Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/28/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Die Sitzung ist er- öffnet. Zunächst einige Mitteilungen: Der ehemalige Kollege Manfred Kanther hat am 25. Januar 2000 auf seine Mit- gliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als sein Nachfolger hat der Abgeordnete Helmut Heiderich, der von 1996 bis 1998 bereits Mitglied des Hauses war, am 26. Januar 2000 die Mitgliedschaft im Deutschen Bun- destag erworben. Aus dem Stiftungsrat der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur scheidet der Kollege Hans-Christian Ströbele als stellvertretendes Mitglied aus. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt als Nachfolger den Kol- legen Werner Schulz vor. Sind Sie damit einverstan- den? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kol- lege Schulz als stellvertretendes Mitglied in den Stif- tungsrat gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, dass der Ent- wurf der Bundesregierung zur Änderung des Arzneimit- telgesetzes auf Drucksachen 14/2292 und 14/2355 nach- träglich dem Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder zur Mitberatung überwiesen werden soll. Sind Sie auch damit einverstanden? - Ich höre keinen Wider- spruch. Dann ist es so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 1999 - zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Ulrike Flach, Horst Friedrich ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 1999 - Drucksache 14/1056, 141225, 14/1934 ({2}) - Berichterstattung: Abgeordnete Willi Brase Antje Hermenau Angela Marquardt b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen W. Möllemann, Hildebrecht Braun ({4}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. 9-Punkte-Konzept zur Schaffung von zusätzlichen Ausbildungsplätzen - Drucksachen 14/335, 14/1294 Berichterstattung: Abgeordnete Willi Brase Heinz Wiese ({5}) Antje Hermenau Jürgen W. Möllemann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesministerin Edelgard Bulmahn das Wort.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Junge Erwachsene stehen heute vor einer Zukunft, die ständig im Wandel begriffen ist. Sie müssen nicht nur einen rasanten technologischen Wandel bewältigen, sondern sie sollen ihn auch gestalten können. Sie werden in einer Welt leben, in der sie mit Menschen in vielen anderen Ländern kooperieren müssen, und sie werden auch selbst mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit einen Teil ihres Berufslebens in einem anderen Land verbringen. Sie werden Bildung nicht auf einen bestimmten Lebensabschnitt beschränken können, sondern sie werden in ihrem Leben immer weiter dazulernen müssen. Auf diese Veränderungen müssen wir sie vorbereiten, damit sie die Voraussetzungen dafür haben, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und selbst zu gestalten. Entscheidend für die Bewältigung der Zukunft sind eine hohe Qualität der beruflichen Aus- und Weiterbildung und ein möglichst breiter Zugang dazu, denn Bildung entscheidet über Berufs- und Lebenschancen, über die Chancen jedes Einzelnen, sich in unserer Gesellschaft einzubringen, teilzuhaben, mitzuwirken. Zugleich ist eine gute Ausbildung die wichtigste Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und für die Wiedergewinnung eines hohen Beschäftigungsniveaus. ({0}) Meine Damen und Herren, die Berufsbildungspolitik ist deshalb nicht die typische Ressortpolitik, sondern Berufsbildungspolitik ist Politik an der Schnittstelle von Bildungspolitik, von Wirtschaftspolitik, von Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Deshalb hat sie für die Bundesregierung eine herausragende Bedeutung. ({1}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat unmittelbar nach ihrer Amtsübernahme das Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit und Qualifizierung von 100 000 Jugendlichen gestartet. ({2}) Das war deshalb notwendig, weil wir über Jahre hinweg, seit Anfang der 90er-Jahre, eine immer größere Zahl von Jugendlichen hatten, die keinen Ausbildungsplatz fanden, die in Warteschleifen abgedrängt wurden und die perspektivlos wurden. Deshalb war es richtig und notwendig, dass diese Bundesregierung mit dem Zögern, dem Hinhalten und dem Abwarten Schluss gemacht hat und den Jugendlichen ein konkretes Angebot gemacht hat. ({3}) - Lieber Herr Kollege, wenn Sie das als „Salbe“ bezeichnen, dann kann ich Ihnen nur sagen, dass Sie von der Lebensrealität keine Ahnung haben. ({4}) Rund 165 000 Jugendliche haben durch die Maßnahmen des Programms wieder den Einstieg in Ausbildung und Beruf gefunden. Genau dieses Ziel haben wir verfolgt. ({5}) Unser selbst gestecktes Ziel, mit dem Programm 100 000 Jugendliche zu erreichen - das hatten wir uns vorgenommen -, haben wir damit weit übertroffen. Unsere Jugendlichen - das zeigt mir der Erfolg dieses Programms ganz klar - wollen arbeiten. Sie wollen sich qualifizieren. Wir müssen ihnen die Chance dazu geben. Dieser Verantwortung stellen wir uns. Das zweite Bein, auf das wir unsere Ausbildungsund Berufsbildungspolitik stellen, ist die parlamentarische Arbeit, aber vor allen Dingen auch das „Bündnis für Arbeit“. In dem „Bündnis für Arbeit“ haben wir gemeinsam mit den Sozialpartnern Vereinbarungen getroffen. Jeder, der auch nur einen blassen Schimmer von Berufsbildungspolitik hat, weiß, dass wir gerade in der Berufsbildungspolitik nur dann wirklich tragfähige Veränderungen, die den Jugendlichen und den Betrieben nützen, erreichen können, wenn wir mit den Gewerkschaften, mit den Arbeitgeberverbänden und mit den Unternehmen zusammenarbeiten; denn die Berufsbildungspolitik lebt davon, dass man sich über Ziele, Inhalte und Instrumente verständigt. ({6}) Deshalb ist dies das wichtige zweite Standbein, das mittel- und langfristig die Voraussetzungen dafür schafft, dass wir auf Dauer die Probleme, die in der beruflichen Bildung vorhanden waren, lösen. ({7}) „Ausbildung für alle“ ist das Leitziel unserer Berufsbildungspolitik. Das Bundeskabinett hat deshalb im Juni letzten Jahres beschlossen, das Sofortprogramm bis zum Ende des Jahres 2000 zu verlängern. Wir haben hierfür erneut 2 Milliarden DM zur Verfügung gestellt. Das ist richtig, weil junge Menschen einen Anspruch auf Ausbildung haben. ({8}) Sie haben das Recht, uns in die Pflicht zu nehmen. Diese Bundesregierung will sich und wird sich dieser Pflicht nicht entziehen. Jeder junge Mensch, der kann und will, wird ausgebildet. Das ist die Kernaussage des Ausbildungskonsenses, den Bundesregierung, Vertreter der Wirtschaftsverbände und der Gewerkschaften im „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ geschlossen haben. Anders als Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, haben wir nicht nur an die Sozialpartner appelliert; vielmehr haben wir mit ihnen konkrete Maßnahmen vereinbart, um unser Ziel zu erreichen. Das haben wir mit Erfolg getan, wie das Beispiel der informationstechnischen Berufe sehr deutlich zeigt. In den informationstechnischen Berufen herrscht ein Mangel von über 80 000 Fachkräften. Diesen Fachkräftemängel haben Sie von der Opposition durch Ihre jahrelange Untätigkeit zu verantworten. ({9}) Bundesministerin Edelgard Bulmahn Die im Bündnis vereinbarte und von allen Beteiligten getragene Offensive, diesen Fachkräftemangel zu beheben, hat bereits jetzt die Erwartungen, die wir mit der Vereinbarung verbunden hatten, übertroffen. Statt 2002, wie wir das miteinander vereinbart haben, werden wir bereits in diesem Jahr die vereinbarten 40 000 neuen Ausbildungsplätze in diesem Bereich schaffen. ({10}) Wir haben diese Vereinbarung zusammen mit den Sozialpartnern getroffen. Das habe ich vorhin gesagt, lieber Herr Kollege. Wir haben einen anderen Weg als Sie eingeschlagen. Wir haben uns mit den Vertretern der Unternehmerverbände, der Unternehmen selbst und der Gewerkschaften zusammengesetzt, um konkrete Vereinbarungen zu treffen. Gerade der Erfolg im Bereich der informationstechnischen Berufe, nämlich schon in diesem Jahr das Ziel zu erreichen, dessen Erfüllung wir erst für das Jahr 2000 angestrebt hatten, zeigt doch, dass dies der richtige Weg und die richtige Vorgehensweise ist. ({11}) Dies wird den Jugendlichen helfen, weil sie dadurch eine zukunftsträchtige Ausbildung erhalten. Dies hilft auch der Wirtschaft, weil sie dadurch in Zukunft ihren Fachkräftemangel schnell und zügig beheben kann. Wir haben im Bündnis mit den Sozialpartnern weiterhin die Modernisierung der Ausbildungsberufe vereinbart. Damit sorgen wir dafür, dass Ausbildung für die Betriebe wieder lohnender - eine lohnende Investition in den Erhalt und in die Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit - wird. Wir sorgen gleichzeitig dafür, dass die Jugendlichen eine Ausbildung erhalten, die tatsächlich up to date ist. Wir haben gemeinsam mit den Sozialpartnern beschlossen, bestehende Ausbildungsberufe zu modernisieren und neue Ausbildungsberufe zu entwickeln. Das gilt besonders für innovative und wachsende Beschäftigungsfelder im Dienstleistungssektor, weil wir in diesem Bereich in den 90er-Jahren eine viel zu langsame, eine viel zu zögerliche Entwicklung hatten. Wir haben weiterhin vereinbart - das ist mir wichtig -, dass wir die Möglichkeiten für neue Berufe auch mit weniger komplexen Anforderungen voll ausschöpfen, weil Jugendliche mit schlechteren Startchancen, mit schlechteren schulischen Voraussetzungen besondere Schwierigkeiten haben, einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Wir wollen auch diesen Jugendlichen einen Einstieg in einen Beruf mit Entwicklungschancen ermöglichen. Meine Herren und Damen, der Abbau der Jugendarbeitslosigkeit und die Schaffung von mehr Ausbildungsplätzen sind das oberste Ziel der Bundesregierung. Wir wollen erreichen, dass sich wieder mehr Betriebe und neue Branchen an der dualen Berufsausbildung beteiligen, weil sie nur so auf Dauer zukunftsfähig bleiben wird. ({12}) Wir haben mit unseren Vereinbarungen im „Bündnis für Arbeit“, aber auch mit dem Sofortprogramm den richtigen Weg eingeschlagen und wir haben damit Erfolg gehabt. Mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung von Bundesregierung und Wirtschaft sind bis zum 30. September 1999 bundesweit rund 631 000 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen worden. Das sind rund 18 500 mehr als im Jahr zuvor. Die Situation hat sich also erheblich verbessert. Ich füge aber hinzu: Sie ist noch nicht zufrieden stellend. Vor allem in den neuen Ländern ist die Lücke zwischen angebotenen und nachgefragten Ausbildungsplätzen noch zu groß. Das Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen ist besonders in den neuen Bundesländern zu gering. Deshalb sind auch in den kommenden Jahren ergänzende, öffentlich finanzierte Ausbildungsplatzprogramme erforderlich. Ein Weiteres will ich an dieser Stelle deutlich sagen: Wir müssen, meine Herren und Damen, dahin kommen, die Förderung von Ausbildungsplätzen mit öffentlichen Mitteln nicht zu einem Dauerzustand werden zu lassen. ({13}) Deshalb bin ich sehr froh, dass wir auch im Bündnis mit den Sozialpartnern vereinbart haben, dass wir die so genannten Kopfprämien in den neuen Bundesländern abbauen, weil sie leider zu einem Zustand der Dauerfinanzierung geführt haben und führen werden. Daher war es richtig, dass wir diese Vereinbarung getroffen haben. ({14}) Die Verschiebung der Ausbildungslasten von der Wirtschaft auf die öffentliche Hand ist weder akzeptabel noch auf Dauer finanzierbar. Das Wichtigste ist: Wenn wir die von uns im „Bündnis für Arbeit“ eingeleitete Umorientierung nicht vornehmen würden, dann würde das auf Dauer das duale System in seinen Grundstrukturen gefährden. Das wollen wir nicht. Die Betriebe, meine Herren und Damen, profitieren am meisten davon, wenn sie Jugendliche selbst ausbilden; denn sie erhalten gut qualifizierte Fachkräfte, deren Potenziale und Fähigkeiten sie kennen. Die Ausbildung im eigenen Betrieb liegt deshalb im unmittelbaren Interesse der Unternehmen selbst. Das deutsche Berufsbildungssystem lebt vom Engagement der kleinen und der großen Betriebe. Dieses Engagement werden wir nachhaltig unterstützen und stärken. Darauf haben wir uns im Bündnis verständigt. Kern der Vereinbarung, die wir gemeinsam mit den Ländern und den Sozialpartnern umsetzen werden, ist eine Verstärkung der regionalen Aktivitäten zur Verschaffung von betrieblichen Ausbildungsplätzen. Die Erfahrungen aus dem letzten Jahr haben uns gezeigt, dass die individuelle Ansprache vor Ort gemeinBundesministerin Edelgard Bulmahn sam mit den Vereinbarungen, die wir im Bündnis getroffen haben, der richtige Weg ist, um die Ausbildungsprobleme zu überwinden. Wir brauchen nämlich selbsttragende Strukturen in der Region, die uns helfen, die Ziele des Ausbildungskonsenses umzusetzen. Dass dies der richtige Weg ist, zeigen die Erfolge der Nachvermittlungsaktion im letzten Jahr. Ende September 1999 waren noch 29 000 Jugendliche unvermittelt. Ende Dezember konnte diese Zahl um 16 200 auf 12 800 gesenkt werden. Diesen 12 800 Jugendlichen standen noch 7 400 nicht besetzte Ausbildungsplätze gegenüber. Das heißt, die regionale Umsetzung der Nachvermittlungsaktion, die wir im „Bündnis für Arbeit“ vereinbart haben, ist genau der richtige Weg und zeigt Erfolg. Alle Jugendlichen, die trotz verstärkter Vermittlungsbemühungen auch im Dezember noch keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, bekommen entweder mit den bislang noch unbesetzten betrieblichen Ausbildungsplätzen oder mit dem verlängerten Sofortprogramm eine weitere Chance, sodass wir unser Ziel, dass alle Jugendlichen, die können und wollen, auch einen Ausbildungsplatz erhalten, erreichen können. Meine Damen und Herren, ich habe vorhin schon darauf hingewiesen: Wir müssen auch den leistungsschwächeren Jugendlichen mit schlechteren Startchancen die Chancen für eine berufliche Qualifizierung geben. Sie haben zurzeit besonders große Schwierigkeiten. Deshalb haben wir im Bündnis vereinbart, dass wir die berufliche Benachteiligtenförderung weiterentwickeln. Wir gehen dabei auch neue Wege, und zwar gemeinsam mit den Sozialpartnern und den Ländern, die im Bündnis mitwirken. Wir gehen neue Wege in Form einer stärkeren Partnerschaft zwischen Schule und Betrieb, damit wir eine bessere Verknüpfung von Theorie und Praxis nicht erst in der beruflichen Bildung erreichen, sondern bereits in der Schule. ({15}) Ich bin davon überzeugt, dass das ein wichtiger Weg ist. Die Länder Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen zum Beispiel haben damit schon begonnen. ({16}) - Sie wissen, lieber Kollege, dass ich zum Beispiel im Bündnis genau diese Vorschläge mit erarbeitet habe, ({17}) dass aber die Länder für die Umsetzung in den Schulen zuständig sind. Den föderalen Charakter unseres Landes werden auch Sie nicht außer Kraft setzen. ({18}) Meine Herren und Damen, die Berufsausbildung hat für die Bundesregierung herausragende politische Bedeutung, weil über die Berufs- und Lebenschancen junger Menschen entschieden wird. Alle Betriebe und Verwaltungen sind aufgefordert, ihr Ausbildungsengagement zu verstärken. Eine duale Ausbildung ist immer noch die beste Garantie - das zeigen alle Statistiken, alle Kenntnisse, die wir haben, sehr deutlich -, um später einen Arbeitplatz zu finden, aber auch um ihn zu behalten. Deshalb müssen Staat und Wirtschaft gemeinsam dafür sorgen, dass das duale System auf Dauer leistungsfähig bleibt. Wir stehen dabei vor zwei Aufgaben: Zum einen müssen wir den akuten Bedarf an Ausbildungsplätzen decken. Zum anderen müssen wir gleichzeitig das duale System modernisieren. Das, meine Herren und Damen, gelingt uns nur, wenn wir eine dauerhafte Verständigung zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und Politik erreichen, so wie wir das im Bündnis gemacht haben. Das ist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass das duale System auch künftig - in Deutschland und weltweit ein Erfolgsmodell ist. Wir haben im „Bündnis für Arbeit“ die Basis dafür gelegt. Wir werden uns gemeinsam mit Unternehmen und Gewerkschaften um die weitere Umsetzung unserer Vereinbarungen kümmern. Liebe Kollegen und Kolleginnen, die vereinbarten und getroffenen Maßnahmen der rot-grünen Bundesregierung und die konstruktive Haltung aller Beteiligten im Bündnis - ich will die konstruktive Beteiligung von Wirtschaftsverbänden, Unternehmen und Gewerkschaften ausdrücklich hervorheben; sie machen wirklich mit und wollen das auch künftig tun und kümmern sich selbst sehr engagiert um die Umsetzung der Vereinbarung - haben gute Wirkung gezeigt. ({19}) - Lieber Kollege, es ist falsch, wenn Sie sagen, das sei nichts Neues. Es hat in den vergangenen Jahren nicht ein einziges Mal die Fortschritte in der beruflichen Bildung gegeben, die im letzten Jahr zu verzeichnen gewesen sind. ({20}) Das wird gerade von den Sozialpartnern ausdrücklich hervorgehoben, und zwar sowohl von den Wirtschaftsverbänden als auch von den Gewerkschaften. ({21}) Wir werden weiter darauf aufbauen. Wir werden uns für die Zukunft der jungen Menschen auch künftig engagieren und den gemeinsam eingeschlagenen Weg weitergehen. Wir werden dabei Erfolg haben - im Interesse der Jugendlichen und im Interesse unseres Landes. Vielen Dank. ({22})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Heinz Wiese, CDU/CSU-Fraktion.

Heinz Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003261, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit ist zurzeit die größte gesellschaftspolitische Herausforderung, größer noch als die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit insgesamt. ({0}) Bildung, Ausbildung und Qualifizierung junger Menschen sind und bleiben dabei die beste Investition in die Zukunft. Das von der rot-grünen Bundesregierung aufgelegte Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit habe ich hier im Plenum und in den Ausschussberatungen vor allem als Einstiegsprogramm und hinsichtlich seiner Sogwirkung und Brückenfunktion für benachteiligte Jugendliche gewürdigt. ({1}) Mittlerweile hat jedoch die Jahresbilanz dieses Programms einige Mängel und Defizite aufgedeckt. ({2}) Ich will nur zwei Punkte herausgreifen: Erstens. Wenn man das Programm daran misst, inwieweit es als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt tauglich ist, muss man leider feststellen, dass nur 14 Prozent der Auszubildenden im dualen System untergebracht werden konnten. ({3}) Das ist entschieden zu wenig. ({4}) Zweitens. Eine weitere Schwachstelle macht uns hellhörig: Per Weisung und ohne die Öffentlichkeit darüber zu informieren, ist im Juli letzten Jahres die Beteiligung der Bundeswehr am Sofortprogramm außer Kraft gesetzt worden. ({5}) Mit einem Federstrich sind dadurch circa 5000 Stellen für Wehrdienstleistende ohne Anschlussbeschäftigung weggefallen. ({6}) Dies ist für mich eine skandalöse Entscheidung. ({7}) Uns helfen auf Dauer keine milliardenschweren Hilfsprogramme mit Strohfeuereffekten. Was wir brauchen, sind Strukturen, die langfristig halten und realistische Zukunftsperspektiven eröffnen. Auch das 9-Punkte-Konzept der F.D.P. zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze weist in diese Richtung. Wir unterstützen durchaus das Bestreben, bewährte Maßnahmen fortzusetzen. ({8}) Dazu gehören regionale Ausbilderkonferenzen und Ausbildungsbörsen genauso wie, vor allem in den neuen Bundesländern, der Einsatz von Lehrstellenentwicklern. Ausbildungsverbünde sollten allerdings noch intensiver gefördert werden. ({9}) Dann erhalten auch kleine und mittlere Betriebe, die aus finanziellen, organisatorischen oder personellen Gründen keine eigenen Ausbildungsplätze anbieten können, die Chance, im Rahmen des dualen Systems auszubilden. ({10}) Meine Damen und Herren, entscheidend für die Chancen auf dem Ausbildungsmarkt ist eine solide Grundbildung. Dazu brauchen wir eine qualitätsbewusste Weiterentwicklung unserer Schulen, in denen Kinder und Jugendliche mit ihren verschiedenen Begabungen und Interessen wieder ernst genommen werden. Sie müssen gefördert, aber auch angemessen gefordert werden. ({11}) Diese Erkenntnis sollte sich in allen Bundesländern durchsetzen. ({12}) Gerade in Baden-Württemberg und Bayern haben Qualitätssicherung und Professionalisierung der Schulbildung schon längst Priorität. ({13}) Auch in der Bildungspolitik muss es zu einem offensiven Wettbewerbsföderalismus kommen. Dieser fruchtbare Wettstreit zwischen den Bundesländern kann entscheidend dazu beitragen, das Süd-Nord-Gefälle in Deutschland abzubauen. Notwendig ist aber auch eine bessere und kontinuierliche Zusammenarbeit aller Einrichtungen des Bildungswesens. Lebenslanges Lernen sowie Fremdsprachen- und Medienkompetenz müssen durch eine bessere Verzahnung von Erst- und Weiterbildungswegen gezielt gefördert werden. ({14}) Frau Ministerin Bulmahn hat soeben davon gesprochen, die berufliche Bildung sei in besonders hohem Maße den Innovationsprozessen der Wirtschaft und damit enormen Veränderungen unterworfen. Ich meine, neue Berufsbilder besonders im Dienstleistungs- und Multimediabereich müssen zügiger geschaffen werden. Es muss uns gelingen, möglichst allen Jugendlichen über die eigene Berufstätigkeit eine gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Ein besonderes Augenmerk sollten wir dabei auf die 10 bis 15 Prozent aller Lehrstellenbewerber richten, die aufgrund sozialer und kognitiver Defizite nicht ausbildungsreif sind. Für diese Zielgruppe gilt es, bereits in der Hauptschule den Praxisbezug zu verbessern und die praktischen Leistungen höher zu bewerten, beispielsweise in Form von Projektprüfungen. Für die eher praktisch begabten Jugendlichen brauchen wir darüber hinaus neue Berufsbilder mit theoriegemindertem Anforderungsprofil. ({15}) Auch mit Teilqualifikationen, modularen Elementen oder Stufenausbildungen kann ihnen geholfen werden. Beispielsweise geht hier das Satellitenmodell des DIHT neue Wege zu einer modernen Beruflichkeit. An dieser Stelle, meine Damen und Herren, appelliere ich ausdrücklich an die Gewerkschaften: Hören Sie endlich auf, diese Ausbildungsprofile aus ideologischen Gründen zu bekämpfen! ({16}) Außerdem sollten die Beteiligten beim „Bündnis für Arbeit“ die bereits angesprochenen beschlossenen Leitlinien zur beruflichen Benachteiligtenförderung zügig umsetzen. Zu begrüßen sind neue Projekte wie der verstärkte Einsatz von Jugendberufshelfern in Baden-Württemberg oder die Einrichtung von Praxisklassen in Bayern. Vergleichbar mit dem erfolgreichen Modell „New Deal“ in England kümmern sich immer mehr Jugendberufshelfer gezielt um die Jugendlichen in den Berufsvorbereitungsjahren, besprechen mit ihnen die individuellen Lebensentwürfe und versuchen, sie zu einer adäquaten Berufswahl und Ausbildung zu motivieren. Ohne solche Hilfen droht gerade diesen benachteiligten Jugendlichen gesellschaftliche Randständigkeit oder sogar Ausgrenzung. Das können und dürfen wir nicht hinnehmen. ({17}) Meine Damen und Herren, bei der Schaffung von Ausbildungsplätzen kommt es aber entscheidend auf die wirtschafts- und steuerpolitischen Rahmenbedingungen an. ({18}) Wir brauchen eine große Steuerreform. Daneben müssen wir dringend zu einer soliden, wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik zurückfinden. ({19}) Sie bringt neue Impulse für den Ausbildungsmarkt. Mit ihren Steuerbeschlüssen benachteiligt die rotgrüne Koalition jedoch den Mittelstand über Gebühr, ({20}) obwohl sie wissen müsste, dass gerade der Mittelstand über 60 Prozent aller Ausbildungsplätze in Deutschland anbietet. ({21}) Auch Kleinbetriebe - vor allem das Handwerk - nehmen circa 20 Prozent aller Auszubildenden auf. Dafür verdienen sie Lob und Anerkennung, statt laufend Knüppel zwischen die Beine geschmissen zu bekommen. ({22}) Die größte Keule in diesem Bereich ist die so genannte Ökosteuer. ({23}) Diese Geldbeschaffungsmaßnahme ist ein reiner Etikettenschwindel, ein Abkassiermodell mit grünem Mäntelchen. Sie bringt keinen Gewinn für die Umwelt, stattdessen Mehrkosten für die Betriebe: allein im Handwerk bisher 280 Millionen DM. Dies ist sozial ungerecht und politisch verantwortungslos. ({24}) Auch das so genannte Steuerentlastungsgesetz erweist sich für den Mittelstand als ein Steuerbelastungsgesetz. Dies ist kein Beitrag für mehr Wachstum und Beschäftigung. Im Gegenteil, das ist eine Politik, die Arbeits- und Ausbildungsplätze verhindert statt schafft. Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir abschließend eine Bemerkung zum F.D.P.-Antrag. Er enthält einige gute Ansätze zur Verbesserung der Zukunftschancen unserer jungen Generation. Die CDU/CSU stimmt dem F.D.P.-Konzept zu. Es ist kein politischer Weitwurf, aber ein Schritt in die richtige Richtung. Politik mit Augenmaß bewegt sich stets zwischen Bewahren und Erneuern. Deshalb sollte vieles, was sich bewährt hat, weitergeführt werden. Darüber hinaus gilt es aber, für die Auszubildenden neue Wege zu gehen. Politische Innovation ist gefragt. Unsere Jugend braucht Perspektiven, sie ist unsere Zukunft. Geben wir dieser Zukunft eine Chance. Vielen Dank. ({25})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Heinz Wiese ({0}) ({1})

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das freut mich besonders, Herr Niebel. Ich habe Sie seit gestern Abend schon vermisst. Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Auseinandersetzung über einen Berufsbildungsbericht ist immer auch eine Diskussion über Zahlen. 1998 - das ist der Zeitraum, den der vorliegende Berufsbildungsbericht erfasst - hat sich der Lehrstellenmarkt im Vergleich zum Jahr 1997 etwas entspannt. Kamen 1997 auf 100 Bewerber und Bewerberinnen noch 96,6 Stellen, waren es 1998 bereits 98,1. 1999 unter rot-grüner Verantwortung - lag das Verhältnis von offenen Ausbildungsplätzen zu Bewerberinnen und Bewerbern bereits bei über eins zu eins, im Westen sogar bei 116 zu 100. Die Jugendarbeitslosigkeit sank deutlich um 18 Prozent. ({0}) Angesichts dieser Zahlen hätten Sie wahrscheinlich in der letzten Legislaturperiode vor Begeisterung erst einmal Luftsprünge gemacht. Deshalb können wir sagen, dass wir es geschafft haben, innerhalb eines Jahres die Jugenderwerbslosigkeit deutlich zu senken. Dem können sogar Sie sich nicht verschließen. ({1}) Das JUMP-Programm hat bereits im Frühjahr 1999 25 000 Jugendliche von der Straße geholt, die als so genannte Altnachfragerinnen und Altnachfrager ohne Perspektive waren. Das ist die Leistung, die wir gleich zu Beginn erbracht haben. Aber das war nur der erste Schritt zur Lösung dieses Problems und noch immer gibt es Jugendliche, die in den vergangenen Jahren unvermittelt blieben und einen Job suchen. Zu Wahrheit und Klarheit gehört es auch, an dieser Stelle zu sagen, dass diese Entspannung auf dem Ausbildungsmarkt in der Tat in erster Linie dem JUMPProgramm der Bundesregierung zu verdanken ist. ({2}) Die Zusagen der Wirtschaft wurden leider an dieser Stelle wiederum nicht eingehalten - nicht 1998, als Altbundeskanzler Kohl mit dem - dann unerfüllten Wahlversprechen, jedem Jugendlichen einen Ausbildungsplatz anzubieten, in den Wahlkampf zog, und auch nicht, als die Wirtschaft im Rahmen des „Bündnisses für Arbeit“ 6 000 Stellen für den demographischen Zusatzbedarf versprochen hat und darüber hinaus noch 10 000 zusätzliche Stellen zusagte. Wenn wir den Effekt des JUMP-Programms von den erreichten Zahlen abziehen, müssen wir leider feststellen, dass wir, wenn wir über einen Erfolg reden wollen, tatsächlich nur von einem Erfolg des JUMP-Programms reden können. Sorge muss uns an dieser Stelle auch der Rückgang vor allem in den industriellen Ausbildungsberufen im Osten machen. Deshalb appellieren wir an dieser Stelle vor allem an die Wirtschaftsverbände, ihre Zusagen bezüglich der Ausbildungssituation einzuhalten und bei ihren Mitgliedern eine größere Verbindlichkeit herzustellen. ({3}) Ich bin überzeugt, dass es den Unternehmen in Zukunft leichter fallen wird, die notwendige Motivation bei ihren Mitgliedern zu erreichen, um den grundgesetzlich gebotenen Beitrag aufzubringen; denn wir stehen heute vor dem größten Wirtschaftsaufschwung seit dem Vereinigungsboom, der damals zum Teil künstlich erzeugt wurde. Darüber hinaus ist sich die rot-grüne Koalition bewusst, dass sie auch, vor allem was die Ausbildungssituation betrifft, an den Rahmenbedingungen arbeiten muss. ({4}) Aber das meiste von dem, was Sie von der F.D.P. und von der Union fordern, ist längst ein Bestandteil unseres derzeitigen Maßnahmenkatalogs. ({5}) Sie haben es verpasst, in den vergangenen 16 Jahren die richtigen Weichenstellungen vorzunehmen. ({6}) Wir dagegen haben uns vorgenommen, konkret zu handeln und konstruktiv zu agieren. ({7}) Aber neben all diesen quantitativen Aspekten muss es uns auch um die Qualität gehen. Das JUMP-Programm das sagen Sie - mag auch Schwächen haben, aber dies liegt auch in der Natur der Sache, nämlich in der des Sofortprogramms. Wir möchten aus diesem Sofortprogramm konstruktive Schlussfolgerungen ziehen; denn JUMP hatte - das wurde bereits angesprochen - nicht unerhebliche Mitnahmeeffekte bei der Wirtschaft und es orientiert sich nach wie vor an den traditionellen Berufsbildern. Bei jungen Männern ist immer noch der Beruf des Kfz-Mechanikers auf Rang Nummer eins und bei jungen Frauen ist noch immer der Beruf der Friseuse auf einem absoluten Spitzenplatz. Deshalb hat die Koalition beschlossen, speziell gegen den Fachkräftemangel im Bereich der Informationstechnologien vorzugehen. Hier werden in den kommenden drei Jahren 26 000 neue Ausbildungsplätze geschaffen. Aber das ist nicht alles. Wir sind auch schon dabei, neue Berufsbilder zu erarbeiten und auf den Weg zu bringen. Präsident Wolfgang Thierse Ein weiteres Problem ist die Zielgruppengenauigkeit. JUMP war niemals nur als ein Programm für benachteiligte Jugendliche gedacht, sondern wurde allgemein zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Deutschland eingebracht. Daher müssen wir auch Programme weiterentwickeln, die gerade die benachteiligen Jugendlichen ansprechen, weil wir wissen, dass 50 Prozent der arbeitslosen Jugendlichen in den alten und über 20 Prozent der arbeitslosen Jugendlichen in den neuen Bundesländern keinen qualifizierten Abschluss haben. Deshalb liegt einer der wichtigsten Schlüssel zur Lösung dieses Problems im allgemeinbildenden Schulsystem. Da gibt es beispielsweise die Problemgruppe der so genannten nicht beschulbaren Jugendlichen. In einigen Bundesländern laufen diesbezüglich Experimente, die zeigen sollen, wie durch ganz speziell zugeschnittene Schulen und Unterrichtsmodelle erreicht werden kann, dass auch diese Jugendlichen einen qualifizierten Abschluss schaffen. In diesem Bereich muss der Informations- und der Erfahrungsaustausch erheblich intensiviert werden, wenn wir vermeiden wollen, dass hier eine Gruppe von dauerhaft Ausgegrenzten heranwächst. Ähnliches gibt es auch in einer weiteren statistisch erfassten Problemgruppe, nämlich der Gruppe der ausländischen Jugendlichen und hier vor allen Dingen der männlichen Jugendlichen. Eines ist empirisch erwiesen: Überall dort, wo auf die spezifischen Probleme der jungen Migrantinnen und Migranten eingegangen wird, überall dort, wo sie Kurse für die deutsche Sprache besuchen können und wo sie schulisch und sozial gefördert werden, entschärft sich das Problem der mangelnden Qualifikation und der mangelnden Berufschancen ganz erheblich. Die Bundesregierung nimmt hier ihre Verantwortung nicht nur im Rahmen von Sonderprogrammen und Modellprogrammen wahr. Weitere Schritte sind aber - vor allem auf Landesebene und auf Kommunalebene - an dieser Stelle mehr als dringend notwendig. Von besonderer Bedeutung ist auch die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen für die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts. Dazu gehören Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und die Fähigkeit zu kreativen Problemlösungen und zum lebenslangen Lernen. All dies muss bereits im Schulsystem entwickelt werden. In Bayern läuft gegenwärtig ein viel versprechendes Volksbegehren von Lehrerverbänden, von Schülerinnen und Schülern sowie von den Eltern, das den Titel „Das bessere Schulkonzept“ trägt. Leider verkennt gerade die CSU mit ihrer fundamentalistischen Ablehnung dieser Konzepte die Zeichen der Zeit, gerade was diese Schlüsselqualifikationen betrifft. ({8}) Schulpolitik mag in erster Linie Ländersache sein. Aber auch Sie, Herr Kollege, werden mir zustimmen, dass Schulpolitik letztlich uns alle angeht.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Deligöz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jork?

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, er kann sich ja nachher noch einmal melden. ({0}) Das duale Ausbildungssystem hat sich trotz erkennbarer Schwächen vor allem in Westdeutschland bewährt. Die Koalition hat zahlreiche Modernisierungsvorschläge gemacht und Anforderungen erarbeitet, die gerade in diesem Haus Anklang finden. ({1}) Die vom DGB-Vorsitzenden Schulte geforderte Ausbildungsoffensive und seine zugleich verkündete Bereitschaft, offen und mit flexiblen Instrumenten auf die immer differenziertere Ausbildungssituation einzugehen, begrüßen wir ausdrücklich. Ebenso im Grundsatz zu begrüßen sind die Arbeitgeberforderungen nach einer flexiblen und einer offenen Gestaltung der Weiterbildung. Es zeigt sich hier wie auch in vielen anderen Fragen, dass die Konsensstrategie der Bundesregierung im Rahmen des „Bündnisses für Arbeit“ Sinn macht und an vielen Stellen auch Früchte trägt. Konsensuale Schritte sind aber notwendig, um noch unerschlossene Ausbildungsreserven zu mobilisieren. Nur etwa 10 Prozent der ausländischen Betriebe bilden aus. Das liegt sicherlich nicht an der mangelnden Bereitschaft, sondern oft auch an der mangelnden Unterstützung und an bürokratischen Hemmnissen sowie an der Frage der Ausbildungsberechtigung. Hier können vor allem die Industrie und die Handelskammern etwas unternehmen, um zur Verbesserung der Situation beizutragen. ({2}) Die öffentliche Hand sollte die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe dadurch fördern, dass sie bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen vor allem die Betriebe bevorzugt, die ausbilden. Dies kommt nach der heutigen Situation vor allem den kleineren und mittleren Betrieben zugute. Abschließend möchte ich festhalten: Wir haben sicherlich nicht für alles eine Patentlösung. Aber wir sind auf einem sehr guten Wege. Wir können zu Recht als rot-grüne Koalition darauf hinweisen, dass wir nicht nur über alles reden, sondern dass wir zu Taten schreiten und dass wir bereits einige wichtige Schritte gegangen sind. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Cornelia Pieper, F.D.P.-Fraktion.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Schaffung von Ausbildungsplätzen für junge Frauen und Männer ist nicht nur die beste Zukunftsinvestition, die wir tätigen können, sondern - da es die Option auf einen zukünftigen Arbeitsplatz einschließt - auch die beste Sozialpolitik, die man für junge Menschen in diesem Land betreiben kann. ({0}) Daran muss sich auch die Politik der rot-grünen Bundesregierung messen lassen. Ich sage auch ganz deutlich, dass wir Liberale es für völlig falsch halten, gerade die Ausbildungsplatzpolitik, die berufliche Bildung zum politischen Schlachtfeld zu machen. ({1}) Trotzdem müssen Sie natürlich auch die Kritik der Opposition an Ihren Programmen ertragen. Ich gebe zu, der uns seit geraumer Zeit vorliegende Berufsbildungsbericht ist nicht der geeignete Maßstab für eine Bewertung der Leistungen dieser Bundesregierung. Er beschreibt nämlich den Zustand vom September 1998, also das Ergebnis der Regierungsarbeit der christlichliberalen Koalition. ({2}) Der Bericht macht deutlich, dass die alte Bundesregierung bei der Schaffung von Ausbildungsplätzen einige richtige Weichenstellungen vorgenommen hat. Zugleich zeigt er, wie wichtig es ist, Signale zur Schaffung zielgenauer Rahmenbedingungen für eine Stärkung der Wirtschaft zu geben, insbesondere für die kleinen und mittleren Betriebe, um damit die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe und Einrichtungen zu stärken. Die Tarifvertragsparteien, Bund und Länder sind hier gleichermaßen gefordert. Für mich bedeutet das, gerade kleine und mittlere Unternehmen, das Handwerk zu stärken. ({3}) Das betriebliche Ausbildungsangebot muss ausgeweitet werden. Ausbildungsplatzentwickler haben dabei natürlich eine Schlüsselposition. Wir meinen aber auch, Existenzgründern muss der Zugang zur Ausbildung erleichtert werden. Dafür fehlen die richtigen Ansätze in Ihrem Programm. Der einzig richtige Weg zur Sicherung einer ausreichenden Zahl von Ausbildungsplätzen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ist nach wie vor die Stärkung des dualen Systems, wobei der Ausbildungsbetrieb im Zentrum stehen muss. ({4}) Industrie und mittelständische Wirtschaft werden die Ausbildung ihres Nachwuchses jedoch immer an ihrem wirklichen Bedarf orientieren. Daher kann ich die Warnung nicht oft genug aussprechen: Mittelstandsfeindliche Gesetze vernichten Ausbildungs- und Arbeitsplätze in diesem Land. ({5}) Ich sage auch: Ausbildungsbereitschaft der Wirtschaft und der Betriebe darf nicht nur immer eingefordert, sie muss auch belohnt werden. Ausbildungsbetriebe dürfen durch Übernahmeverpflichtungen im Rahmen von Tarifverträgen nicht abgeschreckt werden. ({6}) Ich sage ganz deutlich: Es müssen verstärkt Regelungen geschaffen werden, die eine moderate Ausbildungsvergütung ermöglichen. Tarifpolitische Entscheidungen konterkarieren zurzeit die Schaffung von betrieblichen Ausbildungsplätzen. ({7}) Nehmen Sie doch das Beispiel des Einzelhandels: Dort bekommt eine junge Frau im ersten Lehrjahr - das hat ja auch Allgemeinverbindlichkeit für alle Einzelhandelsfirmen - 940 DM. Wie viele Ausbildungsplätze hätten wir geschaffen, gerade im Osten Deutschlands, wenn wir daraus zwei oder drei Ausbildungsplätze machen könnten, gerade im Handel. Da würden wir ein großes Stück vorankommen. ({8}) Die Quintessenz bleibt: Die beste Ausbildungsplatzpolitik für junge Menschen ist eine erfolgreiche Mittelstandspolitik - dafür leistet diese Bundesregierung nicht viel -, denn nur betriebliche Ausbildungsplätze eröffnen Optionen auf einen zukunftsorientierten Arbeitsplatz für junge Frauen und Männer. Dieser Akzent fehlt in Ihrem Sonderprogramm. ({9}) Heute schon ist deutlich zu erkennen, worauf RotGrün setzt. Die Mittelstandspolitik der Regierung ist mit ihrer falsch verstandenen Steuerentlastung großer Kapitalgesellschaften und mit ihrer Ökosteuer arbeits- und ausbildungsplatzfeindlich. ({10}) - Doch, ich komme gleich zu konkreten Beispielen. Der Berufsbildungsbericht zeigt uns Wege auf, die aber in keines der Programme der jetzigen Bundesregierung aufgenommen wurden. Auch das im vergangenen Herbst beschlossene Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit, das mit großem Kraftaufwand von den Arbeitsämtern umgesetzt wurde, ({11}) ist letztlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich sage es noch einmal: Das kann das Grundproblem insgesamt nicht lösen. Trotz der Neuauflage des Programms in diesem Jahr sind wir von unserem Ziel, nämlich der dauerhaften und ausreichenden Bereitstellung von betrieblichen Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, noch immer weit entfernt. ({12}) Solange der Mut zu echten Reformen nicht aufgebracht wird - das muss eine gemeinsame Kraftanstrengung in diesem Parlament sein - und immer weitere mittelstandsfeindliche und ausbildungsplatzvernichtende Gesetze verabschiedet werden, sehe ich zu einer Fortführung derartiger Sofortprogramme keine Alternative. Es ist zwar richtig, wenn immer wieder gesagt wird, jeder junge Mensch, der in irgendeine Form der Beschäftigung gebracht werde, sei weg von der Straße. Noch so schöne außerbetriebliche Ausbildungs- und Beschäftigungsprogramme können aber den Betrieb nicht ersetzen. ({13}) Das sehen wir am deutlichsten im Osten, wo auf absehbare Zeit keine Umkehrung des Verhältnisses von ausbildenden zu nicht ausbildenden Betrieben von 29 Prozent zu 71 Prozent zu erwarten ist. Ich möchte Ihnen vortragen, was der interessante Konjunkturbericht der IHK Halle/Dessau - immerhin eine wachsende Wirtschaftsregion im Osten - enthält. Die Verfasser sehen mit Besorgnis die Entwicklung der kleinen und mittelständischen Betriebe in dieser Region. Es wird bemerkt, dass es kaum noch Investitionen gibt und dass die Unternehmenslücke größer wird; allein im Jahre 1999 wurden 2 000 Gewerbeanmeldungen weniger verzeichnet. Während es im Westen durchschnittlich 45 Unternehmen je Tausend Einwohner gibt, sind es im Osten nur 33. Überwiegend herrscht eine schlechte Gewinnsituation bei den kleinen und mittleren Betrieben vor: ({14}) Von rund 34 000 Personengesellschaften ohne Eintrag ins Handelsregister arbeiten drei Viertel praktisch ohne Gewinn. Wie wollen Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, diese Betriebe mit Ihrer Steuerpolitik eigentlich erreichen? ({15}) Ich denke, bei diesen Betrieben sind die wichtigen Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Ausbildungsplatzpolitik zu setzen. Bei der Berufsausbildung müssen neue Wege beschritten werden. Die F.D.P. setzt sich schon lange für eine Modernisierung der beruflichen Ausbildung nach dem Muster eines Baukastensystems ein: Es soll mit Basisberufen angefangen und dann in Form von Qualifizierungs- und Aufbaubausteinen weitergeführt werden. So haben wir leistungsstarke und leistungsschwache junge Menschen gleichermaßen im Auge. Es ist eine breite Diskussion im Gange. Ich gebe zu: Die Frau Bundesbildungsministerin hat, was die berufliche Bildung anbelangt, auch zum Thema Modernisierung und Flexibilisierung wichtige Akzente aufgezeigt, die wir teilen und die wir wollen. Wenn Sie, Frau Ministerin, Punkte, die der Entschließungsantrag der F.D.P. enthält, umzusetzen beabsichtigen bzw. zum Teil schon umgesetzt haben, dann, denke ich, sollten Sie und die Regierungskoalition gezielt und bewusst dem Entschließungsantrag der F.D.P.-Fraktion zustimmen. Dafür möchte ich noch einmal werben. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Maritta Böttcher, PDS-Fraktion.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wieder einmal geht es um einen Berufsbildungsbericht, dessen Inhalt, so scheint es, insofern überholt ist, als die Datenlage zwei Jahre alt ist und inzwischen Ergebnisse des JUMP-Programms und der Bündnisgespräche vorliegen. Diese Ergebnisse will ich das sage ich zu Beginn ausdrücklich - weder kleinreden noch gering schätzen: Tatsächlich ist vielen Jugendlichen durch den Kraftakt der Bundesregierung wenigstens vorübergehend geholfen worden. Aber gehen wir die im Bericht aufgelisteten Schwerpunkte im Einzelnen durch, so zeigt sich seine Aktualität auch trotz der von der Regierungskoalition ergriffenen neuen Maßnahmen. Richtig ist wohl, dass die Lehrstellenbilanz zum Stichtag 30. September ein Plus von 3 Prozent bei den neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen gebracht hat. Werden jedoch die vom Staat voll finanzierten Plätze herausgerechnet, ergibt sich ein weiterer deutlicher Rückgang beim Angebot der Betriebe. Da stellt sich die Frage, was das Sofortprogramm und die Bündnisgespräche tatsächlich zur deutlichen Ausweitung des betrieblichen Ausbildungsangebots beigetragen haben. Oder gilt dieses Ziel nicht mehr? Im Dezember war von etwa 10 000 Plätzen weniger bei Betrieben und Verwaltungen die Rede. Versprochen wurden im Bündnis zusätzlich 16 000 Stellen, und zwar „aus eigener Kraft“. Das Angebot sank vor allem im Handwerk, bei Ländern und Kommunen und in der Großindustrie. Ist dies nun ein Effekt, der trotz oder soCornelia Pieper gar dank des Sofortprogramms zustande gekommen ist? Vielleicht gibt es darauf in der Begleitforschung eine Antwort. Festgehalten werden muss: Die Wirtschaft hat bisher ihre Lehrstellenzusage nicht erfüllt. Ein zweiter Schwerpunkt des Berichts, der nichts an Aktualität eingebüßt hat, ist die weitere Talfahrt bei den Lehrstellen in Ostdeutschland. Das ist hier schon angeklungen. Auch dort ging das betriebliche Lehrstellenangebot wiederum zurück. Die neuen Bundesländer bleiben Spitzenreiter in den Bilanzen der Arbeitsämter. Im letzten Jahr kamen auf jeweils 100 Stellen zum Beispiel 142 Bewerbungen in Mecklenburg-Vorpommern und 182 Bewerbungen in Sachsen vor. Als Fazit bleibt demnach die Einschätzung im Minderheitenvotum der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum vorliegenden Bericht aktuell: Auch in diesem Jahr hat die Politik der Freiwilligkeit und der Anreize versagt. ({0}) Das, was an Verbesserungen und Erfolgen gemeldet wird, geht zuerst und vor allem - das ist heute schon deutlich geworden - auf das Konto des Sofortprogramms. Das entspricht nicht dem Geist und den Zielen des Ausbildungskonsenses. Nach wie vor gilt: Mehr Ausbildungs- und Arbeitsplätze werden nicht durch Sofortprogramme geschaffen, sondern durch die richtige Ausgestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. ({1}) Der Kanzler hat das auf dem Bildungskongress der SPD in dieser Woche bestätigt. Ich kann ihm dabei nur zustimmen. Die Verschiebung der Ausbildungslasten auf die öffentliche Hand ist weder akzeptabel noch auf Dauer finanzierbar und gefährdet das duale System. ({2}) - Das hat ja Ihr Kanzler gesagt. Da muss ich ja Recht haben. ({3}) - Ja, Frau Bulmahn auch. Selbstverständlich. ({4}) Ich kann auch noch ein paar andere Namen nennen, aber wir sind hier nicht bei einer Veranstaltung, auf der eine Laudatio auf einzelne Menschen gehalten wird. Auch wenn sich die SPD nach dem Regierungswechsel von dem vorher favorisierten Modell der Umlagefinanzierung verabschiedet hat, weil der Kanzler - so wörtlich - nicht gegen die Wirtschaft arbeitet, fragt man sich, was JUMP anderes ist als eine Umlagefinanzierung. Es ist allerdings eine Umlage, die nicht von der Wirtschaft getragen wird. Schließlich sei mir noch eine Bemerkung zur Chancengleichheit gestattet. Für den Bereich der beruflichen Bildung würde das im Klartext bedeuten: Jeder Jugendliche hat das Recht auf ein gleichwertiges, qualitativ hochwertiges und auswahlfähiges Ausbildungsangebot. Dass wir davon meilenweit entfernt sind, weiß jeder, der einmal versucht hat, sich vor Ort in dem ganzen Förderwirrwarr der verschiedenen Programme zurechtzufinden. Da die Programme und Förderrichtlinien ständig verändert werden, kommt es dazu, dass in einer Klasse auf vier bis fünf verschiedenen Wegen geförderte Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Rechten, Bezügen und Perspektiven nebeneinander sitzen. Es kann also weder von Gleichwertigkeit dieser Ausbildungen untereinander und erst recht nicht im Vergleich zur betrieblichen Ausbildung die Rede sein - ganz zu schweigen von etwaiger Chancengleichheit nach abgeschlossener Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt. Vom Arbeitsamt finanzierte Schmalspurausbildungen und ABM-Projekte zur Pflege von Grünanlagen sind, so wichtig sie sind, mit Sicherheit keine Antwort auf die Herausforderungen an die Bildung für das 21. Jahrhundert, wie sie jetzt von den großen Parteien in Grundsatzpapieren neu entdeckt werden. Ein Gutachten, das kürzlich in Sachsen zur Situation und Perspektiven der beruflichen Erstausbildung erstellt wurde, kommt zu der Schlussfolgerung, dass die bildungspolitischen Antworten auf die Dienstleistungsund Wissensgesellschaft außerhalb des Fachhochschulund Hochschulbereichs noch nicht gefunden sind, und warnt vor der Auffassung, dass irgendeine Berufsausbildung besser sei als keine. Die GEW fordert, dass die staatlichen Milliarden besser für systematisch aufeinander abgestimmte Ausbildungsangebote eingesetzt werden müssen, und fordert die Politiker auf, ihre Steuerungsfunktion stärker wahrzunehmen. Das ist alles richtig und unterstützenswert. Es bleibt nur die Frage: Warum müssen es staatliche Milliarden sein? Auch in der Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft gibt es große Bereiche, die von gut ausgebildeten Menschen profitieren und die sich durchaus an den Ausbildungskosten beteiligen können. Damit wären wir wieder bei der Verantwortung der Politik, zum Beispiel für die Einführung einer gesetzlichen Umlagefinanzierung. Vielleicht kommen wir ja doch in diesem Haus noch einmal ernsthaft auf dieses Thema zurück. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Willi Brase, SPD-Fraktion.

