Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist er-
öffnet.
Zunächst einige Mitteilungen: Der ehemalige Kollege
Manfred Kanther hat am 25. Januar 2000 auf seine Mit-
gliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als sein
Nachfolger hat der Abgeordnete Helmut Heiderich, der
von 1996 bis 1998 bereits Mitglied des Hauses war, am
26. Januar 2000 die Mitgliedschaft im Deutschen Bun-
destag erworben.
Aus dem Stiftungsrat der Stiftung zur Aufarbeitung
der SED-Diktatur scheidet der Kollege Hans-Christian
Ströbele als stellvertretendes Mitglied aus. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen schlägt als Nachfolger den Kol-
legen Werner Schulz vor. Sind Sie damit einverstan-
den? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kol-
lege Schulz als stellvertretendes Mitglied in den Stif-
tungsrat gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, dass der Ent-
wurf der Bundesregierung zur Änderung des Arzneimit-
telgesetzes auf Drucksachen 14/2292 und 14/2355 nach-
träglich dem Ausschuss für Angelegenheiten der neuen
Länder zur Mitberatung überwiesen werden soll. Sind
Sie auch damit einverstanden? - Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf.
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 1999
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Ulrike Flach, Horst
Friedrich ({1}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P. zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 1999
- Drucksache 14/1056, 141225, 14/1934 ({2}) -
Berichterstattung:
Abgeordnete Willi Brase
Antje Hermenau
Angela Marquardt
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({3})
zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen W.
Möllemann, Hildebrecht Braun ({4}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
9-Punkte-Konzept zur Schaffung von zusätzlichen Ausbildungsplätzen
- Drucksachen 14/335, 14/1294 Berichterstattung:
Abgeordnete Willi Brase
Heinz Wiese ({5})
Antje Hermenau
Jürgen W. Möllemann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesministerin Edelgard Bulmahn das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Herren und Damen! Junge Erwachsene
stehen heute vor einer Zukunft, die ständig im Wandel
begriffen ist. Sie müssen nicht nur einen rasanten technologischen Wandel bewältigen, sondern sie sollen ihn
auch gestalten können. Sie werden in einer Welt leben,
in der sie mit Menschen in vielen anderen Ländern kooperieren müssen, und sie werden auch selbst mit einer
sehr hohen Wahrscheinlichkeit einen Teil ihres Berufslebens in einem anderen Land verbringen.
Sie werden Bildung nicht auf einen bestimmten Lebensabschnitt beschränken können, sondern sie werden
in ihrem Leben immer weiter dazulernen müssen. Auf
diese Veränderungen müssen wir sie vorbereiten, damit
sie die Voraussetzungen dafür haben, ihr Leben selbst in
die Hand zu nehmen und selbst zu gestalten.
Entscheidend für die Bewältigung der Zukunft sind
eine hohe Qualität der beruflichen Aus- und Weiterbildung und ein möglichst breiter Zugang dazu, denn Bildung entscheidet über Berufs- und Lebenschancen, über
die Chancen jedes Einzelnen, sich in unserer Gesellschaft einzubringen, teilzuhaben, mitzuwirken. Zugleich
ist eine gute Ausbildung die wichtigste Voraussetzung
für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und
für die Wiedergewinnung eines hohen Beschäftigungsniveaus.
({0})
Meine Damen und Herren, die Berufsbildungspolitik
ist deshalb nicht die typische Ressortpolitik, sondern Berufsbildungspolitik ist Politik an der Schnittstelle von
Bildungspolitik, von Wirtschaftspolitik, von Sozial- und
Arbeitsmarktpolitik. Deshalb hat sie für die Bundesregierung eine herausragende Bedeutung.
({1})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat
unmittelbar nach ihrer Amtsübernahme das Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit und
Qualifizierung von 100 000 Jugendlichen gestartet.
({2})
Das war deshalb notwendig, weil wir über Jahre hinweg,
seit Anfang der 90er-Jahre, eine immer größere Zahl von
Jugendlichen hatten, die keinen Ausbildungsplatz fanden, die in Warteschleifen abgedrängt wurden und die
perspektivlos wurden.
Deshalb war es richtig und notwendig, dass diese Bundesregierung mit dem Zögern, dem Hinhalten und dem
Abwarten Schluss gemacht hat und den Jugendlichen ein
konkretes Angebot gemacht hat.
({3})
- Lieber Herr Kollege, wenn Sie das als „Salbe“ bezeichnen, dann kann ich Ihnen nur sagen, dass Sie von
der Lebensrealität keine Ahnung haben.
({4})
Rund 165 000 Jugendliche haben durch die Maßnahmen des Programms wieder den Einstieg in Ausbildung
und Beruf gefunden. Genau dieses Ziel haben wir verfolgt.
({5})
Unser selbst gestecktes Ziel, mit dem Programm
100 000 Jugendliche zu erreichen - das hatten wir uns
vorgenommen -, haben wir damit weit übertroffen. Unsere Jugendlichen - das zeigt mir der Erfolg dieses Programms ganz klar - wollen arbeiten. Sie wollen sich
qualifizieren. Wir müssen ihnen die Chance dazu geben.
Dieser Verantwortung stellen wir uns.
Das zweite Bein, auf das wir unsere Ausbildungsund Berufsbildungspolitik stellen, ist die parlamentarische Arbeit, aber vor allen Dingen auch das „Bündnis
für Arbeit“. In dem „Bündnis für Arbeit“ haben wir
gemeinsam mit den Sozialpartnern Vereinbarungen getroffen. Jeder, der auch nur einen blassen Schimmer von
Berufsbildungspolitik hat, weiß, dass wir gerade in der
Berufsbildungspolitik nur dann wirklich tragfähige Veränderungen, die den Jugendlichen und den Betrieben
nützen, erreichen können, wenn wir mit den Gewerkschaften, mit den Arbeitgeberverbänden und mit den
Unternehmen zusammenarbeiten; denn die Berufsbildungspolitik lebt davon, dass man sich über Ziele, Inhalte und Instrumente verständigt.
({6})
Deshalb ist dies das wichtige zweite Standbein, das mittel- und langfristig die Voraussetzungen dafür schafft,
dass wir auf Dauer die Probleme, die in der beruflichen
Bildung vorhanden waren, lösen.
({7})
„Ausbildung für alle“ ist das Leitziel unserer Berufsbildungspolitik. Das Bundeskabinett hat deshalb im
Juni letzten Jahres beschlossen, das Sofortprogramm bis
zum Ende des Jahres 2000 zu verlängern. Wir haben
hierfür erneut 2 Milliarden DM zur Verfügung gestellt.
Das ist richtig, weil junge Menschen einen Anspruch auf
Ausbildung haben.
({8})
Sie haben das Recht, uns in die Pflicht zu nehmen. Diese
Bundesregierung will sich und wird sich dieser Pflicht
nicht entziehen. Jeder junge Mensch, der kann und will,
wird ausgebildet. Das ist die Kernaussage des Ausbildungskonsenses, den Bundesregierung, Vertreter der
Wirtschaftsverbände und der Gewerkschaften im
„Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ geschlossen haben.
Anders als Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, haben wir nicht nur an die Sozialpartner appelliert; vielmehr haben wir mit ihnen konkrete Maßnahmen vereinbart, um unser Ziel zu erreichen. Das haben wir mit Erfolg getan, wie das Beispiel der informationstechnischen Berufe sehr deutlich zeigt. In den informationstechnischen Berufen herrscht ein Mangel von
über 80 000 Fachkräften. Diesen Fachkräftemängel haben Sie von der Opposition durch Ihre jahrelange Untätigkeit zu verantworten.
({9})
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
Die im Bündnis vereinbarte und von allen Beteiligten
getragene Offensive, diesen Fachkräftemangel zu beheben, hat bereits jetzt die Erwartungen, die wir mit der
Vereinbarung verbunden hatten, übertroffen. Statt 2002,
wie wir das miteinander vereinbart haben, werden wir
bereits in diesem Jahr die vereinbarten 40 000 neuen
Ausbildungsplätze in diesem Bereich schaffen.
({10})
Wir haben diese Vereinbarung zusammen mit den Sozialpartnern getroffen. Das habe ich vorhin gesagt, lieber
Herr Kollege. Wir haben einen anderen Weg als Sie eingeschlagen. Wir haben uns mit den Vertretern der Unternehmerverbände, der Unternehmen selbst und der
Gewerkschaften zusammengesetzt, um konkrete Vereinbarungen zu treffen. Gerade der Erfolg im Bereich der
informationstechnischen Berufe, nämlich schon in diesem Jahr das Ziel zu erreichen, dessen Erfüllung wir erst
für das Jahr 2000 angestrebt hatten, zeigt doch, dass dies
der richtige Weg und die richtige Vorgehensweise ist.
({11})
Dies wird den Jugendlichen helfen, weil sie dadurch eine zukunftsträchtige Ausbildung erhalten. Dies hilft
auch der Wirtschaft, weil sie dadurch in Zukunft ihren
Fachkräftemangel schnell und zügig beheben kann.
Wir haben im Bündnis mit den Sozialpartnern weiterhin die Modernisierung der Ausbildungsberufe vereinbart. Damit sorgen wir dafür, dass Ausbildung für die
Betriebe wieder lohnender - eine lohnende Investition in
den Erhalt und in die Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit - wird. Wir sorgen gleichzeitig dafür, dass die
Jugendlichen eine Ausbildung erhalten, die tatsächlich
up to date ist.
Wir haben gemeinsam mit den Sozialpartnern beschlossen, bestehende Ausbildungsberufe zu modernisieren und neue Ausbildungsberufe zu entwickeln. Das
gilt besonders für innovative und wachsende Beschäftigungsfelder im Dienstleistungssektor, weil wir in diesem
Bereich in den 90er-Jahren eine viel zu langsame, eine
viel zu zögerliche Entwicklung hatten.
Wir haben weiterhin vereinbart - das ist mir wichtig -, dass wir die Möglichkeiten für neue Berufe auch
mit weniger komplexen Anforderungen voll ausschöpfen, weil Jugendliche mit schlechteren Startchancen, mit
schlechteren schulischen Voraussetzungen besondere
Schwierigkeiten haben, einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Wir wollen auch diesen Jugendlichen einen Einstieg in einen Beruf mit Entwicklungschancen ermöglichen.
Meine Herren und Damen, der Abbau der Jugendarbeitslosigkeit und die Schaffung von mehr Ausbildungsplätzen sind das oberste Ziel der Bundesregierung. Wir wollen erreichen, dass sich wieder mehr Betriebe und neue Branchen an der dualen Berufsausbildung beteiligen, weil sie nur so auf Dauer zukunftsfähig
bleiben wird.
({12})
Wir haben mit unseren Vereinbarungen im „Bündnis
für Arbeit“, aber auch mit dem Sofortprogramm den
richtigen Weg eingeschlagen und wir haben damit Erfolg gehabt. Mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung
von Bundesregierung und Wirtschaft sind bis zum
30. September 1999 bundesweit rund 631 000 neue
Ausbildungsverträge abgeschlossen worden. Das sind
rund 18 500 mehr als im Jahr zuvor. Die Situation hat
sich also erheblich verbessert.
Ich füge aber hinzu: Sie ist noch nicht zufrieden stellend. Vor allem in den neuen Ländern ist die Lücke zwischen angebotenen und nachgefragten Ausbildungsplätzen noch zu groß. Das Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen ist besonders in den neuen Bundesländern
zu gering. Deshalb sind auch in den kommenden Jahren
ergänzende, öffentlich finanzierte Ausbildungsplatzprogramme erforderlich.
Ein Weiteres will ich an dieser Stelle deutlich sagen:
Wir müssen, meine Herren und Damen, dahin kommen,
die Förderung von Ausbildungsplätzen mit öffentlichen
Mitteln nicht zu einem Dauerzustand werden zu lassen.
({13})
Deshalb bin ich sehr froh, dass wir auch im Bündnis mit
den Sozialpartnern vereinbart haben, dass wir die so genannten Kopfprämien in den neuen Bundesländern abbauen, weil sie leider zu einem Zustand der Dauerfinanzierung geführt haben und führen werden. Daher war es
richtig, dass wir diese Vereinbarung getroffen haben.
({14})
Die Verschiebung der Ausbildungslasten von der
Wirtschaft auf die öffentliche Hand ist weder akzeptabel
noch auf Dauer finanzierbar. Das Wichtigste ist: Wenn
wir die von uns im „Bündnis für Arbeit“ eingeleitete
Umorientierung nicht vornehmen würden, dann würde
das auf Dauer das duale System in seinen Grundstrukturen gefährden. Das wollen wir nicht.
Die Betriebe, meine Herren und Damen, profitieren
am meisten davon, wenn sie Jugendliche selbst ausbilden; denn sie erhalten gut qualifizierte Fachkräfte, deren
Potenziale und Fähigkeiten sie kennen. Die Ausbildung
im eigenen Betrieb liegt deshalb im unmittelbaren Interesse der Unternehmen selbst.
Das deutsche Berufsbildungssystem lebt vom Engagement der kleinen und der großen Betriebe. Dieses Engagement werden wir nachhaltig unterstützen und stärken. Darauf haben wir uns im Bündnis verständigt. Kern
der Vereinbarung, die wir gemeinsam mit den Ländern
und den Sozialpartnern umsetzen werden, ist eine Verstärkung der regionalen Aktivitäten zur Verschaffung
von betrieblichen Ausbildungsplätzen.
Die Erfahrungen aus dem letzten Jahr haben uns gezeigt, dass die individuelle Ansprache vor Ort gemeinBundesministerin Edelgard Bulmahn
sam mit den Vereinbarungen, die wir im Bündnis getroffen haben, der richtige Weg ist, um die Ausbildungsprobleme zu überwinden. Wir brauchen nämlich
selbsttragende Strukturen in der Region, die uns helfen,
die Ziele des Ausbildungskonsenses umzusetzen.
Dass dies der richtige Weg ist, zeigen die Erfolge der
Nachvermittlungsaktion im letzten Jahr. Ende September 1999 waren noch 29 000 Jugendliche unvermittelt. Ende Dezember konnte diese Zahl um 16 200 auf
12 800 gesenkt werden. Diesen 12 800 Jugendlichen
standen noch 7 400 nicht besetzte Ausbildungsplätze
gegenüber. Das heißt, die regionale Umsetzung der
Nachvermittlungsaktion, die wir im „Bündnis für Arbeit“ vereinbart haben, ist genau der richtige Weg und
zeigt Erfolg.
Alle Jugendlichen, die trotz verstärkter Vermittlungsbemühungen auch im Dezember noch keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, bekommen entweder mit
den bislang noch unbesetzten betrieblichen Ausbildungsplätzen oder mit dem verlängerten Sofortprogramm eine weitere Chance, sodass wir unser Ziel, dass
alle Jugendlichen, die können und wollen, auch einen
Ausbildungsplatz erhalten, erreichen können.
Meine Damen und Herren, ich habe vorhin schon
darauf hingewiesen: Wir müssen auch den leistungsschwächeren Jugendlichen mit schlechteren Startchancen die Chancen für eine berufliche Qualifizierung geben. Sie haben zurzeit besonders große Schwierigkeiten.
Deshalb haben wir im Bündnis vereinbart, dass wir die
berufliche Benachteiligtenförderung weiterentwickeln.
Wir gehen dabei auch neue Wege, und zwar gemeinsam mit den Sozialpartnern und den Ländern, die im
Bündnis mitwirken. Wir gehen neue Wege in Form einer
stärkeren Partnerschaft zwischen Schule und Betrieb,
damit wir eine bessere Verknüpfung von Theorie und
Praxis nicht erst in der beruflichen Bildung erreichen,
sondern bereits in der Schule.
({15})
Ich bin davon überzeugt, dass das ein wichtiger Weg
ist. Die Länder Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen
zum Beispiel haben damit schon begonnen.
({16})
- Sie wissen, lieber Kollege, dass ich zum Beispiel im
Bündnis genau diese Vorschläge mit erarbeitet habe,
({17})
dass aber die Länder für die Umsetzung in den Schulen
zuständig sind. Den föderalen Charakter unseres Landes
werden auch Sie nicht außer Kraft setzen.
({18})
Meine Herren und Damen, die Berufsausbildung hat
für die Bundesregierung herausragende politische Bedeutung, weil über die Berufs- und Lebenschancen junger Menschen entschieden wird. Alle Betriebe und Verwaltungen sind aufgefordert, ihr Ausbildungsengagement zu verstärken. Eine duale Ausbildung ist immer
noch die beste Garantie - das zeigen alle Statistiken, alle
Kenntnisse, die wir haben, sehr deutlich -, um später einen Arbeitplatz zu finden, aber auch um ihn zu behalten.
Deshalb müssen Staat und Wirtschaft gemeinsam dafür
sorgen, dass das duale System auf Dauer leistungsfähig
bleibt.
Wir stehen dabei vor zwei Aufgaben: Zum einen
müssen wir den akuten Bedarf an Ausbildungsplätzen
decken. Zum anderen müssen wir gleichzeitig das duale
System modernisieren. Das, meine Herren und Damen,
gelingt uns nur, wenn wir eine dauerhafte Verständigung
zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und Politik erreichen, so wie wir das im Bündnis gemacht haben. Das
ist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass das duale
System auch künftig - in Deutschland und weltweit ein Erfolgsmodell ist. Wir haben im „Bündnis für Arbeit“ die Basis dafür gelegt. Wir werden uns gemeinsam
mit Unternehmen und Gewerkschaften um die weitere
Umsetzung unserer Vereinbarungen kümmern.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, die vereinbarten
und getroffenen Maßnahmen der rot-grünen Bundesregierung und die konstruktive Haltung aller Beteiligten
im Bündnis - ich will die konstruktive Beteiligung von
Wirtschaftsverbänden, Unternehmen und Gewerkschaften ausdrücklich hervorheben; sie machen wirklich mit
und wollen das auch künftig tun und kümmern sich
selbst sehr engagiert um die Umsetzung der Vereinbarung - haben gute Wirkung gezeigt.
({19})
- Lieber Kollege, es ist falsch, wenn Sie sagen, das sei
nichts Neues. Es hat in den vergangenen Jahren nicht ein
einziges Mal die Fortschritte in der beruflichen Bildung
gegeben, die im letzten Jahr zu verzeichnen gewesen
sind.
({20})
Das wird gerade von den Sozialpartnern ausdrücklich
hervorgehoben, und zwar sowohl von den Wirtschaftsverbänden als auch von den Gewerkschaften.
({21})
Wir werden weiter darauf aufbauen. Wir werden uns
für die Zukunft der jungen Menschen auch künftig engagieren und den gemeinsam eingeschlagenen Weg weitergehen. Wir werden dabei Erfolg haben - im Interesse
der Jugendlichen und im Interesse unseres Landes.
Vielen Dank.
({22})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Heinz Wiese, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Beseitigung der Jugendarbeitslosigkeit ist zurzeit die größte gesellschaftspolitische Herausforderung, größer noch
als die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit insgesamt.
({0})
Bildung, Ausbildung und Qualifizierung junger Menschen sind und bleiben dabei die beste Investition in die
Zukunft. Das von der rot-grünen Bundesregierung aufgelegte Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit habe ich hier im Plenum und in den Ausschussberatungen vor allem als Einstiegsprogramm und
hinsichtlich seiner Sogwirkung und Brückenfunktion für
benachteiligte Jugendliche gewürdigt.
({1})
Mittlerweile hat jedoch die Jahresbilanz dieses Programms einige Mängel und Defizite aufgedeckt.
({2})
Ich will nur zwei Punkte herausgreifen: Erstens. Wenn
man das Programm daran misst, inwieweit es als Brücke
in den ersten Arbeitsmarkt tauglich ist, muss man leider
feststellen, dass nur 14 Prozent der Auszubildenden im
dualen System untergebracht werden konnten.
({3})
Das ist entschieden zu wenig.
({4})
Zweitens. Eine weitere Schwachstelle macht uns
hellhörig: Per Weisung und ohne die Öffentlichkeit darüber zu informieren, ist im Juli letzten Jahres die Beteiligung der Bundeswehr am Sofortprogramm außer Kraft
gesetzt worden.
({5})
Mit einem Federstrich sind dadurch circa 5000 Stellen für Wehrdienstleistende ohne Anschlussbeschäftigung weggefallen.
({6})
Dies ist für mich eine skandalöse Entscheidung.
({7})
Uns helfen auf Dauer keine milliardenschweren
Hilfsprogramme mit Strohfeuereffekten. Was wir brauchen, sind Strukturen, die langfristig halten und realistische Zukunftsperspektiven eröffnen. Auch das
9-Punkte-Konzept der F.D.P. zur Schaffung zusätzlicher
Ausbildungsplätze weist in diese Richtung. Wir unterstützen durchaus das Bestreben, bewährte Maßnahmen
fortzusetzen.
({8})
Dazu gehören regionale Ausbilderkonferenzen und
Ausbildungsbörsen genauso wie, vor allem in den neuen
Bundesländern, der Einsatz von Lehrstellenentwicklern.
Ausbildungsverbünde sollten allerdings noch intensiver gefördert werden.
({9})
Dann erhalten auch kleine und mittlere Betriebe, die aus
finanziellen, organisatorischen oder personellen Gründen keine eigenen Ausbildungsplätze anbieten können,
die Chance, im Rahmen des dualen Systems auszubilden.
({10})
Meine Damen und Herren, entscheidend für die
Chancen auf dem Ausbildungsmarkt ist eine solide
Grundbildung. Dazu brauchen wir eine qualitätsbewusste Weiterentwicklung unserer Schulen, in denen
Kinder und Jugendliche mit ihren verschiedenen Begabungen und Interessen wieder ernst genommen werden.
Sie müssen gefördert, aber auch angemessen gefordert
werden.
({11})
Diese Erkenntnis sollte sich in allen Bundesländern
durchsetzen.
({12})
Gerade in Baden-Württemberg und Bayern haben Qualitätssicherung und Professionalisierung der Schulbildung
schon längst Priorität.
({13})
Auch in der Bildungspolitik muss es zu einem offensiven Wettbewerbsföderalismus kommen. Dieser
fruchtbare Wettstreit zwischen den Bundesländern kann
entscheidend dazu beitragen, das Süd-Nord-Gefälle in
Deutschland abzubauen.
Notwendig ist aber auch eine bessere und kontinuierliche Zusammenarbeit aller Einrichtungen des Bildungswesens. Lebenslanges Lernen sowie Fremdsprachen- und Medienkompetenz müssen durch eine bessere
Verzahnung von Erst- und Weiterbildungswegen gezielt
gefördert werden.
({14})
Frau Ministerin Bulmahn hat soeben davon gesprochen, die berufliche Bildung sei in besonders hohem
Maße den Innovationsprozessen der Wirtschaft und damit enormen Veränderungen unterworfen. Ich meine,
neue Berufsbilder besonders im Dienstleistungs- und
Multimediabereich müssen zügiger geschaffen werden.
Es muss uns gelingen, möglichst allen Jugendlichen
über die eigene Berufstätigkeit eine gesellschaftliche
und kulturelle Teilhabe zu ermöglichen.
Ein besonderes Augenmerk sollten wir dabei auf die
10 bis 15 Prozent aller Lehrstellenbewerber richten, die
aufgrund sozialer und kognitiver Defizite nicht ausbildungsreif sind. Für diese Zielgruppe gilt es, bereits in
der Hauptschule den Praxisbezug zu verbessern und die
praktischen Leistungen höher zu bewerten, beispielsweise in Form von Projektprüfungen.
Für die eher praktisch begabten Jugendlichen brauchen wir darüber hinaus neue Berufsbilder mit theoriegemindertem Anforderungsprofil.
({15})
Auch mit Teilqualifikationen, modularen Elementen
oder Stufenausbildungen kann ihnen geholfen werden.
Beispielsweise geht hier das Satellitenmodell des DIHT
neue Wege zu einer modernen Beruflichkeit.
An dieser Stelle, meine Damen und Herren, appelliere ich ausdrücklich an die Gewerkschaften: Hören Sie
endlich auf, diese Ausbildungsprofile aus ideologischen
Gründen zu bekämpfen!
({16})
Außerdem sollten die Beteiligten beim „Bündnis für Arbeit“ die bereits angesprochenen beschlossenen Leitlinien zur beruflichen Benachteiligtenförderung zügig
umsetzen.
Zu begrüßen sind neue Projekte wie der verstärkte
Einsatz von Jugendberufshelfern in Baden-Württemberg
oder die Einrichtung von Praxisklassen in Bayern. Vergleichbar mit dem erfolgreichen Modell „New Deal“ in
England kümmern sich immer mehr Jugendberufshelfer
gezielt um die Jugendlichen in den Berufsvorbereitungsjahren, besprechen mit ihnen die individuellen Lebensentwürfe und versuchen, sie zu einer adäquaten Berufswahl und Ausbildung zu motivieren. Ohne solche Hilfen
droht gerade diesen benachteiligten Jugendlichen gesellschaftliche Randständigkeit oder sogar Ausgrenzung.
Das können und dürfen wir nicht hinnehmen.
({17})
Meine Damen und Herren, bei der Schaffung von
Ausbildungsplätzen kommt es aber entscheidend auf die
wirtschafts- und steuerpolitischen Rahmenbedingungen
an.
({18})
Wir brauchen eine große Steuerreform. Daneben müssen
wir dringend zu einer soliden, wachstumsorientierten
Wirtschaftspolitik zurückfinden.
({19})
Sie bringt neue Impulse für den Ausbildungsmarkt.
Mit ihren Steuerbeschlüssen benachteiligt die rotgrüne Koalition jedoch den Mittelstand über Gebühr,
({20})
obwohl sie wissen müsste, dass gerade der Mittelstand
über 60 Prozent aller Ausbildungsplätze in Deutschland
anbietet.
({21})
Auch Kleinbetriebe - vor allem das Handwerk - nehmen circa 20 Prozent aller Auszubildenden auf. Dafür
verdienen sie Lob und Anerkennung, statt laufend
Knüppel zwischen die Beine geschmissen zu bekommen.
({22})
Die größte Keule in diesem Bereich ist die so genannte Ökosteuer.
({23})
Diese Geldbeschaffungsmaßnahme ist ein reiner Etikettenschwindel, ein Abkassiermodell mit grünem Mäntelchen. Sie bringt keinen Gewinn für die Umwelt, stattdessen Mehrkosten für die Betriebe: allein im Handwerk
bisher 280 Millionen DM. Dies ist sozial ungerecht und
politisch verantwortungslos.
({24})
Auch das so genannte Steuerentlastungsgesetz erweist
sich für den Mittelstand als ein Steuerbelastungsgesetz.
Dies ist kein Beitrag für mehr Wachstum und Beschäftigung. Im Gegenteil, das ist eine Politik, die Arbeits- und
Ausbildungsplätze verhindert statt schafft.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir abschließend eine Bemerkung zum F.D.P.-Antrag. Er enthält einige gute Ansätze zur Verbesserung der Zukunftschancen unserer jungen Generation. Die CDU/CSU
stimmt dem F.D.P.-Konzept zu. Es ist kein politischer
Weitwurf, aber ein Schritt in die richtige Richtung.
Politik mit Augenmaß bewegt sich stets zwischen
Bewahren und Erneuern. Deshalb sollte vieles, was sich
bewährt hat, weitergeführt werden. Darüber hinaus gilt
es aber, für die Auszubildenden neue Wege zu gehen.
Politische Innovation ist gefragt. Unsere Jugend braucht
Perspektiven, sie ist unsere Zukunft. Geben wir dieser
Zukunft eine Chance.
Vielen Dank.
({25})
Ich erteile der Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Heinz Wiese ({0})
({1})
Das
freut mich besonders, Herr Niebel. Ich habe Sie seit gestern Abend schon vermisst.
Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Auseinandersetzung über einen Berufsbildungsbericht ist immer auch eine Diskussion über
Zahlen. 1998 - das ist der Zeitraum, den der vorliegende
Berufsbildungsbericht erfasst - hat sich der Lehrstellenmarkt im Vergleich zum Jahr 1997 etwas entspannt.
Kamen 1997 auf 100 Bewerber und Bewerberinnen
noch 96,6 Stellen, waren es 1998 bereits 98,1. 1999 unter rot-grüner Verantwortung - lag das Verhältnis von
offenen Ausbildungsplätzen zu Bewerberinnen und Bewerbern bereits bei über eins zu eins, im Westen sogar
bei 116 zu 100. Die Jugendarbeitslosigkeit sank deutlich
um 18 Prozent.
({0})
Angesichts dieser Zahlen hätten Sie wahrscheinlich in
der letzten Legislaturperiode vor Begeisterung erst einmal Luftsprünge gemacht. Deshalb können wir sagen,
dass wir es geschafft haben, innerhalb eines Jahres die
Jugenderwerbslosigkeit deutlich zu senken. Dem können
sogar Sie sich nicht verschließen.
({1})
Das JUMP-Programm hat bereits im Frühjahr 1999
25 000 Jugendliche von der Straße geholt, die als so genannte Altnachfragerinnen und Altnachfrager ohne Perspektive waren. Das ist die Leistung, die wir gleich zu
Beginn erbracht haben. Aber das war nur der erste
Schritt zur Lösung dieses Problems und noch immer gibt
es Jugendliche, die in den vergangenen Jahren unvermittelt blieben und einen Job suchen.
Zu Wahrheit und Klarheit gehört es auch, an dieser
Stelle zu sagen, dass diese Entspannung auf dem Ausbildungsmarkt in der Tat in erster Linie dem JUMPProgramm der Bundesregierung zu verdanken ist.
({2})
Die Zusagen der Wirtschaft wurden leider an dieser
Stelle wiederum nicht eingehalten - nicht 1998, als Altbundeskanzler Kohl mit dem - dann unerfüllten Wahlversprechen, jedem Jugendlichen einen Ausbildungsplatz anzubieten, in den Wahlkampf zog, und auch nicht,
als die Wirtschaft im Rahmen des „Bündnisses für Arbeit“ 6 000 Stellen für den demographischen Zusatzbedarf versprochen hat und darüber hinaus noch 10 000
zusätzliche Stellen zusagte. Wenn wir den Effekt des
JUMP-Programms von den erreichten Zahlen abziehen,
müssen wir leider feststellen, dass wir, wenn wir über
einen Erfolg reden wollen, tatsächlich nur von einem Erfolg des JUMP-Programms reden können.
Sorge muss uns an dieser Stelle auch der Rückgang
vor allem in den industriellen Ausbildungsberufen im
Osten machen. Deshalb appellieren wir an dieser Stelle
vor allem an die Wirtschaftsverbände, ihre Zusagen bezüglich der Ausbildungssituation einzuhalten und bei ihren Mitgliedern eine größere Verbindlichkeit herzustellen.
({3})
Ich bin überzeugt, dass es den Unternehmen in Zukunft leichter fallen wird, die notwendige Motivation bei
ihren Mitgliedern zu erreichen, um den grundgesetzlich
gebotenen Beitrag aufzubringen; denn wir stehen heute
vor dem größten Wirtschaftsaufschwung seit dem Vereinigungsboom, der damals zum Teil künstlich erzeugt
wurde.
Darüber hinaus ist sich die rot-grüne Koalition bewusst, dass sie auch, vor allem was die Ausbildungssituation betrifft, an den Rahmenbedingungen arbeiten
muss.
({4})
Aber das meiste von dem, was Sie von der F.D.P. und
von der Union fordern, ist längst ein Bestandteil unseres
derzeitigen Maßnahmenkatalogs.
({5})
Sie haben es verpasst, in den vergangenen 16 Jahren
die richtigen Weichenstellungen vorzunehmen.
({6})
Wir dagegen haben uns vorgenommen, konkret zu handeln und konstruktiv zu agieren.
({7})
Aber neben all diesen quantitativen Aspekten muss es
uns auch um die Qualität gehen. Das JUMP-Programm das sagen Sie - mag auch Schwächen haben, aber dies
liegt auch in der Natur der Sache, nämlich in der des Sofortprogramms. Wir möchten aus diesem Sofortprogramm konstruktive Schlussfolgerungen ziehen; denn
JUMP hatte - das wurde bereits angesprochen - nicht
unerhebliche Mitnahmeeffekte bei der Wirtschaft und es
orientiert sich nach wie vor an den traditionellen Berufsbildern. Bei jungen Männern ist immer noch der
Beruf des Kfz-Mechanikers auf Rang Nummer eins und
bei jungen Frauen ist noch immer der Beruf der Friseuse
auf einem absoluten Spitzenplatz.
Deshalb hat die Koalition beschlossen, speziell gegen
den Fachkräftemangel im Bereich der Informationstechnologien vorzugehen. Hier werden in den kommenden
drei Jahren 26 000 neue Ausbildungsplätze geschaffen.
Aber das ist nicht alles. Wir sind auch schon dabei,
neue Berufsbilder zu erarbeiten und auf den Weg zu
bringen.
Präsident Wolfgang Thierse
Ein weiteres Problem ist die Zielgruppengenauigkeit. JUMP war niemals nur als ein Programm für benachteiligte Jugendliche gedacht, sondern wurde allgemein zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Deutschland eingebracht. Daher müssen wir auch Programme
weiterentwickeln, die gerade die benachteiligen Jugendlichen ansprechen, weil wir wissen, dass 50 Prozent der
arbeitslosen Jugendlichen in den alten und über 20 Prozent der arbeitslosen Jugendlichen in den neuen Bundesländern keinen qualifizierten Abschluss haben.
Deshalb liegt einer der wichtigsten Schlüssel zur Lösung dieses Problems im allgemeinbildenden Schulsystem. Da gibt es beispielsweise die Problemgruppe der so
genannten nicht beschulbaren Jugendlichen. In einigen Bundesländern laufen diesbezüglich Experimente,
die zeigen sollen, wie durch ganz speziell zugeschnittene Schulen und Unterrichtsmodelle erreicht werden
kann, dass auch diese Jugendlichen einen qualifizierten
Abschluss schaffen. In diesem Bereich muss der Informations- und der Erfahrungsaustausch erheblich intensiviert werden, wenn wir vermeiden wollen, dass hier eine
Gruppe von dauerhaft Ausgegrenzten heranwächst.
Ähnliches gibt es auch in einer weiteren statistisch erfassten Problemgruppe, nämlich der Gruppe der ausländischen Jugendlichen und hier vor allen Dingen der
männlichen Jugendlichen. Eines ist empirisch erwiesen:
Überall dort, wo auf die spezifischen Probleme der jungen Migrantinnen und Migranten eingegangen wird,
überall dort, wo sie Kurse für die deutsche Sprache besuchen können und wo sie schulisch und sozial gefördert
werden, entschärft sich das Problem der mangelnden
Qualifikation und der mangelnden Berufschancen ganz
erheblich. Die Bundesregierung nimmt hier ihre Verantwortung nicht nur im Rahmen von Sonderprogrammen
und Modellprogrammen wahr. Weitere Schritte sind
aber - vor allem auf Landesebene und auf Kommunalebene - an dieser Stelle mehr als dringend notwendig.
Von besonderer Bedeutung ist auch die Vermittlung
von Schlüsselqualifikationen für die Arbeitswelt des
21. Jahrhunderts. Dazu gehören Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und die Fähigkeit zu kreativen
Problemlösungen und zum lebenslangen Lernen. All
dies muss bereits im Schulsystem entwickelt werden.
In Bayern läuft gegenwärtig ein viel versprechendes
Volksbegehren von Lehrerverbänden, von Schülerinnen
und Schülern sowie von den Eltern, das den Titel „Das
bessere Schulkonzept“ trägt. Leider verkennt gerade die
CSU mit ihrer fundamentalistischen Ablehnung dieser
Konzepte die Zeichen der Zeit, gerade was diese Schlüsselqualifikationen betrifft.
({8})
Schulpolitik mag in erster Linie Ländersache sein. Aber
auch Sie, Herr Kollege, werden mir zustimmen, dass
Schulpolitik letztlich uns alle angeht.
Kollegin Deligöz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jork?
Nein,
er kann sich ja nachher noch einmal melden.
({0})
Das duale Ausbildungssystem hat sich trotz erkennbarer Schwächen vor allem in Westdeutschland bewährt.
Die Koalition hat zahlreiche Modernisierungsvorschläge
gemacht und Anforderungen erarbeitet, die gerade in
diesem Haus Anklang finden.
({1})
Die vom DGB-Vorsitzenden Schulte geforderte Ausbildungsoffensive und seine zugleich verkündete Bereitschaft, offen und mit flexiblen Instrumenten auf die immer differenziertere Ausbildungssituation einzugehen,
begrüßen wir ausdrücklich. Ebenso im Grundsatz zu begrüßen sind die Arbeitgeberforderungen nach einer flexiblen und einer offenen Gestaltung der Weiterbildung.
Es zeigt sich hier wie auch in vielen anderen Fragen,
dass die Konsensstrategie der Bundesregierung im
Rahmen des „Bündnisses für Arbeit“ Sinn macht und an
vielen Stellen auch Früchte trägt.
Konsensuale Schritte sind aber notwendig, um noch
unerschlossene Ausbildungsreserven zu mobilisieren.
Nur etwa 10 Prozent der ausländischen Betriebe bilden
aus. Das liegt sicherlich nicht an der mangelnden Bereitschaft, sondern oft auch an der mangelnden Unterstützung und an bürokratischen Hemmnissen sowie an der
Frage der Ausbildungsberechtigung. Hier können vor allem die Industrie und die Handelskammern etwas unternehmen, um zur Verbesserung der Situation beizutragen.
({2})
Die öffentliche Hand sollte die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe dadurch fördern, dass sie bei der
Vergabe von öffentlichen Aufträgen vor allem die Betriebe bevorzugt, die ausbilden. Dies kommt nach der
heutigen Situation vor allem den kleineren und mittleren
Betrieben zugute.
Abschließend möchte ich festhalten: Wir haben sicherlich nicht für alles eine Patentlösung. Aber wir sind
auf einem sehr guten Wege. Wir können zu Recht als
rot-grüne Koalition darauf hinweisen, dass wir nicht nur
über alles reden, sondern dass wir zu Taten schreiten
und dass wir bereits einige wichtige Schritte gegangen
sind.
({3})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Cornelia Pieper, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Die Schaffung von Ausbildungsplätzen für junge Frauen und Männer ist nicht nur die
beste Zukunftsinvestition, die wir tätigen können, sondern - da es die Option auf einen zukünftigen Arbeitsplatz einschließt - auch die beste Sozialpolitik, die man
für junge Menschen in diesem Land betreiben kann.
