insbesondere geht es darum, die veränderten Rahmenbedingungen von Globalisierung und Liberalisierung zu
berücksichtigen.
({3})
- Ich habe nicht den Eindruck, als wenn dies die Kollegen und Kolleginnen von der Opposition sonderlich interessierte. Ich kann verstehen, wenn Sie im Augenblick
andere Sorgen haben. Aber hier geht es um wichtige
Fragen für die Zukunft. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn
Sie sich auch damit etwas beschäftigen würden und
nicht nur mit sich selber.
({4})
Ob die Enquete-Kommission diese Aufgabe, die ich
eben geschildert habe, wirklich lösen kann und ihr gerecht wird, wird davon abhängen, ob es gelingt, Pro und
Kontra der Atomenergie nicht wieder in den Mittelpunkt zu stellen; denn das würde die Diskussionen blockieren. Über dieses Thema werden wir keine Einigung
zwischen der rechten und linken Seite des Hauses erzielen. Auf Ihrer Seite sind nach wie vor die Befürworter
der Atomenergienutzung, während wir diese gefährliche
Energieform nicht mehr verwenden wollen. Wir halten
sie für zu riskant. Die Gründe dafür sind altbekannt: Die
Nutzung ist zu gefährlich, die Proliferation kann nicht
ausgeschlossen werden und für die Endlagerung gibt es
keine sichere Lösung.
Gestern gab es wieder einen Störfall in einem Atomkraftwerk bei New York.
({5})
Dort hat es ein Leck in einer Wasserleitung gegeben, radioaktiver Dampf ist entwichen. Alarmstufe 2 ist ausgerufen worden. Jetzt passiert das, was immer passiert. Es
wird gesagt: Es ist ja nicht die ganz große Katastrophe
eingetreten, wir haben alles im Griff. Ich muss Ihnen sagen: Wir werden und wollen uns nicht an diese Meldungen gewöhnen.
Den Streit um die Atomenergie werden wir also auch
in dieser Enquete-Kommission nicht lösen. Wir werden
nur dann erfolgreich sein, wenn wir uns nicht an der
Frage der national 10 Prozent bzw. weltweit etwa
5 Prozent der Primärenergienutzung festbeißen, sondern
wenn wir uns um die restlichen 90 bzw. 95 Prozent des
Energiebedarfs kümmern.
({6})
Ich sage einmal ganz klar an Ihre Seite gerichtet: Die
Enquete-Kommission darf kein Kampfinstrument werden.
({7})
- Ich bekomme große Bedenken, wenn ich das höre. Sie muss einen Dialog- und Lernprozess einleiten. Wir
haben eine große Verantwortung. Wir müssen über die
90 bzw. 95 Prozent der restlichen Energie sprechen; darauf kommt es an.
Ich will einen Teil aus den Empfehlungen dieses Berichts vorlesen, den damals die Minderheit verabschiedet
hat.
({8})
- Ich habe große Sorge, wenn ich Sie so höre.
({9})
Ich bitte Sie, wirklich zuzuhören, weil es dabei um
wichtige Dinge geht.
Wir haben geschrieben:
Unverantwortlich ist, dass und wie wir Reichen zulasten der Armen leben. Diese Unverantwortlichkeit wird noch dadurch verschärft, dass wir - und
das gilt auch für Deutschland - dies wissen und in
Kenntnis der Folgen fast nichts tun, um daran etwas
zu ändern.
Und vielleicht noch schlimmer ist, dass dieses
Nichtstun im Wesentlichen auf einem Mangel an
Verständigungswillen beruht. Diejenigen, die den
energiepolitischen Gegensatz aufrechterhalten und
damit die gegenseitige Blockade stabilisieren,
kämpfen nicht nur gegeneinander. Vor allem verweigern sie gemeinsam die Verständigung zulasten
der Dritten Welt und der Nachwelt.
Das war das Zitat, und ich will nicht verhehlen, dass
ich - gerade nach Ihren Reaktionen - skeptisch bin, ob
der Verständigungswille inzwischen größer geworden ist
als zu der Zeit, als wir an diesem Bericht gearbeitet haben, und ob die Enquete-Kommission gelingen wird.
Wir müssen aber versuchen, diesen Dialog über Parteigrenzen hinweg und mit den Wissenschaftlern und den
Expertinnen und Experten der verschiedenen Gruppen
und der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte zu führen. Dieser Dialog ist ganz wichtig; denn die Herausforderungen, vor denen wir stehen und die wir zu bewältigen haben, sind mit oder ohne Atomenergie gewaltig.
Die Regierungskoalition ist bereit, sich diesen Herausforderungen zu stellen und diesen Dialog im Interesse der Verantwortung zu führen. Wir werden unseren
Beitrag für eine erfolgreiche Arbeit der EnqueteKommission leisten. Es kommt darauf an, dass auch Sie
bereit sind, zusammenzuarbeiten. Nur dann werden wir
Erfolg haben.
Schönen Dank.
({10})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Herr Kollege Dr. Ralf
Brauksiepe.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heutigen
Einsetzungsbeschluss für unsere Enquete-Kommission
stehen wir zunächst einmal an einem erfolgreichen Ende
schwieriger Verhandlungen, aber eben erst am Anfang
einer gemeinsamen Suche nach Problemlösungen für die
Aufgaben, die wir uns gestellt haben.
Ich bin froh, für die CDU/CSU-Fraktion, die diese
Enquete-Kommission ausdrücklich wollte, feststellen zu
können, dass nach unserer Auffassung mit diesem Einsetzungsbeschluss, über den Sie, Frau Kollegin, relativ
wenige Worte verloren haben, eigentlich alle Voraussetzungen dafür gegeben sind, dass wir die Ziele, die wir
uns vorgenommen haben, auch erreichen können und
dass wir insbesondere auch eine langfristige Energiepolitik in ihren Grundzügen hoffentlich weitgehend im
Konsens verabreden können.
Wir stehen in der Energiepolitik zweifellos vor gravierenden Herausforderungen. Dazu zählt selbstverständlich nicht zuletzt das wichtige Ziel des Umweltund Klimaschutzes. Wir müssen die natürlichen Lebensgrundlagen vor dem Hintergrund des nicht tolerierbaren
Klimawandels und seiner Auswirkungen sichern. Wir
haben dieses Ziel so in unserem Beschluss formuliert.
Dazu gehört die Bekämpfung der CO2Problematik. Dazu
gehört auch, dass wir die gemeinsam beschlossenen nationalen und internationalen Ziele der CO2-Reduktion
verwirklichen und den Weg, den die frühere Bundesregierung in diesem Bereich so erfolgreich eingeschlagen
hat, auch gemeinsam fortsetzen.
({0})
Wir freuen uns in diesem Zusammenhang im Übrigen
auch, wenn die heutige Bundesregierung nach dem Motto „Besser spät als nie“ irgendwann zu den richtigen
Einsichten kommt. Deswegen haben wir es auch begrüßt, dass der heutige Bundesumweltminister im letzten
Jahr auf der 5. Internationalen Klimaschutzkonferenz in
Bonn ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass
Deutschland zu den wenigen Ländern gehört, die seit
1990 überhaupt eine Reduktion ihres CO2-Ausstoßes erreicht haben.
Er hat weiter darauf hingewiesen, dass mit den bereits
eingeleiteten Maßnahmen bis zum Jahr 2005 eine Reduktion um immerhin 17 Prozent erreicht sein wird. Wir
wären froh, wenn wir guten Gewissens sagen könnten,
dass die neue Bundesregierung die richtigen Maßnahmen ergriffen hat, um auch die restlichen 8 Prozent der
angestrebten Reduktion, gemessen an unseren Zielvorstellungen, bis zum Jahr 2005 zu erreichen. Davon kann
aber leider nicht die Rede sein.
Das ist für uns im Übrigen ein ganz entscheidender
Aspekt in der Debatte über die Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit ist für uns etwas anderes als Langfristigkeit.
Nachhaltige Energiepolitik ist eben eine Politik, die klar
auf die Senkung des CO2-Ausstoßes setzt und generell
keine Energieträger aus der Betrachtung ausschließt, die
dazu einen wichtigen Beitrag leisten können.
({1})
Bei aller Bedeutung der umwelt- und klimapolitischen Fragen geht es uns bei der vor uns liegenden Arbeit nicht allein um diese Fragen. Sämtliche Ziele, die
wir uns setzen - das ist bereits angesprochen worden -,
sind vor dem Hintergrund der Globalisierung und der
Liberalisierung zu verwirklichen. Das bedeutet auch,
dass wir die volkswirtschaftlichen Aspekte der Energiepolitik keinesfalls außer Acht lassen dürfen.
Für uns als CDU/CSU spielt die Wettbewerbsfähigkeit des Energieproduktionsstandortes Deutschland eine
ganz herausragende Rolle. Wir wollen nicht, dass in
Deutschland nur Energie verbraucht wird, sondern wir
wollen, dass dort auch Energie produziert wird.
({2})
Wir brauchen den Energieproduktionsstandort
Deutschland gerade auch für die Sicherung bestehender
und die Schaffung neuer Arbeitsplätze.
({3})
Wahrscheinlich hört die Einigkeit auf, sobald ich
feststelle, dass es dabei nicht darum gehen kann, Arbeitsplätze in gute und schlechte zu teilen. Eine sinnvolle Energiepolitik sieht für uns nicht so aus, mit einem
großen moralischen Anspruch in Deutschland Arbeitsplätze im Bereich der Kernenergie zu vernichten und
gleichzeitig Atomstrom aus Frankreich oder anderen
Ländern zu importieren. Das kann nicht der richtige
Weg in die Energiepolitik der Zukunft sein.
({4})
Dabei sind wir uns darüber im Klaren, dass es gerade
vor dem Hintergrund der Liberalisierung der Energiemärkte, die - ob wir wollen oder nicht - ja noch weiter
voranschreiten wird, nicht möglich ist, die Anteile einzelner Energieträger am Energiemix der Zukunft von
vornherein durch staatliche Regulierungen exakt festzuschreiben.
({5})
Das funktioniert nicht. In einem globalisierten und liberalisierten Energiemarkt muss sich dieser Energiemix
vielmehr ein Stück weit am Markt bilden.
({6})
Die Politik muss dafür, national und international abgestimmt, die erforderlichen Rahmenbedingungen setzen. Verbote gehören sinnvollerweise nicht zu solchen
Rahmenbedingungen.
Vor diesem Hintergrund ist es für uns als CDU/CSUFraktion besonders wichtig, dass die in unserem Einsetzungsbeschluss vorgesehenen fünf Optionen, die für
jeweils vergleichbare Zeiträume untersucht werden sollen, auch klar und gleichberechtigt nebeneinander stehen. Es kann keine von vornherein politisch festgesetzte
Prioritätenfolge und auch keine Präjudizierung dahin
gehend geben, wie der Energiemix der Zukunft aussehen
soll.
Deswegen möchte ich diese nach langen Verhandlungen gemeinsam festgelegten Optionen noch einmal in
Erinnerung rufen. Da ist zunächst selbstverständlich die
Ausschöpfung der kurz- und mittelfristig verfügbaren
Energieeinsparpotenziale in den Bereichen Elektrizität,
Wärme und Mobilität unter Berücksichtigung von Energiedienstleistungen. Es ist völlig klar, dass Energieeinsparpotenziale genutzt und ausgeschöpft werden müssen.
Uns ist aber gleichzeitig auch klar, dass die so viel
beschworene Effizienzrevolution von uns hier nicht einfach beschlossen und verkündet werden kann und dass
von daher eine solche Option allein auch nicht ausreichend ist. Deswegen legen wir großen Wert auch auf die
Optionen, die uns die erneuerbaren Energien geben. In
diesem Zusammenhang wirkt natürlich auch der Ausbau
weiterführender Technologien als Ergänzung zu den erneuerbaren Energien. Wir unterstützen es auch, die
Möglichkeiten für den Einsatz von Kraft-WärmeKopplung für die langfristige Energieversorgung zu prüfen, so wie wir es uns vorgenommen haben.
Wir nehmen darüber hinaus auch dankbar zur Kenntnis - ich halte mich zunächst einmal an das, was wir
vereinbart haben -, dass es nach schwierigen Verhandlungen und nach einer längeren Vorbereitung doch gelungen ist, sich darauf zu verständigen, dass wir eben
auch - hier zitiere ich unseren Einsetzungsbeschluss
wörtlich - den „Beitrag der Kernenergie sowie der weiterführenden Forschung in der Kernenergie“ als eine
gleichberechtigte Option in den Arbeitsauftrag der Enquete-Kommission aufgenommen haben.
Es sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein,
dass man vorbehaltlos sämtliche Optionen prüft. Aber
wir sind ja nicht nur aus den Vorgesprächen für die Bildung dieser Enquete-Kommission, sondern leider auch
aus der praktischen Regierungspolitik dieser Bundesregierung eine Menge Kummer gewöhnt.
({7})
Meine Damen und Herren, wie Sie von der Regierungskoalition in den letzten Monaten versucht haben,
den Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie politisch durchzusetzen, das widerspricht nicht nur aller
ökonomischen, sondern auch aller ökologischen Vernunft. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie endlich aufhören, mit Ihrer Verstopfungsstrategie bei den notwendigen Atomtransporten und mit anderen Nadelstichen auf
kaltem Wege diesen Kernenergieproduktionsstandort
Deutschland - gegen den Import von Kernenergiestrom
haben Sie ja offenbar nichts - kaputtmachen zu wollen.
({8})
Dagegen wehren wir uns. Hören Sie damit auf!
Warten Sie ab; lassen Sie sich in dieser EnqueteKommission wissenschaftlich beraten und treffen Sie
erst dann vernünftige Entscheidungen in der Sache! Das
ist unser Wunsch.
Zu Ihrer bisher betriebenen Energiepolitik passen leider eben auch die Tendenzen - mit denen wir konfrontiert waren -, dass Sie eine wissenschaftlich fundierte
Diskussion über die Kernenergie eigentlich von vornherein verhindern oder - um es mit Ihren Worten zu sagen - blockieren wollten. Es widerspricht doch eigentlich dem Sinn jeder Enquete-Kommission, Optionen von
vornherein auszuschließen und Denkverbote erteilen zu
wollen. Deswegen nehmen wir schon mit Befriedigung
zur Kenntnis, dass Sie sich bei der Formulierung dieses
Beschlusses unserer Auffassung in dieser Frage, dass
wir über dieses Thema diskutieren wollen, letztlich doch
angeschlossen haben.
Es gibt nach unserer Überzeugung in der Energiepolitik keinen Weg ohne Risiken. Wir bestreiten nicht, dass
bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie Risiken zu
beachten und zu minimieren sind. Wir wollen uns allerdings nicht so verheben, uns vorzunehmen, dass wir im
Rahmen der Arbeit dieser Enquete-Kommission die
Kernenergieprobleme des Staates New York lösen werden. Das wird unsere Möglichkeiten übersteigen.
Wir sagen aber auch, dass es Risiken gibt, die mit anderen Energieträgern verbunden sind. Ich erinnere nur
an die regional sehr unterschiedliche Verteilung der
Energieressourcen auf der Welt und an die politischen
Risiken, die damit verbunden sind, wenn wir uns zunehmend von Energieimporten nach Deutschland abhängig machen.
({9})
Gerade vor diesem Hintergrund - das sage ich Ihnen
von der Regierungskoalition auch als Abgeordneter aus
Nordrhein-Westfalen; der eine oder andere NordrheinWestfale ist ja hier auch anwesend - sollten wir mit unseren heimischen Energieträgern sorgsam umgehen.
Deshalb sage ich auch: Es ist unverantwortlich, wenn
Sie mit Ihren Ökosteuerplänen die Arbeitsplätze in der
Braunkohle erst massiv gefährden und dann noch nicht
einmal den Mut haben, das den betroffenen Menschen
auch zu sagen,
({10})
sondern sich mit Ankündigungen von Nachbesserungen
über die nordrhein-westfälischen Landtagswahlen retten
wollen. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das geringste Risiko in der Energiepolitik, in der Energieversorgung ist
nach aller Erfahrung mit einem ökonomisch und ökologisch vernünftigen Mix der verschiedenen Energieträger
verbunden.
({12})
Wir als CDU/CSU wollen sämtliche Wege vorbehaltlos untersuchen. Wir wollen bei der Arbeit in dieser Enquete-Kommission nichts von vornherein ausschließen.
Wir wollen keine Energieträger diskriminieren und auch
keinen bevorzugen.
Wir wissen natürlich, dass wir in dieser EnqueteKommission keine politische Mehrheit haben. Deswegen setzen wir auf den Sachverstand nicht nur der Abgeordneten, sondern gerade auch der Vertreter der Wissenschaft in dieser Kommission. Wir sind sehr zuversichtlich, dass auch die von Ihnen benannten Sachverständigen zu der notwendigen Versachlichung der energiepolitischen Debatte beitragen.
({13})
Unser Eindruck von der Energiepolitik der Bundesregierung ist: Diese Bundesregierung hat energiepolitische
Beratung wirklich bitter nötig. Wir hoffen sehr, liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, dass Sie sich bei den Beratungen der EnqueteKommission nicht wie in vielen anderen politischen
Sachfragen als beratungsresistent erweisen. Das können
wir nicht gebrauchen. In diesem Sinne freuen wir uns
auf die gemeinsame Arbeit in der Enquete-Kommission.
Vielen Dank.
({14})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Michaele Hustedt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Brauksiepe, ich hoffe - ehrlich gesagt -, dass die Diskussion in unserer Enquete-Kommission ein etwas besseres Niveau haben wird als das, was Sie hier gezeigt
haben.
({0})
Angesichts dieser platten Diskussion über Energiepolitik, die nicht zur Kernzeit stattfindet, sondern dann,
wenn keiner mehr zuhört - es geht schließlich um eine
Enquete-Kommission -, hoffe ich, dass wir in der Enquete-Kommission nicht auf dieses Niveau zurückfallen
werden und dass sich dieser Stil dort nicht wiederholen
wird. In der Enquete-Kommission sollten wir ein bisschen tiefer in die Thematik einsteigen.
({1})
- Ich kann sagen, was ich will. Noch habe ich ein freies
Rederecht, Herr Grill. Danach sind Sie an der Reihe.