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Schaffung und Sicherung von ausreichend qualiMaritta Böttcher fizierenden Ausbildungsplätzen ist Maßgabe und erste Priorität für die rot-grüne Regierung in der Bundesrepublik. Dabei müssen wir natürlich bedenken und berücksichtigen, dass sich die Situation in den Regionen und Ländern sehr unterschiedlich darstellt. Es ist eben schon angesprochen worden: Die Zahl der Bewerber von Sachsen bis zum Saarland auf je 100 bei den Arbeitsämtern gemeldete Ausbildungsstellen ist in höchstem Maße differenziert zu betrachten. Sind es im Saarland nur 99, so sind es in Sachsen 182. Das bedeutet doch offensichtlich - zumindest belegen das die Zahlen von September 1998 bis Oktober 1999 -, dass wir mit unterschiedlichen Instrumenten an dieses Problem herangehen müssen. Ich will Ihnen ein Zweites sagen, das von entscheidender Bedeutung ist. Schauen Sie sich einmal an, wohin die jungen Leute gehen und was die häufigsten Lehr- und Ausbildungsberufe sind. Wir stellen fest, dass bei den jungen Frauen Bürokauffrau, Arzthelferin, Einzelhandelskauffrau und Zahnarzthelferin die Berufe sind, die sie überwiegend wählen. Man muss natürlich überlegen, ob das in der Zukunft so bleiben kann, ob dort tatsächlich die Perspektive liegt. Bei den jungen Männern sind es die Berufe Kfz-Mechaniker, Elektroinstallateur, Maler, Lackierer und Tischler. Auch da müssen wir überlegen, ob wir diese Orientierung in der Berufsbildungspolitik beibehalten können. Warum sage ich das? Wir haben oft davon gesprochen, dass in den USA ein sehr gutes Wirtschaftswachstum erreicht worden ist. Wenn man sich überlegt, dass der Präsident Anfang der 90er-Jahre eine IT-Offensive ins Leben gerufen und vor allen Dingen den Zugang zum Internet ermöglicht und forciert hat, dann kann ich Ihnen nur sagen: Die Versäumnisse in der Bundesrepublik sind Ihre Versäumnisse aus der letzten Legislaturperiode und nicht die der rot-grünen Regierung! ({0}) - Ob das etwas Neues ist oder nicht, es ist eine Tatsache. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis. ({1}) Im „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ ist beschlossen worden: Jeder, der kann und will, bekommt einen Ausbildungsplatz angeboten. Diese Kernaussage vom Juli 1999 belegt erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik, dass junge Menschen mehr als einen moralischen Anspruch darauf haben, dass die Gesellschaft dafür sorgt, dass sie auch in der Zukunft eine Perspektive bekommen. ({2}) Ich bin ein bisschen stolz darauf, dass wir diesen Ansatz, nämlich alle Beteiligten, von den zuständigen Stellen bis hin zu den Unternehmensverbänden unter Einbeziehung der Gewerkschaften und der Politik, in die Verantwortung einzubinden, in meiner Heimat, im Siegerland und Sauerland, und darüber hinaus in NordrheinWestfalen entwickelt haben. Das ist gut und richtig so und da brauchen wir keinen Vergangenheitsminister, sondern wir schauen nach vorne. ({3}) Die Wirtschaft hat im „Bündnis für Arbeit“ zugesagt, aus demographischen Gründen 6 000 zusätzliche Ausbildungsplätze anzubieten. Darüber hinaus will sie weitere 10 000 Ausbildungsplätze anbieten. Nach den bisher vorliegenden Zahlen müssen wir aber auch hier und heute deutlich feststellen: Diese Zusage konnte von der Wirtschaft bisher nicht in vollem Umfang erfüllt werden. Deshalb war es richtig und notwendig - das haben viele Vorrednerinnen und Vorredner dankenswerterweise bestätigt -, dass das Sofortprogramm zumindest in Teilbereichen Abhilfe geschaffen hat. Das heißt, die Politik hat ein Stück weit, hier mit über 2 Milliarden DM, etwas getan, um die Ausbildungssituation und die Zukunftschancen für junge Leute zu verbessern. Frau Pieper ist leider nicht mehr da. Sie hat darauf hingewiesen, dass die F.D.P. mit ihren Anträgen, die wir heute hier diskutieren, Dinge vorschlägt, die notwendig und wichtig seien. ({4}) Ich möchte nur darauf hinweisen, Herr Niebel: Die Frage der Übernahme ist nach wie vor eine zentrale Frage, weil junge Leute nach der Ausbildung praktische Erfahrung brauchen. Wenn die Tarifpartner, wie in der Metall- und Elektroindustrie, ihre Übernahmetarifverträge für ein Jahr fortschreiben, dann leisten sie einen hervorragenden Dienst, indem sie verhindern, dass die jungen Leute auf der Straße landen. ({5}) Nun zu den regionalen Ausbildungsplatzkonferenzen. Ich lade Sie sehr herzlich ein: Kommen Sie in meine Heimat, wo liebe und nette Leute leben und arbeiten. Ich zeige Ihnen, wie wir diese Fragen seit fünf, sechs Jahren intensiv thematisieren, wie wir die Schwierigkeiten von lernschwachen Jugendlichen einbeziehen, wie wir es schaffen, in kleinen Betrieben, in mittleren Betrieben und in Industriebetrieben gemeinsam immer wieder genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Dafür brauchen wir das, was im Antrag zu regionalen Ausbildungskonferenzen steht, nicht. Das ist „Stand der Technik“. Das ist schon fast Normalität. Bei der Umsetzung des Konsenses beim Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit wird gerade beim Instrument der regionalen Ausbildungsplatzkonferenzen, wo es noch nicht angewandt wurde, der Nachholbedarf sichtbar, und man kommt dort zu verbesserten und veränderten Zahlen. Wir sind sehr gespannt, zu welcher Einschätzung wir im März dieses Jahres kommen werden und was durch die Nachbesserungsaktion an zusätzlichen Ausbildungsplätzen realisiert und mobilisiert werden kann. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will etwas zur Mittelstandspolitik sagen, weil wir seit Jahren hören, unsere Politik sei angeblich so mittelstandsfeindlich. Die F.D.P. fordert immer Mittelstandsfreundlichkeit. Die Unternehmensteuerbelastung in der Bundesrepublik Deutschland lag 1998 bei 56 Prozent, 1999 schon bei 51,8 Prozent, und am 1. Januar 2001 wird sie bei knapp 38 Prozent liegen. Eine bessere unternehmensorientierte Steuerpolitik gibt es nicht. Der Weg, den wir mit unserer großen Unternehmensteuerreform gehen werden, ist genau der richtige. ({6}) Lassen Sie mich noch etwas zur Ökosteuer und zur Mineralölsteuer sagen, weil das auch ein beliebtes Argument ist. ({7}) Nehmen Sie zur Kenntnis, dass der Ölpreis pro Barrel in Dollar in den letzten Monaten massiv angestiegen ist. Nehmen Sie aber auch zur Kenntnis, dass die Stromkunden insgesamt vom liberalisierten Strommarkt profitiert haben und dass dabei, so schreibt es die „Süddeutsche Zeitung“, die Frage der Ökosteuer überhaupt keine Rolle gespielt hat und auch nicht ins Gewicht gefallen ist. ({8}) Wir haben immer wieder gesagt, ob Sie es hören wollen oder nicht: Wir müssen die Arbeitskosten entlasten und müssen alle Teile dieser Gesellschaft an der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme beteiligen. Das haben wir getan und wir werden diesen Weg konsequent fortsetzen. ({9}) Meine Damen und Herren, ich will auf einige Punkte eingehen, die nach meiner Auffassung sehr wichtig sind. Frau Bundesministerin Bulmahn hat das auch sehr deutlich dargestellt. Wir brauchen Aktivitäten für lernschwache Jugendliche. Die inhaltliche und organisatorische Verknüpfung von berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen und anschließender Berufsausbildung ist wichtig, damit wir unproduktive Warteschleifensituationen vermeiden. Sie alle wissen, dass die jungen Menschen, wenn sie nur in Warteschleifen verwahrt werden, Zukunftsperspektiven verlieren und auch den Glauben verlieren, dass wir richtig in ihrem Sinne handeln. ({10}) Deshalb ist es richtig, was Frau Bulmahn gesagt hat, dass die erworbenen ausbildungsrelevanten Qualifikationen in den vorbereitenden Maßnahmen bescheinigt werden sollen und dass sie möglicherweise auch zu einer Verkürzung der anschließenden Berufsausbildung führen können. Wir sollten über diesen Punkt intensiv und sachlich nachdenken. ({11}) - Das ist wunderschön. Ein weiterer Punkt ist: Wir müssen uns Gedanken machen über die Qualifizierung und Weiterqualifizierung junger Erwachsener, die eben nicht die Chance hatten, in Erstausbildung zu kommen. Auch dort hat schauen Sie sich das genau an - das Bündnis für Arbeit entscheidende Punkte aufgeführt. Die strukturelle Weiterentwicklung ist angesprochen worden. Wir plädieren für eine Beibehaltung des Berufskonzepts. Das hat sich in der Vergangenheit bewährt und wird sich auch in der Zukunft bewähren. Wir wenden uns dagegen, dass über Modularisierung auf schleichendem Wege alte Stufenausbildungsgänge wieder eingeführt werden. Sie helfen den jungen Leuten in der Tat nicht weiter. ({12}) - Doch, diese Diskussion findet durchaus im Handwerk und auch im Bereich von mittelständischen Unternehmen statt. Wir haben sie aufgenommen. Ich will ganz deutlich sagen, worum es geht, Frau Aigner. Es geht darum, dass wir nicht zulassen, dass über Modulausbildung oder Satellitenausbildung, wie es der DIHT vorgeschlagen hat, möglicherweise die Stufenausbildung wieder eingeführt wird. Dagegen wehren wir uns.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Brase, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Aigner?

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Ilse Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich wollte vorhin die Ministerin nicht unterbrechen, aber dieser Punkt hätte mich schon da interessiert. Sie hat gesagt, sie bräuchte für praktisch begabte Jugendliche theoriegeminderte Berufe, wenn ich sie richtig verstanden habe. Sie haben das jetzt wieder anders dargestellt. Ich weiß nicht genau, was Sie eigentlich wollen. Wie wollen Sie Jugendlichen, die mehr praktisch orientiert sind, helfen, einen Beruf zu finden? Gehen Sie eventuell den Weg, auch theoriegeminderte Berufe anzubieten, vielleicht auch in einer Modulausbildung, oder wie wollen Sie es konkret machen?

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Aigner, ich kann Ihnen das sehr genau sagen. ({0}) - Das können Sie auch sein, Herr Lensing. Das mache ich doch gern. Junge Leute, die als lernschwach definiert werden, die möglicherweise Schwierigkeiten mit der Theorie haWilli Brase ben, kommen aus unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Wir haben gesagt: Es kann nicht sein, dass wir diesen jungen Leuten nur eine Kurzausbildung oder Kurzqualifikation oder eine zweijährige Ausbildung anbieten, obwohl der Anteil der einfachen Arbeitsplätze in dieser Republik ständig abnimmt. Wir erwarten und müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Anteil der einfach ausgerichteten Arbeitsplätze in den nächsten zehn Jahren noch einmal dramatisch sinken wird. Wenn junge Leute mit der Theorie mehr Probleme haben als andere - also lernschwach sind -, dann ist es doch pädagogisch sinnvoll, ihnen mehr Zeit zum Lernen einzuräumen und einen vernünftigen Ausbildungsplatz anzubieten. Ich halte es für falsch, zu sagen, junge Leute, die lernschwach sind, sollen Teilqualifizierungen machen. Diese werden nicht in vollem Umfang auf eine drei- oder dreieinhalbjährige Ausbildung angerechnet. Anschließend müssen sie sich weiter qualifizieren, um irgendwann die Chance zu erhalten, einen vernünftigen Arbeitsplatz zu ergreifen. ({1}) Ich glaube, dass man hier differenzierter herangehen muss. Ich kann Ihnen aus meiner Praxis sagen, dass wir versucht haben, über die vernünftige Verzahnung von Berufungsvorbereitung und Berufsbegleitung bei den drei- und dreieinhalbjährigen vollqualifizierenden Ausbildungen weiterzukommen, und zwar an den Branchen, die es in unserer Region gibt, orientiert. Dort hat es sehr gute Übernahmequoten, die zwischen 70 und 80 Prozent lagen, gegeben. Ich will noch etwas zur Modularisierung sagen. Wir wollen kein Satellitenausbildungsprogramm nach Modulen machen, bei dem man nach anderthalb oder zwei Jahren eine Qualifizierung machen kann und ausscheidet, wenn man nicht weitermacht. Dann hat man nach unserer Auffassung nur eine teilqualifizierte Ausbildung. Wir sind der Auffassung, dass eine vollständig qualifizierte Ausbildung, für die man eine gewisse Zeit braucht, notwendig ist. Diese wollen wir umsetzen, und dafür gibt das Bündnispapier einiges her. ({2}) Das sehe ich nicht im Widerspruch zu dem, was Frau Bulmahn dargestellt hat. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. ({3}) - Sie können gern klatschen. Fazit: Das Wirtschaftswachstum wird optimistisch eingeschätzt. Mittlerweile wirft man unserem Bundesfinanzminister vor, er würde das Wachstum mit 2,5 Prozent zu niedrig ansetzen. Die Rahmenbedingungen sind von der Koalition und der Bundesregierung Zug um Zug verbessert worden. Die Wirtschaft muss ihr Ausbildungsplatzangebot in den nächsten Monaten deutlich verbessern. Die jungen Leute müssen wegkommen von den Schwerpunktausbildungsberufen, die ich eingangs geschildert habe. Es muss mehr in die Breite gehen, und es muss vor allen Dingen in die neuen Bereiche Dienstleistungen, IT-Branche, Logistik, Verkehr und andere gehen. Das halten wir für richtig. Der letzte entscheidende Punkt ist: Die Kooperation in den Regionen ist zu verbessern. Ausbildungskonferenzen sind ein Beispiel dafür. Die Nachvermittlungsaktionen zeigen, dass wir hier vorankommen. Nehmen Sie eines zur Kenntnis: Das Problem der Berufsschulstunden regelt man am besten vor Ort, weil dort die Fachfrauen und Fachmänner sitzen. Wir stimmen den F.D.P.-Anträgen nicht zu. ({4}) Wir schlagen vor, den Berufsbildungsbericht zur Kenntnis zu nehmen. Danke schön. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Jork, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. - Ing. Rainer Jork (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In meinem Diskussionsbeitrag zum Berufsbildungsbericht möchte ich mich auf zwei Schwerpunkte konzentrieren, denn das scheint mir erforderlich. Erstens beschäftigt mich vor allem die Situation in den neuen Bundesländern. Nicht umsonst steht schon auf Seite 1 des Berufsbildungsberichts Folgendes: Allerdings stand einem deutlichen Zuwachs - an Ausbildungsplätzen in den alten Ländern ein Rückgang in den neuen Ländern gegenüber. Frau Ministerin Bulmahn, es nützt nichts, wenn man Durchschnittsangaben macht und mit Statistik Kosmetik betreibt. Es nützt auch nichts, wenn wir nur vom Abbau von Kopfprämien sprechen. Hier geht es wirklich um die jungen Menschen, die sich in den neuen Bundesländern in einer speziellen Situation befinden. Zweitens möchte ich auf die notwendige Modernisierung eingehen, schließlich geht es um zukunftsfähige Verbesserungen der beruflichen Bildung. Daraus ergeben sich für mich dann einige Forderungen: Ich komme zunächst zu der Situation in den neuen Bundesländern. Mir liegt ein Bericht der Industrie- und Handelskammer in Dresden vor. Darin gibt es vier weWilli Brase sentliche Kernaussagen, die ich auszugsweise zitieren möchte: Erstens. In Sachsen wie auch in den anderen neuen Bundesländern ist für den Zeitraum von 1994 - 1998 für die duale Berufsausbildung ein Rückgang von 81,5 % auf 78 % festzustellen ... Zweitens. Bei Befragungen von circa 2 000 nicht ausbildenden Unternehmen liegen die Gründe dafür zumeist in der wirtschaftlichen Situation. ({0}) Drittens. Allein mit der Konzentration der Mittel zur Schadensreparatur - wie im Jugendsofortprogramm kann der Entwicklung nicht Rechnung getragen werden. Viertens. Bei vielen Unternehmen stehen unmittelbare Überlebensfragen und keine längerfristigen Strategieüberlegungen im Vordergrund. Daraus ergibt sich meines Erachtens die erste Forderung an die Bundesregierung: Machen Sie eine mittelstandsfreundliche Steuer- und Finanzpolitik! ({1}) Das ist eine wesentliche Voraussetzung für die duale Berufsbildung. In der Auswertung des Sofortprogramms ist in der Zeitschrift „Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis“ - und zwar in Heft 6/99 - zu lesen: In den neuen Ländern haben fast drei Viertel der Teilnehmer an Trainingsprogrammen eine außerbetriebliche Ausbildung aufgenommen. Sie wissen, was das bedeutet. - Weiter heißt es: Tendenziell weisen Teilnehmer in den neuen Ländern ein höheres Bildungsniveau auf. ({2}) Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen: „ein höheres Bildungsniveau“. Hier sind Ressourcen vorhanden. Diese sind nicht mit dem Durchschnitt in Deutschland gleichzusetzen. Unter den Schlussfolgerungen, die teilweise sehr euphorisch sind - das bezieht sich natürlich auf die Durchschnittsangaben -, steht: Die Integration in eine betriebliche Ausbildung war schwierig ... Weiter heißt es: Allerdings wird der Wechsel der Jugendlichen nach dem ersten Ausbildungsjahr auf einen betrieblichen Ausbildungsplatz voraussichtlich nur wenigen möglich sein. Vor allem in den neuen Bundesländern herrscht ein hohes Maß an betrieblichem Ausbildungsplatzmangel, auch für Jugendliche mit guten Schulabschlüssen. Lassen Sie mich etwas zu dem Sofortprogramm in Höhe von 2 Milliarden DM sagen. ({3}) Wir sind uns darin einig, dass es insgesamt eine positive Resonanz gibt. Es ist etwas getan worden. Aber die Jugendarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern ist mit 15,7 Prozent - daran gibt es nichts zu schönen - besonders hoch. Natürlich ist die Arbeitslosenquote wegen der Herausnahme arbeitsloser und schwer erreichbarer Jugendlicher kurzfristig zurückgegangen. Kurzfristige Effekte durch Praktika und Qualifikations-ABM sind aber schnell verpufft. Das Programm erzeugt kaum Dauereffekte. Ich muss es klar sagen: Es ist ein teures Reparaturprogramm. Das eigentliche Ziel „stabile Ausbildungsplätze durch Aus- und Fortbildung“ wurde nicht erreicht. ({4}) Ich sage es noch einmal deutlich: Dies ist ein teures Strohfeuer. Probleme werden dadurch nicht gelöst. ({5}) Ich komme zur zweiten Forderung an die Bundesregierung: Sagen Sie ehrlich, was an diesem Programm erfolgreich war und was nicht, und täuschen Sie keinen Durchbruch vor! ({6}) Nahezu 80 % aller betrieblichen Ausbildungsplätze werden von kleineren und mittleren Unternehmen bereitgestellt. ({7}) So steht es in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht 2000. Die Lehrstellenlücke in den neuen Bundesländern ist zuallererst der äußerst schwierigen, komplizierten Situation in Handwerk, Handel, Gewerbe und Industrie geschuldet. ({8}) Damit komme ich zu meiner dritten Forderung: Machen Sie endlich wahr, was erst gestern Ihre Justizministerin beim Bundesverband mittelständische Wirtschaft hier in Berlin versprach! Bringen Sie ein brauchbares Gesetz zur Verbesserung der Zahlungsbedingungen auf den Weg! Darauf warten wir schon lange. Ich betone aber: Es muss brauchbar sein. ({9}) - Da Sie so lachen, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass Sachsen ein sehr brauchbares Konzept vorgelegt hat. Sie können es sich ansehen. ({10}) - Sind Sie für die Zukunft oder für die Vergangenheit? Denken Sie einmal darüber nach! Ich komme zur vierten Forderung. Berücksichtigen Sie in angemessenem Umfang die ostdeutsche Infrastrukturförderung. ({11}) Das hängt erheblich mit Arbeitsplätzen und Lehrstellen zusammen. Eigentlich wollte ich mich mit dem Folgenden an Herrn Staatsminister Schwanitz wenden. Wo ist er denn eigentlich? Wir sprechen ja jetzt über ein Problem, das insbesondere die neuen Bundesländer betrifft. ({12}) - Ich kann Herrn Schwanitz eigentlich nur meine fünfte Forderung offenbaren, Herr Schmidt. Sehen Sie sich die Situation dort an; sehen Sie nicht zu und weg. Nehmen Sie die bestehende Situation ernst, beantworten Sie die Frage, was Chefsache ist und Priorität hat. Schicken Sie die Lehrstellenbewerber nicht in die bekannte BAföGFalle, gekennzeichnet durch Ankündigen, Verzögern und Zurücknehmen. ({13}) Übrigens: Auch im Beschluss der Arbeitsgruppe Ausund Weiterbildung des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit vom 22. Oktober 1999 kamen die speziellen Bedingungen in den neuen Bundesländern praktisch nicht vor. Wo war denn da Herr Schwanitz? ({14}) Ich frage mich, wozu wir diesen Minister haben. Ich bin enttäuscht, möglicherweise sind es auch andere. ({15}) - Lenken Sie nicht ab. ({16}) Denken Sie einmal daran, wofür Sie Ihre Leute haben. ({17}) Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt, zur Modernisierung der Berufsbildung. Es hat keinen Sinn, zu fragen, ob Ausbildung im Betrieb und in unternehmerischer Verantwortung Zukunft hat, sondern allenfalls, wie wir diese Ausbildung in Zukunft gestalten. Da gilt es auch unangenehme Themen anzugehen, Herr Brase. ({18}) Ich hörte das gut heraus. Ausbildungsweg- und zuständigkeitsübergreifende Maßnahmen sind gefragt. Übrigens sehe ich in dem Beschluss des Bündnisses durchaus eine Annäherung an die Fragen unter Punkt 2, wo Wahlpflichtbausteine und Zusatzqualifikationen angeführt werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Jork, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Rachel? ({0})

Dr. - Ing. Rainer Jork (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Jork, Sie haben die Modernisierung der Berufsausbildung angesprochen. Ich möchte Sie deshalb gerne Folgendes fragen: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Berufsausbildungspolitik und der Wirtschaftspolitik in verschiedenen Bundesländern und den konkreten Auswirkungen in Bezug auf die Arbeitslosigkeit? ({0}) Gibt es also einen Zusammenhang zwischen den Realitäten und der Berufsausbildungspolitik der verschiedenen Bundesländer?

Dr. - Ing. Rainer Jork (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Rachel, ich danke für die Frage. ({0}) Ich bin mir sicher, dass sich einige Kollegen von der SPD deshalb darüber freuen, weil sie gestern bei dem bereits zitierten Treffen des Bundesverbandes der mittelständischen Wirtschaft einige Fragen und Aufgaben ins Stammbuch geschrieben bekamen und jetzt die Gelegenheit besteht, eine Wiederholungsstunde zu nehmen. Es ging dort unter anderem um den Holzmann-Effekt und die Frage, welche Möglichkeiten die mittelständische Wirtschaft sieht, die Lehrstellensituation zu verbessern. Der Zusammenhang ist völlig unstrittig. Dazu ist auch ein Heft verteilt worden. Einige der Kollegen haben es eingesteckt. Ich denke, Sie können da nachlesen. Es ist - deshalb versuche ich in meiner Rede darauf einzugehen - unverzichtbar, dass dann, wenn wir die duale Berufsausbildung mit dem wesentlichen Teil betriebliche Ausbildung wollen, die Wirtschaft auch dazu in die Lage versetzt wird. Das gilt für Deutschland insgesamt, das gilt aber ganz besonders angesichts der kritischen Situation in den neuen Bundesländern eben auch dort. Ich hoffe, dass die von mir zuerst genannten Forderungen, die ja in diese Richtung zielen, auch ankommen, also nicht nur zum Schmunzeln anregen, sondern vielDr.-Ing. Rainer Jork leicht auch im Nachgang von Herrn Schwanitz gelesen werden, sofern er da überhaupt einen Durchgriff hat. ({1}) Ich komme noch einmal zu dem Punkt, den Herr Brase gegenüber der Ministerin bereits ansprach. Sie haben aus dem Begriff Modul eine Art Schlagwort im Sinne des Zuschlagens gemacht. Ich erinnere an eine frühere Rede im Bundestag, in der ich versucht habe, das zu definieren. Denken Sie bitte einmal daran, dass in Ihren Leitlinien, in allen Stellungnahmen und Ausarbeitungen die Begriffe Wahlpflichtbaustein, Zusatzqualifikation ich denke an den Bericht eben -, Kernqualifikation, Satellitenmodell, Flexibilisierung, aber auch Modularisierung und Ergänzungsmodule vorkommen. Ich glaube, wir sollten uns etwas mehr damit beschäftigen, was wir eigentlich wollen und was hinter diesen Begriffen steckt, ({2}) dies aber nicht ideologisch missbrauchen. Sinn der Leitlinien und Begriffe ist es doch, die duale Berufsbildung flexibler und moderner zu gestalten und Chancengerechtigkeit für die Bewerber zu erreichen. Die Beruflichkeit der dualen Berufsbildung darf nicht infrage gestellt werden. Wir wollen keine Schmalspurfacharbeiter. Ich bin auch gegen diesen schlimmen Begriff „kleiner Gesellenbrief“. Wollen wir etwa auch „kleine Juristen“, „kleine Ärzte“ oder „kleine Ingenieure“? Dieser Begriff ist eine Beleidigung für die Facharbeiter. Im Berufsbildungsbericht, in dem auch die Ergebnisse des „Bündnisses für Arbeit“ zusammengefasst sind, steht auch: Der Anteil an Arbeitsplätzen mit eher einfachen Tätigkeitsprofilen nimmt weiter deutlich ... ab. Für Geringqualifizierte werden die Beschäftigungschancen weiter zurückgehen. Die Bündnispartner haben ... gebeten, Empfehlungen für die Bescheinigung der in einer Berufsvorbereitung, in einer nicht beendeten Ausbildung oder in berufsbegleitender Nachqualifizierung erworbenen Qualifikationen zu erarbeiten. Diese Empfehlungen sollten Grundlage für die Bescheinigung ausbildungsbezogener Qualifizierungsbausteine sein. Herr Brase, das ist genau das, was ich unter einem Modul verstehe. Das haben Sie im „Bündnis für Arbeit“ und mit dem Beschluss abgesegnet. Sie sollten sich die eigenen Unterlagen einmal anschauen. Noch eine Bemerkung zur Gerechtigkeit und zur Fairness bezüglich so genannter Doppelqualifikationen - das beziehe ich ausdrücklich auf die Situation in den neuen Bundesländern -: Wenn heute etwa zwei Drittel aller Schulabgänger eine Lehrstelle nachfragen und wenn davon die Hälfte letztlich doch ein Studium aufnimmt, dann drängen sich zum Beispiel folgende Fragen auf: Haben denn Real- und Mittelschüler, die einen Facharbeiterberuf anstreben, in der Berufsausbildung faire Chancen im Vergleich zu Abiturienten? Ist es wirklich die Aufgabe der Wirtschaft, all jenen eine Lehre zu finanzieren, die später ein Studium aufnehmen und dann im öffentlichen Dienst arbeiten? Kann das Studium vielerorts nicht so gestaltet werden, dass dank eines hohen Praxisanteils eine vorherige Lehre überflüssig wird? ({3}) War nicht das Modell „Berufsausbildung mit Abitur“ für jene recht sinnvoll, die ihren Wunschberuf bereits mit einiger Sicherheit benennen konnten? ({4}) Ich bin der Meinung, über manche dieser Fragen sollte man nachdenken. Ich schaue auf die Uhr und möchte zum Ende meiner Rede kommen. ({5}) - Ich hoffe, dass Sie nicht nur die Stelle, an der Sie gerade Beifall geklatscht haben, mitbekommen haben, sondern auch inhaltlich etwas verstanden haben. Ich freue mich auf die zukünftigen Diskussionen. ({6}) Ich fasse zusammen: Die anerkannt schwierige Situation in der Wirtschaft und im Bereich der Lehrstellen bedarf der Konzentration der Kräfte und bedarf der Schwerpunktsetzung durch entsprechende Maßnahmen. Das 2-Milliarden-Programm muss sich mehr an der Nachhaltigkeit orientieren und muss deutlich verbessert werden. Strohfeuer genügen nicht, wenn man zukunftsfähig sein will. Es kommt heute darauf an - das betrifft uns alle; ich denke an die Parteiprogramme, die auf Parteitagen zur Diskussion stehen -, Bildungswege und -abläufe so zu gestalten, dass unsere Kinder und Enkel im Jahr 2020 für ihren Eintritt in das Berufsleben gerüstet sind. ({7}) Ich danke. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zum Berufsbildungsbericht 1999 der Bundesregierung. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, den Berufsbildungsbericht 1999 auf Drucksache 14/1056 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? ({0}) - Es ist schwierig, das Abstimmungsergebnis festzustellen. Die CDU/CSU-Fraktion scheint irgendwie meinungslos zu sein. ({1}) - Aber Sie haben keinerlei Reaktion gezeigt. - ({2}) Im Unterschied zu Herrn Ramsauer wird mir von anderen zugerufen, dass sie zustimmen. ({3}) Sie haben leider keinen Arm gehoben. ({4}) Damit ist dieser Teil der Beschlussempfehlung angenommen. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/1934 ({5}) die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung von PDS und Gegenstimmen der CDU/CSU sowie der F.D.P. angenommen. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/1934 ({6}), den Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. zum Be- rufsbildungsbericht 1999 auf Drucksache 14/1225 abzu- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Diese Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bünd- nis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem An- trag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „9-Punkte- Konzept zur Schaffung von zusätzlichen Ausbildungs- plätzen“, Drucksache 14/1294. Der Ausschuss emp- fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/335 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen- probe! - Stimmenthaltungen? - Mit dem gleichen Stimmverhalten wie zuvor ist diese Beschlussempfeh- lung angenommen. Damit kommen wir zu Tagesordnungspunkt 11 sowie zu Zusatzpunkt 11: 11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria Eichhorn, Klaus Holetschek, Wolfgang Dehnel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU) Endbericht der Enquete-Kommission „So genannte Sekten und Psychogruppen“ - Drucksache 14/2361 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({7}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 11 Beratung des Antrags der Fraktion SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fortführung der Beratungen zum Endbericht der Enquete-Kommission „So genannte Sekten und Psychogruppen“ - Drucksache 14/2568 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({8}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Klaus Holetschek, CDU/CSU-Fraktion.

Klaus Holetschek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003153, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute Morgen über ein Thema, um das es in den letzten eineinhalb Jahren relativ ruhig geworden ist, zumindest was die parlamentarische Beratung angeht. Wir debattieren über das Schicksal des Abschlussberichtes der Enquete-Kommission vom Mai 1998. Der Deutsche Bundestag hatte bekanntlich aufgrund zahlreicher Petitionen im Mai 1996 beschlossen, eine Enquete-Kommission ins Leben zu rufen, weil er den Anliegen nicht Rechnung tragen konnte. Dieser Bericht wurde im Frühsommer 1998 vorgelegt. Man kann zu Berichten von Enquete-Kommissionen stehen wie man will - man kann Kritik üben, man kann zustimmen -: Es ist ein sehr umfassender Bericht, der deutlich gemacht hat, dass sich alle, die dieser Kommission angehörten, des Themas sehr ernsthaft und auch wissenschaftlich untermauert angenommen haben. ({0}) - Sehr gerne, Frau Rennebach. Das kann ich Ihnen bestätigen. Aber nachher komme ich zu einem Punkt, bei dem ich etwas über die Behandlung durch SPD und Grüne traurig bin. ({1}) Präsident Wolfgang Thierse Es gibt eine Fülle von Handlungsempfehlungen, die dieser Bericht enthält. Ich wünsche mir, dass wir diese Handlungsempfehlungen jetzt umsetzen. Gerade in der letzten Woche hatten wir im Petitionsausschuss wieder eine Petition, die sich damit beschäftigt, wann diese Handlungsempfehlungen endlich umgesetzt werden. Es kommen zahlreiche Anfragen, in denen festgestellt wird: Na gut, jetzt liegt dieser Bericht der Enquete-Kommission vor; sperren wir ihn jetzt im Aktenschrank ein oder ziehen wir die notwendigen Schlüsse aus diesem Bericht der Enquete-Kommission? - Das wäre die Aufgabe der rot-grünen Bundesregierung! Wir wollen mit unserem Antrag das Thema auf die politische Agenda zurückholen. Wir wollen, dass sich das Parlament mit dem Thema wieder auseinander setzt und dass nach Absichtserklärungen endlich Taten folgen. Ich will im Einzelnen nicht auf die Problematik des Berichts der Enquete-Kommission eingehen. Er bewegt sich in einem Spannungsfeld, das aus der Abwägung verschiedener Grundrechte besteht. Letztlich hat dieser Bericht festgestellt, dass der Staat durchaus Fürsorgepflichten in diesem Bereich hat. Ich denke besonders an die Schwächsten in unserer Gesellschaft. Ich habe vor kurzem gehört, dass 100 000 bis 200 000 Kinder - Personen unter 18 Jahren - in so genannten Sekten und Psychogruppen aufwachsen. Diese Kinder können sich dagegen natürlich kaum wehren. Gerade für diese Schwächsten in unserer Gesellschaft aber natürlich auch für andere - müssen wir etwas tun und ein Zeichen setzen. ({2}) Was tut die rot-grüne Bundesregierung? Bis jetzt haben Sie auf diesem Feld nicht viel getan. Sie haben eine Kleine Anfrage der PDS zu diesem Thema beantwortet - meiner Meinung nach nicht sehr aussagekräftig. ({3}) Es muss eine Prüfung stattfinden. Es bleibt abzuwarten, welche Fragen noch zu klären sind. Vor drei Tagen habe ich Ihren Antrag bekommen. Wenn wir erreicht haben, dass Sie jetzt initiativ werden, meine Damen und Herren, dann freut mich das. Ich bin Jurist, ich lese die Anträge zweimal. Ich habe diesen Antrag dreimal gelesen; denn ich habe ihn nicht verstanden. Ich lese ihn Ihnen jetzt vor; vielleicht verstehen Sie ihn. Im Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen heißt es: Der Bundestag wolle beschließen: 1. Der 13. Deutsche Bundestag hat am 9. Mai 1996 die Einsetzung der Enquete-Kommission „Sog. Sekten und Psychogruppen“ beschlossen. Das ist der erste Satz, den der Bundestag jetzt beschließen soll. ({4}) Der 242. Sitzung des 13. Deutschen Bundestages vom 19. Juni 1998 wurde der Abschlussbericht vorgelegt und beraten. ({5}) Das ist Punkt 1 Ihres Antrages, unter dem Obertitel „Der Bundestag wolle beschließen“. ({6}) Ich habe schon viel erlebt, zum Beispiel bei der Gesundheitsreform, bis hin zu der „maoistischen Krankenhausfinanzierung“. Aber das finde ich wirklich gut. Das ist ein Schlag ins Gesicht all derer, die sich ernsthaft mit der Thematik auseinander setzen. Ich weiß nicht, wer den Antrag geschrieben hat. Aber ich bin ({7}) wirklich fassungslos. - Ja, das ist richtig. Der Antrag ist nur eine Viertelseite lang. Vielleicht haben Sie diesen Punkt auch bloß eingefügt, damit die Seite ein bisschen voller aussieht; ich weiß es nicht. Punkt 2 lässt sich mit den Worten umschreiben, die der Präsident eines bayerischen Fußballvereins oft gebraucht: „Schau’mer mal!“ - Etwas anderes steht nicht drin. Es steht drin, dass wieder einmal geprüft und erörtert werden muss. Meine Damen und Herren, diesen Antrag hätten Sie sich sparen können. ({8}) - Nein, ich hänge nicht zu lange an den Überschriften, Frau Rennebach. Angesichts dessen, was Sie dem Hohen Hause als Antrag auf den Tisch gelegt haben, müssen Sie sich gefallen lassen, dass ich pointiert herausstelle, mit was wir uns hier befassen müssen. ({9}) Ich habe vorhin ausdrücklich erwähnt, Frau Kollegin Rennebach, dass, wie ich überall gehört habe - ich war leider nicht in der Enquete-Kommission -, Ihr Einsatz für das Thema vorbildlich war. Umso mehr tut es mir Leid, dass Sie heute einen solchen Antrag vorlegen müssen. ({10}) Die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission haben verschiedene Bereiche angestoßen. Sie haben zum Beispiel aufgezeigt, dass es erhebliche Forschungsdefizite gibt - Forschungsdefizite, die daraus entstanden sind, dass sich die Enquete-Kommission nicht mit einem Schwarz-Weiß-Buch beschäftigt hat, sondern einzelne Konfliktfelder aufgezeigt hat, die es weiter zu erforschen gilt. Ich meine, wir sollten die Forschungsförderung hierfür konzentriert verbessern. Sie sprechen in der Antwort auf die Anfrage der PDS von einem Modellprojekt, von der Weiterqualifizierung bestimmter Mitarbeiter in den Beratungsstellen. Auch das ist alles sehr vage. Auch dazu müssen Sie uns einmal Auskunft geben und die Fakten auf den Tisch legen. ({11}) Dasselbe gilt für den Themenbereich „Information und Beratung“. Es gibt hier einen Bedarf. Das Thema ist nach wie vor virulent. Wir müssen etwas tun. Wir dürfen das Thema nicht von der Tagesordnung absetzen, dürfen den Bericht der Enquete-Kommission nicht in die Schublade legen. Wir müssen den Handlungsempfehlungen nachkommen. ({12}) Ich will auf einen Punkt eingehen, der mir besonders wichtig erscheint. Wir haben einen boomenden Psychomarkt; das ist uns allen bekannt. Der Esoterikbereich macht 18 Milliarden DM Umsatz im Jahr. Persönlichkeitstrainings schießen wie Pilze aus dem Boden. Wir haben hier schon ein Problem: Es gibt seriöse Anbieter, aber es gibt auch sehr viele unseriöse Anbieter, die mit unterschiedlichsten Verfahren, mit einer Mischung aus therapeutischen Anleitungen und laientherapeutischen Ansätzen auf die Leute zugehen. Diese Mischung macht es für die Verbraucher kaum noch sichtbar: Wer steht dahinter? Wer bietet mir diese Leistung an? Ist er qualifiziert? Was für Kosten und was für ein Nutzen entstehen? Es gab 1997 einen Bundesratsentwurf für ein Gesetz zur gewerblichen Lebensbewältigungshilfe. ({13}) - Das mag sein. Ich will das nicht abstreiten. Umso schlimmer ist es, mit was für einem Antrag wir uns heute beschäftigen müssen. Ich kann es nur noch einmal sagen. Aus der Kiste kommen Sie nicht mehr heraus, Frau Rennebach; er liegt vor. ({14}) Dieses Gesetz sollte ein Verbraucherschutzgesetz sein. Es sollte dazu führen, dass den Personen, die sich in Konfliktsituationen befinden und schnell irgendwo Hilfe finden wollen, Rahmenbedingungen an die Hand gegeben werden, um abschätzen zu können, was seriös und was unseriös ist. Es sollten rechtliche Regelungen für einen schnelleren Ausstieg geschaffen werden. Ich gebe zu, der Gesetzentwurf muss in einzelnen Punkten rechtlich vielleicht noch weiterentwickelt werden. Aber es war ein Verbraucherschutzgesetz im besten Sinne gegen Scharlatane auf dem Psychomarkt. ({15}) - Frau Rennebach, Sie wissen doch, dass wir den Gesetzentwurf nicht abgelehnt haben, ({16}) sondern dass er überprüft worden ist. Er müsste jetzt in den Bundestag neu eingebracht werden. Damit möchte ich - um es auf den Punkt zu bringen sagen: Es ist ein Verbraucherschutzgesetz vorgelegt worden, das Transparenz bringen und das gerade ein Vorgehen gegen unseriöse Anbieter in diesem Bereich ermöglichen sollte. Diesen Schritt sollten wir weiterverfolgen. Wir müssen dem Verbraucher in dieser Richtung etwas an die Hand geben. Wir haben am Montag dieser Woche im Rahmen der Hanns-Seidel-Stiftung in München ein Expertengespräch durchgeführt, anlässlich dessen wir uns mit dem Thema beschäftigt haben, was glaubhafte Lebensbewältigungshilfe ist. Da kamen zum Beispiel Vorschläge dahin gehend, dass von Sachverständigen aus dem Pädagogik- und Psychologiebereich Positivkriterien entwickelt werden sollen, die Eingang in ethische Leitlinien finden sollen, und dass Anbieter von gewerblichen Lebensbewältigungshilfen an eine öffentlich kontrollierbare Organisation, wie beispielsweise die jetzt vermehrt entstehenden Psychotherapeutenkammern, gebunden werden sollen, damit sich der Verbraucher beschweren kann bzw. eine entsprechende Anlaufstelle hat. All das müssen wir weiterverfolgen. Deswegen bitte ich Sie, dieses Thema wieder ernsthaft auf die Agenda zu setzen. Ich möchte in diesem Zusammenhang die SPDKollegin Schröter aus der Debatte vom 19. Juni 1998 zitieren: Meine dringende Bitte und Aufforderung an den nächsten Bundestag ist es, die Gesetzesinitiative unmittelbar wieder aufzugreifen und das Gesetz zur gewerblichen Lebensbewältigungshilfe schnellstmöglich zu verabschieden. Ich gehe davon aus, dass Sie auch heute zu diesem Wort stehen und einen entsprechenden Gesetzentwurf noch einbringen werden. Die Grünen haben natürlich in dem vorliegenden Bericht der Enquete-Kommission - im Wege eines Sondervotums - eine ganz andere Meinung vertreten. Das wundert mich angesichts der weltanschaulichen Gesinnung der Grünen nicht besonders. Ich denke, Sie werden heute noch darauf eingehen. Ich bitte Sie noch einmal, im Sinne der Opfergruppen und der Betroffenen sowie im Sinne der Mitglieder der Enquete-Kommission - Sie kennen die entsprechenden Schreiben an den Präsidenten des Bundestags und an die Fraktionsvorsitzenden, in denen danach gefragt wird, was jetzt passiert - diesen Bericht weiterzubearbeiten. Es wäre ein Schlag ins Gesicht, wenn wir dies nicht tun würden. Wir könnten uns weitere Einsetzungen von Enquete-Kommissionen sparen - wir haben kürzlich neue eingesetzt -, wenn wir aus den Ergebnissen früherer Enquete-Kommissionen keine Schlüsse ziehen. ({17}) Das sind wir dem Bürger bzw. dem Steuerzahler schuldig. Denn die Erstellung dieses Berichtes der EnqueteKommission hat 1,6 Millionen DM verschlungen. Aus diesen Berichten müssen wir Konsequenzen ziehen. Ich bitte Sie: Lassen Sie uns dieses Thema weiterhin sachlich und auch parteiübergreifend behandeln. Herzlichen Dank. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans Peter Bartels, SPD-Fraktion.