({0})
Daran muss sich auch die Politik der rot-grünen Bundesregierung messen lassen. Ich sage auch ganz deutlich, dass wir Liberale es für völlig falsch halten, gerade
die Ausbildungsplatzpolitik, die berufliche Bildung zum
politischen Schlachtfeld zu machen.
({1})
Trotzdem müssen Sie natürlich auch die Kritik der
Opposition an Ihren Programmen ertragen. Ich gebe zu,
der uns seit geraumer Zeit vorliegende Berufsbildungsbericht ist nicht der geeignete Maßstab für eine Bewertung der Leistungen dieser Bundesregierung. Er beschreibt nämlich den Zustand vom September 1998,
also das Ergebnis der Regierungsarbeit der christlichliberalen Koalition.
({2})
Der Bericht macht deutlich, dass die alte Bundesregierung bei der Schaffung von Ausbildungsplätzen einige richtige Weichenstellungen vorgenommen hat.
Zugleich zeigt er, wie wichtig es ist, Signale zur Schaffung zielgenauer Rahmenbedingungen für eine Stärkung
der Wirtschaft zu geben, insbesondere für die kleinen
und mittleren Betriebe, um damit die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe und Einrichtungen zu stärken. Die
Tarifvertragsparteien, Bund und Länder sind hier gleichermaßen gefordert. Für mich bedeutet das, gerade
kleine und mittlere Unternehmen, das Handwerk zu
stärken.
({3})
Das betriebliche Ausbildungsangebot muss ausgeweitet werden. Ausbildungsplatzentwickler haben dabei
natürlich eine Schlüsselposition. Wir meinen aber auch,
Existenzgründern muss der Zugang zur Ausbildung erleichtert werden. Dafür fehlen die richtigen Ansätze in
Ihrem Programm. Der einzig richtige Weg zur Sicherung einer ausreichenden Zahl von Ausbildungsplätzen,
meine Damen und Herren von der Regierungskoalition,
ist nach wie vor die Stärkung des dualen Systems, wobei
der Ausbildungsbetrieb im Zentrum stehen muss.
({4})
Industrie und mittelständische Wirtschaft werden die
Ausbildung ihres Nachwuchses jedoch immer an ihrem
wirklichen Bedarf orientieren. Daher kann ich die Warnung nicht oft genug aussprechen: Mittelstandsfeindliche Gesetze vernichten Ausbildungs- und Arbeitsplätze
in diesem Land.
({5})
Ich sage auch: Ausbildungsbereitschaft der Wirtschaft und der Betriebe darf nicht nur immer eingefordert, sie muss auch belohnt werden. Ausbildungsbetriebe dürfen durch Übernahmeverpflichtungen im Rahmen
von Tarifverträgen nicht abgeschreckt werden.
({6})
Ich sage ganz deutlich: Es müssen verstärkt Regelungen geschaffen werden, die eine moderate Ausbildungsvergütung ermöglichen. Tarifpolitische Entscheidungen konterkarieren zurzeit die Schaffung von betrieblichen Ausbildungsplätzen.
({7})
Nehmen Sie doch das Beispiel des Einzelhandels:
Dort bekommt eine junge Frau im ersten Lehrjahr - das
hat ja auch Allgemeinverbindlichkeit für alle Einzelhandelsfirmen - 940 DM. Wie viele Ausbildungsplätze hätten wir geschaffen, gerade im Osten Deutschlands, wenn
wir daraus zwei oder drei Ausbildungsplätze machen
könnten, gerade im Handel. Da würden wir ein großes
Stück vorankommen.
({8})
Die Quintessenz bleibt: Die beste Ausbildungsplatzpolitik für junge Menschen ist eine erfolgreiche Mittelstandspolitik - dafür leistet diese Bundesregierung
nicht viel -, denn nur betriebliche Ausbildungsplätze eröffnen Optionen auf einen zukunftsorientierten Arbeitsplatz für junge Frauen und Männer. Dieser Akzent fehlt
in Ihrem Sonderprogramm.
({9})
Heute schon ist deutlich zu erkennen, worauf RotGrün setzt. Die Mittelstandspolitik der Regierung ist mit
ihrer falsch verstandenen Steuerentlastung großer Kapitalgesellschaften und mit ihrer Ökosteuer arbeits- und
ausbildungsplatzfeindlich.
({10})
- Doch, ich komme gleich zu konkreten Beispielen.
Der Berufsbildungsbericht zeigt uns Wege auf, die
aber in keines der Programme der jetzigen Bundesregierung aufgenommen wurden. Auch das im vergangenen Herbst beschlossene Sofortprogramm zum Abbau
der Jugendarbeitslosigkeit, das mit großem Kraftaufwand von den Arbeitsämtern umgesetzt wurde,
({11})
ist letztlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich sage es
noch einmal: Das kann das Grundproblem insgesamt
nicht lösen. Trotz der Neuauflage des Programms in diesem Jahr sind wir von unserem Ziel, nämlich der dauerhaften und ausreichenden Bereitstellung von betrieblichen Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, noch immer weit entfernt.
({12})
Solange der Mut zu echten Reformen nicht aufgebracht wird - das muss eine gemeinsame Kraftanstrengung in diesem Parlament sein - und immer weitere mittelstandsfeindliche und ausbildungsplatzvernichtende
Gesetze verabschiedet werden, sehe ich zu einer Fortführung derartiger Sofortprogramme keine Alternative.
Es ist zwar richtig, wenn immer wieder gesagt wird, jeder junge Mensch, der in irgendeine Form der Beschäftigung gebracht werde, sei weg von der Straße. Noch so
schöne außerbetriebliche Ausbildungs- und Beschäftigungsprogramme können aber den Betrieb nicht ersetzen.
({13})
Das sehen wir am deutlichsten im Osten, wo auf absehbare Zeit keine Umkehrung des Verhältnisses von ausbildenden zu nicht ausbildenden Betrieben von 29 Prozent zu 71 Prozent zu erwarten ist.
Ich möchte Ihnen vortragen, was der interessante
Konjunkturbericht der IHK Halle/Dessau - immerhin
eine wachsende Wirtschaftsregion im Osten - enthält.
Die Verfasser sehen mit Besorgnis die Entwicklung der
kleinen und mittelständischen Betriebe in dieser Region.
Es wird bemerkt, dass es kaum noch Investitionen gibt
und dass die Unternehmenslücke größer wird; allein im
Jahre 1999 wurden 2 000 Gewerbeanmeldungen weniger verzeichnet. Während es im Westen durchschnittlich
45 Unternehmen je Tausend Einwohner gibt, sind es im
Osten nur 33. Überwiegend herrscht eine schlechte Gewinnsituation bei den kleinen und mittleren Betrieben
vor:
({14})
Von rund 34 000 Personengesellschaften ohne Eintrag
ins Handelsregister arbeiten drei Viertel praktisch ohne
Gewinn. Wie wollen Sie, meine Damen und Herren von
der Regierungskoalition, diese Betriebe mit Ihrer Steuerpolitik eigentlich erreichen?
({15})
Ich denke, bei diesen Betrieben sind die wichtigen Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Ausbildungsplatzpolitik
zu setzen.
Bei der Berufsausbildung müssen neue Wege beschritten werden. Die F.D.P. setzt sich schon lange für
eine Modernisierung der beruflichen Ausbildung nach
dem Muster eines Baukastensystems ein: Es soll mit Basisberufen angefangen und dann in Form von Qualifizierungs- und Aufbaubausteinen weitergeführt werden. So haben wir leistungsstarke und leistungsschwache junge Menschen gleichermaßen im Auge.
Es ist eine breite Diskussion im Gange. Ich gebe zu:
Die Frau Bundesbildungsministerin hat, was die berufliche Bildung anbelangt, auch zum Thema Modernisierung und Flexibilisierung wichtige Akzente aufgezeigt,
die wir teilen und die wir wollen. Wenn Sie, Frau Ministerin, Punkte, die der Entschließungsantrag der F.D.P.
enthält, umzusetzen beabsichtigen bzw. zum Teil schon
umgesetzt haben, dann, denke ich, sollten Sie und die
Regierungskoalition gezielt und bewusst dem Entschließungsantrag der F.D.P.-Fraktion zustimmen. Dafür
möchte ich noch einmal werben.
({16})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Maritta Böttcher, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wieder einmal geht es um einen
Berufsbildungsbericht, dessen Inhalt, so scheint es, insofern überholt ist, als die Datenlage zwei Jahre alt ist und
inzwischen Ergebnisse des JUMP-Programms und der
Bündnisgespräche vorliegen. Diese Ergebnisse will ich das sage ich zu Beginn ausdrücklich - weder kleinreden
noch gering schätzen: Tatsächlich ist vielen Jugendlichen durch den Kraftakt der Bundesregierung wenigstens vorübergehend geholfen worden.
Aber gehen wir die im Bericht aufgelisteten Schwerpunkte im Einzelnen durch, so zeigt sich seine Aktualität
auch trotz der von der Regierungskoalition ergriffenen
neuen Maßnahmen. Richtig ist wohl, dass die Lehrstellenbilanz zum Stichtag 30. September ein Plus von
3 Prozent bei den neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen gebracht hat. Werden jedoch die vom Staat
voll finanzierten Plätze herausgerechnet, ergibt sich ein
weiterer deutlicher Rückgang beim Angebot der Betriebe. Da stellt sich die Frage, was das Sofortprogramm
und die Bündnisgespräche tatsächlich zur deutlichen
Ausweitung des betrieblichen Ausbildungsangebots beigetragen haben. Oder gilt dieses Ziel nicht mehr?
Im Dezember war von etwa 10 000 Plätzen weniger
bei Betrieben und Verwaltungen die Rede. Versprochen
wurden im Bündnis zusätzlich 16 000 Stellen, und zwar
„aus eigener Kraft“. Das Angebot sank vor allem im
Handwerk, bei Ländern und Kommunen und in der
Großindustrie. Ist dies nun ein Effekt, der trotz oder soCornelia Pieper
gar dank des Sofortprogramms zustande gekommen ist?
Vielleicht gibt es darauf in der Begleitforschung eine
Antwort.
Festgehalten werden muss: Die Wirtschaft hat bisher
ihre Lehrstellenzusage nicht erfüllt.
Ein zweiter Schwerpunkt des Berichts, der nichts an
Aktualität eingebüßt hat, ist die weitere Talfahrt bei den
Lehrstellen in Ostdeutschland. Das ist hier schon angeklungen. Auch dort ging das betriebliche Lehrstellenangebot wiederum zurück. Die neuen Bundesländer
bleiben Spitzenreiter in den Bilanzen der Arbeitsämter.
Im letzten Jahr kamen auf jeweils 100 Stellen zum Beispiel 142 Bewerbungen in Mecklenburg-Vorpommern
und 182 Bewerbungen in Sachsen vor.
Als Fazit bleibt demnach die Einschätzung im Minderheitenvotum der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum vorliegenden Bericht aktuell: Auch in diesem
Jahr hat die Politik der Freiwilligkeit und der Anreize
versagt.
({0})
Das, was an Verbesserungen und Erfolgen gemeldet
wird, geht zuerst und vor allem - das ist heute schon
deutlich geworden - auf das Konto des Sofortprogramms. Das entspricht nicht dem Geist und den Zielen
des Ausbildungskonsenses. Nach wie vor gilt: Mehr
Ausbildungs- und Arbeitsplätze werden nicht durch Sofortprogramme geschaffen, sondern durch die richtige
Ausgestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.
({1})
Der Kanzler hat das auf dem Bildungskongress der
SPD in dieser Woche bestätigt. Ich kann ihm dabei nur
zustimmen. Die Verschiebung der Ausbildungslasten
auf die öffentliche Hand ist weder akzeptabel noch auf
Dauer finanzierbar und gefährdet das duale System.
({2})
- Das hat ja Ihr Kanzler gesagt. Da muss ich ja Recht
haben.
({3})
- Ja, Frau Bulmahn auch. Selbstverständlich.
({4})
Ich kann auch noch ein paar andere Namen nennen, aber
wir sind hier nicht bei einer Veranstaltung, auf der eine
Laudatio auf einzelne Menschen gehalten wird.
Auch wenn sich die SPD nach dem Regierungswechsel von dem vorher favorisierten Modell der Umlagefinanzierung verabschiedet hat, weil der Kanzler - so
wörtlich - nicht gegen die Wirtschaft arbeitet, fragt man
sich, was JUMP anderes ist als eine Umlagefinanzierung. Es ist allerdings eine Umlage, die nicht von der
Wirtschaft getragen wird.
Schließlich sei mir noch eine Bemerkung zur Chancengleichheit gestattet. Für den Bereich der beruflichen
Bildung würde das im Klartext bedeuten: Jeder Jugendliche hat das Recht auf ein gleichwertiges, qualitativ
hochwertiges und auswahlfähiges Ausbildungsangebot.
Dass wir davon meilenweit entfernt sind, weiß jeder, der
einmal versucht hat, sich vor Ort in dem ganzen Förderwirrwarr der verschiedenen Programme zurechtzufinden. Da die Programme und Förderrichtlinien ständig
verändert werden, kommt es dazu, dass in einer Klasse
auf vier bis fünf verschiedenen Wegen geförderte Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Rechten,
Bezügen und Perspektiven nebeneinander sitzen. Es
kann also weder von Gleichwertigkeit dieser Ausbildungen untereinander und erst recht nicht im Vergleich zur
betrieblichen Ausbildung die Rede sein - ganz zu
schweigen von etwaiger Chancengleichheit nach abgeschlossener Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt. Vom
Arbeitsamt finanzierte Schmalspurausbildungen und
ABM-Projekte zur Pflege von Grünanlagen sind, so
wichtig sie sind, mit Sicherheit keine Antwort auf die
Herausforderungen an die Bildung für das 21. Jahrhundert, wie sie jetzt von den großen Parteien in Grundsatzpapieren neu entdeckt werden.
Ein Gutachten, das kürzlich in Sachsen zur Situation
und Perspektiven der beruflichen Erstausbildung erstellt
wurde, kommt zu der Schlussfolgerung, dass die bildungspolitischen Antworten auf die Dienstleistungsund Wissensgesellschaft außerhalb des Fachhochschulund Hochschulbereichs noch nicht gefunden sind, und
warnt vor der Auffassung, dass irgendeine Berufsausbildung besser sei als keine. Die GEW fordert, dass die
staatlichen Milliarden besser für systematisch aufeinander abgestimmte Ausbildungsangebote eingesetzt werden müssen, und fordert die Politiker auf, ihre Steuerungsfunktion stärker wahrzunehmen. Das ist alles
richtig und unterstützenswert. Es bleibt nur die Frage:
Warum müssen es staatliche Milliarden sein? Auch in
der Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft gibt es
große Bereiche, die von gut ausgebildeten Menschen
profitieren und die sich durchaus an den Ausbildungskosten beteiligen können.
Damit wären wir wieder bei der Verantwortung der
Politik, zum Beispiel für die Einführung einer gesetzlichen Umlagefinanzierung. Vielleicht kommen wir ja
doch in diesem Haus noch einmal ernsthaft auf dieses
Thema zurück.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Willi Brase, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Schaffung und Sicherung von ausreichend qualiMaritta Böttcher
fizierenden Ausbildungsplätzen ist Maßgabe und erste
Priorität für die rot-grüne Regierung in der Bundesrepublik. Dabei müssen wir natürlich bedenken und berücksichtigen, dass sich die Situation in den Regionen und
Ländern sehr unterschiedlich darstellt.
Es ist eben schon angesprochen worden: Die Zahl der
Bewerber von Sachsen bis zum Saarland auf je 100 bei
den Arbeitsämtern gemeldete Ausbildungsstellen ist in
höchstem Maße differenziert zu betrachten. Sind es im
Saarland nur 99, so sind es in Sachsen 182. Das bedeutet
doch offensichtlich - zumindest belegen das die Zahlen
von September 1998 bis Oktober 1999 -, dass wir mit
unterschiedlichen Instrumenten an dieses Problem herangehen müssen.
Ich will Ihnen ein Zweites sagen, das von entscheidender Bedeutung ist. Schauen Sie sich einmal an, wohin die jungen Leute gehen und was die häufigsten
Lehr- und Ausbildungsberufe sind. Wir stellen fest,
dass bei den jungen Frauen Bürokauffrau, Arzthelferin,
Einzelhandelskauffrau und Zahnarzthelferin die Berufe
sind, die sie überwiegend wählen. Man muss natürlich
überlegen, ob das in der Zukunft so bleiben kann, ob
dort tatsächlich die Perspektive liegt. Bei den jungen
Männern sind es die Berufe Kfz-Mechaniker, Elektroinstallateur, Maler, Lackierer und Tischler. Auch da
müssen wir überlegen, ob wir diese Orientierung in der
Berufsbildungspolitik beibehalten können.
Warum sage ich das? Wir haben oft davon gesprochen, dass in den USA ein sehr gutes Wirtschaftswachstum erreicht worden ist. Wenn man sich überlegt,
dass der Präsident Anfang der 90er-Jahre eine
IT-Offensive ins Leben gerufen und vor allen Dingen
den Zugang zum Internet ermöglicht und forciert hat,
dann kann ich Ihnen nur sagen: Die Versäumnisse in der
Bundesrepublik sind Ihre Versäumnisse aus der letzten
Legislaturperiode und nicht die der rot-grünen Regierung!
({0})
- Ob das etwas Neues ist oder nicht, es ist eine Tatsache.
Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis.
({1})
Im „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ ist beschlossen worden: Jeder, der
kann und will, bekommt einen Ausbildungsplatz angeboten. Diese Kernaussage vom Juli 1999 belegt erstmals
in der Geschichte der Bundesrepublik, dass junge Menschen mehr als einen moralischen Anspruch darauf haben, dass die Gesellschaft dafür sorgt, dass sie auch in
der Zukunft eine Perspektive bekommen.
({2})
Ich bin ein bisschen stolz darauf, dass wir diesen Ansatz, nämlich alle Beteiligten, von den zuständigen Stellen bis hin zu den Unternehmensverbänden unter Einbeziehung der Gewerkschaften und der Politik, in die Verantwortung einzubinden, in meiner Heimat, im Siegerland und Sauerland, und darüber hinaus in NordrheinWestfalen entwickelt haben. Das ist gut und richtig so
und da brauchen wir keinen Vergangenheitsminister,
sondern wir schauen nach vorne.
({3})
Die Wirtschaft hat im „Bündnis für Arbeit“ zugesagt,
aus demographischen Gründen 6 000 zusätzliche Ausbildungsplätze anzubieten. Darüber hinaus will sie weitere 10 000 Ausbildungsplätze anbieten. Nach den bisher vorliegenden Zahlen müssen wir aber auch hier und
heute deutlich feststellen: Diese Zusage konnte von der
Wirtschaft bisher nicht in vollem Umfang erfüllt werden. Deshalb war es richtig und notwendig - das haben
viele Vorrednerinnen und Vorredner dankenswerterweise bestätigt -, dass das Sofortprogramm zumindest in
Teilbereichen Abhilfe geschaffen hat. Das heißt, die Politik hat ein Stück weit, hier mit über 2 Milliarden DM,
etwas getan, um die Ausbildungssituation und die Zukunftschancen für junge Leute zu verbessern.
Frau Pieper ist leider nicht mehr da. Sie hat darauf
hingewiesen, dass die F.D.P. mit ihren Anträgen, die wir
heute hier diskutieren, Dinge vorschlägt, die notwendig
und wichtig seien.
({4})
Ich möchte nur darauf hinweisen, Herr Niebel: Die Frage der Übernahme ist nach wie vor eine zentrale Frage,
weil junge Leute nach der Ausbildung praktische Erfahrung brauchen. Wenn die Tarifpartner, wie in der Metall- und Elektroindustrie, ihre Übernahmetarifverträge für ein Jahr fortschreiben, dann leisten sie einen hervorragenden Dienst, indem sie verhindern, dass die jungen Leute auf der Straße landen.
({5})
Nun zu den regionalen Ausbildungsplatzkonferenzen. Ich lade Sie sehr herzlich ein: Kommen Sie in
meine Heimat, wo liebe und nette Leute leben und arbeiten. Ich zeige Ihnen, wie wir diese Fragen seit fünf,
sechs Jahren intensiv thematisieren, wie wir die Schwierigkeiten von lernschwachen Jugendlichen einbeziehen,
wie wir es schaffen, in kleinen Betrieben, in mittleren
Betrieben und in Industriebetrieben gemeinsam immer
wieder genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung zu
stellen.
Dafür brauchen wir das, was im Antrag zu regionalen
Ausbildungskonferenzen steht, nicht. Das ist „Stand der
Technik“. Das ist schon fast Normalität.
Bei der Umsetzung des Konsenses beim Bündnis für
Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit wird gerade beim Instrument der regionalen Ausbildungsplatzkonferenzen, wo es noch nicht angewandt wurde, der
Nachholbedarf sichtbar, und man kommt dort zu verbesserten und veränderten Zahlen. Wir sind sehr gespannt,
zu welcher Einschätzung wir im März dieses Jahres
kommen werden und was durch die Nachbesserungsaktion an zusätzlichen Ausbildungsplätzen realisiert und
mobilisiert werden kann.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich will etwas zur Mittelstandspolitik sagen,
weil wir seit Jahren hören, unsere Politik sei angeblich
so mittelstandsfeindlich. Die F.D.P. fordert immer Mittelstandsfreundlichkeit. Die Unternehmensteuerbelastung in der Bundesrepublik Deutschland lag 1998 bei
56 Prozent, 1999 schon bei 51,8 Prozent, und am 1. Januar 2001 wird sie bei knapp 38 Prozent liegen. Eine
bessere unternehmensorientierte Steuerpolitik gibt es
nicht. Der Weg, den wir mit unserer großen Unternehmensteuerreform gehen werden, ist genau der richtige.
({6})
Lassen Sie mich noch etwas zur Ökosteuer und zur
Mineralölsteuer sagen, weil das auch ein beliebtes Argument ist.
({7})
Nehmen Sie zur Kenntnis, dass der Ölpreis pro Barrel in
Dollar in den letzten Monaten massiv angestiegen ist.
Nehmen Sie aber auch zur Kenntnis, dass die Stromkunden insgesamt vom liberalisierten Strommarkt profitiert
haben und dass dabei, so schreibt es die „Süddeutsche
Zeitung“, die Frage der Ökosteuer überhaupt keine Rolle
gespielt hat und auch nicht ins Gewicht gefallen ist.
({8})
Wir haben immer wieder gesagt, ob Sie es hören wollen oder nicht: Wir müssen die Arbeitskosten entlasten
und müssen alle Teile dieser Gesellschaft an der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme beteiligen. Das
haben wir getan und wir werden diesen Weg konsequent
fortsetzen.
({9})
Meine Damen und Herren, ich will auf einige Punkte
eingehen, die nach meiner Auffassung sehr wichtig sind.
Frau Bundesministerin Bulmahn hat das auch sehr deutlich dargestellt. Wir brauchen Aktivitäten für lernschwache Jugendliche. Die inhaltliche und organisatorische Verknüpfung von berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen und anschließender Berufsausbildung
ist wichtig, damit wir unproduktive Warteschleifensituationen vermeiden.
Sie alle wissen, dass die jungen Menschen, wenn sie
nur in Warteschleifen verwahrt werden, Zukunftsperspektiven verlieren und auch den Glauben verlieren,
dass wir richtig in ihrem Sinne handeln.
({10})
Deshalb ist es richtig, was Frau Bulmahn gesagt hat,
dass die erworbenen ausbildungsrelevanten Qualifikationen in den vorbereitenden Maßnahmen bescheinigt
werden sollen und dass sie möglicherweise auch zu einer Verkürzung der anschließenden Berufsausbildung
führen können. Wir sollten über diesen Punkt intensiv
und sachlich nachdenken.
({11})
- Das ist wunderschön.
Ein weiterer Punkt ist: Wir müssen uns Gedanken
machen über die Qualifizierung und Weiterqualifizierung junger Erwachsener, die eben nicht die Chance hatten, in Erstausbildung zu kommen. Auch dort hat schauen Sie sich das genau an - das Bündnis für Arbeit
entscheidende Punkte aufgeführt.
Die strukturelle Weiterentwicklung ist angesprochen
worden. Wir plädieren für eine Beibehaltung des Berufskonzepts. Das hat sich in der Vergangenheit bewährt
und wird sich auch in der Zukunft bewähren. Wir wenden uns dagegen, dass über Modularisierung auf schleichendem Wege alte Stufenausbildungsgänge wieder
eingeführt werden. Sie helfen den jungen Leuten in der
Tat nicht weiter.
({12})
- Doch, diese Diskussion findet durchaus im Handwerk
und auch im Bereich von mittelständischen Unternehmen statt. Wir haben sie aufgenommen.
Ich will ganz deutlich sagen, worum es geht, Frau
Aigner. Es geht darum, dass wir nicht zulassen, dass
über Modulausbildung oder Satellitenausbildung, wie es
der DIHT vorgeschlagen hat, möglicherweise die Stufenausbildung wieder eingeführt wird. Dagegen wehren
wir uns.
Kollege Brase, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Aigner?
Ja, gerne.
Herr Kollege, ich wollte
vorhin die Ministerin nicht unterbrechen, aber dieser
Punkt hätte mich schon da interessiert. Sie hat gesagt,
sie bräuchte für praktisch begabte Jugendliche theoriegeminderte Berufe, wenn ich sie richtig verstanden habe. Sie haben das jetzt wieder anders dargestellt. Ich
weiß nicht genau, was Sie eigentlich wollen. Wie wollen
Sie Jugendlichen, die mehr praktisch orientiert sind, helfen, einen Beruf zu finden? Gehen Sie eventuell den
Weg, auch theoriegeminderte Berufe anzubieten, vielleicht auch in einer Modulausbildung, oder wie wollen
Sie es konkret machen?
Frau Aigner, ich kann Ihnen das
sehr genau sagen.
({0})
- Das können Sie auch sein, Herr Lensing. Das mache
ich doch gern.
Junge Leute, die als lernschwach definiert werden,
die möglicherweise Schwierigkeiten mit der Theorie haWilli Brase
ben, kommen aus unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Wir haben gesagt: Es kann
nicht sein, dass wir diesen jungen Leuten nur eine
Kurzausbildung oder Kurzqualifikation oder eine zweijährige Ausbildung anbieten, obwohl der Anteil der einfachen Arbeitsplätze in dieser Republik ständig abnimmt. Wir erwarten und müssen zur Kenntnis nehmen,
dass der Anteil der einfach ausgerichteten Arbeitsplätze
in den nächsten zehn Jahren noch einmal dramatisch
sinken wird.
Wenn junge Leute mit der Theorie mehr Probleme
haben als andere - also lernschwach sind -, dann ist es
doch pädagogisch sinnvoll, ihnen mehr Zeit zum Lernen
einzuräumen und einen vernünftigen Ausbildungsplatz
anzubieten. Ich halte es für falsch, zu sagen, junge Leute, die lernschwach sind, sollen Teilqualifizierungen
machen. Diese werden nicht in vollem Umfang auf eine
drei- oder dreieinhalbjährige Ausbildung angerechnet.
Anschließend müssen sie sich weiter qualifizieren, um
irgendwann die Chance zu erhalten, einen vernünftigen
Arbeitsplatz zu ergreifen.
({1})
Ich glaube, dass man hier differenzierter herangehen
muss. Ich kann Ihnen aus meiner Praxis sagen, dass wir
versucht haben, über die vernünftige Verzahnung von
Berufungsvorbereitung und Berufsbegleitung bei den
drei- und dreieinhalbjährigen vollqualifizierenden Ausbildungen weiterzukommen, und zwar an den Branchen,
die es in unserer Region gibt, orientiert. Dort hat es sehr
gute Übernahmequoten, die zwischen 70 und 80 Prozent
lagen, gegeben.
Ich will noch etwas zur Modularisierung sagen. Wir
wollen kein Satellitenausbildungsprogramm nach Modulen machen, bei dem man nach anderthalb oder zwei
Jahren eine Qualifizierung machen kann und ausscheidet, wenn man nicht weitermacht. Dann hat man nach
unserer Auffassung nur eine teilqualifizierte Ausbildung. Wir sind der Auffassung, dass eine vollständig
qualifizierte Ausbildung, für die man eine gewisse Zeit
braucht, notwendig ist. Diese wollen wir umsetzen, und
dafür gibt das Bündnispapier einiges her.
({2})
Das sehe ich nicht im Widerspruch zu dem, was Frau
Bulmahn dargestellt hat.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen.
({3})
- Sie können gern klatschen.
Fazit: Das Wirtschaftswachstum wird optimistisch
eingeschätzt. Mittlerweile wirft man unserem Bundesfinanzminister vor, er würde das Wachstum mit 2,5 Prozent zu niedrig ansetzen. Die Rahmenbedingungen sind
von der Koalition und der Bundesregierung Zug um Zug
verbessert worden. Die Wirtschaft muss ihr Ausbildungsplatzangebot in den nächsten Monaten deutlich
verbessern.
Die jungen Leute müssen wegkommen von den
Schwerpunktausbildungsberufen, die ich eingangs geschildert habe. Es muss mehr in die Breite gehen, und es
muss vor allen Dingen in die neuen Bereiche Dienstleistungen, IT-Branche, Logistik, Verkehr und andere gehen. Das halten wir für richtig.
Der letzte entscheidende Punkt ist: Die Kooperation
in den Regionen ist zu verbessern. Ausbildungskonferenzen sind ein Beispiel dafür. Die Nachvermittlungsaktionen zeigen, dass wir hier vorankommen. Nehmen Sie
eines zur Kenntnis: Das Problem der Berufsschulstunden regelt man am besten vor Ort, weil dort die Fachfrauen und Fachmänner sitzen.
Wir stimmen den F.D.P.-Anträgen nicht zu.
({4})
Wir schlagen vor, den Berufsbildungsbericht zur Kenntnis zu nehmen.
Danke schön.
({5})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rainer Jork, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! In meinem Diskussionsbeitrag zum Berufsbildungsbericht möchte ich mich auf
zwei Schwerpunkte konzentrieren, denn das scheint mir
erforderlich. Erstens beschäftigt mich vor allem die Situation in den neuen Bundesländern. Nicht umsonst
steht schon auf Seite 1 des Berufsbildungsberichts Folgendes:
Allerdings stand einem deutlichen Zuwachs
- an Ausbildungsplätzen
in den alten Ländern ein Rückgang in den neuen
Ländern gegenüber.
Frau Ministerin Bulmahn, es nützt nichts, wenn man
Durchschnittsangaben macht und mit Statistik Kosmetik
betreibt. Es nützt auch nichts, wenn wir nur vom Abbau
von Kopfprämien sprechen. Hier geht es wirklich um die
jungen Menschen, die sich in den neuen Bundesländern
in einer speziellen Situation befinden.
Zweitens möchte ich auf die notwendige Modernisierung eingehen, schließlich geht es um zukunftsfähige
Verbesserungen der beruflichen Bildung. Daraus ergeben sich für mich dann einige Forderungen:
Ich komme zunächst zu der Situation in den neuen
Bundesländern. Mir liegt ein Bericht der Industrie- und
Handelskammer in Dresden vor. Darin gibt es vier weWilli Brase
sentliche Kernaussagen, die ich auszugsweise zitieren
möchte:
Erstens.
In Sachsen wie auch in den anderen neuen Bundesländern ist für den Zeitraum von 1994 - 1998 für
die duale Berufsausbildung ein Rückgang von
81,5 % auf 78 % festzustellen ...
Zweitens. Bei Befragungen von circa 2 000 nicht
ausbildenden Unternehmen liegen die Gründe dafür zumeist in der wirtschaftlichen Situation.
({0})
Drittens.
Allein mit der Konzentration der Mittel zur Schadensreparatur - wie im Jugendsofortprogramm kann der Entwicklung nicht Rechnung getragen
werden.
Viertens. Bei vielen Unternehmen stehen unmittelbare Überlebensfragen und keine längerfristigen Strategieüberlegungen im Vordergrund.
Daraus ergibt sich meines Erachtens die erste Forderung an die Bundesregierung: Machen Sie eine mittelstandsfreundliche Steuer- und Finanzpolitik!
({1})
Das ist eine wesentliche Voraussetzung für die duale
Berufsbildung.
In der Auswertung des Sofortprogramms ist in der
Zeitschrift „Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis“ - und zwar in Heft 6/99 - zu lesen:
In den neuen Ländern haben fast drei Viertel der
Teilnehmer an Trainingsprogrammen eine außerbetriebliche Ausbildung aufgenommen.
Sie wissen, was das bedeutet. - Weiter heißt es:
Tendenziell weisen Teilnehmer in den neuen Ländern ein höheres Bildungsniveau auf.
({2})
Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen: „ein höheres Bildungsniveau“. Hier sind Ressourcen vorhanden. Diese
sind nicht mit dem Durchschnitt in Deutschland gleichzusetzen.
Unter den Schlussfolgerungen, die teilweise sehr euphorisch sind - das bezieht sich natürlich auf die Durchschnittsangaben -, steht:
Die Integration in eine betriebliche Ausbildung war
schwierig ...
Weiter heißt es:
Allerdings wird der Wechsel der Jugendlichen nach
dem ersten Ausbildungsjahr auf einen betrieblichen
Ausbildungsplatz voraussichtlich nur wenigen
möglich sein. Vor allem in den neuen Bundesländern herrscht ein hohes Maß an betrieblichem Ausbildungsplatzmangel, auch für Jugendliche mit guten Schulabschlüssen.
Lassen Sie mich etwas zu dem Sofortprogramm in
Höhe von 2 Milliarden DM sagen.
({3})
Wir sind uns darin einig, dass es insgesamt eine positive
Resonanz gibt. Es ist etwas getan worden. Aber die Jugendarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern ist
mit 15,7 Prozent - daran gibt es nichts zu schönen - besonders hoch. Natürlich ist die Arbeitslosenquote wegen
der Herausnahme arbeitsloser und schwer erreichbarer
Jugendlicher kurzfristig zurückgegangen. Kurzfristige
Effekte durch Praktika und Qualifikations-ABM sind
aber schnell verpufft. Das Programm erzeugt kaum
Dauereffekte. Ich muss es klar sagen: Es ist ein teures
Reparaturprogramm.
Das eigentliche Ziel „stabile Ausbildungsplätze durch
Aus- und Fortbildung“ wurde nicht erreicht.
({4})
Ich sage es noch einmal deutlich: Dies ist ein teures
Strohfeuer. Probleme werden dadurch nicht gelöst.
({5})
Ich komme zur zweiten Forderung an die Bundesregierung: Sagen Sie ehrlich, was an diesem Programm erfolgreich war und was nicht, und täuschen Sie keinen
Durchbruch vor!
({6})
Nahezu 80 % aller betrieblichen Ausbildungsplätze
werden von kleineren und mittleren Unternehmen
bereitgestellt.
({7})
So steht es in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht 2000. Die
Lehrstellenlücke in den neuen Bundesländern ist zuallererst der äußerst schwierigen, komplizierten Situation
in Handwerk, Handel, Gewerbe und Industrie geschuldet.
({8})
Damit komme ich zu meiner dritten Forderung: Machen Sie endlich wahr, was erst gestern Ihre Justizministerin beim Bundesverband mittelständische Wirtschaft
hier in Berlin versprach! Bringen Sie ein brauchbares
Gesetz zur Verbesserung der Zahlungsbedingungen
auf den Weg! Darauf warten wir schon lange. Ich betone
aber: Es muss brauchbar sein.
({9})
- Da Sie so lachen, möchte ich Sie darauf hinweisen,
dass Sachsen ein sehr brauchbares Konzept vorgelegt
hat. Sie können es sich ansehen.
({10})
- Sind Sie für die Zukunft oder für die Vergangenheit?
Denken Sie einmal darüber nach!
Ich komme zur vierten Forderung. Berücksichtigen
Sie in angemessenem Umfang die ostdeutsche Infrastrukturförderung.
({11})
Das hängt erheblich mit Arbeitsplätzen und Lehrstellen
zusammen.
Eigentlich wollte ich mich mit dem Folgenden an
Herrn Staatsminister Schwanitz wenden. Wo ist er denn
eigentlich? Wir sprechen ja jetzt über ein Problem, das
insbesondere die neuen Bundesländer betrifft.
({12})
- Ich kann Herrn Schwanitz eigentlich nur meine fünfte
Forderung offenbaren, Herr Schmidt. Sehen Sie sich die
Situation dort an; sehen Sie nicht zu und weg. Nehmen
Sie die bestehende Situation ernst, beantworten Sie die
Frage, was Chefsache ist und Priorität hat. Schicken Sie
die Lehrstellenbewerber nicht in die bekannte BAföGFalle, gekennzeichnet durch Ankündigen, Verzögern
und Zurücknehmen.
({13})
Übrigens: Auch im Beschluss der Arbeitsgruppe Ausund Weiterbildung des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit vom 22. Oktober 1999
kamen die speziellen Bedingungen in den neuen Bundesländern praktisch nicht vor. Wo war denn da Herr
Schwanitz?
({14})
Ich frage mich, wozu wir diesen Minister haben. Ich bin
enttäuscht, möglicherweise sind es auch andere.
({15})
- Lenken Sie nicht ab.
({16})
Denken Sie einmal daran, wofür Sie Ihre Leute haben.
({17})
Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt, zur
Modernisierung der Berufsbildung. Es hat keinen
Sinn, zu fragen, ob Ausbildung im Betrieb und in unternehmerischer Verantwortung Zukunft hat, sondern allenfalls, wie wir diese Ausbildung in Zukunft gestalten.
Da gilt es auch unangenehme Themen anzugehen, Herr
Brase.
({18})
Ich hörte das gut heraus.
Ausbildungsweg- und zuständigkeitsübergreifende
Maßnahmen sind gefragt. Übrigens sehe ich in dem Beschluss des Bündnisses durchaus eine Annäherung an
die Fragen unter Punkt 2, wo Wahlpflichtbausteine und
Zusatzqualifikationen angeführt werden.
Kollege Jork, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Rachel?
({0})
Ja, bitte.
Herr Kollege Jork,
Sie haben die Modernisierung der Berufsausbildung angesprochen. Ich möchte Sie deshalb gerne Folgendes
fragen:
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Berufsausbildungspolitik und der Wirtschaftspolitik in verschiedenen Bundesländern und den konkreten Auswirkungen in Bezug auf die Arbeitslosigkeit?