Wir fangen auch nicht bei Null an. Wir knüpfen Frau Ganseforth hat darauf hingewiesen - an die alte
Klimaenquete an. Unser Ziel ist, die Treibhausgase bis
2005 - EU-weit bis 2010 - zu reduzieren. Wir alle akzeptieren wohl das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung, auch wenn wir es zum Teil unterschiedlich auslegen. Das EU-Ziel ist, den Anteil der erneuerbaren Energien und der Kraft-Wärme-Kopplung zu verdoppeln.
Das alles ist die Grundlage, um die Diskussion fortzuführen.
Aber Marktwirtschaft im Bereich der Energieversorgung ist für alle Neuland. Wir alle lernen während
der Entstehung des Marktes gleichzeitig hinzu. Alle
müssen umdenken. Wer behauptet, er brauche es nicht,
der macht sich etwas vor.
({2})
Es gibt völlig neue Akteure auf dem Markt. Die Akteure haben ganz andere Rollen und werden sie auch in
Zukunft innehaben. Es muss überdacht werden, ob die
Instrumente noch in den marktwirtschaftlichen Rahmen
passen, um die Ziele zu erreichen. Wir müssen viel stärker lernen, auch im europäischen und nicht nur im
deutsch-nationalen Maßstab zu denken.
Das Spannende an einer Enquete-Kommission ist,
dass man dort etwas tun kann, was man im normalen Politikgeschehen nicht tun kann, nämlich dass man über
die Legislaturperiode hinaus plant und denkt und zum
Beispiel auch über das Thema „Übergang ins Wasserstoffzeitalter“ diskutiert, obwohl man im parlamentarischen Rahmen eingebunden ist. Wir sollten diskutieren,
was wir tun können, um schon heute Brücken auch zu
weiter entfernten visionären Energieszenarien zu
schlagen, die uns dann, wenn sie Wirklichkeit werden,
tatsächlich eine nachhaltige Energieversorgung gewährleisten. Hier geht es nicht nur, Herr Brauksiepe, um die
Arbeitsplätze im Bereich der Energieproduktion.
In Deutschland ist die Maschinen- und Anlagenbranche die größte. Zurzeit gibt es eine außerordentlich hohe
Investitionszurückhaltung, sowohl im Anlagenbau als
auch im Ausbau des Netzes. Das ist für die Anlagenbranche zurzeit ein Riesenproblem. Wenn man sich angesichts dessen vor Augen führt, dass sich der Energieverbrauch aufgrund der Entwicklung in den Entwicklungsländern verdoppeln wird, und wenn man weiß, dass
es einen sehr großen Exportmarkt in diesem Bereich
gibt, dann darf man das Problem „Arbeitsplätze durch
Energie“ nicht nur auf die Energieproduktion verengen;
vielmehr muss man sich fragen, wie diese Investitionszurückhaltung aufgebrochen werden kann.
Ich möchte nun noch einige Punkte über die Verzahnung von aktueller Politik und Enquete-Kommission sagen. Früher hat die Klimaenquete gute Vorschläge ausgearbeitet, die dann in den Schubladen vermodert sind.
Nichts, aber auch gar nichts von diesen teilweise gemeinschaftlich verabschiedeten Vorschlägen wurde von
der alten Bundesregierung übernommen. So sah das
Verhältnis zwischen Enquete-Kommission und Bundesregierung früher aus.
({3})
Jetzt gibt es eine völlig andere Situation. Wir werden
die anstehenden Probleme anpacken. Wir werden zum
Beispiel den erneuerbaren Energien auch in der Marktwirtschaft eine Perspektive eröffnen.
Wir werden etwas für die Kraft-Wärme-Kopplung tun,
damit diese Investitionszurückhaltung überwunden werden kann. Wir haben schon durch die Ökosteuer einen
Anreiz zur Effizienz gegeben.
Wir werden auch den Atomausstieg organisieren. Es
ist völlig klar: Es wird in nächster Zeit ein Ergebnis geben - egal ob wir es im Konsens oder im Dissens zustande bringen. Dann wird der Atomausstieg in Deutschland beginnen.
({4})
In der Enquete-Kommission wird deswegen aus unserer Sicht mehr die Diskussion über eine Energiepolitik
in mittel- und langfristiger Sicht im Zentrum stehen. Es
wird durchaus darauf ankommen, den Einsatz dieser Instrumente zu diskutieren.
Ich nenne folgendes Beispiel: Viele von Ihnen wollen
die Diskussion über den Instrumentenwechsel bei den
erneuerbaren Energien in Richtung Quote. Ich finde,
dieses Thema gehört als Instrumentendebatte in die Enquete-Kommission, auch wenn ich in der Sache eher
skeptisch bin. Ich fände es sehr gut, wenn Sie vor dem
Hintergrund, dass wir diese Diskussion führen werden,
jetzt erst einmal für Investitionssicherheit sorgen, den
Attentismus, den es in diesem Bereich gibt, überwinden,
dann konstruktiv bei einer Novellierung des EEG mit
uns zusammenarbeiten und uns zustimmen. Das würde
ich mir wünschen. Es wäre ein guter Start für diese Enquete-Kommission.
Ein letztes Wort an Herrn Grill persönlich.
({5})
- Sie, Herr Grill, waren ja Vorsitzender. - Diese Enquete-Kommission macht nur Sinn, wenn wir dort nachdenklich diskutieren und wenn wir nicht gegenseitig polarisieren.
({6})
Da werden Sie eine besondere Aufgabe haben.
Frau Kollegin
Hustedt, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich bin gleich am Ende.
Ich fand unseren Start und die Art, wie diese Vorlage
zustande gekommen ist, sehr schlecht. Wenn wir es tatsächlich schaffen, ein gemeinsames Votum für
„Rio + 10“ im Jahr 2002 abzugeben, dann wird das sehr
deutlich beachtet werden; denn die Rolle Deutschlands
bei dieser Diskussion ist außerordentlich bedeutend. Ein
gemeinsames Votum aller Fraktionen würde das Gewicht unserer Stimme in der Welt noch erhöhen.
Deswegen wünsche ich uns allen eine konstruktive
Zusammenarbeit, die nicht polarisiert. Ich wünsche uns
allen eine sachkundige Diskussion und fantasievolle
Ideen zum guten Gelingen.
({0})
Es spricht jetzt für
die F.D.P.-Fraktion der Kollege Walter Hirche.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Beschluss,
den wir heute fassen, setzt sich dieser Bundestag ein
ganz ehrgeiziges Ziel. Wir sollen in der Enquete-Kommission diskutieren, wie es möglich ist, bis zum
Jahr 2010 den Anteil der erneuerbaren Energien zu
verdoppeln und bis zum Jahr 2050 - ein weiter Horizont
- den Umfang der Treibhausemissionen um 80 Prozent
zu verringern. Ich nenne diese Zahl deswegen am Anfang, weil ich glaube, dass vielen in diesem Hause überhaupt nicht bewusst ist, was das letzten Endes unter den
Bedingungen von Globalisierung und Liberalisierung
bedeutet.
Wer „Klima“ an die oberste Stelle der Ziele setzt, der
begeht einen Anschlag auf dieses Ziel, wenn er zu diesem Zeitpunkt eine CO2-freie Energieerzeugung, die
Kernenergie, vom Markt entfernt,
({0})
ohne dass er in entsprechendem Umfang eine Alternative zur Verfügung hat.
({1})
An dieser Frage entscheidet sich, ob „Klima“ oder die
Gegnerschaft gegenüber der Kernenergie das oberste
Ziel ist.
Ich verstehe den Antrag auf Einsetzung der Enquete-Kommission so, dass wir verschiedene Szenarien
entwickeln. In der einen Kategorie spielt die Kernenergie eine Rolle, während in der anderen Kategorie Szenarien beschrieben werden, wie es gelingen kann, die
Probleme ohne Kernenergie zu bewältigen. Dies muss
vor dem Hintergrund der Globalisierung und der Liberalisierung geschehen.
Liberalisierung bedeutet in diesem Zusammenhang,
dass wir den Innovationsdruck im Energiebereich aufrechterhalten müssen, zum Beispiel so, wie es bis jetzt
mit dem Stromeinspeisungsgesetz in Richtung auf die
erneuerbaren Energien vonstatten gegangen ist. Aber
genau diesen Innovationsdruck, nämlich durch eine Ankopplung von Preisen auf dem Markt, wollen Sie jetzt
mit Ihrem neuen Gesetzentwurf herausnehmen.
Nach meiner festen Überzeugung schaden Sie mit
diesem Gesetzentwurf der Entwicklung der erneuerbaren
Energien. Frau Hustedt, weil Sie es angesprochen haben,
sage ich Folgendes auch in Ihre Richtung: Es wäre besser, das bestehende Gesetz bestehen zu lassen und darüber nachzudenken, wie man ohne das Aufwerfen all
der Verfassungsprobleme, die mit Ihrem Entwurf verbunden sind und die eine totale Verunsicherung in die
Szene der erneuerbaren Energien treiben, in einer ruhigen Diskussion mit Fachwissenschaftlern und Rechtsexperten eine sichere Grundlage für den Ausbau der erneuerbaren Energien schaffen kann.
({2})
Ich plädiere jedenfalls dafür, dass wir das versuchen
und dabei - auch das ist im Zuge der Liberalisierung zu
beachten - daran denken, dass es natürlich eine Rolle
spielt, gerade wenn wir die globale Entwicklung betrachten, zu welchen Kosten wir CO2-Vermeidung
betreiben. Wenn zum Beispiel die Biomasse zu geringeren Kosten als die Windenergie und in ihrer Gesamtbilanz CO2-frei Energie erzeugt, dann muss dieses Haus
den Akzent stärker auf die Biomasse als auf die Windenergie legen. Wenn dieses morgen auf die Geothermie
oder etwas anderes zutrifft, dann muss dieses Haus eine
entsprechende Gewichtung vornehmen.
Ich plädiere in dieser Situation dafür, dass wir offen
bleiben und in dieser Debatte nicht versuchen, uns gegenseitig auf bestimmte Wege und Instrumente festzulegen. Global heißt aber auch - das ist mein Appell insbesondere an die SPD - zu registrieren, was im Europäischen Parlament Positives über Kernenergie gesagt wurde. Ich denke da an Ihren Sprecher, den Kollegen Linkohr.
({3})
- Natürlich ist das so. Lesen Sie doch einmal die Zeitungsinterviews nach. In zehn Jahren ändern sich auch
die in Debatten behandelten Fragen. Lassen Sie uns das
vorurteilsfrei diskutieren. Ich plädiere dafür, Szenarien
der unterschiedlichsten Art nebeneinander zu stellen.
({4})
In fünf oder zehn Jahren werden dann Parlamente
entscheiden, was nach neuesten Erkenntnissen für sie
das Richtige ist. Lösen Sie sich davon, heute durch einen
Beschluss festlegen zu wollen, was für die Zukunft richtig ist. Derjenige hat eine schwache Position, der heute
mit Verboten oder Geboten festlegen will, was morgen
richtig ist. Wir als Liberale verstehen die Aufgabe der
Enquete-Kommission und jede aktuelle Debatte so, dass
man nach jeweils aktuellem Erkenntnisstand, sicherlich
von unterschiedlichen Auffassungen ausgehend, versucht, eine Situation zu beschreiben. Sie darf aber nicht
zementiert werden,
({5})
sondern es muss die Möglichkeit offen gelassen werden,
morgen eine Entwicklung in Gang zu setzen, die dazu
beiträgt, dass auf der ganzen Welt zu bezahlbaren Preisen - das ist dann Weltpolitik für die Umwelt - umweltverträglich Energie erzeugt werden kann. Wenn wir uns
in dieser Frage in der Kommission annähern, dann hätten wir eine ganze Menge erreicht.
({6})
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Einsetzungsbeschluss für die Enquete-Kommission zu Energiefragen
hat eine lange Vorgeschichte und hat die Beteiligten bis
jetzt schon viele Nerven gekostet. Es begann damit, dass
sich SPD und CDU/CSU darum stritten, wer denn eigentlich zu den Vorbereitungstreffen einladen dürfe.
Bei der inhaltlichen Ausgestaltung des Antrages wurden vonseiten der CDU/CSU immer wieder bekannte
Wahrheiten infrage gestellt,
({0})
während sich die SPD-Vertreter selbst uneinig über die
Zielrichtung der Enquete-Kommission waren. In langwierigen mühsamen Verhandlungen wurde dann ein
Kompromiss gefunden, dem sich alle Parteien anschließen konnten.
Obwohl über Nachhaltigkeit viel im Antrag geschrieben steht und bekannterweise dabei alle gesellschaftlichen Gruppen einbezogen werden sollen, durfte die PDS
nicht als Antragstellerin erscheinen. Die beiden großen
Volksparteien wollten das wieder einmal so. Offensichtlich hat sich bis jetzt immer noch nicht herumgesprochen, dass wir hier im Bundestag über zwei Millionen
Wählerinnen und Wähler vertreten. Vielleicht will man
aber auch schlicht und einfach mit einer Partei nichts zu
tun haben, die sich nach wie vor für den sofortigen
Atomausstieg einsetzt.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Titel für
die Enquete-Kommission im Einsetzungsbeschluss wird
suggeriert, dass die Wirkungen der Globalisierung und
der Liberalisierung gottgegeben und deshalb unabwendbar sind. Entsprechend untergeordnet werden dann auch
die damit zusammenhängenden Fragen behandelt, wie
zum Beispiel die mögliche Verdoppelung des Einsatzes
von erneuerbaren Energien. Mit dem hoffentlich bald
beschlossenen Stromeinspeisungsgesetz werden hier
Möglichkeiten geschaffen, im Rahmen marktwirtschaftlicher Instrumente regenerative Energien zu fördern. Sicher kann hier noch sehr viel mehr bewegt werden, vor
allem dann, wenn andere Energieträger die von ihnen
erzeugte Energie endlich zu realen Kosten verkaufen
müssen, also zum Beispiel endlich die Rückstellungen
der Atomkonzerne versteuert oder die Haftpflichtsummen der AKWs der realen Gefährdung angepasst werden.
Weiter soll der Einsatz von Kraft-WärmeKopplung erforscht werden „mit dem Ziel, sie als mögliche Technologie zur Überbrückung bis zu einer langfristig wesentlich auf erneuerbaren Energieträgern beruhenden Energieversorgung ... zu installieren“. Ich bin
mir nicht sicher, ob wir mit unserer Untersuchung nicht
zu spät kommen. Denn schon jetzt kämpfen die Stadtwerke und KWK-Anlagen-Betreiber ums Überleben.
Wenn hier nicht schnell reagiert wird, besteht die Gefahr, dass die Diskussion um KWK zu spät kommt und
diese Anlagen inzwischen alle abgeschaltet sind. Deshalb hat die PDS einen Antrag zur Sicherung und zum
Ausbau der gekoppelten Strom- und Wärmeerzeugung
eingebracht, um die Diskussion ein bisschen zu befördern.
Natürlich soll auch „der Beitrag der Kernenergie
sowie der weiterführenden Forschung in der Kernenergie“ zum x-ten Mal untersucht werden. Offensichtlich
reichen Atomunfälle wie in Japan oder in Tschernobyl
nicht aus, um endlich zu einer gemeinsamen Einsicht zu
kommen. Ich befürchte allerdings, dass man darüber
auch im Abschlussbericht keine Einigung erzielen wird.
Denn die Atombefürworter werden nicht zu überzeugen
sein, selbst wenn es noch einmal ein anderes Tschernobyl geben würde. Herr Dr. Brauksiepe hat das schon
deutlich gemacht.
({2})
Ich meine also: Es wurden Chancen vertan, wirkliche
Perspektiven für eine zukunftsfähige Energieversorgung
zu erarbeiten. Dass Kollege Scheer, wie ich gehört habe,
die Enquete-Kommission schon im Vorfeld verlässt, ist
nur ein Indiz dafür.
({3})
Wir werden uns deshalb bei der Abstimmung enthalten, werden aber versuchen, in der Enquete-Kommission
unsere Meinung und unser Wissen einzubringen.
({4})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den
Antrag auf Drucksache 14/2687 zur Einsetzung einer
Enquete-Kommission? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Antrag ist bei Enthaltung der PDS-
Fraktion angenommen. Die Enquete-Kommission
„Nachhaltige Energieversorgung unter den Bedingungen
der Globalisierung und der Liberalisierung“ ist damit
eingesetzt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b sowie
Zusatzpunkt 7 auf:
8 a) Beratung des Antrages der Fraktion der CDU/
CSU)/CSU
Hilfsprogramm für die Sturmschäden im
Wald durch den Orkan „Lothar“
- Drucksache 14/2570 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, Ernst
Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Rasche und wirksame Hilfe für Waldbesitzer
- Drucksache 14/2583 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Heidi Wright, Iris Follak, Renate Gradistanac,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Steffi Lemke,
Ulrich Höfken, Kerstin Müller ({2}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN/
Waldschäden durch die Orkane im Dezember 1999
- Drucksache 14/2685 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die
Fraktion der CDU/CSU der Kollege Peter Weiß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Orkan „Lothar“ am zweiten Weihnachtsfeiertag hat in vielen Ländern Europas - bei uns in Deutschland vor allem am
Oberrhein und im Schwarzwald, woher ich komme riesige Waldschäden verursacht. Private Waldbesitzer,
aber auch viele Kommunen stehen vor einem riesigen
finanziellen Desaster.
Da gibt es kleine Gemeinden, in denen zwei Drittel
des gesamten Starkholzvorrates auf dem Boden liegen eine finanziell kaum zu schulternde Aufgabe. Da gibt es
Landwirte - ich nehme jetzt kein übertriebenes, sondern
ein mittleres Beispiel - mit einem Jahreseinkommen von
vielleicht 45 000 DM, davon 15 000 DM aus der Waldwirtschaft, die über Jahre und Jahrzehnte auf diese Einkommensquelle verzichten müssen und die mit dem
Verkauf des Sturmholzes vielleicht gerade noch die
Aufarbeitung und die Wiederaufforstung bezahlen können.
Meine Damen und Herren, in Sonntagsreden sprechen wir oft von der Sozialpflichtigkeit des Waldes. Er
ist allgemein begehbar für Wanderer und Erholung Suchende. Aber Sozialpflichtigkeit ist keine Einbahnstraße.
Jetzt, da die Wälder durch einen Orkan massiv geschädigt wurden, brauchen diejenigen, die unsere Wälder
hegen und pflegen, die Unterstützung der Solidargemeinschaft und des Staates.