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Kollege Holetschek, mit Ihrem Antrag weisen Sie auf ein Politikdefizit hin, das es tatsächlich gibt. Aber dieses Defizit gibt es nicht erst ab dem Zeitpunkt, seitdem die neue Bundesregierung im Amt ist. Dieses Defizit besteht vielmehr, weil in den Jahren vor Amtsantritt der jetzigen Bundesregierung, in den zwar nicht 16, aber zehn Jahren, seitdem über dieses Thema diskutiert wird, der größte Bremser auf diesem Gebiet der Sektenpolitik nicht die sozialdemokratische Fraktion, sondern die christlich-liberale Bundesregierung gewesen ist. ({0}) Ich habe damals als Sektenbeauftragter der schleswig-holsteinischen Landesregierung meine Erfahrungen mit dieser Politik des hinhaltenden Desinteresses gemacht. Die Länder hätten sich zum Beispiel eine offensive, aktive Aufklärungs- und Informationspolitik seitens des Bundes gewünscht. Kapazitäten - auch fachlich hervorragend qualifizierte - sind dafür im Bundesverwaltungsamt vorhanden. Der Bund hat daraus wenig, zu wenig gemacht. Deshalb ist es richtig, darüber nachzudenken, wie man das ändern kann. Das tun wir. Nebenbei bemerkt: Die Bestellung eines Bundesbeauftragten für Sekten - Besoldungsgruppe B 6 - durch die damalige Ministerin Nolte war wirklich ein schlechter Witz. Vielleicht ist es noch nicht einmal jedem bekannt geworden, dass es eine solche Institution für einige Monate gab. Jetzt gibt es sie nicht mehr. Öffentlich ist dieser Bundesbeauftragte meines Wissens niemals in Erscheinung getreten. Desinteresse der alten Regierung bestand auch bei folgendem Thema - Sie haben es angesprochen, wenn auch mit einem anderen Zungenschlag -: Alle Länder hatten sich 1997 auf den Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Verbraucherschutzes auf dem Markt der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe geeinigt. Er wurde einstimmig im Bundesrat beschlossen, und zwar von Schleswig-Holstein und Hamburg bis Sachsen und Bayern. Die alte Bundesregierung aber war skeptisch. Dies ist in der Stellungnahme der Bundesregierung zu diesem Gesetzentwurf nachzulesen. Im Bundestag, wo Sie, wo damals CDU/CSU und F.D.P., die Mehrheit hatten, zog sich die Sache so lange hin, bis die Legislaturperiode abgelaufen und der Gesetzentwurf der Diskontinuität anheim gefallen war. ({1}) Jetzt machen Sie dicke Backen und fordern genau dieses Gesetz. Herzlichen Glückwunsch! ({2}) In der Sache aber sind wir, so glaube ich, nicht so weit auseinander. Das haben sowohl die diversen Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz zum Thema Scientology-Organisation gezeigt als auch der Abschlussbericht der Enquete-Kommission. Wir müssen und werden jetzt überlegen, welche Handlungsempfehlungen wir wie umsetzen können. So steht es in unserem Antrag. Die kabarettreife Verlesung dieses Antrags sei Ihnen gestattet; aber natürlich werden wir gemeinsam darüber beraten und vermutlich auch in dem übereinstimmen, was wir dann tun werden. Im Übrigen glaube ich nicht, dass all das, was Sie in Ihrem Antrag geschrieben haben, in Ihrer eigenen Fraktion mehrheitsfähig wäre. ({3}) - Diskutieren Sie dann einmal mit Ihren Rechtspolitikern die Frage, ob sich juristische Personen - nicht natürliche, sondern juristische Personen; so steht es bei Ihnen - strafbar machen können sollen. So etwas schreibt sich leicht in solche Anträge hinein. Es wäre vielleicht im Zusammenhang mit ganz anderen Fragestellungen ein interessantes Thema; mein Thema ist es aber nicht. Ich möchte Ihnen sagen, welche meine Prioritäten sind, wenn wir an die Umsetzung herangehen: Erstens. Mir ist die Stärkung der Information und Aufklärung wichtig. Dabei könnte das Sektenreferat im Bundesverwaltungsamt eine wichtige Rolle übernehmen. Aufklärung, gemeinsam von Bund, Ländern und freien Trägern geleistet, ist das A und O in einer freien pluralistischen Gesellschaft. Zweitens brauchen wir endlich das Verbraucherschutzgesetz für den Sekten-, Esoterik- und grauen Psychomarkt. Lassen Sie mich einige Bemerkungen zum Gegenstandsbereich unserer Diskussion machen. Sie haben es richtigerweise auf den Bereich Esoterik erweitert, in dem es auch Phänome gibt, die wir regeln müssen. Zunächst möchte ich aber auf den Sektenbegriff eingehen. Was sind eigentlich Sekten? Auf dem Endbericht der Enquete-Kommission findet man das Wort gar nicht mehr. Keine Gruppe nennt sich selbst so; die Gruppen nennen sich Zentrum, Bewegung, Kirche, Bund, Orden, Verein - was immer sie wollen. „Sekte“ ist ein Begriff, der von außen an bestimmte Gruppen herangetragen wird. Besser gesagt, es werden zwei Sektenbegriffe verwendet, die in der Vergangenheit auch für Verwirrung gesorgt haben. Vielleicht kann ich ein bisschen zur Klarheit beitragen. Der eine, der klassische Sektenbegriff ist der theologische. Er bezeichnet eine Abspaltung von der christlichen Kirche, eine häretische Gemeinschaft, die auf eigenen Offenbarungs- und Wahrheitsquellen beruht, also neben der Bibel und der christlichen Überlieferung ein eigenes Buch - beispielsweise das Buch Mormon - oder einen eigenen Propheten hat. Solche Gruppen sind zum Beispiel die Quäker, die in unserem Sinne überhaupt nicht problematisch sind; einer von ihnen ist der Friedensnobelpreisträger von 1949. Darum geht es uns nicht, wenn wir von Sekten sprechen. Wir verwenden den neueren kulturellen, umgangssprachlichen Sektenbegriff, unter dem im Übrigen jeder das versteht, was auch wir darunter verstehen. Das ist aber nicht die christliche, kirchliche Definition. Dieser kulturelle Sektenbegriff bezieht sich auf die konfrontative Stellung der Gruppe im Verhältnis zur Gesellschaft. Aus dieser Perspektive sind Merkmale einer Sekte die Tatsachen, dass die Gruppe sich von ihrer Umgebung abkapselt, dass die Mitglieder der Gruppe von ihrem sozialen Umfeld isoliert werden und dass das Heilsversprechen der Gruppe mit einem Absolutheitsanspruch verbunden wird. Nicht das Heilsversprechen ist das Problem - das beinhalten jeder Glaube und auch manche Ideologie -, sondern der Absolutheitsanspruch. Elitebewusstsein, Machtanspruch, Gruppendruck, Bewusstseinskontrolle, Verschwörungsdenken, Verfolgungswahn, Psychoterror gegen Abtrünnige und Kritiker sind weitere Merkmale einer Sekte, wie wir sie verstehen. Das hat nicht mit Religion und Weltanschauung zu tun, sondern damit, wie eine Gruppe von Menschen sich gegenüber ihren Mitgliedern und gegenüber anderen verhält. Man sollte also nicht versuchen, im Sinne von Sprachpolitik einen neuen Sektenbegriff zu etablieren. Das bringt wenig. Wenn also auf dem Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen“ steht, dann ist das, mit Verlaub, Tüdelkram. ({4}) Die Motive, sich in solchen Gruppen zu organisieren - ich meine jetzt die Motive, die die Menschen selbst haben und die die Gruppen offiziell nennen -, sind auch nicht allein religiös. Es ist ein Bündel von Motiven, in dem einzelne klar abgegrenzte Motive vorzufinden sind. Es gibt therapeutische Motive. Das hat mit Religion nichts zu tun. Ich denke etwa an den BrunoGröning-Freundeskreis, eine Heilungsbewegung, an VPM oder an Metharia, eine UFO-Sekte, die heilt. Dann gibt es politische Motive; hier sind die EAP und die Scientology-Organisation zu nennen. Letztere ist aus meiner Sicht eine politisch und nicht religiös motivierte Organisation. Sie ist auch nicht wirtschaftlich motiviert; das Geld dient der Machtausweitung. Es gibt aber auch wirtschaftliche und religiöse Gründe. Ein Beispiel dafür mag die Maharishi-Bewegung des Gurus Maharishi Mahesh Yogi sein, die alle vier Bereiche abdeckt: die Maharishi-Ayurveda-Gesundheitszentren für den Bereich Therapie, die Naturgesetz-Partei für den Bereich Politik, die Samhita GmbH und die TM-Center fürs Ökonomische und der Guru Maharishi selbst für das Religiöse. Es ist also ein Bündel von Motiven. Die Religion kann eines sein. Unser Sektenbegriff bezieht sich nicht auf das Religiöse. Nicht von allen Sekten gehen konkret Gefahren aus. In Deutschland können von etwa 40 bis 50 Gruppen Gefahren ausgehen, von denen Länder und Bund wissen und vor denen Sie warnen oder warnen können. Was für Gefahren können von diesen Gruppen ausgehen? Es müssen Gefahren für Grundrechtsgüter sein, wenn der Staat das Recht haben soll zu warnen. Diese Grundrechtsgüter sind Leben und Gesundheit, physisch und psysisch, das Eigentum, Ehe und Familie, um einige zu nennen. Wenn diese gefährdet sind, dann darf und dann muss der Staat handeln im Sinne von warnen, also nicht in dem Sinne, die Gefahr durch Verbot auszuschließen, sondern im Sinne von warnen. Wenn es um Straftaten geht, muss er mit all dem einschreiten, was ihm zur Verfügung steht. Es geht also nicht darum, ob eine Ideologie seltsam ist oder ob eine Religion sonderbar ist, sondern es geht darum, den Einzelnen stark zu machen gegen radikal vereinnahmende Kollektive. Es geht also - das ist die Hauptaufgabe des Staates in diesem Bereich - um Aufklärung und Verbraucherschutz. Lassen Sie uns daran gemeinsam arbeiten! Schönen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Birgit Homburger, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zur Diskussion der vorliegenden Anträge komme, möchte ich noch ein paar grundsätzliche Bemerkungen machen zu den Ergebnissen der Enquete-Kommission, weil ich es für wichtig halte, nochmals festzuhalten, dass wir strikt unterscheiden müssen zwischen neuen religiösen und weltanschaulichen Gruppierungen und dem Psycho- und Esoterikmarkt. Das ist hier schon gesagt worden, aber das wurde in der Arbeit - nicht von uns, sondern von außerhalb - oft in einen Topf geschmissen und hat das eine oder andere auch schwierig gemacht. Insofern, denke ich, sollte man das noch einmal festhalten. In einer zunehmend säkularisierten Welt ist es auch so, dass die Vielzahl dieser Gruppierungen und die immer größer werdende Vielfalt dieser religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften schwer überschaubar ist. Trotzdem hat die Enquete-Kommission festgestellt, zu Recht, wie ich finde, dass sie keine grundsätzliche Gefahr für Staat und Gesellschaft in Deutschland sind. Vielmehr muss unsere Gesellschaft daran arbeiten und das ist für uns eines der wesentlichen Ergebnisse -, sich mit dieser religiösen Vielfalt zu arrangieren, Toleranz und gegenseitigen Respekt im Zusammenleben zu lernen und zu praktizieren. So ist die EnqueteKommission auch zu dem Ergebnis gekommen, dass die vorhandenen gesetzlichen Vorschriften in aller Regel ausreichend sind, um vorkommende Konflikte im sozialen Nahbereich zu regeln. Deswegen will ich noch einmal festhalten, dass wir Liberalen uns letztlich auch durchgesetzt haben mit der Haltung, dass unsere Verfassung bezüglich der Art. 4 und 140 des Grundgesetzes, die die Religionsfreiheit gewährleisten, aber auch die Stellung der Kirchen in unserem Staat beschreiben, weder ergänzt noch geändert werden sollen. Das halte ich für eine wichtige Feststellung. ({0}) An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen, all den Kolleginnen und Kollegen, die in der letzten Legislaturperiode als Mitglieder in dieser EnqueteKommission gearbeitet haben, ganz herzlich zu danken. Ganz besonders danken möchte ich im Namen meiner Fraktion auch noch einmal dem Kollegen Roland Kohn, der für uns mitgearbeitet hat und leider nicht mehr dem Deutschen Bundestag angehört, ({1}) weshalb ich heute für unsere Fraktion zu diesem Thema spreche. Die Unterscheidung, von der ich gerade gesprochen habe, hat auch deswegen Bedeutung - das ist die zweite grundsätzliche Bemerkung, die ich machen will, weil sie mir persönlich auch wichtig ist -, weil es meines Erachtens Organisationen gibt, die Religionsfreiheit für sich in Anspruch nehmen, diese aber nicht für sich in Anspruch nehmen können. Dazu gehört aus meiner Sicht auch die ScientologyOrganisation, bei der es sich nicht um eine religiöse Vereinigung handelt. Im Gegenteil, es gibt in diesem Fall Hinweise auf politisch bestimmte ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen, die mit der freiheitlichdemokratischen Grundordnung in keiner Weise vereinbar sind. Deshalb ist aus unserer Sicht eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz weiterhin gerechtfertigt und erforderlich. Aber nun zu den vorliegenden Anträgen. Da möchte ich anfangen mit dem Antrag der Koalition, den ich vor dem Hintergrund der Aktivitäten der SPD in der letzten Legislaturperiode mit großer Verwunderung zur Kenntnis genommen habe. Der Kollege von der CDU/CSU hat das gerade ähnlich ausgedrückt. Solange Sie, meine Damen und Herren von der SPD, noch in der Opposition waren, haben Sie Aktivitäten angemahnt und vehement Maßnahmen gefordert. Das ging so weit, dass Sie ein Sondervotum abgegeben haben, in dem Sie die Prüfung einer Änderung des Grundgesetzes im Hinblick auf den Status von Religionsgemeinschaften vorgeschlagen haben. Seit Sie nun an der Regierung sind, hört und sieht man von alledem nichts mehr. Vor diesem Hintergrund nimmt sich Ihr gerade einmal zwei nichts sagende Absätze umfassender Antrag doch ausgesprochen mickrig aus. ({2}) Sie haben die Umsetzung der gesetzgeberischen Empfehlung der Enquete-Kommission schlichtweg verschlafen. Ihr Antrag, der die Feststellung enthält, dass aufgeworfene Fragen weiter zu beraten und gesetzgeberische Empfehlungen des Berichtes sowie andere Maßnahmen zu prüfen seien, klingt diesbezüglich ziemlich unwillig und ratlos. Zu Ihrem Vorwurf, wir hätten in der letzen Legislaturperiode den Bundesratsentwurf nicht mehr auf die Tagesordnung gesetzt und er sei damit der Diskontinuität anheim gefallen, sage ich Ihnen Folgendes: Ich habe mich kundig gemacht und in der Geschäftsordnung nachgelesen. In einer bestimmten Frist nach Drucklegung eines Entwurfes gibt es ein Aufsetzungsrecht. Sie hätten also die Beratung im Plenum durchsetzen können, wenn Sie gewollt hätten. ({3}) Ich sage noch einmal: Nicht die alte Regierung oder die alte Koalition haben gebremst. Der Endbericht der Enquete-Kommission wurde nämlich erst am Ende der Legislaturperiode, im Juni 1998, beraten. Erst danach konnten die Empfehlungen umgesetzt und die gesetzgeberischen Maßnahmen eingeleitet werden. Sie sind seit anderthalb Jahren dafür zuständig. Dies müssen Sie sich anhören, auch wenn es Ihnen nicht passt. ({4}) Ich möchte noch abschließend die Bemerkung machen, dass wir vonseiten der F.D.P. zwei Punkte für wesentlich halten. Der erste wesentliche Punkt ist die Einrichtung einer Stiftung, die unabhängig und staatsfern organisiert werden soll und deren Zweck die Information und die Beratung über die Organisationen auf dem Psycho- und Esoterikmarkt sein soll. Der zweite wesentliche Punkt ist das Gesetz über Verträge auf dem Gebiet der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe, das nicht regulieren soll, sondern das Rahmenbedingungen zur Transparenz auf dem Markt im Sinne des Verbraucherschutzes setzen soll. Ich möchte in diesem Zusammenhang einen Vorschlag machen. Die Enquete-Kommission hat die Bundesregierung aufgefordert, nach zwei Jahren einen ersten Bericht vorzulegen. Wir erwarten diesen Bericht im Sommer, weil wir davon ausgehen, dass sich die Regierung an die Aufforderung der Enquete-Kommission hält. Wir schlagen deshalb vor, direkt nach der Sommerpause fraktionsübergreifend - ich kann nämlich nicht erkennen, wo wir inhaltlich noch weit auseinander liegen, nachdem wir in der Enquete-Kommission darüber gesprochen haben - Initiativen auf der Basis des Berichtes der Bundesregierung zu ergreifen. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Angelika Köster-Loßack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002704, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute ein Thema, das in der letzten Legislaturperiode zu ziemlichen Auseinandersetzungen nicht nur in der Enquete-Kommission, sondern auch in der Öffentlichkeit geführt hat. Dennoch haben wir gemeinsam gute Arbeit geleistet und einen seriösen Abschlussbericht vorgelegt. Der Bundestag - dieser Punkt ist schon von anderen Kollegen erwähnt worden - reagierte mit der Einsetzung dieser Enquete-Kommission auf sehr viele Petitionen, die beim Petitionsausschuss eingereicht wurden. Außerdem gab es insbesondere in der Medienöffentlichkeit eine eskalierende Auseinandersetzung um die Scientology-Organisation. Unsicherheit und Unwissenheit haben das Klima geprägt. Umso wichtiger war es dann, in dieser Situation etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Insgesamt hat aber der Abschlussbericht der EnqueteKommission nicht nur Informationen geliefert, sondern auch dazu beigetragen - so sage ich aus meiner Erfahrung in den Monaten danach -, dass die Auseinandersetzung in rationalere Bahnen gelenkt werden konnte. Insbesondere den Punkt, der sich mit dem Sektenbegriff beschäftigt, halte ich im Großen und Ganzen nicht für „Tüdelkram“. Die Vereinbarung von unserer Seite, in der öffentlichen Debatte den Sektenbegriff nicht mehr zu benutzen, halte ich für einen guten Beschluss. Diese Auffassung habe ich auf vielen Veranstaltungen in der Zeit nach dem Abschlussbericht vertreten, in der ich von Kirchengemeinden eingeladen worden bin, und dafür auch viel Verständnis gefunden. Wir haben festgestellt, dass es in einzelnen Fällen in den von uns untersuchten Gruppen zu psychischen und teilweise auch zu physischen Verletzungen von Menschen kommt. Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass diese Menschen kompetente Hilfe erhalten, und zwar nicht nur von der Familie und von Freunden, sondern auch von fachlich gut ausgestatteten staatlichen Beratungsstellen, für die wir uns eingesetzt haben. Insbesondere haben wir uns für die Stärkung der Ausbildung derer, die in diesen Beratungsstellen mitarbeiten, eingesetzt. Der Staat hat auch die Pflicht, über problematische Gruppen oder dort ausgeübte Praktiken aufzuklären. Allerdings muss strikt weltanschauliche Neutralität gewahrt werden. Der säkulare Rechtsstaat darf sich nicht offensiv in den Weltanschauungskampf einmischen. Das Ergebnis der Tätigkeit der Enquete-Kommission hat aber auch eindeutig gezeigt, dass es die immer wieder behauptete Gefährdung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft durch die so genannten Sekten und Psychogruppen nicht gibt. Das ist eines der zentralen Ergebnisse, das ich hier wiederholen möchte, weil ich glaube, dass diese Ergebnisse der Untersuchung in der Öffentlichkeit immer noch nicht wahrgenommen wurden, die uns dazu geführt haben, das so zu definieren. Deshalb haben wir uns als Grüne innerhalb der Enquete-Kommission immer gegen das Tätigwerden des Verfassungsschutzes ausgesprochen, auch gegen die Scientology-Organisation. Bei Scientology handelt es sich allerdings um einen Sonderfall. Deren Auseinandersetzung mit dem deutschen Staat und einzelnen Repräsentantinnen und Repräsentanten hat eine Form erreicht, vor allem auch im internationalen Maßstab, die nicht mehr zu tolerieren war. Die propagandistische Aussage der Scientology-Organisation, sie werde in Deutschland verfolgt wie die Juden im NS-Staat, war unübertroffen perfide und stellte eine unerträgliche Verharmlosung der Verfolgung der Juden im NS-Deutschland und des Völkermordes dar. ({0}) Deswegen ist eine öffentliche politische Auseinandersetzung auch mit dieser Organisation unbedingt notwendig. Was den Verfassungsschutz angeht, möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass der letzte nordrheinwestfälische Verfassungsschutzbericht ganz deutlich gemacht hat, dass eine Beobachtung dennoch nicht angemessen ist. Wir müssen andere Formen der Auseinandersetzung finden. ({1}) Wir haben uns in unserem Minderheitenvotum gegen eine Vielzahl von Handlungsempfehlungen ausgesprochen, hauptsächlich aus drei Gründen: Erstens sahen wir die Masse an gesetzgeberischen und gesetzesverschärfenden Empfehlungen vom Ergebnis der Untersuchung der Enquete-Kommission nicht gedeckt. Man kann nicht einerseits feststellen, dass keine allgemeinen Gefahren bestehen, und andererseits massive Gesetzesverschärfungen propagieren. Zweitens. Wir haben verfassungsrechtliche Probleme gesehen, etwa bei der geplanten Finanzierung von privaten Beratungsstellen oder bei der Anwendung des Vereinsrechts auf religiöse Minderheiten. Es darf keine Sondergesetze gegen religiöse Minderheiten geben, wenn gleichzeitig, wofür ja vieles spricht, die traditionellen Kirchen nach wie vor die grundgesetzlich garantierte Sonderstellung behalten sollen. Hier muss Gleichbehandlung herrschen. ({2}) Drittens konnten wir uns bei der Ablehnung verschiedener Vorschläge, beispielsweise der staatlichen Finanzierung privater Beratungsstellen oder des Entwurfs eines Lebensbewältigungshilfegesetzes, sogar auf die Stellungnahmen seitens der betroffenen Ministerien stützen. So hat das Justizministerium bei der Bundesratsinitiative zum Lebensbewältigungshilfegesetz eindeutig dafür plädiert, diesen Entwurf nicht zu verabschieden. In diesem Zusammenhang finde ich es besonders seltsam, dass ausgerechnet die damals regierende Union in ihrem Antrag lapidar die zügige Umsetzung der Regelung zur gewerblichen Lebensbewältigungshilfe fordert. Im Gegenteil, es ist dringend geboten, die von der Enquete-Kommission vorgeschlagenen Handlungsempfehlungen noch einmal sorgfältig zu prüfen, bevor man endgültig gesetzgeberische Schritte einleitet. Es ist wichtig, zu überprüfen, ob durch Gesetze auch tatsächlich diejenigen erreicht werden, die erreicht werden sollen. Und es ist wichtig, zu überprüfen, ob durch Regelungen nicht gegen die verfassungsmäßige Neutralitätspflicht des Staates verstoßen wird. Klar ist: Wenn in so genannten Sekten und Psychogruppen Gesetze gebrochen werden - wie wir es auch definiert haben -, müssen die Täter bestraft werden, genauso wie bei Verstößen in anderen Zusammenhängen. Auf der anderen Seite haben wir aber als Politikerinnen und Politiker auch die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Anhänger oder Mitglieder kleiner Religionsgemeinschaften das gleiche Recht haben, ihren Glauben auszuüben, wie die Anhänger der Großkirchen. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass gesellschaftliche Ausgrenzungen, welcher Art auch immer, auf welcher Ebene auch immer, unterbleiben. ({3}) Noch eine abschließende Bemerkung - sie geht an die F.D.P. -: Unerträglich finde ich in diesem Zusammenhang den berüchtigten Plakatentwurf der nordrheinwestfälischen F.D.P. Nicht nur, dass ich es bisher für unvorstellbar hielt, dass eine demokratische Partei heute noch mit dem Bild von Adolf Hitler wirbt. Das ist gerade auch wegen steigender Akzeptanz rechtsgewirkter Denk- und Verhaltensmuster unfassbar. Man muss nur einmal nach Österreich schauen, was dort unter Umständen verborgen ist. Die Gleichstellung von Hitler und Bhagwan auf einem Plakat, wodurch eine Verbindung zwischen ihnen hergestellt wird, ist nicht nur eine Verharmlosung des Massenmörders Hitler, es ist auch eine Beleidigung aller Anhänger des alternativen Glaubens der Osho-Bewegung. An die Adresse von Herrn Möllemann: Ich hoffe, dass die Vernunft der Wählerinnen und Wähler dieser aus reiner Profilierungssucht geborenen Ungeheuerlichkeit keinen Erfolg bescheinigt. Wir sind gerade angesichts dessen, was wir gehört und worüber wir uns auseinander gesetzt haben, dazu aufgerufen, dazu beizutragen, dass in unserer Gesellschaft die Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen Geschlechts und unterschiedlichen Glaubens nicht nur friedlich nebeneinander leben können, sondern dass sie auch gegenseitigen Respekt füreinander aufbringen. Natürlich müssen wir uns für alle einsetzen, die Opfer psychischer und physischer Gewalt geworden sind. Wir müssen uns außerdem dafür einsetzen - das ist mir das Allerwichtigste -, dass insbesondere die wissenschaftliche Forschung in diesem Bereich, die akademische Lehre und die schulische Bildung ausgebaut werden. Dazu bedarf es keiner besonderen gesetzlichen Initiativen, sondern der Bereitstellung zusätzlicher Mittel. In diesem Sinne plädiere ich in dieser Frage weiterhin für eine rationale und nüchterne Debatte. Ich danke Ihnen. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ehemaliges Mitglied der EnqueteKommission weiß ich, wie viele Menschen die Arbeit dort verfolgt haben. Insbesondere die Opfer dieser Gruppen, ihre Angehörigen und Freunde haben zu Recht erwartet, dass nun etwas geschieht, um ihnen zu helfen. Es ist ärgerlich, dass seit eineinhalb Jahren keine Konsequenzen gezogen wurden. Das ist eine berechtigte Kritik. Das einzige, was die Bundesregierung bisher angekündigt hat, ist ein Modellversuch, der am 1. Juli beginnen soll; darauf komme ich später noch zu sprechen. Dass sonst nichts geschehen ist, kann meines Erachtens nicht am fehlenden Geld liegen; denn es war genug Geld da, um diverse Verfassungsschutzämter mit der Beobachtung von Scientology zu beauftragen. Wir waren meine Kollegin hat das eben schon erklärt - und werden auch weiter dagegen sein, zumal bis heute keine konkreteren Erkenntnisse zur Verfassungsfeindlichkeit auf dem Tisch liegen. Viele Betroffene haben sich in den vergangenen Monaten an Abgeordnete des Bundestages gewandt und haben meiner Meinung nach so die Debatte heute erzwungen. Die PDS hat daraufhin eine Kleine Anfrage eingebracht und - sie wurde schon erwähnt - die Bundesregierung gefragt, wie die Forderungen der EnqueteKommission umgesetzt werden. Die Antwort der Bundesregierung und der Antrag der CDU/CSU-Fraktion sind in folgendem Punkt deckungsgleich: Beide wollen - darüber muss man hier diskutieren - den privaten Initiativen offenbar nicht helfen und ihnen nicht ihre Unterstützung geben. Die Bundesregierung hat im letzten Oktober weiter geantwortet, sie berate noch über gesetzgeberische Initiativen. Nun hat die Enquete-Kommission in der Tat ein großes Paket vorgeschlagen, das geprüft werden muss. Aber der vorliegende Antrag der Regierungsparteien ist mehr als dürftig; er ist heute mehrfach kritisiert worden. Sollen wir in dieser Legislaturperiode im Ernst weiterhin nur prüfen? Das kann doch nicht das Ergebnis der langjährigen Arbeit einer Enquete-Kommission sein. So können Sie mit den Betroffenen nicht umgehen. Sie haben in der letzten Legislaturperiode mit dieser EnqueteKommission zu Recht Hoffnungen und Erwartungen geweckt. Was hier vorgelegt wird, geht aber nicht weit genug. Ich will es ganz deutlich sagen: Es geht mir nicht um schärfere Strafgesetze gegen die so genannten Psychogruppen und Sekten. Auch wenn viele dieser Gruppen antidemokratische, rassistische, antisemitische Tendenzen aufweisen, ist ein weiterer Ausbau des Überwachungsstaates nicht die richtige Antwort. Solchen Tendenzen muss durch konsequente Aufklärungsarbeit entDr. Angelika Köster-Loßack gegengewirkt werden. Worauf es mir ankommt, ist vor allem eine finanzielle Besserstellung und eine gesetzliche Förderung der Opfer dieser Gruppen und insbesondere ihrer Selbsthilfeorganisationen, über die wir hier heute diskutieren. Ich hoffe, dass wir in den Beratungen der Ausschüsse einige Schritte weiterkommen. Die Bundesregierung hat uns, wie ich bereits erwähnte, gesagt, dass sie einen Modellversuch plant - ich zitiere zur Qualifizierung von Fachpersonal zum Themenbereich so genannter Sekten und Psychogruppen in den etablierten Beratungsinstitutionen. Das Projekt ist im Prinzip in Ordnung, aber es darf sich nicht nur an die „etablierten Beratungsinstitutionen“ allein richten. Ich möchte daran erinnern, dass auch Vertreter der großen Kirchen immer wieder gefordert haben, dass private Initiativen unterstützt werden müssen. Ich halte das für einen Ansatz, der nicht umfangreich genug ist. Nach dem Verfassungsschutz zu rufen und für die Opfer nichts zu tun, ihre privaten Initiativen, die sich nicht den beiden großen Kirchen unterordnen, sogar weiterhin an den Rand zu drängen bzw. dort allein zu lassen, kann nicht richtig sein. Auch in dieser Frage darf am Ende nicht mehr Staatskontrolle stehen. Auch hier geht es um die Förderung von Bürgerrechten und Bürgerinitiativen. Danke. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Renate Rennebach, SPD-Fraktion, das Wort.

Renate Rennebach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde im Gegensatz zu meinem Ruf und entgegen dem, was wir in den zwei Jahren Enquete-Kommission gestritten haben, eine sehr ruhige Rede halten. Denn das Thema sollte im Sinne der Opfer und Betroffenen geführt werden und nicht durch Streit gekrönt sein. Ich sage Ihnen ehrlich: Ich bin froh, dass wir heute - zwar erst nach einem Jahr, aber immerhin - über dieses Thema reden. Wir diskutieren heute - ich muss sagen: endlich - über die Fortführung der Ergebnisse der EnqueteKommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ aus der vergangenen Wahlperiode. Genau genommen ist dies lediglich die logische Konsequenz, denn der Abschlussbericht der Enquete-Kommission weist eine Reihe von Empfehlungen an den 14. Deutschen Bundestag auf, die weiterführende parlamentarische Beratungen erfordern. Die Fortführung der Beratungen zum Endbericht wäre eigentlich nicht mehr als ein formaler Akt, hätten wir es nicht mit einer Materie zu tun, die in den letzten Jahren vielfältige Emotionen ausgelöst hat - auch in der Enquete-Kommission. Ich bin allerdings überzeugt, dass wir heute den nötigen Abstand besitzen - ich hoffe es jedenfalls -, um die Ergebnisse der EnqueteKommission mit der gebotenen Sachlichkeit zu beraten. Umso mehr ist es für mich ein großer Schritt, dass wir nun mit den Beratungen beginnen. Bevor ich näher auf den Antrag der CDU/CSUFraktion eingehe, möchte ich mich an dieser Stelle zunächst einmal bei den Sachverständigen der EnqueteKommission für ihre Kompetenz und ihr Engagement, mit dem sie die Enquete-Kommission getragen haben, in aller Form bedanken. Ich möchte Ihnen vor allem danken, weil Sie geduldig, entschieden und ganz ohne Zweifel zu Recht die Fortsetzung der politischen Debatte eingefordert haben. Es ist schließlich auch eine Frage, wie wir mit den Ergebnissen und der geleisteten Arbeit umgehen. Meines Erachtens - ich denke, Sie werden sich dieser Auffassung anschließen können finden die Ergebnisse der Enquete-Kommission ihre notwendige Anerkennung erst, wenn wir die Handlungsempfehlungen aufgreifen und uns in den Gremien mit den inhaltlichen Fragestellungen auseinander setzen. Diese parlamentarische Arbeit soll mit dem heutigen Tag beginnen. Ich bin darüber froh, denn es ist längst überfällig. Ich möchte mich ebenso bei den vielen engagierten Bürgerinnen und Bürgern, bei Betroffenen und Hilfesuchenden, die mir in den vergangenen Monaten geschrieben haben, bedanken. Die zahlreichen Anfragen, auch an den Petitionsausschuss, machen mir eines sehr deutlich: Das gesamte Problemfeld der neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften ist ein politisches Thema und muss Eingang in die parlamentarischen Beratungen finden. Wir tragen damit auch der gesellschaftlichen Bedeutung der Thematik Rechnung. Ich erinnere an die drängende Frage von vielen Bürgerinnen und Bürgern: Was macht eigentlich die Politik, um uns vor so genannten Sekten und Psychogruppen zu schützen? Die Antwort auf diese Frage lieferte die Enquete-Kommission. Wir haben zwei Jahre intensiv gearbeitet und verfügen mit dem Endbericht über eine hervorragende Handlungsgrundlage für die parlamentarische Entscheidungsfindung. Angesichts der vorliegenden Sondervoten im Abschlussbericht möchte ich jedoch, ohne den bevorstehenden Beratungen vorgreifen zu wollen, an alle Fraktionen appellieren: Führen wir die Diskussion vorbehaltlos und ohne jedes Tabu. - Nun dürfen Sie klatschen. ({0}) - Sie von der anderen Seite auch! ({1}) - Ich hätte mich schon gefreut, wenn mir die Opposition darin zugestimmt hätte, dass wir das vorbehaltlos und ohne jedes Tabu machen. Denn nur dann gelangen wir zu einer vorurteilsfreien Bewertung der Ergebnisse und letztlich zu Entscheidungen, die der vielschichtigen Problematik gerecht werden. Uns liegt ein Antrag der Union vor, die Handlungsempfehlungen zügig umzusetzen. Gestatten Sie mir dazu eine kurze Anmerkung. Ich denke, wir sind uns einig, dass Handlungsbedarf besteht. Ihre Forderung an die Bundesregierung, umgehend Gesetzentwürfe vorzulegen, erscheint mir allerdings irreführend. Wenn Sie schon Forderungen aufstellen, sollten Sie genauer hinsehen. Die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission beziehen sich im Wesentlichen auf neu zu schaffende Rechtsvorschriften und Erweiterungen des bestehenden Rechts. Sie richten sich damit ausdrücklich an den Gesetzgeber und nicht nur an die Bundesregierung. Um auf unseren Antrag zu kommen: Im Gegensatz zu Ihnen, die Sie an Überschriften von Programmen gehangen haben, die mit dem Inhalt des Programms überhaupt nicht übereinstimmen, sind uns die Überschriften erst einmal egal. Wir wollen für Inhalte kämpfen und für Inhalte eintreten. Unser Antrag, der Antrag der Koalition, sieht vor, den Endbericht mit den darin enthaltenen Fragestellungen parlamentarisch zu beraten und gesetzgeberische Initiativen zu prüfen. Das ist die Aufgabe des 14. Deutschen Bundestags und dieser Aufgabe sollten wir nachkommen. Selbst wenn die Bundesregierung eigene Initiativen prüft - wie Sie wissen, tut sie das -, sollten wir die Diskussion des Endberichts im Bundestag zielgerichtet vertiefen. Angesichts der zahlreichen offenen Fragen halte ich eine breite Debatte für unbedingt erforderlich. Ich kann daher die Opposition nur ermuntern, unserem Antrag zuzustimmen und den Endbericht an die Ausschüsse zu überweisen. Lassen Sie mich noch etwas zu den Handlungsempfehlungen sagen. Ich möchte sie nicht der Reihe nach aufführen, sondern vielmehr auf einen zentralen Aspekt eingehen, den eigentlich alle Rednerinnen und Redner bisher erwähnt haben. Besonders am Herzen liegt mir und uns der Verbraucherschutz am Psychomarkt. Vielleicht kennen Sie schon meinen bildhaften Spruch, aber plausibler lässt es sich kaum erklären: Sie können in Deutschland keinen Liter Milch kaufen, ohne dass draufsteht, was drin ist. Aber es gibt Seminare, die die Psyche des Menschen elementar verändern, ohne dass die Anbieter sagen müssen, welche Ausbildung sie haben, welche Methoden sie anwenden, welches Ziel ein Seminar hat und wie viele Seminare ich brauche, um das Ziel erreichen zu können. Auch die Fragen der tatsächlichen Kosten, des Rücktrittsrechts oder der Regressmöglichkeiten sind ungeklärt. Sie wissen, ich rede von der gesetzlichen Regelung der gewerblichen - „gewerblich“ ist das wichtige Wort in diesem Zusammenhang - Lebensbewältigungshilfe. Hier besteht nach Auffassung der SPD-Fraktion Regelungsbedarf, und zwar nicht, weil wir staatliche Kontrolle brauchen, sondern damit der boomende Psychomarkt - hier geht es wie in jedem anderen Gewerbe um finanzielle Interessen - endlich transparenter wird. ({2}) - Danke, Herr Geschäftsführer. - Der Verbraucherschutz muss auch auf dem Psychomarkt gelten. Ich erwarte spannende Verhandlungen, die wir behutsam führen sollten. Ich bin voller Zuversicht, dass wir in strittigen Fragen zu tragfähigen Kompromissen kommen werden. Denn das ist schließlich die Aufgabe von Politik. Es ist die Aufgabe des Parlaments. Ein Satz zum Schluss an alle Fraktionen. Niemand in diesem Hause will jemandem etwas verbieten, was für ihn gut ist. Wer sich quälen lassen möchte, kann dies nach unserem Willen und der politischen Gestaltung weiterhin tun. Aber ich möchte die Menschen schützen, die Hilfe erwarten und nur Kram bekommen. Kram gibt es bei diesem Thema eine Menge. Vielen Dank. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat der Kollege Ronald Pofalla, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will als ehemaliger Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der Enquete-Kommission, die über zwei Jahre lang getagt hat, meinen Eindruck ganz offen vortragen, den ich angesichts des Antrages der rot-grünen Koalition habe. Es ist eine intellektuelle Zumutung, ({0}) dem Deutschen Bundestag einen solchen Antrag vorzulegen, nachdem Wissenschaftler und Kolleginnen und Kollegen zwei Jahre lang einen Text ausgearbeitet haben, der auf hohem wissenschaftlichen Niveau ist. Ihn auf diese Weise zu reduzieren macht deutlich, dass Sie in der rot-grünen Koalition absolut handlungsunfähig sind, die richtigen Konsequenzen aus diesem Bericht zu ziehen. ({1}) - Jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Kollege Geschäftsführer. Die Ziffern 1 und 2 des Antrages von SPD und Bündnis 90/Die Grünen werden dem Deutschen Bundestag ernsthaft vorgelegt als Antrag dieser beiden Fraktionen. ({2}) - Ich wiederhole es nur, weil es unglaubhaft ist, hier nach Überparteilichkeit und Sachlichkeit zu rufen, aber einen solchen Antrag überhaupt vorzulegen. Ich lese Ziffer 1 vor: Der 13. Deutsche Bundestag hat am 9. Mai 1996 die Einsetzung der Enquete-Kommission „Sog. Sekten und Psychogruppen“ beschlossen. Das ist ein unglaublicher Beitrag der Koalitionsfraktionen zur Debatte über dieses Thema. Satz zwei lautet: In der 242. Sitzung des 13. Deutschen Bundestages vom 19. Juni 1998 wurde der Abschlussbericht vorgelegt und beraten. ({3}) Wenn das der Erkenntnisgehalt der beiden Koalitionsfraktionen ist, dann wundere ich mich über überhaupt nichts mehr. ({4}) Um es deutlich zu sagen: Es gibt zwei Kernbereiche, die in dieser Enquete-Kommission, von Sondervoten der Grünen einmal abgesehen, völlig unstrittig waren. Es war zwischen CDU/CSU, F.D.P., SPD und in diesem Fall, wenn ich mich richtig erinnere, auch der PDS völlig unstrittig, dass wir eine Regelung zur gewerblichen Lebensbewältigungshilfe benötigen. Es war aber auch unstrittig, dass der damals von Hamburg vorgelegte Gesetzentwurf nicht ausreichend war, weil er im Hinblick auf den Gesetzeszweck und das Gesetzesziel zu unbestimmt war und dadurch Berufsgruppen in die Kontrolle einbezogen würden, die nicht einbezogen werden sollten. Wenn Sie jetzt Handlungsbedarf sehen, dann fordern Sie doch Ihre Bundesregierung auf, einen überarbeiteten Gesetzentwurf vorzulegen. ({5}) Sie werden es deshalb nicht hinbekommen, weil die Grünen - damit bin ich bei einem Ihrer Probleme - sogar bezweifeln - Frau Dr. Köster-Loßack hat es gerade deutlich dargestellt -, dass es die Notwendigkeit gibt, hier gesetzgeberisch zu handeln. Das Problem liegt ausschließlich in der Koalition. ({6}) Ich will Ihnen einen zweiten Punkt nennen: Trotz der rechtlichen Probleme, die wir analysiert haben und die wir gesehen haben, haben wir die Einrichtung einer Bundesstiftung für richtig gehalten. Das rechtliche Problem, vor dem man bei der Errichtung einer Bundesstiftung steht, liegt auf der einen Seite darin, den Betroffenen, den Hilfsorganisationen ein quasi stiftungsrechtliches Hilfsangebot geben zu wollen, auf der anderen Seite darin, dass man damit in gewisse Kollisionen mit dem staatlichen Neutralitätsgebot kommt. Wir haben uns stundenlang über mehrere Sitzungen hinweg über die Frage unterhalten, wie wir dieses Problem lösen können. Wenn Sie einen Blick in den Abschlussbericht werfen, dann sehen Sie, dass wir ganz konkrete Gesetzesänderungen empfohlen haben, die uns aus diesem Zielkonflikt herausbringen. Dieser Zielkonflikt kann juristisch gelöst werden. Aber die Bundesregierung hat in den letzten 16 Monaten nichts getan, um auch nur einen einzigen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Möglichkeit eröffnet, eine solche Bundesstiftung zu schaffen. Frau Rennebach, wenn Sie sich schon nicht mit den Grünen einigen können, dann wäre ich Ihnen dankbar ich biete da ausdrücklich unsere Unterstützung an -, wenn Sie wenigstens einen Antrag der SPDBundestagsfraktion einbringen würden. Ich sichere Ihnen zu, dass die CDU/CSU diesen Antrag, wenn er auf den Empfehlungen der Enquete-Kommission basiert, unterstützen wird. ({7}) Dann könnten wir erreichen, dass wir eine Bundesstiftung einsetzen können, die im Ergebnis dazu führt, dass die Selbsthilfeorganisationen und die Betroffenenorganisationen endlich die Möglichkeit erhalten, inhaltlich und finanziell unterstützt zu werden. ({8}) Ich will meine Ausführungen mit dem Hinweis schließen, dass wir Ihren Antrag den Betroffeneninitiativen und den Selbsthilfeorganisationen zusenden werden, damit sie sich ein qualifiziertes Bild davon machen können, wie Sie die Ergebnisse dieser Kommission verstanden haben. Ich bleibe dabei: Ihr Antrag ist eine intellektuelle Zumutung. Herzlichen Dank. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2361 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 14/2568 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Jürgen Koppelin, Marita Sehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Reform der landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger - Drucksachen 14/1557, 14/1759 Es liegen zwei Entschließungsanträge vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die F.D.P. sieben Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Jürgen Koppelin.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P.-Fraktion fordert schon seit vielen Jahren eine Neuordnung der landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Die bestehende Aufteilung auf drei Spitzenverbände und je 20 Träger für Unfallversicherung, Altersversicherung und Kranken- und Pflegeversicherung muss reformiert werden. Darüber sind wir uns, glaube ich, alle einig. In diesem Punkt ist dem Bundesrechnungshof, der einen Bericht vorgelegt hat, uneingeschränkt zuzustimmen. Verwaltungs- und Verfahrenskosten von weit über 600 Millionen DM im Jahr erfordern nicht nur in Zeiten leerer Kassen sparsame und effiziente Verwaltungen. Außerdem müssen wir wegen des anhaltenden Strukturwandels in der Landwirtschaft, der zu immer mehr Leistungsempfängern und immer weniger Beitragszahlern führt, die Verwaltungsstrukturen in der Sozialversicherung zwingend erneuern. Allerdings - das will ich deutlich machen - lehnt die F.D.P. eine zentralistische Bundesversicherungsanstalt für Landwirtschaft strikt ab. ({0}) Wir wollen keinen Zentralismus. Regionale Besonderheiten müssen, so meinen wir, auch zukünftig Berücksichtigung finden. Die Koalitionsfraktionen SPD und Grüne favorisieren eine Bundesversicherungsanstalt, die zentralistisch ist. Dazu haben sie einen entsprechenden Entschließungsantrag vorgelegt. Dieser Vorschlag der Regierungsfraktionen wird nicht einmal vom zuständigen Landwirtschaftsminister - soweit ich das richtig mitbekommen habe - unterstützt. Karl-Heinz Funke, den ich hier heute leider vermisse ({1}) - mal wieder -, hat gesagt: Mit mir ist das nicht zu machen. Kollegin Homburger, vielleicht reist er gerade durch das Land und erklärt, wie schädlich die Ökosteuer für die Landwirte sei und dass er sich dafür einsetzt, dass sie abgeschafft wird. ({2}) Das kennen wir ja, und hier redet er ganz anders. Wir begrüßen, dass Herr Funke sagt: Mit mir ist das nicht zu machen. Schauen wir aber einmal, was Herr Funke will. ({3}) In der Stellungnahme zu unserer Großen Anfrage hätte er sich allerdings klarer äußern müssen, Herr Staatssekretär. Denn das, was darin steht, ist nur Lyrik und nichts anderes. Er bringt nichts Konkretes. Ich will Ihnen nur einige Aspekte nennen, die gegen das zentralistische SPD- und Grünen-Modell sprechen. Eine Bundesanstalt bedarf bei ihrer Einrichtung hoher Anfangsinvestitionen. Das vom Bundesrechnungshof auf jährlich 100 Millionen DM bezifferte Einsparpotenzial wurde bisher noch nicht einmal durch betriebswirtschaftliche Untersuchungen belegt. ({4}) Eine Bundesanstalt ist versichertenfern und kann regionale Besonderheiten - darauf werde ich gleich noch zu sprechen kommen - nicht berücksichtigen. Ein bundeseinheitlicher Beitragsmaßstab bei der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft und den landwirtschaftlichen Krankenkassen wird den unterschiedlichen landwirtschaftlichen Betriebsstrukturen in keiner Weise gerecht und belastet im Übrigen die zukunftsträchtigen Betriebe überproportional. Demgegenüber favorisieren alle LSV-Träger und ihre Verbände sowie die Bundesländer, der Deutsche Bauernverband, die Gewerkschaften und wohl auch - wenn ich das noch einmal erwähnen darf - der Bundeslandwirtschaftsminister ein regionales Modell mit sieben bis neun Trägern. Die ins Feld geführten Vorteile bei diesem Modell sind: Durch die bereits vorhandenen Standorte fallen keine Anfangsinvestitionen an. Regionale Träger sichern ein hohes Maß an Versichertennähe und können Besonderheiten in den Regionen berücksichtigen. Für mich als Schleswig-Holsteiner ist das ein ganz entscheidender Punkt. Es kann doch wohl nicht sein, dass Betriebe mit einer ausgeprägten Vollerwerbsstruktur, wie sie gerade in Schleswig-Holstein existieren, durch einen Zusammenschluss mit ungleichen Partnern unnötig belastet werden. ({5}) Fusionen, die derartige Beitragsverwerfungen zwangsläufig nach sich ziehen würden ({6}) - dazu sage ich gleich noch etwas -, sind nun wirklich nicht der geeignete Weg in Richtung einer wettbewerbsfähigen Landwirtschaft. Herr Kollege Schmidt, Sie haben gerade einen Zuruf gemacht. Über Niedersachsen können wir uns gesondert unterhalten. Dort gibt es bereits Bestrebungen, dies nicht zentral zu machen, sondern verschiedene Einrichtungen dafür zu schaffen, was ich übrigens sehr begrüße. Das sage ich gerade als Haushälter; denn wir haben immer einen entsprechenden Druck ausgeübt. Vorrangiges Ziel muss aus Sicht der F.D.P. eine weitere stärkere Reduzierung von Gebietskörperschaften sein, sodass jedes vorgelegte Modell nach diesem Kriterium zu hinterfragen und abschließend zu beurteilen ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und den Grünen - ich spreche vor allem die Kollegen aus Norddeutschland an -, auf der Vorderseite Ihres Antrags steht im unteren Teil: ... dass die Träger der landwirtschaftlichen Sozialversicherung aus eigener Kraft nicht imstande sind, die ... Mängel der derzeitigen Strukturen zu beheben. Dies kann man so nicht stehen lassen. Gehen Sie doch einmal in meine Heimat, nach Kiel oder nach Hamburg und machen Sie sich einmal kundig! Dort können die Sozialversicherungsträger aus eigener Kraft ihren Aufgaben nachkommen. In den süddeutschen Regionen ist das ein Problem; aber darüber werden wir noch gesondert reden müssen. Es zeugt also entweder von Ignoranz oder Unwissenheit, wenn Sie solche Aussagen in Ihr Papier aufnehmen. Ich fordere Sie auf, Ihr Augenmerk auf die eigenständigen LSV-Träger, wie es sie zum Beispiel in Hamburg oder Schleswig-Holstein gibt, zu legen. Hier sind längst die notwendigen Reformen und Anpassungen vorgenommen worden. Als Affront gerade gegen Schleswig-Holstein und Hamburg muss ich es werten, wenn Sie in Ihrem Antrag auch noch von der Ineffizienz dieser Sozialversicherungsträger sprechen. ({7}) Die haben ihre Hausaufgaben gemacht; das muss man anerkennen. Wenn aber alle Sozialversicherungsträger, die süddeutschen und die norddeutschen, zusammengelegt würden, könnte es zu einer Ungleichheit kommen. Die norddeutschen Landwirte müssten dann wahrscheinlich höhere Beiträge zahlen. Ich denke, es ist wichtig, dass wir die regionalen Belange berücksichtigen. Insofern ist es nicht in Ordnung, wenn Sie eine zentrale Stelle fordern. ({8}) Es sei noch einmal gesagt, dass es zweifellos eine Änderung der Struktur bei den landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträgern geben muss, die neben der Kostenreduzierung und Effizienzsteigerung auch eine Stärkung des Bundeseinflusses beinhalten muss. Darin sind wir uns einig; denn wenn der Bund rund 7,8 Milliarden zahlt - dies hat das Ministerium noch einmal in seiner Antwort angeführt -, muss er natürlich auch mehr Einflussmöglichkeiten haben. Das streiten wir nicht ab. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und den Grünen, abschließend appelliere ich an Ihre Vernunft: Nutzen Sie die heutige Debatte, um aus Ihrer Isolation herauszukommen! ({9}) Nicht nur wir und der Landwirtschaftsminister sind der Auffassung - - ({10}) - Entschuldigen Sie, wir sind doch in bester Gesellschaft mit dem Kollegen Funke. Es ist aber ähnlich wie bei der Ökosteuer; das habe ich erwähnt: Wenn wir hier über die Belastung für die Landwirte durch die Ökosteuer diskutieren, sitzt der Herr Landwirtschaftsminister ganz still da oder formuliert einige nette Sätze und scherzt das kommt auch gut an -, aber draußen im Lande zieht er von Bauernverband zu Bauernverband und sagt: Ich setze mich dafür ein, dass die Ökosteuer abgeschafft wird oder dass es zumindest Verbesserungen gibt. ({11}) Ich könnte auch noch etwas zu der Diesel-Geschichte sagen. Das Problem des Kollegen Funke ist doch, dass er bei all dem, was von der Koalition kommt, ganz still ist, aber dies draußen im Lande kritisiert und meint, damit Stimmen für die Koalition gewinnen zu können. Das hat Methode. Meine Bitte ist: Versuchen Sie, aus Ihrer Isolation herauszukommen! Wenden Sie sich von Ihrem zentralistischen Modell einer Bundesanstalt ab und schlagen Sie den Weg der Vernunft ein! Dann wären wir alle ein Stück weiter und den Landwirten wäre geholfen. Ich bedanke mich. ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär, Dr. Gerald Thalheim, das Wort. Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten: Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Frau Präsidentin! Mit der Großen Anfrage problematisiert die F.D.P. auf der einen Seite die Auswirkungen des Steuerentlastungsgesetzes, des Sanierungskonzepts. Aber auf der anderen Seite werden die Strukturen des Systems der landwirtschaftlichen Sozialversicherung zum Gegenstand der Nachfrage gemacht. Zugegeben: Beides hat mit Geld zu tun. Wenn man aber zu sachgerechten Entscheidungen kommen will, muss man beide Bereiche getrennt betrachten. Herr Kollege Koppelin, ich stimme mit Ihnen überein, dass die Strukturreform der landwirtschaftlichen Sozialversicherung längst überfällig ist. Das ist keine neue Erkenntnis. Insofern macht die F.D.P. mit der Großen Anfrage die eigenen Versäumnisse der Vergangenheit zum Gegenstand der Nachfrage. ({0}) Richtig ist, Herr Kollege Koppelin, dass ein Missverhältnis zwischen den Einflussmöglichkeiten des Bundes und der Tatsache, dass der Bund Geld zur Verfügung stellt, besteht. Richtig ist auch, dass wir nach wie vor einen enormen Strukturwandel haben und dass Verwaltungsvereinfachungen natürlich möglich sind.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin? Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten: Aber gerne.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, da Sie von unseren angeblichen Versäumnissen sprechen, frage ich Sie: Haben Sie die letzten Haushaltsberatungen der alten Koalition in Erinnerung, als sowohl der Kollege Freiherr von Hammerstein als auch ich gesagt haben, dass es auf diesem Gebiet Veränderungen geben muss, und auch, dass wir die Initiative über den Haushaltsausschuss ergriffen haben? Der Bericht des Rechnungshofes kommt ja nicht aus heiterem Himmel, sondern kommt aufgrund unserer Initiativen. Das ist ja die Grundlage dafür, dass wir überhaupt über dieses Thema debattieren. Ich denke, Sie waren auch mit im Boot. Wir alle, die wir hier im Hause sind, haben das bei Haushaltsberatungen immer gesagt. Das Beispiel war Niedersachsen - dazu kam vorhin ein Zuruf -, weil es da zu viele dieser Versicherungsträger gab und die Kosten zu hoch waren. Wir haben das Problem also angepackt. Oder würden Sie bestreiten, dass wir es - gerade in der letzten Legislaturperiode - gemeinsam diskutiert haben? Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten: Herr Kollege Koppelin, es ist richtig, dass wir das Ganze diskutiert haben. Aber nach den eineinhalb Jahren, die die neue Regierung im Amt ist, messen Sie uns ganz bewusst an dem, was wir erreicht haben, und nicht an dem, was wir fordern. Insofern ist es folgerichtig, auch Sie daran, was Sie in den Jahren Ihrer Regierungsbeteiligung erreicht haben, zu messen, nicht aber daran, was Sie in den letzten Jahren im Haushaltsausschuss gefordert haben. Es waren am Ende gerade die Landesregierungen, an denen die F.D.P. in der jeweiligen Koalition beteiligt war, die hier Strukturreformen verhindert haben. Herr Kollege Koppelin, das ist einfach die Beschreibung der Wahrheit.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun möchte Herr Kollege Koppelin noch eine Frage stellen. Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten: Aber gerne.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, wie schwer das Geschäft ist, das wir betreiben, nämlich Politik zu machen, etwas umzusetzen, sieht man doch auch an Ihrer Antwort, wenn Sie sagen, Sie würden hoffen, dass in dieser Legislaturperiode eine Reform stattfinden kann. Das heißt, selbst Sie haben sehr viel Zeit bis zum Ende der Legislaturperiode, aber Sie sprechen in Ihrer Antwort nur davon, dass Sie hoffen, das durchzubekommen. Uns werfen Sie vor, dass wir das in eineinhalb Jahren nicht gepackt haben. Sie haben ja immer noch über zwei Jahre Zeit und sprechen trotzdem davon zu hoffen. Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten: Herr Kollege Koppelin, wenn ich von Hoffnung spreche, dann aus dem einfachen Grunde, dass der Bund hier nicht allein entscheiden kann ({0}) und wir an diesem Punkt auf die Mitwirkung der Länder angewiesen sind. Ich wiederhole meine Antwort von vorhin, dass in der Vergangenheit diejenigen Länder, in denen die F.D.P. an der Regierung beteiligt war, sich nicht gerade als Vorreiter geriert haben. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir den Redner fortfahren lassen. Ich lasse keine Zwischenfragen mehr zu. Herr Staatssekretär hat das Wort. Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten: Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle auf den Kern kommen, ob wir die Frage nach der Existenz einer eigenständigen landwirtschaftlichen Versicherung mit der Frage nach den Strukturen verbinden können. Die Antwort hierauf ist ein klares Nein. Die Bundesregierung bekennt sich nach wie vor zu einer eigenständigen landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Es ist aber auch richtig: Das System ist nicht allein von einer immer geringeren Zahl von in der Landwirtschaft Tätigen zu finanzieren. Trotz der Rückführung der Bundeszuschüsse bleibt die finanzielle Unterstützung des Bundes erheblich. Dazu gibt es keine Alternative. ({0}) Es sind immerhin noch 7,3 Milliarden DM, die in diesem Jahr dafür zur Verfügung gestellt werden. Eine Abschaffung des Sondersystems kommt also nicht in Betracht. Wir sind nach wie vor auf die Solidarität der Steuerzahler an dieser Stelle angewiesen. Dieses eigenständige System der landwirtschaftlichen Sozialversicherung ist kein Privileg für die Landwirtschaft. Der Strukturwandel - Herr Koppelin, an diesem Punkt stimmen wir sicher überein - wird auch in anderen Bereichen der Wirtschaft flankiert, am Ende durch öffentliche Gelder, konkret durch Steuerzahlungen. Allerdings: Angesichts der Haushaltssituation des Bundes und der überfälligen Strukturreform muss man schon die Frage stellen, wie die Strukturen in der Zukunft aussehen können. Hier gibt es den entscheidenden Dissens. Wir sind nach wie vor der Meinung, dass wir an einem zentralen System festhalten sollten, solange wir nicht davon überzeugt sind, dass andere Strukturen, zum Beispiel ein System mit mehreren Trägern, wie Sie es vorgeschlagen haben, besser sind. Im Dialog mit den Ländern soll um die beste Lösung gerungen werden. Selbstverständlich wissen wir, dass wir das im Konsens erreichen müssen. Aber wie gesagt: Nach wie vor steht die Frage im Mittelpunkt, auf welche Lösung wir uns am besten einigen können. Ich möchte deshalb von dieser Stelle aus den Appell an die Länder richten, konstruktiv mit dem Bund zusammenzuarbeiten, damit wir die Strukturen effizienter machen können. Effizientere Strukturen in diesem Bereich sind auch ein entscheidender Beitrag, um das System zukunftsfest zu machen. ({1}) Ich denke, über diesen Punkt besteht wieder Einigkeit. Uns allen fällt die Aufgabe zu, auf die Landesregierungen einzuwirken, um entsprechende Lösungen zu erzielen. Der Bundesregierung wird im Einvernehmen mit den Koalitionsfraktionen die Aufgabe zufallen, die öffentlichen Gelder - ich formuliere es einmal so - auf den Kernbereich der landwirtschaftlichen Betriebe zu konzentrieren. Wenn das gelänge, dann wäre das ein wichtiger Beitrag, um dieses System - ich möchte das Wort noch einmal gebrauchen - zukunftsfest zu machen. Vielen Dank. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat das Wort der Kollege Siegfried Hornung, CDU/CSU-Fraktion.