({0})
Gibt es also einen Zusammenhang zwischen den Realitäten und der Berufsausbildungspolitik der verschiedenen Bundesländer?
Herr Kollege Rachel, ich danke für die Frage.
({0})
Ich bin mir sicher, dass sich einige Kollegen von der
SPD deshalb darüber freuen, weil sie gestern bei dem
bereits zitierten Treffen des Bundesverbandes der mittelständischen Wirtschaft einige Fragen und Aufgaben
ins Stammbuch geschrieben bekamen und jetzt die Gelegenheit besteht, eine Wiederholungsstunde zu nehmen.
Es ging dort unter anderem um den Holzmann-Effekt
und die Frage, welche Möglichkeiten die mittelständische Wirtschaft sieht, die Lehrstellensituation zu verbessern. Der Zusammenhang ist völlig unstrittig. Dazu ist
auch ein Heft verteilt worden. Einige der Kollegen haben es eingesteckt. Ich denke, Sie können da nachlesen.
Es ist - deshalb versuche ich in meiner Rede darauf
einzugehen - unverzichtbar, dass dann, wenn wir die
duale Berufsausbildung mit dem wesentlichen Teil betriebliche Ausbildung wollen, die Wirtschaft auch dazu
in die Lage versetzt wird. Das gilt für Deutschland insgesamt, das gilt aber ganz besonders angesichts der kritischen Situation in den neuen Bundesländern eben auch
dort.
Ich hoffe, dass die von mir zuerst genannten Forderungen, die ja in diese Richtung zielen, auch ankommen,
also nicht nur zum Schmunzeln anregen, sondern vielDr.-Ing. Rainer Jork
leicht auch im Nachgang von Herrn Schwanitz gelesen
werden, sofern er da überhaupt einen Durchgriff hat.
({1})
Ich komme noch einmal zu dem Punkt, den Herr Brase gegenüber der Ministerin bereits ansprach. Sie haben
aus dem Begriff Modul eine Art Schlagwort im Sinne
des Zuschlagens gemacht. Ich erinnere an eine frühere
Rede im Bundestag, in der ich versucht habe, das zu definieren. Denken Sie bitte einmal daran, dass in Ihren
Leitlinien, in allen Stellungnahmen und Ausarbeitungen
die Begriffe Wahlpflichtbaustein, Zusatzqualifikation ich denke an den Bericht eben -, Kernqualifikation, Satellitenmodell, Flexibilisierung, aber auch Modularisierung und Ergänzungsmodule vorkommen.
Ich glaube, wir sollten uns etwas mehr damit beschäftigen, was wir eigentlich wollen und was hinter diesen
Begriffen steckt,
({2})
dies aber nicht ideologisch missbrauchen. Sinn der Leitlinien und Begriffe ist es doch, die duale Berufsbildung
flexibler und moderner zu gestalten und Chancengerechtigkeit für die Bewerber zu erreichen. Die Beruflichkeit
der dualen Berufsbildung darf nicht infrage gestellt werden. Wir wollen keine Schmalspurfacharbeiter. Ich bin
auch gegen diesen schlimmen Begriff „kleiner Gesellenbrief“. Wollen wir etwa auch „kleine Juristen“, „kleine Ärzte“ oder „kleine Ingenieure“? Dieser Begriff ist
eine Beleidigung für die Facharbeiter.
Im Berufsbildungsbericht, in dem auch die Ergebnisse des „Bündnisses für Arbeit“ zusammengefasst sind,
steht auch:
Der Anteil an Arbeitsplätzen mit eher einfachen
Tätigkeitsprofilen nimmt weiter deutlich ... ab. Für
Geringqualifizierte werden die Beschäftigungschancen weiter zurückgehen.
Die Bündnispartner haben
... gebeten, Empfehlungen für die Bescheinigung
der in einer Berufsvorbereitung, in einer nicht beendeten Ausbildung oder in berufsbegleitender
Nachqualifizierung erworbenen Qualifikationen zu
erarbeiten. Diese Empfehlungen sollten Grundlage
für die Bescheinigung ausbildungsbezogener Qualifizierungsbausteine sein.
Herr Brase, das ist genau das, was ich unter einem Modul verstehe. Das haben Sie im „Bündnis für Arbeit“
und mit dem Beschluss abgesegnet. Sie sollten sich die
eigenen Unterlagen einmal anschauen.
Noch eine Bemerkung zur Gerechtigkeit und zur
Fairness bezüglich so genannter Doppelqualifikationen - das beziehe ich ausdrücklich auf die Situation in
den neuen Bundesländern -: Wenn heute etwa zwei
Drittel aller Schulabgänger eine Lehrstelle nachfragen
und wenn davon die Hälfte letztlich doch ein Studium
aufnimmt, dann drängen sich zum Beispiel folgende
Fragen auf: Haben denn Real- und Mittelschüler, die einen Facharbeiterberuf anstreben, in der Berufsausbildung faire Chancen im Vergleich zu Abiturienten? Ist es
wirklich die Aufgabe der Wirtschaft, all jenen eine Lehre zu finanzieren, die später ein Studium aufnehmen und
dann im öffentlichen Dienst arbeiten? Kann das Studium
vielerorts nicht so gestaltet werden, dass dank eines hohen Praxisanteils eine vorherige Lehre überflüssig wird?
({3})
War nicht das Modell „Berufsausbildung mit Abitur“
für jene recht sinnvoll, die ihren Wunschberuf bereits
mit einiger Sicherheit benennen konnten?
({4})
Ich bin der Meinung, über manche dieser Fragen sollte
man nachdenken.
Ich schaue auf die Uhr und möchte zum Ende meiner
Rede kommen.
({5})
- Ich hoffe, dass Sie nicht nur die Stelle, an der Sie gerade Beifall geklatscht haben, mitbekommen haben,
sondern auch inhaltlich etwas verstanden haben. Ich
freue mich auf die zukünftigen Diskussionen.
({6})
Ich fasse zusammen: Die anerkannt schwierige Situation in der Wirtschaft und im Bereich der Lehrstellen
bedarf der Konzentration der Kräfte und bedarf der
Schwerpunktsetzung durch entsprechende Maßnahmen.
Das 2-Milliarden-Programm muss sich mehr an der
Nachhaltigkeit orientieren und muss deutlich verbessert
werden. Strohfeuer genügen nicht, wenn man zukunftsfähig sein will. Es kommt heute darauf an - das betrifft
uns alle; ich denke an die Parteiprogramme, die auf Parteitagen zur Diskussion stehen -, Bildungswege und
-abläufe so zu gestalten, dass unsere Kinder und Enkel
im Jahr 2020 für ihren Eintritt in das Berufsleben gerüstet sind.
({7})
Ich danke.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zum Berufsbildungsbericht 1999 der Bundesregierung. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, den Berufsbildungsbericht 1999 auf Drucksache 14/1056 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich?
({0})
- Es ist schwierig, das Abstimmungsergebnis festzustellen. Die CDU/CSU-Fraktion scheint irgendwie meinungslos zu sein.
({1})
- Aber Sie haben keinerlei Reaktion gezeigt. -
({2})
Im Unterschied zu Herrn Ramsauer wird mir von anderen zugerufen, dass sie zustimmen.
({3})
Sie haben leider keinen Arm gehoben.
({4})
Damit ist dieser Teil der Beschlussempfehlung angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/1934
({5}) die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei
Stimmenthaltung von PDS und Gegenstimmen der
CDU/CSU sowie der F.D.P. angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/1934 ({6}), den
Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. zum Be-
rufsbildungsbericht 1999 auf Drucksache 14/1225 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Diese Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der PDS gegen
die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem An-
trag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „9-Punkte-
Konzept zur Schaffung von zusätzlichen Ausbildungs-
plätzen“, Drucksache 14/1294. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/335 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
probe! - Stimmenthaltungen? - Mit dem gleichen
Stimmverhalten wie zuvor ist diese Beschlussempfeh-
lung angenommen.
Damit kommen wir zu Tagesordnungspunkt 11 sowie
zu Zusatzpunkt 11:
11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Eichhorn, Klaus Holetschek, Wolfgang Dehnel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU)
Endbericht der Enquete-Kommission „So genannte Sekten und Psychogruppen“
- Drucksache 14/2361 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({7})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 11 Beratung des Antrags der Fraktion SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fortführung der Beratungen zum Endbericht
der Enquete-Kommission „So genannte Sekten und Psychogruppen“
- Drucksache 14/2568 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({8})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Holetschek, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren
heute Morgen über ein Thema, um das es in den letzten
eineinhalb Jahren relativ ruhig geworden ist, zumindest
was die parlamentarische Beratung angeht. Wir debattieren über das Schicksal des Abschlussberichtes der Enquete-Kommission vom Mai 1998.
Der Deutsche Bundestag hatte bekanntlich aufgrund
zahlreicher Petitionen im Mai 1996 beschlossen, eine
Enquete-Kommission ins Leben zu rufen, weil er den
Anliegen nicht Rechnung tragen konnte. Dieser Bericht
wurde im Frühsommer 1998 vorgelegt. Man kann zu
Berichten von Enquete-Kommissionen stehen wie man
will - man kann Kritik üben, man kann zustimmen -: Es
ist ein sehr umfassender Bericht, der deutlich gemacht
hat, dass sich alle, die dieser Kommission angehörten,
des Themas sehr ernsthaft und auch wissenschaftlich untermauert angenommen haben.
({0})
- Sehr gerne, Frau Rennebach. Das kann ich Ihnen bestätigen. Aber nachher komme ich zu einem Punkt, bei
dem ich etwas über die Behandlung durch SPD und
Grüne traurig bin.
({1})
Präsident Wolfgang Thierse
Es gibt eine Fülle von Handlungsempfehlungen, die
dieser Bericht enthält. Ich wünsche mir, dass wir diese
Handlungsempfehlungen jetzt umsetzen. Gerade in der
letzten Woche hatten wir im Petitionsausschuss wieder
eine Petition, die sich damit beschäftigt, wann diese
Handlungsempfehlungen endlich umgesetzt werden. Es
kommen zahlreiche Anfragen, in denen festgestellt wird:
Na gut, jetzt liegt dieser Bericht der Enquete-Kommission vor; sperren wir ihn jetzt im Aktenschrank ein
oder ziehen wir die notwendigen Schlüsse aus diesem
Bericht der Enquete-Kommission? - Das wäre die Aufgabe der rot-grünen Bundesregierung!
Wir wollen mit unserem Antrag das Thema auf die
politische Agenda zurückholen. Wir wollen, dass sich
das Parlament mit dem Thema wieder auseinander setzt
und dass nach Absichtserklärungen endlich Taten folgen. Ich will im Einzelnen nicht auf die Problematik des
Berichts der Enquete-Kommission eingehen. Er bewegt
sich in einem Spannungsfeld, das aus der Abwägung
verschiedener Grundrechte besteht.
Letztlich hat dieser Bericht festgestellt, dass der Staat
durchaus Fürsorgepflichten in diesem Bereich hat. Ich
denke besonders an die Schwächsten in unserer Gesellschaft. Ich habe vor kurzem gehört, dass 100 000 bis
200 000 Kinder - Personen unter 18 Jahren - in so genannten Sekten und Psychogruppen aufwachsen. Diese
Kinder können sich dagegen natürlich kaum wehren.
Gerade für diese Schwächsten in unserer Gesellschaft aber natürlich auch für andere - müssen wir etwas tun
und ein Zeichen setzen.
({2})
Was tut die rot-grüne Bundesregierung? Bis jetzt haben Sie auf diesem Feld nicht viel getan. Sie haben eine
Kleine Anfrage der PDS zu diesem Thema beantwortet - meiner Meinung nach nicht sehr aussagekräftig.
({3})
Es muss eine Prüfung stattfinden. Es bleibt abzuwarten,
welche Fragen noch zu klären sind.
Vor drei Tagen habe ich Ihren Antrag bekommen.
Wenn wir erreicht haben, dass Sie jetzt initiativ werden,
meine Damen und Herren, dann freut mich das. Ich bin
Jurist, ich lese die Anträge zweimal. Ich habe diesen Antrag dreimal gelesen; denn ich habe ihn nicht verstanden.
Ich lese ihn Ihnen jetzt vor; vielleicht verstehen Sie ihn.
Im Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
heißt es:
Der Bundestag wolle beschließen:
1. Der 13. Deutsche Bundestag hat am 9. Mai 1996
die Einsetzung der Enquete-Kommission „Sog.
Sekten und Psychogruppen“ beschlossen.
Das ist der erste Satz, den der Bundestag jetzt beschließen soll.
({4})
Der 242. Sitzung des 13. Deutschen Bundestages
vom 19. Juni 1998 wurde der Abschlussbericht
vorgelegt und beraten.
({5})
Das ist Punkt 1 Ihres Antrages, unter dem Obertitel
„Der Bundestag wolle beschließen“.
({6})
Ich habe schon viel erlebt, zum Beispiel bei der Gesundheitsreform, bis hin zu der „maoistischen Krankenhausfinanzierung“. Aber das finde ich wirklich gut. Das
ist ein Schlag ins Gesicht all derer, die sich ernsthaft mit
der Thematik auseinander setzen. Ich weiß nicht, wer
den Antrag geschrieben hat. Aber ich bin
({7})
wirklich fassungslos. - Ja, das ist richtig.
Der Antrag ist nur eine Viertelseite lang. Vielleicht
haben Sie diesen Punkt auch bloß eingefügt, damit die
Seite ein bisschen voller aussieht; ich weiß es nicht.
Punkt 2 lässt sich mit den Worten umschreiben, die
der Präsident eines bayerischen Fußballvereins oft gebraucht: „Schau’mer mal!“ - Etwas anderes steht nicht
drin. Es steht drin, dass wieder einmal geprüft und erörtert werden muss. Meine Damen und Herren, diesen Antrag hätten Sie sich sparen können.
({8})
- Nein, ich hänge nicht zu lange an den Überschriften,
Frau Rennebach. Angesichts dessen, was Sie dem Hohen Hause als Antrag auf den Tisch gelegt haben, müssen Sie sich gefallen lassen, dass ich pointiert herausstelle, mit was wir uns hier befassen müssen.
({9})
Ich habe vorhin ausdrücklich erwähnt, Frau Kollegin
Rennebach, dass, wie ich überall gehört habe - ich war
leider nicht in der Enquete-Kommission -, Ihr Einsatz
für das Thema vorbildlich war. Umso mehr tut es mir
Leid, dass Sie heute einen solchen Antrag vorlegen müssen.
({10})
Die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission haben verschiedene Bereiche angestoßen. Sie
haben zum Beispiel aufgezeigt, dass es erhebliche Forschungsdefizite gibt - Forschungsdefizite, die daraus
entstanden sind, dass sich die Enquete-Kommission
nicht mit einem Schwarz-Weiß-Buch beschäftigt hat,
sondern einzelne Konfliktfelder aufgezeigt hat, die es
weiter zu erforschen gilt.
Ich meine, wir sollten die Forschungsförderung hierfür konzentriert verbessern. Sie sprechen in der Antwort
auf die Anfrage der PDS von einem Modellprojekt, von
der Weiterqualifizierung bestimmter Mitarbeiter in den
Beratungsstellen. Auch das ist alles sehr vage. Auch dazu müssen Sie uns einmal Auskunft geben und die Fakten auf den Tisch legen.
({11})
Dasselbe gilt für den Themenbereich „Information
und Beratung“. Es gibt hier einen Bedarf. Das Thema ist
nach wie vor virulent. Wir müssen etwas tun. Wir dürfen
das Thema nicht von der Tagesordnung absetzen, dürfen
den Bericht der Enquete-Kommission nicht in die
Schublade legen. Wir müssen den Handlungsempfehlungen nachkommen.
({12})
Ich will auf einen Punkt eingehen, der mir besonders
wichtig erscheint. Wir haben einen boomenden Psychomarkt; das ist uns allen bekannt. Der Esoterikbereich macht 18 Milliarden DM Umsatz im Jahr. Persönlichkeitstrainings schießen wie Pilze aus dem Boden.
Wir haben hier schon ein Problem: Es gibt seriöse Anbieter, aber es gibt auch sehr viele unseriöse Anbieter,
die mit unterschiedlichsten Verfahren, mit einer Mischung aus therapeutischen Anleitungen und laientherapeutischen Ansätzen auf die Leute zugehen. Diese Mischung macht es für die Verbraucher kaum noch sichtbar: Wer steht dahinter? Wer bietet mir diese Leistung
an? Ist er qualifiziert? Was für Kosten und was für ein
Nutzen entstehen?
Es gab 1997 einen Bundesratsentwurf für ein Gesetz
zur gewerblichen Lebensbewältigungshilfe.
({13})
- Das mag sein. Ich will das nicht abstreiten. Umso
schlimmer ist es, mit was für einem Antrag wir uns heute beschäftigen müssen. Ich kann es nur noch einmal sagen. Aus der Kiste kommen Sie nicht mehr heraus, Frau
Rennebach; er liegt vor.
({14})
Dieses Gesetz sollte ein Verbraucherschutzgesetz
sein. Es sollte dazu führen, dass den Personen, die sich
in Konfliktsituationen befinden und schnell irgendwo
Hilfe finden wollen, Rahmenbedingungen an die Hand
gegeben werden, um abschätzen zu können, was seriös
und was unseriös ist. Es sollten rechtliche Regelungen
für einen schnelleren Ausstieg geschaffen werden. Ich
gebe zu, der Gesetzentwurf muss in einzelnen Punkten
rechtlich vielleicht noch weiterentwickelt werden. Aber
es war ein Verbraucherschutzgesetz im besten Sinne gegen Scharlatane auf dem Psychomarkt.
({15})
- Frau Rennebach, Sie wissen doch, dass wir den Gesetzentwurf nicht abgelehnt haben,
({16})
sondern dass er überprüft worden ist. Er müsste jetzt in
den Bundestag neu eingebracht werden.
Damit möchte ich - um es auf den Punkt zu bringen sagen: Es ist ein Verbraucherschutzgesetz vorgelegt
worden, das Transparenz bringen und das gerade ein
Vorgehen gegen unseriöse Anbieter in diesem Bereich
ermöglichen sollte. Diesen Schritt sollten wir weiterverfolgen. Wir müssen dem Verbraucher in dieser Richtung
etwas an die Hand geben.
Wir haben am Montag dieser Woche im Rahmen der
Hanns-Seidel-Stiftung in München ein Expertengespräch durchgeführt, anlässlich dessen wir uns mit dem
Thema beschäftigt haben, was glaubhafte Lebensbewältigungshilfe ist. Da kamen zum Beispiel Vorschläge dahin gehend, dass von Sachverständigen aus dem Pädagogik- und Psychologiebereich Positivkriterien entwickelt werden sollen, die Eingang in ethische Leitlinien
finden sollen, und dass Anbieter von gewerblichen Lebensbewältigungshilfen an eine öffentlich kontrollierbare Organisation, wie beispielsweise die jetzt vermehrt
entstehenden Psychotherapeutenkammern, gebunden
werden sollen, damit sich der Verbraucher beschweren
kann bzw. eine entsprechende Anlaufstelle hat. All das
müssen wir weiterverfolgen. Deswegen bitte ich Sie,
dieses Thema wieder ernsthaft auf die Agenda zu setzen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang die SPDKollegin Schröter aus der Debatte vom 19. Juni 1998 zitieren:
Meine dringende Bitte und Aufforderung an den
nächsten Bundestag ist es, die Gesetzesinitiative
unmittelbar wieder aufzugreifen und das Gesetz zur
gewerblichen Lebensbewältigungshilfe schnellstmöglich zu verabschieden.
Ich gehe davon aus, dass Sie auch heute zu diesem
Wort stehen und einen entsprechenden Gesetzentwurf
noch einbringen werden.
Die Grünen haben natürlich in dem vorliegenden Bericht der Enquete-Kommission - im Wege eines Sondervotums - eine ganz andere Meinung vertreten. Das
wundert mich angesichts der weltanschaulichen Gesinnung der Grünen nicht besonders. Ich denke, Sie werden
heute noch darauf eingehen.
Ich bitte Sie noch einmal, im Sinne der Opfergruppen
und der Betroffenen sowie im Sinne der Mitglieder der
Enquete-Kommission - Sie kennen die entsprechenden
Schreiben an den Präsidenten des Bundestags und an die
Fraktionsvorsitzenden, in denen danach gefragt wird,
was jetzt passiert - diesen Bericht weiterzubearbeiten.
Es wäre ein Schlag ins Gesicht, wenn wir dies nicht tun
würden. Wir könnten uns weitere Einsetzungen von Enquete-Kommissionen sparen - wir haben kürzlich neue
eingesetzt -, wenn wir aus den Ergebnissen früherer Enquete-Kommissionen keine Schlüsse ziehen.
({17})
Das sind wir dem Bürger bzw. dem Steuerzahler schuldig. Denn die Erstellung dieses Berichtes der EnqueteKommission hat 1,6 Millionen DM verschlungen. Aus
diesen Berichten müssen wir Konsequenzen ziehen. Ich
bitte Sie: Lassen Sie uns dieses Thema weiterhin sachlich und auch parteiübergreifend behandeln.
Herzlichen Dank.
({18})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hans Peter Bartels, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr
geehrte Damen und Herren! Lieber Kollege Holetschek,
mit Ihrem Antrag weisen Sie auf ein Politikdefizit hin,
das es tatsächlich gibt. Aber dieses Defizit gibt es nicht
erst ab dem Zeitpunkt, seitdem die neue Bundesregierung im Amt ist. Dieses Defizit besteht vielmehr, weil in
den Jahren vor Amtsantritt der jetzigen Bundesregierung, in den zwar nicht 16, aber zehn Jahren, seitdem
über dieses Thema diskutiert wird, der größte Bremser
auf diesem Gebiet der Sektenpolitik nicht die sozialdemokratische Fraktion, sondern die christlich-liberale
Bundesregierung gewesen ist.
({0})
Ich habe damals als Sektenbeauftragter der schleswig-holsteinischen Landesregierung meine Erfahrungen
mit dieser Politik des hinhaltenden Desinteresses gemacht. Die Länder hätten sich zum Beispiel eine offensive, aktive Aufklärungs- und Informationspolitik seitens des Bundes gewünscht. Kapazitäten - auch fachlich
hervorragend qualifizierte - sind dafür im Bundesverwaltungsamt vorhanden. Der Bund hat daraus wenig, zu
wenig gemacht. Deshalb ist es richtig, darüber nachzudenken, wie man das ändern kann. Das tun wir.
Nebenbei bemerkt: Die Bestellung eines Bundesbeauftragten für Sekten - Besoldungsgruppe B 6 - durch
die damalige Ministerin Nolte war wirklich ein schlechter Witz. Vielleicht ist es noch nicht einmal jedem bekannt geworden, dass es eine solche Institution für einige Monate gab. Jetzt gibt es sie nicht mehr. Öffentlich
ist dieser Bundesbeauftragte meines Wissens niemals in
Erscheinung getreten.
Desinteresse der alten Regierung bestand auch bei
folgendem Thema - Sie haben es angesprochen, wenn
auch mit einem anderen Zungenschlag -: Alle Länder
hatten sich 1997 auf den Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Verbraucherschutzes auf dem Markt der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe geeinigt. Er wurde einstimmig im Bundesrat beschlossen, und zwar von
Schleswig-Holstein und Hamburg bis Sachsen und Bayern. Die alte Bundesregierung aber war skeptisch. Dies
ist in der Stellungnahme der Bundesregierung zu diesem
Gesetzentwurf nachzulesen. Im Bundestag, wo Sie, wo
damals CDU/CSU und F.D.P., die Mehrheit hatten, zog
sich die Sache so lange hin, bis die Legislaturperiode
abgelaufen und der Gesetzentwurf der Diskontinuität
anheim gefallen war.
({1})
Jetzt machen Sie dicke Backen und fordern genau dieses
Gesetz. Herzlichen Glückwunsch!
({2})
In der Sache aber sind wir, so glaube ich, nicht so
weit auseinander. Das haben sowohl die diversen Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz zum Thema
Scientology-Organisation gezeigt als auch der Abschlussbericht der Enquete-Kommission.
Wir müssen und werden jetzt überlegen, welche
Handlungsempfehlungen wir wie umsetzen können. So
steht es in unserem Antrag. Die kabarettreife Verlesung
dieses Antrags sei Ihnen gestattet; aber natürlich werden
wir gemeinsam darüber beraten und vermutlich auch in
dem übereinstimmen, was wir dann tun werden. Im Übrigen glaube ich nicht, dass all das, was Sie in Ihrem Antrag geschrieben haben, in Ihrer eigenen Fraktion mehrheitsfähig wäre.
({3})
- Diskutieren Sie dann einmal mit Ihren Rechtspolitikern die Frage, ob sich juristische Personen - nicht natürliche, sondern juristische Personen; so steht es bei Ihnen - strafbar machen können sollen. So etwas schreibt
sich leicht in solche Anträge hinein. Es wäre vielleicht
im Zusammenhang mit ganz anderen Fragestellungen
ein interessantes Thema; mein Thema ist es aber nicht.
Ich möchte Ihnen sagen, welche meine Prioritäten
sind, wenn wir an die Umsetzung herangehen:
Erstens. Mir ist die Stärkung der Information und
Aufklärung wichtig. Dabei könnte das Sektenreferat im
Bundesverwaltungsamt eine wichtige Rolle übernehmen. Aufklärung, gemeinsam von Bund, Ländern und
freien Trägern geleistet, ist das A und O in einer freien
pluralistischen Gesellschaft.
Zweitens brauchen wir endlich das Verbraucherschutzgesetz für den Sekten-, Esoterik- und grauen Psychomarkt.
Lassen Sie mich einige Bemerkungen zum Gegenstandsbereich unserer Diskussion machen. Sie haben es
richtigerweise auf den Bereich Esoterik erweitert, in
dem es auch Phänome gibt, die wir regeln müssen. Zunächst möchte ich aber auf den Sektenbegriff eingehen.
Was sind eigentlich Sekten? Auf dem Endbericht der
Enquete-Kommission findet man das Wort gar nicht
mehr. Keine Gruppe nennt sich selbst so; die Gruppen
nennen sich Zentrum, Bewegung, Kirche, Bund, Orden,
Verein - was immer sie wollen. „Sekte“ ist ein Begriff,
der von außen an bestimmte Gruppen herangetragen
wird. Besser gesagt, es werden zwei Sektenbegriffe
verwendet, die in der Vergangenheit auch für Verwirrung gesorgt haben. Vielleicht kann ich ein bisschen zur
Klarheit beitragen.
Der eine, der klassische Sektenbegriff ist der theologische. Er bezeichnet eine Abspaltung von der christlichen Kirche, eine häretische Gemeinschaft, die auf eigenen Offenbarungs- und Wahrheitsquellen beruht, also
neben der Bibel und der christlichen Überlieferung ein
eigenes Buch - beispielsweise das Buch Mormon - oder
einen eigenen Propheten hat. Solche Gruppen sind zum
Beispiel die Quäker, die in unserem Sinne überhaupt
nicht problematisch sind; einer von ihnen ist der Friedensnobelpreisträger von 1949. Darum geht es uns nicht,
wenn wir von Sekten sprechen.
Wir verwenden den neueren kulturellen, umgangssprachlichen Sektenbegriff, unter dem im Übrigen jeder
das versteht, was auch wir darunter verstehen. Das ist
aber nicht die christliche, kirchliche Definition. Dieser
kulturelle Sektenbegriff bezieht sich auf die konfrontative Stellung der Gruppe im Verhältnis zur Gesellschaft.
Aus dieser Perspektive sind Merkmale einer Sekte die
Tatsachen, dass die Gruppe sich von ihrer Umgebung
abkapselt, dass die Mitglieder der Gruppe von ihrem sozialen Umfeld isoliert werden und dass das Heilsversprechen der Gruppe mit einem Absolutheitsanspruch
verbunden wird. Nicht das Heilsversprechen ist das
Problem - das beinhalten jeder Glaube und auch manche
Ideologie -, sondern der Absolutheitsanspruch. Elitebewusstsein, Machtanspruch, Gruppendruck, Bewusstseinskontrolle, Verschwörungsdenken, Verfolgungswahn, Psychoterror gegen Abtrünnige und Kritiker sind
weitere Merkmale einer Sekte, wie wir sie verstehen.
Das hat nicht mit Religion und Weltanschauung zu tun,
sondern damit, wie eine Gruppe von Menschen sich gegenüber ihren Mitgliedern und gegenüber anderen verhält.
Man sollte also nicht versuchen, im Sinne von
Sprachpolitik einen neuen Sektenbegriff zu etablieren.
Das bringt wenig. Wenn also auf dem Abschlussbericht
der Enquete-Kommission „Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen“ steht, dann
ist das, mit Verlaub, Tüdelkram.
({4})
Die Motive, sich in solchen Gruppen zu organisieren - ich meine jetzt die Motive, die die Menschen
selbst haben und die die Gruppen offiziell nennen -,
sind auch nicht allein religiös. Es ist ein Bündel von Motiven, in dem einzelne klar abgegrenzte Motive vorzufinden sind. Es gibt therapeutische Motive. Das hat mit
Religion nichts zu tun. Ich denke etwa an den BrunoGröning-Freundeskreis, eine Heilungsbewegung, an
VPM oder an Metharia, eine UFO-Sekte, die heilt. Dann
gibt es politische Motive; hier sind die EAP und die
Scientology-Organisation zu nennen. Letztere ist aus
meiner Sicht eine politisch und nicht religiös motivierte
Organisation. Sie ist auch nicht wirtschaftlich motiviert;
das Geld dient der Machtausweitung. Es gibt aber auch
wirtschaftliche und religiöse Gründe.
Ein Beispiel dafür mag die Maharishi-Bewegung
des Gurus Maharishi Mahesh Yogi sein, die alle
vier Bereiche abdeckt: die Maharishi-Ayurveda-Gesundheitszentren für den Bereich Therapie, die Naturgesetz-Partei für den Bereich Politik, die Samhita GmbH
und die TM-Center fürs Ökonomische und der Guru
Maharishi selbst für das Religiöse. Es ist also ein Bündel
von Motiven. Die Religion kann eines sein. Unser Sektenbegriff bezieht sich nicht auf das Religiöse.
Nicht von allen Sekten gehen konkret Gefahren aus.
In Deutschland können von etwa 40 bis 50 Gruppen Gefahren ausgehen, von denen Länder und Bund wissen
und vor denen Sie warnen oder warnen können.
Was für Gefahren können von diesen Gruppen ausgehen? Es müssen Gefahren für Grundrechtsgüter
sein, wenn der Staat das Recht haben soll zu warnen.
Diese Grundrechtsgüter sind Leben und Gesundheit,
physisch und psysisch, das Eigentum, Ehe und Familie,
um einige zu nennen. Wenn diese gefährdet sind, dann
darf und dann muss der Staat handeln im Sinne von
warnen, also nicht in dem Sinne, die Gefahr durch Verbot auszuschließen, sondern im Sinne von warnen.
Wenn es um Straftaten geht, muss er mit all dem einschreiten, was ihm zur Verfügung steht.
Es geht also nicht darum, ob eine Ideologie seltsam
ist oder ob eine Religion sonderbar ist, sondern es geht
darum, den Einzelnen stark zu machen gegen radikal
vereinnahmende Kollektive. Es geht also - das ist die
Hauptaufgabe des Staates in diesem Bereich - um Aufklärung und Verbraucherschutz. Lassen Sie uns daran
gemeinsam arbeiten!
Schönen Dank.
({5})
Ich erteile der Kollegin Birgit Homburger, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zur Diskussion
der vorliegenden Anträge komme, möchte ich noch ein
paar grundsätzliche Bemerkungen machen zu den Ergebnissen der Enquete-Kommission, weil ich es für
wichtig halte, nochmals festzuhalten, dass wir strikt unterscheiden müssen zwischen neuen religiösen und weltanschaulichen Gruppierungen und dem Psycho- und
Esoterikmarkt. Das ist hier schon gesagt worden, aber
das wurde in der Arbeit - nicht von uns, sondern von
außerhalb - oft in einen Topf geschmissen und hat das
eine oder andere auch schwierig gemacht. Insofern, denke ich, sollte man das noch einmal festhalten.
In einer zunehmend säkularisierten Welt ist es auch
so, dass die Vielzahl dieser Gruppierungen und die immer größer werdende Vielfalt dieser religiösen und
weltanschaulichen Gemeinschaften schwer überschaubar
ist. Trotzdem hat die Enquete-Kommission festgestellt,
zu Recht, wie ich finde, dass sie keine grundsätzliche
Gefahr für Staat und Gesellschaft in Deutschland sind.
Vielmehr muss unsere Gesellschaft daran arbeiten und das ist für uns eines der wesentlichen Ergebnisse -,
sich mit dieser religiösen Vielfalt zu arrangieren, Toleranz und gegenseitigen Respekt im Zusammenleben zu
lernen und zu praktizieren. So ist die EnqueteKommission auch zu dem Ergebnis gekommen, dass die
vorhandenen gesetzlichen Vorschriften in aller Regel
ausreichend sind, um vorkommende Konflikte im sozialen Nahbereich zu regeln.
Deswegen will ich noch einmal festhalten, dass wir
Liberalen uns letztlich auch durchgesetzt haben mit der
Haltung, dass unsere Verfassung bezüglich der Art. 4
und 140 des Grundgesetzes, die die Religionsfreiheit
gewährleisten, aber auch die Stellung der Kirchen in unserem Staat beschreiben, weder ergänzt noch geändert
werden sollen. Das halte ich für eine wichtige Feststellung.
({0})
An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen,
all den Kolleginnen und Kollegen, die in der letzten Legislaturperiode als Mitglieder in dieser EnqueteKommission gearbeitet haben, ganz herzlich zu danken.
Ganz besonders danken möchte ich im Namen meiner
Fraktion auch noch einmal dem Kollegen Roland
Kohn, der für uns mitgearbeitet hat und leider nicht
mehr dem Deutschen Bundestag angehört,
({1})
weshalb ich heute für unsere Fraktion zu diesem Thema
spreche.
Die Unterscheidung, von der ich gerade gesprochen
habe, hat auch deswegen Bedeutung - das ist die zweite
grundsätzliche Bemerkung, die ich machen will, weil sie
mir persönlich auch wichtig ist -, weil es meines Erachtens Organisationen gibt, die Religionsfreiheit für sich in
Anspruch nehmen, diese aber nicht für sich in Anspruch
nehmen können.
Dazu gehört aus meiner Sicht auch die ScientologyOrganisation, bei der es sich nicht um eine religiöse
Vereinigung handelt. Im Gegenteil, es gibt in diesem
Fall Hinweise auf politisch bestimmte ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen, die mit der freiheitlichdemokratischen Grundordnung in keiner Weise vereinbar sind. Deshalb ist aus unserer Sicht eine Beobachtung
durch den Verfassungsschutz weiterhin gerechtfertigt
und erforderlich.
Aber nun zu den vorliegenden Anträgen. Da möchte
ich anfangen mit dem Antrag der Koalition, den ich vor
dem Hintergrund der Aktivitäten der SPD in der letzten
Legislaturperiode mit großer Verwunderung zur Kenntnis genommen habe. Der Kollege von der CDU/CSU hat
das gerade ähnlich ausgedrückt.
Solange Sie, meine Damen und Herren von der SPD,
noch in der Opposition waren, haben Sie Aktivitäten angemahnt und vehement Maßnahmen gefordert. Das ging
so weit, dass Sie ein Sondervotum abgegeben haben, in
dem Sie die Prüfung einer Änderung des Grundgesetzes
im Hinblick auf den Status von Religionsgemeinschaften vorgeschlagen haben. Seit Sie nun an der Regierung
sind, hört und sieht man von alledem nichts mehr. Vor
diesem Hintergrund nimmt sich Ihr gerade einmal zwei
nichts sagende Absätze umfassender Antrag doch ausgesprochen mickrig aus.
({2})
Sie haben die Umsetzung der gesetzgeberischen
Empfehlung der Enquete-Kommission schlichtweg verschlafen. Ihr Antrag, der die Feststellung enthält, dass
aufgeworfene Fragen weiter zu beraten und gesetzgeberische Empfehlungen des Berichtes sowie andere Maßnahmen zu prüfen seien, klingt diesbezüglich ziemlich
unwillig und ratlos.
Zu Ihrem Vorwurf, wir hätten in der letzen Legislaturperiode den Bundesratsentwurf nicht mehr auf die
Tagesordnung gesetzt und er sei damit der Diskontinuität anheim gefallen, sage ich Ihnen Folgendes: Ich habe
mich kundig gemacht und in der Geschäftsordnung
nachgelesen. In einer bestimmten Frist nach Drucklegung eines Entwurfes gibt es ein Aufsetzungsrecht. Sie
hätten also die Beratung im Plenum durchsetzen können,
wenn Sie gewollt hätten.
({3})
Ich sage noch einmal: Nicht die alte Regierung oder
die alte Koalition haben gebremst. Der Endbericht der
Enquete-Kommission wurde nämlich erst am Ende der
Legislaturperiode, im Juni 1998, beraten. Erst danach
konnten die Empfehlungen umgesetzt und die gesetzgeberischen Maßnahmen eingeleitet werden. Sie sind seit
anderthalb Jahren dafür zuständig. Dies müssen Sie sich
anhören, auch wenn es Ihnen nicht passt.
({4})
Ich möchte noch abschließend die Bemerkung machen, dass wir vonseiten der F.D.P. zwei Punkte für wesentlich halten. Der erste wesentliche Punkt ist die Einrichtung einer Stiftung, die unabhängig und staatsfern
organisiert werden soll und deren Zweck die Information und die Beratung über die Organisationen auf dem
Psycho- und Esoterikmarkt sein soll. Der zweite wesentliche Punkt ist das Gesetz über Verträge auf dem
Gebiet der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe, das
nicht regulieren soll, sondern das Rahmenbedingungen
zur Transparenz auf dem Markt im Sinne des Verbraucherschutzes setzen soll.
Ich möchte in diesem Zusammenhang einen Vorschlag machen. Die Enquete-Kommission hat die Bundesregierung aufgefordert, nach zwei Jahren einen ersten
Bericht vorzulegen. Wir erwarten diesen Bericht im
Sommer, weil wir davon ausgehen, dass sich die Regierung an die Aufforderung der Enquete-Kommission hält.