({0})
Nun haben wir bereits die Verordnungen nach dem
Forstschäden-Ausgleichsgesetz. Das ist auch alles
sinnvoll und notwendig. Aber für diejenigen, die die
großen Kosten der Holzaufbereitung, der Holzlagerung
und der Wiederaufforstung, die immensen Einkommensausfälle über Jahre hinweg nicht aus eigener Kraft
schultern können, brauchen wir dringend zusätzliche finanzielle Hilfen in Form eines Sonderprogramms.
({1})
Für die betroffenen Gemeinden und Waldbauern in
unserer Region ist es völlig unverständlich, dass der
Bundeslandwirtschaftsminister zwar in interessierter
Weise Waldbesichtigungen vornimmt, aber nicht bereit
ist, einen zusätzlichen finanziellen Beitrag des Bundes
in Form eines Sonderprogrammes für die Hilfen hinsichtlich der Orkanopfer einzubringen.
({2})
Die Begründung, dass es sich um eine regionale Katastrophe in wenigen Bundesländern handele, halte ich
für eine faule Ausrede.
({3})
1990 gab es nämlich ein Sonderprogramm des Bundes
bezüglich der damaligen Schäden. Damals lag der Schaden europaweit bei rund 103 Millionen Festmetern. Dieses Mal liegt der Schaden - je nach Schätzung - bei
150 Millionen bis 200 Millionen Festmetern. Diese Zahl
zeigt deutlich, dass es sich nicht um eine regional begrenzte Katastrophe, sondern um eine Katastrophe handelt, die nationale und europäische Solidarität erfordert.
({4})
Die Bundesländer haben ja gehandelt. Das hauptbetroffene Bundesland Baden-Württemberg hat ein Soforthilfeprogramm in Höhe von 100 Millionen DM aufgelegt. Innerhalb der von der EU finanzierten Maßnahmen
im Rahmen des Entwicklungsplanes zur Förderung
des ländlichen Raumes werden Mittel zugunsten der
Forstwirtschaft umgeschichtet. Aber von Berlin wie
auch von Brüssel gibt es bis heute keine einzige müde
Mark zusätzlicher Hilfe für die Opfer der Orkanschäden.
({5})
Ich will nicht in Abrede stellen, dass auch im Antrag
der Koalitionsfraktionen eine Vielzahl sinnvoller Maßnahmen zu finden ist. Aber der entscheidende Punkt
Vizepräsidentin Petra Bläss
fehlt, nämlich die Zusage, dass sich der Bund an einem
Sonderprogramm für die Beseitigung und Aufarbeitung
der Orkanschäden mit zusätzlichen finanziellen Mitteln
beteiligt.
Herr Kollege Weiß,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fuchtel?
Ja.
Herr Kollege
Weiß, gestern war der Kommissar Fischler in Gengenbach. Dort wurde konkretisiert, wie die europäische Hilfe aussieht. Können Sie uns darüber unterrichten, ob es
zutrifft, wie Kollegen der SPD aus diesem Haus behauptet haben, dass in den nächsten Jahren allein für BadenWürttemberg eine Hilfe der Europäischen Union von
6 Milliarden DM zur Verfügung stehen soll?
Herr Kollege Fuchtel, es ist richtig, dass der EU-Agrarkommissar Fischler gestern in Gengenbach - dieser Ort liegt
übrigens im Wahlkreis von Wolfgang Schäuble - ein
besonders stark betroffenes Waldgebiet besucht hat. Bei
dieser Gelegenheit ist mit der Landwirtschaftsministerin von Baden-Württemberg ein Gespräch über
mögliche Hilfen der EU geführt worden. Er hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Umschichtungen bei
den dem Land Baden-Württemberg ohnehin zustehenden EU-Mitteln möglich sind und vorgenommen werden
können,
({0})
aber dass keine einzige zusätzliche Mark aus Brüssel
fließt.
({1})
Ich will in Fortführung dessen, was gefragt worden
ist, betonen: Ich bin der Auffassung, dass Solidarität
auch innerhalb der Europäischen Union notwendig ist.
Eine Möglichkeit dafür wäre, dass Restmittel aus dem
Programm für die ländliche Entwicklung, die in diesem
Jahr eventuell nicht abfließen, für die Hilfen in der
Forstwirtschaft zur Verfügung gestellt werden. Der EUAgrarkommissar Fischler hat übrigens gestern in Gengenbach erklärt, dass er sich hierfür gerne einsetzen
werde. Er hat aber hinzugefügt, dass es ihm leichter falle, innerhalb der Europäischen Union finanzielle Solidarität für die geschädigten Waldregionen zu fordern,
wenn schon innerhalb Deutschlands Solidarität geübt
worden sei.
({2})
Herr Minister Funke, alle Bundesländer, auch die
SPD-regierten, haben Sie aufgefordert, sich als Bund an
einem Bund-Länder-Sonderprogramm zu beteiligen.
Der EU-Kommissar Fischler hat Ihnen das ebenfalls ins
Stammbuch geschrieben. Wann endlich gibt es eine nationale Hilfe der Bundesregierung? Geben Sie Ihre diesbezüglich ablehnende Haltung auf!
({3})
Was übrigens die Punkte aus dem Koalitionsantrag
hinsichtlich des Holztransportes anbelangt, so muss ich
sagen: Es ist mir mittlerweile nicht mehr verständlich,
dass zwei Monate nach dem Sturm einzelne Bundesländer immer noch unterschiedliche Regelungen haben und
dass es nicht eine einheitliche Regelung gibt, die großzügig gehandhabt wird. Das ist mir völlig unverständlich. Auch die Betroffenen verstehen nicht, dass beim
Oder-Hochwasser die Bundeswehr selbstverständlich
eingesetzt wurde, aber hinsichtlich der Orkanschäden
der Einsatz von Bundeswehrgerät für den Abtransport
riesiger Holzmengen schlichtweg abgelehnt wird.
({4})
- Auf Ihren Zwischenruf kann ich Folgendes sagen: Ein
Einsatz der Bundeswehr für Arbeiten im Wald kommt in
der Tat nicht in Frage. Dafür braucht man Fachleute.
Aber wenn riesige Mengen von Holz und von Reisig am
Waldrand liegen und die Wege zum Teil in einem katastrophalen Zustand sind, dann ist der Einsatz von
schwerem Gerät in der einen oder anderen Gegend
durchaus sinnvoll und hilfreich.
({5})
Mittlerweile haben wir den Zustand erreicht, dass sich
bei vielen Betroffenen Wut, Enttäuschung und Resignation breit machen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von RotGrün, ich fordere Sie auf: Geben Sie Ihre kaltherzige
Haltung auf.
({6})
Bewegen Sie den Bundeslandwirtschaftsminister dazu,
endlich zusätzlich etwas für unsere geschädigten Waldregionen zu tun. Der Bundeskanzler lobt bis zum heutigen Tage seinen angeblich so großartigen Einsatz für
den Holzmann-Konzern.
({7})
Aber er hat kein Herz für die Holzmänner, für diejenigen, die in unseren Wäldern arbeiten, die vom Wald leben, die mit ihm ihre Existenz bestreiten und heute zum
Teil vor dem wirtschaftlichen Ruin stehen. Die Gemeinden wissen nicht ein noch aus, weil sie die immensen
Kosten nicht aufbringen können, um die Waldschäden
zu beseitigen, und können die riesigen Einnahmeausfälle
nicht verkraften.
Ändern Sie endlich Ihre Haltung. Heute haben Sie
Gelegenheit dazu.
Vielen Dank.
({8})
Peter Weiß ({9})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Peter Dreßen das
Wort.
Kollege Weiß, aus Ihrer Rede
ist deutlich geworden, was ich im Wahlkreis seit Wochen erlebe. Ich habe das Gefühl, Sie suhlen sich regelrecht in diesem Unglück anderer Leute.
({0})
Jeder umgefallene Baum, den Sie finden, wird geküsst,
um eine Schlagzeile zu erhaschen.
({1})
Dabei geht es völlig unter, dass dies den Betroffenen in
keiner Weise hilft. Im Gegenteil. Ich finde, dadurch wird
die Politikverdrossenheit sogar noch erhöht.
Sie wissen doch genau, dass bei regionalen Katastrophen in erster Linie das Bundesland zuständig ist. Von
dort sind 100 Millionen DM geflossen. Davon sollen unter anderem Nasslager eingerichtet werden. Das ist auch
gut so.
Zu Ihrer Forderung bezüglich der Bundeswehr muss
ich Ihnen sagen: Sie haben doch selber gehört, dass man
hierfür keine Bundeswehrsoldaten nehmen kann. Hier
braucht man Facharbeiter, Holzarbeiter, die etwas von
der Arbeit verstehen.
({2})
- Warum erwähnen Sie dann, dass Sie Bundeswehreinsätze haben wollen? Das verstehe ich nicht.
Kollege Weiß, ich finde, in dieser Sache sind
Schnellschüsse überhaupt nicht angebracht. In meinem
politischen Leben habe ich schon oft erfahren, dass die
vorhergehende Regierung bei Katastrophen - ich denke
an Hochwasser in Köln, Bonn, Koblenz usw. - gesagt
hat, der Bund werde helfen, und die Leute warten heute
noch darauf. Nichts ist passiert. Diesen Weg geht die
jetzige Regierung nicht, und das ist, finde ich, auch in
Ordnung.
Sie haben auch gefordert, dass den Kommunen bald
finanziell geholfen wird. Sie haben aber vergessen, dass
den Kommunen bereits dadurch, dass andere Bundesländer die Hiebansätze verringert haben, geholfen wird;
sie werden ihr Holz nun los. Sie sollten zur Kenntnis
nehmen, dass die Bundesregierung das, was auf die
Schnelle getan werden konnte, auch sofort getan hat.
Allerdings müssen wir uns hier in diesem Parlament
darüber unterhalten, wie wir künftig mit solchen Katastrophen umgehen; denn ich befürchte, dass dies nicht
die letzte Katastrophe war, die wir erleben. Wir müssen - da gebe ich jedem in diesem Hause Recht - in irgendeiner Form helfen, wenn es zu größeren Katastrophen kommt und insbesondere wenn Existenzen verloren gehen. Dabei denke ich auch an die Waldbauern.
Das ist völlig in Ordnung. Aber nochmals: Mit Forderungen, wie Sie sie hier und im Wahlkreis stellen, ist
niemandem geholfen.
({3})
Schnellschüsse sind hier nicht in Ordnung.
Deswegen finde ich es richtig, dass wir diese Anträge
in die Ausschüsse verweisen. Es ist gut, dass wir dort in
aller Ruhe, emotionslos und ohne große Hektik darüber
diskutieren, wie man effektiv helfen kann. Darauf
kommt es Ihnen allerdings nicht an. Sie wollen mit
Schnellschüssen nur wieder einmal eine Schlagzeile erhaschen. Dagegen wehre ich mich. Wie Sie sich in dieser Angelegenheit verhalten, finde ich nicht in Ordnung.
Herr Kollege Weiß
zur Erwiderung.
({0})
Herr Kollege Dreßen, wer schnell hilft, hilft doppelt.
({0})
Den Satz hat übrigens ein sozialdemokratischer Oberbürgermeister unserer Region immer wieder vorgetragen.
Herr Kollege Dreßen, was Sie hier vorschlagen, nämlich dass wir noch weiter warten, wird die Wut und Empörung derer, die den Besuch von Herrn Funke in unserer Region mitbekommen haben und die bis zum heutigen Tag auf eine konkrete Antwort und darauf, was Berlin tut, warten, noch mehr steigern. Das ist der Punkt.
({1})
Nehmen Sie doch einmal die Briefe und Stellungnahmen zur Kenntnis, die Persönlichkeiten bei uns abgeben, die nicht der CDU angehören. Zum Beispiel
schreibt Ihnen der Bürgermeister einer der hauptbetroffenen Gemeinden: Der Bund entzieht sich in jeder Hinsicht seiner Verantwortung, was ich sehr bedauere. Das
ist die Stellungnahme eines Bürgermeisters, der wirklich
nicht der CDU angehört.
({2})
- Ich nehme doch an, dass Sie die Briefe, die Sie bekommen, lesen. Wenn es nicht so ist, ist es bedauerlich.
Ich muss Ihnen antworten: Was Sie in Ihrer Kurzintervention vorgetragen haben, ist in meiner Rede nicht
vorgekommen. Was ich zum Thema Bundeswehr gesagt
habe, bezieht sich auf den Abtransport. Man sollte seine
Kurzintervention nicht vorher schreiben, sondern erst als
Reaktion auf eine Rede formulieren.
({3})
Der entscheidende Punkt ist und bleibt: Der Bund
gibt keine zusätzlichen finanziellen Hilfen. Er weigert
sich, das zu tun, was er 1990 getan hat, als wir einen
weitaus geringeren Schaden hatten. Das ist der Punkt.
({4})
Sie verdrehen hier die Tatsachen und sagen, dass das
eine regionale Katastrophe ist, und Sie nehmen das
Ausmaß des Schadens überhaupt nicht zur Kenntnis.
Das ist blinde Ignoranz.
({5}) - Peter
Dreßen [SPD]: Sie lügen!)
Für die SPDFraktion spricht jetzt die Kollegin Heidemarie Wright.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Erschütterung und
Besorgnis waren die ersten Reaktionen und Erschütterung und Besorgnis halten auch jetzt noch an bezüglich
der schlimmen Auswirkungen des Orkans „Lothar“,
der eine Schneise der Verwüstung hauptsächlich durch
Frankreich und Baden-Württemberg geschlagen hat Erschütterung insbesondere auch deshalb, weil uns allen
bewusst wurde, dass die Jahrhundertstürme in Abständen von zehn Jahren auch in unseren Regionen auftreten. Die Besorgnis gilt natürlich zunächst den betroffenen Regionen, aber wir empfinden auch Besorgnis,
weil wir bei aktuellen Verwüstungen bereits um zukünftige Verwüstungen aufgrund von zukünftigen Naturkatastrophen Sorge haben. Hier teile ich die Einschätzung
des Kollegen Dreßen, der auf die langfristigen Wirkungen hingewiesen hat.
Ob und wie langfristige Anstrengungen zur Vermeidung von Umweltkatastrophen greifen, wissen wir alle
nicht. Wir wissen aber, dass wir das Ankämpfen nicht
aufgeben dürfen, sondern verstärken müssen. Wir müssen unsere Erde und Atmosphäre von den Auswirkungen
unserer Umweltnutzung noch sehr viel mehr entlasten.
Umweltschutz ist eine fortwährende Aufgabe, um
Nachhaltigkeit wirklich zu gewährleisten und um der
Sorge vor Katastrophen aufgrund von Umweltbelastungen unser aktives Handeln entgegenzusetzen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, all diese notwendigen und langfristigen Aufgaben nützen natürlich denen
nichts, die unmittelbar von der Sturmkatastrophe betroffen sind. Das wusste auch der Landwirtschaftsminister,
das wussten auch die Bundestagskollegen vor Ort. Somit
hat sich nicht nur Bundesminister Funke, sondern es haben sich auch viele andere direkt nach dem Geschehen
in das Sturmgebiet begeben. Wir von den Fachausschüssen werden die Problematik um die Aufräumarbeiten
und die Entwicklung der Bewältigung der Schäden auch
weiter im Auge behalten.
({1})
Wir aus den Fachausschüssen, der Bundeslandwirtschaftsminister, insbesondere aber auch die Kollegen
aus Baden-Württemberg werden in Berlin alle mögliche
Hilfe und Unterstützung für die Betroffenen eruieren
und die entsprechenden Möglichkeiten ausreizen.
Somit sind auch die Anträge der Fraktionen der
CDU/CSU und der F.D.P. teilweise schon überholt,
denn viele der berechtigten Forderungen sind ohne Zögern und Zeitverlust umgesetzt worden
({2})
- doch, von Bonn. Ich nenne den umgehenden Erlass einer Verordnung des Bundeslandwirtschaftsministers zur
Beschränkung des ordentlichen Holzeinschlages auf der
Basis des Forstschäden-Ausgleichsgesetzes sowie Steuererleichterungen für Kalamitätennutzungen. Hier sehen
wir erneut, wie wichtig es war, dass diese steuerliche
Möglichkeit beibehalten wurde.
({3})
- Sie ist verändert worden, wurde aber beibehalten, weil
wir die Notwendigkeit schon im letzten Jahr eingesehen
haben. Wir sehen erneut, wie notwendig es ist, sie weiter
beizubehalten. Es wird die Kalamitätennutzungen weiterhin geben und wir werden somit auch Steuererleichterungen hierfür benötigen.
Das Verteidigungsministerium gewährt Freistellungen von Forstwirten und Hofnachfolgern von der Bundeswehr. Die Bundesforstverwaltung stellt selbstverständlich ihre qualifizierten Arbeitskräfte zur Holzaufarbeitung zur Verfügung. Ebensolche Angebote gibt es
aus allen Bundesländern.
Der Weg auf der Europaschiene, so im Agrarrat am
24. Januar 2000, und die Abstimmung mit dem so heftig
betroffenen Nachbarn Frankreich wurden über das
Landwirtschaftsministerium und Minister Funke prompt
gesucht. Das hält an.
Die Hilfe für Baden-Württemberg ist gesteuert von
Kopf und Herz und erfolgt mit Herz und Hand. Wohl
weiß ich, dass hier natürlich auch die gebende Hand, also die Ausreichung unmittelbarer Bundesmittel, gefordert wird. Gerade über die vom Bund für Gesamtdeutschland bereitgestellten 1,7 Milliarden DM für die
Gemeinschaftsaufgabe ist dies bereits geschehen. Hieraus wird ein erheblicher Teil für die sturmgeschädigten
Regionen aufzubringen sein.
({4})/CSU: Das Geld
brauchen wir für etwas anderes!)
Frau Kollegin
Wright, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Weiß?
Peter Weiß ({0})
Bitte sehr.
Verehrte
Frau Kollegin, Sie haben die Gemeinschaftsaufgabe erwähnt. Können Sie mir irgendwie erklären, wie aus der
Gemeinschaftsaufgabe derzeit zusätzliches Geld für die
Forstschäden in Baden-Württemberg kommen soll? Die
Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe sind doch, wenn
ich das richtig sehe, für das Jahr 2000 bereits fest verteilt. Wo kommt das zusätzliche Geld her - nicht das
Geld, das Baden-Württemberg ohnehin bekommen hat?