Siegfried Hornung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000961, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage ist - wenn man es genau betrachtet - vage und enthält zentralistische Töne. In Wirklichkeit bezieht sich die Antwort mehr auf einen Nebenschauplatz. Mit ihr soll von den tatsächlichen Problemen abgelenkt werden. Die Agrar- und Sozialpolitik der CDU/CSU war und ist für die Landwirtschaft zuverlässig. Mit ihr bekennt sich die CDU/CSU nachdrücklich zu ihrer Verantwortung für die Menschen im ländlichen Raum. Die Agrarsozialreform 1995 hat unseren Landwirten ein Stück soziale Zukunft und unseren Bäuerinnen erstmals eine eigenständige soziale Absicherung gegeben, um damit einerseits den Strukturwandel zu meistern und andererseits die Einkommen in der Landwirtschaft zu stärken. ({0}) Die ehemalige Opposition hatte darüber hinaus sogar die Fortführung des FELEG oder einer entsprechenden Vorruhestandsregelung gefordert, was durchaus zu unterstützen war. Heute hört man davon nichts mehr, obwohl die EU entsprechende Ansätze bieten würde und die Sozialpolitik der einzige Bereich ist, der nicht von der EU reglementiert wird. Auch die Agrarsozialpolitik ist neben den Maßnahmen zur Abfederung der Strukturveränderungen ein hervorragendes Instrument, um ein so die entsprechenden Landwirtschaftsgesetze - angemessenes Einkommen für die Landwirte gegenüber vergleichbaren Berufs- und Erwerbsgruppen zu erreichen. Die rot-grüne Bundesregierung greift nun durch Kürzungen massiv in die agrarsoziale Sicherheit ein. Kleine und mittlere Betriebe werden durch die Kürzung von Beitragszuschüssen und durch den Griff in die Krankenkassen der Bauern überproportional belastet. ({1}) Auch die Bäuerinnenrente, die mit Ihrer Zustimmung eingeführt worden ist, ist in Gefahr. Die rot-grüne Bundesregierung missbraucht die landwirtschaftlichen Sozialversicherungen zur Sanierung des von ihr verschuldeten Bundeshaushaltes. ({2}) Das ist wohl das traurigste Kapitel dieser rot-grünen Regierung. Rot-Grün hat sich von der Landwirtschaft abgesetzt. Die Landwirtschaft stellt für diese Regierung einen Steinbruch dar, den man nach Bedarf ausplündern darf. ({3}) Eine Politik für die deutsche Landwirtschaft findet nicht mehr statt. Agenda 2000, Steuergesetze - teilweise mit „öko“ verbrämt - und besonders die rot-grüne Agrarsozialpolitik belasten die Landwirtschaft bis zum Unerträglichen. Gehen Sie nach draußen! Dann spüren Sie dies wie wir! ({4}) Die Regierung selbst nennt in ihrer Antwort die Steuerreform eine Nettobelastung für die Landwirtschaft. So werden heute Bauern mit anderen Mitteln von ihren Höfen vertrieben. ({5}) Die Schröder-Regierung kürzt bereits im Jahr 2000 bei der Alterssicherung der Landwirte - ohne Widerspruch des Bundeslandwirtschaftsministers - um 292 Millionen DM. In den folgenden Jahren, bis zum Jahr 2003, werden die Kürzungen auf 360 MillioParl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim nen DM jährlich ansteigen. Das heißt, mindestens zwei Drittel der heutigen Mittel werden gestrichen. Die bereits vorhin vorgetragene Aussage, dass etwa 80 Prozent des Agrarhaushaltes der Agrarsozialpolitik zuzuordnen sind, stimmt zwar; sie ist aber nicht der Landwirtschaft anzulasten. Vielmehr handelt es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, da immer mehr Bauern in andere Sozialsysteme einzahlen. Dafür dürfen die Bauern nicht bestraft werden. ({6}) Im Gegenteil, trotz der im Haushalt genannten Mittel sind die bäuerlichen Familien nach wie vor in der gesetzlichen Alterssicherung nur teilweise - bei der Unfallversicherung nur im unteren Bereich - abgesichert. Das gilt auch - Sie wissen das - für die 1995 im Konsens eingeführte Bäuerinnenrente. Das Wort „sozial“ muss nach diesen beschlossenen Kürzungen den Koalitionskollegen, liebe Frau Deichmann, und der Bundesregierung geradezu im Hals stecken bleiben oder die Schamröte ins Gesicht treiben. ({7}) Für die Alterssicherung der Landwirte bedeutete das, dass der Beitrag der Versicherten mit Höchstzuschuss ursprünglich um 160 Prozent erhöht werden sollte. Durch politischen Druck von verschiedenen Gruppen und von uns wurde diese Erhöhung auf „nur“ 110 Prozent festgelegt. Für ein Ehepaar bedeutet die Beitragserhöhung eine Kostensteigerung von 1 728 DM. 90 000 Bauern und Bäuerinnen erhalten keinen Zuschuss mehr. In der Unfallversicherung wird der bisherige Zuschuss zur Abmilderung der Rentenbeiträge der aktiven landwirtschaftlichen Betriebe - schlimmerweise von uns allen als „alte Last“ bezeichnet; manchmal sind wir so schnodderig - um 115 Millionen DM gekürzt. Darüber hinaus nimmt die Bundesregierung aus der landwirtschaftlichen Krankenkasse - sprich: von Beiträgen der Bauern - ungeniert zusätzliche 250 Millionen DM. ({8}) Durch die strukturellen Veränderungen in der Landwirtschaft und durch die Verringerung der Zahl der Betriebe stellt sich selbstverständlich auch die Frage nach der Struktur der landwirtschaftlichen Versicherungsträger. Diese Situation hat sich angesichts dieser soeben genannten tief greifenden Einschnitte in die soziale Sicherung der Landwirtschaft erheblich verschärft. Jedoch - das ist wohl nicht mehr im Bewusstsein aller - sind bereits seit einigen Jahren innerhalb des bäuerlichen Berufsstandes und der Sozialversicherungsträger konkrete Schritte diskutiert und eingeleitet worden. Durch ein neutrales Gutachten haben die Bundesverbände schon vor dem Bericht des Bundesrechnungshofs und vor dem Beschluss des Rechnungsprüfungsausschusses entsprechende Verträge über einheitliche künftige Entwicklungen und Anwendungen der Datenverarbeitung abgeschlossen. Auch die Anzahl der bisher 20 LSV-Träger soll - so die beschlossene Zielvorstellung auf sieben bis acht reduziert werden, wobei die eigenständige Versicherung des Gartenbaus erhalten bleiben soll. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Verhandlungen zwischen den LSV-Trägern betreffs Fusionen. Nach § 118 SGB VII ist dies in Hessen bereits vollzogen. In Bayern wurden entsprechende Verträge - die Anzahl der LSV-Träger wurde von fünf auf zwei verringert - abgeschlossen. In Baden-Württemberg wurde das Notwendige in dieser Woche von beiden Vorständen beschlossen, sodass zum 1. Januar 2001 eine einzige landesweite LSV besteht. Eine Bundeszentrale ist somit überholt und hätte nach den vorliegenden Gutachten keine bessere Effizienz. Im Gegenteil, eine große Zahl von SPD-regierten Ländern stimmt einer Zentralisierung nicht zu, was auch auf der Bund-Länder-Besprechung in dieser Woche, am 25. Januar, bestätigt wurde. Gegen eine Zentralisierung hat sich auch der Bundeslandwirtschaftsminister ausgesprochen. In „Agra-Europe“ vom 4. Oktober sagte er ich zitiere -: „Mit mir ist das nicht zu machen.“ Ich kann ihn nur unterstützen. Zahlreiche Entschließungen und Argumente belegen, dass mit dem eingeschlagenen Weg der Selbstverwaltung den veränderten Bedingungen in der Landwirtschaft am ehesten und besten entsprochen wird. Ich verweise auf das Positionspapier der LSV-Träger. Der verstärkte Einfluss des Bundes wird von den Ländern durchaus gesehen, sodass Gesprächsbereitschaft besteht, über den § 80 ALG hinaus sachgerechte Lösungen zu finden. Besonderen Wert lege ich als Landwirt darauf, dass es der vorgesehene Rahmenvertrag der LSV-Träger mit Dritten auch künftig ermöglicht, dass bei den Landesbauernverbänden vor Ort eine praxisnahe und betroffenengerechte Beratung durch die Beratungsstellen durchgeführt wird. Recht herzlichen Dank. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort die Kollegin Steffi Lemke, Bündnis 90/Die Grünen.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Große Anfrage der F.D.P. greift die Situation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung auf. Ich denke, wir alle hier im Hause wissen, dass das Verhältnis von Leistungsempfängern und Beitragszahlern insbesondere in der landwirtschaftlichen Alterssicherung in den vergangenen Jahren immer ungünstiger geworden ist und dass sich dieser Prozess noch fortsetzen wird. Wenn man sich nur einmal die mittlere Prognose in dem 1997 erstmals vorgelegten Lagebericht über die Alterssicherung der Landwirte anschaut, dann stellt man fest, dass selbst bei der mittleren Variante für den Zeitraum von 1996 bis 2007 von einem Rückgang der Versicherten um 37 Prozent auszugehen ist. Das hat natürlich gravierende Auswirkungen auf die Finanzierungsstruktur der landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Der Bund sieht sich deshalb in der Pflicht, hierfür weiterhin sehr hohe Zuschüsse zu leisten. Wir bekennen uns ausdrücklich zur Eigenständigkeit des agrarsozialen Sicherungssystems; dies wird in keiner Weise in Frage gestellt. Klar ist auch, dass die Alterssicherung der Landwirte weiterhin vorrangig durch Bundeszuschüsse finanziert werden muss; denn dazu gibt es keine Alternative. Ich will auch nicht bestreiten, dass durch die 1995 vollzogene Agrarreform etliche Defizite in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung beseitigt worden sind. Sowohl die Einführung der Defizitdeckung als auch die gezieltere Verwendung der Bundesmittel für Landwirte mit niedrigen und sehr niedrigen Einkommen haben zur Stabilisierung der Systeme beigetragen. Die Schaffung der eigenständigen Bäuerinnenrente und die Bindung der Beitrags- und Leistungsentwicklung an die gesetzliche Rentenversicherung waren zwei wesentliche Verbesserungen in den sozialen Leistungen für Landwirte. ({0}) Aber ein damals bereits bekanntes Problem, nämlich Mängel in der Organisationsstruktur, wurde nicht angegangen. Die Reform von 1995 war eine reine Sachreform. Erst mit dem Bericht des Bundesrechnungshofs zur Neugestaltung der Organisationsstruktur in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung kam Leben in die Debatte, ({1}) obwohl die Probleme schon länger bekannt waren. Wenn die CDU/CSU meint, dass der Vorschlag des Bundesrechnungshofs entsprechend der altbekannten Zentralismuskritik der CDU/CSU zu kritisieren ist, dann müsste sie das einmal mit dem Bundesrechnungshof ausdiskutieren. ({2}) Meiner Ansicht nach sind dort sehr wohl diskussionswürdige Vorschläge unterbreitet worden. Wir wollen eine Diskussion darüber führen. Ich denke, dass sich die CDU/CSU der Diskussion in den Ausschussberatungen nicht verweigern wird. ({3}) Bei jährlichen Verwaltungskosten in Höhe von 600 Millionen DM - diese Zahl sollten Sie sich noch einmal auf der Zunge zergehen lassen - ist die Forderung nach Ausschöpfung sämtlicher Einsparungspotenziale ja wohl berechtigt. Man kann unterschiedlicher Auffassung darüber sein, ob tatsächlich Einsparungen in Höhe von - wie vom Bundesrechnungshof prognostiziert - 100 Millionen DM zu erbringen sind. Aber niemand in diesem Hause zieht wohl ernsthaft in Zweifel, dass eine durchgreifende Organisationsreform unausweichlich ist. ({4}) Im Koalitionsvertrag haben Bündnis 90/Die Grünen und SPD die Neugestaltung der Organisation der agrarsozialen Sicherung vereinbart. Zur Vorbereitung eines entsprechenden Gesetzentwurfs werden momentan intensive Gespräche mit den Sozialversicherungsträgern und den Gewerkschaften, aber auch mit den Bundesländern geführt. Basis dieser Beratungen sind verschiedene Organisationsmodelle, die von den zuständigen Bundesressorts entwickelt wurden. Die Diskussion über das dann tatsächlich in einem Gesetzentwurf darzulegende Modell ist noch nicht abgeschlossen. Es ist nach Ansicht meiner Fraktion nicht ausreichend, wenn, wie gelegentlich und heute wieder von der CDU/CSU vorgeschlagen, nur einige der derzeitigen Träger fusionieren, im Übrigen aber alles beim Alten bleibt. Die Hauptziele einer Organisationsreform sind nach Ansicht meiner Fraktion erstens die Stärkung des Bundeseinflusses, zweitens die Verringerung der jeweils 20 Versicherungsträger, drittens das Schaffen der Voraussetzungen für eine sparsame Haushalts- und Wirtschaftsführung und viertens der Abbau ungerechtfertigter Unterschiede in der Rechtsanwendung. Dabei muss aus unserer Sicht die Orientierung an den Interessen der Versicherten gewahrt und müssen auch die Interessen der Beschäftigten berücksichtigt werden. Deshalb führen wir momentan sehr intensive Gespräche. Was heute seitens der CDU/CSU vorgetragen wurde, wird aus meiner Sicht absolut nicht ausreichend sein. Sie sollten die Diskussion, die in den vergangenen Jahren über eine solche Organisationsstrukturreform stattgefunden hat, eigentlich besser in Erinnerung haben. Endeffekt war bisher in der Regel, dass die Bemühungen im Sande verlaufen sind und wir nach wie vor eine ineffiziente Struktur vorfinden. Sie können das kritisieren. Aber die Vorschläge, die bisher auf dem Tisch liegen, sind nach unserer Ansicht nicht ausreichend. ({5}) Wir drängen deshalb darauf, dass die Länder mit zur Verantwortung gezogen werden, sich der Diskussion nicht verweigern und bereit sind, mit uns über weitgehendere Vorschläge als die, die bisher seitens der Länder gemacht worden sind, zu diskutieren. Der Bund steht aufgrund des Prinzips der Defizitdeckung in der Verantwortung. Er trägt bereits heute mit 57 Prozent der Gesamtkosten der agrarsozialen Sicherung den größten Anteil an der Finanzierung dieser Systeme. Ich denke, dass daraus die sehr wohl zu rechtfertigende Haltung abzuleiten ist, dass der Bund nicht nur als Zahlmeister in der Pflicht steht, sondern auch selber Verantwortung bei der sparsamen Mittelverwendung übernehmen kann. ({6}) Die Reform der landwirtschaftlichen Sozialversicherung ist kein Selbstzweck. Wir wollen das eigenständige System aufrechterhalten, weil nur so den Besonderheiten in der Landwirtschaft Rechnung getragen werden kann. Aber eine nur halbherzige Reform wird unweigerlich eine Gefährdung des eigenständigen Systems nach sich ziehen. ({7}) Die für mich zentrale Frage lautet deshalb: Wie erreichen wir auch zukünftig eine größtmögliche soziale Absicherung für die Betroffenen bei geringstmöglichem Aufwand an Bürokratie und kalkulierbarer Kostenentwicklung? Diese Frage wird für meine Fraktion die Richtschnur für die weiteren Gespräche sein. Was uns in dem Entschließungsantrag der PDS vorgeschlagen wird, ist für mich im Hinblick auf die Debatte wenig hilfreich. Angesichts dessen, dass Sie die Bundesregierung auffordern, ihren Standpunkt zu korrigieren, was die Agenda 2000 sowie die Steuer- und Haushaltspolitik anbetrifft, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass wir uns im Jahre 10 nach der deutschen Einheit befinden und ich mich mit Aufforderungen wie solchen, irgendwelche Standpunkte zu korrigieren, in die Vergangenheit zurückversetzt fühle. Ich möchte Sie außerdem fragen, ob Sie wissen, was Ihre Partei momentan in Sachsen-Anhalt tut, wo mit Unterstützung der PDS massive Einschnitte in die Kinderbetreuung vorgenommen werden und wo seitens der PDS ein Volksbegehren ignoriert worden ist. Ich denke, dass die PDS aufhören sollte, sich zum Rächer der Enterbten aufzuspielen und sich vernünftigen Diskussionen über die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme nicht länger verweigern sollte. ({8}) Sie werden sich aus dieser Diskussion weder auf Bundes- noch auf Landesebene heraushalten können. Mit einem solchen Antrag, wie Sie ihn heute vorgelegt haben, beteiligen Sie sich an dieser Diskussion in keiner Weise. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort die Kollegin Kersten Naumann, PDS-Fraktion.

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um fast 500 Millionen DM hat die Bundesregierung im Haushalt 2000 die Mittel für die landwirtschaftliche Sozialpolitik gekürzt. Weitere Einschnitte sind geplant. Noch im Finanzplan 1999 ging die Bundesregierung von einem wachsenden Finanzbedarf zum Beispiel für die Alterssicherung der Landwirte aus, wobei man für das Jahr 2002 von 4,7 Milliarden DM ausgegangen ist. Im Finanzplan 2000 sieht die Bundesregierung jedoch einen Wert vor, der um 524 Millionen DM darunter liegt. Bis zum Jahre 2002 will sie weitere Kürzungen vornehmen. Ähnlich ist die Situation bei der Krankenversicherung. Minister Funke hat auf der Grünen Woche erneut davon gesprochen, dass Hofaufgaben in Höhe von jährlich 4 Prozent eine „ganz normale Sache“ seien. Nun lässt sich ja darüber streiten, was eine ganz normale Sache ist. Für die Bundesregierung ist die „ganz normale Sache“ jedenfalls nicht Anlass, eine soziale Absicherung zu garantieren, sondern Objekt der Begierde des Sparfetischismus. Dass die Kürzungen im Haushalt 2000 keine Ausnahme darstellen werden, ergibt sich zum Beispiel aus der Antwort der Bundesregierung, in der sie die Konsolidierung des Bundeshaushaltes für unausweichlich erklärt. ({0}) Bei dieser Konsolidierung setzt sie jedoch nicht auf Festigung im Sinne des Wortes, sondern auf Kürzungen des Gesamthaushaltes. Mit den hochtrabend als „Zukunftsprogramm 2000“ bezeichneten Maßnahmen gehen die Einkommen der landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetriebe selbst nach Auskunft der Regierung um rund 6 Prozent zurück. Unter diesen Bedingungen ist die Feststellung in der Regierungsantwort „Eine dramatische Beschleunigung des Strukturwandels erwartet die Bundesregierung nicht“ entweder Wunschdenken oder Ignoranz gegenüber der Wirklichkeit. Der Strukturwandel wird nicht nur an den Hofaufgaben deutlich. Er spiegelt sich auch in den sinkenden Einkommen der Bauern und der zunehmenden Ungewissheit über ihre Zukunft wider. Wenn trotz der hohen Arbeitslosigkeit 70 Prozent der Familienbetriebe keinen Hofnachfolger haben, dann ist doch etwas faul im Staate und auch in der Politik. Die neuesten Zahlen zeigen, dass 53 Prozent der Betriebe ihr Eigenkapital aufzehren und nur ein Drittel der Betriebe in ausreichendem Maße Eigenkapital bilden kann. Unsere Alternativen zur Korrektur dieser Politik haben wir unter anderem in unserem Entschließungsantrag dargelegt. Ich möchte Ihnen jedoch abschließend an einem weiteren Beispiel die Konsequenzen der Sparpolitik der Regierung demonstrieren; Kollege Hornung brachte vorhin schon ein Beispiel. In dieser Woche hat uns ein Bauer aus Niedersachsen seinen Beitragsbescheid von der landwirtschaftlichen Alterskasse zugeschickt. Im Ergebnis der Erhöhung des Regelsatzes und der Absenkung der Einkommensobergrenze für den Zuschuss erhöht sich der monatliche Beitrag für die Familie um 200 DM bzw. um 62,5 Prozent. Damit beträgt die zusätzliche Belastung für diese Familie 2 400 DM im Jahr. Das sind für eine bäuerliche Familie wahrlich keine Peanuts. Die eine Seite der Medaille ist also, die soziale Abfederung des Agrarstrukturwandels zu garantieren. Die zweite Seite gilt der Umstrukturierung der landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger. Sie muss auf die weitestgehende Erhaltung der Arbeitsplätze sowie auf die bestehenden Arbeits- und insbesondere Tarifbedingungen für die Beschäftigten gerichtet sein. Bei einem unvermeidlichen Abbau von Arbeitsplätzen sind durch Sozialpläne die Interessen der Ausscheidenden zu berücksichtigen. Die soziale Grundsicherung ist für die PDS dabei Mindestmaßstab. Außerdem sind die Initiativen der Gewerkschaften und Betriebsräte zur aktiven Mitgestaltung an der Umstrukturierung der landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger maximal zu nutzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Ihre Bitten - ich sage bewusst Bitten; Sie haben keine Forderungen aufgestellt - an die Bundesregierung sind uns einfach zu biegsam. Das geht frei nach dem Motto: Eine weiche Formulierung lässt mehr Freiräume zur Nichterfüllung. ({1}) Aus diesem Grund wird die PDS-Fraktion dem Antrag der Koalition nicht zustimmen. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich der Kollegin Christel Deichmann, SPD-Fraktion, das Wort.

Christel Deichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002638, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Koppelin, ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir hier ein bisschen Wahlkampfgetümmel aus SchleswigHolstein haben. ({0}) Wir hatten das vor vier Jahren fast punktgenau auch vor den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein. Damals waren Sie Experte in Sachen Milch. Jetzt sind Sie Experte in Sachen Bäuerinnenrenten. Das ist sehr bemerkenswert. ({1}) Ich bin inzwischen ebenfalls in Schleswig-Holstein gewesen - das sage ich auch in Richtung der CDU/CSU - und habe mit Bauernverbandskreisvorsitzenden gesprochen. Sie haben mir gesagt: Machen Sie weiter, Sie sind auf dem richtigen Weg. ({2}) Das waren weiß Gott keine rot-grünen Koalitionäre. ({3}) - Darüber können wir uns noch unterhalten. 1997 war der Bauerntag in Braunschweig. An dem haben Sie leider nicht teilgenommen; Herr Hammerstein ist da gewesen. Er widmet sich jetzt nicht mehr diesem Thema, hat aber zwischenzeitlich die Abschaffung der Berufsgenossenschaften gefordert. Ich sage das nur zur Erinnerung; aber Sie wissen das sicherlich selbst. 1997 habe ich in Braunschweig gesagt: Der Strukturwandel und der Rückgang der Versichertenzahlen gehen weiter - der Handlungsdruck in Richtung Organisationsreform steigt unaufhörlich, und wenn das System nicht überstrapaziert und damit gefährdet werden soll ..., Handeln Sie selbst, bevor die Politik handelt! ({4}) Dabei muss darauf geachtet werden, dass das bewährte Konzept der landwirtschaftlichen Sozialversicherung ({5}) in der Fläche erhalten bleibt. Wo bisherige Parallelarbeit überflüssig wird, kann und muss zum Teil die Betreuung der Versicherten ausgebaut werden, anderenfalls müssen in jedem Fall sozialverträgliche Lösungen gefunden werden. Ich denke, das gilt heute noch genauso wie 1997. Allerdings ist mit großem Bedauern festzustellen: Die Systeme, der Berufsstand selber haben nicht gehandelt. Das, was wir gegenwärtig erleben, ist auch erst das Ergebnis der Diskussionen, die wir im letzten Jahr vorangetrieben haben. ({6}) - Herr Hornung, Sie wissen das genauso gut wie ich. Das ist alles wahr. Das ist leider - so muss ich sagen bittere Wahrheit. ({7}) - Nein, nein! Fakt ist: Wir müssen zu signifikanten Veränderungen bezüglich der Organisation kommen, damit wir auch in der Zukunft das gewährleisten können, was unabdingbar erforderlich ist, nämlich die Eigenständigkeit des Systems. Agrarsozialpolitik ist auch Agrarstrukturpolitik. Die Veränderungen, die vor uns stehen - das haben alle in ihren Beiträgen bestätigt -, müssen entsprechend begleitet werden. Sicherlich ist der schwierigste Part hierbei die Diskussion mit den Ländern. Die Länder haben aber auf der Agrarministerkonferenz im September letzten Jahres in Freiburg - das ist in einer Protokollnotiz des Landes Sachsen enthalten - gesagt, der Bund solle neben fünf vorgelegten Lösungsmodellen weitere Optionen für die Neugestaltung der LSV prüfen. Die Länder verschließen sich also auch nicht der Diskussion, sondern sagen: Hier muss unbedingt etwas passieren mit den Zielen bestmögliche Entlastung der Beitragszahler, Schaffung von schlanken Verwaltungsstrukturen, Kostendämpfung, einheitlichere Satzungen und Beitragssätze - das wollen sogar die Länder -, gleichmäßigere Lastenverteilung, Ausgleich von Strukturveränderungen durch größeren Finanzverbund. Ich fordere Sie auf: Helfen Sie mit, hier eine Zukunftslösung zu finden! Wir sollten nicht suchen, was alles nicht geht, sondern sollten uns dort verständigen, wo Gemeinsamkeiten sind, und von diesem Punkt aus die Lösung erarbeiten. Dies muss kurzfristig, noch in dieser Legislaturperiode geschehen, damit bei den nächsten Sozialwahlen im Jahre 2005 wirklich mit dem Neueinstieg begonnen werden kann. Vielen Dank. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Albert Deß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über die Reform der landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger diskutieren, so ist das keine neue Diskussion. Ich bin jetzt seit fast zehn Jahren im Deutschen Bundestag, und wir haben über dieses Thema schon sehr oft diskutiert. Es gibt verschiedene Alternativen. Der Bundesrechnungshof schlägt immer wieder vor, dass innerhalb eines Übergangszeitraumes eine zentralistische Einrichtung geschaffen werden sollte. Die Bundesregierung hat diese Forderung anscheinend übernommen. Ich bin strikt dagegen. Die CDU/CSU-Fraktion ist dagegen, dass hier eine bundesweite Einrichtung geschaffen wird. Die Bundesländer sind in ihrer großen Mehrheit ebenfalls dagegen. Ich warne auch davor, zu glauben, dass mit der zentralistischen Einrichtung die Verwaltungskosten gesenkt werden können. ({0}) Wir haben in Bayern die Erfahrung mit der Reform der AOKs. Mir ist bekannt, dass die Verwaltungskosten bei der AOK Bayern, nachdem sie zentralistisch verwaltet wird, nicht gesunken sind. Eher ist das Gegenteil der Fall. Ich weiß aus der Gemeindegebietsreform, dass die Verwaltungskosten in den größeren Einheiten meistens höher geworden sind, als es vorher bei den kleineren der Fall war. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird vor Ort auch bereits gehandelt. Es ist nicht so, dass das erst auf Druck der heutigen Diskussion geschieht. Der Kollege Siegfried Hornung hat es angesprochen. In Bayern, wo schon bisher nicht die kleinsten Sozialversicherungsträger waren, werden aus fünf Einheiten zwei Verwaltungseinheiten. Der Bayerische Bauernverband unterstützt in Eigenverantwortung vor Ort die Bestrebungen, in Bayern zwei größere Verwaltungseinheiten zu schaffen. Die Bundesregierung liegt falsch, wenn sie glaubt, dass sie nur über zentralistische Einrichtungen ihren Einfluss geltend machen kann. Die Bundesregierung kann dies auch ohne sie tun. Man täuscht doch die Menschen, indem man sie glauben macht, dass dieser Einfluss irgendeine positive Auswirkung auf unsere Bäuerinnen und Bauern hätte. ({1}) Das Gegenteil ist der Fall: Wo die Bundesregierung die Verantwortung trägt, nämlich in der Agrarsozialpolitik, findet eine Kahlschlagspolitik statt. In diesem Bereich werden die Bäuerinnen und Bauern belastet. Dieser Punkt muss hier deutlich angesprochen werden. ({2}) Rot-grüne Agrarpolitik belastet unsere Bäuerinnen und Bauern und den bäuerlichen Berufsstand insgesamt in einem unerträglichen Ausmaß. Diese Politik wird dazu führen, dass der Strukturwandel in der Landwirtschaft so beschleunigt wird, wie wir es uns heute wahrscheinlich noch gar nicht vorstellen können. Ich habe die entsprechenden Zahlen herausgesucht. In den 16 Jahren der Regierungsverantwortung von CDU/CSU und F.D.P. betrug der Strukturwandel im Durchschnitt 2,41 Prozent pro Jahr. An dieser Zahl wird sich die neue Bundesregierung messen lassen müssen. Ich gehe davon aus, dass wir in absehbarer Zeit Zahlen erreichen, die einen Strukturwandel von über 5 Prozent belegen. Es wird ein Höfesterben stattfinden, wie es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nie der Fall war. ({3}) Die Sparbeschlüsse der rot-grünen Bundesregierung zum 1. Januar 2000 belasten unsere bäuerlichen Familien. Vor allem die einkommensschwächsten Familien Kollege Siegfried Hornung hat diesen Punkt schon angesprochen - werden belastet. Angesichts der Tatsache, dass gerade die Bäuerinnen und Bauern, die das niedrigste Einkommen haben, mit bis zu über 100 Prozent mehr belastet werden, frage ich mich schon, wo das soziale Gewissen der Sozialdemokraten geblieben ist. Ich würde mich freuen, wenn das soziale Gewissen der SPD hier mehr zum Vorschein käme. ({4}) Was mich in der ganzen Diskussion um Subventionen in der Landwirtschaft und im Agrarsozialbereich besonders ärgert, ist die Tatsache, dass die Landwirtschaft mit durchschnittlich über zwei Kindern pro Familie einen Beitrag zum Generationenvertrag in unserem Land leistet, der weit über dem Durchschnitt unserer Bevölkerung liegt. Wenn ein eigenständiges Sozialversicherungssystem, das auch die nachgeborenen Kinder in der Landwirtschaft einschließt, möglich wäre, dann wäre in diesem Bereich der Generationenvertrag finanzierbar. Das ist unserem Land aber leider nicht möglich. Ich bin überzeugt, dass die bäuerlichen Familien mit ihren Kindern, die in ihrem späteren Berufsleben Beiträge in andere Sozialversicherungssysteme zahlen, in diesem ganzen System Nettozahler sind. Deshalb sollten wir uns abgewöhnen, von einer „alten Last“ zu sprechen. Wir alle haben dieses Wort leichtfertig ausgesprochen. Unsere Landwirte sind ein positiver Faktor in unChristel Deichmann serem Land und keine „alte Last“. Dies möchte ich hier zum Ausdruck bringen. ({5}) Lieber Staatssekretär Gerald Thalheim, du hast früher öfter eine Vorruhestandsregelung gefordert. Jetzt wäre der Zeitpunkt für eine solche Regelung, weil die Landwirtschaft weit mehr als andere Berufsgruppen durch die Ökosteuer belastet wird. Die Einnahmen aus der Ökosteuer könnten sinnvoll in die Landwirtschaft wieder zurückfließen, indem man eine Vorruhestandsregelung schafft, die sozialverträglich den Landwirten den Ausstieg ermöglicht, zumal diese rot-grüne Agrarpolitik viele Bauern zum Ausstieg zwingt. ({6}) Es bleibt das Geheimnis dieser rot-grünen Bundesregierung, wie die deutschen Landwirte schlagkräftiger und wettbewerbsfähiger werden können, wenn auf nationaler Ebene im europäischen Vergleich eine glatte Wettbewerbsverzerrung erfolgt. ({7}) Minister Funke müsste einmal erklären - er sollte nicht immer durch Abwesenheit glänzen -, wie die deutschen Bauern wettbewerbsfähiger werden können. Mit dieser rot-grünen Agrarpolitik werden sie es auf jeden Fall nicht. ({8}) Auch ein weiterer Punkt ärgert mich. Der Bundeskanzler hat die Holzmann-Fastpleite sehr medienwirksam verkauft. Ich bin aber überzeugt, dass diese rotgrüne Agrarpolitik in der deutschen Landwirtschaft weit mehr Arbeitsplätze gefährdet, als bei Holzmann überhaupt vorhanden sind. ({9}) Aber leider kann man diese Arbeitsplätze in der Landwirtschaft nicht medienwirksam verkaufen. Hier liegt das große Problem. Zu dieser rot-grünen Arbeitsplatzvernichtung schweigt der Bundeskanzler, schweigt der Bundeslandwirtschaftsminister. Hier ist Schweigen im Walde. ({10}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, beide werden ihrer Verantwortung der deutschen Landwirtschaft gegenüber nicht gerecht. Ich darf, wenn es mir die Zeit erlaubt, noch einige Punkte aus SPD-Aussagen zitieren, die alle nicht eingehalten worden sind. Die SPD hat in ihr Bundestagswahlprogramm hineingeschrieben: „Wir wollen eine Agrarpolitik, die das Überleben der bäuerlich strukturierten Landwirtschaft ermöglicht.“ ({11}) Genau das Gegenteil praktizieren Sie heute. Eine Aussage in der Koalitionsvereinbarung lautet: Die neue Bundesregierung wird die ländlichen Räume stärken und die Landwirtschaft auf der Grundlage einer reformierten EU-Agrarpolitik sichern. ({12}) Auch diese Aussage, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist doch in Anbetracht der Beschlüsse, die Sie gefasst haben, eine Verhöhnung des bäuerlichen Berufsstandes. ({13}) Dann kommt der Bundeslandwirtschaftsminister. Er hat im „top-agrar“-Interview im November 1998 gesagt: Steuerliche Mehrbelastungen sind für die Landwirtschaft in der jetzigen Situation nicht verkraftbar, und dies will die SPD auch nicht. Ja, hat sich gegenüber vorigem Jahr die Situation in der Landwirtschaft heuer verbessert, dass man sie heuer belasten kann? Hier werden doch Versprechungen gebrochen. Bei einer weiteren Aussage - damit, Frau Präsidentin, komme ich zum Schluss - ist das Gleiche der Fall. Der Bundeslandwirtschaftsminister hat im gleichen Interview gesagt: „Ich kann die Landwirte beruhigen: Die Gasölbeihilfe bleibt.“ Ja, wo ist er denn, der Bundeslandwirtschaftsminister, wo bleibt denn die Gasölbeihilfe? Meine sehr verehrten Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion wird zu den Themen, die die Landwirtschaft betreffen, nicht schweigen. ({14}) Wir werden die Interessen der Bauern hier immer wieder einklagen. Wir werden nicht zulassen, dass die deutsche Landwirtschaft von dieser rot-grünen Bundesregierung geopfert wird. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Waltraud Wolff, SPD-Fraktion.