Wir schlagen deshalb vor, direkt nach der Sommerpause
fraktionsübergreifend - ich kann nämlich nicht erkennen, wo wir inhaltlich noch weit auseinander liegen,
nachdem wir in der Enquete-Kommission darüber gesprochen haben - Initiativen auf der Basis des Berichtes
der Bundesregierung zu ergreifen.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir diskutieren heute ein Thema, das in der
letzten Legislaturperiode zu ziemlichen Auseinandersetzungen nicht nur in der Enquete-Kommission, sondern
auch in der Öffentlichkeit geführt hat. Dennoch haben
wir gemeinsam gute Arbeit geleistet und einen seriösen
Abschlussbericht vorgelegt.
Der Bundestag - dieser Punkt ist schon von anderen
Kollegen erwähnt worden - reagierte mit der Einsetzung
dieser Enquete-Kommission auf sehr viele Petitionen,
die beim Petitionsausschuss eingereicht wurden. Außerdem gab es insbesondere in der Medienöffentlichkeit eine eskalierende Auseinandersetzung um die Scientology-Organisation. Unsicherheit und Unwissenheit haben
das Klima geprägt. Umso wichtiger war es dann, in dieser Situation etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen.
Insgesamt hat aber der Abschlussbericht der EnqueteKommission nicht nur Informationen geliefert, sondern
auch dazu beigetragen - so sage ich aus meiner Erfahrung in den Monaten danach -, dass die Auseinandersetzung in rationalere Bahnen gelenkt werden konnte. Insbesondere den Punkt, der sich mit dem Sektenbegriff
beschäftigt, halte ich im Großen und Ganzen nicht für
„Tüdelkram“. Die Vereinbarung von unserer Seite, in
der öffentlichen Debatte den Sektenbegriff nicht mehr
zu benutzen, halte ich für einen guten Beschluss. Diese
Auffassung habe ich auf vielen Veranstaltungen in der
Zeit nach dem Abschlussbericht vertreten, in der ich von
Kirchengemeinden eingeladen worden bin, und dafür
auch viel Verständnis gefunden.
Wir haben festgestellt, dass es in einzelnen Fällen in
den von uns untersuchten Gruppen zu psychischen und
teilweise auch zu physischen Verletzungen von Menschen kommt. Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass diese Menschen kompetente Hilfe erhalten, und zwar nicht
nur von der Familie und von Freunden, sondern auch
von fachlich gut ausgestatteten staatlichen Beratungsstellen, für die wir uns eingesetzt haben. Insbesondere
haben wir uns für die Stärkung der Ausbildung derer,
die in diesen Beratungsstellen mitarbeiten, eingesetzt.
Der Staat hat auch die Pflicht, über problematische
Gruppen oder dort ausgeübte Praktiken aufzuklären. Allerdings muss strikt weltanschauliche Neutralität gewahrt werden. Der säkulare Rechtsstaat darf sich nicht
offensiv in den Weltanschauungskampf einmischen.
Das Ergebnis der Tätigkeit der Enquete-Kommission
hat aber auch eindeutig gezeigt, dass es die immer wieder behauptete Gefährdung von Staat, Wirtschaft und
Gesellschaft durch die so genannten Sekten und Psychogruppen nicht gibt. Das ist eines der zentralen Ergebnisse, das ich hier wiederholen möchte, weil ich glaube,
dass diese Ergebnisse der Untersuchung in der Öffentlichkeit immer noch nicht wahrgenommen wurden, die
uns dazu geführt haben, das so zu definieren.
Deshalb haben wir uns als Grüne innerhalb der Enquete-Kommission immer gegen das Tätigwerden des
Verfassungsschutzes ausgesprochen, auch gegen die
Scientology-Organisation. Bei Scientology handelt es
sich allerdings um einen Sonderfall. Deren Auseinandersetzung mit dem deutschen Staat und einzelnen Repräsentantinnen und Repräsentanten hat eine Form erreicht,
vor allem auch im internationalen Maßstab, die nicht
mehr zu tolerieren war. Die propagandistische Aussage
der Scientology-Organisation, sie werde in Deutschland
verfolgt wie die Juden im NS-Staat, war unübertroffen
perfide und stellte eine unerträgliche Verharmlosung der
Verfolgung der Juden im NS-Deutschland und des Völkermordes dar.
({0})
Deswegen ist eine öffentliche politische Auseinandersetzung auch mit dieser Organisation unbedingt notwendig.
Was den Verfassungsschutz angeht, möchte ich noch
einmal darauf hinweisen, dass der letzte nordrheinwestfälische Verfassungsschutzbericht ganz deutlich
gemacht hat, dass eine Beobachtung dennoch nicht angemessen ist. Wir müssen andere Formen der Auseinandersetzung finden.
({1})
Wir haben uns in unserem Minderheitenvotum gegen
eine Vielzahl von Handlungsempfehlungen ausgesprochen, hauptsächlich aus drei Gründen:
Erstens sahen wir die Masse an gesetzgeberischen
und gesetzesverschärfenden Empfehlungen vom Ergebnis der Untersuchung der Enquete-Kommission nicht
gedeckt. Man kann nicht einerseits feststellen, dass keine allgemeinen Gefahren bestehen, und andererseits
massive Gesetzesverschärfungen propagieren.
Zweitens. Wir haben verfassungsrechtliche Probleme
gesehen, etwa bei der geplanten Finanzierung von privaten Beratungsstellen oder bei der Anwendung des Vereinsrechts auf religiöse Minderheiten. Es darf keine
Sondergesetze gegen religiöse Minderheiten geben,
wenn gleichzeitig, wofür ja vieles spricht, die traditionellen Kirchen nach wie vor die grundgesetzlich garantierte Sonderstellung behalten sollen. Hier muss Gleichbehandlung herrschen.
({2})
Drittens konnten wir uns bei der Ablehnung verschiedener Vorschläge, beispielsweise der staatlichen Finanzierung privater Beratungsstellen oder des Entwurfs eines Lebensbewältigungshilfegesetzes, sogar auf die Stellungnahmen seitens der betroffenen Ministerien stützen.
So hat das Justizministerium bei der Bundesratsinitiative
zum Lebensbewältigungshilfegesetz eindeutig dafür
plädiert, diesen Entwurf nicht zu verabschieden.
In diesem Zusammenhang finde ich es besonders
seltsam, dass ausgerechnet die damals regierende Union
in ihrem Antrag lapidar die zügige Umsetzung der Regelung zur gewerblichen Lebensbewältigungshilfe fordert.
Im Gegenteil, es ist dringend geboten, die von der
Enquete-Kommission vorgeschlagenen Handlungsempfehlungen noch einmal sorgfältig zu prüfen, bevor man
endgültig gesetzgeberische Schritte einleitet. Es ist
wichtig, zu überprüfen, ob durch Gesetze auch tatsächlich diejenigen erreicht werden, die erreicht werden sollen. Und es ist wichtig, zu überprüfen, ob durch Regelungen nicht gegen die verfassungsmäßige Neutralitätspflicht des Staates verstoßen wird. Klar ist: Wenn
in so genannten Sekten und Psychogruppen Gesetze gebrochen werden - wie wir es auch definiert haben -,
müssen die Täter bestraft werden, genauso wie bei Verstößen in anderen Zusammenhängen.
Auf der anderen Seite haben wir aber als Politikerinnen und Politiker auch die Aufgabe, dafür zu sorgen,
dass die Anhänger oder Mitglieder kleiner Religionsgemeinschaften das gleiche Recht haben, ihren Glauben
auszuüben, wie die Anhänger der Großkirchen. Wir
müssen uns dafür einsetzen, dass gesellschaftliche Ausgrenzungen, welcher Art auch immer, auf welcher Ebene auch immer, unterbleiben.
({3})
Noch eine abschließende Bemerkung - sie geht an die
F.D.P. -: Unerträglich finde ich in diesem Zusammenhang den berüchtigten Plakatentwurf der nordrheinwestfälischen F.D.P. Nicht nur, dass ich es bisher für
unvorstellbar hielt, dass eine demokratische Partei heute
noch mit dem Bild von Adolf Hitler wirbt. Das ist gerade auch wegen steigender Akzeptanz rechtsgewirkter
Denk- und Verhaltensmuster unfassbar.
Man muss nur einmal nach Österreich schauen, was dort
unter Umständen verborgen ist. Die Gleichstellung von
Hitler und Bhagwan auf einem Plakat, wodurch eine
Verbindung zwischen ihnen hergestellt wird, ist nicht
nur eine Verharmlosung des Massenmörders Hitler, es
ist auch eine Beleidigung aller Anhänger des alternativen Glaubens der Osho-Bewegung. An die Adresse von
Herrn Möllemann: Ich hoffe, dass die Vernunft der
Wählerinnen und Wähler dieser aus reiner Profilierungssucht geborenen Ungeheuerlichkeit keinen Erfolg bescheinigt.
Wir sind gerade angesichts dessen, was wir gehört
und worüber wir uns auseinander gesetzt haben, dazu
aufgerufen, dazu beizutragen, dass in unserer Gesellschaft die Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen Geschlechts und unterschiedlichen Glaubens nicht nur friedlich nebeneinander leben können,
sondern dass sie auch gegenseitigen Respekt füreinander
aufbringen.
Natürlich müssen wir uns für alle einsetzen, die Opfer
psychischer und physischer Gewalt geworden sind. Wir
müssen uns außerdem dafür einsetzen - das ist mir das
Allerwichtigste -, dass insbesondere die wissenschaftliche Forschung in diesem Bereich, die akademische Lehre und die schulische Bildung ausgebaut werden. Dazu
bedarf es keiner besonderen gesetzlichen Initiativen,
sondern der Bereitstellung zusätzlicher Mittel. In diesem
Sinne plädiere ich in dieser Frage weiterhin für eine rationale und nüchterne Debatte.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat jetzt
die Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Als ehemaliges Mitglied der EnqueteKommission weiß ich, wie viele Menschen die Arbeit
dort verfolgt haben. Insbesondere die Opfer dieser
Gruppen, ihre Angehörigen und Freunde haben zu Recht
erwartet, dass nun etwas geschieht, um ihnen zu helfen.
Es ist ärgerlich, dass seit eineinhalb Jahren keine
Konsequenzen gezogen wurden. Das ist eine berechtigte
Kritik. Das einzige, was die Bundesregierung bisher angekündigt hat, ist ein Modellversuch, der am 1. Juli beginnen soll; darauf komme ich später noch zu sprechen.
Dass sonst nichts geschehen ist, kann meines Erachtens
nicht am fehlenden Geld liegen; denn es war genug Geld
da, um diverse Verfassungsschutzämter mit der Beobachtung von Scientology zu beauftragen. Wir waren meine Kollegin hat das eben schon erklärt - und werden
auch weiter dagegen sein, zumal bis heute keine konkreteren Erkenntnisse zur Verfassungsfeindlichkeit auf dem
Tisch liegen.
Viele Betroffene haben sich in den vergangenen Monaten an Abgeordnete des Bundestages gewandt und haben meiner Meinung nach so die Debatte heute erzwungen. Die PDS hat daraufhin eine Kleine Anfrage eingebracht und - sie wurde schon erwähnt - die Bundesregierung gefragt, wie die Forderungen der EnqueteKommission umgesetzt werden. Die Antwort der Bundesregierung und der Antrag der CDU/CSU-Fraktion
sind in folgendem Punkt deckungsgleich: Beide wollen - darüber muss man hier diskutieren - den privaten
Initiativen offenbar nicht helfen und ihnen nicht ihre
Unterstützung geben.
Die Bundesregierung hat im letzten Oktober weiter
geantwortet, sie berate noch über gesetzgeberische Initiativen. Nun hat die Enquete-Kommission in der Tat ein
großes Paket vorgeschlagen, das geprüft werden muss.
Aber der vorliegende Antrag der Regierungsparteien ist
mehr als dürftig; er ist heute mehrfach kritisiert worden.
Sollen wir in dieser Legislaturperiode im Ernst weiterhin
nur prüfen? Das kann doch nicht das Ergebnis der langjährigen Arbeit einer Enquete-Kommission sein. So
können Sie mit den Betroffenen nicht umgehen. Sie haben in der letzten Legislaturperiode mit dieser EnqueteKommission zu Recht Hoffnungen und Erwartungen
geweckt. Was hier vorgelegt wird, geht aber nicht weit
genug.
Ich will es ganz deutlich sagen: Es geht mir nicht um
schärfere Strafgesetze gegen die so genannten Psychogruppen und Sekten. Auch wenn viele dieser Gruppen
antidemokratische, rassistische, antisemitische Tendenzen aufweisen, ist ein weiterer Ausbau des Überwachungsstaates nicht die richtige Antwort. Solchen Tendenzen muss durch konsequente Aufklärungsarbeit entDr. Angelika Köster-Loßack
gegengewirkt werden. Worauf es mir ankommt, ist vor
allem eine finanzielle Besserstellung und eine gesetzliche Förderung der Opfer dieser Gruppen und insbesondere ihrer Selbsthilfeorganisationen, über die wir hier
heute diskutieren. Ich hoffe, dass wir in den Beratungen
der Ausschüsse einige Schritte weiterkommen.
Die Bundesregierung hat uns, wie ich bereits erwähnte, gesagt, dass sie einen Modellversuch plant - ich zitiere zur Qualifizierung von Fachpersonal zum Themenbereich so genannter Sekten und Psychogruppen in
den etablierten Beratungsinstitutionen.
Das Projekt ist im Prinzip in Ordnung, aber es darf sich
nicht nur an die „etablierten Beratungsinstitutionen“ allein richten. Ich möchte daran erinnern, dass auch Vertreter der großen Kirchen immer wieder gefordert haben,
dass private Initiativen unterstützt werden müssen.
Ich halte das für einen Ansatz, der nicht umfangreich
genug ist. Nach dem Verfassungsschutz zu rufen und für
die Opfer nichts zu tun, ihre privaten Initiativen, die sich
nicht den beiden großen Kirchen unterordnen, sogar
weiterhin an den Rand zu drängen bzw. dort allein zu
lassen, kann nicht richtig sein. Auch in dieser Frage darf
am Ende nicht mehr Staatskontrolle stehen. Auch hier
geht es um die Förderung von Bürgerrechten und Bürgerinitiativen.
Danke.
({0})
Jetzt hat die Kollegin Renate Rennebach, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde im
Gegensatz zu meinem Ruf und entgegen dem, was wir
in den zwei Jahren Enquete-Kommission gestritten haben, eine sehr ruhige Rede halten. Denn das Thema sollte im Sinne der Opfer und Betroffenen geführt werden
und nicht durch Streit gekrönt sein. Ich sage Ihnen ehrlich: Ich bin froh, dass wir heute - zwar erst nach einem
Jahr, aber immerhin - über dieses Thema reden.
Wir diskutieren heute - ich muss sagen: endlich -
über die Fortführung der Ergebnisse der EnqueteKommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“
aus der vergangenen Wahlperiode. Genau genommen ist
dies lediglich die logische Konsequenz, denn der Abschlussbericht der Enquete-Kommission weist eine Reihe von Empfehlungen an den 14. Deutschen Bundestag
auf, die weiterführende parlamentarische Beratungen erfordern. Die Fortführung der Beratungen zum Endbericht wäre eigentlich nicht mehr als ein formaler Akt,
hätten wir es nicht mit einer Materie zu tun, die in den
letzten Jahren vielfältige Emotionen ausgelöst hat - auch
in der Enquete-Kommission. Ich bin allerdings überzeugt, dass wir heute den nötigen Abstand besitzen - ich
hoffe es jedenfalls -, um die Ergebnisse der EnqueteKommission mit der gebotenen Sachlichkeit zu beraten.
Umso mehr ist es für mich ein großer Schritt, dass wir
nun mit den Beratungen beginnen.
Bevor ich näher auf den Antrag der CDU/CSUFraktion eingehe, möchte ich mich an dieser Stelle zunächst einmal bei den Sachverständigen der EnqueteKommission für ihre Kompetenz und ihr Engagement,
mit dem sie die Enquete-Kommission getragen haben, in
aller Form bedanken. Ich möchte Ihnen vor allem danken, weil Sie geduldig, entschieden und ganz ohne
Zweifel zu Recht die Fortsetzung der politischen Debatte eingefordert haben. Es ist schließlich auch eine
Frage, wie wir mit den Ergebnissen und der geleisteten
Arbeit umgehen. Meines Erachtens - ich denke, Sie
werden sich dieser Auffassung anschließen können finden die Ergebnisse der Enquete-Kommission ihre
notwendige Anerkennung erst, wenn wir die Handlungsempfehlungen aufgreifen und uns in den Gremien mit
den inhaltlichen Fragestellungen auseinander setzen.
Diese parlamentarische Arbeit soll mit dem heutigen
Tag beginnen. Ich bin darüber froh, denn es ist längst
überfällig.
Ich möchte mich ebenso bei den vielen engagierten
Bürgerinnen und Bürgern, bei Betroffenen und Hilfesuchenden, die mir in den vergangenen Monaten geschrieben haben, bedanken.
Die zahlreichen Anfragen, auch an den Petitionsausschuss, machen mir eines sehr deutlich: Das gesamte
Problemfeld der neuen religiösen und ideologischen
Gemeinschaften ist ein politisches Thema und muss
Eingang in die parlamentarischen Beratungen finden.
Wir tragen damit auch der gesellschaftlichen Bedeutung
der Thematik Rechnung. Ich erinnere an die drängende
Frage von vielen Bürgerinnen und Bürgern: Was macht
eigentlich die Politik, um uns vor so genannten Sekten
und Psychogruppen zu schützen? Die Antwort auf diese
Frage lieferte die Enquete-Kommission. Wir haben zwei
Jahre intensiv gearbeitet und verfügen mit dem Endbericht über eine hervorragende Handlungsgrundlage für
die parlamentarische Entscheidungsfindung.
Angesichts der vorliegenden Sondervoten im Abschlussbericht möchte ich jedoch, ohne den bevorstehenden Beratungen vorgreifen zu wollen, an alle Fraktionen appellieren: Führen wir die Diskussion vorbehaltlos und ohne jedes Tabu. - Nun dürfen Sie klatschen.
({0})
- Sie von der anderen Seite auch!
({1})
- Ich hätte mich schon gefreut, wenn mir die Opposition
darin zugestimmt hätte, dass wir das vorbehaltlos und
ohne jedes Tabu machen. Denn nur dann gelangen wir
zu einer vorurteilsfreien Bewertung der Ergebnisse und
letztlich zu Entscheidungen, die der vielschichtigen Problematik gerecht werden.
Uns liegt ein Antrag der Union vor, die Handlungsempfehlungen zügig umzusetzen. Gestatten Sie mir dazu
eine kurze Anmerkung. Ich denke, wir sind uns einig,
dass Handlungsbedarf besteht. Ihre Forderung an die
Bundesregierung, umgehend Gesetzentwürfe vorzulegen, erscheint mir allerdings irreführend. Wenn Sie
schon Forderungen aufstellen, sollten Sie genauer hinsehen. Die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission beziehen sich im Wesentlichen auf neu zu
schaffende Rechtsvorschriften und Erweiterungen des
bestehenden Rechts. Sie richten sich damit ausdrücklich
an den Gesetzgeber und nicht nur an die Bundesregierung.
Um auf unseren Antrag zu kommen: Im Gegensatz zu
Ihnen, die Sie an Überschriften von Programmen gehangen haben, die mit dem Inhalt des Programms überhaupt
nicht übereinstimmen, sind uns die Überschriften erst
einmal egal. Wir wollen für Inhalte kämpfen und für Inhalte eintreten.
Unser Antrag, der Antrag der Koalition, sieht vor,
den Endbericht mit den darin enthaltenen Fragestellungen parlamentarisch zu beraten und gesetzgeberische
Initiativen zu prüfen. Das ist die Aufgabe des 14. Deutschen Bundestags und dieser Aufgabe sollten wir nachkommen. Selbst wenn die Bundesregierung eigene Initiativen prüft - wie Sie wissen, tut sie das -, sollten wir
die Diskussion des Endberichts im Bundestag zielgerichtet vertiefen. Angesichts der zahlreichen offenen
Fragen halte ich eine breite Debatte für unbedingt erforderlich. Ich kann daher die Opposition nur ermuntern,
unserem Antrag zuzustimmen und den Endbericht an die
Ausschüsse zu überweisen.
Lassen Sie mich noch etwas zu den Handlungsempfehlungen sagen. Ich möchte sie nicht der Reihe nach
aufführen, sondern vielmehr auf einen zentralen Aspekt
eingehen, den eigentlich alle Rednerinnen und Redner
bisher erwähnt haben. Besonders am Herzen liegt mir
und uns der Verbraucherschutz am Psychomarkt.
Vielleicht kennen Sie schon meinen bildhaften Spruch,
aber plausibler lässt es sich kaum erklären: Sie können
in Deutschland keinen Liter Milch kaufen, ohne dass
draufsteht, was drin ist. Aber es gibt Seminare, die die
Psyche des Menschen elementar verändern, ohne dass
die Anbieter sagen müssen, welche Ausbildung sie haben, welche Methoden sie anwenden, welches Ziel ein
Seminar hat und wie viele Seminare ich brauche, um das
Ziel erreichen zu können. Auch die Fragen der tatsächlichen Kosten, des Rücktrittsrechts oder der Regressmöglichkeiten sind ungeklärt.
Sie wissen, ich rede von der gesetzlichen Regelung
der gewerblichen - „gewerblich“ ist das wichtige Wort
in diesem Zusammenhang - Lebensbewältigungshilfe.
Hier besteht nach Auffassung der SPD-Fraktion Regelungsbedarf, und zwar nicht, weil wir staatliche Kontrolle brauchen, sondern damit der boomende Psychomarkt
- hier geht es wie in jedem anderen Gewerbe um finanzielle Interessen - endlich transparenter wird.
({2})
- Danke, Herr Geschäftsführer. - Der Verbraucherschutz muss auch auf dem Psychomarkt gelten.
Ich erwarte spannende Verhandlungen, die wir behutsam führen sollten. Ich bin voller Zuversicht, dass wir in
strittigen Fragen zu tragfähigen Kompromissen kommen
werden. Denn das ist schließlich die Aufgabe von Politik. Es ist die Aufgabe des Parlaments.
Ein Satz zum Schluss an alle Fraktionen. Niemand in
diesem Hause will jemandem etwas verbieten, was für
ihn gut ist. Wer sich quälen lassen möchte, kann dies
nach unserem Willen und der politischen Gestaltung
weiterhin tun. Aber ich möchte die Menschen schützen,
die Hilfe erwarten und nur Kram bekommen. Kram gibt
es bei diesem Thema eine Menge.
Vielen Dank.
({3})
Nun hat der Kollege
Ronald Pofalla, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will als ehemaliger
Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der Enquete-Kommission, die über zwei Jahre lang getagt hat,
meinen Eindruck ganz offen vortragen, den ich angesichts des Antrages der rot-grünen Koalition habe. Es ist
eine intellektuelle Zumutung,
({0})
dem Deutschen Bundestag einen solchen Antrag vorzulegen, nachdem Wissenschaftler und Kolleginnen und
Kollegen zwei Jahre lang einen Text ausgearbeitet haben, der auf hohem wissenschaftlichen Niveau ist. Ihn
auf diese Weise zu reduzieren macht deutlich, dass Sie
in der rot-grünen Koalition absolut handlungsunfähig
sind, die richtigen Konsequenzen aus diesem Bericht zu
ziehen.
({1})
- Jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Kollege Geschäftsführer.
Die Ziffern 1 und 2 des Antrages von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen werden dem Deutschen Bundestag ernsthaft vorgelegt als Antrag dieser beiden Fraktionen.
({2})
- Ich wiederhole es nur, weil es unglaubhaft ist, hier
nach Überparteilichkeit und Sachlichkeit zu rufen, aber
einen solchen Antrag überhaupt vorzulegen.
Ich lese Ziffer 1 vor:
Der 13. Deutsche Bundestag hat am 9. Mai 1996
die Einsetzung der Enquete-Kommission „Sog.
Sekten und Psychogruppen“ beschlossen.
Das ist ein unglaublicher Beitrag der Koalitionsfraktionen zur Debatte über dieses Thema.
Satz zwei lautet:
In der 242. Sitzung des 13. Deutschen Bundestages
vom 19. Juni 1998 wurde der Abschlussbericht
vorgelegt und beraten.
({3})
Wenn das der Erkenntnisgehalt der beiden Koalitionsfraktionen ist, dann wundere ich mich über überhaupt
nichts mehr.
({4})
Um es deutlich zu sagen: Es gibt zwei Kernbereiche,
die in dieser Enquete-Kommission, von Sondervoten der
Grünen einmal abgesehen, völlig unstrittig waren. Es
war zwischen CDU/CSU, F.D.P., SPD und in diesem
Fall, wenn ich mich richtig erinnere, auch der PDS völlig unstrittig, dass wir eine Regelung zur gewerblichen
Lebensbewältigungshilfe benötigen. Es war aber auch
unstrittig, dass der damals von Hamburg vorgelegte Gesetzentwurf nicht ausreichend war, weil er im Hinblick
auf den Gesetzeszweck und das Gesetzesziel zu unbestimmt war und dadurch Berufsgruppen in die Kontrolle
einbezogen würden, die nicht einbezogen werden sollten.
Wenn Sie jetzt Handlungsbedarf sehen, dann fordern
Sie doch Ihre Bundesregierung auf, einen überarbeiteten
Gesetzentwurf vorzulegen.
({5})
Sie werden es deshalb nicht hinbekommen, weil die
Grünen - damit bin ich bei einem Ihrer Probleme - sogar bezweifeln - Frau Dr. Köster-Loßack hat es gerade
deutlich dargestellt -, dass es die Notwendigkeit gibt,
hier gesetzgeberisch zu handeln. Das Problem liegt ausschließlich in der Koalition.
({6})
Ich will Ihnen einen zweiten Punkt nennen: Trotz der
rechtlichen Probleme, die wir analysiert haben und die
wir gesehen haben, haben wir die Einrichtung einer
Bundesstiftung für richtig gehalten. Das rechtliche
Problem, vor dem man bei der Errichtung einer Bundesstiftung steht, liegt auf der einen Seite darin, den Betroffenen, den Hilfsorganisationen ein quasi stiftungsrechtliches Hilfsangebot geben zu wollen, auf der anderen
Seite darin, dass man damit in gewisse Kollisionen mit
dem staatlichen Neutralitätsgebot kommt.
Wir haben uns stundenlang über mehrere Sitzungen
hinweg über die Frage unterhalten, wie wir dieses Problem lösen können. Wenn Sie einen Blick in den Abschlussbericht werfen, dann sehen Sie, dass wir ganz
konkrete Gesetzesänderungen empfohlen haben, die uns
aus diesem Zielkonflikt herausbringen. Dieser Zielkonflikt kann juristisch gelöst werden. Aber die Bundesregierung hat in den letzten 16 Monaten nichts getan, um
auch nur einen einzigen Gesetzentwurf vorzulegen, der
die Möglichkeit eröffnet, eine solche Bundesstiftung zu
schaffen.
Frau Rennebach, wenn Sie sich schon nicht mit den
Grünen einigen können, dann wäre ich Ihnen dankbar ich biete da ausdrücklich unsere Unterstützung an -,
wenn Sie wenigstens einen Antrag der SPDBundestagsfraktion einbringen würden. Ich sichere Ihnen zu, dass die CDU/CSU diesen Antrag, wenn er auf
den Empfehlungen der Enquete-Kommission basiert,
unterstützen wird.
({7})
Dann könnten wir erreichen, dass wir eine Bundesstiftung einsetzen können, die im Ergebnis dazu führt, dass
die Selbsthilfeorganisationen und die Betroffenenorganisationen endlich die Möglichkeit erhalten, inhaltlich
und finanziell unterstützt zu werden.
({8})
Ich will meine Ausführungen mit dem Hinweis
schließen, dass wir Ihren Antrag den Betroffeneninitiativen und den Selbsthilfeorganisationen zusenden werden,
damit sie sich ein qualifiziertes Bild davon machen können, wie Sie die Ergebnisse dieser Kommission verstanden haben. Ich bleibe dabei: Ihr Antrag ist eine intellektuelle Zumutung.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die
Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2361 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 14/2568 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ulrich Heinrich, Jürgen Koppelin, Marita Sehn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
F.D.P.
Reform der landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger
- Drucksachen 14/1557, 14/1759 Es liegen zwei Entschließungsanträge vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei
die F.D.P. sieben Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Jürgen Koppelin.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P.-Fraktion fordert
schon seit vielen Jahren eine Neuordnung der landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Die bestehende Aufteilung auf drei Spitzenverbände und je 20 Träger für Unfallversicherung, Altersversicherung und Kranken- und
Pflegeversicherung muss reformiert werden. Darüber sind wir uns, glaube ich, alle einig.
In diesem Punkt ist dem Bundesrechnungshof, der einen Bericht vorgelegt hat, uneingeschränkt zuzustimmen. Verwaltungs- und Verfahrenskosten von weit über
600 Millionen DM im Jahr erfordern nicht nur in Zeiten
leerer Kassen sparsame und effiziente Verwaltungen.
Außerdem müssen wir wegen des anhaltenden Strukturwandels in der Landwirtschaft, der zu immer mehr
Leistungsempfängern und immer weniger Beitragszahlern führt, die Verwaltungsstrukturen in der Sozialversicherung zwingend erneuern. Allerdings - das will ich
deutlich machen - lehnt die F.D.P. eine zentralistische
Bundesversicherungsanstalt für Landwirtschaft strikt
ab.
({0})
Wir wollen keinen Zentralismus. Regionale Besonderheiten müssen, so meinen wir, auch zukünftig Berücksichtigung finden.
Die Koalitionsfraktionen SPD und Grüne favorisieren
eine Bundesversicherungsanstalt, die zentralistisch ist.
Dazu haben sie einen entsprechenden Entschließungsantrag vorgelegt. Dieser Vorschlag der Regierungsfraktionen wird nicht einmal vom zuständigen Landwirtschaftsminister - soweit ich das richtig mitbekommen
habe - unterstützt. Karl-Heinz Funke, den ich hier heute
leider vermisse
({1})
- mal wieder -, hat gesagt: Mit mir ist das nicht zu machen.
Kollegin Homburger, vielleicht reist er gerade durch
das Land und erklärt, wie schädlich die Ökosteuer für
die Landwirte sei und dass er sich dafür einsetzt, dass sie
abgeschafft wird.
({2})
Das kennen wir ja, und hier redet er ganz anders.
Wir begrüßen, dass Herr Funke sagt: Mit mir ist das
nicht zu machen. Schauen wir aber einmal, was Herr
Funke will.
({3})
In der Stellungnahme zu unserer Großen Anfrage hätte
er sich allerdings klarer äußern müssen, Herr Staatssekretär. Denn das, was darin steht, ist nur Lyrik und
nichts anderes. Er bringt nichts Konkretes.
Ich will Ihnen nur einige Aspekte nennen, die gegen
das zentralistische SPD- und Grünen-Modell sprechen.
Eine Bundesanstalt bedarf bei ihrer Einrichtung hoher
Anfangsinvestitionen. Das vom Bundesrechnungshof
auf jährlich 100 Millionen DM bezifferte Einsparpotenzial wurde bisher noch nicht einmal durch betriebswirtschaftliche Untersuchungen belegt.
({4})
Eine Bundesanstalt ist versichertenfern und kann regionale Besonderheiten - darauf werde ich gleich noch
zu sprechen kommen - nicht berücksichtigen. Ein bundeseinheitlicher Beitragsmaßstab bei der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft und den landwirtschaftlichen Krankenkassen wird den unterschiedlichen landwirtschaftlichen Betriebsstrukturen in keiner Weise gerecht und belastet im Übrigen die zukunftsträchtigen Betriebe überproportional.
Demgegenüber favorisieren alle LSV-Träger und ihre
Verbände sowie die Bundesländer, der Deutsche Bauernverband, die Gewerkschaften und wohl auch - wenn
ich das noch einmal erwähnen darf - der Bundeslandwirtschaftsminister ein regionales Modell mit sieben bis
neun Trägern. Die ins Feld geführten Vorteile bei diesem Modell sind: Durch die bereits vorhandenen Standorte fallen keine Anfangsinvestitionen an. Regionale
Träger sichern ein hohes Maß an Versichertennähe und
können Besonderheiten in den Regionen berücksichtigen. Für mich als Schleswig-Holsteiner ist das ein ganz
entscheidender Punkt. Es kann doch wohl nicht sein,
dass Betriebe mit einer ausgeprägten Vollerwerbsstruktur, wie sie gerade in Schleswig-Holstein existieren, durch einen Zusammenschluss mit ungleichen Partnern unnötig belastet werden.
({5})
Fusionen, die derartige Beitragsverwerfungen zwangsläufig nach sich ziehen würden
({6})
- dazu sage ich gleich noch etwas -, sind nun wirklich
nicht der geeignete Weg in Richtung einer wettbewerbsfähigen Landwirtschaft.
Herr Kollege Schmidt, Sie haben gerade einen Zuruf
gemacht. Über Niedersachsen können wir uns gesondert
unterhalten. Dort gibt es bereits Bestrebungen, dies nicht
zentral zu machen, sondern verschiedene Einrichtungen
dafür zu schaffen, was ich übrigens sehr begrüße. Das
sage ich gerade als Haushälter; denn wir haben immer
einen entsprechenden Druck ausgeübt.
Vorrangiges Ziel muss aus Sicht der F.D.P. eine weitere stärkere Reduzierung von Gebietskörperschaften
sein, sodass jedes vorgelegte Modell nach diesem Kriterium zu hinterfragen und abschließend zu beurteilen ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
den Grünen - ich spreche vor allem die Kollegen aus
Norddeutschland an -, auf der Vorderseite Ihres Antrags
steht im unteren Teil:
... dass die Träger der landwirtschaftlichen Sozialversicherung aus eigener Kraft nicht imstande sind,
die ... Mängel der derzeitigen Strukturen zu beheben.
Dies kann man so nicht stehen lassen. Gehen Sie doch
einmal in meine Heimat, nach Kiel oder nach Hamburg
und machen Sie sich einmal kundig! Dort können die
Sozialversicherungsträger aus eigener Kraft ihren Aufgaben nachkommen. In den süddeutschen Regionen ist
das ein Problem; aber darüber werden wir noch gesondert reden müssen. Es zeugt also entweder von Ignoranz
oder Unwissenheit, wenn Sie solche Aussagen in Ihr Papier aufnehmen. Ich fordere Sie auf, Ihr Augenmerk auf
die eigenständigen LSV-Träger, wie es sie zum Beispiel
in Hamburg oder Schleswig-Holstein gibt, zu legen.
Hier sind längst die notwendigen Reformen und Anpassungen vorgenommen worden.
Als Affront gerade gegen Schleswig-Holstein und
Hamburg muss ich es werten, wenn Sie in Ihrem Antrag
auch noch von der Ineffizienz dieser Sozialversicherungsträger sprechen.
({7})
Die haben ihre Hausaufgaben gemacht; das muss man
anerkennen. Wenn aber alle Sozialversicherungsträger,
die süddeutschen und die norddeutschen, zusammengelegt würden, könnte es zu einer Ungleichheit kommen.
Die norddeutschen Landwirte müssten dann wahrscheinlich höhere Beiträge zahlen. Ich denke, es ist wichtig,
dass wir die regionalen Belange berücksichtigen. Insofern ist es nicht in Ordnung, wenn Sie eine zentrale Stelle fordern.
({8})
Es sei noch einmal gesagt, dass es zweifellos eine
Änderung der Struktur bei den landwirtschaftlichen
Sozialversicherungsträgern geben muss, die neben der
Kostenreduzierung und Effizienzsteigerung auch eine
Stärkung des Bundeseinflusses beinhalten muss. Darin
sind wir uns einig; denn wenn der Bund rund
7,8 Milliarden zahlt - dies hat das Ministerium noch
einmal in seiner Antwort angeführt -, muss er natürlich
auch mehr Einflussmöglichkeiten haben. Das streiten
wir nicht ab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und
den Grünen, abschließend appelliere ich an Ihre Vernunft: Nutzen Sie die heutige Debatte, um aus Ihrer Isolation herauszukommen!
({9})
Nicht nur wir und der Landwirtschaftsminister sind der
Auffassung - -
({10})
- Entschuldigen Sie, wir sind doch in bester Gesellschaft
mit dem Kollegen Funke. Es ist aber ähnlich wie bei der
Ökosteuer; das habe ich erwähnt: Wenn wir hier über
die Belastung für die Landwirte durch die Ökosteuer
diskutieren, sitzt der Herr Landwirtschaftsminister ganz
still da oder formuliert einige nette Sätze und scherzt das kommt auch gut an -, aber draußen im Lande zieht
er von Bauernverband zu Bauernverband und sagt: Ich
setze mich dafür ein, dass die Ökosteuer abgeschafft
wird oder dass es zumindest Verbesserungen gibt.
({11})
Ich könnte auch noch etwas zu der Diesel-Geschichte
sagen. Das Problem des Kollegen Funke ist doch, dass
er bei all dem, was von der Koalition kommt, ganz still
ist, aber dies draußen im Lande kritisiert und meint, damit Stimmen für die Koalition gewinnen zu können. Das
hat Methode.
Meine Bitte ist: Versuchen Sie, aus Ihrer Isolation herauszukommen! Wenden Sie sich von Ihrem zentralistischen Modell einer Bundesanstalt ab und schlagen Sie
den Weg der Vernunft ein! Dann wären wir alle ein
Stück weiter und den Landwirten wäre geholfen.
Ich bedanke mich.
({12})
Jetzt hat der Herr
Parlamentarische Staatssekretär, Dr. Gerald Thalheim,
das Wort.
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten: Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Frau Präsidentin! Mit der Großen Anfrage problematisiert die F.D.P. auf der einen Seite die Auswirkungen des Steuerentlastungsgesetzes, des Sanierungskonzepts. Aber auf der anderen Seite werden die Strukturen des Systems der landwirtschaftlichen Sozialversicherung zum Gegenstand der Nachfrage gemacht. Zugegeben: Beides hat mit Geld zu tun. Wenn man aber zu
sachgerechten Entscheidungen kommen will, muss man
beide Bereiche getrennt betrachten.