Kollege Weiß, ich rede
nicht über das zusätzliche Geld, sondern ich freue mich
erst einmal über die 1,7 Milliarden DM,
({0})
die wir - schwer erkämpft - auch in diesen Haushalt
eingestellt haben. Baden-Württemberg erhält den drittgrößten Anteil an den Bundesmitteln.
({1})
Die Festlegung hat jedoch - hier kann ich nahtlos zu
meinem Konzept zurückkehren und Sie können sich
wieder setzen; danke, Herr Kollege Weiß ({2})
über das Land Baden-Württemberg zu erfolgen. Hier
sind natürlich ganz besonders die soziale Kompetenz in
der Landesregierung, zum Beispiel durch Umwidmung
im Rahmenplan, und die soziale Solidarität von großen
gegenüber kleinen Waldbesitzern gefragt.
Gott sei Dank konnten wir trotz des hohen Sparzieles
der Bundesregierung die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe hoch halten. Es wird selbstverständlich möglich
sein, vielleicht nicht aufgebrauchte Mittel anderer Bundesländer zur finanziellen Katastrophenbewältigung mit
einzusetzen.
Zum Schluss. Holz ist der nachwachsende Rohstoff
Nummer eins, Holz ist ein wertvolles Gut und vielfältig
verwendbar und nutzbar. Ich bin sehr erfreut, dass der
Absatz und die Verwendung des nachwachsenden Rohstoffes Holz in den letzten Jahren wächst und gerade von
der Bundesregierung kräftig gefördert wird. Auch die
energetische Holznutzung gewinnt enorm an Bedeutung.
Die neuen Fördermöglichkeiten zur Nutzung erneuerbarer Energien und das Erneuerbare-Energien-Gesetz sind
hier sehr hilfreich. Das nutzt bei dem zu erwartenden
Überangebot auf dem Holzmarkt. So wächst in der Not
in Baden-Württemberg auch das Rettende.
({3})
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist zu Ende.
Mein letzter Satz.
Wir werden alle vorliegenden Anträge in die Fachausschüsse überweisen,
({0})
um insbesondere im Sinne des Koalitionsantrages weitere Unterstützungsmöglichkeiten, zum Beispiel über den
Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die
Landwirtschaft, und die Möglichkeiten zusätzlicher
Zinsverbilligung auszuloten.
Vielen Dank.
({1})
Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt der Kollege Ulrich Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine
liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wäre ja froh, Frau
Kollegin Wright, wenn unsere Anträge nicht mehr beraten werden müssten, weil sie überholt wären. Leider
Gottes ist das nicht so; denn Sie haben jetzt erst relativ
spät - in Anbetracht der von uns beantragten Debatte Ihren eigenen Antrag formuliert. Für mich ist es eigentlich ganz furchtbar, dass wir erst solche Anträge und
Debatten brauchen, um auf Not aufmerksam zu machen,
die andere offensichtlich so nicht erkennen, auch wenn
sie deutlich sichtbar ist.
({0})
Meine Damen und Herren, wir brauchen hier nichts
herbeizureden. Es gibt riesige Schäden, die bis an die
2 Milliarden DM und wahrscheinlich noch darüber hinaus gehen. Wollen Sie denn denen, die ohne eigenes
Verschulden in eine solche existenzielle Not geraten
sind, weismachen, dass die öffentliche Hand nicht zur
Hilfe aufgerufen ist? Ich halte es schon für ausgesprochen keck von Ihnen, Herr Minister, dass Sie am
27. Januar im Bericht über die Situation nach dem Sturm
„Lothar“ geschrieben haben, dass eine gesamtstaatliche
Bedeutung vorliegen müsse, um handeln zu können. Wo
war denn die gesamtstaatliche Bedeutung beim OderHochwasser?
Lassen Sie sich eines sagen: Ich war im letzten Jahr
an genau dem Platz, der vom Oder-Hochwasser überflutet war. Alles war paletti: die Felder in Schuss, die Häuser von oben bis unten renoviert. Gehen Sie einmal im
nächsten Jahr in den Schwarzwald oder die anderen betroffenen Regionen und schauen Sie sich den Wald an.
Eine ganze Generation wird unter diesen Schäden zu
leiden haben. Angesichts dessen sagt der Bundeslandwirtschaftsminister: Nein, hier helfen wir nicht! Damals
wurden 160 Millionen DM lockergemacht.
Meine Damen und Herren, es ist auch unverständlich,
dass man bei Holzmann, einem in Not geratenen Einzelunternehmen, einfach so 300 Millionen DM lockermacht,
({1})
zugleich aber viele einzelne Waldbauern und Kommunen in ihrer existenziellen Not allein lässt. Was soll
denn der Bauer machen, der 80 Hektar Wald hat, von
denen 60 Hektar gefallen sind? Wir bekommen auf diese
Frage keine befriedigende Antwort vonseiten der Bundesregierung.
({2})
Ich halte es einfach nicht für akzeptabel, wenn wir hier
so wenig Solidarität bekunden.
Die Bundesregierung hat seither nichts weiter getan,
als dass sie den Antrag vom Bundesrat in eine Verordnung umgesetzt hat.
({3})
Das haben Sie zeitig gemacht, aber das ist der großen
Solidarität der Länder untereinander zu danken; denn die
Länder wissen ganz genau, dass der Sturm nicht immer
die gleiche Region trifft. Er kann auch wieder einmal ein
anderes Land treffen; 1974 war ja Niedersachsen besonders stark betroffen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin
nicht damit einverstanden, dass man jetzt auf die
Gemeinschaftsaufgabe verweist. Ich bin auch nicht
damit einverstanden, dass man auf den europäischen
Strukturfonds für die ländlichen Räume verweist. Diese
Gelder stehen für bereits angemeldete Maßnahmen zur
Verfügung und sind in der Regel schon verplant. Hier
muss jetzt also der Bund tatsächlich den Mut haben und
allen Betroffenen - nicht mit der Gießkanne, sondern
einzelbetrieblich erfasst - zinsfreie Darlehen mit
fünfjähriger Laufzeit geben. Das wäre einmal ein Wort;
wir erwarten es.
({4})
Erst dann könnten wir sagen, dass sich der Bund ernsthaft beteiligt hat.
({5})
100 Millionen DM hat das Land gegeben. Natürlich
ist das seine Aufgabe; das ist gar keine Frage. Wenn es
notwendig ist, wird das Land Baden-Württemberg auch
noch einen Nachtragshaushalt aufstellen. Aber wir treffen auf europäischer Ebene natürlich nur dann auf offene Türen und offene Ohren - hier gebe ich dem Kollegen Weiß absolut Recht -, wenn sich wenigstens auch
die nationale Ebene solidarisch zeigt.
({6})
Wir berufen uns immer zu Recht auf den föderativen
Staat und sagen: Wir haben zwar eine Aufgabenteilung,
sind aber immer dann solidarisch, wenn es um die Linderung unverschuldeter Not geht. Das konnte man bei
Holzmann guten Gewissens vielleicht gar nicht sagen.
Aber da hat der Staat geholfen.
Herr Kollege
Heinrich, da Sie nicht zu stoppen sind, muss ich Sie jetzt
unterbrechen. Es gibt einen Fragewunsch vom Kollegen
Wiese. - Bitte.
Herr Kollege
Heinrich, der Kollege Weiß und ich haben uns bereits in
der ersten Fragestunde des neuen Jahrhunderts an den
Staatssekretär des Landwirtschaftsministeriums, Herrn
Dr. Thalheim, mit der Bitte gewandt, rechtzeitig zu helfen. Wie gestaltet sich nach Ihrer Auffassung der zeitliche Rahmen der Hilfsmaßnahmen? Ist es nicht so, dass
nach solch einem Orkan - wir haben das in BadenWürttemberg mit „Wiebke“ erlebt, von der wir vor zehn
Jahren heimgesucht wurden - innerhalb kürzester Frist,
innerhalb eines Vierteljahres massiv geholfen werden
muss, das Holz aus dem Wald zu holen, es auf Nasslager
zu bringen und Sekundärschäden zu vermeiden? Gerade
die Problematik der Sekundärschäden, die entstehen
können, wenn nicht rechtzeitig geholfen wird, ist dieser
Bundesregierung anscheinend entgangen. Teilen Sie
diese Auffassung?
({0})
Ich teile diese Auffassung.
Wir müssen selbstverständlich beachten, dass eine Vorleistung erbracht werden muss. Die Leute müssen bezahlt werden. Das Holz kann in der Regel nicht verkauft
werden, es muss auf Nasslager gelegt werden. Die Einkommen durch den Verkauf des Holzes können also erst
sehr viel später erzielt werden. Es bedarf deshalb einer
raschen Finanzierung. Deshalb habe ich gesagt, dass wir
zinsfreie Darlehen über fünf Jahre brauchen. Dann
können wir alles überblicken, dann kann auch die Wiederaufforstung ordnungsgemäß erfolgen, dann könnten
wir den Betrieben tatsächlich unter die Arme greifen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung hat leider Gottes beim letzten Steuerentlastungsgesetz, und zwar in § 34 Abs. 3 Einkommensteuergesetz, eine Verschlechterung bei der Kalamitätsnutzung vorgenommen. Wir fordern, dass der Achtelsteuersatz wieder eingeführt wird.
({0})
Das wäre eine Maßnahme, von der man sagen kann,
dass sie vernünftig ist. Es muss entsprechend gehandelt
werden. Es handelt sich nicht um eine generelle Steuerbefreiung, sondern nur um eine Befreiung in Kalamitätsfällen. Dieser Vorteil ist entfallen. Ich fordere deshalb
nachdrücklich, dass diese Verschlechterung zurückgenommen wird und der Achtelsteuersatz wieder zum Tragen kommt.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen, dass wir hier
kein Neuland betreten. Wir haben nämlich leider Gottes
Erfahrung mit solchen Fällen. Wir sollten diese Erfahrung nutzen und eine entsprechende finanzielle Hilfe
leisten, um all das zu tun, was wir dem Wald schuldig
sind, nicht nur den Besitzern des Waldes, nicht nur den
Kommunen, sondern auch dem Wald selbst. Er hat nämlich auch eine soziale Funktion.
Von den Grünen und auch von der SPD höre ich immer große Reden darüber, wie wertvoll der Wald für die
Umwelt ist. Die sozialen Funktionen werden stets heruntergebetet. Wenn es aber darauf ankommt, diesen Wald
zu erhalten, ihn wieder aufzuforsten, diejenigen, die tagtäglich im Wald arbeiten, nicht in Existenznöte zu treiben bzw. ihnen zu helfen, sich aus dieser Not zu befreien, dann bekommt man zu hören, man solle irgendwelche Programme in Anspruch nehmen, die ohnehin schon
ausgebucht sind. Das ist wirklich nicht besonders hilfreich.
Herr Kollege Heinrich, Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.
Ja. - Herr Minister Funke,
ich habe Sie in der vorletzten Ausschusssitzung gebeten,
noch einmal nachzusehen, ob nicht ein vernünftiges,
zinsfreies Kreditprogramm auf die Beine gestellt werden
kann. Das, was Sie vorgeschlagen haben, ist absolut ungenügend. Bei einer Zinsverbilligung um 1 Prozent lachen mir die Waldbauern ins Gesicht und fragen: Was
soll denn das? In dieser großen Not ist wirklich aktive
Hilfe notwendig.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Steffi Lemke, Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrte Frau Präsidentin! Wehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Dezember des letzten Jahres haben Stürme in
vielen Teilen Europas Menschenleben gekostet. Häuser,
Wälder und andere Werte wurden vernichtet. Insbesondere Frankreich hat schwerste Schäden in den Forsten zu
verzeichnen. In Deutschland ist das Bundesland BadenWürttemberg besonders betroffen. Ich finde, dass die
heutige Debatte
({0})
den damit verbundenen Leiden und Schäden nicht gerecht wird. Denn Landes- und Bundesregierung haben
Sofortmaßnahmen eingeleitet, um die Betroffenen zu
unterstützen. Es ist einfach nicht seriös, wenn Sie in der
Debatte so tun, als ob die Bundesregierung in keiner
Weise gehandelt hätte. Finanziell und auch in anderer
Weise sind Sofortmaßnahmen eingeleitet worden.
({1})
Das Forstschäden-Ausgleichsgesetz wurde mit Unterstützung der Bundesregierung so schnell wie irgend
möglich in Kraft gesetzt. Eigentlich müssten Sie wissen,
dass damit sehr wohl finanzielle Hilfen in Form von
Steuererleichterungen verbunden sind. Wenn es Ihnen
darum geht, dass der Bund Geld geben soll, so müssen
Sie bedenken, dass das mit Einnahmenausfällen des
Bundes verbunden ist. Es gibt also sehr wohl Geld.
Wichtig an diesen Maßnahmen ist insbesondere, dass
nicht auch noch der Holzmarkt zusammenbricht. Das
wäre eine Situation, die den Betroffenen zusätzliche finanzielle Einbußen zufügen würde, die sie wirklich
nicht mehr verkraften könnten. Nach Angaben der
Fachpresse ist das momentan allerdings nur in begrenztem Umfang zu erwarten. Vollständig auffangen lässt
sich eine Entwicklung wie die in Baden-Württemberg
natürlich nicht. Panikmache ist aber mit Sicherheit nicht
angesagt.
({2})
Die Bundesregierung hat darüber hinaus ein Sonderkreditprogramm aufgelegt
({3})
und die Unterstützung der Bundeswehr angeboten. Sie
wissen, dass die Bundeswehr im Wald momentan nicht
sinnvoll eingesetzt werden kann.
({4})
Darin liegt ein Unterschied zum Oder-Hochwasser.
Beim Oder-Hochwasser hat die Hilfe des Bundes zu
sehr wesentlichen Teilen in der Unterstützung durch die
Bundeswehr bestanden. Das ist bei den Waldschäden
nicht in diesem Umfang möglich. Möglich war - dieses
Angebot ist vor Ort mit großem Interesse aufgenommen
worden - die konkrete Aufnahme der Schäden durch die
Bundeswehr, um überhaupt erst einmal einen Überblick
zu bekommen, welche Schäden es wo gibt.
({5})
- Reden Sie doch einmal mit den Transportunternehmen
vor Ort! Die wollen das doch nicht.
({6})
Im Moment existiert kein Engpass beim Transport; das
ist doch überhaupt nicht das Problem. Der Wald kann
doch noch gar nicht geräumt werden. Diese Forderung
in die Debatte einzubringen ist bitterste Polemik.
({7})
Die Bundesregierung hat verkehrsrechtliche Ausnahmegenehmigungen in die Wege geleitet. Sie hat das finde ich besonders wichtig - Gespräche mit Frankreich aufgenommen, um dort Hilfestellung zu geben.
Frankreich profitiert momentan von den Erfahrungen,
die Deutschland - leider! - bereits gemacht hat. Wichtig
für den Holzmarkt ist, dass der Holzpreis in Deutschland
nicht wegen der großen Schäden in Frankreich in den
Keller geht.
({8})
Für finanzielle Hilfen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe und durch EU-Mittel sind die Möglichkeiten eröffnet worden. Ich finde es sinnvoller, solche
Mittel im Katastrophenfalle auch tatsächlich einzusetzen, auch wenn sie sonst unter Umständen für andere
Maßnahmen ausgegeben worden wären. Sie wissen aber
auch, dass die GAK-Mittel oft nicht ausgeschöpft worden sind. Deshalb können diese Mittel ruhig dafür verwendet werden.
Zu der Frage, inwieweit der Bund seiner Verantwortung nachkommt: Sie wissen, dass zunächst das Land in
Verantwortung steht. Solange das Land BadenWürttemberg kein konkretes Hilfsersuchen an die Bundesregierung gerichtet hat - ({9})
- Das ist erst vor wenigen Tagen erfolgt. Vorher gab es
einen Brief der Ministerin für den ländlichen Raum.
({10})
Erst inzwischen hat Ministerpräsident Teufel ein Hilfsersuchen an die Bundesregierung gerichtet.
Frau Kollegin Lemke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Weiß?
Bitte
schön.
({0})
- Er hat von seiner Fraktion nicht genug Redezeit bekommen.
Frau Kollegin Lemke, da Sie soeben behauptet haben, es sei kein
Hilfsersuchen an den Bund ergangen,
({0})
- langsam! - möchte ich Sie fragen: Können Sie bestätigen, dass die Konferenz der Amtschefs der 16 Bundesländer am 13. Januar 2000 einstimmig die Bundesregierung gebeten hat, ein Bund-Länder-Sonderprogramm
„Orkanschäden“ mit 60-prozentiger Finanzierung durch
den Bund aufzulegen, und dass dieses Ersuchen bis zum
heutigen Tag nicht beantwortet worden ist?
({1})
Ich
gebe Ihnen Recht.
({0})
Aber können Sie mir erklären, warum sich Ministerpräsident Teufel erst vor einigen Tagen an die Bundesregierung gewandt hat? Ich gebe Ihnen Recht, dass die Situation in Baden-Württemberg schlimm ist und dass der
Bund helfen soll. Der Bund hilft bereits. Ich finde es
aber schlimm, dass Sie die Debatte und die Situation
dort benutzen, um auch jetzt noch polemisch auf den
Bund zu weisen, obwohl Ministerpräsident Teufel erst
jetzt an den Bund herangetreten ist.
({1})
Ich finde es schlimm, dass Sie mit dem Schaden der
Betroffenen, auf dem Rücken der Betroffenen in billigster Polemik Politik machen. Das ist es, was ich nicht in
Ordnung finde, Herr Kollege.
({2})
- Ich habe versucht, es Ihnen darzulegen, aber Sie können oder wollen offensichtlich nicht zuhören, weil Sie
mit anderen Dingen beschäftigt sind. Der Bund hilft den
Betroffenen vor Ort bereits mit Hilfsmaßnahmen.
Ein weiteres Wort zu Ihren Vergleichen zum OderHochwasser und zu Baden-Württemberg beziehungsweise zu den Schäden, die damals durch „Wiebke“ und
„Vivien“ entstanden sind. Um der Redlichkeit willen
sollten Sie einräumen, dass die Schäden damals, auf
mehrere Bundesländer verteilt, zweieinhalb Mal so hoch
gewesen sind, wie sie es diesmal sind. Deshalb ist auch
beim Oder-Hochwasser eine andere Situation entstanden. Die Menschen waren dort anders betroffen. Sie
können die Finanzkraft Brandenburgs nicht mit der Finanzkraft Baden-Württembergs vergleichen. Ich finde,
dass eine wohl überlegte Abwägung erforderlich ist, wie
der Bund in solchen Fällen eingreifen soll.