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich sehr gefreut, als letzte Rednerin zu diesem Thema zu sprechen, weil ich eigentlich gern weiter ausholen wollte. Aber ich muss Ihnen sagen: Ich habe nicht das Gefühl, dass dieses existenzielle Thema dazu geeignet ist, hier einen Schlagabtausch zu führen. Ich habe auch heute schon so viele Halbwahrheiten gehört, dass es mir den Magen umdrehen könnte. Denn wenn man in internen Gesprächen auch mit Kollegen der Opposition spricht, meinen sie schon, dass wir auf dem richtigen Weg sind. ({0}) Ich werde Ihnen heute zeigen, dass unser Modell nicht mehr vage ist. Ich werde Ihnen zeigen, dass wir vorhandene Strukturen nutzen und regionale Betreuung gewährleisten werden. Herr Koppelin, hören Sie heute gut zu! Sie werden sehen, dass wir auch die regionale Betreuung gewährleisten. Wir werden uns, Herr Hornung und Herr Deß, ganz einfach an einem modernen Versicherungssystem in einer modernen Landwirtschaft messen lassen. ({1}) Es hat sich etwas getan auf der Landesebene. Das ist hier mehrfach angesprochen worden. Ich meine auch, dass die Bemühungen in den Ländern auf Druck des Bundes sehr forciert wurden. Allerdings reichen diese Bestrebungen noch lange nicht aus. Ich betone zu Beginn ganz deutlich, dass die tief greifende Reform, die wir vor uns haben, eine breite Zustimmung braucht und dass alle Beteiligten aufeinander zugehen müssen. In den letzten Jahren mussten wir einen signifikanten Rückgang der Versichertenzahlen in der Landwirtschaft feststellen. Zum Beispiel ist von 1996 auf 1997 die Zahl der Versicherten der landwirtschaftlichen Alterskasse bundesweit von 511 000 auf 475 000 zurückgegangen. Mittlere Prognosen für 1997 bis 2007 weisen eine weitere Verringerung um 189 000 aus. ({2}) Wir wollen uns darüber im Klaren sein, dass wir von dann noch 322 000 Versicherten sprechen. Dieser Rückgang korreliert mit dem Rückgang der Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe. Das ist vorhin auch schon einmal angesprochen worden. In den alten Bundesländern ging die Anzahl der Hofstellen von 1991 bis 1999 von knapp 632 000 auf ungefähr 432 000 zurück. Das bedeutet - das muss man sich einmal vor Augen führen - eine Aufgabe von 31 Prozent der Höfe. Es wird immer gesagt, die neue Bundesregierung grabe der Landwirtschaft das Wasser ab. Von 1991 bis 1998 waren aber nicht wir verantwortlich und trotzdem gab es ein Höfesterben. ({3}) Wir wollen die Eigenständigkeit der landwirtschaftlichen Sozialversicherung erhalten. Wir wollen bei den Beiträgen den Versicherten Rechnung tragen ({4}) und wollen bei den Kosten für die agrarsoziale Sicherung den Steuerzahlern gegenüber Verantwortung zeigen. Das möchte ich ganz deutlich herausstellen. ({5}) Eine moderne Landwirtschaft braucht ein modernes Versicherungssystem. Seit Jahren sind sich Bund, Länder und auch Versicherungsträger darüber einig, dass eine Neugestaltung erfolgen muss. Sie ist unumgänglich. Die vorgelegten Konzepte - davon gab es schon mehrere - sind allerdings halbherzig. Man muss feststellen: Wenn kein Druck vom Bund kommt, dann ist die freiwillige Bewegung gleich null. Auch das möchte ich deutlich machen. ({6}) - Längst vorher, Herr Hornung. Auf die Frage der F.D.P., ob das agrarsoziale Sicherungssystem gefährdet sei, kann ich nur antworten: Ja, nämlich dann, wenn alles beim Alten bleibt. ({7}) Es gibt Gemeinden, in denen heute auf einen Jungbauern circa 18 Altenteiler kommen. Wer soll das noch bezahlen? Wer will denn da noch Verantwortung tragen? ({8}) Die Notwendigkeit für die Neuorganisation liegt klar auf der Hand: Es sind die unwirtschaftlichen Strukturen, die die Defizitdeckung durch die Bundesmittel infrage stellen. Der Bund ist mit 68 Prozent der Kosten dabei. Hier muss eingegriffen werden. Aber das ist der Knackpunkt der ganzen Geschichte: Wir haben aus Bundessicht nicht die richtigen Eingriffsmöglichkeiten. Deshalb ist es erforderlich, den Bund zukünftig direkt an der Rechtsaufsicht zu beteiligen und effiziente Strukturen zu schaffen. Einvernehmliche Beschlüsse des Haushaltsausschusses und des Rechnungsprüfungsausschusses vom Oktober des letzten Jahres haben gezeigt, dass nicht nur die Bundesregierung allein, sondern auch Sie, die Kolleginnen und Kollegen der Opposition, den Handlungsbedarf gesehen haben. Beide Ausschüsse haben einvernehmlich das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung beauftragt, bis Ende 2000 einen möglichst mit den Ländern abgestimmten Gesetzentwurf einzubringen. Außerdem ist die Bundesregierung beauftragt worden, bis Ende März dieses Jahres einen Sachstandsbericht vorzulegen. Im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ist der Entschließungsantrag zum Bedauern der SPD allerdings ohne die CDU/CSU eingebracht worden. An dieser Stelle kommen mir die Opposition und alle Waltraud Wolff ({9}) Kritiker eines Bundesmodells so vor wir ein Assistenzarzt während der Visite: Er steht am Bett des Kranken, erkennt, dass Hilfe geboten ist, möchte dem Patienten selber nicht noch zusätzlich Schmerzen zufügen und hofft, dass andere die lebensrettenden Maßnahmen einleiten. - So können und dürfen Sie sich nicht verhalten. ({10}) Zur Realisierung des Gesetzesvorhabens: Wir wollen noch in dieser Legislaturperiode die Neuorganisation verwirklichen, in diesem Jahr die Reform beschließen und vor der nächsten Sozialwahl die Umsetzung vollzogen haben. ({11}) - Ich werde noch genauer. Sie werden noch zuhören müssen. - Bund und Länder haben in dieser Frage unterschiedliche Interessen; das ist ganz logisch. Aber es gilt, an dieser Stelle einen gemeinsamen Weg zu finden. Knapp zusammengefasst fordert der Bundesrechnungshof die Verschlankung der Strukturen, die Verbesserung der Wirtschaftlichkeit und die Stärkung des Bundeseinflusses. Die Länder sind darauf aber nicht eingegangen. Bei zehn bis zwölf Trägern kann von Verschlankung keine Rede sein. Wir haben einen Vorschlag vorgelegt, der zwischen dem des Bundesrechnungshofs und dem der Länder steht: Ein bundesweit arbeitender Träger im Gartenbau ist schon vorhanden. Wir wollen einen weiteren Träger mit vier rechtlich selbstständigen Selbstverwaltungskörperschaften für die Land- und Forstwirtschaft errichten, nämlich der Berufsgenossenschaft, der Krankenkasse, der Pflegekasse und der Alterskasse. ({12}) Damit wird das Nebeneinander von bundes- und landesunmittelbaren Trägern aufgelöst und es wird die innerlandwirtschaftliche Solidarität verbessert. Die regionalen Belastungsunterschiede können aufgehoben werden. Der Bund erhält endlich - den Zuschüssen für die Defizitdeckung entsprechend - die notwendige Steuerungsfunktion. Die Rechtsaufsicht, die Genehmigung der Haushaltspläne und die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung werden deutlich verbessert. Trotzdem ist eine gewisse regionale Eigenständigkeit gewährleistet. ({13}) - Es sind keine Wunschvorstellungen - Servicezentren vor Ort, mobile Betreuungsdienste oder Versichertenälteste können die persönliche Kontaktpflege übernehmen. Mit dem regionalen Unterbau, den wir geplant haben, ist auch ein erheblicher Teil der Arbeitsplätze gesichert. Notwendige Einsparungen, die auch bei anderen Modellen erfolgt wären, werden selbstverständlich sozialverträglich ausgestaltet. Eine solche Reform kann selbstverständlich nur stufenweise erfolgen. Das ist ganz klar. Das kann man nicht übers Knie brechen. Sie muss mit der Errichtung einer Kopfstelle für den neuen Bundesträger beginnen. Dieser ist dann für den Aufbau der Struktur verantwortlich. Schrittweise geben dann die noch bestehenden landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger die künftig vom Bundesträger wahrzunehmenden Aufgaben an diesen ab. Durch die Zusammenlegung der Verwaltung und durch die Personalfluktuation werden dann die sechs bis acht Bezirksverwaltungen gebildet. Dies wird nicht übers Knie gebrochen, sondern in einem Zeitrahmen bis 2005 geschehen - eine Chance, die wir nicht vergeben sollten. ({14}) Meine Damen und Herren, wir stehen gemeinsam vor der Frage der Neuorganisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Wir wissen, sie ist notwendig, und wir haben die Verantwortung dafür. Wenn ein Arzt einem Schwerkranken immer nur die Hand tätschelt und sagt: „Na ja, es wird schon besser“, obwohl er weiß, dass es auf diesem Weg nur bergab geht, würden wir ihn alle als unredlich bezeichnen. Aber Arzt und Patient hätten eine gemeinsame Chance, wenn sie einen Behandlungsplan aufstellen würden. Wir sind zwar keine Ärzte, wir sind in der Politik, aber wir haben aus diesem Grund die politische Verantwortung, für eine zukunftsorientierte Neuorganisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung zu sorgen. Ich lade Sie dazu ein, bei diesem Modernisierungsprozess mitzumachen und im Interesse von Bund und Ländern, von Steuerzahlern und von Versicherten gemeinsam einen Konsens zu finden. Bewegen Sie sich, meine Damen und Herren von der Opposition, und stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu! Vielen Dank. ({15})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/2572. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen von PDS, CDU/CSU und F.D.P. ist der Entschließungsantrag angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2574. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Hanna Wolf ({0}), Lilo Friedrich ({1}), Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, weiteren AbgeordneWaltraud Wolff ({2}) ten und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Marieluise Beck ({3}), Claudia Roth ({4}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ausländergesetzes - Drucksache 14/2368 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({5}) Rechtssausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Hanna Wolf, SPD-Fraktion, das Wort.

Hanna Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Heute setzen die Regierungsfraktionen wieder einen weiteren wichtigen Punkt ihrer Koalitionsvereinbarung um. Es ist der Gesetzentwurf zur Änderung des § 19 des Ausländergesetzes. Dieser Entwurf ist auf Initiative der Frauen in beiden Fraktionen entstanden. Deshalb möchte ich besonders die Frauen der Opposition herzlich einladen, diesem Gesetzentwurf ebenfalls zuzustimmen. Ich setze darauf, dass dies auch viele Männer tun. Denn ich denke, wir waren uns in diesem Parlament immer einig: Wenn es um Menschenrechte, um Frauenrechte geht, sollten wir diese alle gemeinsam stärken oder fordern. ({0}) In diesem Gesetzentwurf geht es um das eigenständige Aufenthaltsrecht von ausländischen Ehegatten. Es geht um die klare Regelung von Härtefällen, das heißt, es geht in fast allen Fällen um die Menschenrechte von ausländischen Ehefrauen und es geht auch um Kinderrechte. Der Gesetzentwurf ist ebenfalls in dem weiteren Zusammenhang unserer Bemühungen zu sehen, häusliche Gewalt einzudämmen. Dazu wird diese Bundesregierung weitere Gesetzentwürfe vorlegen. Die heutigen Oppositionsfraktionen CDU/CSU und F.D.P. werden sagen: Wir haben § 19 des Ausländergesetzes doch erst 1997 und davor 1990 geändert. - Das ist wahr. Ebenso wahr ist aber auch, dass es jedes Mal Stückwerk geblieben ist. Sie haben unsere Fallbeispiele damals in den Beratungen nie ernst genommen. Sie haben immer wieder den Missbrauch des Gesetzes an die Wand gemalt. Ganz besonders hart zeigten sich der damalige Innenminister Kanther ({1}) und mit ihm Hand in Hand sein bayerischer Kollege Beckstein. Wenn man jetzt einen Blick nach Hessen wirft, merkt man, welche ganz anderen Dimensionen sich hinter dem Begriff „Missbrauch“ verbergen. ({2}) Die besten Gesetze können einen Missbrauch nicht völlig ausschließen. Wir messen aber die Qualität von Gesetzen daran, ob sie diejenigen tatsächlich schützen, die sie zu schützen vorgeben. Das ist in der bestehenden Version des § 19 des Ausländergesetzes nicht der Fall. Der Verband binationaler Familien und Partnerschaften hat zusammen mit der Frauenhaus-Koordinierungsstelle die Auswirkungen des seit 1997 bestehenden Gesetzes untersucht. Die Ergebnisse sind nach wie vor erschreckend. Ein großer Fehler bisher ist, dass auf dem Wege ergänzender oder fehlender Verwaltungsvorschriften eine ungleiche Behandlung in den einzelnen Bundesländern herrscht. Minister Beckstein in Bayern hat eine gänzlich andere Vorstellung von „außergewöhnlicher Härte“ als zum Beispiel die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen. Unterschiedliche Landesvorgaben und unterschiedliche örtliche Behördenpraxis werden für die betroffenen Frauen zum Roulette. Deshalb haben wir in unserem Gesetzentwurf den Begriff der „außergewöhnlichen Härte“ durch den Begriff der „besonderen Härte“ ersetzt und diesen klar definiert. Gleichzeitig haben wir dafür gesorgt, dass dieses Gesetz nicht mehr zustimmungspflichtig ist. Wir wollen gleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland, auch für Ausländerinnen. ({3}) Die „besondere Härte“ ist sowohl an Umstände geknüpft, die es dem Ehegatten, in der Regel der Ehefrau, unmöglich machen, die Ehe fortzusetzen. „Besondere Härte“ kann aber auch im Herkunftsland begründet sein, wenn die Rückkehr für die geschiedene Frau schwerwiegendere Folgen hat als für andere Ausländer, die Deutschland nach einer kurzen Aufenthaltszeit verlassen müssen. Wenn eine „besondere Härte“ festgestellt ist, entfällt jegliche Frist und das eigenständige Aufenthaltsrecht wird ausgesprochen. In diesem Parlament habe ich schon mehrfach den Fall der Kurdin Tülay Oguz aus Kempten in Bayern angesprochen. Sie wurde von ihrem Ehemann jahrelang schwer misshandelt und teilweise von der Familie des Mannes wie eine Sklavin gehalten. Sie ließ sich daraufhin scheiden. Zu den Misshandlungen wurde sowohl erstinstanzlich wie auch auf eine Petition im Bayerischen Landtag hin festgestellt - jetzt hören Sie zu! -, dass sie weder zu Siechtum noch zu bleibenden körperlichen Schäden geführt hätten. Also liege eine „außergewöhnliche Härte“ nicht vor. Wie zynisch können Urteile sein! Psychische Gewalt wurde überhaupt nicht berücksichtigt, auch nicht das Kindeswohl. Frau Oguz hat zwei Kinder, die in Deutschland geboren wurden. Nach viereinhalb Jahren Rechtsstreit ist die Stadt Kempten diese Woche einer Entscheidung des zuständigen bayerischen Verwaltungsgerichts zuvorgekommen. Sie hat Frau Oguz endlich eine Aufenthaltsbefugnis erteilt. Das war für die Kommune eine reine Ermessensfrage. Vizepräsidentin Anke Fuchs Für Frau Oguz freut mich das außerordentlich. Sie können aber davon ausgehen, dass dieser Abschluss ohne die Solidarität der Menschen in Kempten, ohne den politischen Druck der SPD-Frauen und Grünen-Frauen und ohne den Druck der Medienberichterstattung nicht möglich gewesen wäre. Ein klares Gesetz dagegen hätte Frau Oguz diese Tortur erspart. ({4}) Damit komme ich zu der zweiten Neuerung unseres Gesetzentwurfs: Die Mindestdauer des ehelichen Aufenthalts in Deutschland soll von vier auf zwei Jahre gesenkt werden. Danach tritt das eigenständige Ehegattenaufenthaltsrecht in Kraft. Damit soll verhindert werden, dass vier Jahre lang Druck vom Partner ausgeübt werden kann. Missbrauch und Erpressung dürfen nicht mehr möglich sein. Ausländerbehörden haben in zum Teil schändlicher Weise das Spiel des willkürlichen Ehemanns unterstützt. Sie haben Aufenthaltserlaubnisse rückwirkend eingeschränkt oder aufgehoben, wenn der Ehemann einseitig die Lebensgemeinschaft für nicht mehr existent erklärt hatte. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele miese Tricks jemand anwenden kann, um seiner ausländischen Frau das Leben schwer zu machen und sie loszuwerden: rassistisches Verhalten, Freiheitsberaubung, Verbot der Arbeitsaufnahme, verdientes Geld abgeben lassen, kein Haushaltsgeld geben usw. So manche dieser Ehemänner glaubten, ein „Rückgaberecht“ oder ein „Umtauschrecht“ an ihrer Ehefrau durchsetzen zu können. Dem wollen wir endlich einen Riegel vorschieben. ({5}) Die dritte wichtige Neuerung betrifft das Kindeswohl. Es kam in diesem Zusammenhang bisher kaum vor. Aber das Kinder- und Jugendhilfegesetz und das neue Kindschaftsrecht verlangen, dass Kinder als Individuen mit eigenen Rechten behandelt werden. Wir können nicht zulassen, dass das Kind keine Chance auf Kontakt mit der Mutter mehr hat, weil sie das Land verlassen muss, das Kind keinen Kontakt zum Vater mehr hat, weil es mit der Mutter das Land verlassen muss, und das Kind aus seiner gewohnten Umgebung gerissen wird, auch wenn es erst mit in die Ehe gekommen ist. Auch das kann eine besondere Härte sein. Ich habe nur einige Fälle genannt, aber jedes Frauenhaus und jede Beratungsstelle könnten Hunderte nennen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben von solchen Fällen auch immer wieder in den Zeitungen gelesen. Niemand von uns kann sagen, dass man es nicht gewusst hat. In der letzten Legislaturperiode war es nicht möglich, endlich ein wirkungsvolles Gesetz zum Schutz der bei uns lebenden ausländischen Ehefrauen durchzusetzen. Der Law-and-Order-Minister Kanther hat da die Reihen fest zusammengehalten. Ich appelliere an Sie alle: Stimmen Sie unserem Gesetz zu, das die Opfer schützt. Dieses Gesetz ist ein klares Zeichen für die Menschenrechte von Frauen. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Manchmal dauert manches sehr lange, wie wir jetzt merken. Vielen Dank, Frau Kollegin. Jetzt hat die Kollegin Ilse Falk, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Ilse Falk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000513, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir als Frauenpolitikerinnen zu diesem Thema Stellung nehmen können, obwohl es federführend im Innenausschuss angesiedelt ist. Es ist so wichtig - das haben Sie gerade dargestellt, Frau Wolf -, dass es von Frauen mit besonderer Sorgfalt beachtet wird. Ebenso können Sie sich natürlich auch vorstellen, dass wir nicht in allem zum selben Ergebnis kommen wie Sie, ({0}) denn es gibt natürlich auch andere Beispiele, als Sie sie genannt haben. Ich denke, mein Kollege wird gleich noch darauf eingehen. ({1}) Wir haben zu diesem Thema viel Erfahrung aus der letzten Legislaturperiode. Da haben wir heftig über dieses Thema gestritten und haben uns auch erst im Vermittlungsausschuss auf einen Kompromiss geeinigt. Ich finde nach wie vor, dass der Kompromiss, den wir damals gefunden haben, sich durchaus sehen lassen konnte und sehen lassen kann, denn wir haben mit dem Gesetz deutlich gemacht, dass wir ausländische Frauen, die in ihrer Ehe psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt sind, nicht schutzlos den Ehemännern ausliefern. Wir haben auch gemeinsam dafür gesorgt, dass Männer, die ihre ausländischen Frauen misshandeln, diese nicht länger mit dem Ausländerrecht erpressen können. Bei unzumutbaren Härten können solche Frauen seit In-Kraft-Treten des Gesetzes ein eigenständiges Aufenthaltsrecht auch ohne Fristeinhaltung erlangen. Bei unserem Kompromiss im Jahre 1997 sind wir davon ausgegangen, dass die Formulierung „außergewöhnliche Härte“ zusammen mit den in der Begründung angegebenen Fallbeispielen zu einer verbesserten Handhabung führen würde. Wir haben damals allerdings auch miteinander verabredet, dass wir sehr sorgfältig beobachten wollen, wie die Rechtsprechung damit umgeht, und das kritisch begleiten wollen. Hanna Wolf ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen inzwischen aus Einzelfallschilderungen, dass die Interpretation dieses Begriffs durchaus sehr unterschiedlich ausfällt; das haben auch Sie ausgeführt. Es kann passieren, dass die Ergebnisse je nach Bundesland einander diametral gegenüberstehen, das heißt, dass betroffene Frauen in vergleichbaren Ausgangssituationen je nach Bundesland entweder schnell abgeschoben werden oder sehr kurzfristig ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erlangen. Daher finde ich es gut, wenn wir heute und in den folgenden Ausschussberatungen kritisch mit der Wirksamkeit der damals gefundenen Gesetzesformulierung umgehen, um gegebenenfalls Änderungen herbeizuführen. Dabei wird über die Heranziehung der Fallbeispiele aus der Begründung und auch darüber zu reden sein, wie damit in der Praxis umgegangen wird, und zwar sowohl hinsichtlich der Gewalt in der Ehe als auch der Berücksichtigung gewachsener Bindungen, insbesondere in Bezug auf die Kinder. Auch über eine Klarstellung der Kannbestimmung zum Sozialhilfebezug sollte in diesen Beratungen unbedingt geredet werden. Ich könnte mich zum Beispiel sehr gut damit einverstanden erklären, dass nur bewusster Sozialhilfemissbrauch, wie Arbeitsverweigerung, nicht jedoch der Sozialhilfebezug als solcher zur Ausweisung führen kann. Damit würden zum Beispiel die Frauen nicht unter das Abschiebegebot fallen, die in Frauenhäusern aufgenommen werden und deswegen nach dem Bundessozialhilfegesetz Sozialhilfe beziehen. Auch Mütter, die kleine Kinder oder behinderte und pflegebedürftige Kinder betreuen und daher nicht arbeiten können, würden dann nicht abgeschoben werden können. Hier müssen wir allerdings die Grenzen sehr sorgfältig ziehen und - darauf will ich an dieser Stelle hinweisen, obwohl das anders zu regeln wäre - kritisch prüfen, ob nicht der aufenthaltsrechtliche Status dazu führt, dass Frauen Arbeit nicht aufnehmen können; denn viele würden sehr gern arbeiten, es wird ihnen jedoch durch den Status verwehrt. Aber trotz dieser berechtigten Anliegen gilt: Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf schießen Sie weit über das Ziel hinaus und verlieren etwas das Augenmaß. Dabei will ich gern davon ausgehen, dass Sie nur das Beste für die betroffenen Frauen wollen, doch möglicherweise erreichen Sie damit genau das Gegenteil. So richtig es ist, dass eine ausländische Frau, die sich von ihrem Ehemann trennen will, nicht mangels eines eigenständigen Aufenthaltsrechts erpressbar gehalten und zur Fortsetzung einer unerträglichen Ehe gezwungen werden darf, so wichtig ist es aber auf der anderen Seite, der Zunahme von Scheinehen - wir kommen nicht umhin, uns immer wieder mit dem Thema Scheinehe zu befassen - als billiger Eintrittskarte zum Aufenthaltsrecht wirkungsvoll entgegenzutreten. ({3}) Es ist doch so, dass in der Scheinehe in der Regel die Ehefrau diejenige ist, die mit der Eheschließung einen ganz bestimmten Zweck erfüllen muss. Es geht nicht immer nur darum, sie in unser Land zu bringen, sondern damit sind auch Bedingungen verbunden. Dabei geht es im schlimmsten Fall um Menschenhandel mit dem Ziel der Zwangsprostitution bis zur Verheiratung über Heiratsmärkte mit garantierten Rückgaberechten. ({4}) Da mag es im letzteren Fall möglicherweise noch nicht einmal um Gewalt gehen, aber immer doch um menschenverachtende Ausbeutung. Darüber sind wir uns doch einig. Ich habe die große Befürchtung, dass Sie durch Ihren Gesetzentwurf das Problem von Scheinehen verschärfen. Bei einer Frist von generell nur zwei Jahren für die Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts würden Partner derartiger Scheinverbindungen kaum noch Hemmnisse sehen, ihre Verbindung über diesen relativ kurzen Zeitraum förmlich aufrecht zu erhalten. Seitens der Ehemänner könnte dies mit Gewalt oder Gewaltandrohung durchgesetzt werden, während die Frauen, die meistens der deutschen Sprache nicht mächtig sind, innerhalb einer so kurzen Zeit wohl kaum den Mut finden, sich den Behörden oder amtlichen Stellen zu offenbaren. Dass auch Sie die Möglichkeit des Missbrauchs sehen, wird dadurch deutlich, dass Sie zum Beispiel nicht generell auf eine Bestandzeit der Ehe in Deutschland verzichten. Es wird auch daran deutlich, dass Sie an der Kannbestimmung festhalten, die Aufenthaltsgenehmigung versagen zu können, wenn die betreffende Person Sozialhilfe bezieht. Allerdings werden selbst diese Minimalforderungen Makulatur und dienen eher als Placebo; denn nach Ihrem Gesetzentwurf soll es für die Erteilung einer eigenständigen Aufenthaltsgenehmigung auch genügen, wenn „dem Ehegatten im Herkunftsland etwa aufgrund gesellschaftlicher Diskriminierungen die Führung eines eigenständigen Lebens nicht möglich wäre“. Das geht entschieden zu weit. Denn - das wissen wir aus den Erfahrungen mit der Befassung von Frauen in anderen Ländern -: In welchen Ländern ist den Frauen überhaupt eine vergleichbare Lebensführung wie bei uns möglich? Diese Klausel würde faktisch zum Verzicht jeglicher Ehebestandszeit und damit zur Erteilung eigenständiger Aufenthaltsgenehmigungen für alle Antragstellerinnen führen. Das wäre also eine Einwanderungspolitik mit anderen Mitteln. Dann müsste man es aber auch so benennen. So viel zu den Fristen. Weitaus problematischer erscheint mir der Umgang mit der Härtefallregelung. Hier ist auf zwei Aspekte der Regelung zu achten: Zum einen geht es um die Zumutbarkeit der Verpflichtung zur Rückkehr in das Heimatland, zum anderen aber das liegt uns allen sicher besonders am Herzen - um die Würdigung der Gründe, die die Gewährung eines eigenständigen Aufenthaltrechts bei uns nahe legen. In der Praxis werden von den Gerichten häufig nur die Abschiebungshindernisse im Herkunftsland beurteilt, während die Gründe für die Scheidung oft nicht ausreichend Berücksichtigung finden. Aus meiner Sicht gibt es zwei Alternativen, die mehr Rechtssicherheit geben könnten: Entweder wir übernehmen die Fallbeispiele der Begründung des geltenden Rechts in den Gesetzestext oder aber wir prüfen, ob nicht grundsätzlich in den Fällen, in denen ein Ehepartner eine kriminelle Handlung gegen den anderen begeht, der andere automatisch ein eigenes Aufenthaltsrecht zuerkannt bekommt. Die letzte Lösung hätte meines Erachtens den Charme, dass es zu einer wesentlich sorgfältigeren Einzelfallbetrachtung käme. Das heißt: Vor einer möglichen Abschiebung müssten vom Gericht auch die Gründe für die Scheidung beurteilt werden. Handelt es sich um strafbare Handlungen, die entweder bereits zur Eheschließung oder aber schließlich zur Trennung geführt haben, sollte automatisch ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zuerkannt werden. Damit könnte man erreichen, dass nicht die Ehefrau den Beweis der außerordentlichen Härte zu erbringen hätte, sondern sich diese aus der Beurteilung der Tat des Ehemannes ergeben würde. Das könnte nicht nur die Frauen ermutigen, sich zu offenbaren, sondern würde zugleich der Justiz helfen, strafbare Handlungen aufzuspüren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, dass auch unserer Fraktion klar ist, dass es an der einen oder anderen Stelle Klärungsbedarf gibt und wir gemeinsam nach Lösungswegen suchen sollten. Dies erfordert Besonnenheit und, so denke ich, viel Einfühlungsvermögen, was in der Ausländerpolitik grundsätzlich in hohem Maße der Fall ist. So weit reichende Änderungen allerdings, wie Sie sie vorschlagen, mit denen Sie, wie wir fürchten, dem Missbrauch Tor und Tür öffneten, können wir sicher nicht mittragen. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf dem langen Weg, Frauenrechte als Menschenrechte zu achten, gehen wir heute einen großen Schritt voran. Wir wollen den § 19 des Ausländergesetzes ändern, der in der Vergangenheit - Frau Falk, ich bin nicht Ihrer Meinung, dass die alte Regelung gereicht hat - unendliches Leid über Migrantinnen gebracht hat. ({0}) Ausländische Frauen werden nicht länger vor der Alternative stehen, entweder vier Jahre lang Misshandlungen durch ihren Ehemann ertragen oder Deutschland verlassen zu müssen. Endlich schützt der Staat die Opfer und nicht länger die Täter. ({1}) Seit nahezu zehn Jahren fordern die Grünen gemeinsam mit Initiativen diese Änderungen im Ausländerrecht, um die unmenschliche Abschiebepraxis endlich zu beenden. Den Gesetzentwurf der Grünen, den wir in der letzten Legislaturperiode vorgelegt haben und der ein sofortiges eigenständiges Aufenthaltsrecht vorsah, haben Sie vonseiten der CDU/CSU und F.D.P. damals abgelehnt. Nach geltendem Recht haben ausländische Ehefrauen in den ersten vier Ehejahren in Deutschland kein eigenes, sondern ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht. Die Folgen wurden von Frau Wolf schon genannt: Bei Scheidung oder Trennung während dieser Zeit werden die Frauen in ihr Heimatland ausgewiesen. Zudem ist § 19 in der Hand des Ehemannes zu einem Machtmittel geworden; denn wenn er seine Frau geprügelt oder vergewaltigt hat und sie deshalb ins Frauenhaus geflohen ist, brauchte er bisher lediglich zur Ausländerbehörde zu gehen und die eheliche Lebensgemeinschaft für beendet zu erklären. Alles Weitere hat bisher der Staat für ihn erledigt. Er hat die Frau ausgewiesen, obwohl häufig Ausgrenzungen, Diskriminierungen, manchmal sogar lebensbedrohende Handlungen im Heimatland zu ertragen waren. Doch damit nicht genug. Der Ehemann kann sich sogar seiner Unterhaltsverpflichtung entziehen. Ich nenne dieses Täterschutz statt Opferschutz. Daneben - auch darauf wurde schon hingewiesen ist der § 19 für Heiratshändler ein willkommenes Instrument, um besonders osteuropäische Frauen als Ware zu handeln. Ich sehe die Anzeigen, die folgendermaßen lauten: „100 Russinnen, lieb, anschmiegsam, fleißig, aber keine eigenen Ansprüche“. Mir liegen Unterlagen vor, wonach viele sogar sehr offensiv mit dem deutschen Recht werben. Sie sagen nämlich: Bei kostenlosem Umtausch von ausländischen Ehefrauen hilft der Staat. Bei Nichtgefallen Ware zurück. Die männlichen Kunden können sich darauf verlassen, dass der Staat ihre Arbeit innerhalb der Vierjahresfrist erledigt. Diesen unerträglichen Zustand wollte eigentlich schon die alte Regierung beenden, hat es allerdings 1997 auch mit dem Vermittlungsausschussergebnis nicht geschafft. ({2}) Sie hatten damals gesagt, zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte soll es ein sofortiges eigenständiges Aufenthaltsrecht geben. Die Erfahrung zeigt aber, dass diese außergewöhnliche Härte in den wenigsten Fällen angewandt wurde. Sie war im Gesetz nicht klar definiert. Das, was der Vermittlungsausschuss in seiner Begründung wollte, ist in vielen Bundesländern so nicht angewandt worden. Die Misshandlung durch den Ehemann hat in vielen Fällen kein Abschiebungshindernis dargestellt. Hinzu kommen musste vielmehr, dass beim Verlassen des Landes der Frau ungleich größere Schwierigkeiten auferlegt worden wären als jeder anderen AusländeIlse Falk rin oder jedem anderen Ausländer, die Deutschland verlassen. Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen haben bereits seit 1998 auf dem Erlasswege die Möglichkeit geschaffen, dass die Trennung vom Ehemann wegen psychischer und physischer Gewalt nicht zur Ausweisung führt. Ganz anders Bayern: Bayern errichtet die Hürden so hoch, dass das Gesetz faktisch überhaupt nicht greifen kann. Konkret heißt das: Um nicht ausgewiesen zu werden, muss die ausländische Ehefrau sich fast zu Tode quälen lassen. In Bayern muss ihr eine schwere Körperverletzung zugefügt werden, und Sie wissen, wie dies im Strafgesetz definiert ist. Schwere Körperverletzung bedeutet den Verlust eines lebenswichtigen Gliedes oder des Sehvermögens, die Betroffene müsste gelähmt oder geisteskrank sein. Diese Kriterien haben doch die vielen Frauen nicht erfüllen können. Das bedeutet, dass dieses Gesetz für sie faktisch keine Wirkung hatte. ({3}) Diese unmenschliche Handhabungen des Ausländergesetzes wollen wir jetzt beenden. Den Fall Tülay O. hat Kollegin Wolf hier schon dargestellt. Ich will das nicht wiederholen. Hier ist es so gewesen, dass das Verwaltungsgericht Augsburg und auch der bayerische Petitionsausschuss gesagt haben, es liege hier keine außergewöhnliche Härte vor. Diese unzumutbaren Situationen haben jetzt ein Ende. Ich bin froh darüber, dass wir endlich eine bundeseinheitliche verbindliche Regelung schaffen können. Verfahren nach § 19 werden somit nicht länger ein Roulettespiel für die Betroffenen sein. Die auslän-dischen Ehefrauen müssen vor der Willkür des Ehe-mannes und auch der Behörden geschützt werden, wie dies seit Jahren von Migrantinnenverbänden gefordert wird. An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal ganz herzlich auch bei den Mitarbeiterinnen in den Frauenhäusern bedanken, die trotz der prekären rechtlichen Situation immer Hilfe angeboten haben. Das war keine Selbstverständlichkeit, und sie waren manchmal sehr nahe am Rande des Gesetzes. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch auf einen anderen Aspekt eingehen. Wir haben vor zwei Jahren eine Reform des Sexualstrafrechts umgesetzt, nämlich die Vergewaltigung in der Ehe strafbar gemacht. Von dieser Reform hatten die ausländischen Frauen bisher überhaupt keinen Gebrauch machen können, denn hätten sie ihren Ehemann wegen der Vergewaltigung angezeigt und er wäre inhaftiert worden, hätten sie umgehend das Land verlassen müssen, zum einen wegen des Bezugs der Sozialhilfe, zum anderen, weil die eheliche Lebensgemeinschaft aufgelöst gewesen wäre. Insofern haben wir hier einen direkten Zusammenhang zwischen dem Ausländerrecht und dem § 177. Die Würde des Menschen, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die Gleichheit vor dem Gesetz und das Selbstbestimmungsrecht sind grundrechtliche Werte, die nicht nur für Deutsche gelten, sondern auch für ausländische Männer und Frauen. Nun zum Gesetzentwurf. Er sieht vor, die für das eigenständige Aufenthaltsrecht erforderliche Ehebestandspflicht von vier auf zwei Jahre zu reduzieren. Er benennt weiterhin Kriterien, nach denen Frauen im Falle einer besonderen Härte ein sofortiges eigenständiges Aufenthaltsrecht bekommen. Frau Falk, Sie haben gesagt, man müsse dies ins Gesetz schreiben. Es gibt Verwaltungsrichtlinien, in denen sehr genau geregelt ist, wie der entsprechende Einzelfall zu handhaben ist. Natürlich müssen Richterinnen und Richter entscheiden, ob eine besondere Härte vorliegt. Es wird nicht ausreichen, dass die Frau sagt: Es ist eine besondere Härte für mich. - Natürlich wird das einem Prüfverfahren unterzogen. Ich kann Ihre Bedenken nicht teilen. Endlich wird auch das Kindeswohl berücksichtigt. Das ist eine wichtige Sache, die wir im Rahmen der UN-Kinderrechtskonvention unbedingt umsetzen müssen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist nicht nur für uns rot-grüne Parlamentarierinnen und Parlamentarier wichtig, sondern auch ein großer Erfolg für unseren Rechtsstaat. ({5}) Wie groß die Erleichterung bei den betroffenen Frauen, bei den Anwaltsbüros und Beratungsstellen ist, zeigen zahlreiche Briefe und Telefonate, die ich in den letzten Wochen erhalten habe. Dieser Gesetzentwurf ist ein wichtiger Reformschritt. Das Ziel der Bündnisgrünen ist es, grundsätzlich ein vom Ehemann unabhängiges Aufenthaltsrecht zu schaffen. Aber Reformen müssen behutsam angegangen werden. Dies hat uns die Vergangenheit gelehrt. Im Zusammenhang mit der Diskussion über menschenwürdige Regelungen des § 19 des Ausländergesetzes haben besonders Sie, meine Herren von der CDU/CSU, und auch Frau Falk in der letzten Zeit häufig Panik gemacht, indem Sie behauptet haben, die Zahl der Scheinehen steige. Diese Vermutung ist einfach ins Blaue hinein gesprochen und entbehrt jeglicher Datengrundlage. Ich habe mich auf dieses Argument vorbereitet: Ich habe mir Zahlenmaterial vom Statistischen Bundesamt geben lassen und habe geprüft, ob binationale Ehen oder Ehen von Migrantinnen und Migranten häufiger geschieden werden als deutsche. Dem ist nicht so. Insofern können Ihre Bedenken beiseite geschoben werden. Es gibt also keinen guten sachlichen Grund, eine Reform des § 19 des Ausländergesetzes abzulehnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition und vor allem von der F.D.P., Sie wissen um die schwieIrmingard Schewe-Gerigk rige Situation von ausländischen Frauen. Wir haben in der Vergangenheit häufiger darüber diskutiert. Sie wissen auch, dass wir aufgrund der bestehenden Probleme neue Regelungen benötigen. Ich bitte Sie deshalb: Schließen Sie sich unserem Gesetzentwurf an, damit wir endlich gemeinsam diesen wichtigen frauenpolitischen Schritt in der Geschichte des Ausländerrechts tun können. Vielen Dank. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Max Stadler, F.D.P.-Fraktion.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eine vernünftige Regelung des § 19 des Ausländergesetzes muss mehrere Kriterien erfüllen: Es muss das berechtigte individuelle Interesse auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach Aufhebung der Ehe berücksichtigt werden. Es muss eine humanitäre Lösung von schweren Einzelschicksalen möglich sein. Aber es müssen auch Vorkehrungen gegen Missbrauch getroffen werden. Diese Kriterien hat freilich die alte Fassung des § 19 des Ausländergesetzes in keiner Weise befriedigend erfüllt. ({0}) Daher hat die damalige Ausländerbeauftragte Cornelia Schmalz-Jacobsen bei der Änderung des Ausländergesetzes in der letzten Legislaturperiode auch die Initiative zur Neufassung des § 19 ergriffen. Leider geriet die Neuregelung in die Mühlsteine des Vermittlungsverfahrens. Selten traf das Sprichwort - wenn ich das einmal so flapsig formulieren darf - „Viele Köche verderben den Brei“ genauer zu als bei der Neuregelung des § 19. Das, was im Vermittlungsausschuss vereinbart worden ist, verdiente in keiner Weise den Namen Reform. Es war schlicht und einfach eine Verschlimmbesserung. Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch nach dieser so genannten Reform von 1997 der Ruf nach einem neuen Tätigwerden des Gesetzgebers nicht verstummt ist. Anlässe zur Kritik gab immer wieder die Praxis in den Ausländerbehörden. Fälle wie der schon erwähnte Fall der Türkin Tülay Oguz, in dem das Ausländeramt der Stadt Kempten meinte, es läge, trotz fürchterlicher Misshandlungen, kein Härtefall vor, lösten bundesweit Kopfschütteln aus. Nachdem Frau Oguz aufgrund eines jahrelangen Rechtsstreits doch ein Aufenthaltsrecht erhalten hat, hat Ihre grüne Landtagskollegin aus Bayern, Elisabeth Köhler, nun festgestellt, dass man im Rahmen der bestehenden Gesetze durchaus politische Handlungsoptionen habe. Diese Feststellung könnte zu dem Schluss verleiten, dass eine Neuregelung des § 19 vielleicht doch nicht so dringlich ist. Ich schließe mich dem nicht an; denn eine Auswertung der Praxis ergibt zunächst einmal, dass eine völlig unterschiedliche Handhabung in den einzelnen Bundesländern existiert. Dies kann vom Bundesgesetzgeber auf längere Sicht nicht akzeptiert werden. ({1}) Entscheidend für eine engherzige oder großzügige Auslegung durch die Ausländerbehörden ist natürlich das Meinungsklima, das in den jeweiligen Bundesländern durch die politische Führung geschaffen wird. Daher ist es kein Zufall - Herr Uhl, ich muss das leider aus der mir vorliegenden Statistik so feststellen -, dass in Bayern Frauen kaum eine Chance auf Anerkennung als Härtefall im Sinne von § 19 des Ausländergesetzes haben. Es liegt also in der politischen Verantwortung der CSU, wenn Ausländerbehörden den Sinn für nahe liegende, geradezu gebotene humanitäre Lösungen wie im Fall Oguz verloren haben. Wer seine politische Führung so wahrnimmt, der muss sich nicht wundern, dass die Diskussion über eine Neufassung des § 19 nie verstummt ist. ({2}) Deswegen teilt die F.D.P.-Fraktion das Anliegen, die derzeit bestehenden Auslegungsprobleme zu beseitigen und für eine bundeseinheitliche Verwaltungspraxis den Grundstock zu legen. Gleichwohl, vor allem meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wird es in den Ausschussberatungen notwendig sein, sich mit dem, was Sie uns hier vorgelegt haben, in sehr differenzierter Weise zu befassen; denn trotz mancher Verbesserungen setzt die Neuregelung zum Teil an der falschen Stelle an. Erstens. Die Vierjahresfrist für das eigenständige Aufenthaltsrecht soll in den Regelfällen auf zwei Jahre herabgesetzt werden. Für die F.D.P.-Fraktion muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen, dass wir dem sehr skeptisch gegenüberstehen; denn man darf die Augen vor der Möglichkeit des Missbrauchs nicht völlig verschließen. ({3}) Je weiter Sie die Regelfrist herabsetzen, umso größer ist die praktische Gefahr des Missbrauchs. Darüber muss man jedenfalls im Ausschuss noch einmal sehr gründlich diskutieren. Zweitens. Wir begrüßen aber, dass Sie durch Ihre Neuregelung versuchen, die bisherigen Auslegungsschwierigkeiten bei der Härtefallklausel zu beseitigen. Ich halte es insbesondere für einen Fortschritt, dass nun eindeutig festgestellt wird, dass auch auf Umstände während der Dauer der Ehe in Deutschland bei der Beurteilung zurückzugreifen ist. Dass es auf diese Umstände nicht entscheidend angekommen war, konnte niemand verstehen, etwa auch bei dem heute mehrfach zitierten Fall aus Kempten. In diesem Punkt haben Sie unsere Unterstützung. Über die Einzelheiten dessen, was Sie sehr detailliert vorgeschlagen haben, werden wir im Ausschuss reden. Dritter und letzter Punkt. Im damaligen Vermittlungsverfahren 1997 wurde als Verschärfung erst im Vermittlungsausschuss eingeführt, dass selbst eine Frau, bei der eine besondere oder außergewöhnliche Härte festgestellt wurde, wegen Sozialhilfebedürftigkeit ausgewiesen werden kann. Auf den tatsächlichen Bezug von Sozialhilfe kommt es nach dieser Regelung übrigens überhaupt nicht an. Graf Lambsdorff hat in einer persönlichen Erklärung zur Abstimmung am 26. Juni 1997 diese Verschärfung wie folgt kommentiert - ich zitiere ihn wörtlich -: Ich bin kein Befürworter exzessiver Zuteilung von Sozialhilfe. - So kennen wir alle Graf Lambsdorff. ({4}) Aber diese Regelung ist kleinlich und sie ist menschlich schäbig. Deshalb lehne ich sie ab. ({5}) Das, was Graf Lambsdorff ausgeführt hat, hilft auch noch heute.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das provoziert nun eine Zwischenfrage der Kollegin Schewe-Gerigk. Möchten Sie sie zulassen?

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, haben Sie in der Begründung zur Kenntnis genommen, dass der Sozialhilfebezug nicht generell das Kriterium ist, sondern nur dann, wenn zum Beispiel eine annehmbare Arbeit abgelehnt wird und deshalb auf Sozialhilfe zurückgegriffen wird? Wenn die Sozialhilfe zum Beispiel deshalb gezahlt werden muss, weil die Mutter wegen der Betreuung ihrer Kinder nicht erwerbstätig sein kann, soll dieses Kriterium überhaupt nicht angewandt werden. Haben Sie das zur Kenntnis genommen?

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, das habe ich nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern ich habe es mir im Rahmen der Vorbereitung - wie Sie sehen auch noch gelb angestrichen. Ich habe allerdings, nachdem ich die Begründung gelesen hatte, noch einmal sehr sorgfältig den von Ihnen vorgelegten Gesetzestext studiert. Ich muss Ihnen sagen, dass die Begründung nicht mit dem konform geht, was Sie als Gesetzestext vorschlagen. Ich erkenne Ihre Absicht an, dass Sie das Sozialhilfekriterium - wenn ich es so sagen darf - entschärfen wollen. Aber ich verstehe nicht, warum sich das in der Textfassung des Gesetzentwurfs - das ist das Entscheidende - nicht wieder findet. Deswegen bleibe ich dabei: Ich verstehe nicht, dass diese Klausel in dem Text Ihres Gesetzentwurfs unverändert geblieben ist und Sie lediglich in der Begründung für ein, zwei Anwendungsfälle Ihre Absicht darlegen, was die künftige Anwendung angeht. ({0}) Im Übrigen möchte ich daran erinnern, dass Herta Däubler-Gmelin in einer persönlichen Erklärung bei der Abstimmung über das Vermittlungsergebnis 1997 gerade wegen der Sozialhilfeklausel mit Nein votiert hat. Wie kann die neue Justizministerin Herta DäublerGmelin denn dann heute einen Gesetzentwurf unterschreiben, in dem genau die Sozialhilfeklausel unverändert geblieben ist, die Bayern seinerzeit durchgesetzt hat? ({1}) Meine Damen und Herren, Sie sehen, wir haben uns sehr intensiv mit Ihren Vorschlägen befasst. ({2}) Trotz einiger wirklich zutreffender Verbesserungen, die Sie vorschlagen, wird es uns in den Ausschussberatungen nicht erspart bleiben, die Einzelheiten Ihres Entwurfs sehr sorgfältig und kritisch zu durchleuchten. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Ulla Jelpke von der PDS-Fraktion.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heute vorliegende Gesetzentwurf - daran besteht meiner Meinung nach kein Zweifel - war längst überfällig und findet unsere volle Unterstützung. Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Frauen wird von vielen Frauen- und Migrantinnenorganisationen seit langem gefordert. Frau Falk und Herr Stadler, es bleibt beschämend für die alte Regierung, dass sie Tausende von Migrantinnen so lange in dieser unerträglichen Not gelassen hat und die Probleme viele Jahre ignoriert hat. Man darf nicht vergessen, dass dies heute nicht die erste Debatte ist. Ich kann mich gar nicht mehr genau daran erinnern, wie oft wir dieses Thema und auch die einzelnen Fälle hier im Parlament zur Sprache gebracht haben. Dabei sind uns die vielen Fälle von misshandelten Frauen alle bekannt. Eine Tageszeitung titelte 1998: „Vom Mann misshandelt - von den Behörden verlassen“. Frau Wolf und andere Kolleginnen haben schon Fälle aus Bayern vorgetragen. Herr Stadler hat selbst gesagt, dass es wohl kaum eine Frau gibt, die die Kriterien der Härtefallregelung erfüllt. Ich meine, dass diese Urteile nicht nur kaltschnäuzig, sondern auch menschenverachtend sind. Auch wenn der Missbrauch von einigen Parteien immer wieder in den Vordergrund gestellt wird, meine ich, dass Menschenrechte Vorrang vor Kontrollen und Hürden haben müssen. Sie verhindern, dass Frauen hier wirklich menschenwürdig behandelt werden. ({0}) Ich möchte daran erinnern, dass es allein in Berlin dies macht deutlich, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt - im vergangenen Jahr rund 145 000 Migrantinnen ohne deutschen Pass gab. Wie viele von ihnen von häuslicher Gewalt betroffen waren, ist statistisch zwar nicht genau erhoben. Aber wir wissen, dass die Zufluchtseinrichtungen wie Frauenhäuser und andere Stellen zu etwa 50 bis 65 Prozent von Migrantinnen genutzt werden. Ich denke, das spricht eine deutliche Sprache. Das geltende Ausländerrecht zwang bisher alle Migrantinnen ohne deutschen Pass in eine extreme Abhängigkeit von ihrem Ehemann und leistete so ehelichen Misshandlungen direkt Vorschub. Selbst die Bundesvorsitzende der Deutschen Katholischen Jugend hat deshalb schon vor mehr als einem Jahr von der Bundesregierung gefordert, für Frauen endlich ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu schaffen. Wir haben bei den Beratungen über die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts einen Antrag zum eigenständigen Aufenthaltsrecht für Frauen eingebracht, der leider abgelehnt worden ist. Sie werden verstehen, dass ich das hier noch einmal anmerke. Wie gesagt, es liegt ein Gesetzentwurf vor, mit dem endlich versucht wird, die in der Tat empörende Rechtlosigkeit der Migrantinnen zu korrigieren und aufzuheben. Die PDS wird diesen Gesetzentwurf auf jeden Fall unterstützen. Er bedeutet für viele Frauen eine wichtige Verbesserung sowie einen großen Schritt zu mehr Rechtssicherheit und hoffentlich zu einer bundeseinheitlichen Praxis. Ehrlich gesagt denke ich aber, dass noch ein bisschen nachgebessert werden müsste. Die Änderung, dass künftig nicht mehr eine „außergewöhnliche Härte“, sondern nur eine „besondere Härte“ vorliegen muss, um eine Fortführung der Ehe unzumutbar zu machen und ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu begründen, wird von uns begrüßt und unterstützt. Der Begriff der „außergewöhnlichen Härte“ war und ist so eng gefasst, dass er in der Vergangenheit in einigen Bundesländern - außer in Fällen von schwerster Körperverletzung - nie zur Anwendung kam. Trotzdem muss ich ein wenig Wasser in den Wein gießen: Ein sofortiges, uneingeschränktes eigenständiges Aufenthaltsrecht für Ehefrauen ist leider auch mit dem heutigen Regierungsentwurf noch nicht erreicht. Die Kollegin der Grünen hat in diesem Zusammenhang bereits einiges zur Vergangenheit gesagt. Im Gegensatz zu Frau Falk bin ich der Meinung, dass wir in diesem Punkt einen Schritt weiter hätten gehen sollen. Völlig unbegründet ist auch, wieso eigentlich eine zweijährige Ehe im Inland nachgewiesen werden muss. Es gibt mehr als genug Fälle, bei denen zum Beispiel eine Ehe im Ausland schon lange bestand und ein Jahr nach Einreise der Ehefrau in die Bundesrepublik in die Brüche ging. Warum sollen diese Frauen auch gemäß dem jetzigen Gesetzentwurf gezwungen werden, ihre Ehe ein weiteres Jahr zu verlängern? Ich kann, ehrlich gesagt, keinen vernünftigen Grund dafür erkennen. Ich erinnere auch daran, dass der Innenminister von Nordrhein-Westfalen bereits 1998 einen Erlass herausgegeben hat, wonach eine psychische und physische Misshandlung, die Betreuung eines behinderten Kindes oder eine im Fall der Abschiebung drohende schwerwiegende gesellschaftliche Diskriminierung im Heimatland unter den Begriff der „außergewöhnlichen Härte“ fallen und somit ein sofortiges eigenständiges Aufenthaltsrecht begründen. Schon damals hieß es - Zitat: - „Eine bundeseinheitliche Praxis wäre für alle Betroffenen wünschenswert.“ - Was hindert Sie eigentlich daran, nun endlich bundesweit ein sofortiges eigenständiges Aufenthaltsrecht für Frauen zu beschließen? Auch die Regelung, dass der Sozialhilfebezug nur dann kein Versagungsgrund ist, wenn die Sozialhilfe wegen der Betreuung minderjähriger Kinder gezahlt wird - dies wurde hier schon angesprochen -, geht uns nicht weit genug.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme gleich zum Schluss. - Wir sind der Meinung, dass soziale Not kein Grund sein darf, den betroffenen Frauen ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu verwehren. Wie gesagt - ich habe es schon angekündigt -, wir werden über diese Punkte natürlich noch streiten. Das ändert aber nichts daran, dass wir den vorliegenden Gesetzentwurf begrüßen und uns freuen, dass es endlich für die Migrantinnen in diesem Land eine Erleichterung gibt. Danke. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Lilo Friedrich von der SPD-Fraktion.