Herr Kollege Koppelin, ich stimme mit Ihnen überein, dass die Strukturreform der landwirtschaftlichen
Sozialversicherung längst überfällig ist. Das ist keine
neue Erkenntnis. Insofern macht die F.D.P. mit der Großen Anfrage die eigenen Versäumnisse der Vergangenheit zum Gegenstand der Nachfrage.
({0})
Richtig ist, Herr Kollege Koppelin, dass ein Missverhältnis zwischen den Einflussmöglichkeiten des Bundes
und der Tatsache, dass der Bund Geld zur Verfügung
stellt, besteht. Richtig ist auch, dass wir nach wie vor einen enormen Strukturwandel haben und dass Verwaltungsvereinfachungen natürlich möglich sind.
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Koppelin?
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten: Aber gerne.
Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, da
Sie von unseren angeblichen Versäumnissen sprechen,
frage ich Sie: Haben Sie die letzten Haushaltsberatungen
der alten Koalition in Erinnerung, als sowohl der Kollege Freiherr von Hammerstein als auch ich gesagt haben, dass es auf diesem Gebiet Veränderungen geben
muss, und auch, dass wir die Initiative über den Haushaltsausschuss ergriffen haben? Der Bericht des Rechnungshofes kommt ja nicht aus heiterem Himmel, sondern kommt aufgrund unserer Initiativen. Das ist ja die
Grundlage dafür, dass wir überhaupt über dieses Thema
debattieren. Ich denke, Sie waren auch mit im Boot. Wir
alle, die wir hier im Hause sind, haben das bei Haushaltsberatungen immer gesagt. Das Beispiel war Niedersachsen - dazu kam vorhin ein Zuruf -, weil es da zu
viele dieser Versicherungsträger gab und die Kosten zu
hoch waren. Wir haben das Problem also angepackt.
Oder würden Sie bestreiten, dass wir es - gerade in der
letzten Legislaturperiode - gemeinsam diskutiert haben?
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten: Herr Kollege Koppelin, es ist richtig, dass wir
das Ganze diskutiert haben. Aber nach den eineinhalb
Jahren, die die neue Regierung im Amt ist, messen Sie
uns ganz bewusst an dem, was wir erreicht haben, und
nicht an dem, was wir fordern. Insofern ist es folgerichtig, auch Sie daran, was Sie in den Jahren Ihrer Regierungsbeteiligung erreicht haben, zu messen, nicht aber
daran, was Sie in den letzten Jahren im Haushaltsausschuss gefordert haben.
Es waren am Ende gerade die Landesregierungen, an
denen die F.D.P. in der jeweiligen Koalition beteiligt
war, die hier Strukturreformen verhindert haben. Herr
Kollege Koppelin, das ist einfach die Beschreibung der
Wahrheit.
Nun möchte Herr
Kollege Koppelin noch eine Frage stellen.
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten: Aber gerne.
Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, wie
schwer das Geschäft ist, das wir betreiben, nämlich Politik zu machen, etwas umzusetzen, sieht man doch auch
an Ihrer Antwort, wenn Sie sagen, Sie würden hoffen,
dass in dieser Legislaturperiode eine Reform stattfinden
kann.
Das heißt, selbst Sie haben sehr viel Zeit bis zum Ende der Legislaturperiode, aber Sie sprechen in Ihrer
Antwort nur davon, dass Sie hoffen, das durchzubekommen. Uns werfen Sie vor, dass wir das in eineinhalb
Jahren nicht gepackt haben. Sie haben ja immer noch
über zwei Jahre Zeit und sprechen trotzdem davon zu
hoffen.
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten: Herr Kollege Koppelin, wenn ich von Hoffnung
spreche, dann aus dem einfachen Grunde, dass der Bund
hier nicht allein entscheiden kann
({0})
und wir an diesem Punkt auf die Mitwirkung der Länder
angewiesen sind.
Ich wiederhole meine Antwort von vorhin, dass in der
Vergangenheit diejenigen Länder, in denen die F.D.P. an
der Regierung beteiligt war, sich nicht gerade als Vorreiter geriert haben.
({1})
Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir den Redner fortfahren lassen. Ich lasse keine Zwischenfragen mehr zu. Herr
Staatssekretär hat das Wort.
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten: Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser
Stelle auf den Kern kommen, ob wir die Frage nach der
Existenz einer eigenständigen landwirtschaftlichen Versicherung mit der Frage nach den Strukturen verbinden
können. Die Antwort hierauf ist ein klares Nein. Die
Bundesregierung bekennt sich nach wie vor zu einer eigenständigen landwirtschaftlichen Sozialversicherung.
Es ist aber auch richtig: Das System ist nicht allein
von einer immer geringeren Zahl von in der Landwirtschaft Tätigen zu finanzieren. Trotz der Rückführung
der Bundeszuschüsse bleibt die finanzielle Unterstützung des Bundes erheblich. Dazu gibt es keine Alternative.
({0})
Es sind immerhin noch 7,3 Milliarden DM, die in diesem Jahr dafür zur Verfügung gestellt werden. Eine Abschaffung des Sondersystems kommt also nicht in Betracht. Wir sind nach wie vor auf die Solidarität der
Steuerzahler an dieser Stelle angewiesen.
Dieses eigenständige System der landwirtschaftlichen Sozialversicherung ist kein Privileg für die Landwirtschaft. Der Strukturwandel - Herr Koppelin, an diesem Punkt stimmen wir sicher überein - wird auch in
anderen Bereichen der Wirtschaft flankiert, am Ende
durch öffentliche Gelder, konkret durch Steuerzahlungen.
Allerdings: Angesichts der Haushaltssituation des
Bundes und der überfälligen Strukturreform muss man
schon die Frage stellen, wie die Strukturen in der Zukunft aussehen können. Hier gibt es den entscheidenden
Dissens. Wir sind nach wie vor der Meinung, dass wir
an einem zentralen System festhalten sollten, solange
wir nicht davon überzeugt sind, dass andere Strukturen,
zum Beispiel ein System mit mehreren Trägern, wie Sie
es vorgeschlagen haben, besser sind. Im Dialog mit den
Ländern soll um die beste Lösung gerungen werden.
Selbstverständlich wissen wir, dass wir das im Konsens
erreichen müssen. Aber wie gesagt: Nach wie vor steht
die Frage im Mittelpunkt, auf welche Lösung wir uns
am besten einigen können. Ich möchte deshalb von dieser Stelle aus den Appell an die Länder richten, konstruktiv mit dem Bund zusammenzuarbeiten, damit wir
die Strukturen effizienter machen können. Effizientere
Strukturen in diesem Bereich sind auch ein entscheidender Beitrag, um das System zukunftsfest zu machen.
({1})
Ich denke, über diesen Punkt besteht wieder Einigkeit.
Uns allen fällt die Aufgabe zu, auf die Landesregierungen einzuwirken, um entsprechende Lösungen zu erzielen.
Der Bundesregierung wird im Einvernehmen mit den
Koalitionsfraktionen die Aufgabe zufallen, die öffentlichen Gelder - ich formuliere es einmal so - auf den
Kernbereich der landwirtschaftlichen Betriebe zu konzentrieren. Wenn das gelänge, dann wäre das ein wichtiger Beitrag, um dieses System - ich möchte das Wort
noch einmal gebrauchen - zukunftsfest zu machen.
Vielen Dank.
({2})
Nun hat das Wort
der Kollege Siegfried Hornung, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Antwort
der Bundesregierung auf die Große Anfrage ist - wenn
man es genau betrachtet - vage und enthält zentralistische Töne. In Wirklichkeit bezieht sich die Antwort
mehr auf einen Nebenschauplatz. Mit ihr soll von den
tatsächlichen Problemen abgelenkt werden.
Die Agrar- und Sozialpolitik der CDU/CSU war
und ist für die Landwirtschaft zuverlässig. Mit ihr bekennt sich die CDU/CSU nachdrücklich zu ihrer Verantwortung für die Menschen im ländlichen Raum. Die
Agrarsozialreform 1995 hat unseren Landwirten ein
Stück soziale Zukunft und unseren Bäuerinnen erstmals
eine eigenständige soziale Absicherung gegeben, um
damit einerseits den Strukturwandel zu meistern und andererseits die Einkommen in der Landwirtschaft zu stärken.
({0})
Die ehemalige Opposition hatte darüber hinaus sogar
die Fortführung des FELEG oder einer entsprechenden
Vorruhestandsregelung gefordert, was durchaus zu unterstützen war. Heute hört man davon nichts mehr, obwohl die EU entsprechende Ansätze bieten würde und
die Sozialpolitik der einzige Bereich ist, der nicht von
der EU reglementiert wird. Auch die Agrarsozialpolitik
ist neben den Maßnahmen zur Abfederung der Strukturveränderungen ein hervorragendes Instrument, um ein so die entsprechenden Landwirtschaftsgesetze - angemessenes Einkommen für die Landwirte gegenüber vergleichbaren Berufs- und Erwerbsgruppen zu erreichen.
Die rot-grüne Bundesregierung greift nun durch
Kürzungen massiv in die agrarsoziale Sicherheit ein.
Kleine und mittlere Betriebe werden durch die Kürzung
von Beitragszuschüssen und durch den Griff in die
Krankenkassen der Bauern überproportional belastet.
({1})
Auch die Bäuerinnenrente, die mit Ihrer Zustimmung
eingeführt worden ist, ist in Gefahr. Die rot-grüne Bundesregierung missbraucht die landwirtschaftlichen Sozialversicherungen zur Sanierung des von ihr verschuldeten Bundeshaushaltes.
({2})
Das ist wohl das traurigste Kapitel dieser rot-grünen Regierung. Rot-Grün hat sich von der Landwirtschaft abgesetzt. Die Landwirtschaft stellt für diese Regierung
einen Steinbruch dar, den man nach Bedarf ausplündern
darf.
({3})
Eine Politik für die deutsche Landwirtschaft findet
nicht mehr statt. Agenda 2000, Steuergesetze - teilweise
mit „öko“ verbrämt - und besonders die rot-grüne Agrarsozialpolitik belasten die Landwirtschaft bis zum Unerträglichen. Gehen Sie nach draußen! Dann spüren Sie
dies wie wir!
({4})
Die Regierung selbst nennt in ihrer Antwort die Steuerreform eine Nettobelastung für die Landwirtschaft. So
werden heute Bauern mit anderen Mitteln von ihren Höfen vertrieben.
({5})
Die Schröder-Regierung kürzt bereits im Jahr 2000
bei der Alterssicherung der Landwirte - ohne Widerspruch des Bundeslandwirtschaftsministers - um
292 Millionen DM. In den folgenden Jahren, bis zum
Jahr 2003, werden die Kürzungen auf 360 MillioParl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim
nen DM jährlich ansteigen. Das heißt, mindestens zwei
Drittel der heutigen Mittel werden gestrichen.
Die bereits vorhin vorgetragene Aussage, dass etwa
80 Prozent des Agrarhaushaltes der Agrarsozialpolitik
zuzuordnen sind, stimmt zwar; sie ist aber nicht der
Landwirtschaft anzulasten. Vielmehr handelt es sich um
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, da immer mehr
Bauern in andere Sozialsysteme einzahlen. Dafür dürfen
die Bauern nicht bestraft werden.
({6})
Im Gegenteil, trotz der im Haushalt genannten Mittel
sind die bäuerlichen Familien nach wie vor in der gesetzlichen Alterssicherung nur teilweise - bei der Unfallversicherung nur im unteren Bereich - abgesichert.
Das gilt auch - Sie wissen das - für die 1995 im Konsens eingeführte Bäuerinnenrente.
Das Wort „sozial“ muss nach diesen beschlossenen
Kürzungen den Koalitionskollegen, liebe Frau Deichmann, und der Bundesregierung geradezu im Hals stecken bleiben oder die Schamröte ins Gesicht treiben.
({7})
Für die Alterssicherung der Landwirte bedeutete das,
dass der Beitrag der Versicherten mit Höchstzuschuss
ursprünglich um 160 Prozent erhöht werden sollte.
Durch politischen Druck von verschiedenen Gruppen
und von uns wurde diese Erhöhung auf „nur“
110 Prozent festgelegt. Für ein Ehepaar bedeutet die
Beitragserhöhung eine Kostensteigerung von 1 728 DM.
90 000 Bauern und Bäuerinnen erhalten keinen Zuschuss mehr.
In der Unfallversicherung wird der bisherige Zuschuss zur Abmilderung der Rentenbeiträge der aktiven
landwirtschaftlichen Betriebe - schlimmerweise von uns
allen als „alte Last“ bezeichnet; manchmal sind wir so
schnodderig - um 115 Millionen DM gekürzt. Darüber
hinaus nimmt die Bundesregierung aus der landwirtschaftlichen Krankenkasse - sprich: von Beiträgen der
Bauern - ungeniert zusätzliche 250 Millionen DM.
({8})
Durch die strukturellen Veränderungen in der Landwirtschaft und durch die Verringerung der Zahl der Betriebe stellt sich selbstverständlich auch die Frage nach
der Struktur der landwirtschaftlichen Versicherungsträger. Diese Situation hat sich angesichts dieser soeben
genannten tief greifenden Einschnitte in die soziale Sicherung der Landwirtschaft erheblich verschärft. Jedoch
- das ist wohl nicht mehr im Bewusstsein aller - sind
bereits seit einigen Jahren innerhalb des bäuerlichen Berufsstandes und der Sozialversicherungsträger konkrete
Schritte diskutiert und eingeleitet worden.
Durch ein neutrales Gutachten haben die Bundesverbände schon vor dem Bericht des Bundesrechnungshofs
und vor dem Beschluss des Rechnungsprüfungsausschusses entsprechende Verträge über einheitliche künftige Entwicklungen und Anwendungen der Datenverarbeitung abgeschlossen. Auch die Anzahl der bisher 20
LSV-Träger soll - so die beschlossene Zielvorstellung auf sieben bis acht reduziert werden, wobei die eigenständige Versicherung des Gartenbaus erhalten bleiben
soll.
Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Verhandlungen zwischen den LSV-Trägern betreffs Fusionen.
Nach § 118 SGB VII ist dies in Hessen bereits vollzogen. In Bayern wurden entsprechende Verträge - die
Anzahl der LSV-Träger wurde von fünf auf zwei verringert - abgeschlossen. In Baden-Württemberg wurde das
Notwendige in dieser Woche von beiden Vorständen beschlossen, sodass zum 1. Januar 2001 eine einzige landesweite LSV besteht.
Eine Bundeszentrale ist somit überholt und hätte
nach den vorliegenden Gutachten keine bessere Effizienz. Im Gegenteil, eine große Zahl von SPD-regierten
Ländern stimmt einer Zentralisierung nicht zu, was auch
auf der Bund-Länder-Besprechung in dieser Woche, am
25. Januar, bestätigt wurde. Gegen eine Zentralisierung
hat sich auch der Bundeslandwirtschaftsminister ausgesprochen. In „Agra-Europe“ vom 4. Oktober sagte er ich zitiere -: „Mit mir ist das nicht zu machen.“ Ich kann
ihn nur unterstützen.
Zahlreiche Entschließungen und Argumente belegen,
dass mit dem eingeschlagenen Weg der Selbstverwaltung den veränderten Bedingungen in der Landwirtschaft am ehesten und besten entsprochen wird. Ich
verweise auf das Positionspapier der LSV-Träger.
Der verstärkte Einfluss des Bundes wird von den
Ländern durchaus gesehen, sodass Gesprächsbereitschaft besteht, über den § 80 ALG hinaus sachgerechte
Lösungen zu finden.
Besonderen Wert lege ich als Landwirt darauf, dass
es der vorgesehene Rahmenvertrag der LSV-Träger mit
Dritten auch künftig ermöglicht, dass bei den Landesbauernverbänden vor Ort eine praxisnahe und betroffenengerechte Beratung durch die Beratungsstellen
durchgeführt wird.
Recht herzlichen Dank.
({9})
Jetzt hat das Wort
die Kollegin Steffi Lemke, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Große Anfrage der F.D.P. greift die Situation
der landwirtschaftlichen Sozialversicherung auf. Ich
denke, wir alle hier im Hause wissen, dass das Verhältnis von Leistungsempfängern und Beitragszahlern insbesondere in der landwirtschaftlichen Alterssicherung
in den vergangenen Jahren immer ungünstiger geworden
ist und dass sich dieser Prozess noch fortsetzen wird.
Wenn man sich nur einmal die mittlere Prognose in dem
1997 erstmals vorgelegten Lagebericht über die Alterssicherung der Landwirte anschaut, dann stellt man fest,
dass selbst bei der mittleren Variante für den Zeitraum
von 1996 bis 2007 von einem Rückgang der Versicherten um 37 Prozent auszugehen ist. Das hat natürlich gravierende Auswirkungen auf die Finanzierungsstruktur
der landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Der Bund
sieht sich deshalb in der Pflicht, hierfür weiterhin sehr
hohe Zuschüsse zu leisten.
Wir bekennen uns ausdrücklich zur Eigenständigkeit
des agrarsozialen Sicherungssystems; dies wird in keiner
Weise in Frage gestellt. Klar ist auch, dass die Alterssicherung der Landwirte weiterhin vorrangig durch Bundeszuschüsse finanziert werden muss; denn dazu gibt es
keine Alternative.
Ich will auch nicht bestreiten, dass durch die 1995
vollzogene Agrarreform etliche Defizite in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung beseitigt worden sind.
Sowohl die Einführung der Defizitdeckung als auch die
gezieltere Verwendung der Bundesmittel für Landwirte
mit niedrigen und sehr niedrigen Einkommen haben zur
Stabilisierung der Systeme beigetragen. Die Schaffung
der eigenständigen Bäuerinnenrente und die Bindung
der Beitrags- und Leistungsentwicklung an die gesetzliche Rentenversicherung waren zwei wesentliche Verbesserungen in den sozialen Leistungen für Landwirte.
({0})
Aber ein damals bereits bekanntes Problem, nämlich
Mängel in der Organisationsstruktur, wurde nicht angegangen. Die Reform von 1995 war eine reine Sachreform. Erst mit dem Bericht des Bundesrechnungshofs
zur Neugestaltung der Organisationsstruktur in der
landwirtschaftlichen Sozialversicherung kam Leben in
die Debatte,
({1})
obwohl die Probleme schon länger bekannt waren.
Wenn die CDU/CSU meint, dass der Vorschlag des
Bundesrechnungshofs entsprechend der altbekannten
Zentralismuskritik der CDU/CSU zu kritisieren ist, dann
müsste sie das einmal mit dem Bundesrechnungshof
ausdiskutieren.
({2})
Meiner Ansicht nach sind dort sehr wohl diskussionswürdige Vorschläge unterbreitet worden. Wir wollen
eine Diskussion darüber führen. Ich denke, dass sich die
CDU/CSU der Diskussion in den Ausschussberatungen
nicht verweigern wird.
({3})
Bei jährlichen Verwaltungskosten in Höhe von 600
Millionen DM - diese Zahl sollten Sie sich noch einmal
auf der Zunge zergehen lassen - ist die Forderung nach
Ausschöpfung sämtlicher Einsparungspotenziale ja wohl
berechtigt.
Man kann unterschiedlicher Auffassung darüber sein,
ob tatsächlich Einsparungen in Höhe von - wie vom
Bundesrechnungshof prognostiziert - 100 Millionen DM
zu erbringen sind. Aber niemand in diesem Hause zieht
wohl ernsthaft in Zweifel, dass eine durchgreifende Organisationsreform unausweichlich ist.
({4})
Im Koalitionsvertrag haben Bündnis 90/Die Grünen
und SPD die Neugestaltung der Organisation der agrarsozialen Sicherung vereinbart. Zur Vorbereitung eines
entsprechenden Gesetzentwurfs werden momentan intensive Gespräche mit den Sozialversicherungsträgern
und den Gewerkschaften, aber auch mit den Bundesländern geführt. Basis dieser Beratungen sind verschiedene
Organisationsmodelle, die von den zuständigen Bundesressorts entwickelt wurden. Die Diskussion über das
dann tatsächlich in einem Gesetzentwurf darzulegende
Modell ist noch nicht abgeschlossen.
Es ist nach Ansicht meiner Fraktion nicht ausreichend, wenn, wie gelegentlich und heute wieder von der
CDU/CSU vorgeschlagen, nur einige der derzeitigen
Träger fusionieren, im Übrigen aber alles beim Alten
bleibt. Die Hauptziele einer Organisationsreform sind
nach Ansicht meiner Fraktion erstens die Stärkung des
Bundeseinflusses, zweitens die Verringerung der jeweils
20 Versicherungsträger, drittens das Schaffen der Voraussetzungen für eine sparsame Haushalts- und Wirtschaftsführung und viertens der Abbau ungerechtfertigter Unterschiede in der Rechtsanwendung. Dabei
muss aus unserer Sicht die Orientierung an den Interessen der Versicherten gewahrt und müssen auch die Interessen der Beschäftigten berücksichtigt werden. Deshalb
führen wir momentan sehr intensive Gespräche.
Was heute seitens der CDU/CSU vorgetragen wurde,
wird aus meiner Sicht absolut nicht ausreichend sein. Sie
sollten die Diskussion, die in den vergangenen Jahren
über eine solche Organisationsstrukturreform stattgefunden hat, eigentlich besser in Erinnerung haben. Endeffekt war bisher in der Regel, dass die Bemühungen im
Sande verlaufen sind und wir nach wie vor eine ineffiziente Struktur vorfinden. Sie können das kritisieren.
Aber die Vorschläge, die bisher auf dem Tisch liegen,
sind nach unserer Ansicht nicht ausreichend.
({5})
Wir drängen deshalb darauf, dass die Länder mit zur
Verantwortung gezogen werden, sich der Diskussion
nicht verweigern und bereit sind, mit uns über weitgehendere Vorschläge als die, die bisher seitens der Länder
gemacht worden sind, zu diskutieren. Der Bund steht
aufgrund des Prinzips der Defizitdeckung in der Verantwortung. Er trägt bereits heute mit 57 Prozent der
Gesamtkosten der agrarsozialen Sicherung den größten
Anteil an der Finanzierung dieser Systeme. Ich denke,
dass daraus die sehr wohl zu rechtfertigende Haltung
abzuleiten ist, dass der Bund nicht nur als Zahlmeister in
der Pflicht steht, sondern auch selber Verantwortung bei
der sparsamen Mittelverwendung übernehmen kann.
({6})
Die Reform der landwirtschaftlichen Sozialversicherung ist kein Selbstzweck. Wir wollen das eigenständige
System aufrechterhalten, weil nur so den Besonderheiten
in der Landwirtschaft Rechnung getragen werden kann.
Aber eine nur halbherzige Reform wird unweigerlich eine Gefährdung des eigenständigen Systems nach sich
ziehen.
({7})
Die für mich zentrale Frage lautet deshalb: Wie erreichen wir auch zukünftig eine größtmögliche soziale Absicherung für die Betroffenen bei geringstmöglichem
Aufwand an Bürokratie und kalkulierbarer Kostenentwicklung? Diese Frage wird für meine Fraktion die
Richtschnur für die weiteren Gespräche sein.
Was uns in dem Entschließungsantrag der PDS
vorgeschlagen wird, ist für mich im Hinblick auf die
Debatte wenig hilfreich. Angesichts dessen, dass Sie die
Bundesregierung auffordern, ihren Standpunkt zu korrigieren, was die Agenda 2000 sowie die Steuer- und
Haushaltspolitik anbetrifft, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass wir uns im Jahre 10 nach der deutschen
Einheit befinden und ich mich mit Aufforderungen wie
solchen, irgendwelche Standpunkte zu korrigieren, in
die Vergangenheit zurückversetzt fühle.
Ich möchte Sie außerdem fragen, ob Sie wissen, was
Ihre Partei momentan in Sachsen-Anhalt tut, wo mit Unterstützung der PDS massive Einschnitte in die Kinderbetreuung vorgenommen werden und wo seitens der
PDS ein Volksbegehren ignoriert worden ist. Ich denke,
dass die PDS aufhören sollte, sich zum Rächer der Enterbten aufzuspielen und sich vernünftigen Diskussionen
über die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme nicht
länger verweigern sollte.
({8})
Sie werden sich aus dieser Diskussion weder auf Bundes- noch auf Landesebene heraushalten können. Mit einem solchen Antrag, wie Sie ihn heute vorgelegt haben,
beteiligen Sie sich an dieser Diskussion in keiner Weise.
({9})
Jetzt hat das Wort
die Kollegin Kersten Naumann, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Um fast 500 Millionen DM hat die
Bundesregierung im Haushalt 2000 die Mittel für die
landwirtschaftliche Sozialpolitik gekürzt. Weitere Einschnitte sind geplant. Noch im Finanzplan 1999 ging die
Bundesregierung von einem wachsenden Finanzbedarf
zum Beispiel für die Alterssicherung der Landwirte aus,
wobei man für das Jahr 2002 von 4,7 Milliarden DM
ausgegangen ist. Im Finanzplan 2000 sieht die Bundesregierung jedoch einen Wert vor, der um 524 Millionen
DM darunter liegt. Bis zum Jahre 2002 will sie weitere
Kürzungen vornehmen. Ähnlich ist die Situation bei der
Krankenversicherung.
Minister Funke hat auf der Grünen Woche erneut davon gesprochen, dass Hofaufgaben in Höhe von jährlich 4 Prozent eine „ganz normale Sache“ seien. Nun
lässt sich ja darüber streiten, was eine ganz normale Sache ist. Für die Bundesregierung ist die „ganz normale
Sache“ jedenfalls nicht Anlass, eine soziale Absicherung
zu garantieren, sondern Objekt der Begierde des Sparfetischismus.
Dass die Kürzungen im Haushalt 2000 keine Ausnahme darstellen werden, ergibt sich zum Beispiel aus
der Antwort der Bundesregierung, in der sie die Konsolidierung des Bundeshaushaltes für unausweichlich erklärt.
({0})
Bei dieser Konsolidierung setzt sie jedoch nicht auf Festigung im Sinne des Wortes, sondern auf Kürzungen des
Gesamthaushaltes.
Mit den hochtrabend als „Zukunftsprogramm 2000“
bezeichneten Maßnahmen gehen die Einkommen der
landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetriebe selbst nach
Auskunft der Regierung um rund 6 Prozent zurück. Unter diesen Bedingungen ist die Feststellung in der Regierungsantwort „Eine dramatische Beschleunigung des
Strukturwandels erwartet die Bundesregierung nicht“
entweder Wunschdenken oder Ignoranz gegenüber der
Wirklichkeit.
Der Strukturwandel wird nicht nur an den Hofaufgaben deutlich. Er spiegelt sich auch in den sinkenden
Einkommen der Bauern und der zunehmenden Ungewissheit über ihre Zukunft wider. Wenn trotz der hohen
Arbeitslosigkeit 70 Prozent der Familienbetriebe keinen
Hofnachfolger haben, dann ist doch etwas faul im Staate
und auch in der Politik. Die neuesten Zahlen zeigen,
dass 53 Prozent der Betriebe ihr Eigenkapital aufzehren
und nur ein Drittel der Betriebe in ausreichendem Maße
Eigenkapital bilden kann.
Unsere Alternativen zur Korrektur dieser Politik haben wir unter anderem in unserem Entschließungsantrag
dargelegt. Ich möchte Ihnen jedoch abschließend an einem weiteren Beispiel die Konsequenzen der Sparpolitik
der Regierung demonstrieren; Kollege Hornung brachte
vorhin schon ein Beispiel.
In dieser Woche hat uns ein Bauer aus Niedersachsen seinen Beitragsbescheid von der landwirtschaftlichen Alterskasse zugeschickt. Im Ergebnis der Erhöhung des Regelsatzes und der Absenkung der Einkommensobergrenze für den Zuschuss erhöht sich der monatliche Beitrag für die Familie um 200 DM bzw. um
62,5 Prozent. Damit beträgt die zusätzliche Belastung
für diese Familie 2 400 DM im Jahr. Das sind für eine
bäuerliche Familie wahrlich keine Peanuts.
Die eine Seite der Medaille ist also, die soziale Abfederung des Agrarstrukturwandels zu garantieren. Die
zweite Seite gilt der Umstrukturierung der landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger. Sie muss auf die
weitestgehende Erhaltung der Arbeitsplätze sowie auf
die bestehenden Arbeits- und insbesondere Tarifbedingungen für die Beschäftigten gerichtet sein. Bei einem
unvermeidlichen Abbau von Arbeitsplätzen sind durch
Sozialpläne die Interessen der Ausscheidenden zu berücksichtigen. Die soziale Grundsicherung ist für die
PDS dabei Mindestmaßstab. Außerdem sind die Initiativen der Gewerkschaften und Betriebsräte zur aktiven
Mitgestaltung an der Umstrukturierung der landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger maximal zu nutzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Ihre
Bitten - ich sage bewusst Bitten; Sie haben keine Forderungen aufgestellt - an die Bundesregierung sind uns
einfach zu biegsam. Das geht frei nach dem Motto: Eine
weiche Formulierung lässt mehr Freiräume zur Nichterfüllung.
({1})
Aus diesem Grund wird die PDS-Fraktion dem Antrag der Koalition nicht zustimmen.
({2})
Nun erteile ich der
Kollegin Christel Deichmann, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Koppelin,
ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir
hier ein bisschen Wahlkampfgetümmel aus SchleswigHolstein haben.
({0})
Wir hatten das vor vier Jahren fast punktgenau auch vor
den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein. Damals waren Sie Experte in Sachen Milch. Jetzt sind Sie Experte
in Sachen Bäuerinnenrenten. Das ist sehr bemerkenswert.
({1})
Ich bin inzwischen ebenfalls in Schleswig-Holstein
gewesen - das sage ich auch in Richtung der
CDU/CSU - und habe mit Bauernverbandskreisvorsitzenden gesprochen. Sie haben mir gesagt: Machen Sie
weiter, Sie sind auf dem richtigen Weg.
({2})
Das waren weiß Gott keine rot-grünen Koalitionäre.
({3})
- Darüber können wir uns noch unterhalten.
1997 war der Bauerntag in Braunschweig. An dem
haben Sie leider nicht teilgenommen; Herr Hammerstein
ist da gewesen. Er widmet sich jetzt nicht mehr diesem
Thema, hat aber zwischenzeitlich die Abschaffung der
Berufsgenossenschaften gefordert. Ich sage das nur zur
Erinnerung; aber Sie wissen das sicherlich selbst. 1997
habe ich in Braunschweig gesagt:
Der Strukturwandel und der Rückgang der Versichertenzahlen gehen weiter - der Handlungsdruck
in Richtung Organisationsreform steigt unaufhörlich, und wenn das System nicht überstrapaziert
und damit gefährdet werden soll ..., Handeln Sie
selbst, bevor die Politik handelt!
({4})
Dabei muss darauf geachtet werden, dass das bewährte Konzept der landwirtschaftlichen Sozialversicherung ({5}) in der Fläche
erhalten bleibt. Wo bisherige Parallelarbeit überflüssig wird, kann und muss zum Teil die Betreuung der Versicherten ausgebaut werden, anderenfalls müssen in jedem Fall sozialverträgliche Lösungen gefunden werden.
Ich denke, das gilt heute noch genauso wie 1997.
Allerdings ist mit großem Bedauern festzustellen: Die
Systeme, der Berufsstand selber haben nicht gehandelt.
Das, was wir gegenwärtig erleben, ist auch erst das Ergebnis der Diskussionen, die wir im letzten Jahr vorangetrieben haben.
({6})
- Herr Hornung, Sie wissen das genauso gut wie ich.
Das ist alles wahr. Das ist leider - so muss ich sagen bittere Wahrheit.
({7})
- Nein, nein!
Fakt ist: Wir müssen zu signifikanten Veränderungen
bezüglich der Organisation kommen, damit wir auch in
der Zukunft das gewährleisten können, was unabdingbar
erforderlich ist, nämlich die Eigenständigkeit des Systems. Agrarsozialpolitik ist auch Agrarstrukturpolitik.
Die Veränderungen, die vor uns stehen - das haben alle
in ihren Beiträgen bestätigt -, müssen entsprechend begleitet werden.
Sicherlich ist der schwierigste Part hierbei die Diskussion mit den Ländern. Die Länder haben aber auf
der Agrarministerkonferenz im September letzten Jahres
in Freiburg - das ist in einer Protokollnotiz des Landes
Sachsen enthalten - gesagt, der Bund solle neben fünf
vorgelegten Lösungsmodellen weitere Optionen für die
Neugestaltung der LSV prüfen. Die Länder verschließen
sich also auch nicht der Diskussion, sondern sagen: Hier
muss unbedingt etwas passieren mit den Zielen bestmögliche Entlastung der Beitragszahler, Schaffung
von schlanken Verwaltungsstrukturen, Kostendämpfung,
einheitlichere Satzungen und Beitragssätze - das wollen
sogar die Länder -, gleichmäßigere Lastenverteilung,
Ausgleich von Strukturveränderungen durch größeren
Finanzverbund.
Ich fordere Sie auf: Helfen Sie mit, hier eine Zukunftslösung zu finden! Wir sollten nicht suchen, was
alles nicht geht, sondern sollten uns dort verständigen,
wo Gemeinsamkeiten sind, und von diesem Punkt aus
die Lösung erarbeiten. Dies muss kurzfristig, noch in
dieser Legislaturperiode geschehen, damit bei den nächsten Sozialwahlen im Jahre 2005 wirklich mit dem Neueinstieg begonnen werden kann.
Vielen Dank.
({8})
Jetzt hat der Kollege
Albert Deß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über die Reform der landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger
diskutieren, so ist das keine neue Diskussion. Ich bin
jetzt seit fast zehn Jahren im Deutschen Bundestag, und
wir haben über dieses Thema schon sehr oft diskutiert.
Es gibt verschiedene Alternativen. Der Bundesrechnungshof schlägt immer wieder vor, dass innerhalb eines
Übergangszeitraumes eine zentralistische Einrichtung
geschaffen werden sollte. Die Bundesregierung hat diese
Forderung anscheinend übernommen. Ich bin strikt dagegen. Die CDU/CSU-Fraktion ist dagegen, dass hier
eine bundesweite Einrichtung geschaffen wird. Die
Bundesländer sind in ihrer großen Mehrheit ebenfalls
dagegen. Ich warne auch davor, zu glauben, dass mit der
zentralistischen Einrichtung die Verwaltungskosten gesenkt werden können.
({0})
Wir haben in Bayern die Erfahrung mit der Reform
der AOKs. Mir ist bekannt, dass die Verwaltungskosten
bei der AOK Bayern, nachdem sie zentralistisch verwaltet wird, nicht gesunken sind. Eher ist das Gegenteil der
Fall. Ich weiß aus der Gemeindegebietsreform, dass die
Verwaltungskosten in den größeren Einheiten meistens
höher geworden sind, als es vorher bei den kleineren der
Fall war.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird vor
Ort auch bereits gehandelt. Es ist nicht so, dass das erst
auf Druck der heutigen Diskussion geschieht. Der Kollege Siegfried Hornung hat es angesprochen. In Bayern,
wo schon bisher nicht die kleinsten Sozialversicherungsträger waren, werden aus fünf Einheiten zwei Verwaltungseinheiten. Der Bayerische Bauernverband unterstützt in Eigenverantwortung vor Ort die Bestrebungen,
in Bayern zwei größere Verwaltungseinheiten zu schaffen.
Die Bundesregierung liegt falsch, wenn sie glaubt,
dass sie nur über zentralistische Einrichtungen ihren
Einfluss geltend machen kann. Die Bundesregierung
kann dies auch ohne sie tun. Man täuscht doch die Menschen, indem man sie glauben macht, dass dieser Einfluss irgendeine positive Auswirkung auf unsere Bäuerinnen und Bauern hätte.
({1})
Das Gegenteil ist der Fall: Wo die Bundesregierung
die Verantwortung trägt, nämlich in der Agrarsozialpolitik, findet eine Kahlschlagspolitik statt. In diesem Bereich werden die Bäuerinnen und Bauern belastet. Dieser Punkt muss hier deutlich angesprochen werden.
({2})
Rot-grüne Agrarpolitik belastet unsere Bäuerinnen
und Bauern und den bäuerlichen Berufsstand insgesamt
in einem unerträglichen Ausmaß. Diese Politik wird dazu führen, dass der Strukturwandel in der Landwirtschaft so beschleunigt wird, wie wir es uns heute wahrscheinlich noch gar nicht vorstellen können.
Ich habe die entsprechenden Zahlen herausgesucht. In
den 16 Jahren der Regierungsverantwortung von
CDU/CSU und F.D.P. betrug der Strukturwandel im
Durchschnitt 2,41 Prozent pro Jahr. An dieser Zahl wird
sich die neue Bundesregierung messen lassen müssen.
Ich gehe davon aus, dass wir in absehbarer Zeit Zahlen
erreichen, die einen Strukturwandel von über 5 Prozent
belegen. Es wird ein Höfesterben stattfinden, wie es in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch
nie der Fall war.
({3})
Die Sparbeschlüsse der rot-grünen Bundesregierung
zum 1. Januar 2000 belasten unsere bäuerlichen Familien. Vor allem die einkommensschwächsten Familien Kollege Siegfried Hornung hat diesen Punkt schon angesprochen - werden belastet. Angesichts der Tatsache,
dass gerade die Bäuerinnen und Bauern, die das niedrigste Einkommen haben, mit bis zu über 100 Prozent
mehr belastet werden, frage ich mich schon, wo das soziale Gewissen der Sozialdemokraten geblieben ist. Ich
würde mich freuen, wenn das soziale Gewissen der SPD
hier mehr zum Vorschein käme.
({4})
Was mich in der ganzen Diskussion um Subventionen
in der Landwirtschaft und im Agrarsozialbereich besonders ärgert, ist die Tatsache, dass die Landwirtschaft mit
durchschnittlich über zwei Kindern pro Familie einen
Beitrag zum Generationenvertrag in unserem Land
leistet, der weit über dem Durchschnitt unserer Bevölkerung liegt. Wenn ein eigenständiges Sozialversicherungssystem, das auch die nachgeborenen Kinder in der
Landwirtschaft einschließt, möglich wäre, dann wäre in
diesem Bereich der Generationenvertrag finanzierbar.
Das ist unserem Land aber leider nicht möglich.