({3})
- Der Bund hat mit 20 Millionen beim Oder-Hochwasser geholfen.
({4})
- Nein, das ist nicht richtig, Herr Kollege. Unterstellen
Sie nichts, was ich nicht sage.
Kommen wir zu einer weiteren Dimension, die wir
aus meiner Sicht in dieser Situation diskutieren müssen:
Da ist zum einen die aktuelle existenzielle Betroffenheit,
und zum anderen stellt sich eine grundsätzliche, ursachenbezogene Frage, und zwar die, wie wir in Zukunft
mit solchen Schäden, die nach Einschätzung vieler Klimaforscher öfter auftreten werden, umgehen wollen. Ich
denke, dass es nicht die Lösung sein kann, dass in allen
Fällen, wenn solche Schäden für Privatleute oder für die
Wirtschaft auftreten, ob es Hochwasser, Orkanschäden
sind, der Bund alle diese Schäden mit Bund-LänderSofortprogrammen aufgreift.
Hier sind weiter gehende Überlegungen notwendig.
Ich denke, hier wäre die Mithilfe aller Fraktionen und
Parteien gefragt, insbesondere auch bei dem Klimaschutzprogramm, das die Bundesregierung jetzt noch
einmal mit intensiven Anstrengungen zum Erreichen des
Klimaschutzziels auflegt. Wir werden nur mit diesem
Problem fertig werden, wenn wir versuchen, die Klimaschutzprobleme grundsätzlich in den Griff zu bekommen, und dann überlegen, wie in solchen Fällen den Betroffenen geholfen werden kann.
Die Koalition hat in ihrem Antrag die Bundesregierung aufgefordert, zu schauen, welche Unterstützung für
die Betroffenen, beispielsweise bei Zinsprogrammen,
möglich ist, welche Kapazitäten vorhanden sind und ob
Forstfachkräfte, die dort momentan gebraucht werden nicht Bundeswehrsoldaten - hingeschickt werden können. Auch bei der Wiederaufforstung muss geschaut
werden, wie dort mit einem minimalen Kostenaufwand
ein möglichst hoher Effekt erreicht werden kann, um
den wirtschaftenden Betrieben dort wieder auf die Füße
zu helfen.
Ich fände es gut, wenn diese Debatte nicht in Wahlkampfpolemik ausartet. Das ist nicht im Interesse der
Betroffenen. Vielmehr muss hier gemeinsam anerkannt
werden, was Bundes- und Landesregierung bisher geleistet haben und was dort in Zukunft gemeinsam geleistet werden kann.
Danke.
({5})
Das Wort für die
PDS-Fraktion hat jetzt die Kollegin Kersten Naumann.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Wald erfüllt vielfältige Funktionen im Ökosystem, in der Gesellschaft, im sozialen, im
kulturellen und im wirtschaftlichen Bereich. Holz ist ein
wichtiger nachwachsender Rohstoff, auf den wir nicht
verzichten können.
Seine Integration in die genannten Systeme müsste
viel mehr Beachtung auch im Blick auf die Belange zukünftiger Generationen finden. Die in den Anträgen von
der CDU/CSU, der F.D.P und zum Teil auch der SPD
geforderten Maßnahmen machen deren politische Ziele
deutlich: Gewinne wirtschaftlicher Tätigkeit sollen privatisiert und Verluste sozialisiert werden.
Auch die PDS ist der Überzeugung, dass dringend
Maßnahmen zur Überwindung der Sturmschäden
notwendig sind und die sozialen Folgen für die Waldbewirtschafter minimiert werden müssen. Allerdings
wäre zu diskutieren, wie die Lasten für solche Maßnahmen zu verteilen sind. Wir halten es für richtig, wenn an
der Spitze der Maßnahmen die Solidarität der Waldbesitzer untereinander steht, wie sie mit der Verordnung
zum Holzeinschlag vom 8. Februar 2000 eingefordert
wird.
Durch die Einschränkung vorgesehener planmäßiger
Holzeinschläge leisten sie einen konkreten Beitrag dafür, dass die Holzpreise nicht zusammenbrechen. Allerdings scheint dieses Risiko nach Meinung der deutschen
Sägeindustrie nicht besonders groß zu sein. Der Anfall
von Sturmholz beträgt etwa 50 Prozent des europaweiten Rohholzbedarfs der Sägewerke. Sie sehen vor allem
Handlungsbedarf bei der Förderung der Marktnachfrage
und der Einflussnahme auf den Holztransport. Grund dafür ist die Verstärkung der Diskrepanzen zwischen dem
Holzanfall durch die Orkanschäden und der Verarbeitungskapazität.
Da die Waldwirtschaft eine Ökonomie über Generationen ist, besteht das Hauptproblem in der zeitlichen Abfederung der mit den Sturmschäden entstandenen Widersprüche zwischen Bewirtschaftungsaufwand und Ertrag. Dazu sind die in den Anträgen geforderten Maßnahmen aber nicht ausreichend. So muss für die Zukunft
nicht nur über die Vergrößerung der Risikoabsicherung
durch eine entsprechende Sturmversicherung nachgedacht werden; denn dadurch bekämpft man nur die
Symptome.
({0})
Durch eine gemeinschaftliche und vielfältige Waldbewirtschaftung könnten die Risiken weiter minimiert
werden. Dadurch wäre eine Generationensolidarität der
Waldbesitzer möglich - von den dadurch möglichen
Bewirtschaftungsvorteilen ganz zu schweigen.
In der konkreten Situation ist kurzfristig sicherlich
auch die Bereitstellung staatlicher Mittel notwendig.
Warum aber wird die Mittelbereitstellung nicht mit einem Programm für eine nachhaltige Waldwirtschaft und
dem Umbau der Waldbestände verbunden?
({1})
Ein solches Programm könnte auch in die Debatte um
die Ausweisung von FFH-Gebieten einbezogen werden.
Nicht zuletzt geht es um die Weiterentwicklung der vom
Sturm geschädigten Gebiete als Wirtschaftsregionen mit
einer spezifischen Weiterentwicklung der Kulturlandschaft.
Nachzudenken ist nicht nur über die Interessen und
Sorgen der Waldbesitzer, sondern auch über die Zukunft
der von der Sturmkatastrophe betroffenen Regionen. Die
Bewältigung der Folgen der Sturmkatastrophe muss
deshalb zu einem Anliegen aller Bürger der Region
werden. Sie sind unter Leitung der Kommunalvertretungen in einen breiten demokratischen Diskurs über die
Weiterentwicklung der Region einzubeziehen. Ich bin
überzeugt, dass sich dadurch auch noch andere Finanzierungsquellen erschließen lassen als der Bundeshaushalt
und die Landeshaushalte.
Allen ist klar, dass die Beseitigung der Sturmschäden
auch eine riesige Arbeitsaufgabe ist. Aus den Pressemeldungen der letzten Jahren und Monate entnehme ich
aber, dass Waldarbeiter zu Tausenden entlassen werden.
In den vorliegenden Anträgen lese ich nun von Umsetzung von Arbeitskräften und - im F.D.P.-Antrag - dem
Einsatz von Facharbeitern aus Osteuropa. Ich lese nichts
von Reaktivierung der arbeitslosen Waldarbeiter oder
von besonders vorteilhaften Tarifverträgen und Aufwandsentschädigungen für die Sondereinsätze in BadenWürttemberg und Bayern,
({2})
ich lese kein Wort von einer Beschäftigungspolitik, die
langfristig den Waldumbau und die effiziente Waldbewirtschaftung sichert.
Die vorliegenden Anträge sind unseres Erachtens
zum Großteil Klientelpolitik. Mit ihnen wird einseitig
um die Interessen von Waldbesitzern gekämpft. Gesamtgesellschaftliche Anliegen spielen dabei keine Rolle. Die PDS wird sich dafür einsetzen, dass die Anträge
im weiteren parlamentarischen Verfahren nachgebessert
werden.
Danke.
({3})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Marion Caspers-Merk für die SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde,
dass die Debatte notwendig ist und dass wir richtig daran tun, dieses Ereignis zum Anlass zu nehmen, um zu
überlegen: Wie kann man der Region, wie kann man
Baden-Württemberg, wie kann man den Kommunen über die noch niemand geredet hat;
({0})
es gibt ja auch viele Kommunen, die betroffen sind und wie kann man den privaten Waldbesitzern adäquat
helfen?
Herr Kollege Weiß, Sie führen diese Debatte sehr
vordergründig. Sie haben in Ihrem Antrag nur kurz gesprungene Hilfen - zum Thema Klimaschutz kein Wort,
zum Thema Förderung von Biomasse kein Wort, zum
Thema langfristige ökologische Waldwirtschaft und den
Chancen einer ökologischen Wiederaufforstung kein
Wort. Ihre Anträge sind vordergründig und polemisch
und reihen sich in eine Ebene. Wenn Sie sich hier so
empören, sollten Sie morgen zeigen, dass Sie das Thema
ernst nehmen. Sie können etwas für den Klimaschutz
tun, indem Sie unserem Gesetzentwurf zum Thema regenerative Energien zustimmen; denn damit tun wir
ganz konkret etwas für die Nutzung von Biomasse, unter anderem auch für die Nutzung des nachwachsenden
Rohstoffs Holz.
({1})
Was tut dagegen die Baden-Württembergische Landesregierung? Die Baden-Württembergische Landesregierung hat die Programme für regenerative Energien
zusammengestrichen. Das ist Fakt. Sie ist beim Thema
Klimaschutz Schlusslicht. Zum Beispiel hat sie das damalige Programm zur Photovoltaik, das die große Koalition aufgelegt hatte, zusammengestrichen.
({2})
- Wir reden auch vom Klimaschutz. Der Punkt ist, dass
dieser Sturm Ursachen hatte.
({3})
Wenn wir nicht über die Ursachen nachdenken, werden
wir immer wieder über die einzelnen Schäden und deren
Regulierung reden. Wir wollen in einer proaktiven Umweltpolitik dafür sorgen, dass diese Orkanschäden nicht
mehr auftreten. Damit ist den Waldbauern am meisten
geholfen.
({4})
- Nein, Herr Kollege Heinrich, Sie hatten das Wort.
Ich will nur noch eines dazu sagen: Sie gebrauchen
mit Ihren kurzfristigen Anträgen dieses Thema als Instrument im Wahlkampf.
({5})
In der heutigen Debatte über die „Pallas“ haben Sie kritisiert, dass der Minister nicht vor Ort war.
({6})
Ich möchte an dieser Stelle Karl-Heinz Funke danken.
Er war sofort vor Ort. Er war in Lahr, hat sich unmittelbar ein Bild gemacht und die Hilfsmaßnahmen eingeleitet.
({7})
Frau Kollegin
Caspers-Merk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Burgbacher?
Sehr gern.
Danke schön, Frau Kollegin.- Ich möchte Sie fragen: Reden wir heute Abend
über Soforthilfe für die betroffenen Waldbauern, die Sie
- im Gegensatz zu Ihren Vorrednerinnen - eigentlich
kennen müssten und die Ihre heutigen Aussagen als
Hohn empfinden müssten? Sind Sie bereit, zur Kenntnis
zu nehmen, dass gerade bei dieser Katastrophe alle Bestände, ob Buchen oder Eichen, betroffen waren und
deshalb viele Argumente völlig ins Leere gehen?
({0})
Ich darf Ihnen Folgendes erwidern: Ich habe zu den unterschiedlichen Anträgen gesprochen. Unsere Anträge beinhalten - im Gegensatz zu Ihren Anträgen - diese Aspekte. So fordern
wir die Bundesregierung auf, bei der Wiederaufforstung
auf ökologisch nachhaltige Waldwirtschaft zu achten
und Elemente des Klimaschutzes zu verstärken.
({0})
Deswegen habe ich auf den Unterschied hingewiesen.
Herr Kollege Burgbacher, Sie können gerne stehen bleiben; ich bin noch nicht fertig. Sie verlängern meine Redezeit.
Allein in meinem Wahlkreis - ich war vor Ort und
kenne die Schäden - sind 631 000 Kubikmeter Wald
zerstört worden. Der Schaden beläuft sich beim Privatwald auf ungefähr 15 Millionen DM und bei den Kommunen auf 35 Millionen DM. Ich weiß, dass wir hier
auch darüber nachdenken müssen, wie wir die Existenz
der Privatwaldbesitzer sichern können.
({1})
Deswegen finde ich zielführend, dass wir das Ganze an
die Ausschüsse überweisen und dort noch einmal darüber nachdenken, ob die Maßnahmen auch zielgerichtet
sind.
({2})
- Die Bundesregierung hat in einem Sofortprogramm
geholfen. Das nehmen Sie nicht zur Kenntnis. Es wurden hier acht Punkte vorgetragen, die wir konkret angestoßen haben. Sie negieren das einfach, indem Sie diese
Punkte nicht zur Kenntnis nehmen.
({3})
Sowohl das Land als auch wir haben geholfen und jetzt
müssen wir prüfen, ob die Maßnahmen ausreichen.
({4})
Lassen Sie uns das in den Fachausschüssen ohne Not
und Eile tun, damit die Hilfe auch wirklich dort ankommt, wo sie gebraucht wird.
({5})
Frau Kollegin
Caspers-Merk, gestatten Sie eine zweite Frage des Kollegen Burgbacher?
Nein. - Ich will abschließend aus meiner Sicht noch einmal zwei Aspekte
hinzufügen. Wir meinen, dass wir die Chance nutzen
sollten, bei der Wiederaufforstung das Thema der nachhaltigen Waldwirtschaft in den Mittelpunkt zu stellen.
Ich will darüber hinaus betonen, dass es uns darum geht,
mit einer langfristigen Klimaschutzpolitik proaktiv dafür zu sorgen, dass sich solche Naturkatastrophen nicht
wiederholen.
Ich kann verstehen, dass es Ihnen nicht gefällt, dass
wir in Südbaden vor Ort waren und geholfen haben.
Aber die Menschen vor Ort wissen die Hilfe zu schätzen.
({0})
Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege HeinrichWilhelm Ronsöhr.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich
war in Baden-Württemberg - wie der Minister, wie viele
andere. Ich habe dort Waldbauern kennen gelernt: Größe
des Waldes 40 Hektar; 38 Hektar davon ist - geworfen.
Buchen, Eichen, Laubwälder.
({0})
- Nein, eben hat eine Dame aus der SPD-Fraktion davon
gesprochen, dass man doch jetzt endlich einmal mit dem
ökologischen Waldbau beginnen müsse. Diese Waldbauern haben das Jahrzehnte getan; sonst hätten dort
nicht 250 Jahre alte Buchen gestanden!
({1})
Jetzt kommen die zu uns und fragen, was wir tun. Ich
sage: Wir haben das Forstschäden-Ausgleichsgesetz erlassen. Wir haben damit die Beschränkung des Holzeinschlages bewirkt. Das ist ja wichtig zur Marktstabilisierung. Ich glaube, darin stimmen wir auch alle überein.
Diesem Verordnungsentwurf von Baden-Württemberg
haben alle Bundesländer zugestimmt. Dankenswerterweise war das überhaupt nicht umstritten.
Darum geht es aber nicht, sondern die Frage ist doch:
Wenn jetzt so viel Wald geworfen ist, teilweise in Hochlagen, wo nichts anderes als eine Fichte wächst dann bedarf es eines erheblichen Geldaufwandes, diese Holz zu
bergen, was insbesondere in den Steillagen schwierig ist.
Da sind Landwirte, die im Nebenerwerb Holzbergung
betreiben und die mit ihren Maschinen teilweise in dieses geschmissenen Steillagen nicht hineinkommen. Das
birgt auch ein ungeheures Gefährdungspotenzial. Das
wissen wir doch alle. Wenn wir es aber wissen, dann
sollten wir doch einige vernünftige Rückschlüsse daraus
ziehen.
Dann ist die Frage zu stellen: Wie kommen denn
Waldbauern jetzt mit ihrer Liquidität hin? - Die brauchen jetzt Liquidität.
Ich habe mir das einmal an einem Waldstück angeguckt. Da sind fünf Hektar geschmissen, alles schlagreif.
Der Bauer hätte 150 000 DM dafür bekommen; er hätte
die Bäume nacheinander schlagen können. Jetzt muss er
diesen Wald bergen, das Holz vermarkten und kriegt
noch 40 000 DM. Die gesamten fünf Hektar sind auf
einmal weg.
Natürlich sind Teile der entsprechenden Vorschriften
eines ermäßigten Steuersatzes für Kalamitätsnutzungen erhalten geblieben - das ist ja sinnvoll und richtig
gewesen -, aber Teile sind auch verändert worden. Jetzt
werden die Geschädigten möglicherweise noch mit einer
höheren Besteuerung bestraft. Dabei haben sie nachhaltig Waldwirtschaft betrieben und somit eine gesellschaftliche Leistung erbracht. Nun können wir ihnen natürlich auch damit kommen, dass uns möglicherweise
eine Klimakatastrophe bevorsteht. Das ist eine Frage,
die wir auch in aller Ernsthaftigkeit zu erörtern haben.
Ich gebe jedem Vorredner und jeder Vorrednerin Recht,
dass man darüber sprechen muss. Aber was nutzt denn
das jetzt einem Waldbauern, der diesen existenziellen
Schaden aufzuarbeiten hat? Das ist doch die Frage, die
hier einmal zu stellen ist.
({2})
Herr Staatssekretär Thalheim hat uns hier in der Fragestunde - wir hätten ja möglicherweise sonst unsere
Anträge gar nicht gestellt - gesagt, es könne über das
jetzt Angesprochene hinaus keine weiteren Hilfen geben, weil es letztlich eine regionale Katastrophe sei.
Nur, dann sind alle Bundesländer - auch die SPDregierten - anderer Auffassung,
({3})
denn die Bundesländer haben den Bund aufgefordert,
mit einem Sonderprogramm zu helfen. Deshalb fordere
ich für meine Fraktion hier dieses Sonderprogramm.
Nun sagt man, das könne man ja aus den 1,7 Milliarden DM, die für die Gemeinschaftsaufgabe zur Verfügung stehen, nehmen.