Lilo Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf ist nach der Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes ein weiterer bedeutender Schritt hin zu einer menschenwürdigeren Gesellschaft, insbesondere für hier lebende Migrantinnen. Nach der bisherigen Gesetzeslage haben ausländische Ehefrauen und Ehemänner in den ersten vier Ehejahren in Deutschland kein eigenes, sondern ein vom Ehepartner abgeleitetes Aufenthaltsrecht, mit der Folge, dass während dieser Zeit die Frauen im Fall einer Trennung oder Scheidung in ihr Heimatland ausgewiesen werden. Häufig bedeutet dies, dass ausländische Ehefrauen aus Angst vor der Ausweisung über keine Handhabe gegenüber ihren gewalttätigen Ehemännern verfügen. Die Diskussion über eine Reform des eigenständigen Ehegattenaufenthaltrechtes wird seit langem geführt und Änderungen werden von Frauenorganisationen, Kirchen und Verbänden gefordert. Doch bisher haben alle Versuche - wie zuletzt der der ehemaligen Bundesregierung im Jahre 1997 -, diese unerträgliche Situation zu beenden, zu keinem zufrieden stellenden Ergebnis geführt. Wir, die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, haben deshalb bereits im Koalitionsvertrag vereinbart, die im ausländerrechtlichen Vermittlungsverfahren nur unzureichend umgesetzte Reform des eigenständigen Ehegattenaufenthaltsrechts zu Ende zu führen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Ausländergesetzes werden wir diese angekündigte Reform nun endlich auf den Weg bringen können. ({0}) Zielsetzung ist, die Voraussetzungen zur Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts für ausländische Ehegatten zu erweitern und zu erleichtern, dies insbesondere mit dem Ziel, unzumutbare Verhältnisse während der Ehe in Deutschland zu berücksichtigen. Hierzu wollen wir § 19 des Ausländergesetzes wie folgt ändern: Erstens. Die erforderliche Ehebestandszeit wird von vier auf zwei Jahre verkürzt. Denn wir halten als generelle Grenze für die Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts bereits einen Zeitraum von zwei Jahren für angemessen, in denen die eheliche Gemeinschaft in Deutschland geführt wurde. Zweitens. Künftig sollen Umstände während der Ehe, die ein Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft unzumutbar machen, Berücksichtigung finden, wenn sie eine besondere Härte darstellen. In der Vergangenheit hat die Regelung des eigenständigen Aufenthaltsrechtes für Ehegatten nach Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaften immer wieder zu Diskussionen geführt. Deshalb wurde § 19 des Ausländergesetzes bereits in der letzten Legislaturperiode geändert. Der damals gewählte Begriff der „außergewöhnlichen Härte“ hat in der Praxis jedoch zu zahlreichen Auslegungsproblemen und Unzulänglichkeiten geführt. Auch in der Rechtsprechung ist es umstritten geblieben, ob eine Härte im Sinne der Vorschrift auch allein darin gesehen werden kann, dass der Ehegatte die eheliche Lebensgemeinschaft wegen erheblicher Verletzung von Rechtsgütern aufgelöst hat. Diese Auslegungsschwierigkeiten und damit einhergehende willkürliche Entscheidungen durch Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte wird es durch unsere Reform dann nicht mehr geben. Nunmehr wird klargestellt, dass ein eigenständiges Aufenthaltsrecht bereits dann zu erteilen ist, wenn der Ehegatte durch die Rückkehr in das Herkunftsland ungleich härter getroffen wird als andere Ausländer, die nach kurzen Aufenthaltszeiten Deutschland verlassen müssen. Darüber hinaus darf es kein Kriterium mehr sein, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis Alleinerziehenden versagt wird, weil sie wegen der Betreuungsbedürftigkeit minderjähriger Kinder auf den Bezug von Sozialhilfe angewiesen sind. In welchen Fällen eine besondere Härte gegeben ist, wird in dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf präzise ausgeführt. Eine besondere Härte liegt erstens dann vor, wenn der Ehegatte die eheliche Lebensgemeinschaft aufgelöst hat und in Zusammenhang mit der Rückkehrverpflichtung eine erhebliche Beeinträchtigung seiner schutzwürdigen Belange droht. Dies ist zum Beispiel der Fall durch gesellschaftliche Diskriminierungen im Herkunftsland, die eine eigenständige Lebensführung nicht ermöglichen, durch eine drohende Zwangsabtreibung, durch Nichtbeachtung des Kindeswohls, für dessen Erhalt ein weiterer Aufenthalt in Deutschland erforderlich ist, oder wenn die Gefahr besteht, dass durch den Aufenthalt im Ausland der Kontakt zum Kind willkürlich untersagt wird. Zweitens liegt eine besondere Härte vor, wenn besondere Umstände während der Ehe in Deutschland es dem Ehegatten unzumutbar machen, zur Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts an der ehelichen Lebensgemeinschaft festzuhalten. Solche Umstände sind zum Beispiel physische oder psychische Misshandlung oder sexueller Missbrauch oder Misshandlung des Kindes. Die dritte entscheidende Änderung des § 19 des Ausländergesetzes besteht darin, dass künftig auch das Kindeswohl als schutzwürdig berücksichtigt wird und eine Erteilung des eigenständigen Aufenthaltsrechts rechtfertigen soll. Dies entspricht auch internationalen Standards wie der UN-Kinderrechtskonvention. Besonders wichtig erscheint mir bei unserer Reform, dass die Gründe für die Anerkennung von Härtefällen nun bundeseinheitlich in den Ländern geregelt werden. Bisher ist dies in den Bundesländern sehr unterschiedlich gehandhabt worden, sodass es keine einheitliche Rechtslage für die Frauen gab. Der vorliegende Gesetzentwurf ist im Bundesrat nicht zustimmungspflichtig. Aber er bindet die Länder bei seiner Umsetzung eng an die Vorgaben des Bundesgesetzgebers. Der Kampf gegen häusliche Gewalt kann nicht an der eigenen Haustür Halt machen. Wenn wir die Vorgaben unseres Grundgesetzes, nämlich die Würde des Menschen und das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu wahren, ernst nehmen, dann müssen wir diese Werte auch den hier lebenden ausländischen Frauen garantieren. Lilo Friedrich ({1}) ({2}) Deshalb ist es mir als Innen- und Menschenrechtspolitikerin wichtig, dass keine Frau ein Martyrium durchleiden muss, um in Deutschland bleiben zu können. Frauenrechte sind Menschenrechte. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der § 19 des Ausländergesetzes regelt in der Tat einen schwierigen Lebenssachverhalt. Es gibt den Nachzug von Frauen und Männern nach Deutschland. Es gibt Gewaltbereitschaft bei den Nachziehenden und bei den hier in Deutschland Lebenden. In all diesen Fällen kann es zu Scheidungen oder Trennungen kommen. Wir müssen dann klären, wer ein eigenständiges Aufenthaltsrecht bekommt und wer nicht. Im geltenden Recht gibt es eine Kombination zwischen einer Fristenregelung, bei der die Mindestzeit vier Jahre beträgt, und einer Härtefallregelung. Eine außergewöhnliche Härte muss vorliegen; dann wird ein eigenständiges Aufenthaltsrecht gewährt. Dem Grunde nach ist dies vernünftig geregelt, weil man die Vielgestaltigkeit der Lebenssachverhalte auf diese Weise am besten erfassen kann. Das Ziel ist - wenn Sie so wollen - ein zweifaches: Erstens. Es geht um das Ziel der Integration der hier lebenden Ausländer. Wenn sie vier Jahre hier waren, haben sie sich erfahrungsgemäß integriert und sollen bei einem Scheitern der Ehen nicht ausgewiesen werden. Zweitens. Es geht um das Ziel, den Nichteinwanderungsgrundsatz aufrechtzuerhalten. Wir sind kein Einwanderungsland und man sollte nicht im großen Stil auf dem Wege der Deutschverheiratung - sei sie missbräuchlich oder nicht - eine Einwanderung ermöglichen. Lassen Sie mich nun zu Ihren Vorschlägen zur Änderung des Ausländergesetzes kommen. Sie sagen, eine Fristverkürzung von vier auf zwei Jahre sei eine bessere Lösung. Ihre Begründung lautet, dies sei angemessen. Mehr ist Ihnen dazu nicht eingefallen. Ich habe gesucht, ob noch weitere Begründungen geliefert werden, aber dies war nicht der Fall. Nun kann man sagen: Eine Fristverkürzung auf zwei Jahre löst das Problem der Härtefälle. Innerhalb von vier Jahren müsste die Frau zu viel ertragen. Aber ob sie zwei oder vier Jahre geschlagen wird und ein Martyrium durchleidet: Wo ist hier Ihre Lösung? ({0}) Ihre Vorschläge sind keine Lösung, sondern nach wie vor Willkür. Ich bin der Meinung, dass ein Mensch, der aus seinem Heimatland nach Deutschland kommt und zwei Jahre hier gelebt hat, sich noch gar nicht so sehr integriert haben kann und sich von seinem Heimatland noch gar nicht so weit entfernt haben kann, dass eine Rückkehr in dieses Heimatland eine unzumutbare, außergewöhnliche Härte darstellen muss. ({1}) Deswegen kommt es darauf an, diese Fälle einzeln zu klären. Es darf nicht pauschal und durch Automatismus im Wege der Zweijahresfristenregelung zu einem eigenständigen Aufenthaltsrecht kommen. Wenn Sie die Frist auf zwei Jahre verkürzen, lösen Sie damit eine Fülle von Missbrauchsmöglichkeiten aus. Wir wissen aufgrund der Erfahrung - ich jedenfalls weiß es aus meiner Erfahrung; ich hatte unter anderem elf Jahre die Ausländerbehörde in München zu leiten -, ({2}) dass es eine Vielzahl von Scheinehen gibt, die durch Ihre Vorgehensweise noch viel mehr werden würden. Denn es wäre einfach, solche Scheinehen einzugehen. Menschenhandel würde erleichtert werden. ({3}) - Frau Kollegin, in München gab es den Fall eines albanischen Drogendealers, ({4}) der natürlich hätte ausreisen müssen, es sei denn, er wäre deutsch verheiratet worden. Daraufhin hat er sich eine deutsche Drogenabhängige zur Frau genommen. Diese musste natürlich, weil sie von ihm abhängig war, alles, was er sagte, zugeben und bestätigen. Das heißt: Aufgrund dieser Eheschließung konnte der Betreffende in Deutschland bleiben. Wollen Sie so etwas wirklich fördern? Halten Sie es mit Ihren Vorstellungen von Frauenrechten für vereinbar, wenn Sie so etwas fördern? ({5}) Wir hatten viele Fälle von Nigerianern, die in Deutschland Asylverfahren betrieben haben - teilweise mehrere unter Alias-Personalien - und deren Asylantrag abgelehnt wurde. Durch die Heirat mit einer Deutschen Lilo Friedrich ({6}) haben sie aber das Aufenthaltsrecht erhalten. Das wollen Sie alles fördern. Warum eigentlich? ({7}) Es gibt auch die Fälle von Schleusern, die Frauen aus Osteuropa nach Deutschland als Tänzerinnen und als Prostituierte - zu welchen Zwecken auch immer - einschleusen. Diese Fälle müssten Ihnen doch bekannt sein. Es müsste doch auch Ihre Absicht sein, dieses zu verhindern; es müsste doch auch Ihr gesetzgeberisches Ziel sein, das nicht zu befördern oder zu erleichtern. ({8}) Mit dieser Änderung erleichtern Sie jedenfalls diesen Typen das Geschäft. ({9}) Der alte Gesetzestext regelt Härtefälle in der Weise, dass er vorschreibt, dass im Falle des Scheiterns der Ehe zunächst einmal der Härtefall im Heimatland gegeben sein muss. Das heißt, die Rückkehr in das Heimatland muss unzumutbar sein. Diese Regelung ist logisch und auch in Ordnung. Aber das geltende Recht ermöglicht auch - das ist bereits vom Kollegen Stadler gesagt worden; es wurde seinerzeit im Vermittlungsausschuss so festgelegt - die Berücksichtigung eines Härtefalls im Inland, also in Deutschland. Das heißt, wenn die Fortsetzung der Ehe unzumutbar ist, dann kann die betreffende Person, Mann oder Frau, hier bleiben. Zugegeben: Der Gesetzeswortlaut könnte verbessert werden. Ich gehe aber im Gegensatz zu Ihnen, Frau Friedrich, davon aus, dass es sich um ein zustimmungspflichtiges Gesetz handelt, das im Vermittlungsausschuss landen wird, und dass man da so etwas redaktionell nachbessern kann. ({10}) Es gibt keine Notwendigkeit für Ihre Forderungen, die lediglich zu einer Verschlechterung und nicht zu einer Verbesserung führen würden. Frau Kollegin Wolf, ich möchte Sie einmal mit folgendem Fall konfrontieren. ({11}) - Ich rede nur aus Erfahrung. Ich werde gleich noch plastische Beispiele aus dem täglichen Leben bringen. Eine junge, in Deutschland aufgewachsene und lebende Türkin - von ihnen gibt es ja sehr viele - hat unsere Wertvorstellung verinnerlicht. Sie wird von ihrer Familie mit einem streng religiösen osttürkischen Mann vom Lande zwangsverheiratet; diesen Fall gab es auch in meiner Behörde. ({12}) Der Türke reist nach Deutschland und beide leben zusammen in Deutschland. Er stört sich aber an dem westlich geprägten Lebenswandel seiner jungen Ehefrau. Sie, emanzipiert, wie sie nun mal ist, verhöhnt ihn wegen seiner rückständigen Lebensauffassung. Das ist ganz normal, es treffen zwei Welten aufeinander. Er empfindet ihr Verhalten natürlich als eine Belästigung - Sie würden darin eine schwere psychische Misshandlung durch diese emanzipierte Ehefrau sehen -, die er nicht hinnimmt. Ihm ist das Weiterführen der Ehe nicht zumutbar. Daher verlässt er die eheliche Wohnung. ({13}) Schauen Sie sich den Fall in Kempten einmal genau an! Kurde heiratet Kurdin in Deutschland. Sie will und kann mit ihm nicht mehr zusammenleben. Die Ehe ist ein Martyrium für sie. ({14}) Er zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus. Er kommt aber zurück und vergewaltigt sie. Daraufhin reicht sie die Scheidung ein. Aber in der Zwischenzeit bekommt sie noch ein Kind von ihm. Die Behörde glaubt ihr nicht. Das war ein schwerer Fehler und eine unsensible Entscheidung der Behörde in Kempten. Aber dafür gibt es ja Gott sei Dank Gerichte, die solche Entscheidungen korrigieren und in diesem Fall korrigiert haben. ({15}) An diesem Beispiel kann man aber auch einen anderen Punkt erkennen: Wir müssen Frauen, die hier leben, vor solchen gewalttätigen Männern schützen, die nach Deutschland ziehen und die sich niemals in unserem Land integrieren können. ({16}) Den Kolleginnen und Kollegen - von den Grünen, von der PDS, von wo immer -, die diese Änderung wollen, sage ich: Sie meinen es gut; Sie wollen diesen Frauen helfen. Aber in Wahrheit helfen Sie je nachdem, wie der Fall liegt, auch den männlichen Peinigern. Lassen Sie mich zum Schluss noch ein paar ganz konkrete Fälle vortragen. Frau Kollegin Wolf, es gibt eben nicht nur den einen Fall, den Sie - warum auch immer - im Auge haben, nämlich den Fall einer nachziehenden Ausländerin, die von brutaler deutscher Männerhand gepeinigt wird. Diesen Fall gibt es zwar; aber es gibt auch ganz andere Fälle. ({17}) Beispiel: Der Ägypter Ahmed kommt nach München als Mathematikstudent. Das Studium nimmt er aber nie auf. Er weiß, er muss eines Tages ausreisen. Das will er aber nicht. Also sagt er seiner Vermieterin - er ist 25, sie ist 63 -: Ich heirate dich; als Gegenleistung darf ich in Deutschland bleiben. Er verspricht auch, die Vermieterin zu pflegen, für sie zu sorgen; denn sie ist schwer körperbehindert. Kurze Zeit nach der Eheschließung ich berichte aus den Akten in München - pflegt er sie nicht, sondern schlägt er sie, von Woche zu Woche mehr. Er raubt ihr den Pass, er raubt ihr das Geld, den Schmuck und alles, schließt sie in der Wohnung ein, sodass sie nicht mehr herauskommt. Nur einem glücklichen Umstand war es zu verdanken, dass sie ins Frauenhaus flüchten konnte. Wollen Sie diesem Typen durch Ihre zweijährige Fristenregelung helfen? Er kann nach zwei Jahren hier bleiben, weil er ein eigenständiges Aufenthaltsrecht hat, und kann weiter diese Frau peinigen. ({18}) Das wollen Sie nicht, aber Sie bewirken es, ohne es zu wollen. Herr Präsident, lassen Sie mich noch einen zweiten und dritten Fall kurz vortragen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ihre Redezeit verlängert sich nicht automatisch. Sie ist abgelaufen. ({0})

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann gestatten Sie mir bitte, dass ich ganz kurz nur noch einen Fall vortrage. Es geht um einen Nigerianer, der seine Aufenthaltserlaubnis dadurch erlangt hat, dass er eine deutsche Touristin in Lagos geheiratet hat. Er ist dann mit ihr nach Deutschland eingereist und hat, weil er früher Asylbewerber in Deutschland gewesen ist, sofort wieder Kontakt zu seiner nigerianischen Freundin aufgenommen, die als Asylbewerberin noch hier war. Seine deutsche Frau hat er gezwungen zu gestatten, dass seine nigerianische Freundin in die eheliche Wohnung mit einzieht. Das hat sie freilich abgelehnt. Daraufhin hat er sie so sehr geschlagen, dass sie die Polizei rufen musste. Sie reichte die Scheidung ein. ({0}) Da aber die Dreijahresfrist für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht noch nicht abgelaufen war - das galt damals -, hat er natürlich sofort eine neue deutsche Frau geheiratet und er lebt nach wie vor in Deutschland. Das ist das Produkt Ihres Gesetzesvorschlags mit der Fristenregelung von zwei Jahren. ({1}) Das, meine Damen und Herren, lehnen wir aus guten Gründen ab: weil wir Frauen schützen wollen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin in dieser Aussprache hat das Wort die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Sonntag-Wolgast.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002191

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich war eigentlich schon ganz hoffnungsvoll bei einigen Beiträgen aus der Opposition, zum Beispiel bei der differenzierten Auseinandersetzung von Frau Falk mit unserem Gesetzentwurf oder auch bei den Argumenten des Kollegen Stadler. Ich dachte also, wir seien auf gutem Wege. Nur leider haben Sie, Herr Kollege Uhl, uns auf den Boden der nicht so erfreulichen Tatsachen zurückgeführt. ({0}) Herr Uhl, was mir auffiel: Sie haben viele Mühe und viel Argumentationsverrenkungen aufgewandt, um die Argumente, die für das Gesetz und für die Änderung sprechen, genau in das Gegenteil zu verkehren und Fälle vorzuführen, die Sie als Beweis anführen, die aber in keiner Weise der Realität entsprechen, die wir besser regeln wollen. ({1}) Herr Uhl, gerade weil es Schicksale gibt wie das der 30-jährigen Kurdin Tülay Oguz - es ist heute mehrfach zitiert worden -, müssen wir etwas tun. Ich finde: Was jetzt geschieht, ist längst überfällig gewesen. Man erlebt manchmal Momente im Parlament, wo man richtig aufatmet und sagt: Na endlich! Es ist wirklich ein guter Tag. Wenn Sie einmal auf den Antrag schauen, stellen Sie fest, dass zunächst alle Parlamentarierinnen, die dies unterstützen, genannt werden und dann die Männer folgen. Das kommt nicht alle Tage vor. Das ist auch ein Zeichen dafür, dass sich Frauen um dieses Thema, das tatsächlich in erster Linie Frauen betrifft, kümmern, tätig werden und gemeinsam Druck ausüben. Wir haben wirklich lange um diese Reform des § 19 des Ausländergesetzes gerungen, um ausländischen Ehegatten und vor allem Ehegatinnen deutlich früher als bisher das eigenständige Aufenthaltsrecht zu geben und um Härtefälle wirklich so zu regeln, dass es dem humanitären Anspruch des Staates gerecht wird. ({2}) Schon vor Jahren ist die Forderung nach einem eigenständigen Aufenthaltsstatus nicht erst nach vier, sondern schon nach zwei Jahren ehelicher Gemeinschaft und nach einer großzügigeren Handhabung im Härtefall erhoben worden, und zwar nicht nur von uns, den Parlamentarierinnen und Parlamentariern, sondern auch von vielen Frauenverbänden, Menschenrechtsorganisationen und Vertretern aus Kirchen und Gewerkschaften. Das, was heute eingebracht wird, zeigt Augenmaß und stützt sich auf einen breiten Konsens in der Gesellschaft. Deswegen hoffe ich auf zügige Beratungen und auf baldige Verabschiedung des Gesetzentwurfes. Außerdem, liebe Kollegen und vor allem liebe Kolleginnen, hoffe ich noch immer auf Zuspruch über die Grenzen zwischen Regierung und Opposition hinweg. Den haben diese Initiative und diejenigen, die es betrifft, wahrlich verdient. ({3}) Herr Kollege Uhl, Sie glaubten, dieses Gesetz sei zustimmungspflichtig. Diesen Punkt haben wir in unserem Hause gründlich prüfen lassen. Wir können tatsächlich zu einer schnellen und zügigen Verabschiedung kommen, ungebrochen durch irgendwelche Kompromisse, die wir sonst machen müssten. Ich finde, dass der Ansatz nicht über das Ziel hinausschießt; er ist vielmehr abgewogen und angemessen. ({4}) Einige Bemerkungen dazu, dass die Frist zur Erlangung des eigenständigen Aufenthaltsrechts halbiert werden soll. Viele, die sich in der Lebenswirklichkeit auskennen, sagen, dass man einer Halbierung zustimmen kann. Ganz auf eine solche Frist verzichten wollten und können wir nicht, denn ein gewisses Maß an Integration sollen die Betroffenen - da haben Sie Recht - im Regelfall erlangt haben; außerdem wollen wir Scheinehen vermeiden. Aber ich möchte den Unkenrufern im Lager der Gegner dieses Gesetzentwurfs, die jetzt massenhaften Missbrauch unseres Aufenthaltsrechts via Eheschließung wittern, entgegenhalten: Erstens sind die zwei Jahre der richtige Zeitraum, um solche Risiken einzudämmen. Zweitens lehnt diese Bundesregierung eine Migrationspolitik, die ausschließlich von Misstrauen gegenüber Ausländern geprägt wird, ab. ({5}) Meine zweite Bemerkung betrifft die Härtefälle. Hierunter fallen diejenigen, die nach kurzer Zeit von ihren Ehepartnerinnen oder Ehepartnern unerträglich schikaniert und gequält werden. Solche Fälle dulden keine Wartefrist - weder vier noch drei, noch zwei Jahre. Die Verbesserung, die 1997 im Zuge der Veränderungen des Ausländergesetzes erreicht worden ist, bleibt, Frau Kollegin Falk, unzulänglich. Diese Verbesserung beschränkt sich auf den Begriff der so genannten außergewöhnlichen Härte. Darunter versteht man in erster Linie das, was einem Ehepartner in der Heimat droht, wenn er mangels eigener Aufenthaltsberechtigung Deutschland verlassen muss. Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, spricht von „besonderer Härte“ und will eben auch die Fälle umfassen, bei denen das weitere Festhalten an einer tief zerrütteten Ehe in Deutschland unzumutbar geworden ist und auch die seelische und körperliche Gesundheit von Kindern gefährdet ist. Sie beschwören die „Einladung zur Zwangsprostitution“. Genau das müssen Frauen eher dann erleiden, wenn sie kein eigenständiges Aufenthaltsrecht haben, wenn sie sich nicht wehren können, wenn sie solchen schikanösen Behandlungen ausgesetzt werden. Gerade dagegen wird das Gesetz einen Damm errichten. ({6}) Wir helfen den Opfern dieser Verhältnisse und befreien sie von dem Druck, sich misshandeln und ausbeuten zu lassen, weil sie außerhalb einer schrecklich zerstörten Gemeinschaft keine Existenzmöglichkeit für sich sehen. Das, meine Kolleginnen und Kollegen, ist ein Beitrag zur Stärkung der Menschenwürde und zum Abbau von Gewalt im intimsten Bereich des Zusammenlebens. Die Gesetzesänderung dient aber auch dem Frieden in unserer Gesellschaft und der Integration von Zuwanderern; denn ein eigenständiges Aufenthaltsrecht stärkt diejenigen, die sich in dieser Gesellschaft wohl fühlen wollen, die sich hier eingliedern wollen. Genau das, was Sie als Gefahr an die Wand malen, sehe ich nicht. Ich sehe eher, dass das Gesetz in einer ganz anderen Weise und in einer ganz anderen Richtung hilft. Das Fazit: Nach dem neuen Staatsangehörigkeitsgesetz, nach der Einigung mit den Ländern über eine Altfallregelung für langjährig hier lebende Familien ist dies die dritte Innovation, die diese Koalition in der Ausländerpolitik auf den Weg bringt. Man könnte so schön offiziell sagen: Die Bundesregierung begrüßt das. Ich gehe ein wenig weiter. Ich sage: Ich bin froh und erleichtert, dass wir diesen Reformschritt endlich tun. Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/2368 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Rössel, Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Einstieg in eine umfassende Reform der Finanzierung der Städte, Gemeinden und Landkreise ({1}) - Drucksachen 14/1302, 14/2556 Berichterstattung: Abgeordnete Bernd Scheelen Heidemarie Ehlert Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS eine Redezeit von 5 Minuten erhalten soll. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel von der PDS-Fraktion das Wort.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bund und auch die Länder haben die finanziellen Grundlagen kommunaler Selbstverwaltung ausgezehrt. Die kommunalen Investitionen entwickeln sich rückläufig. Die Möglichkeiten, Zuschüsse an soziale, soziokulturelle und ökologische Vereine bei der Erfüllung der so genannten freiwilligen Aufgaben zu geben, sind spürbar eingeschränkt. Der Bund und auch die Länder tragen damit dazu bei, dass die demokratischen Grundlagen dieses Staates zumindest geschwächt werden. Das ist nicht hinnehmbar. ({0}) Die Bundesregierung hat in ihrer Koalitionsvereinbarung zugesagt, die Finanzkraft der Kommunen zu stärken und der kommunalen Selbstverwaltung neuen Anschub zu geben. Wer betrachtet, was seit dieser Zeit passiert ist, muss maßlos enttäuscht sein. Die Einsetzung einer internen Regierungskommission mag unterstützenswert sein, reicht aber nicht aus. Nehmen wir die Fakten, wie der Bund speziell die kommunale Finanzausstattung beeinträchtigt: Die Sanierung des Bundeshaushaltes - dies liegt nur wenige Wochen zurück - wird vorwiegend zu Lasten der sozial Schwachen, aber auch der Länder und Kommunen vollzogen. Der Bund hat versucht, etwa 3 Milliarden DM der Einsparungen zu Lasten der Länder bzw. der Kommunen zu verlagern. Die Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe, ein sozialpolitisch verwerflicher Akt, hat die finanziellen Grundlagen der Kommunen allein mit nahezu 1 Milliarde DM ohne entsprechenden Ausgleich belastet. Die auswuchernden Sozialhilfeetats sind dadurch weiter angestiegen und haben die Möglichkeiten, Probleme im Interesse der Bürgerinnen und Bürger zu lösen, erheblich geschmälert. Darüber hinaus wurde der Unterhaltsvorschuss des Bundes weggekippt und auf die Finanzgrundlagen der Kommunen verlagert. Auch das ist nicht hinnehmbar. Mit der Unternehmensteuerreform, die vorgesehen wird, geht die Bundesregierung einen ähnlichen Weg. Durch die eingeräumte Möglichkeit der Verrechnung des Gewerbesteueraufkommens mit der Einkommensteuerschuld werden die Kommunen, sollte dieser Gesetzentwurf im Bundestag verabschiedet werden, vom Jahre 2001 bis zum Jahre 2004 mit Belastungen in Höhe von 4,5 Milliarden DM betroffen. Das sind die neuesten Schätzungen des Deutschen Städte- und Gemeindebundes - eine unverantwortliche Situation. ({1}) Zugleich soll die Gewerbesteuerumlage als Ausgleich diese Umlage ist an Bund und Länder zu zahlen; von diesem Aufkommen haben die Gemeinden nichts - nach dem Willen der Bundesregierung von derzeit 20 Prozent auf 26 Prozent im Jahr 2001 gesteigert werden. Das bedeutet, dass die Kommunen 4,1 Milliarden DM, die ihnen zurzeit noch zur Lösung ihrer eigenen Aufgaben zur Verfügung stehen, nicht mehr haben würden. All das zeigt, die rot-grüne Bundesregierung hat ihre Koalitionsvereinbarung offenbar ad acta gelegt und sogar einen gegenteiligen Weg eingeschlagen. Das ist nicht zu verantworten. ({2}) Dem steht gegenüber, dass die PDS-Bundestagsfraktion ein alternatives Angebot für den Einstieg in eine kommunale Finanzreform gemacht hat. Dieser Einstieg beinhaltet insbesondere folgende Grundsätze: Wir sind erstens dafür, dass auf Bundesebene endlich das so genannte Konnexitätsprinzip eingeführt wird. Es besagt, dass der Bund und auch die Länder bei der Verlagerung von Aufgaben an die Städte und Gemeinden auch dafür zu sorgen haben, dass die finanziellen Möglichkeiten gleichermaßen übertragen werden. ({3}) Dieser Grundsatz wird vehement belastet und verletzt. So werden etwa 25 Prozent der Sozialhilfekosten der Gemeinden alleine dafür genutzt, die finanziellen Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit zu bezahlen, eine Aufgabe, die ganz und gar nichts mit der Verantwortung der Kommunen und ihrer Daseinsvorsorge zu tun hat. Zweitens verlangen wir, dass die Gemeinden stabile, sichere, eigenverantwortliche Planungsgrundlagen für ihr kommunales Handeln erhalten. Als einen ersten Schritt schlagen wir vor, den Anteil der Städte und Gemeinden an der Lohn- und Einkommensteuer von derzeitig 15 Prozent auf 16 Prozent zu erhöhen. Das ist gerade einmal der Ausgleich für Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre. Drittens. Besonders belastet und betroffen sind aufgrund der eigenen Steuerschwäche die ostdeutschen Gemeinden. Daher fordern wir die Wiederauflage einer kommunalen Investitionspauschale des Bundes, was durchaus verfassungsrechtlich möglich ist und wie wir es im Grundsatz 1991 und 1993 bereits hatten. Dadurch könnten die Gemeinden in Abhängigkeit von ihrer Einwohnerinnen- und Einwohnerzahl über stabile Möglichkeiten verfügen, die rückläufige Investitionstätigkeit zu Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms stoppen, die die Arbeitslosenzahlen so besonders dramatisch nach oben getrieben hat. ({4}) Wir verlangen, dass auch ökologische Momente bei der Erhebung der Grundsteuer berücksichtigt werden. Hier gibt es Chancen, die es zu nutzen gilt. Ich bitte Sie, im Interesse der Städte, Gemeinden und Landkreise, ihrer Einwohnerinnen und Einwohner sowie des sozialen Milieus in den Städten und Gemeinden: Stimmen Sie dem Antrag der PDS für eine Reform der Kommunalfinanzen zu und lehnen Sie den Beschlussantrag des federführenden Finanzausschusses ab. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Bernd Scheelen von der SPD-Fraktion das Wort.

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man muss den Zuhörern auf den Rängen, aber auch den Menschen draußen zu dieser Debatte sagen, dass am 13. Februar in Halle Oberbürgermeisterwahl ist und der Kollege Rössel dort Kandidat ist. ({0}) Ich glaube, dass es damit zusammenhängt, dass die PDS dieses Thema rechtzeitig entdeckt hat, um es heute hier zu behandeln. ({1}) Herr Kollege Dr. Rössel, wir kennen uns ja ganz gut. Trotzdem meine ich, Sie müssten nicht Oberbürgermeister in Halle werden. Ich bin dafür, dass Ingrid Häußler Oberbürgermeisterin in Halle wird. ({2}) - Dass er für Sie ein Problem ist, kann ich mir vorstellen. ({3}) Politik erfährt der Bürger, wenn er nicht gerade Besucher in diesem Hause ist, am unmittelbarsten in seiner Kommune, in seiner Stadt, in seiner Gemeinde, in seinem Landkreis, sei es zum Beispiel durch die Erhöhung der Müllgebühren, für die die Gemeinde die Verantwortung trägt, sei es durch die Unterrichtsversorgung in den Schulen für die Kinder, für die das Land verantwortlich zeichnet, oder sei es durch die Verbesserung der Rahmenbedingungen im Sportverein der Gemeinde, für die der Bund gesorgt hat, indem er zum Beispiel die Übungsleiterpauschale um 50 Prozent heraufgesetzt hat. ({4}) Die Sozialdemokratische Partei ist mit ihren Landtagsfraktionen und mit ihrer Bundestagsfraktion sehr stark in den Kommunen verwurzelt. Wir sind die Kommunalpartei schlechthin, und das seit über 100 Jahren. ({5}) - Das wird auch so bleiben, Herr Kollege, völlig richtig. ({6}) Deshalb, Herr Kollege Dr. Rössel, bedarf es Ihres Antrages zu den Kommunalfinanzen nicht. Denn die Koalitionsfraktionen - Sie haben das in Ihrem Antrag ja aus der Koalitionsvereinbarung abgeschrieben - haben vereinbart, die Finanzkraft der Gemeinden zu stärken ({7}) und das Gemeindefinanzsystem einer umfassenden Prüfung zu unterziehen. Deshalb ist Ihr Antrag heute überflüssig und wir werden ihn ablehnen. ({8}) Außerdem, Herr Kollege, ist Ihr Antrag vom Inhalt her so gestrickt, dass er sowieso abzulehnen ist. Sie wollen den Kommunen, wenn man alles zusammenrechnet, was Sie in Ihrem Antrag aufführen, zusätzlich 36 Milliarden DM zukommen lassen. ({9}) Sie wollen das erreichen, indem der Bund 8 Milliarden DM aus der Sozialhilfe übernimmt, indem den Ostkommunen vom Bund eine Investitionspauschale von 3 Milliarden DM zur Verfügung gestellt wird und indem Bund und Länder zusammen auf 14 Milliarden DM aus der Einkommensteuer zugunsten der Kommunen verzichten. Das macht zusammen schon 25 Milliarden DM, von denen Sie aber nicht sagen - das ist jetzt mein Vorwurf -, wie sie finanziert werden sollen. Dafür gibt es ja nur zwei Möglichkeiten: Die Bundesregierung könnte ein Sparpaket II auflegen. Wenn ich mich allerdings an das Lamento erinnere, das Sie beim Sparpaket I, beim Konsolidierungsprogramm, angestimmt haben, scheint das auszuscheiden. Es bleibt also nur eine Steuererhöhung übrig. Sie sagen aber nicht, welche Steuern Sie erhöhen wollen, denn Ihre Wunderwaffe Vermögensteuer wollen Sie ja zusätzlich mit 5 Milliarden DM an die Kommunen durchreichen, wie auch weitere 6 Milliarden DM aus der Ausweitung des Kreises der Gewerbesteuerpflichtigen. Also was bleibt übrig, um 25 Milliarden DM einzufahren? Man muss die Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte anheben. Man sollte also den Menschen in Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Halle auch einmal deutlich machen, was hinter Ihren Vorschlägen an Konsequenzen steht.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Scheelen, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Seifert?

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Lieber Herr Kollege, Sie werfen uns gerade vor, dass wir keine Finanzierungsvorschläge für das Geld machen, das der Bund an die Kommunen weiterreichen soll. Wollen Sie nicht zumindest einräumen, dass es unmittelbar zur Konsumption beiträgt, wenn wir Geld in diesen Bereichen in die Kommunen geben, das heißt, das Geld unmittelbar wieder in den Kreislauf geht, sodass ein sich selbst tragender Effekt zu erwarten ist, den Sie überhaupt nicht in Rechnung gestellt haben? ({0})

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn ich das richtig verstanden habe, meinen Sie, dass, wenn man 36 Milliarden DM an die Kommunen gibt und sie nicht gegenfinanziert, das durch einen selbsttragenden Aufschwung quasi wieder eingespielt wird. Dieses Argument habe ich bei Ihnen nicht gehört, als es darum ging, die Unternehmensteuerreform und die Einkommensteuerreform zu gestalten. Da sagen wir: Bestimmte Summen muss man als Staat für verzichtbar erklären, um so etwas zu machen. Dabei haben Sie immer vehement dagegen argumentiert. Insofern verstricken Sie sich auch hier wieder in Widersprüche. Was Sie betreiben, ist reiner Populismus. ({0}) Meine Damen und Herren, wir brauchen im Moment keine Steuererhöhungen. Was wir brauchen, sind Steuersenkungen, und das am Beginn eines Konjunkturaufschwungs. Die Bundesregierung ist dabei auf sehr gutem Weg. Die zweite Stufe der Einkommensteuerreform ist gerade zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten. Sie bringt der durchschnittlichen Arbeitnehmerfamilie, verglichen mit dem Jahr 1998, dem letzten Jahr der KohlRegierung, einen Zuwachs von über 2 000 DM im Jahr. Durch das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform auf den 1. Januar 2001 wird die Entlastung auf über 3 000 DM weiter ansteigen. Das, meine Damen und Herren, ist die größte Steuerreform, die es in der Geschichte der Bundesrepublik jemals gegeben hat. Das ist erst durch konsequente Sparpolitik möglich geworden, und zwar durch die konsequente Sparpolitik dieser Bundesregierung und insbesondere von Finanzminister Hans Eichel. ({1}) Diese Sparpolitik ist bei Ihnen, bei der versammelten Opposition von PDS bis CSU, auf vehemente Ablehnung gestoßen. Aber dieses Zukunftsprogramm 2000 hat erst die Spielräume eröffnet, um Bürger und Unternehmen weiter von Steuern zu entlasten und gleichzeitig die Neuverschuldung herunterzufahren. ({2}) Der Staat, meine Damen und Herren, muss lernen, wieder mit dem Geld auszukommen, das die Bürger ihm geben. Diese Erkenntnis hat es in den 16 Jahren Regierungszeit von Helmut Kohl nicht gegeben. Im Gegenteil: Die Staatsverschuldung wurde in Schwindel erregende Höhen getrieben. 1,5 Billionen DM liegen als Schuldenberg vor und sind abzuarbeiten. Sie bedingen eine jährliche Zinsbelastung des Bundes von 82 Milliarden DM eine Summe, die sich der Normalbürger nicht vorstellen kann. Man kann es sich vielleicht so verdeutlichen: Bei 82 Millionen Bürgern entfallen etwa 1 000 DM auf den Kopf jedes einzelnen Mitbürgers. Jeder, von den Neugeborenen im Kreißsaal bis zu den Menschen auf dem Sterbebett, müsste also zu Beginn jedes Jahres erst einmal 1 000 DM auf den Tisch legen. Jeder muss 1 000 DM auf den Tisch legen, ohne damit Anspruch auf staatliche Leistungen zu haben. Das ist die Voraussetzung dafür, dass der Staat überhaupt anfangen kann, etwas zu tun.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Scheelen, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Rössel?

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Rössel.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Lieber Kollege Scheelen, Sie haben festgestellt, dass die Bundesregierung das Steuerentlastungsgesetz um ein Jahr auf das Jahr 2001 vorziehen wird. Können Sie bestätigen, dass sich dadurch negative finanzielle Auswirkungen auf die Kommunen in einem Umfang von 3,5 bis 3,8 Milliarden DM jährlich ergeben, da die Kommunen mit 15 Prozent an der Lohn- und Einkommensteuer beteiligt sind? Wenn ja, wie wollen Sie diese Verluste für die Kommunen ausgleichen? ({0})

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Dr. Rössel, eines ist klar: Wenn man Steuersenkungen im Einkommensteuerbereich betreibt, dann sind die prozentualen Anteile der Ausfälle, die auf die verschiedenen staatlichen Ebenen entfallen, auch von diesen staatlichen EbeBernd Scheelen nen zu tragen. Die Gemeinden sind mit 15 Prozent an der Einkommensteuer beteiligt. Jetzt komme ich auf Ihr Argument von eben zurück, das zeigt, wie populistisch Sie argumentieren. Sie haben gesagt, man müsse eine Nettoentlastung vornehmen, damit es einen selbsttragenden Aufschwung gibt, der die Steuereinnahmen wieder sprudeln lässt. Genau das ist hier unser Ansatz: Wir wollen die Einkommen- und Unternehmensteuern senken, um den Menschen mehr Geld in die Hand zu geben, damit die Konjunktur weiter an Fahrt gewinnen kann und sich der Aufschwung dadurch stabilisiert. ({0}) Genau das ist die Politik, die wir betreiben. Wenn Sie sie unterstützen, ist es umso besser. Meine Damen und Herren, die 82 Milliarden DM an dieser Stelle wurde ich durch die Zwischenfrage unterbrochen - bedeuten pro Sekunde 2 400 DM Zinsen, die der Staat auf den Tisch legen muss. Während meiner zehnminütigen Redezeit sind das, sollte ich sie ausnutzen, etwa 2 Millionen DM, die der Staat aufbringen muss. Der Staat aber sind die Bürgerinnen und Bürger, die durch ihre Arbeit und ihre Leistungen an den Staat diese Schulden abtragen müssen. Deswegen war es dringend an der Zeit, eine Trendwende einzuleiten. Diese ist mit dem Zukunftsprogramm gelungen. ({1}) Wir werden Jahr für Jahr die Neuverschuldung reduzieren und im Jahr 2006 zum ersten Mal seit Jahrzehnten einen ausgeglichen Haushalt vorlegen. Erst dann können wir daran gehen, den Schuldenberg abzubauen und die Belastungen der Zukunft zu reduzieren. Das Zukunftsprogramm, Herr Dr. Rössel, belastet die Kommunen unterm Strich eben nicht; insofern sind Ihre Rechnungen falsch. Die Gemeinden profitieren in vielen Bereichen. Einige will ich Ihnen nennen: Sie profitieren zum Beispiel von der Begrenzung des Anstiegs der Regelsätze in der Sozialhilfe, von der Begrenzung des Zuwachses der Pensionen und der Beamtengehälter, von der Senkung des Rentenversicherungsbeitrags, den auch die Kommunen als Arbeitgeber zu zahlen haben - ihn haben wir jetzt schon um einen Prozentpunkt gesenkt, und weitere Senkungen sind im Rahmen der ökologischsozialen Steuerreform vorgesehen -, und von Maßnahmen im steuerlichen Bereich, beispielsweise von der Abschaffung des Vorkostenabzugs bei den eigenheimzulagebegünstigten Wohnungen und von der Senkung der Höchstsätze für die Eigenheimzulage. Daraus - das wissen auch Sie - finanzieren wir eine Erhöhung des Wohngeldes, und das entlastet wiederum die Kommunen bei der Sozialhilfe, die sie zu zahlen haben. Herr Kollege Rössel, ich muss Ihnen noch einmal widersprechen: Die Ausgaben für die Sozialhilfe sind in vielen Kommunen rückläufig, Gott sei Dank. ({2}) - Doch, das ist in vielen Kommunen der Fall.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Scheelen, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ehlert?

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin schon von meinen Kollegen darauf hingewiesen worden, dass wir ein wenig auf die Zeit achten müssen. Ich weiß, dass die Fragen nicht auf meine Redezeit angerechnet werden, aber sie verlängern die gesamte Dauer der Debatte. Deshalb bitte ich Sie, Frau Kollegin Ehlert, um Verständnis, dass ich jetzt keine Frage mehr zulassen möchte. ({0}) - Wir unterhalten uns hinterher. Die rückläufigen Ausgaben der Sozialhilfe in mehreren Kommunen - wir eruieren gerade, wie viele es genau sind - hängen unter anderem mit Anstrengungen zusammen, die die Bundesregierung zum Beispiel mit dem Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, das Arbeitsminister Riester aufgelegt hat, unternommen hat. Dieses 2 Milliarden DM teure, überaus erfolgreiche Sofortprogramm hat dazu geführt, dass 200 000 Jugendliche von der Straße geholt werden konnten. Das ist eine großartige Leistung, die sich im überproportionalen Rückgang der Arbeitslosenquote bei den Jugendlichen manifestiert. ({1}) Die ökologisch-soziale Steuerreform belastet die Kommunen unter dem Strich nicht, auch wenn in der Öffentlichkeit Gegenteiliges behauptet wird. Die moderate Erhöhung der Kosten - wir haben uns für die Halbierung der Sätze ausgesprochen und sie beschlossen bei Strom und Diesel beim öffentlichen Personennahverkehr wird durch die Entlastungen bei der Rentenversicherung kompensiert. Weitere Maßnahmen dieses Gesetzes entlasten die Betreiber des öffentlichen Personennahverkehrs - das sind in der Regel die Stadtwerke auch auf anderen Gebieten. Berlin - das habe ich heute Morgen im Radio gehört - hat die Konsequenz daraus gezogen, die Preise in diesem Jahr nicht zu erhöhen. Dazu kann ich nur sagen: Gut so, das ist die richtige Entscheidung. Fazit: Die Städte, Gemeinden und Kreise sind bei dieser Bundesregierung in den besten Händen. ({2}) Wir werden die Gemeindefinanzen reformieren - das ist in der Koalitionsvereinbarung festgelegt -, und dazu sind bei Bund und Ländern Arbeitsgruppen eingerichtet, deren Ergebnisse allerdings - hier bitte ich um ein wenig Geduld - abzuwarten sind. Es macht keinen Sinn, die Diskussionen in den Arbeitsgruppen durch öffentliche Debatten zu begleiten. Dabei kommt in der Regel nichts herum. Den Gemeinden kann am besten durch eine Politik für mehr Wachstum und Beschäftigung geholfen werden. Mehr Arbeitsplätze bedeuten weniger Ausgaben bei der Sozialhilfe. Wirtschaftsaufschwung bedeutet sprudelnde kommunale Finanzquellen. Eine Gemeindefinanzreform muss sich allerdings auch an dem Ziel orientieren, die Einnahmen der Kommunen zu verstetigen. Auch muss ein Bindeglied zwischen Wirtschaft und Kommunen erhalten bleiben, wie es im Moment und seit Jahren die Gewerbesteuer darstellt; das wird auch in Zukunft so sein müssen. Zudem müssen wir die Finanzkraft der strukturschwachen Kommunen stärken. Wer allerdings glaubt, dafür müsse man Steuern erhöhen, der irrt; denn der Staat - ich wiederhole mich muss mit dem Geld auskommen, das ihm die Bürger geben. Das gilt nicht nur für den Bund, sondern auch für Länder und Gemeinden. Der Streit wird darüber zu führen sein, wer mit welchen Finanzmitteln auf welcher Ebene welche Aufgaben zu erfüllen hat. Dazu erarbeiten die Bund-Länder-Arbeitsgruppen Vorschläge. Ich bin dafür, dass wir diese diskutieren, wenn sie auf dem Tisch liegen, aber nicht heute. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Jochen-Konrad Fromme von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Jochen Konrad Fromme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Scheelen, damit es keine Legenden gibt, eines vorab: Von den 1,5 Billionen DM Schulden musste nahezu die Hälfte aufgewendet werden, um die Folgen von 40 Jahren Sozialismus zu beseitigen. Diesem Programm haben Sie im Bundesrat uneingeschränkt zugestimmt, sodass Sie mit die Verantwortung dafür tragen. Das können Sie nicht einfach den anderen in die Schuhe schieben. ({0}) Sie sagen - und das ist richtig -, dass wir keine Steuererhöhung gebrauchen können. Aber Sie tun etwas anderes: Über die AfA-Tabellen erhöhen Sie die Steuern klammheimlich in Milliardenhöhe; über die Ökosteuer beschaffen Sie sich neue Steuermittel. Es sind keine Steuersenkungen, sondern Steuererhöhungen. ({1}) Wie gut die Kommunen bei ihnen aufgehoben sind, erkennt man auch an Ihren Versprechungen zur Übungsleiterpauschale. ({2}) Noch im Frühjahr letzten Jahres haben Sie 4 800 DM versprochen, mit 3 600 DM haben Sie dieses Versprechen jetzt „eingelöst“. Meine Damen und Herren, die kommunalen Spitzenverbände haben in der Winterumfrage festgestellt, dass den Kommunen im nächsten Jahr wieder ein Defizit von 2,6 Milliarden DM ins Haus steht. Nach wie vor müssen viele Städte laufende Ausgaben dauerhaft durch Kredite finanzieren, weil ihre Verwaltungshaushalte hohe Defizite ausweisen - Originalton Hajo Hoffmann, Städtetagspräsident und bekanntermaßen Ihr Parteifreund, also ein unverdächtiger Kronzeuge. ({3}) Wie es wirklich um die Kommunen aussieht, macht insbesondere das Beispiel Niedersachsen, in dem dieser Bundeskanzler besondere Verantwortung trug, deutlich. Die Kommunen haben einen Kassenkredit von 2,5 Milliarden DM aufgehäuft. Das heißt: In dieser Höhe haben sie laufende Ausgaben durch Kredite finanziert, was eigentlich verboten ist. Das kennzeichnet die Situation. Folge ist ein Rückgang der kommunalen Investitionen. Wenn die Kraft für Ausgaben nicht vorhanden ist, hat dies natürlich erhebliche Auswirkungen auf den volkswirtschaftlichen Kreislauf. Das Finanzsystem zwingt Kommunen, denen aufgrund bundespolitischer Entscheidungen Einnahmen fehlen oder Ausgaben aufgebürdet werden, sich an die jeweilige Landesregierung zu wenden. Die Bundesregierung macht es sich allerdings zu leicht, wenn sie die Finanznöte der Städte und Gemeinden mit dem Hinweis auf die Finanzverantwortung der Länder abtun. Für einen Teil der Kommunalhaushalte, vor allem für die Jugend- und Sozialhilfe, ist das Ausgabevolumen bundesrechtlich vorgegeben. Zu Recht fordern die kommunalen Spitzenverbände für solche Fälle, dass der Bund nach dem Prinzip der Konnexität zwischen Aufgabenübertragung und Finanzverantwortung die kommunalen Zweckausgaben trägt, soweit die kommunalen Verwaltungen kein nennenswertes Ausführungsermessen haben. Mehr noch: Das durch die Finanzkrise angespannte Verhältnis zwischen den Kommunen und den Ländern kann nur durch eine Gemeindefinanzreform verbessert werden, die das Verhältnis von Aufgaben und Finanzausstattung wieder in Übereinstimmung bringt. Das ist ein Originalzitat von Gerhard Schröder, als er noch Ministerpräsident war und noch nicht hier in Berlin Regierungsverantwortung hatte. ({4}) Die Frage der Gemeindefinanzreform lässt sich in meinen Augen nicht isoliert betrachten. Sie gehört in den Zusammenhang mit der Reform des Föderalismus. Deswegen müssen wir uns mit diesen Fragen viel grundsätzlicher beschäftigen. Deswegen, meine Damen und Herren von der PDS, greift Ihr Antrag auch viel zu kurz. Seine Umsetzung würde zwar Geld für die Kommunen bedeuten - das wäre auch wünschenswert -, aber er verändert die Strukturen nicht, und deshalb ist er abzulehnen. Wer ein föderales System will, der muss auch eine föderale Finanzverfassung haben. Das heißt, Verantwortung für Einnahmen und Ausgaben auf jeder Ebene des Staates wahrzunehmen. Nur dann, wenn es diese wirkliche Verantwortung in einer Hand gibt, können wir auch dazu kommen, dass vernünftig gewirtschaftet wird und die Kommunen für das Ergebnis ihres Handelns verantwortlich gemacht werden können. Davon sind wir meilenweit entfernt, und die Verantwortung dafür liegt bei Bund und Ländern. Veränderungen sind nicht nur deshalb notwendig, weil Art. 28 GG Rechnung getragen werden muss, sondern weil wir davon überzeugt sind, dass kommunale Selbstverwaltung und damit dezentrale Entscheidungsfindung, aber auch dezentrale Kreativität und Wettbewerb unter den Kommunen nötig sind. Was für die Länder gilt, das gilt natürlich auch für die Kommunen. Die kommunale Finanzausstattung ist in mehrfacher Hinsicht strukturell mangelhaft. Erstens. Originäre Aufgaben müssen mit originären Einnahmen finanziert werden. Der hohe Anteil von Zuweisungen und Umlagen an den kommunalen Einnahmen zeigt, dass dieses nicht gewährleistet ist. Zweitens. Der Zusammenhang zwischen Ausgaben und staatlichen Aufgaben muss merklich sein. Wenn der Bürger nicht spürt, dass eine neue Forderung auch Geld kostet, dann wird er mehr fordern, als eigentlich zu bezahlen ist. Wenn diese Merklichkeit nicht wieder hergestellt wird, werden wir die Vollkaskomentalität nicht beseitigen können. Das ist ein struktureller Mangel, und deswegen müssen wir dies ändern. Das gilt insbesondere für die sehr ausgabenträchtige Ebene der Landkreise, die in Bezug auf die Finanzen im Augenblick überhaupt keine Achse zu ihren Bürgern haben. Man kann ungestraft neue Turnhallen, neue Schulen und Ähnliches fordern. Das müssen wir ändern. Drittens. Diese finanzielle Verbindung muss aber nicht nur zwischen der Bürgerschaft und dem Staat bestehen, sondern sie muss auch zwischen der Wirtschaft und dem Staat bestehen, damit man aufeinander Rücksicht nimmt, damit man auf die gegenseitigen Interessen eingeht. Deshalb muss auch im Rahmen der Unternehmensteuerreform über diese Fragen neu nachgedacht werden. Wir haben deshalb in unserem Konzept vorgesehen, dass uns zunächst einmal ein Gutachter beraten soll.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Fromme, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Rössel?