Ich bin überzeugt, dass die bäuerlichen Familien mit
ihren Kindern, die in ihrem späteren Berufsleben Beiträge in andere Sozialversicherungssysteme zahlen, in diesem ganzen System Nettozahler sind. Deshalb sollten
wir uns abgewöhnen, von einer „alten Last“ zu sprechen. Wir alle haben dieses Wort leichtfertig ausgesprochen. Unsere Landwirte sind ein positiver Faktor in unChristel Deichmann
serem Land und keine „alte Last“. Dies möchte ich hier
zum Ausdruck bringen.
({5})
Lieber Staatssekretär Gerald Thalheim, du hast früher
öfter eine Vorruhestandsregelung gefordert. Jetzt wäre
der Zeitpunkt für eine solche Regelung, weil die Landwirtschaft weit mehr als andere Berufsgruppen durch die
Ökosteuer belastet wird. Die Einnahmen aus der Ökosteuer könnten sinnvoll in die Landwirtschaft wieder zurückfließen, indem man eine Vorruhestandsregelung
schafft, die sozialverträglich den Landwirten den Ausstieg ermöglicht, zumal diese rot-grüne Agrarpolitik viele Bauern zum Ausstieg zwingt.
({6})
Es bleibt das Geheimnis dieser rot-grünen Bundesregierung, wie die deutschen Landwirte schlagkräftiger
und wettbewerbsfähiger werden können, wenn auf nationaler Ebene im europäischen Vergleich eine glatte
Wettbewerbsverzerrung erfolgt.
({7})
Minister Funke müsste einmal erklären - er sollte nicht
immer durch Abwesenheit glänzen -, wie die deutschen
Bauern wettbewerbsfähiger werden können. Mit dieser
rot-grünen Agrarpolitik werden sie es auf jeden Fall
nicht.
({8})
Auch ein weiterer Punkt ärgert mich. Der Bundeskanzler hat die Holzmann-Fastpleite sehr medienwirksam verkauft. Ich bin aber überzeugt, dass diese rotgrüne Agrarpolitik in der deutschen Landwirtschaft weit
mehr Arbeitsplätze gefährdet, als bei Holzmann überhaupt vorhanden sind.
({9})
Aber leider kann man diese Arbeitsplätze in der Landwirtschaft nicht medienwirksam verkaufen. Hier liegt
das große Problem. Zu dieser rot-grünen Arbeitsplatzvernichtung schweigt der Bundeskanzler, schweigt der
Bundeslandwirtschaftsminister. Hier ist Schweigen im
Walde.
({10})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, beide werden
ihrer Verantwortung der deutschen Landwirtschaft gegenüber nicht gerecht.
Ich darf, wenn es mir die Zeit erlaubt, noch einige
Punkte aus SPD-Aussagen zitieren, die alle nicht eingehalten worden sind. Die SPD hat in ihr Bundestagswahlprogramm hineingeschrieben: „Wir wollen eine
Agrarpolitik, die das Überleben der bäuerlich strukturierten Landwirtschaft ermöglicht.“
({11})
Genau das Gegenteil praktizieren Sie heute.
Eine Aussage in der Koalitionsvereinbarung lautet:
Die neue Bundesregierung wird die ländlichen
Räume stärken und die Landwirtschaft auf der
Grundlage einer reformierten EU-Agrarpolitik sichern.
({12})
Auch diese Aussage, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist doch in Anbetracht der Beschlüsse, die Sie gefasst haben, eine Verhöhnung des bäuerlichen Berufsstandes.
({13})
Dann kommt der Bundeslandwirtschaftsminister. Er
hat im „top-agrar“-Interview im November 1998 gesagt:
Steuerliche Mehrbelastungen sind für die Landwirtschaft in der jetzigen Situation nicht verkraftbar,
und dies will die SPD auch nicht.
Ja, hat sich gegenüber vorigem Jahr die Situation in der
Landwirtschaft heuer verbessert, dass man sie heuer belasten kann? Hier werden doch Versprechungen gebrochen.
Bei einer weiteren Aussage - damit, Frau Präsidentin,
komme ich zum Schluss - ist das Gleiche der Fall. Der
Bundeslandwirtschaftsminister hat im gleichen Interview gesagt: „Ich kann die Landwirte beruhigen: Die
Gasölbeihilfe bleibt.“ Ja, wo ist er denn, der Bundeslandwirtschaftsminister, wo bleibt denn die Gasölbeihilfe?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die
CDU/CSU-Fraktion wird zu den Themen, die die Landwirtschaft betreffen, nicht schweigen.
({14})
Wir werden die Interessen der Bauern hier immer wieder einklagen. Wir werden nicht zulassen, dass die deutsche Landwirtschaft von dieser rot-grünen Bundesregierung geopfert wird.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Jetzt erteile ich das
Wort der Kollegin Waltraud Wolff, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe
mich sehr gefreut, als letzte Rednerin zu diesem Thema
zu sprechen, weil ich eigentlich gern weiter ausholen
wollte. Aber ich muss Ihnen sagen: Ich habe nicht das
Gefühl, dass dieses existenzielle Thema dazu geeignet
ist, hier einen Schlagabtausch zu führen. Ich habe auch
heute schon so viele Halbwahrheiten gehört, dass es mir
den Magen umdrehen könnte. Denn wenn man in internen Gesprächen auch mit Kollegen der Opposition
spricht, meinen sie schon, dass wir auf dem richtigen
Weg sind.
({0})
Ich werde Ihnen heute zeigen, dass unser Modell
nicht mehr vage ist. Ich werde Ihnen zeigen, dass wir
vorhandene Strukturen nutzen und regionale Betreuung
gewährleisten werden. Herr Koppelin, hören Sie heute
gut zu! Sie werden sehen, dass wir auch die regionale
Betreuung gewährleisten.
Wir werden uns, Herr Hornung und Herr Deß, ganz
einfach an einem modernen Versicherungssystem in einer modernen Landwirtschaft messen lassen.
({1})
Es hat sich etwas getan auf der Landesebene. Das ist
hier mehrfach angesprochen worden. Ich meine auch,
dass die Bemühungen in den Ländern auf Druck des
Bundes sehr forciert wurden. Allerdings reichen diese
Bestrebungen noch lange nicht aus. Ich betone zu Beginn ganz deutlich, dass die tief greifende Reform, die
wir vor uns haben, eine breite Zustimmung braucht und
dass alle Beteiligten aufeinander zugehen müssen.
In den letzten Jahren mussten wir einen signifikanten
Rückgang der Versichertenzahlen in der Landwirtschaft feststellen. Zum Beispiel ist von 1996 auf 1997
die Zahl der Versicherten der landwirtschaftlichen Alterskasse bundesweit von 511 000 auf 475 000 zurückgegangen. Mittlere Prognosen für 1997 bis 2007 weisen
eine weitere Verringerung um 189 000 aus.
({2})
Wir wollen uns darüber im Klaren sein, dass wir von
dann noch 322 000 Versicherten sprechen. Dieser Rückgang korreliert mit dem Rückgang der Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe. Das ist vorhin auch schon
einmal angesprochen worden. In den alten Bundesländern ging die Anzahl der Hofstellen von 1991 bis 1999
von knapp 632 000 auf ungefähr 432 000 zurück. Das
bedeutet - das muss man sich einmal vor Augen führen - eine Aufgabe von 31 Prozent der Höfe. Es wird
immer gesagt, die neue Bundesregierung grabe der
Landwirtschaft das Wasser ab. Von 1991 bis 1998 waren aber nicht wir verantwortlich und trotzdem gab es
ein Höfesterben.
({3})
Wir wollen die Eigenständigkeit der landwirtschaftlichen Sozialversicherung erhalten. Wir wollen bei den
Beiträgen den Versicherten Rechnung tragen
({4})
und wollen bei den Kosten für die agrarsoziale Sicherung den Steuerzahlern gegenüber Verantwortung zeigen. Das möchte ich ganz deutlich herausstellen.
({5})
Eine moderne Landwirtschaft braucht ein modernes
Versicherungssystem. Seit Jahren sind sich Bund, Länder und auch Versicherungsträger darüber einig, dass eine Neugestaltung erfolgen muss. Sie ist unumgänglich.
Die vorgelegten Konzepte - davon gab es schon mehrere - sind allerdings halbherzig. Man muss feststellen:
Wenn kein Druck vom Bund kommt, dann ist die freiwillige Bewegung gleich null. Auch das möchte ich
deutlich machen.
({6})
- Längst vorher, Herr Hornung.
Auf die Frage der F.D.P., ob das agrarsoziale Sicherungssystem gefährdet sei, kann ich nur antworten: Ja,
nämlich dann, wenn alles beim Alten bleibt.
({7})
Es gibt Gemeinden, in denen heute auf einen Jungbauern
circa 18 Altenteiler kommen. Wer soll das noch bezahlen? Wer will denn da noch Verantwortung tragen?
({8})
Die Notwendigkeit für die Neuorganisation liegt klar
auf der Hand: Es sind die unwirtschaftlichen Strukturen,
die die Defizitdeckung durch die Bundesmittel infrage
stellen. Der Bund ist mit 68 Prozent der Kosten dabei.
Hier muss eingegriffen werden. Aber das ist der Knackpunkt der ganzen Geschichte: Wir haben aus Bundessicht nicht die richtigen Eingriffsmöglichkeiten. Deshalb
ist es erforderlich, den Bund zukünftig direkt an der
Rechtsaufsicht zu beteiligen und effiziente Strukturen zu
schaffen.
Einvernehmliche Beschlüsse des Haushaltsausschusses und des Rechnungsprüfungsausschusses vom Oktober des letzten Jahres haben gezeigt, dass nicht nur die
Bundesregierung allein, sondern auch Sie, die Kolleginnen und Kollegen der Opposition, den Handlungsbedarf
gesehen haben. Beide Ausschüsse haben einvernehmlich
das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung
beauftragt, bis Ende 2000 einen möglichst mit den Ländern abgestimmten Gesetzentwurf einzubringen. Außerdem ist die Bundesregierung beauftragt worden, bis Ende März dieses Jahres einen Sachstandsbericht vorzulegen.
Im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten ist der Entschließungsantrag zum Bedauern der
SPD allerdings ohne die CDU/CSU eingebracht worden.
An dieser Stelle kommen mir die Opposition und alle
Waltraud Wolff ({9})
Kritiker eines Bundesmodells so vor wir ein Assistenzarzt während der Visite: Er steht am Bett des Kranken,
erkennt, dass Hilfe geboten ist, möchte dem Patienten
selber nicht noch zusätzlich Schmerzen zufügen und
hofft, dass andere die lebensrettenden Maßnahmen einleiten. - So können und dürfen Sie sich nicht verhalten.
({10})
Zur Realisierung des Gesetzesvorhabens: Wir wollen
noch in dieser Legislaturperiode die Neuorganisation
verwirklichen, in diesem Jahr die Reform beschließen
und vor der nächsten Sozialwahl die Umsetzung vollzogen haben.
({11})
- Ich werde noch genauer. Sie werden noch zuhören
müssen. - Bund und Länder haben in dieser Frage unterschiedliche Interessen; das ist ganz logisch. Aber es gilt,
an dieser Stelle einen gemeinsamen Weg zu finden.
Knapp zusammengefasst fordert der Bundesrechnungshof die Verschlankung der Strukturen, die Verbesserung der Wirtschaftlichkeit und die Stärkung des Bundeseinflusses. Die Länder sind darauf aber nicht eingegangen. Bei zehn bis zwölf Trägern kann von Verschlankung keine Rede sein.
Wir haben einen Vorschlag vorgelegt, der zwischen
dem des Bundesrechnungshofs und dem der Länder
steht: Ein bundesweit arbeitender Träger im Gartenbau
ist schon vorhanden. Wir wollen einen weiteren Träger
mit vier rechtlich selbstständigen Selbstverwaltungskörperschaften für die Land- und Forstwirtschaft errichten,
nämlich der Berufsgenossenschaft, der Krankenkasse,
der Pflegekasse und der Alterskasse.
({12})
Damit wird das Nebeneinander von bundes- und landesunmittelbaren Trägern aufgelöst und es wird die innerlandwirtschaftliche Solidarität verbessert. Die regionalen
Belastungsunterschiede können aufgehoben werden. Der
Bund erhält endlich - den Zuschüssen für die Defizitdeckung entsprechend - die notwendige Steuerungsfunktion. Die Rechtsaufsicht, die Genehmigung der Haushaltspläne und die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung
werden deutlich verbessert. Trotzdem ist eine gewisse
regionale Eigenständigkeit gewährleistet.
({13})
- Es sind keine Wunschvorstellungen - Servicezentren
vor Ort, mobile Betreuungsdienste oder Versichertenälteste können die persönliche Kontaktpflege übernehmen.
Mit dem regionalen Unterbau, den wir geplant haben,
ist auch ein erheblicher Teil der Arbeitsplätze gesichert.
Notwendige Einsparungen, die auch bei anderen Modellen erfolgt wären, werden selbstverständlich sozialverträglich ausgestaltet.
Eine solche Reform kann selbstverständlich nur stufenweise erfolgen. Das ist ganz klar. Das kann man nicht
übers Knie brechen. Sie muss mit der Errichtung einer
Kopfstelle für den neuen Bundesträger beginnen. Dieser ist dann für den Aufbau der Struktur verantwortlich.
Schrittweise geben dann die noch bestehenden landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger die künftig vom
Bundesträger wahrzunehmenden Aufgaben an diesen ab.
Durch die Zusammenlegung der Verwaltung und durch
die Personalfluktuation werden dann die sechs bis acht
Bezirksverwaltungen gebildet. Dies wird nicht übers
Knie gebrochen, sondern in einem Zeitrahmen bis 2005
geschehen - eine Chance, die wir nicht vergeben sollten.
({14})
Meine Damen und Herren, wir stehen gemeinsam vor
der Frage der Neuorganisation der landwirtschaftlichen
Sozialversicherung. Wir wissen, sie ist notwendig, und
wir haben die Verantwortung dafür.
Wenn ein Arzt einem Schwerkranken immer nur die
Hand tätschelt und sagt: „Na ja, es wird schon besser“,
obwohl er weiß, dass es auf diesem Weg nur bergab
geht, würden wir ihn alle als unredlich bezeichnen. Aber
Arzt und Patient hätten eine gemeinsame Chance, wenn
sie einen Behandlungsplan aufstellen würden. Wir sind
zwar keine Ärzte, wir sind in der Politik, aber wir haben
aus diesem Grund die politische Verantwortung, für eine
zukunftsorientierte Neuorganisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung zu sorgen.
Ich lade Sie dazu ein, bei diesem Modernisierungsprozess mitzumachen und im Interesse von Bund und
Ländern, von Steuerzahlern und von Versicherten gemeinsam einen Konsens zu finden. Bewegen Sie sich,
meine Damen und Herren von der Opposition, und
stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu!
Vielen Dank.
({15})
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses
90/Die Grünen auf Drucksache 14/2572. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen von PDS,
CDU/CSU und F.D.P. ist der Entschließungsantrag angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache
14/2574. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist gegen
die Stimmen der PDS abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Hanna
Wolf ({0}), Lilo Friedrich ({1}), Dr.
Cornelie Sonntag-Wolgast, weiteren AbgeordneWaltraud Wolff ({2})
ten und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Marieluise
Beck ({3}), Claudia Roth ({4}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Ausländergesetzes
- Drucksache 14/2368 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Rechtssausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Hanna Wolf, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Sehr verehrte Damen und Herren! Heute setzen die Regierungsfraktionen wieder einen weiteren wichtigen
Punkt ihrer Koalitionsvereinbarung um. Es ist der Gesetzentwurf zur Änderung des § 19 des Ausländergesetzes. Dieser Entwurf ist auf Initiative der Frauen in beiden Fraktionen entstanden. Deshalb möchte ich besonders die Frauen der Opposition herzlich einladen, diesem Gesetzentwurf ebenfalls zuzustimmen. Ich setze
darauf, dass dies auch viele Männer tun.
Denn ich denke, wir waren uns in diesem Parlament
immer einig: Wenn es um Menschenrechte, um Frauenrechte geht, sollten wir diese alle gemeinsam stärken
oder fordern.
({0})
In diesem Gesetzentwurf geht es um das eigenständige Aufenthaltsrecht von ausländischen Ehegatten. Es
geht um die klare Regelung von Härtefällen, das heißt,
es geht in fast allen Fällen um die Menschenrechte von
ausländischen Ehefrauen und es geht auch um Kinderrechte.
Der Gesetzentwurf ist ebenfalls in dem weiteren Zusammenhang unserer Bemühungen zu sehen, häusliche
Gewalt einzudämmen. Dazu wird diese Bundesregierung weitere Gesetzentwürfe vorlegen.
Die heutigen Oppositionsfraktionen CDU/CSU und
F.D.P. werden sagen: Wir haben § 19 des Ausländergesetzes doch erst 1997 und davor 1990 geändert. - Das ist
wahr. Ebenso wahr ist aber auch, dass es jedes Mal
Stückwerk geblieben ist. Sie haben unsere Fallbeispiele
damals in den Beratungen nie ernst genommen. Sie haben immer wieder den Missbrauch des Gesetzes an die
Wand gemalt. Ganz besonders hart zeigten sich der damalige Innenminister Kanther
({1})
und mit ihm Hand in Hand sein bayerischer Kollege
Beckstein. Wenn man jetzt einen Blick nach Hessen
wirft, merkt man, welche ganz anderen Dimensionen
sich hinter dem Begriff „Missbrauch“ verbergen.
({2})
Die besten Gesetze können einen Missbrauch nicht
völlig ausschließen. Wir messen aber die Qualität von
Gesetzen daran, ob sie diejenigen tatsächlich schützen,
die sie zu schützen vorgeben. Das ist in der bestehenden
Version des § 19 des Ausländergesetzes nicht der Fall.
Der Verband binationaler Familien und Partnerschaften hat zusammen mit der Frauenhaus-Koordinierungsstelle die Auswirkungen des seit 1997 bestehenden
Gesetzes untersucht. Die Ergebnisse sind nach wie vor
erschreckend. Ein großer Fehler bisher ist, dass auf
dem Wege ergänzender oder fehlender Verwaltungsvorschriften eine ungleiche Behandlung in den einzelnen
Bundesländern herrscht. Minister Beckstein in Bayern
hat eine gänzlich andere Vorstellung von „außergewöhnlicher Härte“ als zum Beispiel die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen. Unterschiedliche Landesvorgaben und unterschiedliche örtliche Behördenpraxis
werden für die betroffenen Frauen zum Roulette.
Deshalb haben wir in unserem Gesetzentwurf den
Begriff der „außergewöhnlichen Härte“ durch den Begriff der „besonderen Härte“ ersetzt und diesen klar definiert. Gleichzeitig haben wir dafür gesorgt, dass dieses
Gesetz nicht mehr zustimmungspflichtig ist. Wir wollen
gleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland, auch
für Ausländerinnen.
({3})
Die „besondere Härte“ ist sowohl an Umstände geknüpft, die es dem Ehegatten, in der Regel der Ehefrau,
unmöglich machen, die Ehe fortzusetzen. „Besondere
Härte“ kann aber auch im Herkunftsland begründet sein,
wenn die Rückkehr für die geschiedene Frau schwerwiegendere Folgen hat als für andere Ausländer, die
Deutschland nach einer kurzen Aufenthaltszeit verlassen
müssen. Wenn eine „besondere Härte“ festgestellt ist,
entfällt jegliche Frist und das eigenständige Aufenthaltsrecht wird ausgesprochen.
In diesem Parlament habe ich schon mehrfach den
Fall der Kurdin Tülay Oguz aus Kempten in Bayern angesprochen. Sie wurde von ihrem Ehemann jahrelang
schwer misshandelt und teilweise von der Familie des
Mannes wie eine Sklavin gehalten. Sie ließ sich daraufhin scheiden. Zu den Misshandlungen wurde sowohl
erstinstanzlich wie auch auf eine Petition im Bayerischen Landtag hin festgestellt - jetzt hören Sie zu! -,
dass sie weder zu Siechtum noch zu bleibenden körperlichen Schäden geführt hätten. Also liege eine „außergewöhnliche Härte“ nicht vor. Wie zynisch können Urteile sein! Psychische Gewalt wurde überhaupt nicht berücksichtigt, auch nicht das Kindeswohl. Frau Oguz hat
zwei Kinder, die in Deutschland geboren wurden.
Nach viereinhalb Jahren Rechtsstreit ist die Stadt
Kempten diese Woche einer Entscheidung des zuständigen bayerischen Verwaltungsgerichts zuvorgekommen.
Sie hat Frau Oguz endlich eine Aufenthaltsbefugnis erteilt. Das war für die Kommune eine reine Ermessensfrage.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Für Frau Oguz freut mich das außerordentlich. Sie
können aber davon ausgehen, dass dieser Abschluss ohne die Solidarität der Menschen in Kempten, ohne den
politischen Druck der SPD-Frauen und Grünen-Frauen
und ohne den Druck der Medienberichterstattung nicht
möglich gewesen wäre.
Ein klares Gesetz dagegen hätte Frau Oguz diese Tortur
erspart.
({4})
Damit komme ich zu der zweiten Neuerung unseres
Gesetzentwurfs: Die Mindestdauer des ehelichen Aufenthalts in Deutschland soll von vier auf zwei Jahre gesenkt werden. Danach tritt das eigenständige Ehegattenaufenthaltsrecht in Kraft. Damit soll verhindert werden,
dass vier Jahre lang Druck vom Partner ausgeübt werden
kann. Missbrauch und Erpressung dürfen nicht mehr
möglich sein.
Ausländerbehörden haben in zum Teil schändlicher
Weise das Spiel des willkürlichen Ehemanns unterstützt.
Sie haben Aufenthaltserlaubnisse rückwirkend eingeschränkt oder aufgehoben, wenn der Ehemann einseitig
die Lebensgemeinschaft für nicht mehr existent erklärt
hatte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie können
sich gar nicht vorstellen, wie viele miese Tricks jemand
anwenden kann, um seiner ausländischen Frau das Leben schwer zu machen und sie loszuwerden: rassistisches Verhalten, Freiheitsberaubung, Verbot der Arbeitsaufnahme, verdientes Geld abgeben lassen, kein
Haushaltsgeld geben usw. So manche dieser Ehemänner
glaubten, ein „Rückgaberecht“ oder ein „Umtauschrecht“ an ihrer Ehefrau durchsetzen zu können. Dem
wollen wir endlich einen Riegel vorschieben.
({5})
Die dritte wichtige Neuerung betrifft das Kindeswohl. Es kam in diesem Zusammenhang bisher kaum
vor. Aber das Kinder- und Jugendhilfegesetz und das
neue Kindschaftsrecht verlangen, dass Kinder als Individuen mit eigenen Rechten behandelt werden. Wir
können nicht zulassen, dass das Kind keine Chance auf
Kontakt mit der Mutter mehr hat, weil sie das Land verlassen muss, das Kind keinen Kontakt zum Vater mehr
hat, weil es mit der Mutter das Land verlassen muss, und
das Kind aus seiner gewohnten Umgebung gerissen
wird, auch wenn es erst mit in die Ehe gekommen ist.
Auch das kann eine besondere Härte sein.
Ich habe nur einige Fälle genannt, aber jedes Frauenhaus und jede Beratungsstelle könnten Hunderte nennen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben von solchen Fällen auch immer wieder
in den Zeitungen gelesen. Niemand von uns kann sagen,
dass man es nicht gewusst hat.
In der letzten Legislaturperiode war es nicht möglich,
endlich ein wirkungsvolles Gesetz zum Schutz der bei
uns lebenden ausländischen Ehefrauen durchzusetzen.
Der Law-and-Order-Minister Kanther hat da die Reihen
fest zusammengehalten.
Ich appelliere an Sie alle: Stimmen Sie unserem Gesetz zu, das die Opfer schützt. Dieses Gesetz ist ein klares Zeichen für die Menschenrechte von Frauen.
({6})
Manchmal dauert
manches sehr lange, wie wir jetzt merken. Vielen Dank,
Frau Kollegin.
Jetzt hat die Kollegin Ilse Falk, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir als
Frauenpolitikerinnen zu diesem Thema Stellung nehmen
können, obwohl es federführend im Innenausschuss angesiedelt ist. Es ist so wichtig - das haben Sie gerade
dargestellt, Frau Wolf -, dass es von Frauen mit besonderer Sorgfalt beachtet wird.
Ebenso können Sie sich natürlich auch vorstellen,
dass wir nicht in allem zum selben Ergebnis kommen
wie Sie,
({0})
denn es gibt natürlich auch andere Beispiele, als Sie sie
genannt haben. Ich denke, mein Kollege wird gleich
noch darauf eingehen.
({1})
Wir haben zu diesem Thema viel Erfahrung aus der
letzten Legislaturperiode. Da haben wir heftig über dieses Thema gestritten und haben uns auch erst im Vermittlungsausschuss auf einen Kompromiss geeinigt. Ich
finde nach wie vor, dass der Kompromiss, den wir damals gefunden haben, sich durchaus sehen lassen konnte
und sehen lassen kann, denn wir haben mit dem Gesetz
deutlich gemacht, dass wir ausländische Frauen, die in
ihrer Ehe psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt
sind, nicht schutzlos den Ehemännern ausliefern.
Wir haben auch gemeinsam dafür gesorgt, dass Männer, die ihre ausländischen Frauen misshandeln, diese
nicht länger mit dem Ausländerrecht erpressen können. Bei unzumutbaren Härten können solche Frauen seit In-Kraft-Treten des Gesetzes ein eigenständiges Aufenthaltsrecht auch ohne Fristeinhaltung erlangen.
Bei unserem Kompromiss im Jahre 1997 sind wir davon ausgegangen, dass die Formulierung „außergewöhnliche Härte“ zusammen mit den in der Begründung angegebenen Fallbeispielen zu einer verbesserten Handhabung führen würde. Wir haben damals allerdings auch
miteinander verabredet, dass wir sehr sorgfältig beobachten wollen, wie die Rechtsprechung damit umgeht,
und das kritisch begleiten wollen.
Hanna Wolf ({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen inzwischen aus Einzelfallschilderungen, dass die Interpretation dieses Begriffs durchaus sehr unterschiedlich ausfällt; das haben auch Sie ausgeführt. Es kann passieren,
dass die Ergebnisse je nach Bundesland einander diametral gegenüberstehen, das heißt, dass betroffene Frauen in vergleichbaren Ausgangssituationen je nach Bundesland entweder schnell abgeschoben werden oder
sehr kurzfristig ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erlangen.
Daher finde ich es gut, wenn wir heute und in den
folgenden Ausschussberatungen kritisch mit der Wirksamkeit der damals gefundenen Gesetzesformulierung
umgehen, um gegebenenfalls Änderungen herbeizuführen. Dabei wird über die Heranziehung der Fallbeispiele
aus der Begründung und auch darüber zu reden sein, wie
damit in der Praxis umgegangen wird, und zwar sowohl
hinsichtlich der Gewalt in der Ehe als auch der Berücksichtigung gewachsener Bindungen, insbesondere in Bezug auf die Kinder.
Auch über eine Klarstellung der Kannbestimmung
zum Sozialhilfebezug sollte in diesen Beratungen unbedingt geredet werden. Ich könnte mich zum Beispiel
sehr gut damit einverstanden erklären, dass nur bewusster Sozialhilfemissbrauch, wie Arbeitsverweigerung,
nicht jedoch der Sozialhilfebezug als solcher zur Ausweisung führen kann. Damit würden zum Beispiel die
Frauen nicht unter das Abschiebegebot fallen, die in
Frauenhäusern aufgenommen werden und deswegen
nach dem Bundessozialhilfegesetz Sozialhilfe beziehen.
Auch Mütter, die kleine Kinder oder behinderte und
pflegebedürftige Kinder betreuen und daher nicht arbeiten können, würden dann nicht abgeschoben werden
können.
Hier müssen wir allerdings die Grenzen sehr sorgfältig ziehen und - darauf will ich an dieser Stelle hinweisen, obwohl das anders zu regeln wäre - kritisch prüfen,
ob nicht der aufenthaltsrechtliche Status dazu führt, dass
Frauen Arbeit nicht aufnehmen können; denn viele würden sehr gern arbeiten, es wird ihnen jedoch durch den
Status verwehrt.
Aber trotz dieser berechtigten Anliegen gilt: Mit dem
jetzt vorliegenden Gesetzentwurf schießen Sie weit über
das Ziel hinaus und verlieren etwas das Augenmaß. Dabei will ich gern davon ausgehen, dass Sie nur das Beste
für die betroffenen Frauen wollen, doch möglicherweise
erreichen Sie damit genau das Gegenteil.
So richtig es ist, dass eine ausländische Frau, die sich
von ihrem Ehemann trennen will, nicht mangels eines
eigenständigen Aufenthaltsrechts erpressbar gehalten
und zur Fortsetzung einer unerträglichen Ehe gezwungen werden darf, so wichtig ist es aber auf der anderen
Seite, der Zunahme von Scheinehen - wir kommen
nicht umhin, uns immer wieder mit dem Thema Scheinehe zu befassen - als billiger Eintrittskarte zum Aufenthaltsrecht wirkungsvoll entgegenzutreten.
({3})
Es ist doch so, dass in der Scheinehe in der Regel die
Ehefrau diejenige ist, die mit der Eheschließung einen
ganz bestimmten Zweck erfüllen muss. Es geht nicht
immer nur darum, sie in unser Land zu bringen, sondern
damit sind auch Bedingungen verbunden. Dabei geht es
im schlimmsten Fall um Menschenhandel mit dem Ziel
der Zwangsprostitution bis zur Verheiratung über Heiratsmärkte mit garantierten Rückgaberechten.
({4})
Da mag es im letzteren Fall möglicherweise noch nicht
einmal um Gewalt gehen, aber immer doch um menschenverachtende Ausbeutung. Darüber sind wir uns
doch einig.
Ich habe die große Befürchtung, dass Sie durch Ihren
Gesetzentwurf das Problem von Scheinehen verschärfen. Bei einer Frist von generell nur zwei Jahren für die
Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts würden Partner derartiger Scheinverbindungen kaum noch
Hemmnisse sehen, ihre Verbindung über diesen relativ
kurzen Zeitraum förmlich aufrecht zu erhalten. Seitens
der Ehemänner könnte dies mit Gewalt oder Gewaltandrohung durchgesetzt werden, während die Frauen, die
meistens der deutschen Sprache nicht mächtig sind, innerhalb einer so kurzen Zeit wohl kaum den Mut finden,
sich den Behörden oder amtlichen Stellen zu offenbaren.
Dass auch Sie die Möglichkeit des Missbrauchs sehen, wird dadurch deutlich, dass Sie zum Beispiel nicht
generell auf eine Bestandzeit der Ehe in Deutschland
verzichten. Es wird auch daran deutlich, dass Sie an der
Kannbestimmung festhalten, die Aufenthaltsgenehmigung versagen zu können, wenn die betreffende Person
Sozialhilfe bezieht.
Allerdings werden selbst diese Minimalforderungen
Makulatur und dienen eher als Placebo; denn nach Ihrem Gesetzentwurf soll es für die Erteilung einer eigenständigen Aufenthaltsgenehmigung auch genügen, wenn
„dem Ehegatten im Herkunftsland etwa aufgrund gesellschaftlicher Diskriminierungen die Führung eines eigenständigen Lebens nicht möglich wäre“.
Das geht entschieden zu weit. Denn - das wissen wir
aus den Erfahrungen mit der Befassung von Frauen in
anderen Ländern -: In welchen Ländern ist den Frauen
überhaupt eine vergleichbare Lebensführung wie bei uns
möglich? Diese Klausel würde faktisch zum Verzicht
jeglicher Ehebestandszeit und damit zur Erteilung eigenständiger Aufenthaltsgenehmigungen für alle Antragstellerinnen führen. Das wäre also eine Einwanderungspolitik mit anderen Mitteln. Dann müsste man es aber
auch so benennen.
So viel zu den Fristen. Weitaus problematischer erscheint mir der Umgang mit der Härtefallregelung.
Hier ist auf zwei Aspekte der Regelung zu achten: Zum
einen geht es um die Zumutbarkeit der Verpflichtung
zur Rückkehr in das Heimatland, zum anderen aber das liegt uns allen sicher besonders am Herzen - um die
Würdigung der Gründe, die die Gewährung eines eigenständigen Aufenthaltrechts bei uns nahe legen.
In der Praxis werden von den Gerichten häufig nur
die Abschiebungshindernisse im Herkunftsland beurteilt,
während die Gründe für die Scheidung oft nicht ausreichend Berücksichtigung finden. Aus meiner Sicht gibt
es zwei Alternativen, die mehr Rechtssicherheit geben
könnten: Entweder wir übernehmen die Fallbeispiele der
Begründung des geltenden Rechts in den Gesetzestext
oder aber wir prüfen, ob nicht grundsätzlich in den Fällen, in denen ein Ehepartner eine kriminelle Handlung
gegen den anderen begeht, der andere automatisch ein
eigenes Aufenthaltsrecht zuerkannt bekommt.
Die letzte Lösung hätte meines Erachtens den Charme, dass es zu einer wesentlich sorgfältigeren Einzelfallbetrachtung käme. Das heißt: Vor einer möglichen
Abschiebung müssten vom Gericht auch die Gründe für
die Scheidung beurteilt werden. Handelt es sich um
strafbare Handlungen, die entweder bereits zur Eheschließung oder aber schließlich zur Trennung geführt
haben, sollte automatisch ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zuerkannt werden. Damit könnte man erreichen, dass nicht die Ehefrau den Beweis der außerordentlichen Härte zu erbringen hätte, sondern sich diese
aus der Beurteilung der Tat des Ehemannes ergeben
würde. Das könnte nicht nur die Frauen ermutigen, sich
zu offenbaren, sondern würde zugleich der Justiz helfen,
strafbare Handlungen aufzuspüren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, dass
auch unserer Fraktion klar ist, dass es an der einen oder
anderen Stelle Klärungsbedarf gibt und wir gemeinsam
nach Lösungswegen suchen sollten. Dies erfordert Besonnenheit und, so denke ich, viel Einfühlungsvermögen, was in der Ausländerpolitik grundsätzlich in hohem
Maße der Fall ist. So weit reichende Änderungen allerdings, wie Sie sie vorschlagen, mit denen Sie, wie wir
fürchten, dem Missbrauch Tor und Tür öffneten, können
wir sicher nicht mittragen.
({5})
Jetzt hat die Kollegin Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auf dem langen Weg, Frauenrechte als Menschenrechte zu achten, gehen wir heute einen großen
Schritt voran. Wir wollen den § 19 des Ausländergesetzes ändern, der in der Vergangenheit - Frau Falk, ich
bin nicht Ihrer Meinung, dass die alte Regelung gereicht
hat - unendliches Leid über Migrantinnen gebracht hat.
({0})
Ausländische Frauen werden nicht länger vor der Alternative stehen, entweder vier Jahre lang Misshandlungen
durch ihren Ehemann ertragen oder Deutschland verlassen zu müssen. Endlich schützt der Staat die Opfer und
nicht länger die Täter.
({1})
Seit nahezu zehn Jahren fordern die Grünen gemeinsam mit Initiativen diese Änderungen im Ausländerrecht, um die unmenschliche Abschiebepraxis endlich zu
beenden. Den Gesetzentwurf der Grünen, den wir in der
letzten Legislaturperiode vorgelegt haben und der ein
sofortiges eigenständiges Aufenthaltsrecht vorsah, haben
Sie vonseiten der CDU/CSU und F.D.P. damals abgelehnt.
Nach geltendem Recht haben ausländische Ehefrauen
in den ersten vier Ehejahren in Deutschland kein eigenes, sondern ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht. Die
Folgen wurden von Frau Wolf schon genannt: Bei
Scheidung oder Trennung während dieser Zeit werden
die Frauen in ihr Heimatland ausgewiesen. Zudem
ist § 19 in der Hand des Ehemannes zu einem Machtmittel geworden; denn wenn er seine Frau geprügelt oder
vergewaltigt hat und sie deshalb ins Frauenhaus geflohen ist, brauchte er bisher lediglich zur Ausländerbehörde zu gehen und die eheliche Lebensgemeinschaft für
beendet zu erklären.
Alles Weitere hat bisher der Staat für ihn erledigt. Er
hat die Frau ausgewiesen, obwohl häufig Ausgrenzungen, Diskriminierungen, manchmal sogar lebensbedrohende Handlungen im Heimatland zu ertragen waren.
Doch damit nicht genug. Der Ehemann kann sich sogar seiner Unterhaltsverpflichtung entziehen. Ich nenne
dieses Täterschutz statt Opferschutz.
Daneben - auch darauf wurde schon hingewiesen ist der § 19 für Heiratshändler ein willkommenes Instrument, um besonders osteuropäische Frauen als Ware
zu handeln. Ich sehe die Anzeigen, die folgendermaßen
lauten: „100 Russinnen, lieb, anschmiegsam, fleißig,
aber keine eigenen Ansprüche“. Mir liegen Unterlagen
vor, wonach viele sogar sehr offensiv mit dem deutschen
Recht werben. Sie sagen nämlich: Bei kostenlosem Umtausch von ausländischen Ehefrauen hilft der Staat. Bei
Nichtgefallen Ware zurück. Die männlichen Kunden
können sich darauf verlassen, dass der Staat ihre Arbeit
innerhalb der Vierjahresfrist erledigt.
Diesen unerträglichen Zustand wollte eigentlich
schon die alte Regierung beenden, hat es allerdings 1997
auch mit dem Vermittlungsausschussergebnis nicht geschafft.
({2})
Sie hatten damals gesagt, zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte soll es ein sofortiges eigenständiges Aufenthaltsrecht geben. Die Erfahrung zeigt aber,
dass diese außergewöhnliche Härte in den wenigsten
Fällen angewandt wurde. Sie war im Gesetz nicht klar
definiert. Das, was der Vermittlungsausschuss in seiner
Begründung wollte, ist in vielen Bundesländern so nicht
angewandt worden. Die Misshandlung durch den Ehemann hat in vielen Fällen kein Abschiebungshindernis
dargestellt.
Hinzu kommen musste vielmehr, dass beim Verlassen des Landes der Frau ungleich größere Schwierigkeiten auferlegt worden wären als jeder anderen AusländeIlse Falk
rin oder jedem anderen Ausländer, die Deutschland verlassen.
Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen haben bereits
seit 1998 auf dem Erlasswege die Möglichkeit geschaffen, dass die Trennung vom Ehemann wegen psychischer und physischer Gewalt nicht zur Ausweisung
führt.