({4})
Ich will das heute hier gar nicht kritisieren, weil es mir
um die Hilfen für die Waldbauern geht. Aber wir wissen
doch ganz genau, dass mit den Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe immer neue Aufgaben zu bewältigen
sind.
({5})
Wir wissen ganz genau, dass diese Mittel häufig sehr
knapp sind. Wir wissen ganz genau, dass der Strukturwandel durch die Agenda 2000, aber auch durch den
Preisverfall in der Landwirtschaft verstärkt wird, dass
also immer mehr Mittel der Gemeinschaftsaufgabe eingefordert werden. Nun sollen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe, die teilweise ausgequetscht ist wie eine
Zitrone, auch noch die Mittel für die baden-württembergischen Waldbauern erwirtschaftet werden.
Wenn ein Betrieb zum Beispiel eine einzelbetriebliche Förderung haben möchte und gleichzeitig Hilfe benötigt, weil er erhebliche Waldschäden erlitten hat, dann
kann es sein, dass er sozusagen mit sich selbst um das
Geld aus der Gemeinschaftsaufgabe konkurriert. Deswegen sage ich Ihnen: Wir brauchen ein fünfjähriges
Sonderprogramm, das zu 40 Prozent von den Ländern - es ist nicht nur Baden-Württemberg, sondern es
sind auch Bayern, Rheinland-Pfalz und Hessen etwas
betroffen - und zu 60 Prozent vom Bund finanziert wird.
({6})
Es ist eigenartig: Der Bundeslandwirtschaftsminister,
der anlässlich der Grünen Woche in Berlin - das wissen
wir, weil wir dort auch manchmal feiern - neulich eine
sehr gute Rede gehalten hat, hat dargestellt, was die
Kommunen im Bereich des Naturschutzes verkehrt machen. Früher, als er noch Landwirtschaftsminister in
Niedersachsen war, wusste er immer, was der Bund verkehrt macht. Aber jetzt muss er einmal sagen, welche
konkrete Hilfe er für die Waldbauern leistet, die durch
diese Schäden so extrem betroffen sind.
({7})
Das ist entscheidend, und nicht, dass man über andere
redet. Hier muss er endlich auf den Tisch legen, welche
konkreten Mittel - über das hinaus, was ohnehin schon
in der Agrarpolitik eingesetzt wird -, zusätzlich zur Verfügung gestellt werden. Darauf erwarten wir heute eine
Antwort.
Ich finde es sowieso komisch, dass Karl-Heinz Funke
hier immer als Letzter spricht. Wir wollen auch einmal
über das diskutieren, was er vorzulegen hat. Aber offensichtlich hat er nichts vorzulegen. Deswegen spricht er
immer als Letzter.
Lassen Sie uns möglichst schnell und zügig ein Sonderprogramm des Bundes und der Länder beschließen
und damit den Waldbauern helfen.
({8})
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Bundesminister für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten, Karl-Heinz Funke.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Mit mir müssen Sie
nicht darüber streiten, ob ich als Erster oder als Letzter
reden soll. Herr Kollege Ronsöhr, ich traue mir wie im
Ausschuss durchaus zu, mich mit Ihnen auch dann auseinander zu setzen, wenn Sie noch die Chance zur Antwort haben.
Es ist eine Binsenweisheit, dass man in einer solchen
Debatte zwischen dem, was parteipolitisch zu werten ist,
und dem, was die Sache selbst betrifft, trennen muss. Ich
war in der Tat dort. Ich habe gar nicht mitbekommen,
dass jemand behauptet hat, ich sei gar nicht dort gewesen. Es mag sein, dass das jemand behauptet hat.
({0})
- In Ordnung, ich habe das eben nur aufgeschnappt.
Das ist völlig egal. - Herr Kollege Weiß, ich bin am
7. Januar dort gewesen. Das habe ich nachprüfen lassen;
das ist mir bestätigt worden. Herr Kollege Weiß, durch
Ihr Kopfnicken bestätigen Sie das. Sie waren ja dabei.
Man muss ja selber zusehen, dass man noch auf das Bild
kommt, so drängeln die Oppositionsabgeordneten, um
sich ablichten zu lassen.
({1})
- Herr Kollege Ronsöhr, worüber ich rede, entscheiden
nicht Sie. Da kann ich Sie beruhigen. Sie müssen sich
gar nicht aufregen.
({2})
- Eben wollte mir der Kollege Ronsöhr vorschreiben,
was ich hier sagen darf. Die Meinungsfreiheit ist seinerseits und nicht meinerseits infrage gestellt worden.
Am 7. Januar bin ich also da gewesen. Schon am
10. Januar stand eine Pressemitteilung von Herrn Weiß
in der Zeitung:
Weiß fordert 300 Millionen DM für Sonderprogramm - Ergebnisse des Funke-Besuchs als völlig
ungenügend bezeichnet.
({3})
- Ja, am 10. Januar. Entschuldigung, da hatte das Landeskabinett in Baden-Württemberg noch nicht einmal
einen Beschluss über ein Landesprogramm herbeigeführt; trotzdem stellte Herr Weiß das schon am
10. Januar fest. Dabei geht es nicht um die Sache, das ist
reine Parteipolitik und nichts anderes.
({4})
- Nein, so wird das gemacht. Es liegt völlig neben der
Sache. Sie tun es nur, um daraus irgendwie parteipolitisch Honig zu saugen. Aber die Menschen merken das.
Wir waren uns einig, dass wir die ersten Maßnahmen
möglichst schnell umzusetzen haben.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?
Ja, von mir aus gerne, wenn
er möchte.
Herr Minister Funke, können Sie bestätigen, dass Sie bereits bei
Ihrem damaligen Besuch am 7. Januar 2000 in Lahr
vorgetragen haben, dass Sie die Voraussetzungen für ein
Bund-Länder-Sonderprogramm für nicht gegeben ansehen und dass ich deshalb mit meiner Pressemitteilung
vollkommen richtig reagiert habe?
Ich will gerne auf Folgendes hinweisen - ich hätte es später noch gesagt -: Trotz
allen möglichen Diskussionen, die wir veranstalten können, war auch in der Vergangenheit unstrittig, dass zwei
Voraussetzungen notwendig sind, wenn der Bund eintreten soll.
Erstens. Soweit Regionalität und nicht Überregionalität, also nationales Ausmaß, gegeben ist, ist die Angelegenheit Ländersache.
Zweitens. Der Unterschied etwa zu den Geschehnissen beim Hochwasser im Oderbruch liegt darin, dass zuallererst das Land gefragt ist. Der Bund ist dann gefordert, Hilfe zu leisten, wenn das Land dazu nicht in der
Lage ist.
Das ist die Grundlage für die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern seit eh und je. Das bedeutet,
dass Ihre Wertung am 10. Januar völlig daneben war. Ihre Pressemitteilung stand schon fest, bevor ich kam.
Auch ich weiß aus früheren Zeiten, wie so etwas gemacht wird.
Unstrittig ist doch - ich weiß nicht, warum man so
manche Debatte darüber aufführt -, dass der Orkan „Lothar“ am 26. Dezember diejenigen Schäden herbeigeführt hat, die hier erwähnt worden sind. Ich will darauf
im Einzelnen überhaupt nicht mehr eingehen.
Ich anerkenne ausdrücklich auch die Hilfsprogramme, die Bayern und Baden-Württemberg gestartet haben. Wir haben dabei die notwendige Unterstützung geleistet. Es ist im Übrigen vom Land Baden-Württemberg
ausdrücklich anerkannt worden, dass der Bund dem
Land sofort zur Seite gesprungen ist und dass die von
uns zu erbringenden Maßnahmen möglichst schnell
durchgeführt worden sind.
Weil insbesondere Herr Heinrich die Zinsen der Programme angesprochen hat, sage ich gerne, dass das
Sonderprogramm natürlich über die Landwirtschaftliche
Rentenbank gestartet worden ist, um möglichst schnell
Schäden zu beseitigen. Dies war als erste Maßnahme
gedacht, die man sofort umsetzen wollte und konnte. Es
geschah, nebenbei bemerkt, in Übereinstimmung mit der
baden-württembergischen Landesregierung. Man kann
darüber diskutieren, ob die Zinsbelastung nicht trotz der
Zinsvergünstigung so ist, dass unter Umständen die
Wirkung nicht so eintritt, wie wir es gerne hätten. Darin
gebe ich Ihnen ausdrücklich Recht. Aber als notwendige
erste Maßnahme war dieses Vorgehen richtig.
Was die Bundesratsinitiative zur Holzeinschlagsbeschränkung anbelangt: Wir haben wiederum mit dem
Land Baden-Württemberg sehr zügig zusammengearbeitet, um eine Stabilisierung der Holzpreise zu erreichen.
Ich hoffe, das tritt ein. Diese Verordnung ist am
12. Februar in Kraft getreten. Keiner wird sagen können,
dass es an irgendeiner Stelle hätte schneller gehen müssen. Ich lege ausdrücklich Wert darauf, dass es immer
eine entsprechende Zusammenarbeit gegeben hat.
Hier ist auf das Forstschäden-Ausgleichsgesetz hingewiesen worden. Das, was wir seitens der Bundesforstverwaltung tun können, um uns auch im Einschlag zurückzuhalten, ist ebenfalls geleistet worden. Das gilt
auch dort, wo es um verkehrsrechtliche Ausnahmeregelungen ging.
({0})
- Ja, Herr Kollege Weiß, ich sage das nur einmal: Alle
diese Dinge sind bei meinem Besuch damals angesprochen worden. Trotzdem sagten Sie am 10. Januar: „keine Ergebnisse“.
({1})
- Entschuldigung, ich will es noch einmal zitieren:
„völlig ungenügend.“ Wenn Zensuren noch Sinn
haben heißt das, es hat nichts gegeben. Oder meinen Sie, es hat doch etwas gegeben? Ansonsten
lässt das ja nur diesen Schluss zu, wenn Sie es so
sagen.
Im Übrigen werde ich mich einmal sehr intensiv,
auch mit Kommissar Fischler, darüber unterhalten, was
damit gemeint war. Sowohl der französische Kollege
Glavany als auch ich haben uns getrennt mit dem Kommissar darüber unterhalten, was angesichts der Umstände möglich und nötig ist. Im Agrarrat hatten wir uns
darüber unterhalten, nachdem sich Deutschland und
Frankreich abgesprochen hatten. Dort waren wir uns im
Grunde schon einig. Mir scheint, ohne dass ich das endgültige Ergebnis des Gespräches kenne, dass der Kommissar auch noch einmal an Ort und Stelle deutlich gemacht hat, dass im Rahmen der so genannten zweiten
Säule der Agenda Mittel bereitgestellt und zugeführt
werden können, wenn sie woanders nicht abfließen. Dazu müssen im Strukturfonds „Ländlicher Raum“ genauso wie bei der Gemeinschaftsaufgabe die Fördertatbestände bzw. die Programmteile so umgestaltet werden,
dass man auch in der Lage ist, zu helfen. Im Übrigen
kann man es auch von den Ländern erwarten, egal um
welches es sich handelt, dieses so umzugestalten und
fortzuschreiben, dass Hilfe möglich ist.
({2})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?
Ja, sie lasse ich noch zu,
obwohl ich gleich zum Schluss kommen möchte.
Können Sie bestätigen,
Herr Minister Funke, dass über die Bereitstellung von
Mitteln aus der zweiten Säule allerfrühestens im Herbst
entschieden werden kann? In der Zwischenzeit müssen
die Bauern natürlich wissen, was sie erwartet. Ich bitte
doch, dass hier der Bund einspringt.
Jawohl, das bestätige ich
ausdrücklich, dass es sich so verhält. Wir haben auch
darüber gesprochen, dass man unter Umständen das eine
oder andere vorziehen könne. Da es hier um Fragen des
europäischen Haushaltes geht, ist auch die für Finanzen
zuständige Kommissarin damit befasst worden. Ich bestätige Ihnen ausdrücklich, dass der Herbst angesichts der
üblichen Abläufe wahrscheinlich der früheste Termin
sein wird. Das ist gar keine Frage.
Insgesamt sind auf europäischer Ebene die Vorarbeiten geleistet, um das Bestmögliche zu erreichen. Bei den
Gesprächen, die wir geführt haben, habe ich nie gehört,
dass für die Gewährung von europäischen Hilfen auf der
Grundlage, wie ich sie jetzt geschildert habe, ein Junktim mit einem Bund-Länder-Programm gefordert
worden ist.
({0})
Es steht ja im Protokoll und ist somit nachprüfbar. Ich
werde das auch tun. Da Kommissar Fischler und ich uns
durchaus offen über solche Dinge unterhalten, bin ich
sicher, dass ich auf meine diesbezügliche Frage auch eine offene und ehrliche Antwort bekommen werde. In
den Gesprächen, die wir in Brüssel darüber geführt haben, ist ein solches Junktim oder eine solche Beziehung,
um es etwas weniger tiefgründig zu formulieren, da Sie
nicht von Junktim sprechen wollen,
({1})
nicht hergestellt worden. Vielleicht gefällt Ihnen dieser
Begriff ja eher, Herr Kollege Weiß.
({2})
Dieser Begriff ist etwas schwächer, der Begriff Junktim
passte ihm ja nicht. In der Begrifflichkeit bin ich aber
immer zu Zugeständnissen bereit; da gibt es gar keine
Frage.
({3})
- Das trifft unter Umständen auch zu.
Meine Damen und Herren, ich bin dankbar, dass wir
im Ausschuss noch einmal darüber reden. Dann können
wir auch Schlussfolgerungen ziehen. Ich bestätige dabei
ausdrücklich das, was die Vertreter der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen dazu gesagt haben. Es
braucht überhaupt nicht lange zu dauern, um Schlussfolgerungen aus den Sofortmaßnahmen, die wir ergriffen
haben, zu ziehen. Wir können abwarten, wie sich der
Holzmarkt entwickelt. Das ist eine ganz entscheidende
Sache. Hierüber muss man Bescheid wissen, aber auch
das braucht nicht lange zu dauern. Sie können sicher
sein, dass uns das Schicksal vieler Einzelfälle - das gestehe ich ausdrücklich zu und freue mich, dass das hier
erwähnt wurde - genauso wie Ihnen am Herzen liegt.
Darüber gibt es keinen Zweifel.
({4})
Auch Ihre Äußerungen, Herr Kollege Heinrich, habe ich
dahin gehend verstanden, dass man mit herkömmlich
aufgelegten Programmen unter Umständen Einzelschicksalen überhaupt nicht gerecht werden kann, weil
solche Situationen meistens in überhaupt kein Raster
passen.
Auch das ist mir bei der Besichtigung an Ort und Stelle
deutlich geworden. Manchmal kommt man mit herkömmlichen Instrumenten nicht zurecht. Dann müssen
wir unter Umständen auch mit unkonventionellen Mitteln arbeiten. Das wird die Ausschussberatung aufgrund
der Anträge, die gestellt sind, ergeben. Wir werden gemeinsam daraus die entsprechenden Schlussfolgerungen
zu ziehen haben.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({5})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr.
Herr Minister, die Kritik an Ihnen besteht nicht darin, dass das
Forstschäden-Ausgleichsgesetz nicht in Kraft gesetzt
worden wäre. Vielmehr haben wir gesagt, dass die Baden-Württemberger dazu Vorleistungen erbracht haben
und es deswegen auch ging. Die Kritik an Ihnen besteht
darin, dass Sie nicht bereit sind, separate Mittel in die
Hand zu nehmen und ein Bund-Länder-Programm
aufzulegen.
({0})
- Ich habe Ihnen ganz schwer zuhören können, anderen
besser.
Ich habe auch heute noch kein Signal vernommen,
dass Sie dazu bereit sind. Ich finde, dass das, was Herr
Weiß hier gesagt hat, gilt: Eine sehr schnelle Hilfe ist
möglicherweise eine wirksame Hilfe. Denn die Bestände
müssen jetzt aufgearbeitet werden. Deswegen brauchen
die Waldbesitzer, ob kommunale oder private - für mich
sind die privaten immer wichtiger -, jetzt politische Signale. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie am Ende
dieser Debatte endlich ein politisches Signal geben
könnten, dass es ein Bund-Länder-Sonderprogramm geben wird.
({1})
Zur Erwiderung Herr
Minister Funke, bitte.
Herr Kollege Ronsöhr, dass
alle Länder bei der Amtschefskonferenz den Bund auffordern, endlich schnell, großzügig und möglichst unbürokratisch und unkonventionell - mir fallen noch mehr
Attribute ein - zu handeln, ist doch selbstverständlich.
Wäre ich niedersächsischer Minister, hätte ich an der
Beschlussfassung genauso mitgewirkt. Das will ich Ihnen offen sagen. Aus anderer Leute Leder ist gut Riemen schneiden. Da machen es sich solche Konferenzen
von München bis Kiel und von Potsdam bis Stuttgart
manchmal etwas einfach. Ich sage das parteipolitisch
völlig neutral, sehr objektiv, wie wir als Regierung so
sind. Wer wollte das bestreiten?
Zum anderen haben alle Redner der Koalitionsfraktionen und auch ich gesagt - das konnte man hören, wenn
man zuhören wollte -, dass wir anhand der Anträge, die
jetzt an die Ausschüsse überwiesen werden, und im
Lichte der eingeleiteten Maßnahmen - ich bin dankbar,
dass Sie die nicht kritisieren - gucken wollen, was bisher gelaufen ist, wie es sich entwickelt hat und was unter
Umständen noch zu tun ist. Ich glaube, das ist sachlich,
das ist richtig und das ist auch vernünftig.
Im Übrigen habe ich genau das auch bei meinem Besuch am 7. Januar gesagt. Ich habe mich nicht hingestellt
und gesagt: Jetzt fließen Millionen. Das wäre auch unverantwortlich gewesen. Ich habe aber sehr wohl gesagt,
dass wir angesichts der bestehenden Nöte bereit sind, in
eine Einzelfallprüfung einzutreten und zu gucken, welche Hilfe notwendig ist und wo das Land - oder wer
auch immer - überfordert ist. Ich habe auch, Herr Ronsöhr, genau den Standpunkt vertreten, dass Kommunen
in der Lage sein müssen, sich unter Umständen selbst zu
helfen,dass es also in erster Linie um die privaten Waldbesitzer geht.