Jochen Konrad Fromme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber bitte.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Lieber Kollege Fromme, Sie haben das Problem der Landkreisfinanzierung angesprochen. Dazu möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Würden Sie dafür plädieren, den Landkreisen eine eigene Steuerhoheit zuzuerkennen? Sollten sie eigene Steuern erheben können? - Dazu möchte ich gern Ihre Position erfahren.

Jochen Konrad Fromme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin schon dafür, dass eine finanzielle Achse zwischen den Bürgern und den Landkreisen geschaffen wird. Ob das im Wege der Erhebung von Steuern passieren muss oder ob man das anders regeln kann, muss man im Laufe der Diskussion sehen. Dazu gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen. Auf jeden Fall muss es nicht eine neue Steuer geben. Wenn ich von Strukturveränderungen rede, beziehe ich mich auf die Frage der qualitativen Verbesserungen der Kommunalfinanzen. Zu der Frage des Volumens komme ich an anderer Stelle. Viertens. Trotz Ausweitung der Aufgaben ist der Anteil der Kommunen an den Steuereinnahmen gesunken. Hatten die Kommunen 1991 noch 12,8 Prozent des Steueraufkommens, so erhielten sie 1999 nur noch 12,3 Prozent. Das wird nach der Finanzplanung im nächsten Jahr ähnlich sein - trotz erheblich gestiegener Aufwendungen im Bereich der Jugendhilfe, trotz erheblich gestiegener Aufwendungen im Bereich der Sozialhilfe. Fazit: Qualität und Quantität der kommunalen Finanzausstattung stimmen nicht mehr. Deswegen brauchen wir eine Gemeindefinanzreform im Rahmen einer Föderalismusreform. ({0}) Die neue Regierung hat versprochen, dass es nicht zu Lastenverschiebungen kommt. Im Koalitionsvertrag ist - das wurde hier bereits gesagt - das Konnexitätsprinzip verankert. Das bedeutet, dass eben Aufgaben und Ausgaben miteinander in Beziehung stehen sollen. Meine Damen und Herren, Anspruch und Wirklichkeit liegen bei Ihnen - wie zum Beispiel auch bei der steuerlichen Behandlung der Übungsleiterpauschale - weit auseinander. Die jetzige Bundesregierung hat mit dem Sparpaket schwer in die kommunalen Haushalte eingegriffen. Das war zum großen Teil kein Sparpaket, sondern ein Verschiebebahnhof. Allein mit der Neuregelung der originären Arbeitslosenhilfe, die hier genannt wurde, hat man nach den Aussagen des Städte- und Gemeindebundes circa 2,5 Milliarden DM mal eben zulasten der kommunalen Kassen verschoben. Ein zweiter schwerer Sündenfall dieser Regierung offenbart sich in der Finanzierung des Familienausgleichs. Die A-Länder haben 1996 eine Sonderregelung durchgesetzt, nach der außerhalb der üblichen Deckungsquotenberechnung die Finanzierung des Familienlastenausgleichs im Verhältnis 74 zu 26 festgeschrieJochen-Konrad Fromme ben wurde. Manche von Ihnen wollen das nicht mehr wahrhaben. Zwei von den damaligen Hauptmatadoren, Herrn Voscherau und Herrn Lafontaine, haben Sie unterwegs verloren. Aber der heutige Bundeskanzler und der heutige Finanzminister Eichel haben als Ministerpräsidenten daran mitgewirkt. In den Unterlagen zum Gesetzgebungsverfahren war ausdrücklich von einem Sonderlastenausgleich die Rede. Es sollte nicht, wie Sie es heute glauben zu machen versuchen, im Rahmen des üblichen Berechnungsverfahrens geregelt werden. So ändert sich mit der Position auch die Einstellung. Nur, aus kommunaler Sicht kann man Ihnen das nicht durchgehen lassen; denn das bedeutet, dass im Laufe der Jahre den Kommunen 6 Milliarden DM vorenthalten worden sind. Das Vorenthalten von 6 Milliarden DM bedeutet, dass die Kommunen ihrem Auftrag nicht mehr in vollem Umfang nachkommen können. Das bedeutet, dass die Ausgaben für das kulturelle Leben gekürzt werden müssen. Wenn Sie einmal offenen Auges durch die Städte und Gemeinden fahren, dann werden Sie sehen, dass im Augenblick die Unterhaltung der Straßen und der Hochbauten sträflich vernachlässigt wird. Wir werden bitter erfahren, dass in Zukunft eine Bauhypothek nach der anderen aufgenommen wird. Jeder Einfamilienhausbesitzer weiß, dass eine unterlassene Unterhaltungsmaßnahme am Ende sehr viel teurer wird. Es droht neues Ungemach. Wenn der von Ihnen neu ins Amt berufene Kartellamtspräsident den Querverbund über den Weg des Wettbewerbrechts aus den Angeln heben will - hier geht es um ein Finanzvolumen von 10 Milliarden bis 20 Milliarden DM, mit dem im Augenblick die Kommunen zum Beispiel den ÖPNV sowie kulturelle und sportliche Einrichtungen finanzieren -, dann müssen Sie für eine Ersatzfinanzierung sorgen. Das Ganze setzt eine Abwärtsspirale in unserer Volkswirtschaft in Gang: Es fehlen Aufträge. Das Fehlen von Aufträgen bedeutet weniger Arbeit. Dies bedeutet wiederum einen Mehrbedarf für die Arbeitslosenunterstützung. Dies bedeutet weniger Steuereinnahmen. Deswegen muss hier Grundlegendes geschehen. Aber das Wichtigste - das kann auch schnell erledigt werden - ist eine gute Wirtschaftspolitik für mehr Arbeit und Beschäftigung. Eine solche Politik kann im Rahmen des vorhandenen Systems - ohne Korrekturen - für mehr Geld in den kommunalen Kassen sorgen. In dem, was wir für richtig halten, unterscheiden wir uns sehr deutlich von Ihnen. Ich möchte jetzt nicht im Einzelnen die Fragen der Unternehmensteuerreform aufribbeln. Aber ich möchte einen Punkt herausgreifen, nämlich die Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer. Sie wollen das auf der Basis des doppelten Messbetrages machen. Das ist eine Einladung zur Anhebung der Gewerbesteuer; denn jede Gemeinde, deren Hebesatz zurzeit unter 400 Punkten liegt, kann die Gewerbesteuer auf 400 Punkte anheben, ohne dass es den Steuerpflichtigen selber trifft; denn dieser bekommt es vom Finanzamt wieder. Ich möchte einmal den Stadtkämmerer sehen, der angesichts der Notlage, in die Sie ihn durch Ihre Politik gebracht haben, dies nicht tun wird. Sie merken: Es gibt strukturelle Mängel in Ihrer Steuerpolitik en masse. Die Kommunen sind bei Ihnen nicht gut aufgehoben, wie Sie das versprochen haben. Ganz im Gegenteil: Still und heimlich werden den Kommunen überall neue Daumenschrauben angelegt. Sie werden neu belastet und können ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen. Mit dieser Koalition sind die Kommunen wahrlich nicht gut bedient. Aber das ändert nichts daran, dass die Union den Antrag der PDS ablehnt; denn dieser Antrag sieht keine strukturellen Veränderungen vor. Aber eine Gemeindefinanzreform muss strukturelle Veränderungen umfassen. Danke schön. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Christine Scheel vom Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Mit der Beschreibung irgendwelcher Horrorszenarien bezüglich der finanziellen Entwicklung in den Kommunen wird keiner Kommune geholfen. Wir müssen stattdessen die föderalen Finanzen grundsätzlich und umfassend neu ordnen. Um dies zu erreichen, haben wir aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November letzten Jahres den Auftrag erteilt, dass der Finanzausgleich insgesamt auf eine neue Grundlage zu stellen ist. Die Arbeiten an diesem Gesetz werden forciert fortgeführt. Die Kommunen werden selbstverständlich - das ist für die Regierung eine klare Sache - an diesen Arbeiten beteiligt. Das heißt, man versucht, die vorhandenen Probleme aufzudröseln. Da hilft ein solcher Antrag wenig. Wir wissen alle, dass die derzeitige Vermischung von Kompetenzen zwischen Bund, Ländern und Kommunen und auch die staatlichen Finanzströme innerhalb des föderalen Aufbaus immer unübersichtlicher geworden sind. ({0}) Das hat nicht die neue Regierung zu verantworten; vielmehr ist dies die Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Wir wissen alle, dass das von Mischfinanzierungen geprägte Bild oftmals auch für die finanzielle Verantwortung der einzelnen Ebenen und für den effizienten Umgang mit Geldern nicht gerade förderlich ist. ({1}) Das ist ein Grundproblem, das gelöst werden muss. Herr Fromme, Sie haben angesprochen, dass Kommunen auf bestimmten Maßnahmen sitzen bleiben. Das liegt - man muss sagen: leider - oft auch daran, dass vonseiten der Länder Komplementärmittel eingestellt werden sollen - die Aufträge waren genehmigt, die Kommunen haben Vorfinanzierungen geleistet -, diese sich dann aber aus der Finanzierungsverantwortung zum gegebenen Zeitpunkt erst einmal zurückgezogen haben. Dementsprechend müssen die Kommunen mit einer hohen Zinslast vorfinanzieren. Wir kennen das vor allem aus Bayern. ({2}) Nicht ohne Not erzielt der bayerische Landeshaushalt zwar in der Öffentlichkeit eine gute Wirkung; aber dahinter steckt auch, dass man viele Gelder noch nicht durchgereicht hat. ({3}) In der neuen Finanzverfassung muss glasklar definiert werden, welche Ebene für welche Aufgabe zuständig ist. Demzufolge muss die finanzpolitische Kompetenz verteilt werden. Mehr finanzielle Autonomie bedeutet ein stärkeres Interesse an Steuereinnahmen und auch mehr Wettbewerb zwischen den Standorten. Das sollte man nicht unterschätzen. Herr Rössel, Sie haben die Zahlen angesprochen. Niemand bestreitet, dass die Kommunen in den neuen Bundesländern über einen sehr engen finanziellen Spielraum verfügen. Die Landesrechnungshöfe haben Beispiele für Ausgaben geliefert, über deren Sinn man streiten kann. Darüber sind wir uns in diesem Hause einig. Auf der anderen Seite muss man die Gesamtverantwortung des Bundes für die Entwicklung des Ganzen sehen. Wir sind Bundespolitiker. Ich verstehe gut, dass Sie, weil Sie in Halle Wahlkampf machen, versuchen, Kommunalpolitik in die Debatte einzubringen und dementsprechend hier den Kommunalpolitiker mimen. Wir tragen eine Gesamtverantwortung, und zwar für alle Länder und alle Kommunen. Wenn wir uns die Zahlen für 1999 anschauen, dann wird deutlich, dass der Bund und die Länder Defizite ausweisen, während die Kommunen mit einem Finanzierungsüberschuss von insgesamt 2,5 Milliarden DM wesentlich günstiger dastehen. Zur Erinnerung: 1997 hatten die Kommunen noch ein Defizit von 5,9 Milliarden DM. Das Gesamtdefizit ist zurückgegangen, weil die Kommunen ihrer Verantwortung, ihre Haushalte zu konsolidieren, Rechnung getragen haben. Ich möchte noch eine Prognose für das Jahr 2000 abgeben. In den Zahlen des BMF wird davon ausgegangen, dass die Kommunen als einzige föderale Ebene mehr Einnahmen als Ausgaben haben werden. Die Rede ist von 1,5 Milliarden DM. ({4}) Wenn man das Zukunftsprogramm 2000 anschaut, dann erkennt man, dass es Ihrerseits der Ehrlichkeit halber angebracht wäre, diejenigen Teile, die sich von diesem Reformpaket positiv auf die Kommunen auswirken - beispielsweise die Begrenzung des Rentenanstiegs oder die Eigenheimzulage -, anzuerkennen, statt es mit keiner Silbe zu erwähnen. Wir müssen den Bogen etwas weiter schlagen: Das gesamte Zukunftsprogramm 2000, das wir seit über einem Jahr verwirklichen, ist natürlich auch Politik im Interesse der Kommunen. Wir setzen unsere Haushaltskonsolidierung fort. Wir setzen ganz eindeutig auf eine wachstumsorientierte Steuerpolitik. Wir lenken den Fokus auf mehr Investitionen und Beschäftigung. Dies wird den Kommunen nützen. Es bringt mehr Arbeitsplätze und baut die Sozialhilfe ab. Das - nicht irgendwelche populistischen Forderungen - ist der richtige Weg. Danke schön. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Gerhard Schüßler von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Gerhard Schüßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003232, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Rössel, Ihr Antrag ist PDStypisch: Er zeigt Probleme auf, ohne in irgendeiner Weise Lösungsansätze zu bieten, allenfalls solche, die nicht realisierbar sind. ({0}) - Herr Kollege Scheelen, wir können hier in einer halben Stunde keine kommunalpolitische Generaldebatte führen. ({1}) Wenn wir eine solche führten, dann müsste man auf vieles von dem eingehen, was Sie gesagt haben. Dann würde von Ihrem Anspruch, die Kommunalpartei in Deutschland zu sein, nicht allzu viel übrig bleiben. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brauchen eine radikale Selbstverantwortung der Kommunen. Das setzt aber voraus - Frau Scheel hat schon darauf hingewiesen -, auch die Verteilung von Steuerquellen in einer Weise zu verändern, dass der erhöhten Selbstverantwortung der Kommunen Rechnung getragen wird. Das wird aber nie Erfolg haben, wenn bei der Verteilung der Staatsaufgaben auf Bund, Länder und Gemeinden alles so bleibt wie bisher. Es gibt einen unauflösbaren Zusammenhang, der da lautet: Reform der Finanzverfassung. Inzwischen hat auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Reform der Finanzverfassung unabweisbar ist. Nur in diesem Zusammenhang kann es die von niemandem mehr bestrittene Gemeindefinanzreform geben. Wer diese Voraussetzung nicht sieht, läuft mit allen Gedanken, Ideen und Anträgen schlicht und einfach ins Leere. Das Herumdoktern an Symptomen führt keinen Schritt weiter. Das gilt auch für den uns heute vorliegenden Antrag der PDS, der zwar - das räume ich ein - manche Reformnotwendigkeiten als Problem richtig beschreibt, aber keine realistischen Lösungen aufzeigt. Im Übrigen enthält der Antrag auch Horrorszenarien, die dem richtigen Gedanken von mehr SelbstverantworChristine Scheel tung fundamental widersprechen. Darauf habe ich schon bei der Einbringung des Antrags in diesem Hause hingewiesen. ({3}) - Ich nenne als Beispiel nur die Revitalisierung der Gewerbesteuer. Alles andere will ich heute nicht wiederholen. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November des vergangenen Jahres rückt der Finanzausgleich, der Teil unserer föderativen Ordnung ist - das ist den meisten nicht mehr bewusst - in das Zentrum des öffentlichen Interesses. Im letzten Jahrzehnt hat der Umfang der Umverteilung von Steuereinnahmen zwischen den Gebietskörperschaften ganz erheblich zugenommen, und das ganz gewiss nicht zum Vorteil der Kommunen. Daran haben allerdings auch die Länder ein erhebliches Maß an Mitschuld. Die Gründe dafür liegen nicht allein in den Folgen der deutschen Einheit. Nein, die Gründe liegen darin, dass es keinen angemessenen Finanzausgleich mehr gibt. Eine weit gehende Nivellierung ist zum Prinzip geworden. Die damit verbundenen großen Probleme - in Sonderheit für die Gemeinden - sind Anlass, nicht nur den Finanzausgleich, sondern die Gestaltung unserer föderativen Ordnung insgesamt zu überdenken. Wir müssen die Fehlentwicklungen, deren Vorhandensein im Grundsatz von niemandem bestritten wird, stoppen und Prinzipien wie Eigenverantwortlichkeit, Subsidiarität und Solidarität in ihrem Verhältnis zueinander neu ordnen. Das ist unsere primäre Aufgabe. Der PDS-Antrag wird dieser Aufgabe in keiner Weise gerecht. Darum wird die F.D.P.-Fraktion ihm auch nicht zustimmen. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS zu einer Reform der Kommunalfinanzierung, Drucksache 14/2556. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1302 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS angenommen. Ich rufe auf den Zusatzpunkt 12: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS Die Ergebnisse des Russland-Besuches des deutschen Außenministers Joseph Fischer am 20. Januar 2000 und die Haltung der Bundesregierung zum Tschetschenienkrieg Ich eröffne die Aussprache. Als Antragstellerin hat die PDS Anspruch auf die erste Rede. Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Gehrcke von der PDSFraktion.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen mit dieser Aktuellen Stunde dem Bundestag die Gelegenheit geben, über den Krieg in Tschetschenien zu diskutieren. Uns schien, dass die von Außenminister Fischer in Moskau geführten Gespräche dazu der richtige Anlass seien. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass der Bundestag unter Anwesenheit von noch mehr Abgeordneten zu einem früheren Termin darüber diskutiert hätte. Mein Dank an alle Kolleginnen und Kollegen, die zu dieser Stunde an dieser Debatte teilnehmen. Aus meiner Sicht ist die an der Reise des Außenministers nach Moskau geübte Kritik unangemessen. Keiner konnte erwarten, dass substanzielle Ergebnisse erzielt werden. Ich halte es für notwendig, dass gerade in Krisenzeiten der Dialog nicht abreißt, man auf Dialog setzt und daran arbeitet. ({0}) Das war übrigens schon zu Zeiten der alten Regierung so, wenn man zum Beispiel an den Krieg in Afghanistan denkt. Aus meiner Sicht ist eine Doppelstrategie der deutschen Politik notwendig. Diese sollte aus einer strikten Ablehnung des Krieges und dem gleichzeitigen Beharren auf Sicherheit für Russland bestehen. Es kann keinen Zweifel geben: Der Krieg Russlands in Tschetschenien ist nicht akzeptabel - weder moralisch noch politisch, noch völkerrechtlich. ({1}) Auch wenn dies in Moskau anders gesehen wird: Es handelt sich um einen Krieg. Terroristen bekämpft man nicht mit Panzern, Artillerie, Flugzeugen und einer ganzen Armee. Das Völkerrecht spricht in diesem Falle von angemessenen Mitteln. Die hier eingesetzten Mittel sind nicht angemessen. Für mich steht auch fest, dass die Ursachen dieses Krieges nicht nur in Tschetschenien selbst, sondern auch in der russischen Innenpolitik zu suchen sind. Ich glaube, dass der Aufstieg des amtierenden Ministerpräsidenten in gewisser Weise damit verbunden ist. Mich besorgt, dass man heute mit Kriegen und nicht mit Frieden Wahlen gewinnen kann. Das möchte ich gerne geändert haben. ({2}) Mich besorgt, dass ich keine politische Konzeption Russlands, wie es aus diesem Krieg herauskommt, erkennen kann. Eine solche politische Konzeption muss eingefordert werden. Wir als Deutscher Bundestag sollten an unsere Kolleginnen und Kollegen in der russischen Duma appellieren, den Krieg in Tschetschenien zu beenden. Seitens der Duma sollte deutlich gemacht werden, dass Russland Frieden auch in Tschetschenien will. Wir sollten an sie appellieren, dass die Bereitschaft internationaler Organisationen hier zu vermitteln, angenommen wird. Wir sollten an sie appellieren, den dortigen Flüchtlingen endlich zu helfen. Ich glaube, wir haben ein Recht, in diesem Sinne an unsere russischen Kolleginnen und Kollegen zu appellieren. ({3}) Zur Wahrheit gehört aber auch, dass im Kaukasus die Interessen verschiedener Kräfte, die Interessen Russlands, Europas, der USA und anderer Staaten - übrigens auch die der NATO - aufeinander stoßen und dass man mit solchen Interessen sensibel umgehen muss. Zur Wahrheit gehört auch, darauf hinzuweisen, dass viele Äußerungen - aus meiner Sicht zu Recht - Unruhe in Moskau auslösen. Auf eine dieser Äußerungen möchte ich kurz eingehen: Für die USA gebe es eigentlich nur eine Region, für die es sich wirklich zu kämpfen lohne, schrieb im Sommer 1998 der damalige Stellvertretende Direktor im Büro des Staatssekretärs im US-Verteidigungsministerium, David Tucker. Dieses Gebiet sei „das Gebiet vom Persischen Golf nördlich bis zum Kaspischen Meer und östlich bis nach Zentralasien“. Er klärt seine Leser auf, warum man für dieses Gebiet kämpfen sollte: Diese Region berge rund 75 Prozent der weltweiten Öl- und 33 Prozent der Erdgasreserven. Ich kann das Gefühl Russlands, eingekreist zu werden, verstehen; es ist nicht von der Hand zu weisen. Ich nenne in diesem Zusammenhang die Osterweiterung der NATO, die Beitrittswünsche der baltischen Staaten und Georgiens, das Angebot Aserbaidschans, NATOKontingente auf seinem Territorium zu stationieren, die neuen Trassen für Erdölpipelines unter Umgehung der billigeren russischen Transportwege und die Debatte, die darüber geführt wird, ob diese Pipelines militärisch durch die Türkei geschützt werden sollen. Ich habe das Gefühl, dass der Krieg in Tschetschenien ohne den Krieg im Kosovo nicht möglich gewesen wäre. Der Krieg im Kosovo hat die Sitten verwildern lassen. ({4}) Ich empfinde die Situation so: Zwei Züge rasen aufeinander zu, und zwar von der einen Seite die neue NATO-Konzeption, der Krieg im Kosovo, die ausbleibende Ratifizierung des Atomteststoppabkommens und die Debatten über die Aufkündigung des ABM-Vertrages sowie von der russischen Seite der Krieg in Tschetschenien, eine neue Sicherheitsdoktrin, die Senkung der Schwelle für Atomwaffeneinsätze und die gerade heute erschienene Meldung, die Rüstungsausgaben für das Jahr 2000 um 50 Prozent zu erhöhen. Die Wege aus dem Krieg heraus müssen auf der Grundlage einer solchen Doppelstrategie gefunden werden. Russland muss die Sicherheit haben, dass Deutschland für seine territoriale Integrität in Wort und Tat eintritt. Wir sollten unsere guten Beziehungen zu Georgien und Aserbaidschan nutzen, um auch dort für gute Nachbarschaft und die Sicherheit der Grenzen von Russland zu werben. Ebenso klar, wie wir Russland kritisieren, muss unsere Ablehnung des tschetschenischen Terrorismus ausfallen. Die russische Regierung muss den ersten Schritt tun. Sie muss eine friedliche Lösung wollen. Hilfreich wäre es, wenn sie die internationale Öffentlichkeit einbezöge und dafür die Voraussetzungen schaffte. Notwendig ist, dass die internationale Öffentlichkeit - die NGOs, Regierungen, Parteien und internationale Organisationen über den Kaukasus und das Kaspische Meer spricht, die Lage analysiert und die Interessenkonstellationen benennt. Kenntnis, Aufgeschlossenheit und Vorschläge der internationalen Öffentlichkeit würden es den Konfliktparteien in der Region erleichtern, einen Dialog aufzunehmen. Ich erwarte, dass die deutsche Politik dazu einen Beitrag leistet. Es geht um Sicherheit für Russland und Friede in Tschetschenien. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Kurt Palis von der SPD-Fraktion das Wort.

Kurt Palis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001673, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Was als kurzfristige Operation zur Bestrafung und Eliminierung einiger weniger Terrorbanden ausgegeben wurde, ist zu dem geworden, was nicht wenige Beobachter von vornherein vorausgesehen haben: zum zweiten Tschetschenienkrieg Russlands, der inzwischen in den fünften Monat geht. Ein erfolgreiches Ende der Kämpfe ist entgegen wiederholter russischer Ankündigung nicht abzusehen. Die tschetschenische Hauptstadt Grosny erlebt, obwohl bereits in Trümmern liegend, pausenlos Luft- und Artillerieangriffe, dazu einen Häuserkampf Mann gegen Mann. Wie viele Zivilpersonen ihr Leben lassen mussten, ist nicht bekannt; viele müssen aber noch in den Kellern von Grosny um ihres fürchten. Russland meldet offiziell circa 600 tote Soldaten und 1 500 Verwundete. Die Moskauer Presse misstraut den Angaben und schätzt die Verluste auf mindestens 1 300 Tote und circa 5 000 Verwundete. Das „Komitee der Soldatenmütter“ in Moskau geht mit seinen Schätzungen darüber hinaus und spricht von 3 000 Toten und 6 000 Verwundeten. Hinsichtlich der Rebellenverluste schwanken die Angaben zwischen mehreren Hundert und einigen Tausend. Meine Fraktion unterstützt die Bundesregierung in ihrem Bemühen, mäßigend auf die russische Politik einzuwirken ({0}) und für eine Beendigung der Kampfhandlungen zu werben. ({1}) Bombardierungen und groß angelegte militärische Bodenoperationen sind keine geeigneten Mittel der TerroWolfgang Gehrcke rismusbekämpfung. Die zivilen Opfer und die Zerstörung von Dörfern und Städten wiegen am Ende schwerer als die dadurch erreichte Schwächung von Terroristen. Auch wenn wir nachvollziehen können, dass man nach den verheerenden Bombenanschlägen auf russische Wohnhäuser die Schuldigen zur Verantwortung ziehen will, appellieren wir auch von dieser Stelle aus an die russische Seite, die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu beachten und die vielen unschuldigen Menschen nicht zu übersehen, die ihr Leben, ihre Gesundheit und ihr Hab und Gut verlieren. ({2}) Die Erwartung jedoch, der deutsche Außenminister werde mit seinem Appell zur Beendigung der Kampfhandlungen in Moskau auf offene Ohren treffen, wäre auf jeden Fall unrealistisch gewesen. Soweit ich sehe Herr Kollege Gehrcke hat das eben noch einmal bestätigt -, ist sie auch nicht geäußert worden. Selbst die PDS als die diese Aktuelle Stunde beantragende Fraktion muss eigentlich mit dem Ergebnis des Gesprächs von Minister Fischer mit Wladimir Putin und Außenminister Iwanow zufrieden sein. Zum Beleg zitiere ich den ADNBericht von Mittwoch, dem 26. Januar 2000, über die Demonstration der PDS vor der russischen Botschaft, wo es heißt: Eine Isolierung oder gar ein Embargo hielt Gysi für gefährlich, da diese Maßnahmen mit Sicherheit zu einer Verhärtung der Situation führen würden. Auch wolle man den europäischen Frieden mit solchen Forderungen nicht aufs Spiel setzen. Das klingt richtig staatsmännisch. ({3}) Wie aber sollen die europäischen Institutionen und die Bundesregierung bei all dem auch noch „wirksameren Druck auf die russische Staatsführung ausüben“, wie ADN Sie weiter zitiert, Herr Gysi? Dies ist, wie mir scheint, eine hohle Forderung. Sollten sich jedoch Ihre Pläne bezüglich der Reise nach Moskau realisieren lassen, dann können Sie ja zeigen, wie dies funktioniert. Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion begrüßt die Ankündigung der OSZE, in Tschetschenien ein Büro zu eröffnen und vor Ort humanitäre Hilfe leisten zu wollen. Die humanitäre Notlage, insbesondere das Heer der circa 200 000 Flüchtlinge in Inguschetien, erfordert sofortiges Handeln. Die internationalen Hilfsorganisationen sollen und wollen schnell und wirksam helfen. Wenn die russische Regierung in Zusammenarbeit mit den örtlichen Behörden dafür die Voraussetzungen schafft, werden wir darin auch einen wichtigen Teilerfolg des Moskaubesuchs unseres Außenministers erkennen können. ({4}) Ich habe vor wenigen Minuten einer Tickermeldung von Interfax von heute entnehmen können, dass Russland die humanitären Hilfsaktionen im Nordkaukasus unterstützen wolle - so der amtierende Präsident Putin gegenüber dem UN-Generalsekretär Kofi Annan. Es bleibt jedoch das wichtigste Ziel, die russische Seite und die tschetschenischen Kämpfer zu einer Deeskalation und Einstellung der Kämpfe zu bewegen. ({5}) Die gegenwärtige militärische Eskalation birgt die Gefahr in sich, sich in einen anhaltenden Guerillakrieg zu verzetteln und die gesamte Kaukasusregion zu destabiliseren. Eine dauerhafte Lösung der Probleme in dieser Region kann nur politisch herbeigeführt werden. ({6}) Dies Ihren Gesprächspartnern in Moskau in eindringlicher Weise vorgetragen zu haben, entsprach vollständig der Erwartung meiner Fraktion. Dafür, Herr Minister Fischer, danken wir Ihnen. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Kurt Palis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001673, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. Wir sind der Ansicht, dass der Dialog mit Moskau nicht abgebrochen werden darf. Nur durch weitere Gespräche und Anmahnungen kann die russische Regierung zu einer friedlichen Lösung in Tschetschenien gedrängt werden. Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass dieser Ministerbesuch weitere Ergebnisse hatte, die für die Entwicklung der Beziehung zwischen Deutschland und der NATO einerseits und Russland andererseits von großer Bedeutung sind: Wenn es alsbald gelingt, die institutionellen Beziehungen im NATO-Russland-Rat wieder zu beleben, so ist dies ebenso begrüßenswert wie die Festigung und der Ausbau der bilateralen Beziehungen zwischen unseren Ländern. Wir werden uns jederzeit dafür einsetzen. Doch zunächst müssen die Waffen in Tschetschenien schweigen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Andreas Schockenhoff von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht hätKurt Palis ten wir diese Aktuelle Stunde auf Antrag der PDS ja gar nicht gebraucht, wenn Vertreter der PDS vor zwei Tagen im Auswärtigen Ausschuss anwesend gewesen wären, als wir zu diesem Thema gesprochen haben. ({0}) - Herr Gehrcke, ich komme gleich darauf zu sprechen. Sie haben sich in aller Form und korrekt entschuldigt. Sie waren bei der Demonstration vor der russischen Botschaft hier in Berlin. ({1}) Mich hat ein Anflug von Ironie überkommen, dass die Nachfolger der SED, die früher die Völkerfreundschaft mit dem sozialistischen Brudervolk demonstriert haben, auf der Straße Unter den Linden gegen den Krieg in Tschetschenien demonstrieren. Der Frankfurter Sponti und Friedensaktionist Joseph Fischer sitzt in feinem Tuch im Deutschen Bundestag und erklärt, warum wir gegenüber den Kriegsherren im Kreml Zurückhaltung walten lassen müssen. Herr Außenminister, das war schon eine ironische Situation. Ich hätte gern Gedanken gelesen. Mich würde interessieren - Sie brauchen es nicht hier vor dem Hohen Hause sagen, aber vielleicht sagen Sie es mir einmal unter vier Augen; Sie haben ja die Seiten gewechselt -: ({2}) - Dr. Uwe Küster [SPD]: Nehmen Sie mal Herrn Kohl in den Beichtstuhl!) Wenn Sie vorübergehend für ein paar Stunden Ihre Kleider umtauschen könnten, hätten Sie dann nicht Lust, wieder einmal in einer solchen Situation an einer fetzigen Demonstration teilzunehmen? Wir sind von dem Ergebnis Ihres Besuches in Moskau nicht enttäuscht, weil ein anderes Ergebnis realistischerweise nicht zu erwarten war. Wir werfen Ihnen nicht vor, Herr Außenminister, dass Sie mit leeren Händen zurückgekommen sind. Aber die Frage muss schon erlaubt sein, ob es sinnvoll war, sich für das Spiel herzugeben, das im Kreml derzeit gespielt wird. Der Krieg in Tschetschenien ist eine Machtdemonstration, die sich in erster Linie an die eigene Bevölkerung und an das nahe Ausland richtet. Putin hat kein Interesse an einer politischen Lösung; er hat - zumindest bis zu den Wahlen - ein Interesse am Krieg. Die innenpolitische Wirksamkeit dieses Mittels ist ja leider bei den Duma-Wahlen im Dezember bestätigt worden. Für Putin ist dieser Vernichtungskrieg ein Mittel, den Großmachtanspruch Russlands zu untermauern und der eigenen Bevölkerung zu suggerieren, dass Russland dadurch ein stärkeres nationales Selbstbewusstsein wiedererlangen könne. Wir haben es doch mit Krieg als Strategie zur Machterhaltung zu tun. Nur militärische Erfolge konnten Putin die Zustimmung in der Bevölkerung geben, die er heute genießt. Deswegen müssen wir aufpassen, dass die Appelle, die gut gemeint und die auch richtig sind, in dieser Situation nicht zu einer Demonstration der Hilflosigkeit des Westens werden. Der Krieg hat innenpolitische Motive. Deswegen zeigt die Reaktion Russlands, dass es sich nicht für unsere Haltung in dieser Frage interessiert. ({3}) Die Entwicklungen im Kaukasus stehen viel stärker als beim ersten Tschetschenienkrieg im Kontext wachsender geostrategischer Gegensätze zwischen Russland und anderen Regionalmächten wie etwa der Türkei. Aber in zunehmender Weise haben auch die Vereinigten Staaten von Amerika den Kaukasus und Zentralasien explizit zu einer strategischen Interessenzone erklärt. ({4}) Demgegenüber ist die öffentliche Reaktion der Vereinigten Staaten jetzt auffallend zurückhaltend. Wir Europäer stehen erst am Anfang, eine gemeinsame Strategie gegenüber Russland zu entwickeln, die wir dringend brauchen. Im Moment besteht Einigkeit noch nicht in hinreichendem Maße. Aber wir sind diejenigen, die Aktivitäten entfalten und die sich zum Musterschüler entwickeln, indem wir nach Moskau fahren, um Appelle zu überbringen. Der Verdacht kann ja nicht von der Hand gewiesen werden, dass die Aktionen auch bei uns manchmal eher aus innenpolitischen oder auch aus parteiinternen Motiven erfolgen. Wir begrüßen, dass sich Europa seit dem ersten Tschetschenienkrieg intensiver in der Region engagiert. Das beste Beispiel ist die Aufnahme Georgiens in den Europarat im vergangenen Jahr. Wir begrüßen den Versuch, mit Russland gemeinsam Maßnahmen zur Befriedung des Kaukasus vorzuschlagen. Wir glauben aber nicht, dass dies mit einem Russland möglich ist, das einen Krieg zu Wahlkampfzwecken führt. Wir wollen Russland nicht isolieren; Russland isoliert sich selbst, solange es die Spielregeln, die nach unserem demokratischen Verständnis selbstverständlich sind, nicht einhält. Deswegen ist die Frage, ob im Moment öffentliche Zurückhaltung gegenüber Russland nicht angebrachter wäre. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Helmut Lippelt vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Gehrcke, nachdem wir uns alle darin einig sind, dass die Reise des Außenministers nach Russland der Schwierigkeit der Situation angemessen war und deshalb nicht zu beanstanden ist, möchte ich einen Punkt ansprechen, der auch von Ihnen schon angesprochen wurde und über den wir schon lange gemeinsam nachdenken. Es geht um den Zusammenhang zwischen dem Kosovo- und dem Tschetschenienkrieg. Ich glaube, dass man die Situation ein wenig anders als Sie interpretieren muss. Wer die Daten und Fakten genau verfolgt, der weiß, dass seit April 1998 der Aufbau der russischen Truppen in Südrussland Richtung Kaukasus stattgefunden hat. Diese Tatsache muss man im Kopf haben. Man muss aber auch im Kopf haben, dass es eine seltsame Änderung der Kriegsziele unter dem jetzt amtierenden Präsidenten Putin gab. Zunächst Containment, dann Revision des Friedens von 1996, also des von Russland als Schandfrieden empfundenen Friedens. Ich glaube, dass dies schon sehr viel früher der geheime Grund war. Deshalb ist dies alles so kompliziert. Und es wird - nun in Richtung von Herrn Schockenhoff - noch komplizierter, wenn man sieht, dass die Reise des Außenministers auch deshalb unter besonderen Bedingungen stattfand, weil die Provokationen, die den Tschetschenen - zum Teil zu Recht, zum anderen Teil zweifelhafterweise - zugeschrieben wurden, die russische Stimmung so beeinflussten, dass das Reden zur Vernunft so schwierig ist. Eine der Provokationen war der Einfall nach Dagestan; Wahnsinn des Herrn Bassajew. Das andere waren die zusammenfallenden Häuser, über die ja viele verschieden denken. Wir müssen das wissen, wenn wir jetzt über Tschetschenien sprechen. Wir haben im Auswärtigen Ausschuss jetzt nach langem Zögern, weil wir erst auch die andere Seite hören wollten, einen Antrag verabschiedet. Die Debatte, die wir heute führen, ist der Einstieg in eine Debatte, die weitergehen wird. Im Europarat ist, wie ich finde, etwas ganz Hervorragendes geschehen. Ein sehr weit gehender Antrag, den russischen Delegierten ihre Rechte zu nehmen, wurde mit ganz knapper Mehrheit abgelehnt und dann wurde mit den russischen Delegierten eine politische Resolution, die auf sofortigen Waffenstillstand drängt, verabschiedet. Hier zeigt sich die Möglichkeit eines Verhaltens, das wir auch in Betracht ziehen müssen. Im Europarat sitzt der von uns allen hoch geschätzte Herr Kowaljow. Weil ich seine intern gegebenen Wertungen so aufregend fand, dass ich sie mitgeschrieben habe, möchte ich einen entscheidenden Punkt seiner Wertung vortragen als Einstieg in die Diskussionen, die wir in den nächsten Wochen im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Antrages weiterführen werden. Kowaljow sagt, er habe für die Aufnahme Russlands in den Europarat gekämpft. Er habe auch immer gesagt, der Europarat nehme damit eine große Last auf sich, denn Russland sei noch keine Demokratie in unserem Sinne. Ein Ausschluss der russischen Delegation sei berechtigt, wäre aber völlig wirkungslos. Wichtiger sei es, eine ständige Beobachtermission mit weit reichenden Vollmachten zu verlangen, auf sofortige Friedensgespräche zu drängen - was ja auch die russischen Delegierten getan haben - und dafür die Vermittlerdienste des Europarats anzubieten. Dann spricht Kowaljow über Maschadow. Das ist sehr wichtig, weil Maschadow immer wieder von Moskau beiseite geschoben und immer wieder diskreditiert wird, indem er mit unmöglichen Forderungen, etwa Bassajew mal soeben auszuliefern, überzogen wird. Stattdessen baut man hier einen Kriminellen als Quisling auf. Kowaljow sagt über Maschadow - über den er gewiss viel weiß; denn er hat mit ihm damals beim ersten Tschetschenienkrieg im Keller des Regierungsgebäudes im Grosny gesessen -, er hätte nach dem Frieden von 1996, wäre er damals geachtet worden, nur zu gern einen Rechtsstaat in Tschetschenien aufgebaut. ({0}) - Von Russland. Er habe extremistischen Kräften nachgegeben; denn er wollte keinen Bürgerkrieg in Tschetschenien selbst. Dafür habe er jetzt teuer bezahlen müssen. „Aber wir, die Russen“, so Kowaljow, „haben ihm nicht geholfen. Maschadow hatte nur 30 Prozent der Bevölkerung hinter sich, die extremistischen Kommandeure 70.“ Damit beschreibt er die Tragödie eines Mannes, die man, glaube ich, für die weiteren Gespräche mit Moskau im Hinterkopf haben muss, um nicht zu schnell der Moskauer oder der Iwanowschen Rede zu folgen: „Wir brauchen Verhandlungspartner.“ Wenn man dann nach dem Grund der Diskreditierung fragt, heißt es: Maschadow hat ja nichts hinter sich. - Das Problem geht tiefer. Ich glaube, das ist ein Mann, der eine große persönliche Tragik durchlebt. ({1}) - Ein wenig. Aber interessanterweise kommt Rugova wieder. Das ist das Überraschende. Damit in die nächste Woche, wo die Diskussion fortgeführt wird! ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Ulrich Irmer von der F.D.P.-Fraktion.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir kritisieren den Bundesaußenminister nicht dafür, dass er nach Moskau gereist ist und dort versucht hat, auszuloten, um welche Persönlichkeit es sich bei dem neuen amtierenden russischen Präsidenten handelt. Wir halten es für ganz selbstverständlich, dass Kontakte mit denen sich an der Macht befindenden Menschen gesucht, geknüpft und gepflegt werden. Was wir kritisieren, Herr Bundesaußenminister, ist die Diskrepanz, die sich hier zwischen großen Worten und sehr verhaltenem Tun wieder aufgetan hat. Der GipDr. Helmut Lippelt fel von Helsinki hat sehr starke Vokabeln gefunden, um die Situation in Tschetschenien zu beurteilen und zu verurteilen. Sie haben jetzt nach Ihrem Besuch in Moskau öffentlich erklärt, dass gar nicht erwogen wird, irgendwelche Sanktionen gegen Russland zu verhängen, um auf das Kriegsgeschehen Einfluss zu nehmen. Ich weiß - das habe ich Ihnen im Auswärtigen Ausschuss vorgestern bestätigt -, dass Sanktionen immer eine schwierige Sache sind, weil man nicht wissen kann, ob sie, wenn sie verhängt werden, das Ziel, das man damit anstrebt, tatsächlich erreichen oder ob das Ganze nicht ins Leere läuft. Aber von vornherein zu erklären, es würden keinerlei Sanktionen auch nur in Erwägung gezogen, gibt der Seite, die man beeinflussen will, die Möglichkeit, eine „carte blanche“ zu haben. Sie haben doch öffentlich erklärt, dass an Sanktionen nicht gedacht ist. Ich halte es deswegen für wesentlich wirkungsvoller, was die Delegation des Europarates in Moskau erwirkt hat. Unter Leitung des Präsidenten Lord Russel Johnston ist eine Delegation der Parlamentarischen Versammlung in Moskau bei Herrn Putin gewesen, hat dort ganz deutlich gesagt, was die Staatengemeinschaft und insbesondere der Europarat von dem Krieg in Tschetschenien halten und hat Putin daran erinnert, dass seitens Russlands bei der Aufnahme in den Europarat Verpflichtungen übernommen worden seien. Auch Kowaljow hat es damals für richtig gehalten, dass Russland aufgenommen wurde. Jetzt stellt sich heraus, dass die Drohung, die Mitgliedschaft Russlands unter Umständen zu suspendieren oder einzuschränken und die Mandate der russischen Kollegen nicht zu bestätigen, offensichtlich ein wirkungsvolleres Mittel ist als alles andere sonst. Die Russen haben nämlich eine Heidenangst davor, dass ihr Status im Europarat in irgendeiner Weise verändert werden könnte. Deshalb haben sie reagiert. Sie haben Lord Russel Johnston zugestanden, dass eine permanente Beobachtermission des Europarates installiert wird. Man muss jetzt natürlich noch ausloten, wo sie aus Sicherheitsgründen etabliert werden kann. Aber dies ist zumindest ein Zugeständnis. Die Parlamentarische Versammlung hat mit großer Mehrheit gesagt, sie werde weiter ihren Finger in der Wunde lassen, sie werde weiter Sanktionsmaßnahmen gegen Russland erwägen. Das ist eine dringend notwendige Maßnahme, die zeigt, dass die Wirkung erzielt werden kann, dass die Russen weiterhin wissen, dass ihr Verhalten nicht akzeptabel ist. ({0}) Ich möchte noch folgende kurze Bemerkung machen. Herr Putin könnte sich mit der nach wie vor gezeigten Härte in diesem Krieg verrechnen. Man könnte etwas zynisch sagen, die Tatsache, dass man diesen Krieg so führt, wie er geführt wird, um innenpolitisch die Zustimmung bei Duma-Wahlen zu erzielen, beweist schon, dass Russland auf dem Wege zur Demokratie weiter fortgeschritten ist, als das manche für möglich halten. Das ist zwar ein zynisches Argument, aber nicht ganz von der Hand zu weisen. Es mehren sich bedauerlicherweise die Opfer beim russischen Militär; mehr und mehr Tote und Verletzte sind zu beklagen. Wie lange in der öffentlichen Meinung in Russland der Krieg angesichts dieser zunehmenden Zahl von Opfern noch bejubelt wird und innenpolitisch zugunsten der Regierenden als Instrument eingesetzt werden kann, das bleibt abzuwarten. Vielleicht wäre Putin gut beraten, auch aus innenpolitischen Rücksichten den Krieg rechtzeitig zu beenden. Wir wissen, wie wichtig Russland für uns ist. Ohne Russland wird es keine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur geben können. Wir müssen Russland als Partner behandeln. Insofern, Herr Fischer, war das jetzt bei weitem keine Fundamentalkritik. Wir müssen uns aber doch gemeinsam überlegen, wie wir mit den Instrumenten, die wir haben, also OSZE und Europarat, den Druck auf Russland verstärken können, um zu einem Ende des Schlachtens und des Mordens zu kommen. Ich bedanke mich. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Rudolf Bindig von der SPD-Fraktion.