Ganz anders Bayern: Bayern errichtet die Hürden so
hoch, dass das Gesetz faktisch überhaupt nicht greifen
kann. Konkret heißt das: Um nicht ausgewiesen zu werden, muss die ausländische Ehefrau sich fast zu Tode
quälen lassen. In Bayern muss ihr eine schwere Körperverletzung zugefügt werden, und Sie wissen, wie
dies im Strafgesetz definiert ist. Schwere Körperverletzung bedeutet den Verlust eines lebenswichtigen Gliedes oder des Sehvermögens, die Betroffene müsste gelähmt oder geisteskrank sein.
Diese Kriterien haben doch die vielen Frauen nicht
erfüllen können. Das bedeutet, dass dieses Gesetz für sie
faktisch keine Wirkung hatte.
({3})
Diese unmenschliche Handhabungen des Ausländergesetzes wollen wir jetzt beenden. Den Fall Tülay O. hat
Kollegin Wolf hier schon dargestellt. Ich will das nicht
wiederholen. Hier ist es so gewesen, dass das Verwaltungsgericht Augsburg und auch der bayerische Petitionsausschuss gesagt haben, es liege hier keine außergewöhnliche Härte vor. Diese unzumutbaren Situationen
haben jetzt ein Ende.
Ich bin froh darüber, dass wir endlich eine bundeseinheitliche verbindliche Regelung schaffen können.
Verfahren nach § 19 werden somit nicht länger ein Roulettespiel für die Betroffenen sein. Die auslän-dischen
Ehefrauen müssen vor der Willkür des Ehe-mannes und
auch der Behörden geschützt werden, wie dies seit Jahren von Migrantinnenverbänden gefordert wird.
An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal ganz
herzlich auch bei den Mitarbeiterinnen in den Frauenhäusern bedanken, die trotz der prekären rechtlichen Situation immer Hilfe angeboten haben. Das war keine
Selbstverständlichkeit, und sie waren manchmal sehr
nahe am Rande des Gesetzes.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich in
diesem Zusammenhang noch auf einen anderen Aspekt
eingehen. Wir haben vor zwei Jahren eine Reform des
Sexualstrafrechts umgesetzt, nämlich die Vergewaltigung in der Ehe strafbar gemacht. Von dieser Reform
hatten die ausländischen Frauen bisher überhaupt keinen
Gebrauch machen können, denn hätten sie ihren Ehemann wegen der Vergewaltigung angezeigt und er wäre
inhaftiert worden, hätten sie umgehend das Land verlassen müssen, zum einen wegen des Bezugs der Sozialhilfe, zum anderen, weil die eheliche Lebensgemeinschaft
aufgelöst gewesen wäre. Insofern haben wir hier einen
direkten Zusammenhang zwischen dem Ausländerrecht
und dem § 177.
Die Würde des Menschen, das Recht auf körperliche
Unversehrtheit, die Gleichheit vor dem Gesetz und das
Selbstbestimmungsrecht sind grundrechtliche Werte, die
nicht nur für Deutsche gelten, sondern auch für ausländische Männer und Frauen.
Nun zum Gesetzentwurf. Er sieht vor, die für das eigenständige Aufenthaltsrecht erforderliche Ehebestandspflicht von vier auf zwei Jahre zu reduzieren.
Er benennt weiterhin Kriterien, nach denen Frauen im
Falle einer besonderen Härte ein sofortiges eigenständiges Aufenthaltsrecht bekommen. Frau Falk, Sie haben
gesagt, man müsse dies ins Gesetz schreiben. Es gibt
Verwaltungsrichtlinien, in denen sehr genau geregelt ist,
wie der entsprechende Einzelfall zu handhaben ist. Natürlich müssen Richterinnen und Richter entscheiden, ob
eine besondere Härte vorliegt. Es wird nicht ausreichen,
dass die Frau sagt: Es ist eine besondere Härte für mich.
- Natürlich wird das einem Prüfverfahren unterzogen.
Ich kann Ihre Bedenken nicht teilen.
Endlich wird auch das Kindeswohl berücksichtigt.
Das ist eine wichtige Sache, die wir im Rahmen der
UN-Kinderrechtskonvention unbedingt umsetzen müssen.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist nicht nur für uns
rot-grüne Parlamentarierinnen und Parlamentarier wichtig, sondern auch ein großer Erfolg für unseren Rechtsstaat.
({5})
Wie groß die Erleichterung bei den betroffenen Frauen,
bei den Anwaltsbüros und Beratungsstellen ist, zeigen
zahlreiche Briefe und Telefonate, die ich in den letzten
Wochen erhalten habe. Dieser Gesetzentwurf ist ein
wichtiger Reformschritt. Das Ziel der Bündnisgrünen ist
es, grundsätzlich ein vom Ehemann unabhängiges Aufenthaltsrecht zu schaffen. Aber Reformen müssen behutsam angegangen werden. Dies hat uns die Vergangenheit gelehrt.
Im Zusammenhang mit der Diskussion über menschenwürdige Regelungen des § 19 des Ausländergesetzes haben besonders Sie, meine Herren von der
CDU/CSU, und auch Frau Falk in der letzten Zeit häufig
Panik gemacht, indem Sie behauptet haben, die Zahl der
Scheinehen steige. Diese Vermutung ist einfach ins
Blaue hinein gesprochen und entbehrt jeglicher Datengrundlage. Ich habe mich auf dieses Argument vorbereitet: Ich habe mir Zahlenmaterial vom Statistischen Bundesamt geben lassen und habe geprüft, ob binationale
Ehen oder Ehen von Migrantinnen und Migranten häufiger geschieden werden als deutsche. Dem ist nicht so.
Insofern können Ihre Bedenken beiseite geschoben werden. Es gibt also keinen guten sachlichen Grund, eine
Reform des § 19 des Ausländergesetzes abzulehnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition
und vor allem von der F.D.P., Sie wissen um die schwieIrmingard Schewe-Gerigk
rige Situation von ausländischen Frauen. Wir haben in
der Vergangenheit häufiger darüber diskutiert. Sie wissen auch, dass wir aufgrund der bestehenden Probleme
neue Regelungen benötigen. Ich bitte Sie deshalb:
Schließen Sie sich unserem Gesetzentwurf an, damit wir
endlich gemeinsam diesen wichtigen frauenpolitischen
Schritt in der Geschichte des Ausländerrechts tun können.
Vielen Dank.
({6})
Jetzt hat das Wort
der Kollege Dr. Max Stadler, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Eine vernünftige Regelung des § 19 des Ausländergesetzes muss mehrere
Kriterien erfüllen: Es muss das berechtigte individuelle
Interesse auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach
Aufhebung der Ehe berücksichtigt werden. Es muss eine
humanitäre Lösung von schweren Einzelschicksalen
möglich sein. Aber es müssen auch Vorkehrungen gegen
Missbrauch getroffen werden. Diese Kriterien hat freilich die alte Fassung des § 19 des Ausländergesetzes in
keiner Weise befriedigend erfüllt.
({0})
Daher hat die damalige Ausländerbeauftragte Cornelia Schmalz-Jacobsen bei der Änderung des Ausländergesetzes in der letzten Legislaturperiode auch die Initiative zur Neufassung des § 19 ergriffen. Leider geriet die
Neuregelung in die Mühlsteine des Vermittlungsverfahrens. Selten traf das Sprichwort - wenn ich das einmal
so flapsig formulieren darf - „Viele Köche verderben
den Brei“ genauer zu als bei der Neuregelung des § 19.
Das, was im Vermittlungsausschuss vereinbart worden
ist, verdiente in keiner Weise den Namen Reform. Es
war schlicht und einfach eine Verschlimmbesserung.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch nach dieser
so genannten Reform von 1997 der Ruf nach einem neuen Tätigwerden des Gesetzgebers nicht verstummt ist.
Anlässe zur Kritik gab immer wieder die Praxis in
den Ausländerbehörden. Fälle wie der schon erwähnte
Fall der Türkin Tülay Oguz, in dem das Ausländeramt
der Stadt Kempten meinte, es läge, trotz fürchterlicher
Misshandlungen, kein Härtefall vor, lösten bundesweit
Kopfschütteln aus. Nachdem Frau Oguz aufgrund eines
jahrelangen Rechtsstreits doch ein Aufenthaltsrecht erhalten hat, hat Ihre grüne Landtagskollegin aus Bayern,
Elisabeth Köhler, nun festgestellt, dass man im Rahmen
der bestehenden Gesetze durchaus politische Handlungsoptionen habe.
Diese Feststellung könnte zu dem Schluss verleiten,
dass eine Neuregelung des § 19 vielleicht doch nicht so
dringlich ist. Ich schließe mich dem nicht an; denn eine
Auswertung der Praxis ergibt zunächst einmal, dass eine
völlig unterschiedliche Handhabung in den einzelnen
Bundesländern existiert. Dies kann vom Bundesgesetzgeber auf längere Sicht nicht akzeptiert werden.
({1})
Entscheidend für eine engherzige oder großzügige
Auslegung durch die Ausländerbehörden ist natürlich
das Meinungsklima, das in den jeweiligen Bundesländern durch die politische Führung geschaffen wird. Daher ist es kein Zufall - Herr Uhl, ich muss das leider aus
der mir vorliegenden Statistik so feststellen -, dass in
Bayern Frauen kaum eine Chance auf Anerkennung als
Härtefall im Sinne von § 19 des Ausländergesetzes haben.
Es liegt also in der politischen Verantwortung der
CSU, wenn Ausländerbehörden den Sinn für nahe liegende, geradezu gebotene humanitäre Lösungen wie im
Fall Oguz verloren haben. Wer seine politische Führung
so wahrnimmt, der muss sich nicht wundern, dass die
Diskussion über eine Neufassung des § 19 nie verstummt ist.
({2})
Deswegen teilt die F.D.P.-Fraktion das Anliegen, die
derzeit bestehenden Auslegungsprobleme zu beseitigen
und für eine bundeseinheitliche Verwaltungspraxis den
Grundstock zu legen.
Gleichwohl, vor allem meine verehrten Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition, wird es in den Ausschussberatungen notwendig sein, sich mit dem, was Sie
uns hier vorgelegt haben, in sehr differenzierter Weise
zu befassen; denn trotz mancher Verbesserungen setzt
die Neuregelung zum Teil an der falschen Stelle an.
Erstens. Die Vierjahresfrist für das eigenständige
Aufenthaltsrecht soll in den Regelfällen auf zwei Jahre
herabgesetzt werden. Für die F.D.P.-Fraktion muss ich
Ihnen ganz ehrlich sagen, dass wir dem sehr skeptisch
gegenüberstehen; denn man darf die Augen vor der
Möglichkeit des Missbrauchs nicht völlig verschließen.
({3})
Je weiter Sie die Regelfrist herabsetzen, umso größer ist
die praktische Gefahr des Missbrauchs. Darüber muss
man jedenfalls im Ausschuss noch einmal sehr gründlich
diskutieren.
Zweitens. Wir begrüßen aber, dass Sie durch Ihre
Neuregelung versuchen, die bisherigen Auslegungsschwierigkeiten bei der Härtefallklausel zu beseitigen.
Ich halte es insbesondere für einen Fortschritt, dass nun
eindeutig festgestellt wird, dass auch auf Umstände
während der Dauer der Ehe in Deutschland bei der Beurteilung zurückzugreifen ist. Dass es auf diese Umstände
nicht entscheidend angekommen war, konnte niemand
verstehen, etwa auch bei dem heute mehrfach zitierten
Fall aus Kempten. In diesem Punkt haben Sie unsere
Unterstützung. Über die Einzelheiten dessen, was Sie
sehr detailliert vorgeschlagen haben, werden wir im
Ausschuss reden.
Dritter und letzter Punkt. Im damaligen Vermittlungsverfahren 1997 wurde als Verschärfung erst im
Vermittlungsausschuss eingeführt, dass selbst eine Frau,
bei der eine besondere oder außergewöhnliche Härte
festgestellt wurde, wegen Sozialhilfebedürftigkeit ausgewiesen werden kann. Auf den tatsächlichen Bezug
von Sozialhilfe kommt es nach dieser Regelung übrigens
überhaupt nicht an.
Graf Lambsdorff hat in einer persönlichen Erklärung
zur Abstimmung am 26. Juni 1997 diese Verschärfung
wie folgt kommentiert - ich zitiere ihn wörtlich -:
Ich bin kein Befürworter exzessiver Zuteilung von
Sozialhilfe.
- So kennen wir alle Graf Lambsdorff. ({4})
Aber diese Regelung ist kleinlich und sie ist
menschlich schäbig. Deshalb lehne ich sie ab.
({5})
Das, was Graf Lambsdorff ausgeführt hat, hilft auch
noch heute.
Das provoziert nun
eine Zwischenfrage der Kollegin Schewe-Gerigk. Möchten Sie sie zulassen?
Ja.
Bitte sehr.
Herr Kollege, haben Sie in der Begründung
zur Kenntnis genommen, dass der Sozialhilfebezug
nicht generell das Kriterium ist, sondern nur dann, wenn
zum Beispiel eine annehmbare Arbeit abgelehnt wird
und deshalb auf Sozialhilfe zurückgegriffen wird? Wenn
die Sozialhilfe zum Beispiel deshalb gezahlt werden
muss, weil die Mutter wegen der Betreuung ihrer Kinder
nicht erwerbstätig sein kann, soll dieses Kriterium überhaupt nicht angewandt werden. Haben Sie das zur
Kenntnis genommen?
Frau Kollegin, das habe
ich nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern ich habe
es mir im Rahmen der Vorbereitung - wie Sie sehen auch noch gelb angestrichen.
Ich habe allerdings, nachdem ich die Begründung gelesen hatte, noch einmal sehr sorgfältig den von Ihnen
vorgelegten Gesetzestext studiert. Ich muss Ihnen sagen,
dass die Begründung nicht mit dem konform geht, was
Sie als Gesetzestext vorschlagen. Ich erkenne Ihre Absicht an, dass Sie das Sozialhilfekriterium - wenn ich es
so sagen darf - entschärfen wollen. Aber ich verstehe
nicht, warum sich das in der Textfassung des Gesetzentwurfs - das ist das Entscheidende - nicht wieder findet.
Deswegen bleibe ich dabei: Ich verstehe nicht, dass
diese Klausel in dem Text Ihres Gesetzentwurfs unverändert geblieben ist und Sie lediglich in der Begründung
für ein, zwei Anwendungsfälle Ihre Absicht darlegen,
was die künftige Anwendung angeht.
({0})
Im Übrigen möchte ich daran erinnern, dass Herta
Däubler-Gmelin in einer persönlichen Erklärung bei der
Abstimmung über das Vermittlungsergebnis 1997 gerade wegen der Sozialhilfeklausel mit Nein votiert hat.
Wie kann die neue Justizministerin Herta DäublerGmelin denn dann heute einen Gesetzentwurf unterschreiben, in dem genau die Sozialhilfeklausel unverändert geblieben ist, die Bayern seinerzeit durchgesetzt
hat?
({1})
Meine Damen und Herren, Sie sehen, wir haben uns
sehr intensiv mit Ihren Vorschlägen befasst.
({2})
Trotz einiger wirklich zutreffender Verbesserungen, die
Sie vorschlagen, wird es uns in den Ausschussberatungen nicht erspart bleiben, die Einzelheiten Ihres Entwurfs sehr sorgfältig und kritisch zu durchleuchten.
({3})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Ulla Jelpke
von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Der heute vorliegende Gesetzentwurf - daran besteht meiner Meinung nach kein Zweifel - war
längst überfällig und findet unsere volle Unterstützung.
Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Frauen wird
von vielen Frauen- und Migrantinnenorganisationen seit
langem gefordert.
Frau Falk und Herr Stadler, es bleibt beschämend für
die alte Regierung, dass sie Tausende von Migrantinnen
so lange in dieser unerträglichen Not gelassen hat und
die Probleme viele Jahre ignoriert hat. Man darf nicht
vergessen, dass dies heute nicht die erste Debatte ist. Ich
kann mich gar nicht mehr genau daran erinnern, wie oft
wir dieses Thema und auch die einzelnen Fälle hier im
Parlament zur Sprache gebracht haben. Dabei sind uns
die vielen Fälle von misshandelten Frauen alle bekannt.
Eine Tageszeitung titelte 1998: „Vom Mann misshandelt - von den Behörden verlassen“.
Frau Wolf und andere Kolleginnen haben schon Fälle
aus Bayern vorgetragen. Herr Stadler hat selbst gesagt,
dass es wohl kaum eine Frau gibt, die die Kriterien der
Härtefallregelung erfüllt. Ich meine, dass diese Urteile
nicht nur kaltschnäuzig, sondern auch menschenverachtend sind. Auch wenn der Missbrauch von einigen Parteien immer wieder in den Vordergrund gestellt wird,
meine ich, dass Menschenrechte Vorrang vor Kontrollen
und Hürden haben müssen. Sie verhindern, dass Frauen
hier wirklich menschenwürdig behandelt werden.
({0})
Ich möchte daran erinnern, dass es allein in Berlin dies macht deutlich, dass es sich nicht um Einzelfälle
handelt - im vergangenen Jahr rund 145 000 Migrantinnen ohne deutschen Pass gab. Wie viele von ihnen von
häuslicher Gewalt betroffen waren, ist statistisch zwar
nicht genau erhoben. Aber wir wissen, dass die Zufluchtseinrichtungen wie Frauenhäuser und andere Stellen zu etwa 50 bis 65 Prozent von Migrantinnen genutzt
werden. Ich denke, das spricht eine deutliche Sprache.
Das geltende Ausländerrecht zwang bisher alle
Migrantinnen ohne deutschen Pass in eine extreme
Abhängigkeit von ihrem Ehemann und leistete so
ehelichen Misshandlungen direkt Vorschub. Selbst die
Bundesvorsitzende der Deutschen Katholischen Jugend
hat deshalb schon vor mehr als einem Jahr von der
Bundesregierung gefordert, für Frauen endlich ein
eigenständiges Aufenthaltsrecht zu schaffen.
Wir haben bei den Beratungen über die Reform des
Staatsbürgerschaftsrechts einen Antrag zum eigenständigen Aufenthaltsrecht für Frauen eingebracht, der leider
abgelehnt worden ist. Sie werden verstehen, dass ich das
hier noch einmal anmerke.
Wie gesagt, es liegt ein Gesetzentwurf vor, mit dem
endlich versucht wird, die in der Tat empörende Rechtlosigkeit der Migrantinnen zu korrigieren und aufzuheben. Die PDS wird diesen Gesetzentwurf auf jeden Fall
unterstützen. Er bedeutet für viele Frauen eine wichtige
Verbesserung sowie einen großen Schritt zu mehr
Rechtssicherheit und hoffentlich zu einer bundeseinheitlichen Praxis. Ehrlich gesagt denke ich aber, dass noch
ein bisschen nachgebessert werden müsste.
Die Änderung, dass künftig nicht mehr eine „außergewöhnliche Härte“, sondern nur eine „besondere Härte“ vorliegen muss, um eine Fortführung der Ehe unzumutbar zu machen und ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu begründen, wird von uns begrüßt und unterstützt. Der Begriff der „außergewöhnlichen Härte“ war
und ist so eng gefasst, dass er in der Vergangenheit in
einigen Bundesländern - außer in Fällen von schwerster
Körperverletzung - nie zur Anwendung kam.
Trotzdem muss ich ein wenig Wasser in den Wein
gießen: Ein sofortiges, uneingeschränktes eigenständiges
Aufenthaltsrecht für Ehefrauen ist leider auch mit dem
heutigen Regierungsentwurf noch nicht erreicht. Die
Kollegin der Grünen hat in diesem Zusammenhang bereits einiges zur Vergangenheit gesagt. Im Gegensatz zu
Frau Falk bin ich der Meinung, dass wir in diesem Punkt
einen Schritt weiter hätten gehen sollen.
Völlig unbegründet ist auch, wieso eigentlich eine
zweijährige Ehe im Inland nachgewiesen werden muss.
Es gibt mehr als genug Fälle, bei denen zum Beispiel
eine Ehe im Ausland schon lange bestand und ein Jahr
nach Einreise der Ehefrau in die Bundesrepublik in
die Brüche ging. Warum sollen diese Frauen auch
gemäß dem jetzigen Gesetzentwurf gezwungen werden, ihre Ehe ein weiteres Jahr zu verlängern? Ich kann,
ehrlich gesagt, keinen vernünftigen Grund dafür erkennen.
Ich erinnere auch daran, dass der Innenminister von
Nordrhein-Westfalen bereits 1998 einen Erlass herausgegeben hat, wonach eine psychische und physische
Misshandlung, die Betreuung eines behinderten Kindes oder eine im Fall der Abschiebung drohende
schwerwiegende gesellschaftliche Diskriminierung im
Heimatland unter den Begriff der „außergewöhnlichen
Härte“ fallen und somit ein sofortiges eigenständiges
Aufenthaltsrecht begründen. Schon damals hieß es - Zitat: - „Eine bundeseinheitliche Praxis wäre für
alle Betroffenen wünschenswert.“ - Was hindert Sie eigentlich daran, nun endlich bundesweit ein sofortiges
eigenständiges Aufenthaltsrecht für Frauen zu beschließen?
Auch die Regelung, dass der Sozialhilfebezug nur
dann kein Versagungsgrund ist, wenn die Sozialhilfe
wegen der Betreuung minderjähriger Kinder gezahlt
wird - dies wurde hier schon angesprochen -, geht uns
nicht weit genug.
Frau
Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme gleich zum Schluss.
- Wir sind der Meinung, dass soziale Not kein Grund
sein darf, den betroffenen Frauen ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht zu verwehren. Wie gesagt - ich habe es
schon angekündigt -, wir werden über diese Punkte natürlich noch streiten. Das ändert aber nichts daran, dass
wir den vorliegenden Gesetzentwurf begrüßen und uns
freuen, dass es endlich für die Migrantinnen in diesem
Land eine Erleichterung gibt.
Danke.
({0})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Lilo Friedrich von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf ist nach der Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes ein weiterer bedeutender Schritt hin zu einer menschenwürdigeren Gesellschaft, insbesondere für hier lebende Migrantinnen.
Nach der bisherigen Gesetzeslage haben ausländische
Ehefrauen und Ehemänner in den ersten vier Ehejahren
in Deutschland kein eigenes, sondern ein vom Ehepartner abgeleitetes Aufenthaltsrecht, mit der Folge, dass
während dieser Zeit die Frauen im Fall einer Trennung
oder Scheidung in ihr Heimatland ausgewiesen werden.
Häufig bedeutet dies, dass ausländische Ehefrauen aus
Angst vor der Ausweisung über keine Handhabe gegenüber ihren gewalttätigen Ehemännern verfügen.
Die Diskussion über eine Reform des eigenständigen
Ehegattenaufenthaltrechtes wird seit langem geführt und
Änderungen werden von Frauenorganisationen, Kirchen
und Verbänden gefordert. Doch bisher haben alle Versuche - wie zuletzt der der ehemaligen Bundesregierung
im Jahre 1997 -, diese unerträgliche Situation zu beenden, zu keinem zufrieden stellenden Ergebnis geführt.
Wir, die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen, haben deshalb bereits im Koalitionsvertrag vereinbart, die im ausländerrechtlichen Vermittlungsverfahren nur unzureichend umgesetzte Reform des eigenständigen Ehegattenaufenthaltsrechts zu Ende zu führen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung
des Ausländergesetzes werden wir diese angekündigte
Reform nun endlich auf den Weg bringen können.
({0})
Zielsetzung ist, die Voraussetzungen zur Erlangung
eines eigenständigen Aufenthaltsrechts für ausländische
Ehegatten zu erweitern und zu erleichtern, dies insbesondere mit dem Ziel, unzumutbare Verhältnisse während der Ehe in Deutschland zu berücksichtigen. Hierzu
wollen wir § 19 des Ausländergesetzes wie folgt ändern:
Erstens. Die erforderliche Ehebestandszeit wird von
vier auf zwei Jahre verkürzt. Denn wir halten als generelle Grenze für die Erlangung eines eigenständigen
Aufenthaltsrechts bereits einen Zeitraum von zwei Jahren für angemessen, in denen die eheliche Gemeinschaft
in Deutschland geführt wurde.
Zweitens. Künftig sollen Umstände während der Ehe,
die ein Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft
unzumutbar machen, Berücksichtigung finden, wenn sie
eine besondere Härte darstellen.
In der Vergangenheit hat die Regelung des eigenständigen Aufenthaltsrechtes für Ehegatten nach Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaften immer wieder zu Diskussionen geführt. Deshalb wurde § 19 des
Ausländergesetzes bereits in der letzten Legislaturperiode geändert. Der damals gewählte Begriff der „außergewöhnlichen Härte“ hat in der Praxis jedoch zu zahlreichen Auslegungsproblemen und Unzulänglichkeiten
geführt.
Auch in der Rechtsprechung ist es umstritten geblieben, ob eine Härte im Sinne der Vorschrift auch allein
darin gesehen werden kann, dass der Ehegatte die eheliche Lebensgemeinschaft wegen erheblicher Verletzung
von Rechtsgütern aufgelöst hat. Diese Auslegungsschwierigkeiten und damit einhergehende willkürliche
Entscheidungen durch Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte wird es durch unsere Reform dann nicht
mehr geben.
Nunmehr wird klargestellt, dass ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht bereits dann zu erteilen ist, wenn der
Ehegatte durch die Rückkehr in das Herkunftsland ungleich härter getroffen wird als andere Ausländer, die
nach kurzen Aufenthaltszeiten Deutschland verlassen
müssen. Darüber hinaus darf es kein Kriterium mehr
sein, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis Alleinerziehenden versagt wird, weil sie wegen der Betreuungsbedürftigkeit minderjähriger Kinder auf den
Bezug von Sozialhilfe angewiesen sind.
In welchen Fällen eine besondere Härte gegeben ist,
wird in dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf präzise
ausgeführt. Eine besondere Härte liegt erstens dann vor,
wenn der Ehegatte die eheliche Lebensgemeinschaft
aufgelöst hat und in Zusammenhang mit der Rückkehrverpflichtung eine erhebliche Beeinträchtigung seiner
schutzwürdigen Belange droht. Dies ist zum Beispiel der
Fall durch gesellschaftliche Diskriminierungen im Herkunftsland, die eine eigenständige Lebensführung nicht
ermöglichen, durch eine drohende Zwangsabtreibung,
durch Nichtbeachtung des Kindeswohls, für dessen Erhalt ein weiterer Aufenthalt in Deutschland erforderlich
ist, oder wenn die Gefahr besteht, dass durch den Aufenthalt im Ausland der Kontakt zum Kind willkürlich
untersagt wird.
Zweitens liegt eine besondere Härte vor, wenn besondere Umstände während der Ehe in Deutschland es
dem Ehegatten unzumutbar machen, zur Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts an der ehelichen
Lebensgemeinschaft festzuhalten. Solche Umstände sind
zum Beispiel physische oder psychische Misshandlung
oder sexueller Missbrauch oder Misshandlung des Kindes.
Die dritte entscheidende Änderung des § 19 des Ausländergesetzes besteht darin, dass künftig auch das Kindeswohl als schutzwürdig berücksichtigt wird und eine
Erteilung des eigenständigen Aufenthaltsrechts rechtfertigen soll. Dies entspricht auch internationalen Standards
wie der UN-Kinderrechtskonvention.
Besonders wichtig erscheint mir bei unserer Reform,
dass die Gründe für die Anerkennung von Härtefällen
nun bundeseinheitlich in den Ländern geregelt werden.
Bisher ist dies in den Bundesländern sehr unterschiedlich gehandhabt worden, sodass es keine einheitliche
Rechtslage für die Frauen gab.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist im Bundesrat nicht
zustimmungspflichtig. Aber er bindet die Länder bei
seiner Umsetzung eng an die Vorgaben des Bundesgesetzgebers.
Der Kampf gegen häusliche Gewalt kann nicht an der
eigenen Haustür Halt machen. Wenn wir die Vorgaben
unseres Grundgesetzes, nämlich die Würde des Menschen und das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu
wahren, ernst nehmen, dann müssen wir diese Werte
auch den hier lebenden ausländischen Frauen garantieren.
Lilo Friedrich ({1})
({2})
Deshalb ist es mir als Innen- und Menschenrechtspolitikerin wichtig, dass keine Frau ein Martyrium durchleiden muss, um in Deutschland bleiben zu können.
Frauenrechte sind Menschenrechte.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das
Wort hat jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der § 19
des Ausländergesetzes regelt in der Tat einen schwierigen Lebenssachverhalt. Es gibt den Nachzug von Frauen
und Männern nach Deutschland. Es gibt Gewaltbereitschaft bei den Nachziehenden und bei den hier in
Deutschland Lebenden. In all diesen Fällen kann es zu
Scheidungen oder Trennungen kommen. Wir müssen
dann klären, wer ein eigenständiges Aufenthaltsrecht
bekommt und wer nicht.
Im geltenden Recht gibt es eine Kombination zwischen einer Fristenregelung, bei der die Mindestzeit vier
Jahre beträgt, und einer Härtefallregelung. Eine außergewöhnliche Härte muss vorliegen; dann wird ein eigenständiges Aufenthaltsrecht gewährt. Dem Grunde nach
ist dies vernünftig geregelt, weil man die Vielgestaltigkeit der Lebenssachverhalte auf diese Weise am besten
erfassen kann.
Das Ziel ist - wenn Sie so wollen - ein zweifaches:
Erstens. Es geht um das Ziel der Integration der hier
lebenden Ausländer. Wenn sie vier Jahre hier waren,
haben sie sich erfahrungsgemäß integriert und sollen bei
einem Scheitern der Ehen nicht ausgewiesen werden.
Zweitens. Es geht um das Ziel, den Nichteinwanderungsgrundsatz aufrechtzuerhalten. Wir sind kein
Einwanderungsland und man sollte nicht im großen Stil
auf dem Wege der Deutschverheiratung - sei sie
missbräuchlich oder nicht - eine Einwanderung ermöglichen.
Lassen Sie mich nun zu Ihren Vorschlägen zur Änderung des Ausländergesetzes kommen. Sie sagen, eine
Fristverkürzung von vier auf zwei Jahre sei eine bessere Lösung. Ihre Begründung lautet, dies sei angemessen.
Mehr ist Ihnen dazu nicht eingefallen. Ich habe gesucht,
ob noch weitere Begründungen geliefert werden, aber
dies war nicht der Fall. Nun kann man sagen: Eine Fristverkürzung auf zwei Jahre löst das Problem der Härtefälle. Innerhalb von vier Jahren müsste die Frau zu viel
ertragen. Aber ob sie zwei oder vier Jahre geschlagen
wird und ein Martyrium durchleidet: Wo ist hier Ihre
Lösung?
({0})
Ihre Vorschläge sind keine Lösung, sondern nach wie
vor Willkür.
Ich bin der Meinung, dass ein Mensch, der aus seinem Heimatland nach Deutschland kommt und zwei
Jahre hier gelebt hat, sich noch gar nicht so sehr integriert haben kann und sich von seinem Heimatland noch
gar nicht so weit entfernt haben kann, dass eine Rückkehr in dieses Heimatland eine unzumutbare, außergewöhnliche Härte darstellen muss.
({1})
Deswegen kommt es darauf an, diese Fälle einzeln zu
klären. Es darf nicht pauschal und durch Automatismus
im Wege der Zweijahresfristenregelung zu einem eigenständigen Aufenthaltsrecht kommen.
Wenn Sie die Frist auf zwei Jahre verkürzen, lösen
Sie damit eine Fülle von Missbrauchsmöglichkeiten aus.
Wir wissen aufgrund der Erfahrung - ich jedenfalls weiß
es aus meiner Erfahrung; ich hatte unter anderem elf
Jahre die Ausländerbehörde in München zu leiten -,
({2})
dass es eine Vielzahl von Scheinehen gibt, die durch Ihre Vorgehensweise noch viel mehr werden würden.
Denn es wäre einfach, solche Scheinehen einzugehen.
Menschenhandel würde erleichtert werden.
({3})
- Frau Kollegin, in München gab es den Fall eines albanischen Drogendealers,
({4})
der natürlich hätte ausreisen müssen, es sei denn, er wäre deutsch verheiratet worden. Daraufhin hat er sich eine
deutsche Drogenabhängige zur Frau genommen. Diese
musste natürlich, weil sie von ihm abhängig war, alles,
was er sagte, zugeben und bestätigen. Das heißt: Aufgrund dieser Eheschließung konnte der Betreffende in
Deutschland bleiben. Wollen Sie so etwas wirklich fördern? Halten Sie es mit Ihren Vorstellungen von Frauenrechten für vereinbar, wenn Sie so etwas fördern?
({5})
Wir hatten viele Fälle von Nigerianern, die in
Deutschland Asylverfahren betrieben haben - teilweise
mehrere unter Alias-Personalien - und deren Asylantrag
abgelehnt wurde. Durch die Heirat mit einer Deutschen
Lilo Friedrich ({6})
haben sie aber das Aufenthaltsrecht erhalten. Das wollen
Sie alles fördern. Warum eigentlich?
({7})
Es gibt auch die Fälle von Schleusern, die Frauen aus
Osteuropa nach Deutschland als Tänzerinnen und als
Prostituierte - zu welchen Zwecken auch immer - einschleusen. Diese Fälle müssten Ihnen doch bekannt sein.
Es müsste doch auch Ihre Absicht sein, dieses zu verhindern; es müsste doch auch Ihr gesetzgeberisches Ziel
sein, das nicht zu befördern oder zu erleichtern.
({8})
Mit dieser Änderung erleichtern Sie jedenfalls diesen
Typen das Geschäft.
({9})
Der alte Gesetzestext regelt Härtefälle in der Weise,
dass er vorschreibt, dass im Falle des Scheiterns der Ehe
zunächst einmal der Härtefall im Heimatland gegeben
sein muss. Das heißt, die Rückkehr in das Heimatland
muss unzumutbar sein. Diese Regelung ist logisch und
auch in Ordnung.
Aber das geltende Recht ermöglicht auch - das ist bereits vom Kollegen Stadler gesagt worden; es wurde seinerzeit im Vermittlungsausschuss so festgelegt - die Berücksichtigung eines Härtefalls im Inland, also in
Deutschland. Das heißt, wenn die Fortsetzung der Ehe
unzumutbar ist, dann kann die betreffende Person, Mann
oder Frau, hier bleiben.
Zugegeben: Der Gesetzeswortlaut könnte verbessert
werden. Ich gehe aber im Gegensatz zu Ihnen, Frau
Friedrich, davon aus, dass es sich um ein zustimmungspflichtiges Gesetz handelt, das im Vermittlungsausschuss landen wird, und dass man da so etwas redaktionell nachbessern kann.
({10})
Es gibt keine Notwendigkeit für Ihre Forderungen, die
lediglich zu einer Verschlechterung und nicht zu einer
Verbesserung führen würden.
Frau Kollegin Wolf, ich möchte Sie einmal mit folgendem Fall konfrontieren.
({11})
- Ich rede nur aus Erfahrung. Ich werde gleich noch
plastische Beispiele aus dem täglichen Leben bringen. Eine junge, in Deutschland aufgewachsene und lebende
Türkin - von ihnen gibt es ja sehr viele - hat unsere
Wertvorstellung verinnerlicht. Sie wird von ihrer Familie mit einem streng religiösen osttürkischen Mann vom
Lande zwangsverheiratet; diesen Fall gab es auch in
meiner Behörde.
({12})
Der Türke reist nach Deutschland und beide leben zusammen in Deutschland.
Er stört sich aber an dem westlich geprägten Lebenswandel seiner jungen Ehefrau. Sie, emanzipiert, wie sie
nun mal ist, verhöhnt ihn wegen seiner rückständigen
Lebensauffassung. Das ist ganz normal, es treffen zwei
Welten aufeinander. Er empfindet ihr Verhalten natürlich als eine Belästigung - Sie würden darin eine schwere psychische Misshandlung durch diese emanzipierte
Ehefrau sehen -, die er nicht hinnimmt. Ihm ist das Weiterführen der Ehe nicht zumutbar. Daher verlässt er die
eheliche Wohnung.
({13})
Schauen Sie sich den Fall in Kempten einmal genau
an! Kurde heiratet Kurdin in Deutschland. Sie will und
kann mit ihm nicht mehr zusammenleben. Die Ehe ist
ein Martyrium für sie.
({14})
Er zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus. Er kommt
aber zurück und vergewaltigt sie. Daraufhin reicht sie
die Scheidung ein. Aber in der Zwischenzeit bekommt
sie noch ein Kind von ihm. Die Behörde glaubt ihr nicht.
Das war ein schwerer Fehler und eine unsensible Entscheidung der Behörde in Kempten. Aber dafür gibt es
ja Gott sei Dank Gerichte, die solche Entscheidungen
korrigieren und in diesem Fall korrigiert haben.
({15})
An diesem Beispiel kann man aber auch einen anderen Punkt erkennen: Wir müssen Frauen, die hier leben,
vor solchen gewalttätigen Männern schützen, die nach
Deutschland ziehen und die sich niemals in unserem
Land integrieren können.
({16})
Den Kolleginnen und Kollegen - von den Grünen, von
der PDS, von wo immer -, die diese Änderung wollen,
sage ich: Sie meinen es gut; Sie wollen diesen Frauen
helfen. Aber in Wahrheit helfen Sie je nachdem, wie der
Fall liegt, auch den männlichen Peinigern. Lassen Sie
mich zum Schluss noch ein paar ganz konkrete Fälle
vortragen. Frau Kollegin Wolf, es gibt eben nicht nur
den einen Fall, den Sie - warum auch immer - im Auge
haben, nämlich den Fall einer nachziehenden Ausländerin, die von brutaler deutscher Männerhand gepeinigt
wird. Diesen Fall gibt es zwar; aber es gibt auch ganz
andere Fälle.
({17})
Beispiel: Der Ägypter Ahmed kommt nach München
als Mathematikstudent. Das Studium nimmt er aber nie
auf. Er weiß, er muss eines Tages ausreisen. Das will er
aber nicht. Also sagt er seiner Vermieterin - er ist 25, sie
ist 63 -: Ich heirate dich; als Gegenleistung darf ich in
Deutschland bleiben. Er verspricht auch, die Vermieterin zu pflegen, für sie zu sorgen; denn sie ist schwer
körperbehindert. Kurze Zeit nach der Eheschließung ich berichte aus den Akten in München - pflegt er sie
nicht, sondern schlägt er sie, von Woche zu Woche
mehr. Er raubt ihr den Pass, er raubt ihr das Geld, den
Schmuck und alles, schließt sie in der Wohnung ein, sodass sie nicht mehr herauskommt. Nur einem glücklichen Umstand war es zu verdanken, dass sie ins Frauenhaus flüchten konnte.