({0})
Das ist der Sachverhalt und nichts anderes, und so
wird es kommen. Insoweit freue ich mich auf die entsprechenden Ausschussberatungen.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 14/2570, 14/2583 und 14/2685 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten und zur Mitberatung an den
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den
Ausschuss für Tourismus und den Haushaltsausschuss
zu überweisen. Die Vorlagen auf den Drucksachen 14/2570 und 14/2583 sollen zusätzlich an den Finanzausschuss und an den Ausschuss für Verkehr, Bauund Wohnungswesen überwiesen werden. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Roland Claus, Ulla
Jelpke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über Volksinitiative, Volksbegehren
und Volksentscheid ({0})
- Drucksache 14/1129 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2})
- Drucksache 14/2151-
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Enders
Erwin Marschewski
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
PDS sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Als ich unseren Gesetzentwurf zur dreistufigen Volksgesetzgebung im Sommer
letzten Jahres vorstellte, war die Parteiendemokratie
scheinbar noch in bester Bonner Ordnung. Keiner von
uns hätte sich einen Finanzskandal dieses Ausmaßes
vorstellen können. Dass es ausgerechnet jene Partei und
jene Law-and-order-Männer betrifft, die keine Gelegenheit ausließen, den Rechtsstaat besonders dann hochleben zu lassen, wenn es gegen die PDS ging, ist schon eine Ironie des Schicksals.
({0})
Wer das Recht als scharfe Waffe gegen den politischen Gegner wie auch gegen Kleinkriminelle gebraucht
und beim Wirtschaftskapital „höhere“ Interessen und
Ehrenworte gelten lässt, der hat eben leider Nachholbedarf in Sachen Demokratie, Rechtsstaat und Moral. Lassen Sie mich auch das noch sagen: Irgendwie fühle ich
mich bei dem Gebaren von Helmut Kohl, das seine politischen Kampfgefährten mitgetragen oder miterduldet
haben - je nachdem -, an den berüchtigten Ausspruch
erinnert, der Ulbricht zugeschrieben wird: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand
haben.“
({1})
Der Spendenskandal hat auf drastische Weise gezeigt, dass eine Beschränkung der Parteienherrschaft
durch eine Kombination aus effizienter repräsentativer
Demokratie und direkter Mitbestimmung der Bürger
dringend notwendig ist. Davon war ich auch schon vor
der Spendenaffäre überzeugt, als wir unseren Gesetzentwurf einbrachten. Es sei mir in diesem Zusammenhang gestattet, mich kurz an diese erste Lesung zu erinnern.
Grundsätzlich: Die PDS versteht sich weder als
Gralshüterin der Demokratie, wie der Herr Kollege Friese damals meinte, und schon gar nicht als „Hüterin des
Volkes“, wie der Kollege Enders in der Debatte äußerte.
Auch ist unser Gesetzentwurf kein „Ladenhüter“ aus der
letzten Wahlperiode. Wir setzen uns lediglich kontinuierlich für eine Stärkung der plebiszitären Demokratie
ein. Dabei brauchen Sie keine Angst um das parlamentarische System zu haben. Hier soll auch nichts ausgehöhlt
werden.
Auf die „traditionell“ ablehnenden Argumente des
Herrn Kollegen Marschewski kann ich aus zeitlichen
Gründen nicht eingehen.
({2})
Ich kann ihm nur die Homepage von „Mehr Demokratie e. V.“ empfehlen. Da findet er haarklein auf genau
jede seiner Fragen eine überzeugende Antwort; da wird
er aufgeklärt.
Aber eines lasse ich mir nun doch nicht nehmen. Der
Kollege hat in der damaligen Debatte über Ursachen der
Politikverdrossenheit spekuliert und dabei natürlich
weder die PDS noch das Handeln der Bundesregierung
verschont. Einer der schlagenden Einwände gegen die
Plebiszite war die fehlende Allgemeinwohlorientierung,
nämlich die Durchsetzung egoistischer Interessen Einzelner. Es fragt sich jedoch: Wer hat denn nun parteiegoistisch die Demokratie in einer Weise beschädigt,
dass man von einer in der Bundesrepublik bisher nicht
gekannten politischen Krise sprechen muss? Heutige Politikverdrossenheit ist deshalb nicht zuletzt das zweifelhafte Verdienst der CDU. Sie haben etwas gutzumachen.
Deshalb rechne ich mit Ihrer Stimme, die Sie letztlich
nicht der PDS, sondern den enttäuschten Bürgerinnen
und Bürgern geben.
({3})
Wenn die Kollegin Deligöz davon spricht, dass sie
seit über 10 Jahren über das Problem der Verfassungsmäßigkeit der Volksgesetzgebung nachdenkt und dass
sie nun zu dem Schluss gekommen ist, es ginge partout
nicht ohne Grundgesetzänderung und wir hätten dies
nicht berücksichtigt, stimmt das einfach nicht. Erstens
kommen auch andere zu dem Ergebnis, dass „Abstimmungen“ nach Art. 20 des Grundgesetzes keine generelle Ablehnung plebiszitärer Elemente zulassen. Das
Grundgesetz lässt es offen, wie viele Kompetenzen das
Volk in den Wahlen und wie viele in Abstimmungen
wahrnehmen soll.
Ich halte deshalb eine Grundgesetzänderung nicht für
zwingend. Ich bin jedoch sehr damit einverstanden, dass
man das Grundgesetz im Interesse der Klarheit entsprechend ändern sollte. Genau das haben wir auch in unserem Gesetzentwurf vorgeschlagen. In diesem Zusammenhang verweise ich auf Art. 1 „Änderung und Ergänzung des Grundgesetzes“.
Herrn Funke bin ich sehr dankbar dafür - er ist heute
Abend leider nicht da -, dass er in der damaligen Debatte kritisiert hat, dass grundlegende Fragen unserer Demokratie in einer halbstündigen Debatte zu später Stunde diskutiert werden mussten. Aber daran ist die PDS
mittlerweile schon fast gewöhnt, dass ihr das Nachtprogramm für kurze Beiträge zur Verfügung steht.
({4})
Im Übrigen auch Dank für die zugesagte Unterstützung bei der rechtlichen Ausgestaltung der Volksinitiative. Die größte Zustimmung hätte ich mir allerdings
vonseiten der Regierungsparteien erhofft. Steht doch in
ihrem Koalitionsvertrag unter der magischen Ziffer 13
ein Passus zur Einführung der Volksgesetzgebung ins
Grundgesetz.
Die Parteispendenaffäre hat dieses Vorhaben nachdrücklich in Erinnerung gerufen. Kollege Wilhelm
Schmidt regt nun zum Beispiel an, eine neue Verfassungskommission zu bilden, in der auch über die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid diskutiert wird. Rita Süssmuth plädiert für die bundesweite
Einführung von Bürgerbegehren. Jürgen Rüttgers fordert, dass die CDU ihr Verhältnis zur Bürgerbeteiligung
überdenkt, da Volksentscheide auf Bundes- und Landesebene einem Machtmissbrauch entgegenwirken könnten.
Und auch Guido Westerwelle tritt unter der Überschrift
„Mehr Demokratie wagen“ für eine Ausdehnung von
Bürgerentscheiden, Bürgerbegehren und Bürgerbefragungen auch auf Landes- und Bundesebene ein. Wörtlich:
Es ist kein Schaden für die repräsentative Demokratie, wenn Schlüsselentscheidungen für das deutsche Volk auf allen Ebenen von ihm selbst unmittelbar getroffen werden können.
Selten war die Übereinstimmung in dieser Frage so
groß. Nichtsdestotrotz werden Sie unseren Gesetzentwurf ablehnen, weil er eben von uns kommt.
({5})
- Das sagen Sie immer. Wir bleiben dabei: Die direkte Demokratie ist ein Motor
für die dringend notwendigen Reformen des politischen
Systems. Die gegenwärtige Parteienkrise darf sich nicht
zu einer Demokratiekrise ausweiten. Da stehen alle demokratischen Parteien in der Verantwortung. Da sollte
man keiner Partei Populismus unterstellen oder gar über
ein Urheberrecht auf das Thema „Demokratie“ streiten.
Uns sollte die Demokratie so wertvoll sein, dass wir bei
ihrer Thematisierung nicht in ein unwürdiges Parteiengezänk verfallen.
({6})
Für die SPDFraktion spricht jetzt der Kollege Peter Enders.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Es ist eigentlich bedauerlich,
dass diese Sache im Innenausschuss nicht etwas ausführlicher besprochen worden ist, insbesondere was die Frage der Grundgesetzänderung angeht. Ich möchte an dieser Stelle wie bereits bei der ersten Lesung darauf hinweisen, dass es eine rot-grüne Koalitionsvereinbarung
gibt und dass insofern genau dieses auf Bundesebene
vorgesehen ist.
({0})
Insoweit brauchen wir uns über die Urheberfrage nicht
zu streiten. Ich darf besonders daran erinnern, dass
schon Willy Brandt in seiner Regierungserklärung vom
28. Oktober 1969 ein Zeichen gesetzt hat, als er davon
sprach, dass wir mehr Demokratie wagen würden.
({1})
Ich darf an diese historische Zeit erinnern.
Im Klartext hieß dies damals, dass wir die Bürger
eben nicht nur alle vier bis fünf Jahre zur Wahlurne rufen, sondern dass wir auch in der Zwischenzeit, wenn
Entscheidungen getroffen werden müssen, den Wähler
hieran stärker beteiligen können.
Wir sind als Sozialdemokraten für mehr direkte Demokratie. Dafür gibt es viele Gründe. Das Instrumentarium selbst ist natürlich nicht neu. Das Bedürfnis lässt
sich unter anderem an der vermehrten Gründung von
Bürgerinitiativen und auch an der Vielzahl von Leserbriefen zu bestimmten öffentlichkeitswirksamen TheDr. Evelyn Kenzler
men ablesen. Hierbei denke ich insbesondere auch an
das Thema der Parteienfinanzierung.
Ich kann durchaus verstehen, dass Bürgerinnen und
Bürger bei neu aufgekommenen Themen ein Interesse
daran haben, auch zwischen den Wahlterminen mitzubestimmen. Insoweit verstehe ich den PDS-Antrag, die
Volksentscheide mit Bundestagswahlterminen zu verbinden, überhaupt nicht; denn dies ist ein Widerspruch
in sich.
Ein besonderes Bedürfnis bezüglich der Volksentscheide besteht, wie wir es 1982 erlebt haben, natürlich
auch nach Koalitionswechseln. Da gab es einige Punkte,
die durchaus in dieses System gepasst hätten.
Wir wollen direkt-demokratische Ansätze in unser
System der repräsentativen Demokratie einbauen und
diese nicht abschaffen, obwohl ich zugebe, dass mich
die Abstimmungsbeteiligung in anderen Ländern auch
nicht gerade vom Stuhl reißt.
Ich möchte der PDS ausdrücklich widersprechen,
wenn sie in ihrem Antrag sehr pauschal und undifferenziert von Politikverdrossenheit spricht. Ich will jetzt
nicht auf die einzelnen Gründe eingehen, die dazu führen. Aber ich glaube nicht, dass sich permanente Nichtwähler - ich grenze diese sehr wohl gegenüber denen
ab, die manchmal aus Protest nicht zu einer Wahl gehen - an einem Mehr an direkter Demokratie wie Volksentscheid usw. beteiligen werden. Auch ist es nicht hinnehmbar, dass in der Begründung des Gesetzentwurfes
von einer „mangelhaften Repräsentanz der Bürgerinnen
und Bürger durch die Abgeordneten“ gesprochen wird.
Schauen Sie sich doch den Terminkalender vieler Politiker an! Vor allen Dingen auch am Wochenende haben
sie viele Termine.
Lassen Sie mich noch zwei Sätze zu den immer wieder zitierten Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik sagen: Der nötige Sachverstand der Bevölkerung
ist grundsätzlich vorhanden, um die vorhandenen Informationen zu verarbeiten. Wenn Sie sich unsere Vorschläge im Zusammenhang mit der Gemeinsamen Verfassungskommission von 1993/94 ansehen, die nach der
deutschen Wiedervereinigung das Grundgesetz reformieren sollten, erkennen Sie, dass man viele Hürden
einbauen kann, um der Gefahr der Verführung der
Wahlbevölkerung zu begegnen.
Prinzipiell ist im PDS-Antrag richtig erkannt worden,
dass solche Verfahren die direkte Demokratie viel Geld
kosten. Also müssen wir uns darüber unterhalten, wie
das erforderliche Geld aufzubringen ist, und zwar sowohl auf seiten der Antragsteller wie auch auf seiten der
Gegner eines Referendums. Dies ist umso wichtiger, als
wir wissen, dass Unterschriftenaktionen durchaus geeignet sind, politische Trends umzukehren; siehe Unterschriftenaktion zum Staatsbürgerschaftsrecht in Hessen.
Da alle Anzeichen darauf hindeuten, wie diese Geschichte finanziert worden ist, ist es sehr wichtig, sich
über die Finanzierung zu unterhalten.
({2})
Der Finanzierungsvorschlag der PDS ist eine einzige
Frechheit. Da wird doch allen Ernstes gefordert, dass die
Mittel durch Kürzungen beim Verfassungsschutz, beim
Bundesnachrichtendienst - und besonders dreist - beim
Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR aufzubringen sind.
Da kann ich nur sagen: Das könnte einigen von Ihnen so
passen. Für die Arbeit der Gauck-Behörde brauchen wir
in Zukunft noch viel Geld. Deshalb kommt das überhaupt nicht in Frage.
Ich möchte an dieser Stelle auf etwas eingehen, was
eineinhalb Jahre zurück liegt. Ich habe mich damals gewundert, wieso sich die PDS bei der Frage der Erhöhung der Parteienmittel von 230 Millionen DM auf
245 Millionen DM so vornehm zurückgehalten hat, sich
der Stimme enthalten hat. Wenn ich davon ausgehe, dass
es Volksinitiativen kaum ohne Unterstützung von Parteien gibt, werden Sie mit Sicherheit fast ständig dabei
sein. Ich kann mir also gut vorstellen, dass Sie auf diese
Weise versuchen, an die gewünschten Finanzmittel heranzukommen. Ich kann nur fragen: Glauben Sie, dass
Sie die anderen demokratischen Parteien im Hause so
über den Tisch ziehen können? Das wird wohl nicht gehen. Allein schon wegen der Finanzfrage gibt es jeden
Grund der Welt, diesen Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich möchte noch auf einige Einzelheiten eingehen,
weil heute die Gelegenheit dazu vorhanden ist. Wir wollen eine Erweiterung und keinen Ersatz der repräsentativen Demokratie.
({3})
- Natürlich, aber Qualität braucht Zeit. Ich will Ihnen an
einigen Beispielen vorführen, dass Ihr Gesetzentwurf
sehr schludrig gemacht worden ist. Wenn Sie mir bitte
zuhören wollen.
Wenden wir uns einigen Problemen im Detail zu. Eine wichtige Frage ist natürlich die der Mindestbeteiligung. Wenn Sie angeben, dass bei einem Volksbegehren
eine Million Wahlberechtigte ausreichend seien - eine
solche Anzahl von Stimmen wäre schon aus der PDSKlientel zu beschaffen -, so ist das inakzeptabel. Wenn
ich mir aber, eine Konfliktsituation zwischen Parlamentsmehrheiten, die von über 50 Prozent der Wahlbevölkerung getragen werden, und den im Einzelfall aufgebrachten Stimmen vorstelle, dann muss man darüber
schon etwas intensiver nachdenken.
Was die Kosten angeht, so sagen Sie, dass Sie diese
nicht ermitteln können, da die Anzahl der Volksbegehren offen ist. Das heißt also, Sie sind bereit,
durchaus über jedes Thema eine Volksinitiative, ein
Volksbegehren und einen Volksentscheid herbeizuführen. Man muss sich einmal darüber unterhalten, nach
welchen Kriterien so etwas geschen soll.
Dann noch ein Punkt, über den ich mich besonders
gewundert habe: Thema Föderalismus. Sie gehen über
die Fragestellung, inwieweit die Länder zu beteiligen
sind, vollkommen hinweg. Wollen Sie ein duales System haben oder wollen Sie bei zustimmungsbedürftigen
Gesetzen einen unmittelbaren Volksentscheid, der vom
normalen Bundesratsverfahren ergänzt wird? Beides zusammen geht nicht. Wir haben 1993/94 dazu einen detaillierten Vorschlag gemacht, der darauf hinausläuft:
Wenn ein Volksentscheid durchgeführt wird, muss es
qualifizierte Mehrheiten in den einzelnen Bundesländern
geben, sodass damit regionale Besonderheiten, regionale
Sonderinteressen in den Griff zu bekommen sind.
Ich will es bei diesen Beispielen belassen, die zeigen,
dass dieser Entwurf überhaupt nicht durchdacht ist.
Ich will zum Schluss kommen und heute die Zeit
nicht voll ausnutzen. Ich will nur darauf hinweisen, dass
das wieder einmal ein typisches PDS-Produkt ist:
Schnellschuss, populistisch, aber nicht durchdacht.
({4})
- Und das noch schlecht abgeschrieben.
({5})
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Norbert Röttgen.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Richard von
Weizsäcker hat vor einigen Wochen in der „FAZ“ seine
Ablehnung hinsichtlich der Einführung von plebiszitären
Elementen kurz und prägnant mit der Feststellung begründet: Das Volk ist zu groß und die Probleme sind zu
komplex. Ich glaube, dass Richard von Weizsäcker damit auf den Punkt gebracht hat, dass Plebiszite und
Volksentscheide keine praktische, keine realistische Alternative zur repräsentativen Demokratie sind. Wir haben darüber in der ersten Lesung sehr ausführlich und,
wie ich glaube, auch sehr sachlich gestritten und diskutiert, und auch damals war das die überwiegende Meinung hier im Plenum.
Ich will darum die Argumente, die sehr ausführlich
dargelegt worden sind, gar nicht mehr im Einzelnen
wiederholen. Es sind auch keine neuen dazugekommen,
weder in den Ausschussberatungen noch heute von der
PDS. Ich glaube nicht, dass man die Argumente heute
redundant wiederholen muss.
Ich möchte nur auf einen Gesichtspunkt eingehen,
nämlich auf den, ob die verschärfte - auch akute - Vertrauenskrise gegenüber der Politik - da ist natürlich
die CDU in besonderer Weise betroffen, das ist nicht zu
bestreiten und wird auch von keinem bestritten; aber
auch andere Parteien sind betroffen, zum Beispiel die
SPD - für uns Anlass ist, über die Frage der Einführung
von Plebisziten neu nachzudenken und sie neu zu bewerten.