Rudolf Bindig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist Krieg in Tschetschenien. Auch heute wird gekämpft, auch heute wird geschossen, auch heute wird bombardiert. Davon sind betroffen die Zivilbevölkerung, die -in Grosny ist, aber auch die intern vertriebenen Flüchtlinge, die südlich von Grosny in den Bergen eingeschlossen sind, die keine Unterstützung und keine humanitäre Hilfe erhalten. Es gibt die vielen Flüchtlinge in Inguschetien. Es gibt auch die 140 000 Soldaten der Russischen Föderation, von denen keiner den Krieg wollen kann, ihn aber durchzuführen hat. Es gibt auf der anderen Seite auch die tschetschenischen Kämpfer, die sich - aus welchen Motiven auch immer dort engagieren. Deshalb müssen alle Überlegungen darauf gerichtet werden, dort die Kriegshandlungen zu beenden und in Verhandlungen überzuleiten, um nach Wegen zu suchen, wie humanitäre Hilfe geleistet werden kann. ({0}) Für eine sofortige humanitäre Hilfe und für Prozesse zur Überleitung in Verhandlungen muss alles eingesetzt werden, alle internationalen Gremien, die es gibt: Das ist die OSZE, das sind die G-7-Gespräche, das sind bilaterale Gespräche, das ist der Europarat. Ich finde, dass es ganz wirkungsvolle Ansätze gibt, mit einem breiten Spektrum von Maßnahmen zu wirken. Der Außenminister ist dort gewesen und hat dort gesprochen. Als Teilnehmer einer Delegation des Europarates hatte ich die Möglichkeit, mich erst in Dagestan, dann in Tschetschenien und dann in Inguschetien zu informieren und mit den Verantwortlichen im Kreml darüber zu reden und Argumente vorzutragen, dass es unmöglich ist, dort den Konflikt mit Gewalt zu lösen. Alle Erfahrungen, auch mit internationalem Terrorismus, zeigen, dass man sich irgendwann an den Verhandlungstisch setzen muss, wenn man tragfähige Ergebnisse erzielen will, um später nicht wieder einen Partisanenkrieg oder einzelne Terrorakte im Lande zu haben. Wir haben darüber gestern den ganzen Tag im Europarat diskutiert. Hier wurde gesagt: Die Russen haben eine Heidenangst. Das haben sie wahrlich nicht in dieser Frage. Aber sie nehmen das Problem doch ernst, wenn sie sehen, wie die internationale Völkergemeinschaft und andere Staaten Europas darauf reagieren. ({1}) Herr Iwanow hat sich gestern im Europarat fünf Stunden lang die Reden von Parlamentariern aus 41 Ländern angehört. Diese wurden dort im Vier-MinutenRhythmus gehalten. Praktisch alle, die dort geredet haben - ob das die Delegierten aus Großbritannien, aus Frankreich, aus Italien, aus Deutschland, aus Moldawien waren; auch einige russische Redner haben sich entsprechend geäußert -, haben gesagt: So kann der Konflikt in Tschetschenien nicht ausgetragen werden. Das ist kein Kampf gegen angebliche Terroristen, sondern es ist ein Krieg, der auch aus anderen Motiven geführt wird. Wir haben Herrn Iwanow vorgetragen, dass die Russische Föderation mit ihren Maßnahmen die Europäische Menschenrechtskonvention, das Recht auf Leben, den Schutz vor unwürdiger Behandlung oder Strafe, das Recht auf Sicherheit verletzt. Die Vorgehensweise dort verletzt ebenfalls das Genfer Abkommen zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten. Wir haben ihm sogar vorgehalten, dass die Vorgehensweise nicht im Einklang steht mit der Gesetzeslage in der Russischen Föderation. Dort gibt es ein Gesetz zum Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Auf dieser Basis wird das gemacht. Das rechtfertigt aber nicht solche großen Militärinterventionen. Es ist kein Notstand ausgerufen worden - bewusst nicht -, weil man willkürlich handeln will. Man will dort ohne irgendeine Rechtsgrundlage, ohne irgendwelche Regeln vorgehen. Herr Iwanow hat sich dies - Gott sei Dank - fünf Stunden anhören müssen. Dann hat die Versammlung in Ruhe und Besonnenheit Beschlüsse gefasst, um einerseits festzustellen, dass dort schwere Menschenrechtsverletzungen stattfinden, und um diese andererseits mit harten Worten zu verurteilen, einen sofortigen Waffenstillstand zu verlangen und operative Schritte vorzuschlagen, wie man unter Beteiligung des Europarates und der anderen Gremien versuchen kann, Einfluss zu nehmen, damit zumindest - das ist ja auch etwas - humanitäre Hilfe geleistet wird und Verhandlungsprozesse in Gang kommen. Diese Strategie, mit einer Fülle von Maßnahmen verschiedener Gremien und auch bilateral zu versuchen, weiter Einfluss zu nehmen, scheint mir hier ein richtiger Ansatzpunkt zu sein. Andere Gremien und auch die Bundesregierung werden weiter daran arbeiten. Wir hoffen, dass wir die Russen doch noch irgendwie beeinflussen und überzeugen können. Es wird schwer sein. Einige sagen, sie wollten das aus innenpolitischen Gründen durchziehen, so brutal und hart das auch sei. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt Dr. Karl Lamers.

Dr. Karl A. Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002716, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon recht pikant, dass ausgerechnet die PDS diese Aktuelle Stunde zum Thema Tschetschenien beantragt hat, geht es doch nicht zuletzt um Menschenrechte. Bei diesem Thema kann natürlich gerade die PDS ungewöhnlich glaubwürdig auftreten, quasi als Experten, ({0}) nachdem Ihre Vorgänger der SED über 40 Jahre die Menschenrechte mit Füßen getreten haben. ({1}) Jeden Abend sehen wir die schrecklichen Bilder aus Grosny von diesem furchtbaren Krieg, der so viel Leid über die Menschen in Tschetschenien und viele Russen gebracht hat und bringt. Wir alle sind uns sicher einig: Dieser Krieg darf nicht militärisch entschieden werden. Was wir brauchen, ist eine politische Lösung. Das müssen auch die Russen endlich begreifen. Herr Außenminister Fischer hat nach seiner Rückkehr aus Moskau mit Stolz berichtet, dass sich Präsident Putin statt der geplanten einen Stunde ganze eindreiviertel Stunden Zeit für ihn genommen habe. Ich verstehe, das schmeichelt der Eitelkeit. ({2}) Aber für mich ist weniger die Quantität, die Länge des Gesprächs von Bedeutung als vielmehr der innere Gehalt des Gesprächs. ({3}) Sie sprechen von einem tief greifenden, sehr offenen Gespräch. Mich interessiert: Was haben Sie konkret erreicht? Was konnten Sie von unserer, der deutschen, der europäischen, Position umsetzen? Sie haben erklärt, die Verständigung sei gut gewesen - in deutscher Sprache. Ich frage Sie: Haben Sie sich auch gut verstanden? Hat Herr Putin gespürt, um was es geht, nämlich dass kein Land, auch nicht Russland, das Recht hat, das Völkerrecht zu verletzen und gegen Menschenrechte sowie gegen europäische Vereinbarungen und Verhaltensmaßregeln zu verstoßen? All dies geschieht doch in diesem mit unglaublicher Brutalität geführten Krieg Russlands gegen das tschetschenische Volk. Wir müssen doch die Dinge beim Namen nennen. Russland greift massiv zivile Ortschaften an. Russland macht ein ganzes Volk zu Geiseln seiner Machtpolitik. Russland ist verantwortlich für den massenhaften Tod von Zivilisten und für die Vertreibung von Hunderttausenden von Menschen. Das widerspricht dem Völkerrecht. Das alles kann doch nicht mit einer „antiterroristischen Operation“ gerechtfertigt werden! Nein, das verletzt insbesondere den OSZE-Verhaltenskodex von 1994, nach dem kein Staat, auch nicht bei einem Einsatz im Innern seines Landes, unverhältnismäßige Gewalt anwenden darf. Russland will sich aus dem Kaukasus nicht verdrängen lassen. Rechtfertigt das diesen Krieg? Der amtierende Präsident Putin verspricht sich Vorteile für seine Wahl. Rechtfertigt das diesen Krieg? Viele wollen dem neuen Mann auf der diplomatischen Bühne eine Chance geben. Ist das, Herr Außenminister, der Grund für die neue Milde des westlichen Protests? Nützen wir ihm, nützen wir irgendjemandem damit? Müssen wir nicht erkennen, dass das, was wir sagen, fordern und erklären, in Moskau zwar freundlich zur Kenntnis genommen wird, aber doch letztlich keinerlei erkennbare Reaktionen und Konsequenzen in der russischen Politik nach sich zieht? Der Außenminister ist so richtig Realpolitiker geworden und betont immer wieder - sicherlich nicht zu Unrecht -, dass unsere Möglichkeiten, mit Sanktionen auf Russland einzuwirken, in Wirklichkeit sehr bescheiden sind. Herr Fischer ist ein richtiger Diplomat, ganz staatsmännisch. Das passt zum Amt. Aber ich frage mich: Passt es auch zur Person? Ich habe nachgelesen, was Sie, Herr Außenminister, im Jahre 1996, am 28. Februar, bei einer Tschetschenien-Debatte im Deutschen Bundestag zu Bundeskanzler Kohl nach seiner Rückkehr aus Moskau gesagt haben. ({4}) Es ging auch um Tschetschenien, aber es gab einen großen Unterschied: Sie waren noch nicht Außenminister. Sie sind überhaupt, wie ich meine, kaum wiederzuerkennen, in jeder Hinsicht. Herr Fischer war zwar schon damals nicht mehr der große Moralisierer, der er vorher gewesen ist, aber allen Ernstes haben Sie damals dem Bundeskanzler vorgeworfen, er habe das Einklagen der Menschenrechte und einer demokratischen Entwicklung seiner Realpolitik geopfert. Das war Ihr Vorwurf! Sie sprachen von „geduckter Haltung“, gar von „Anbiederung“. Das sind starke Worte, verglichen mit dem, was Sie heute an Verständnis für die Besorgnisse der Russen im Nordkaukasus äußern. Ich heiße nicht Fischer, und deswegen möchte ich meinerseits nicht diese harten Worte wiederholen und auch keine Vergleiche zu damals anstellen. Nur eins möchte ich feststellen: Die Zeiten haben sich geändert. Vielleicht haben Sie auch dazugelernt, geläutert durch das Amt, das Sie heute bekleiden. Ich will nur sagen: Uns allen wird in diesen Wochen klar, wie schwer es ist, Russland tatsächlich in unsere Werteordnung einzubinden und es tatsächlich zu beeinflussen. Dazu bedarf es Mut. Es ist richtig: Putin, der Interimspräsident, schlägt eine neue Linie ein. Ich frage mich: Stehen die Zeichen auf Demokratie und Frieden oder gibt es einen Rückfall in alte, überholte Strukturen und Denkmuster? Was wir jetzt brauchen, ist Realismus, keine Verniedlichung, ist die Bereitschaft, sich dem Neuen zu öffnen, aber auch Wachsamkeit. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Rita Grießhaber.

Rita Grießhaber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Reise des Außenministers war richtig und notwendig. Kollege Schockenhoff ist jetzt nicht mehr da; er hat gefragt, ob es sinnvoll war, sich für das Spiel des Kremls herzugeben. Dazu kann man auch umgekehrt sagen: Was hätten Sie hier für einen Terz aufgeführt, wenn Außenminister Fischer nicht gefahren wäre! ({0}) Dann hätten Sie gesagt: Er versucht nicht einmal, igendetwas zu erreichen. Sie hätten versucht, ihn zu geißeln und uns hier Unterlassungssünden vorzuwerfen. Nun ist er gefahren und da sagen Sie, man gebe sich für ein Spiel des Kremls her. ({1}) Meine Damen und Herren, enttäuschend ist, dass Russland die Beschlüsse des OSZE-Gipfels in Istanbul nicht eingehalten hat, und nicht einmal den russischen Zusagen, wenigstens Sicherheitsgarantien und Erleichterungen für Hilfsmaßnahmen, für humanitäre Maßnahmen zu gewähren, sind Taten gefolgt. Hier müssen wir und auch die Bundesregierung unermüdlich nachhaken, um wenigstens ein Minimum an Verbesserung der Situation der Flüchtlinge herbeizuführen. ({2}) Dr. Karl A. Lamers ({3}) Wir sind hier aber auch noch in einer anderen Weise gefordert: Wenn die wenigen Flüchtlinge, die überhaupt nach Deutschland kommen, hier nach Asyl fragen, stimme ich Pro Asyl zu, die Bleiberecht und Schutz in Deutschland für sie fordern. ({4}) Es ist für mich unfassbar, dass es jetzt noch einen Richter in Deutschland gibt, der nach Grosny abschieben lässt. Deswegen bin ich auch sehr froh, Herr Außenminister, dass wir endlich die Nachricht haben, dass die Bundesanstalt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ab sofort die Entscheidung über Asylanträge russischer Staatsbürger ausgesetzt hat. Was die Situation in Russland und Tschetschenien angeht, sind wir uns hier sicher alle einig: Es leidet zuallererst die Zivilbevölkerung in Tschetschenien. Russland schickt seine jungen Männer in den Tod und letztendlich leidet die russische Gesellschaft als Ganzes unter diesem Verstoß gegen Normen und Grundsätze, die die Grundlage für Menschenrechte, Sicherheit und internationale Zusammenarbeit bilden. Russland versucht, seine Herrschaft über Tschetschenien mit unverantwortbaren Mitteln aufrecht zu erhalten. Aber es kann diesen Krieg auf lange Sicht nicht gewinnen. Im Gegenteil: Dieser Krieg destabilisiert die Region und es ist an der Zeit, dass Russland sich vom Traum der alten Großmachtpolitik verabschiedet und die Lehren aus Afghanistan zieht, statt das Desaster weiter voranzutreiben. Aber so bitter es ist, Herr Kollege Irmer: Wir haben keinen wesentlichen Einfluss auf diese Politik. Leere Drohungen bewirken nichts und rein verbale Zusagen helfen nicht weiter. Russland ist ein anderer Partner auf dem internationalen Parkett als Ex-Jugoslawien. Es hat seine Rolle noch nicht gefunden. Was kann unsere Konsequenz daraus sein? Ich glaube, sie heißt, den Dialog nicht abbrechen, aber mit den Verantwortlichen immer Klartext reden. Sie bedeutet auch, die Kräfte der Zivilgesellschaft wahrnehmen und stärken. Für uns heißt sie, nicht schweigen, nicht nachlassen und nicht resignieren, sondern unsere Forderungen an Russland bei jeder Gelegenheit vorbringen. Unsere Forderung ist bekannt, wir alle haben sie erhoben: die Einhaltung internationaler humanitärer Völkerrechtsbestimmungen. Es geht nicht an, dass man ein ganzes Volk zur Geisel erklärt. Es geht nicht an, dass man die Männer im Alter von 10 bis 60 Jahren - das muss man sich einmal vorstellen - zum Freiwild erklärt, und es geht nicht an, dass man Krankenhäuser beschießt und humanitäre Hilfe nicht zulässt. Das Angebot der OSZE, eine Vermittlerrolle zu übernehmen, steht, und Russland sollte endlich darauf eingehen. ({5}) Die Forderungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats sollten so schnell wie irgend möglich umgesetzt werden: Waffenstillstand, Verhandlungen, Bewegungsfreiheit für die Flüchtlinge und - dafür möchte ich noch einmal ganz dringend appellieren Zugangsmöglichkeiten und verbindliche Schutzzusagen für humanitäre Hilfsmaßnahmen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Carsten Hübner.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte in Stichpunkten mit dem beginnen, was aus Sicht der PDSFraktion im Bereich der Menschenrechte und in der Flüchtlingsfrage getan werden kann und verstärkt getan werden muss, um den Opfern dieses Krieges zu helfen und um diejenigen Kräfte in Russland zu stärken, die diesen Krieg entschieden ablehnen. Erstens. Russischen und tschetschenischen Deserteuren muss in Deutschland ohne Wenn und Aber Schutz gewährt werden. Ihre Weigerung zu töten ist ein wesentliches Moment bei der Schwächung der militärischen Logik in diesem Konflikt. ({0}) Zweitens. Pazifistische Organisationen und Kriegsgegner, etwa das Komitee der russischen Soldatenmütter, müssen massiv politisch und finanziell unterstützt werden. Das gilt nicht zuletzt mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen. ({1}) Drittens. Die Bundesrepublik muss sofort einen Abschiebestopp - ich habe gehört, er sei jetzt ausgesetzt für tschetschenische Flüchtlinge erlassen und einen aktuellen Lagebericht vorlegen. Dieser fehlt nämlich noch immer. Es ist bedenklich - übrigens in jeder Hinsicht -, dass das Auswärtige Amt den letzten Bericht 1998 vorgelegt hat und es heute offenbar noch Entscheider und Richter gibt, die aufgrund dieses Lageberichts ihre Entscheidungen fällen. Es drängt sich schlicht der Eindruck auf, so manche Amtsstube befindet sich entweder im Tal der Ahnungslosen oder - wie so häufig - es dominieren die Asylpraxis auch hier wieder einmal innenpolitische Vorgaben und nicht etwa die jeweilige Menschenrechtslage. Viertens. Die Unterstützung für die Kaukasusrepubliken Inguschetien und Dagestan muss verstärkt werden. Allein Inguschetien hat derzeit etwa 180 000 Flüchtlinge aus Tschetschenien aufgenommen, und das bei einer eigenen Bevölkerungsgröße von etwa 300 000 Menschen. Das muss man sich vorstellen. Rund 80 Prozent der Flüchtlinge sind in Privathaushalten untergekommen, die restlichen 20 Prozent leben unter äußerst problematischen Bedingungen. Laut UNHCR droht derzeit eine Tuberkuloseepidemie. Gegenüber Jürgen Bartel, Mitarbeiter der Hilfsorganisation Care Deutschland, formulierte der inguschetische Minister für Gesundheitswesen dementsprechend eindringlich: Wenn die ausländische Hilfe ausbleibt, sieht es sehr schlecht aus. Inguschetien wendet derzeit - nach eigenen Angaben - täglich 250 000 US-Dollar zur Unterbringung der Flüchtlinge auf. Diese Zahl muss man ins Verhältnis zur Größe des Landes setzen. Fünftens. Gegenüber Russland müssen umgehend erste Anzeichen dafür gibt es - bessere Arbeitsbedingungen für diejenigen Hilfsorganisationen mit Nachdruck eingefordert werden, die die Flüchtlinge unterstützen. Formelle wie informelle Kontakte müssen dafür intensiver genutzt werden. Dies funktioniere auch schon jetzt bei entsprechendem Engagement, wie mir ein Sprecher von Care Deutschland erst gestern versicherte. Derzeit sind, jedenfalls nach meinen Informationen, lediglich UNHCR und Care kontinuierlich und Cap Anamur sporadisch vor Ort. Sechstens. Die Bundesrepublik und die EU müssen ihren Druck auf beide Kriegsparteien dahin gehend verstärken, dass es zu einem Waffenstillstand, zumindest aber zu einer Feuerpause kommt, die es Hilfsorganisationen ermöglicht, der in Grosny eingeschlossenen Zivilbevölkerung wirksam zu helfen, besser noch: sie aus der Stadt zu bringen, wenn es die einzige Lösung ist. Allen Berichten nach leben noch zwischen 10 000 und 30 000 Menschen in der völlig zerstörten Stadt; ihre Lebensbedingungen sind grauenhaft. Hier muss eine Lösung gefunden werden, die über Appelle hinausgeht. Siebtens. OSZE und EU müssen stärken darauf drängen, so schnell wie möglich ein Büro in Tschetschenien zu eröffnen, um von dort aus sowohl im Menschenrechtsbereich als auch in der Frage einer zivilen Konfliktbewältigung aktiv werden zu können. Konkrete Vermittlungsarbeit vor Ort ist nicht selten wirkungsvoller als internationale Diplomatie, zumal als die bisher betriebene. So weit die konkreten Forderungen. Erlauben Sie mir aber noch einige grundsätzliche Bemerkungen. Was sich derzeit in Tschetschenien, aber auch in Russland abspielt, ist eine politische Katastrophe - eine politische Katastrophe, die darauf verweist, wie gefährdet zurzeit der Demokratisierungsprozess in Russland ist, wie stark sich dort soziale und ökonomische Verwerfungen, der Zusammenbruch selbst rudimentärer sozialer Sicherungssysteme und die seitens des Westens offensiv betriebene Verdrängung Russlands von der Bühne der international respektierten Akteure instrumentalisieren lassen, um nationalistischen und chauvinistischen Kräften den Boden zu bereiten, um ein politisch völlig konzept- und hilfsloses, dafür aber umso brutaleres Umsich-Schlagen zu legitimieren. Aber auch wenn klar ist, dass die unmittelbare Verantwortung für das Morden, der Schlüssel für das Ende des Krieges, für eine politische Lösung des Konflikts in Moskau liegt, kann man nicht umhin, auch dem Westen eine nicht unerhebliche Verantwortung für diese Entwicklung zuzuschreiben. Dazu gehört nicht zuletzt eine Menschenrechtspolitik der gespaltenen Zunge. Heiko Kauffmann, der Sprecher von Pro Asyl - er ist eben hier zitiert worden -, hat gestern noch auf etwas anderes hingewiesen. Er hat mit Blick auf den Krieg im Kosovo gesagt, Deutschland und die NATO-Staaten hätten sich im vergangenen Jahr nicht gescheut, einen Krieg gegen Serbien zu führen mit der Begründung, Menschenrechtsverletzungen verhindern zu wollen. Jetzt reiche die Empörung des Bundesaußenministers nicht einmal zu einem entschiedenen Protest gegenüber der russischen Regierung aus. O-Ton Kauffmann: Hier muss man den Eindruck gewinnen, dass Menschenrechte instrumentalisiert, nach zweierlei Maß gemessen werden. Dem ist zuzustimmen, meine Damen und Herren, womit ich keineswegs dafür plädieren will, gegenüber Russland ähnlich verhängnisvoll zu agieren wie gegenüber Serbien, also mit völkerrechtswidriger Gewaltanwendung, der Zerstörung ziviler Infrastruktur und Sanktionen, die allein der Zivilbevölkerung massive Opfer abverlangen. Das wäre eine untaugliche Logik. Woran ich aber erinnern möchte, ist die gerade an diesem Ort von der Bundesregierung vorgetragene moralische Entrüstung, sind die präsentierten Bilder von Vertreibung und Mord, ist der Ruf nach entschiedenen Reaktionen auf die massiven Menschenrechtsverletzungen im Kosovo. Das ist erst wenige Monate her. Und obwohl sich die humanitäre Situation in Tschetschenien - ich komme gleich zum Schluss - derzeit wohl kaum von der im Kosovo unterscheidet - das haben wir alle konstatiert -, herrscht nun vergleichsweise Funkstille oder Pragmatismus, wie man will. Ich möchte, weil ich meine Rede etwas zu lang konzipiert habe, nur noch ein Zitat bringen, weil es mehrfach Appelle an die russische Regierung gegeben hat, was die Verhältnismäßigkeit der Mittel anbetrifft. Um deutlich zu machen, dass die russische Regierung dies in einer ganz bestimmten Art und Weise wertet, möchte ich zitieren, was Edward N. Luttwak, der strategische Berater der US-Regierung, am 25. Januar in der „FAZ“ geschrieben hat: Die russische Taktik ist nicht zimperlich und missachtet die Sicherheit der Zivilisten, die sich noch in Grosny aufhalten, vollkommen. ... Aber westliche Armeen würden keine andere Taktik verwenden, weil sie hohe Verlustzahlen mindestens ebenso sehr scheuen wie die Russen. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich glaube in der Tat, Herr Kollege Hübner, dass das Text für mindesCarsten Hübner tens zehn Minuten war. Man kann nicht schneller sprechen, als Sie es an diesem Pult getan haben. - So viel für das nächste Mal. Jetzt hat der Herr Bundesminister Joschka Fischer das Wort.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man der Debatte gefolgt ist - für jemanden, der an den Debatten des Auswärtigen Ausschusses über Tschetschenien teilgenommen hat, ist dies nicht verwunderlich - und parteipolitische Vorwürfe außer Acht lässt, dann wird man feststellen, dass es in der Substanz eigentlich über alle Fraktionen hinweg Übereinstimmung gibt. Das gilt auch für die PDS-Fraktion. Herr Kollege Hübner, was Sie in der Sache vorgetragen haben, das ist im Wesentlichen das, was die Grundlage unserer Forderungen gegenüber Russland etwa im humanitären Bereich von Anfang an ausgemacht hat, aber über die Schwierigkeiten auf russischem Territorium haben Sie nichts gesagt, und das ist der entscheidende Punkt. ({0}) Die Bundesregierung kann sich eben nicht nur mit Forderungen begnügen. Ich finde es schon putzig: Da wird mir auf der einen Seite vorgeworfen, nicht entschieden genug aufzutreten, und in der russischen Öffentlichkeit wird von Journalisten die Feststellung getroffen, ich sei der härteste Kritiker Europas am Tschetschenienkrieg, und die Frage gestellt, was ich zu folgenden Punkten sage. Es gibt hier eine völlig unterschiedliche Perspektive. Ich denke, wir sollten die Dinge einen Augenblick so analysieren, dass die Handlungsalternativen, die wir haben, tatsächlich klar werden. Nur aufgrund des Versäumnisses, vorhandene Handlungsalternativen nicht genutzt zu haben, für deren Einsatz vieles spricht, würde meines Erachtens ein Vorwurf politisch zu erheben sein. Wir haben es in Tschetschenien mit einer politischen und humanitären Katastrophe zu tun, ohne jeden Zweifel. Sosehr wir das Recht Russlands betonen, ja sogar seine Pflicht, seine Grenzen zu verteidigen, weil niemand ein Interesse an einem sich vielleicht auch nur partiell auflösenden Russland haben kann, sosehr betonen wir aber auch, dass der Kampf gegen Terrorismus, den wir bejahen, mit verhältnismäßigen, rechtsstaatlichen Mitteln geführt werden muss. Der Krieg gegen ein ganzes Volk ist kein verhältnismäßiges Mittel im Kampf gegen Terrorismus. ({1}) Für uns steht das Recht der Selbstverteidigung Russlands gegen Terrorismus mit verhältnismäßigen Mitteln, für uns steht die territoriale Integrität Russlands nicht infrage. Insofern wird man hier nicht darüber diskutieren müssen, sondern man muss die konkrete, spezifische Situation, die zu dieser humanitären und politischen Katastrophe geführt hat, analysieren und daraus die notwendigen Konsequenzen ziehen. Der Vertrag von 1996, der damals unter Lebed ausgehandelt wurde, war so schlecht nicht. Das große Problem, das wir heute haben, ist, dass wir es aufgrund dessen, dass dieser Vertrag nie mit Leben erfüllt wurde Kollege Lippelt hat die tragische Rolle des Präsidenten Maschadow angesprochen -, heute mit einem Dilemma zu tun haben, das wir in Afghanistan in der Tat auf furchtbare Art und Weise zum ersten Mal erleben mussten: entweder Interventionskrieg von außen, die russische, die damals sowjetische Intervention von außen, oder - im Falle des Abzugs - aufgrund des nicht stattfindenden politischen Friedensprozesses die Talibanisierung, das heißt die Fortsetzung des Krieges gegen die Zivilbevölkerung von innen heraus. Das ist die verfluchte Situation, in der wir heute stecken, weil die Zeit seit 1996 nicht für eine politische Lösung genutzt wurde. Ich sage Ihnen, Herr Kollege Hübner: Die Situation in Tschetschenien macht gerade den Unterschied zu dem, was im Kosovo geschehen ist und warum dort eingegriffen werden musste, klar. Sonst hätten wir eine Situation der permanenten Destabilisierung aufgrund der Gewaltpolitik Milosevics gehabt. Heute ist die Perspektive des Balkans bei allen Schwierigkeiten, bei allen Menschenrechtsverletzungen, bei allen großen Problemen, die die nicht gelöste albanische Frage und das Fortbestehen der Diktatur Milosevics mit sich bringt, klar, nämlich eine Europäisierung. Der Anfang, der jetzt in Kroatien gemacht wird, sich vom Nationalismus zu lösen, stimmt mich sehr hoffnungsvoll. Ich bin mir sicher, dass wir etwa in Verbindung mit der Stärkung der demokratischen serbischen Opposition und der Demokratie in Montenegro, verbunden mit einer massiven Hilfe, aber auch mit dem Verlangen, mit einer Politik der Flüchtlingsrückkehr in der Krajina Ernst zu machen, in der Tat eine neue Dynamik demokratischer Veränderungen in Belgrad erreichen können - und das ist der entscheidende Punkt - eingerahmt in den Stabilitätspakt. ({2}) Ich wäre heilfroh, wenn wir im Kaukasus nur einen Schimmer einer solchen politischen Lösung hätten. Ich wäre heilfroh, aber es ist nichts zu sehen. Deswegen, meine Damen und Herren, meine ich, wir dürfen nicht müde werden, uns in klarer und eindeutiger Sprache zu artikulieren. Dabei bin ich für jede Unterstützung dankbar. Es gibt zwischen der Bundesregierung, dem Deutschen Bundestag und den politischen Parteien verteilte unterschiedliche Rollen; das ist überhaupt keine Frage. Der Bundestag kann da eindeutig weiter gehen. Ich sage das, weil Sie es mit Hinweis auf meine damalige Position angesprochen haben. Sie hätten meine Ausführungen insgesamt zitieren müssen. Ich war damals aus den selben Gründen wie heute gegen Wirtschaftssanktionen, gegen die politische Isolierung. AlVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer lerdings habe ich damals die klare Sprache vermisst. Daran lassen wir es heute nicht mangeln. Der entscheidende Punkt ist: Die Bundesregierung kann sich natürlich nicht darauf zurückziehen, Dinge anzuprangern, sondern zu Recht verlangen Sie von uns, dass wir die Handlungsoptionen ausloten. Ich denke, da muss man klar sehen, dass wir mit dem Beschluss von Helsinki durchaus etwas erreicht haben, nämlich das Ultimatum wegzubekommen. Das war damals der entscheidende Punkt. Wenn wir eine realistische Analyse durchführen, müssen wir erkennen, dass unsere Kraft zwar ausreicht, um das russische Vorgehen zu zügeln, aber nicht ausreicht, um es wirklich zu stoppen. Das ist die Realität. Unter allen öffentlichen Diskussionsbeiträgen und Kommentaren, die ich gelesen habe, ist mir kein Vorschlag aufgefallen, den wir bisher noch nicht bedacht hätten. Ich habe auch im Rahmen der internationalen Diskussion kein neuen Vorschlag gefunden. Damit komme ich zu der meines Erachtens entscheidenden Frage, nämlich ob wir am Ende unserer Analyse nicht zu Mitteln greifen, die das Gegenteil von dem bewirken, was wir erreichen wollen. ({3}) Das hat überhaupt nichts mit Appeasement, Anpassung oder Verneigung vor irgendwelchen Kriegsherren zu tun. Das wissen Sie. ({4}) - Es ist überhaupt nicht interessant, dass ich in der „Zwischenzeit“ zu diesem Ergebnis komme. Entscheidend ist, dass wir nicht das Gegenteil von dem, was wir wollen, erreichen. Man muss erkennen, dass die Situation in Russland gespalten ist. Wir haben ein substanzielles Interesse an der territorialen Integrität Russlands. Wir haben auch ein Interesse daran, dass demokratische, marktwirtschaftliche und rechtsstaatliche Reformen in Russland vorankommen. Wir haben ein großes Interesse daran, dass die Wahlen zur Duma fair verlaufen und dass es einen konstitutionellen Machttransfer auf der Präsidentenebene gibt. Das wären wichtige Entwicklungen; denn wir können ein in sich instabiles Russland angesichts seiner Bedeutung für die Sicherheit und den Frieden in Europa und in der Welt nicht zulassen. Aber auf dieser Grundlage kritisieren wir auch das Vorgehen Russlands in Tschetschenien und die humanitäre und politische Katastrophe, die der dortige Krieg verursacht hat; denn es besteht in der Tat die Gefahr, dass Russland das Gegenteil von dem erreicht, was es will: Mit der Parole „Vernichtung der Terroristen“ wird die Grundlage für eine massenhafte Unterstützung der Terroristen geschaffen. Dies kann wiederum zur Talibanisierung der Region, zur Destabilisierung anderer Regionen außerhalb Russlands und auch zur Destabilisierung der demokratischen Entwicklung in Russland führen. Das ist ebenfalls unsere große Sorge. Die Forderung nach dem Schweigen der Waffen und nach einer politischen Lösung muss im Zentrum stehen. Die Bemühungen um eine humanitäre Lösung zu verstärken ist auch ein entscheidender Punkt. Wir verbinden mit dem Besuch von Kofi Annan am heutigen Tag die Hoffnung, dass nicht nur der UNHCR, sondern auch andere internationale Hilfsorganisationen endlich vorankommen und Bedingungen sowohl für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch für die materielle Hilfe vereinbaren können, wie sie in solchen Krisensituationen in der Tat üblich und für eine effektive Unterstützung notwendig sind. Der entscheidende Punkt ist allerdings die Unterstützung durch die Innenpolitik Russlands. Machen wir uns nichts vor: Solange es dort eine massive Mehrheit gibt, die die bisherige Politik Russlands unterstützt, so lange sind unsere Mittel begrenzt. Herr Kollege Irmer, ich habe doch nicht Sanktionen ausgeschlossen. Ich bin lediglich dafür, dass Sanktionen sehr sorgfältig darauf geprüft werden, ob sie taugen oder nicht. Ich war für die Verhängung von Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Der Visa-Bann ist ein hervorragendes Instrument gegen die Nomenklatura. Das Einfrieren ihrer Konten ist ein hervorragendes Instrument, das ich sogar noch verschärfen möchte. Aber mittlerweile sind nach meiner Meinung das Ölembargo, das aus militärischen Gründen ausgesprochen wurde, und das Flugverbot kontraproduktive Sanktionen, die deswegen aufgehoben werden müssen. Ich appelliere darüber müssen wir uns im Klaren sein; ich bin für Wahrhaftigkeit -, nicht Sanktionen zu verhängen, die in Wirklichkeit noch nicht einmal an der Oberfläche kratzen, geschweige denn die russische Führung zu einer anderen Politik als bisher zwingen. Wenn man Sanktionen erfolgreich durchsetzen möchte, dann muss man Instrumente einsetzen - ihre politische Wirkung sollte man vorher durchdeklinieren -, wie zum Beispiel das drastische Herunterfahren der Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland. Dies würde auf eine Isolierung Russlands hinauslaufen. Davor kann ich nur warnen; denn so lange sich Russland nicht in einer strategischen Konfrontation mit Europa und dem Westen befindet, so lange dürfen wir auch nicht strategische Containment-Mittel einsetzen, es sei denn, wir wollten eine neue Isolierung herbeiführen. Dies hielte ich für eine katastrophal falsche Politik. ({5}) Unsere Politik sollte sich an drei Elementen orientieren: Punkt eins. Wir sollten Russland klarmachen, so wie es alle Rednerinnen und Redner gefordert haben, dass seine Vorgehensweise nicht akzeptabel ist, dass sie sich mit den internationalen Vereinbarungen, die Russland auf europäischer, aber auch auf globaler Ebene eingegangen ist, genau so wenig verträgt wie mit den langfristigen russischen Interessen. Punkt zwei. Wir sollten auf Verbesserung der humanitären Hilfe insistieren, damit die humanitäre Katastrophe abgewandt werden kann. Neben dem Beenden des Krieges ist das der andere wesentliche Punkt. Punkt drei. Wir sollten allerdings darauf verzichten, dass Russland in die Isolation abgleitet; denn wir würden damit mehr verlieren als gewinnen. ({6}) Wenn das als Grundlage der gemeinsamen Politik in diesem Hause anerkannt wird, dann werden wir nach der Präsidentenwahl mit einer Politik der strategischen Geduld und der Prinzipienfestigkeit eine neue Chance haben. Darin besteht die Möglichkeit, einen Neuanfang zu versuchen. Ob er gelingt, weiß ich nicht. Wenn er nicht gelingt, wird man meines Erachtens die Diskussion danach erneut, und zwar in eine andere Richtung geleitet, zu führen haben. Vielen Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Diskussion über den Krieg ist viel über die unmögliche Art und Weise der Terrorismusbekämpfung gesagt worden. Um diese Terrorismusbekämpfung zu begründen und um den Terrorismus zu beenden, führt man einen Krieg nach zaristischer und stalinistischer Art. Darauf will ich gar nicht weiter eingehen. Ich will zu der Frage zurückkommen, wie es in Moskau war. Ich bin überzeugt, dass Sie, Herr Außenminister, die Dinge angemessen vorgetragen haben. Es hat uns allerdings etwas überrascht, dass bei Ihrem Landeanflug zur Realpolitik die Landeklappen ziemlich weit ausgefahren waren und die Landung sehr sanft war. ({0}) Wenn Sie selbst meinen, Sie müssten diese Form der Realpolitik aus Gründen der Abwägung vertreten, dann kann ich mir vorstellen, dass der Bundeskanzler seine Kontakte nach Moskau nutzt. Ich greife damit übrigens ein Wort auf, Herr Außenminister, das der Oppositionspolitiker Fischer in einer Debatte, die wir an anderem Ort, aber im gleichen Saale ({1}) vor vier oder fünf Jahren über die Frage „Wie verhält man sich denn?“ geführt haben, benutzt hat. Der damalige Bundeskanzler hat sich an den damaligen russischen Präsidenten gewandt. ({2}) - Das ist natürlich der Punkt. Wenn man sich um das Thema nicht so kümmert, dann kann man auch nicht reagieren. Allein aus Kontakten nach Moskau wird noch kein Sommer in Tschetschenien werden. Die Frage ist: Was können wir über das hinaus, was wir allseits beklagt haben, anbieten? Das, was der Europarat gesagt hat - Kollege Bindig musste schon weg -, kann ich nur als positiv empfinden. Es ist zu bedauern, dass diese Stellungnahme nicht noch einen Schritt weiter gegangen ist. Kollege Lippelt, ich muss zugestehen: Ich habe vor vier oder fünf Jahren, als wir mit Kowaljow über die Mitgliedschaft im Europarat geredet haben, eigentlich die Position eingenommen, dass man die Russen lieber draußen lassen solle. Wir haben auf seinen Rat hin - dies war in der damaligen Moskauer Opposition übrigens keine einhellige Meinung; es gab auch da unterschiedliche Meinungen - gesagt: Gut, wir wollen euch aufnehmen, um stärker einwirken zu können. Ich konstatiere, dass das sicherlich der richtige Weg ist. Die fünf Stunden Iwanow haben das gezeigt. Herr Außenminister, in der gegenwärtigen Debatte fehlt mir über die drei Punkte hinaus die Behandlung der Frage, was wir außer einer Kriegscontainmentpolitik, außer einer appellativen Politik machen. Was sind die Ursachen des Konfliktes? Die Lage im ethnischen Bereich ist verworren. Die Lage im wirtschaftlichen Bereich ist schwierig. Es geht um die strategische Position dieser Region, Stichwort „Ölversorgung“. Es gibt vielfältige Interessen vielfältiger Staaten an dieser Region. In der Debatte gestern haben Sie eine Regierungserklärung abgegeben, in der Sie sich zugute gehalten haben, dass Sie eine Initiative für Südosteuropa gestartet haben. Wir haben das sachlich abgehandelt, kritisiert und in wesentlichen Punkten haben wir Unterstützung zugesagt. An Ihrer Stelle würde ich einen vierten Punkt zu dem, was wir tun müssen, hinzufügen. Wir sollten den Russen nach dem 26. März oder hoffentlich etwas vorher eine weitere Chance geben. Ich bin nicht so ganz sicher, ob Putins Kalkül aufgeht. Sie hatten schon angesprochen: Was ist denn, wenn der Terrorismus in die Städte Russlands zurückkehrt? Hören Sie sich Luschkow an, der heute ganz anders argumentiert, als er es getan hat, als er direkt unter dem Eindruck des damaligen Attentats stand. Luschkow sagt heute: Wir hätten diesen Krieg nicht anfangen sollen. Da hat er wohl Recht. Wir müssen über die Energieversorgung und die durchaus kontroverse Interessenlage diskutieren. Damit verbunden ist, von einer ganz anderen Warte aus, die Frage einer gewissen religiösen Fundamentalisierung. Sie haben das Stichwort „Taliban“ genannt. Ich denke an die Verknüpfung von Religion und Ölinteressen. Ich erinnere an die Wahabiten und all das andere, was damit verbunden ist. Sollten wir nicht überlegen, eine Zentralasienkonferenz durchzuführen, die, gerade was diese Fragestellungen angeht, Russland eine Möglichkeit gibt, seine durchaus berechtigten Interessen nicht in zaristischer Form - was die Russen immer wieder in Tschetschenien gemacht haben, sie notfalls eben zu kujonieren - durchzusetzen, sondern auch unter Einbeziehung anderer Interessen: georgischen, armenischen, aserbaidschanischen, türkischen, europäischen und amerikanischen Interessen? ({3}) Wir lassen die USA in dieser Frage von europäischer Seite aus relativ alleine laufen. Wieso formulieren wir Europäer unsere Sicherheits- und Rohstoffinteressen in dieser Region nicht? Das muss nicht in aggressiver Form geschehen. ({4}) - Das ist gefährlich. Aber es ist noch gefährlicher, Dinge laufen zu lassen, ohne zu erkennen, wo die wahren Ursachen des Konfliktes liegen. ({5}) Aus diesem Grunde würde ich den vierten Punkt gerne anfügen und sagen: Wir müssen überlegen, wie wir in dieser Region - nicht nur in Tschetschenien, sondern auch in Dagestan, Tatarstan, in all den Gebieten bis hin in die anderen Länder der GUS - eine vernünftige Möglichkeit des Interessenausgleichs schaffen können. Leitungen um Russland herum zu bauen und Russland ausschalten zu wollen, das wird auf Dauer keinen Frieden in dieser Region bringen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gernot Erler.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Erstes möchte ich das aufgreifen, was der Kollege Kurt Palis gesagt hat. Die Russlandpolitik des Außenministers findet die volle Unterstützung der SPD-Fraktion. Das gilt auch für seine Reise nach Moskau. Herr Kollege Schmidt, was Ihre Appelle angeht, so ist es für Sie vielleicht interessant zu wissen, dass es vor der Reise von Herrn Fischer ein Gespräch zwischen dem Bundeskanzler und Putin gegeben hat, übrigens, soweit ich unterrichtet bin, auch ein Gespräch zwischen Ihrem ehemaligen Ehrenvorsitzenden, dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl, und Jelzin. Wenn man in Russland etwas erreichen will, wenn man Kontakt mit Putin haben will, dann muss man nach Moskau fahren. Sie kennen die russische Verfassung. Putin hat als Ministerpräsident und als amtierender Präsident gerade eine Doppelrolle inne. Er darf das Land nicht verlassen. Es gibt hier eine Menge Gemeinsamkeiten. Es ist gut, dass das zum Ausdruck gebracht worden ist. Man muss aufpassen, dass wir uns hier nicht eine provinzielle Diskussion leisten; denn - darüber sind wir uns doch wohl im Klaren - nur dann, wenn wir eine gemeinsame Position nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa haben, kann das irgendeine Auswirkung auf eine Macht wie die der russischen Föderation haben. Wir müssen auch aufpassen, dass wir ehrlich mit den berechtigten Forderungen an die russische Führung umgehen. Ich stimme all denen zu, die hier gesagt haben, im Zentrum müsse dabei die Art der Kampfführung stehen. Unterschiedslose Bombardierung von Dörfern und Städten ist kein Kampf gegen Terrorismus. ({0}) Insofern kann das nur den Protest der Weltöffentlichkeit hervorrufen. Ich möchte eines - das gehört zur Ehrlichkeit - dazusagen: Dieser Appell geht auch an die tschetschenischen Kämpfer. Es gibt einen Bericht von Human Rights Watch, aus dem hervorgeht, dass die tschetschenischen Einheiten gegen den Willen der Dorfältesten Dörfer als Schutz für ihre Operation nehmen, dass sie sogar Leute, die dagegen protestieren, misshandeln. Das ist natürlich auch eine Provokation, was die Angriffe auf diese Dörfer angeht. Dieser Appell muss also auch in diese Richtung gehen. ({1}) Bei der politischen Lösung, liebe Kolleginnen und Kollegen, die wir immer wieder fordern, sind wir uns über die Schwierigkeiten von Verhandlungsgesprächen im Klaren. Es muss eigentlich auch weitergehen. In der Tat, nach dem Vertrag von Chasaviot ist eines nicht passiert, nämlich irgendeine Perspektive für die lange schon in der Krise lebende tschetschenische Bevölkerung aufzubauen. Das war in dem Vertrag versprochen worden, ist aber nicht passiert. Das hat den enormen Exodus der Bevölkerung aus Tschetschenien fortgesetzt, der 1991 begonnen hat. 1991 lebten in Tschetschenien 1 Million Menschen, und zwar 750 000 Tschetschenen, 230 000 Russen und noch einige andere. Schon bis 1994, bis zu dem Zeitpunkt, als der erste Tschetschenienkrieg begann, sind wegen der krisenhaften Entwicklung 250 000 Menschen weggezogen und bis 1996 weitere 100 000. Zu Beginn des jetzigen Krieges waren noch ganze 650 000 Menschen in Tschetschenien, und zwar als Residenten - so hören wir - nur noch 350 000; die anderen haben bereits in Nachbarrepubliken gearbeitet und zum Teil dort auch gelebt. Das zeigt die ganze Tragödie, die sich dort abgespielt hat. Das zeigt übrigens auch, welches Risiko Russland eingeht, wenn es keine dauerhafte politische Lösung sucht. Denn es gibt in der russischen Diaspora 500 000 Tschetschenen, davon 250 000 in Moskau. Das sind im Grunde genommen sehr viele potenzielle Kämpfer, wenn es keine dauerhafte Lösung gibt. Es ist immer wieder lohnend, das der russischen Führung klarzumachen. Christian Schmidt ({2}) Herr Kollege Schmidt, Sie haben von einer Zentralasienkonferenz gesprochen. Es stimmt, der Tschetschenienkrieg ist kein lokales Ereignis. Tschetschenien ist eingebettet in eine Krisenregion, die von Transkaukasien bis nach Transkaspien reicht. Was wir dort brauchen, ist etwas Ähnliches wie auf dem Balkan, nämlich ein regionales Konzept, das von Machtspielen bzw. von einer Neuauflage des „great game“ des 19. Jahrhunderts und von einer Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen Mitteln wegführt. Dazu müssen wir einen konzeptionellen Beitrag leisten. Mit unseren amerikanischen Freunden sollten wir einen Dialog führen, was die Art ihrer Interessenvertretung angeht. Denn wenn wir die Einbettung der Lösung dieses Konflikts in ein Konzept regionaler Sicherheit nicht erreichen, dann wird es morgen andere tschetschenisch aussehende Schauplätze in dieser Region geben. Das waren zum Schluss dieser Debatte ein paar nachdenkliche Bemerkungen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Der Kollege Gert Weisskirchen hat darum gebeten, seine Rede zu Protokoll geben zu dürfen*). Diesem stimmen wir alle, so glaube ich, gerne zu. Damit ist die Aktuelle Stunde beendet und wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, 16. Februar 2000, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.