Ich nehme das zum Anlass, um genauer zu fragen:
Was macht denn die grundlegende Vertrauenskrise gegenüber den politischen Institutionen und gegenüber der
Parteiendemokratie aus? Was ist das wirklich? Nach
meiner Einschätzung haben die Menschen ihr Vertrauen
in erschreckendem Umfang verloren, weil sie erkennen:
Die großen Probleme sind schon seit Jahren bekannt ob es die Arbeitslosigkeit ist oder die Frage, wie wir in
der Zukunft soziale Sicherheit finanzieren, ob es Bürokratieexzesse sind, ob es die Gesetzgebungsflut ist oder
was auch immer -, aber es kommt in diesem politischen
System nicht zu Entscheidungen, die angesichts dieser
Probleme auch nur halbwegs angemessen wären, geschweige denn, dass sie die Probleme lösen würden. Die
Bürger sagen: Ihr löst unsere Probleme nicht, ihr löst die
Probleme der Gesellschaft nicht. Das ist der Kern des
Vertrauensproblems, das wir sehr ernst nehmen müssen.
({0})
Nun ist die Frage: Kann die Einführung von Plebisziten an dieser Situation etwas ändern, von der ich meine,
dass wir sie ändern müssen? Wenn wir die Krise feststellen, folgt, glaube ich, zwingend daraus, dass wir eine
Modernisierung, eine Veränderung unseres politischen Systems brauchen. Das ist meine feste Überzeugung. Ich halte das auch für die große Herausforderung,
die vor uns allen liegt. Das ist kein parteipolitisches
Problem, sondern ein Problem derjenigen, denen an unserem Staat, an unserem Gemeinwesen liegt. Ich glaube,
dass auch die Frage des Ethos der Politik dabei eine
neue Rolle spielen muss, dass wir nach 50 Jahren Parteiendemokratie eine Diskussion über das Ethos von Politik und Politikern führen müssen, und zwar parteiübergreifend. Ich glaube, dass die Gewichte zwischen Parteitaktik, Parteiinteresse, Allgemeinwohl und Staatswohl
inzwischen nicht mehr stimmen, dass wir mehr Allgemeinwohlverpflichtung und mehr Sachorientierung
brauchen, viel mehr, als es gegenwärtig praktiziert wird,
und zwar von allen Parteien. Das parteitaktische Denken
muss zurückgedrängt werden, wenn wir insgesamt wieder überzeugen wollen.
({1})
Ich glaube, dass Plebiszite der falsche Weg sind, und
zwar aus drei Gründen. Darauf will ich mich heute
Abend beschränken.
({2})
- Genau, am Abend oder fast schon am Morgen. Es ist
übrigens für diese Debatte typisch; wir reden immer am
Abend im kleinen Kreise darüber. Aber das ist ja nicht
weiter schlimm.
Das Wichtigste, was wir brauchen, ist ein vernünftiger öffentlicher Diskurs über die Probleme. Dies ist die
erste Aufgabe, die wir lösen müssen. Wir müssen über
die Sache reden, und zwar in vernünftiger Weise. Heute
fehlt es am öffentlichen Gebrauch der Vernunft. Nach
meiner festen Überzeugung ist das parlamentarische
Verfahren mit seinen vielfältigen Rationalität stiftenden
Elementen - mit Sachverständigenanhörungen, Pro und
Contra der Diskussion, Folgenabschätzung, Kompromisssuche - der auf die Ja-Nein-Alternative reduzierten
plebiszitären Fragestellung weit überlegen. Sie ist die
große Chance der Vereinfacher, aber nicht die der Differenzierer.
({3})
Meine Befürchtung ist, dass der Diskurs nicht rationaler,
sondern irrationaler wird.
({4})
Zweiter Grund: Wir brauchen Entscheidungsfreudigkeit der Institutionen, Flexibilität und die Fähigkeit
zur Reaktion auf veränderte Situationen. Wir leben in
einer Zeit permanenter und rasanter Veränderungen.
Nach meiner Einschätzung und Bewertung bedeuten
Plebiszite eine ganz langwierige, mühsame Art der Entscheidungsfindung. Wer kritisiert eigentlich die Volksentscheide? Noch mehr: Wer korrigiert sie, wenn einmal
eine Entscheidung getroffen worden ist? Das ist noch
mühsamer und langwieriger. Mit anderen Worten: Wir
würden die politische Entscheidungsfindung in Zeiten
einer rasanten Veränderung der Wirklichkeit betonieren.
Das Gegenteil aber ist nötig.
Den dritten Grund habe ich eben schon angesprochen: Zu den Erfordernissen eines Politikwandels in unserem Land gehört eine stärkere Allgemeinwohlorientierung. Ich will hier nicht predigen. Ich glaube auch
nicht, dass Predigen hierüber nötig ist; vielmehr ist eine
veränderte Praxis erforderlich. Natürlich müssen Plebiszite organisiert werden. Dafür wird Geld gebraucht.
Meine Befürchtung ist, dass Plebiszite die Gefahr bergen, dass Partikularinteressen mit entsprechenden Finanzmitteln auf Kosten des Allgemeinwohls durchgeboxt werden.
({5})
Das Parlament ist dem Allgemeinwohl verpflichtet,
nicht dem Teil. Ich fürchte, dass Partikularinteressen
dann noch stärker werden. Wir haben keinen Mangel an
Partikularinteressen, sondern einen Mangel an Allgemeinwohldenken.
Diese drei Gründe sprechen dafür, dass Plebiszite
eher eine Verschärfung der Krise herbeiführten als ein
Beitrag zu ihrer Lösung wären. Wir brauchen nicht einen Wechsel des politischen Systems, sondern müssen
das politische System verbessern. Das ist nötig, aber
auch möglich. Dafür, dass wir es können, nenne ich nur
ein Stichwort, ohne inhaltlich weiter darauf einzugehen.
Ich denke zum Beispiel an die überfällige Reform des
Föderalismus mit der Auszehrung der Länderkompetenzen. Wir brauchen eine klare Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, eine Auflösung der Mischverantwortungen mit ihrem enormen Brems- und Blockadepotenzial. Die einzelnen Ebenen müssen klare Entscheidungsmöglichkeiten und Kompetenzen haben. Das
wäre ein Beitrag zur Effizienzsteigerung des politischen
Systems; es gibt auch andere Beispiele.
Ich glaube also, dass diese Diskussion geführt werden
muss. Wir verschließen uns ihr nicht, sind als CDU/
CSU-Bundestagsfraktion aber der klaren Überzeugung,
dass Plebiszite das politische System in Deutschland
nicht verbessern, sondern verschlechtern würden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Nächster Redner ist
der Kollege Cem Özdemir für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist sicherlich
Zufall, dass wir uns am heutigen Tage mit diesem Thema beschäftigen. Trotzdem passt es ein bisschen zu der
Umgebung, in der wir diese Diskussion führen: zu dem
Parteispendenskandal und allem, was damit zu tun hat.
Die Vertrauenskrise, die die Parteien, insbesondere die
ehemalige Regierungpartei CDU/CSU, zurzeit zu bewältigen haben, ist ein Anlass, darüber nachzudenken - ich
habe durchaus ernst genommen, was der Kollege Röttgen gesagt hat -, mit welchen Formen wir dieser Vertrauenskrise begegnen können. Wir alle werden sie auszubaden haben. Das gilt in stärkstem Maße für diejenigen, die vorhaben, noch längere Zeit in der Politik zu
bleiben. Deshalb ist jeder Ansatz von jeder Fraktion,
sich hierüber Gedanken zu machen, zu begrüßen.
Eine moderne Zivilgesellschaft muss - das gilt mit
Sicherheit für alle Fraktionen - einen entschlossenen
Schlussstrich unter jede Art von Bunkermentalität ziehen. Macht, die wir übertragen bekommen, ist auf Zeit
geliehen. Wir sollten im Bewusstsein dessen handeln.
Wir wollen keinen Obrigkeitsstaat, sondern den mündigen Bürger. Auch das sollte für alle Fraktionen dieses
Hauses gelten. Deshalb wird man sich über direkte Demokratie hinaus, auf die ich gleich zu sprechen komme,
beispielsweise auch Gedanken über Akteneinsichtsrechte machen müssen. Das steht übrigens bereits in der Koalitionsvereinbarung. Auch das ist ein sehr wichtiger
Punkt, der, wenn man so will, ebenfalls zum Thema
„direkte Demokratie“ gehört.
Ich möchte eines klarmachen - das nehme ich sehr
ernst -: Jeder falsche Zungenschlag, der in Richtung Antiparlamentarismus geht, ist in dieser Debatte dringend
zu vermeiden. Es geht nicht darum, dass wir Parlamente
mit demokratisch gewählten Volksvertretern schwächen
wollen. Wir müssen uns vielmehr Gedanken darüber
machen, wie wir die Bürgerinnen und Bürger zwischen
den Wahlen „abholen“ können,
({0})
wie wir dazu beitragen können, dass klar wird, dass
Demokratie mehr ist, als alle vier oder, wie in manchen
Bundesländern, alle fünf Jahre ein Kreuz zu machen.
Das ist es, worum es uns geht. Wir wollen die parlamentarische Demokratie nicht ersetzen oder abschaffen,
sondern den im Grundgesetz bestehenden Art. 20 - die
Väter und Mütter des Grundgesetzes haben sich damals
etwas dabei gedacht - ausbauen, ergänzen.
Meine Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich, seit
sie im Bundestag sitzt, immer wieder dafür eingesetzt,
Elemente direkter Demokratie, Volksinitiativen,
Volksbegehren und Volksentscheide, in unsere Verfassung aufzunehmen. Insofern hat die PDS dafür mit Sicherheit nicht das Urheberrecht. Vieles von dem, was
Sie schreiben - ich würde sagen, die besseren Teile -,
haben Sie von uns.
({1})
Wenn man allerdings den konkreten Gesetzentwurf der
PDS betrachtet, muss man feststellen: Die Zielsetzung
ist richtig, die Form aber, in der dies verankert ist, ist
keinesfalls zustimmungsfähig. Der Entwurf fällt weit
hinter den Stand der Debatte zurück, und zwar nicht nur
in unserer Fraktion oder in der Bundesregierung, sondern auch bei allen Initiativen, die sich damit beschäftigen.
Wir müssen über Art. 20 hinaus die grundlegenden
Verfahrensschritte, die Rechte der Initiativen und das
Zustandekommen der Gesetze genau im Grundgesetz
regeln. All dies aber geht bei Ihnen durcheinander und
ist lückenhaft. Ein einfaches Bundesgesetz, in dem alles
festgeschrieben werden soll, reicht nicht aus. Wir müssen fein säuberlich trennen, wie eine Grundgesetzänderung aussehen muss und was in das Ausführungsgesetz gehört.
Seit dem Verfassungsentwurf des Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder aus
dem Jahre 1991, seit den Grundgesetzentwürfen meiner
Fraktion aus der 12. und 13. Legislaturperiode, seit den
Anträgen in der Gemeinsamen Verfassungskommission daran wurde heute schon erinnert - und - damit klar
wird, dass wir die Weisheit nicht gepachtet haben -, seit
dem Entwurf aus der Evangelischen Akademie in Hofgeismar ist es Konsens, dass wir in einem eigenen Verfassungsartikel die drei Stufen festlegen müssen: erstens
die Initiative, zweitens das Begehren, drittens den
Volksentscheid. Diese drei Punkte müssen durch eine
Grundgesetzänderung geregelt werden. Beispielsweise
muss klar sein, wie viele Unterschriften nötig sind, um
die einzelnen Verfahrensschritte einzuleiten. Derart
grundlegende Dinge kann man nicht erst in einem Bundesgesetz festschreiben. Die innere Beziehung der einzelnen Verfahrensschritte verschwimmt ansonsten völlig. Wenn man schon abschreibt, so hätte man - das ist
meine Empfehlung - an dieser Stelle vollständig abschreiben sollen.
Es gibt aber einen Punkt, der vielen auch in meiner
Fraktion, die sich damit beschäftigen, sehr wichtig ist.
Es geht darum, Leuten wie Herrn Frey Möglichkeiten
des Missbrauchs des Verfahrens zu entziehen. Ich weiß,
dass das ein ganz sensibler Punkt ist und dass es höchst
kompliziert ist, dies verfahrenstechnisch zu regeln. Man
wird sich auch der Frage stellen müssen, wie es möglich
ist, in der Antragsprozedur ein Instrumentarium zu haben, um solche Abstimmungen von vornherein zu verhindern.
Da meine Redezeit praktisch schon abgelaufen ist,
möchte ich zum Schluss sagen: Die Vertrauenskrise
zwingt uns dazu, einmal andere Wege zu gehen als die,
die wir bisher eingeschlagen haben. Ich weiß, dass das
Thema „direkte Demokratie“ nicht unumstritten ist. Wir
als neue Regierung wissen, dass wir die Mehrheit im
Bundestag und auch im Bundesrat brauchen. Daher
mein Appell an die Opposition, an die Volkspartei
CDU/CSU, aber natürlich auch an die F.D.P. und die
PDS: Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken,
ob der Weg „mehr direkte Demokratie“ nicht ein Weg
ist, den wir gemeinsam gehen können! Wir brauchen die
Mehrheit in beiden Häusern. Ich glaube, dass man sich
über die einzelnen Verfahrensschritte sicher noch unterhalten kann. Die Bundesregierung hat bewusst keinen
detaillierten Antrag vorgelegt, weil uns klar ist, dass wir
das Gespräch mit der Opposition suchen müssen.
Wir wollen eine lebendige Demokratie, mehr als eine
„Zuschauerdemokratie“. Wir laden Sie ein, mit uns gemeinsam daran zu arbeiten. Tragen wir gemeinsam dazu
bei, dass wir dieses Projekt in dieser Legislaturperiode
ein gehöriges Stück voranbringen!
({2})
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Max Stadler für die
F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Röttgen hat als „Kronzeugen“ für seine Auffassung einen früheren Bundespräsidenten zitiert: Richard von Weizsäcker. Lieber Kollege Röttgen, Sie wissen natürlich ganz genau, dass man
einen weiteren Bundespräsidenten für die Gegenauffassung, nämlich für mehr plebiszitäre Elemente, nennen
kann, der auch der CDU angehört: Roman Herzog.
({0})
Es ist nicht neu, dass beide Auffassungen prominente
Befürworter haben. Auch die Argumente, das Pro und
Contra, wurden oft ausgetauscht. Sie haben Recht: Es
gibt keine neuen Argumente zu der Problematik; aber es
gibt eine neue Situation.
({1})
Diese besteht darin, dass man sich, wenn die Repräsentanten nicht mehr das Vertrauen genießen, nicht wundern darf, wenn die Repräsentierten die Entscheidungen
stärker in die eigene Hand nehmen wollen. Obwohl das
Thema schon so oft Gegenstand parlamentarischer Beratungen im Bundestag war und obwohl es stets zur Ablehnung sämtlicher Initiativen gekommen ist, wissen wir
alle ganz genau, dass das Thema seit der Vertrauenskrise, die die CDU mit dem Parteispendenskandal ausgelöst hat, neu auf der Agenda ist.
Deswegen ist es legitim, dass man über vielfältige
Möglichkeiten der stärkeren Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an politischen Entscheidungen nachdenkt. Dazu gehört zum Beispiel die Direktwahl von
Bürgermeistern und Landräten in allen Bundesländern.
Dazu gehören die Einführung von Bürgerbegehren und
Bürgerentscheid auf der kommunalen Ebene sowie die
Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid in
allen Bundesländern.
Damit komme ich zu der praktischen Nagelprobe der
ansonsten ja nur theoretisch hin- und hergewendeten
Argumente. Herr Kollege Stiegler, ich spreche Sie ganz
besonders an: Sind denn die Erfahrungen in Bayern mit
Volksbegehren und Volksentscheid wirklich so schlecht,
({2})
dass man auf der Bundesebene leichter Hand darüber
hinweggehen könnte? Richtig ist, dass für ein so großes
Gebilde wie die Bundesrepublik Deutschland - das ist
noch einmal ein Unterschied zur Länderebene - nicht
leicht zu entscheiden ist, wie man die Grenzen richtig
austariert.
Einen Punkt hat der Kollege Röttgen sehr zutreffend
beschrieben: Der Volksentscheid hat einen kardinalen
Strukturfehler, nämlich die Reduzierung auf die
Ja-Nein-Frage. Das ist aber noch gar nicht das ganz Entscheidende. Es fehlt vor allem der Diskussionsprozess,
der im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren möglich ist und der zu Veränderungen von Vorlagen führt.
Ein gängiger Spruch lautet: Kein Gesetz verlässt den
Bundestag so, wie es hineingekommen ist.
({3})
In diesem Prozess steckt ein Innovationspotenzial, das
der Volksentscheid, so wie er von der PDS vorgeschlagen wird, nicht hat. Die PDS bleibt bei einem traditionellen Modell des Volksentscheids und ist insofern mit
ihrem „revolutionären Vorstoß“ ein wenig zu konservativ geblieben.
({4})
Man muss nach flexibleren Lösungsmöglichkeiten suchen. Die Referendumsdemokratie der Schweiz bietet
entsprechende Vorbilder, die der Kollege Enders, ich
und andere uns in der nächsten Zeit einmal näher anschauen wollen, denn die Diskussion wird auch in
Deutschland weitergehen.
Ich fasse zusammen. Der vorliegende Entwurf ist
nicht in allen Punkten der Weisheit letzter Schluss. Er
entspricht aber - das will ich betonen - vor allem in dem
Moment der Einführung der Volksinitiative langjähriger
liberaler Programmatik, sodass es eigentümlich wäre,
wenn die F.D.P. bei einem Kernpunkt des Entwurfs, den
sie selber seit langem fordert, nämlich bei der Volksinitiative, mit Nein stimmen würde. Andererseits halten wir
den Entwurf auch nicht für zustimmungsfähig. Daher
bringen wir mit unserer Enthaltung zum Ausdruck: Es
handelt sich um einen teilweise richtigen Ansatz, der
aber in manchen Bereichen, nämlich bei der Ausgestaltung des Volksentscheids, zu konventionell geraten ist.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS zur dreistufigen Volksgesetzgebung auf Drucksache 14/1129. Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/2159, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der PDS auf Drucksache 14/1129 abstimmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 18. Februar 2000,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen allen
eine geruhsame Nacht.