Wollen Sie diesem Typen durch Ihre zweijährige
Fristenregelung helfen? Er kann nach zwei Jahren hier
bleiben, weil er ein eigenständiges Aufenthaltsrecht hat,
und kann weiter diese Frau peinigen.
({18})
Das wollen Sie nicht, aber Sie bewirken es, ohne es
zu wollen.
Herr Präsident, lassen Sie mich noch einen zweiten
und dritten Fall kurz vortragen.
Ihre Redezeit verlängert sich nicht automatisch. Sie ist abgelaufen.
({0})
Dann gestatten Sie
mir bitte, dass ich ganz kurz nur noch einen Fall vortrage. Es geht um einen Nigerianer, der seine Aufenthaltserlaubnis dadurch erlangt hat, dass er eine deutsche Touristin in Lagos geheiratet hat. Er ist dann mit ihr nach
Deutschland eingereist und hat, weil er früher Asylbewerber in Deutschland gewesen ist, sofort wieder Kontakt zu seiner nigerianischen Freundin aufgenommen,
die als Asylbewerberin noch hier war. Seine deutsche
Frau hat er gezwungen zu gestatten, dass seine nigerianische Freundin in die eheliche Wohnung mit einzieht.
Das hat sie freilich abgelehnt. Daraufhin hat er sie so
sehr geschlagen, dass sie die Polizei rufen musste. Sie
reichte die Scheidung ein.
({0})
Da aber die Dreijahresfrist für ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht noch nicht abgelaufen war - das galt
damals -, hat er natürlich sofort eine neue deutsche Frau
geheiratet und er lebt nach wie vor in Deutschland. Das
ist das Produkt Ihres Gesetzesvorschlags mit der Fristenregelung von zwei Jahren.
({1})
Das, meine Damen und Herren, lehnen wir aus guten
Gründen ab: weil wir Frauen schützen wollen.
({2})
Als letzte Rednerin in dieser Aussprache hat das Wort die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Sonntag-Wolgast.
Herr Präsident!
Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich war eigentlich schon ganz hoffnungsvoll bei einigen Beiträgen
aus der Opposition, zum Beispiel bei der differenzierten Auseinandersetzung von Frau Falk mit unserem
Gesetzentwurf oder auch bei den Argumenten des Kollegen Stadler. Ich dachte also, wir seien auf gutem Wege. Nur leider haben Sie, Herr Kollege Uhl, uns auf den
Boden der nicht so erfreulichen Tatsachen zurückgeführt.
({0})
Herr Uhl, was mir auffiel: Sie haben viele Mühe und
viel Argumentationsverrenkungen aufgewandt, um die
Argumente, die für das Gesetz und für die Änderung
sprechen, genau in das Gegenteil zu verkehren und Fälle
vorzuführen, die Sie als Beweis anführen, die aber in
keiner Weise der Realität entsprechen, die wir besser regeln wollen.
({1})
Herr Uhl, gerade weil es Schicksale gibt wie das der
30-jährigen Kurdin Tülay Oguz - es ist heute mehrfach
zitiert worden -, müssen wir etwas tun. Ich finde: Was
jetzt geschieht, ist längst überfällig gewesen. Man erlebt
manchmal Momente im Parlament, wo man richtig aufatmet und sagt: Na endlich!
Es ist wirklich ein guter Tag. Wenn Sie einmal auf
den Antrag schauen, stellen Sie fest, dass zunächst alle
Parlamentarierinnen, die dies unterstützen, genannt werden und dann die Männer folgen. Das kommt nicht alle
Tage vor. Das ist auch ein Zeichen dafür, dass sich
Frauen um dieses Thema, das tatsächlich in erster Linie
Frauen betrifft, kümmern, tätig werden und gemeinsam
Druck ausüben. Wir haben wirklich lange um diese Reform des § 19 des Ausländergesetzes gerungen, um ausländischen Ehegatten und vor allem Ehegatinnen deutlich früher als bisher das eigenständige Aufenthaltsrecht zu geben und um Härtefälle wirklich so zu regeln,
dass es dem humanitären Anspruch des Staates gerecht
wird.
({2})
Schon vor Jahren ist die Forderung nach einem eigenständigen Aufenthaltsstatus nicht erst nach vier, sondern
schon nach zwei Jahren ehelicher Gemeinschaft und
nach einer großzügigeren Handhabung im Härtefall erhoben worden, und zwar nicht nur von uns, den Parlamentarierinnen und Parlamentariern, sondern auch von
vielen Frauenverbänden, Menschenrechtsorganisationen
und Vertretern aus Kirchen und Gewerkschaften. Das,
was heute eingebracht wird, zeigt Augenmaß und stützt
sich auf einen breiten Konsens in der Gesellschaft. Deswegen hoffe ich auf zügige Beratungen und auf baldige
Verabschiedung des Gesetzentwurfes. Außerdem, liebe
Kollegen und vor allem liebe Kolleginnen, hoffe ich
noch immer auf Zuspruch über die Grenzen zwischen
Regierung und Opposition hinweg. Den haben diese Initiative und diejenigen, die es betrifft, wahrlich verdient.
({3})
Herr Kollege Uhl, Sie glaubten, dieses Gesetz sei zustimmungspflichtig. Diesen Punkt haben wir in unserem
Hause gründlich prüfen lassen. Wir können tatsächlich
zu einer schnellen und zügigen Verabschiedung kommen, ungebrochen durch irgendwelche Kompromisse,
die wir sonst machen müssten. Ich finde, dass der Ansatz nicht über das Ziel hinausschießt; er ist vielmehr
abgewogen und angemessen.
({4})
Einige Bemerkungen dazu, dass die Frist zur Erlangung des eigenständigen Aufenthaltsrechts halbiert werden soll. Viele, die sich in der Lebenswirklichkeit auskennen, sagen, dass man einer Halbierung zustimmen
kann. Ganz auf eine solche Frist verzichten wollten und
können wir nicht, denn ein gewisses Maß an Integration
sollen die Betroffenen - da haben Sie Recht - im Regelfall erlangt haben; außerdem wollen wir Scheinehen
vermeiden. Aber ich möchte den Unkenrufern im Lager
der Gegner dieses Gesetzentwurfs, die jetzt massenhaften Missbrauch unseres Aufenthaltsrechts via Eheschließung wittern, entgegenhalten: Erstens sind die zwei Jahre der richtige Zeitraum, um solche Risiken einzudämmen. Zweitens lehnt diese Bundesregierung eine
Migrationspolitik, die ausschließlich von Misstrauen gegenüber Ausländern geprägt wird, ab.
({5})
Meine zweite Bemerkung betrifft die Härtefälle.
Hierunter fallen diejenigen, die nach kurzer Zeit von ihren Ehepartnerinnen oder Ehepartnern unerträglich schikaniert und gequält werden. Solche Fälle dulden keine
Wartefrist - weder vier noch drei, noch zwei Jahre. Die
Verbesserung, die 1997 im Zuge der Veränderungen des
Ausländergesetzes erreicht worden ist, bleibt, Frau Kollegin Falk, unzulänglich. Diese Verbesserung beschränkt
sich auf den Begriff der so genannten außergewöhnlichen Härte. Darunter versteht man in erster Linie das,
was einem Ehepartner in der Heimat droht, wenn er
mangels eigener Aufenthaltsberechtigung Deutschland
verlassen muss. Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, spricht von „besonderer Härte“ und will eben auch
die Fälle umfassen, bei denen das weitere Festhalten an
einer tief zerrütteten Ehe in Deutschland unzumutbar
geworden ist und auch die seelische und körperliche Gesundheit von Kindern gefährdet ist.
Sie beschwören die „Einladung zur Zwangsprostitution“. Genau das müssen Frauen eher dann erleiden, wenn
sie kein eigenständiges Aufenthaltsrecht haben, wenn sie
sich nicht wehren können, wenn sie solchen schikanösen
Behandlungen ausgesetzt werden. Gerade dagegen wird
das Gesetz einen Damm errichten.
({6})
Wir helfen den Opfern dieser Verhältnisse und befreien
sie von dem Druck, sich misshandeln und ausbeuten zu
lassen, weil sie außerhalb einer schrecklich zerstörten
Gemeinschaft keine Existenzmöglichkeit für sich sehen.
Das, meine Kolleginnen und Kollegen, ist ein Beitrag
zur Stärkung der Menschenwürde und zum Abbau von Gewalt im intimsten Bereich des Zusammenlebens.
Die Gesetzesänderung dient aber auch dem Frieden in
unserer Gesellschaft und der Integration von Zuwanderern; denn ein eigenständiges Aufenthaltsrecht stärkt
diejenigen, die sich in dieser Gesellschaft wohl fühlen
wollen, die sich hier eingliedern wollen. Genau das, was
Sie als Gefahr an die Wand malen, sehe ich nicht. Ich
sehe eher, dass das Gesetz in einer ganz anderen Weise
und in einer ganz anderen Richtung hilft.
Das Fazit: Nach dem neuen Staatsangehörigkeitsgesetz, nach der Einigung mit den Ländern über eine Altfallregelung für langjährig hier lebende Familien ist dies
die dritte Innovation, die diese Koalition in der Ausländerpolitik auf den Weg bringt. Man könnte so schön offiziell sagen: Die Bundesregierung begrüßt das. Ich gehe
ein wenig weiter. Ich sage: Ich bin froh und erleichtert,
dass wir diesen Reformschritt endlich tun.
Danke schön.
({7})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/2368 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens
Rössel, Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Einstieg in eine umfassende Reform der Finanzierung der Städte, Gemeinden und Landkreise ({1})
- Drucksachen 14/1302, 14/2556 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Scheelen
Heidemarie Ehlert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
PDS eine Redezeit von 5 Minuten erhalten soll. Gibt es
dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel von der PDS-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Bund und auch die Länder haben die finanziellen Grundlagen kommunaler
Selbstverwaltung ausgezehrt. Die kommunalen Investitionen entwickeln sich rückläufig. Die Möglichkeiten,
Zuschüsse an soziale, soziokulturelle und ökologische
Vereine bei der Erfüllung der so genannten freiwilligen
Aufgaben zu geben, sind spürbar eingeschränkt. Der
Bund und auch die Länder tragen damit dazu bei, dass
die demokratischen Grundlagen dieses Staates zumindest geschwächt werden. Das ist nicht hinnehmbar.
({0})
Die Bundesregierung hat in ihrer Koalitionsvereinbarung zugesagt, die Finanzkraft der Kommunen zu stärken und der kommunalen Selbstverwaltung neuen Anschub zu geben. Wer betrachtet, was seit dieser Zeit passiert ist, muss maßlos enttäuscht sein. Die Einsetzung
einer internen Regierungskommission mag unterstützenswert sein, reicht aber nicht aus. Nehmen wir die
Fakten, wie der Bund speziell die kommunale Finanzausstattung beeinträchtigt:
Die Sanierung des Bundeshaushaltes - dies liegt
nur wenige Wochen zurück - wird vorwiegend zu Lasten der sozial Schwachen, aber auch der Länder und
Kommunen vollzogen. Der Bund hat versucht, etwa
3 Milliarden DM der Einsparungen zu Lasten der Länder bzw. der Kommunen zu verlagern. Die Abschaffung
der originären Arbeitslosenhilfe, ein sozialpolitisch verwerflicher Akt, hat die finanziellen Grundlagen der
Kommunen allein mit nahezu 1 Milliarde DM ohne entsprechenden Ausgleich belastet. Die auswuchernden Sozialhilfeetats sind dadurch weiter angestiegen und haben die Möglichkeiten, Probleme im Interesse der Bürgerinnen und Bürger zu lösen, erheblich geschmälert.
Darüber hinaus wurde der Unterhaltsvorschuss des Bundes weggekippt und auf die Finanzgrundlagen der
Kommunen verlagert. Auch das ist nicht hinnehmbar.
Mit der Unternehmensteuerreform, die vorgesehen
wird, geht die Bundesregierung einen ähnlichen Weg.
Durch die eingeräumte Möglichkeit der Verrechnung
des Gewerbesteueraufkommens mit der Einkommensteuerschuld werden die Kommunen, sollte dieser Gesetzentwurf im Bundestag verabschiedet werden, vom
Jahre 2001 bis zum Jahre 2004 mit Belastungen in Höhe
von 4,5 Milliarden DM betroffen. Das sind die neuesten
Schätzungen des Deutschen Städte- und Gemeindebundes - eine unverantwortliche Situation.
({1})
Zugleich soll die Gewerbesteuerumlage als Ausgleich diese Umlage ist an Bund und Länder zu zahlen; von
diesem Aufkommen haben die Gemeinden nichts - nach
dem Willen der Bundesregierung von derzeit 20 Prozent
auf 26 Prozent im Jahr 2001 gesteigert werden. Das bedeutet, dass die Kommunen 4,1 Milliarden DM, die ihnen zurzeit noch zur Lösung ihrer eigenen Aufgaben zur
Verfügung stehen, nicht mehr haben würden.
All das zeigt, die rot-grüne Bundesregierung hat ihre
Koalitionsvereinbarung offenbar ad acta gelegt und sogar einen gegenteiligen Weg eingeschlagen. Das ist
nicht zu verantworten.
({2})
Dem steht gegenüber, dass die PDS-Bundestagsfraktion ein alternatives Angebot für den Einstieg in
eine kommunale Finanzreform gemacht hat. Dieser Einstieg beinhaltet insbesondere folgende Grundsätze: Wir
sind erstens dafür, dass auf Bundesebene endlich das so
genannte Konnexitätsprinzip eingeführt wird. Es besagt, dass der Bund und auch die Länder bei der Verlagerung von Aufgaben an die Städte und Gemeinden
auch dafür zu sorgen haben, dass die finanziellen Möglichkeiten gleichermaßen übertragen werden.
({3})
Dieser Grundsatz wird vehement belastet und verletzt.
So werden etwa 25 Prozent der Sozialhilfekosten der
Gemeinden alleine dafür genutzt, die finanziellen Folgen
der Langzeitarbeitslosigkeit zu bezahlen, eine Aufgabe,
die ganz und gar nichts mit der Verantwortung der
Kommunen und ihrer Daseinsvorsorge zu tun hat.
Zweitens verlangen wir, dass die Gemeinden stabile,
sichere, eigenverantwortliche Planungsgrundlagen für
ihr kommunales Handeln erhalten. Als einen ersten
Schritt schlagen wir vor, den Anteil der Städte und Gemeinden an der Lohn- und Einkommensteuer von derzeitig 15 Prozent auf 16 Prozent zu erhöhen. Das ist gerade einmal der Ausgleich für Fehlentwicklungen der
vergangenen Jahre.
Drittens. Besonders belastet und betroffen sind aufgrund der eigenen Steuerschwäche die ostdeutschen
Gemeinden. Daher fordern wir die Wiederauflage einer
kommunalen Investitionspauschale des Bundes, was
durchaus verfassungsrechtlich möglich ist und wie wir
es im Grundsatz 1991 und 1993 bereits hatten. Dadurch
könnten die Gemeinden in Abhängigkeit von ihrer Einwohnerinnen- und Einwohnerzahl über stabile Möglichkeiten verfügen, die rückläufige Investitionstätigkeit zu
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
stoppen, die die Arbeitslosenzahlen so besonders dramatisch nach oben getrieben hat.
({4})
Wir verlangen, dass auch ökologische Momente bei
der Erhebung der Grundsteuer berücksichtigt werden.
Hier gibt es Chancen, die es zu nutzen gilt.
Ich bitte Sie, im Interesse der Städte, Gemeinden und
Landkreise, ihrer Einwohnerinnen und Einwohner sowie des sozialen Milieus in den Städten und Gemeinden: Stimmen Sie dem Antrag der PDS für eine Reform der Kommunalfinanzen zu und lehnen Sie den
Beschlussantrag des federführenden Finanzausschusses
ab.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({5})
Als
nächster Redner hat der Kollege Bernd Scheelen von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man muss den Zuhörern auf den Rängen, aber auch den Menschen draußen zu dieser Debatte sagen, dass am 13. Februar in Halle Oberbürgermeisterwahl ist und der Kollege Rössel dort Kandidat
ist.
({0})
Ich glaube, dass es damit zusammenhängt, dass die PDS
dieses Thema rechtzeitig entdeckt hat, um es heute hier
zu behandeln.
({1})
Herr Kollege Dr. Rössel, wir kennen uns ja ganz gut.
Trotzdem meine ich, Sie müssten nicht Oberbürgermeister in Halle werden. Ich bin dafür, dass Ingrid Häußler
Oberbürgermeisterin in Halle wird.
({2})
- Dass er für Sie ein Problem ist, kann ich mir vorstellen.
({3})
Politik erfährt der Bürger, wenn er nicht gerade Besucher in diesem Hause ist, am unmittelbarsten in seiner
Kommune, in seiner Stadt, in seiner Gemeinde, in seinem Landkreis, sei es zum Beispiel durch die Erhöhung
der Müllgebühren, für die die Gemeinde die Verantwortung trägt, sei es durch die Unterrichtsversorgung in den
Schulen für die Kinder, für die das Land verantwortlich
zeichnet, oder sei es durch die Verbesserung der Rahmenbedingungen im Sportverein der Gemeinde, für die
der Bund gesorgt hat, indem er zum Beispiel die
Übungsleiterpauschale um 50 Prozent heraufgesetzt hat.
({4})
Die Sozialdemokratische Partei ist mit ihren Landtagsfraktionen und mit ihrer Bundestagsfraktion sehr
stark in den Kommunen verwurzelt. Wir sind die Kommunalpartei schlechthin, und das seit über 100 Jahren.
({5})
- Das wird auch so bleiben, Herr Kollege, völlig richtig.
({6})
Deshalb, Herr Kollege Dr. Rössel, bedarf es Ihres
Antrages zu den Kommunalfinanzen nicht. Denn die
Koalitionsfraktionen - Sie haben das in Ihrem Antrag ja
aus der Koalitionsvereinbarung abgeschrieben - haben
vereinbart, die Finanzkraft der Gemeinden zu stärken
({7})
und das Gemeindefinanzsystem einer umfassenden Prüfung zu unterziehen. Deshalb ist Ihr Antrag heute überflüssig und wir werden ihn ablehnen.
({8})
Außerdem, Herr Kollege, ist Ihr Antrag vom Inhalt
her so gestrickt, dass er sowieso abzulehnen ist. Sie wollen den Kommunen, wenn man alles zusammenrechnet,
was Sie in Ihrem Antrag aufführen, zusätzlich
36 Milliarden DM zukommen lassen.
({9})
Sie wollen das erreichen, indem der Bund 8 Milliarden DM aus der Sozialhilfe übernimmt, indem den Ostkommunen vom Bund eine Investitionspauschale von
3 Milliarden DM zur Verfügung gestellt wird und indem
Bund und Länder zusammen auf 14 Milliarden DM aus
der Einkommensteuer zugunsten der Kommunen verzichten. Das macht zusammen schon 25 Milliarden DM,
von denen Sie aber nicht sagen - das ist jetzt mein Vorwurf -, wie sie finanziert werden sollen.
Dafür gibt es ja nur zwei Möglichkeiten: Die Bundesregierung könnte ein Sparpaket II auflegen. Wenn ich
mich allerdings an das Lamento erinnere, das Sie beim
Sparpaket I, beim Konsolidierungsprogramm, angestimmt haben, scheint das auszuscheiden. Es bleibt also
nur eine Steuererhöhung übrig. Sie sagen aber nicht,
welche Steuern Sie erhöhen wollen, denn Ihre Wunderwaffe Vermögensteuer wollen Sie ja zusätzlich mit
5 Milliarden DM an die Kommunen durchreichen, wie
auch weitere 6 Milliarden DM aus der Ausweitung des
Kreises der Gewerbesteuerpflichtigen.
Also was bleibt übrig, um 25 Milliarden DM einzufahren? Man muss die Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte anheben. Man sollte also den Menschen in
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Halle auch einmal deutlich machen, was hinter Ihren
Vorschlägen an Konsequenzen steht.
Herr
Kollege Scheelen, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Seifert?
Bitte schön.
Herr
Seifert.
Lieber Herr Kollege, Sie werfen uns gerade vor, dass wir keine Finanzierungsvorschläge für das Geld machen, das der Bund an die
Kommunen weiterreichen soll. Wollen Sie nicht zumindest einräumen, dass es unmittelbar zur Konsumption
beiträgt, wenn wir Geld in diesen Bereichen in die
Kommunen geben, das heißt, das Geld unmittelbar wieder in den Kreislauf geht, sodass ein sich selbst tragender Effekt zu erwarten ist, den Sie überhaupt nicht in
Rechnung gestellt haben?
({0})
Wenn ich das richtig verstanden habe, meinen Sie, dass, wenn man 36 Milliarden
DM an die Kommunen gibt und sie nicht gegenfinanziert, das durch einen selbsttragenden Aufschwung quasi wieder eingespielt wird. Dieses Argument habe ich bei Ihnen nicht gehört, als es darum ging,
die Unternehmensteuerreform und die Einkommensteuerreform zu gestalten. Da sagen wir: Bestimmte Summen muss man als Staat für verzichtbar erklären, um so
etwas zu machen. Dabei haben Sie immer vehement dagegen argumentiert. Insofern verstricken Sie sich auch
hier wieder in Widersprüche. Was Sie betreiben, ist reiner Populismus.
({0})
Meine Damen und Herren, wir brauchen im Moment
keine Steuererhöhungen. Was wir brauchen, sind Steuersenkungen, und das am Beginn eines Konjunkturaufschwungs. Die Bundesregierung ist dabei auf sehr gutem
Weg.
Die zweite Stufe der Einkommensteuerreform ist gerade zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten. Sie
bringt der durchschnittlichen Arbeitnehmerfamilie, verglichen mit dem Jahr 1998, dem letzten Jahr der KohlRegierung, einen Zuwachs von über 2 000 DM im Jahr.
Durch das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform
auf den 1. Januar 2001 wird die Entlastung auf über
3 000 DM weiter ansteigen. Das, meine Damen und
Herren, ist die größte Steuerreform, die es in der Geschichte der Bundesrepublik jemals gegeben hat. Das ist
erst durch konsequente Sparpolitik möglich geworden,
und zwar durch die konsequente Sparpolitik dieser Bundesregierung und insbesondere von Finanzminister Hans
Eichel.
({1})
Diese Sparpolitik ist bei Ihnen, bei der versammelten
Opposition von PDS bis CSU, auf vehemente Ablehnung gestoßen. Aber dieses Zukunftsprogramm 2000 hat
erst die Spielräume eröffnet, um Bürger und Unternehmen weiter von Steuern zu entlasten und gleichzeitig die
Neuverschuldung herunterzufahren.
({2})
Der Staat, meine Damen und Herren, muss lernen,
wieder mit dem Geld auszukommen, das die Bürger ihm
geben. Diese Erkenntnis hat es in den 16 Jahren Regierungszeit von Helmut Kohl nicht gegeben. Im Gegenteil:
Die Staatsverschuldung wurde in Schwindel erregende
Höhen getrieben. 1,5 Billionen DM liegen als Schuldenberg vor und sind abzuarbeiten. Sie bedingen eine jährliche Zinsbelastung des Bundes von 82 Milliarden DM eine Summe, die sich der Normalbürger nicht vorstellen
kann.
Man kann es sich vielleicht so verdeutlichen: Bei 82
Millionen Bürgern entfallen etwa 1 000 DM auf den
Kopf jedes einzelnen Mitbürgers. Jeder, von den Neugeborenen im Kreißsaal bis zu den Menschen auf dem
Sterbebett, müsste also zu Beginn jedes Jahres erst einmal 1 000 DM auf den Tisch legen. Jeder muss 1 000
DM auf den Tisch legen, ohne damit Anspruch auf staatliche Leistungen zu haben. Das ist die Voraussetzung
dafür, dass der Staat überhaupt anfangen kann, etwas zu
tun.
Herr
Kollege Scheelen, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Rössel?
Sehr gerne.
Herr
Rössel.
Lieber Kollege
Scheelen, Sie haben festgestellt, dass die Bundesregierung das Steuerentlastungsgesetz um ein Jahr auf das
Jahr 2001 vorziehen wird. Können Sie bestätigen, dass
sich dadurch negative finanzielle Auswirkungen auf die
Kommunen in einem Umfang von 3,5 bis 3,8 Milliarden
DM jährlich ergeben, da die Kommunen mit 15 Prozent
an der Lohn- und Einkommensteuer beteiligt sind?
Wenn ja, wie wollen Sie diese Verluste für die Kommunen ausgleichen?
({0})
Herr Kollege Dr. Rössel,
eines ist klar: Wenn man Steuersenkungen im Einkommensteuerbereich betreibt, dann sind die prozentualen
Anteile der Ausfälle, die auf die verschiedenen staatlichen Ebenen entfallen, auch von diesen staatlichen EbeBernd Scheelen
nen zu tragen. Die Gemeinden sind mit 15 Prozent an
der Einkommensteuer beteiligt.
Jetzt komme ich auf Ihr Argument von eben zurück,
das zeigt, wie populistisch Sie argumentieren. Sie haben
gesagt, man müsse eine Nettoentlastung vornehmen,
damit es einen selbsttragenden Aufschwung gibt, der die
Steuereinnahmen wieder sprudeln lässt. Genau das ist
hier unser Ansatz: Wir wollen die Einkommen- und Unternehmensteuern senken, um den Menschen mehr Geld
in die Hand zu geben, damit die Konjunktur weiter an
Fahrt gewinnen kann und sich der Aufschwung dadurch
stabilisiert.
({0})
Genau das ist die Politik, die wir betreiben. Wenn Sie
sie unterstützen, ist es umso besser.
Meine Damen und Herren, die 82 Milliarden DM an dieser Stelle wurde ich durch die Zwischenfrage unterbrochen - bedeuten pro Sekunde 2 400 DM Zinsen,
die der Staat auf den Tisch legen muss. Während meiner
zehnminütigen Redezeit sind das, sollte ich sie ausnutzen, etwa 2 Millionen DM, die der Staat aufbringen
muss. Der Staat aber sind die Bürgerinnen und Bürger,
die durch ihre Arbeit und ihre Leistungen an den Staat
diese Schulden abtragen müssen. Deswegen war es
dringend an der Zeit, eine Trendwende einzuleiten. Diese ist mit dem Zukunftsprogramm gelungen.
({1})
Wir werden Jahr für Jahr die Neuverschuldung reduzieren und im Jahr 2006 zum ersten Mal seit Jahrzehnten einen ausgeglichen Haushalt vorlegen. Erst
dann können wir daran gehen, den Schuldenberg abzubauen und die Belastungen der Zukunft zu reduzieren.
Das Zukunftsprogramm, Herr Dr. Rössel, belastet die
Kommunen unterm Strich eben nicht; insofern sind Ihre
Rechnungen falsch. Die Gemeinden profitieren in vielen
Bereichen. Einige will ich Ihnen nennen: Sie profitieren
zum Beispiel von der Begrenzung des Anstiegs der Regelsätze in der Sozialhilfe, von der Begrenzung des Zuwachses der Pensionen und der Beamtengehälter, von
der Senkung des Rentenversicherungsbeitrags, den auch
die Kommunen als Arbeitgeber zu zahlen haben - ihn
haben wir jetzt schon um einen Prozentpunkt gesenkt,
und weitere Senkungen sind im Rahmen der ökologischsozialen Steuerreform vorgesehen -, und von Maßnahmen im steuerlichen Bereich, beispielsweise von der
Abschaffung des Vorkostenabzugs bei den eigenheimzulagebegünstigten Wohnungen und von der Senkung der
Höchstsätze für die Eigenheimzulage. Daraus - das wissen auch Sie - finanzieren wir eine Erhöhung des
Wohngeldes, und das entlastet wiederum die Kommunen bei der Sozialhilfe, die sie zu zahlen haben.
Herr Kollege Rössel, ich muss Ihnen noch einmal widersprechen: Die Ausgaben für die Sozialhilfe sind in
vielen Kommunen rückläufig, Gott sei Dank.
({2})
- Doch, das ist in vielen Kommunen der Fall.
Herr
Kollege Scheelen, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Ehlert?
Ich bin schon von meinen
Kollegen darauf hingewiesen worden, dass wir ein wenig auf die Zeit achten müssen. Ich weiß, dass die Fragen nicht auf meine Redezeit angerechnet werden, aber
sie verlängern die gesamte Dauer der Debatte. Deshalb
bitte ich Sie, Frau Kollegin Ehlert, um Verständnis, dass
ich jetzt keine Frage mehr zulassen möchte.
({0})
- Wir unterhalten uns hinterher.
Die rückläufigen Ausgaben der Sozialhilfe in mehreren Kommunen - wir eruieren gerade, wie viele es genau sind - hängen unter anderem mit Anstrengungen zusammen, die die Bundesregierung zum Beispiel mit dem
Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, das Arbeitsminister Riester aufgelegt hat, unternommen hat. Dieses 2 Milliarden DM teure, überaus erfolgreiche Sofortprogramm hat dazu geführt, dass
200 000 Jugendliche von der Straße geholt werden
konnten. Das ist eine großartige Leistung, die sich im
überproportionalen Rückgang der Arbeitslosenquote bei
den Jugendlichen manifestiert.
({1})
Die ökologisch-soziale Steuerreform belastet die
Kommunen unter dem Strich nicht, auch wenn in der
Öffentlichkeit Gegenteiliges behauptet wird. Die moderate Erhöhung der Kosten - wir haben uns für die Halbierung der Sätze ausgesprochen und sie beschlossen bei Strom und Diesel beim öffentlichen Personennahverkehr wird durch die Entlastungen bei der Rentenversicherung kompensiert. Weitere Maßnahmen dieses Gesetzes entlasten die Betreiber des öffentlichen Personennahverkehrs - das sind in der Regel die Stadtwerke auch auf anderen Gebieten.
Berlin - das habe ich heute Morgen im Radio gehört - hat die Konsequenz daraus gezogen, die Preise in
diesem Jahr nicht zu erhöhen. Dazu kann ich nur sagen:
Gut so, das ist die richtige Entscheidung.
Fazit: Die Städte, Gemeinden und Kreise sind bei
dieser Bundesregierung in den besten Händen.
({2})
Wir werden die Gemeindefinanzen reformieren - das ist
in der Koalitionsvereinbarung festgelegt -, und dazu
sind bei Bund und Ländern Arbeitsgruppen eingerichtet,
deren Ergebnisse allerdings - hier bitte ich um ein wenig
Geduld - abzuwarten sind. Es macht keinen Sinn, die
Diskussionen in den Arbeitsgruppen durch öffentliche
Debatten zu begleiten. Dabei kommt in der Regel nichts
herum.
Den Gemeinden kann am besten durch eine Politik
für mehr Wachstum und Beschäftigung geholfen
werden. Mehr Arbeitsplätze bedeuten weniger Ausgaben
bei der Sozialhilfe. Wirtschaftsaufschwung bedeutet
sprudelnde kommunale Finanzquellen.
Eine Gemeindefinanzreform muss sich allerdings
auch an dem Ziel orientieren, die Einnahmen der Kommunen zu verstetigen. Auch muss ein Bindeglied zwischen Wirtschaft und Kommunen erhalten bleiben, wie
es im Moment und seit Jahren die Gewerbesteuer darstellt; das wird auch in Zukunft so sein müssen. Zudem
müssen wir die Finanzkraft der strukturschwachen
Kommunen stärken.
Wer allerdings glaubt, dafür müsse man Steuern erhöhen, der irrt; denn der Staat - ich wiederhole mich muss mit dem Geld auskommen, das ihm die Bürger geben. Das gilt nicht nur für den Bund, sondern auch für
Länder und Gemeinden. Der Streit wird darüber zu führen sein, wer mit welchen Finanzmitteln auf welcher
Ebene welche Aufgaben zu erfüllen hat. Dazu erarbeiten
die Bund-Länder-Arbeitsgruppen Vorschläge. Ich bin
dafür, dass wir diese diskutieren, wenn sie auf dem
Tisch liegen, aber nicht heute.
Vielen Dank.
({3})
Als
nächster Redner hat der Kollege Jochen-Konrad Fromme von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Scheelen,
damit es keine Legenden gibt, eines vorab: Von den
1,5 Billionen DM Schulden musste nahezu die Hälfte aufgewendet werden, um die Folgen von 40 Jahren
Sozialismus zu beseitigen. Diesem Programm haben
Sie im Bundesrat uneingeschränkt zugestimmt, sodass Sie mit die Verantwortung dafür tragen. Das können Sie nicht einfach den anderen in die Schuhe schieben.
({0})
Sie sagen - und das ist richtig -, dass wir keine Steuererhöhung gebrauchen können. Aber Sie tun etwas anderes: Über die AfA-Tabellen erhöhen Sie die
Steuern klammheimlich in Milliardenhöhe; über die
Ökosteuer beschaffen Sie sich neue Steuermittel. Es
sind keine Steuersenkungen, sondern Steuererhöhungen.
({1})
Wie gut die Kommunen bei ihnen aufgehoben sind,
erkennt man auch an Ihren Versprechungen zur Übungsleiterpauschale.
({2})
Noch im Frühjahr letzten Jahres haben Sie 4 800 DM
versprochen, mit 3 600 DM haben Sie dieses Versprechen jetzt „eingelöst“.
Meine Damen und Herren, die kommunalen Spitzenverbände haben in der Winterumfrage festgestellt, dass
den Kommunen im nächsten Jahr wieder ein Defizit von
2,6 Milliarden DM ins Haus steht. Nach wie vor müssen
viele Städte laufende Ausgaben dauerhaft durch Kredite
finanzieren, weil ihre Verwaltungshaushalte hohe Defizite ausweisen - Originalton Hajo Hoffmann, Städtetagspräsident und bekanntermaßen Ihr Parteifreund, also
ein unverdächtiger Kronzeuge.
({3})
Wie es wirklich um die Kommunen aussieht, macht
insbesondere das Beispiel Niedersachsen, in dem dieser
Bundeskanzler besondere Verantwortung trug, deutlich.
Die Kommunen haben einen Kassenkredit von 2,5 Milliarden DM aufgehäuft. Das heißt: In dieser Höhe haben
sie laufende Ausgaben durch Kredite finanziert, was eigentlich verboten ist. Das kennzeichnet die Situation.
Folge ist ein Rückgang der kommunalen Investitionen.
Wenn die Kraft für Ausgaben nicht vorhanden ist, hat
dies natürlich erhebliche Auswirkungen auf den volkswirtschaftlichen Kreislauf.
Das Finanzsystem zwingt Kommunen, denen aufgrund bundespolitischer Entscheidungen Einnahmen fehlen oder Ausgaben aufgebürdet werden,
sich an die jeweilige Landesregierung zu wenden.
Die Bundesregierung macht es sich allerdings zu
leicht, wenn sie die Finanznöte der Städte und Gemeinden mit dem Hinweis auf die Finanzverantwortung der Länder abtun. Für einen Teil der
Kommunalhaushalte, vor allem für die Jugend- und
Sozialhilfe, ist das Ausgabevolumen bundesrechtlich vorgegeben. Zu Recht fordern die kommunalen
Spitzenverbände für solche Fälle, dass der Bund
nach dem Prinzip der Konnexität zwischen Aufgabenübertragung und Finanzverantwortung die
kommunalen Zweckausgaben trägt, soweit die
kommunalen Verwaltungen kein nennenswertes
Ausführungsermessen haben. Mehr noch: Das
durch die Finanzkrise angespannte Verhältnis zwischen den Kommunen und den Ländern kann nur
durch eine Gemeindefinanzreform verbessert werden, die das Verhältnis von Aufgaben und Finanzausstattung wieder in Übereinstimmung bringt.
Das ist ein Originalzitat von Gerhard Schröder, als er
noch Ministerpräsident war und noch nicht hier in Berlin
Regierungsverantwortung hatte.
({4})
Die Frage der Gemeindefinanzreform lässt sich in
meinen Augen nicht isoliert betrachten. Sie gehört in
den Zusammenhang mit der Reform des Föderalismus.
Deswegen müssen wir uns mit diesen Fragen viel grundsätzlicher beschäftigen.
Deswegen, meine Damen und Herren von der PDS,
greift Ihr Antrag auch viel zu kurz. Seine Umsetzung
würde zwar Geld für die Kommunen bedeuten - das wäre auch wünschenswert -, aber er verändert die Strukturen nicht, und deshalb ist er abzulehnen.
Wer ein föderales System will, der muss auch eine
föderale Finanzverfassung haben. Das heißt, Verantwortung für Einnahmen und Ausgaben auf jeder Ebene
des Staates wahrzunehmen. Nur dann, wenn es diese
wirkliche Verantwortung in einer Hand gibt, können wir
auch dazu kommen, dass vernünftig gewirtschaftet wird
und die Kommunen für das Ergebnis ihres Handelns
verantwortlich gemacht werden können. Davon sind wir
meilenweit entfernt, und die Verantwortung dafür liegt
bei Bund und Ländern.
Veränderungen sind nicht nur deshalb notwendig,
weil Art. 28 GG Rechnung getragen werden muss, sondern weil wir davon überzeugt sind, dass kommunale
Selbstverwaltung und damit dezentrale Entscheidungsfindung, aber auch dezentrale Kreativität und Wettbewerb unter den Kommunen nötig sind. Was für die Länder gilt, das gilt natürlich auch für die Kommunen.
Die kommunale Finanzausstattung ist in mehrfacher
Hinsicht strukturell mangelhaft.
Erstens. Originäre Aufgaben müssen mit originären
Einnahmen finanziert werden. Der hohe Anteil von Zuweisungen und Umlagen an den kommunalen Einnahmen zeigt, dass dieses nicht gewährleistet ist.
Zweitens. Der Zusammenhang zwischen Ausgaben
und staatlichen Aufgaben muss merklich sein. Wenn
der Bürger nicht spürt, dass eine neue Forderung auch
Geld kostet, dann wird er mehr fordern, als eigentlich zu
bezahlen ist. Wenn diese Merklichkeit nicht wieder hergestellt wird, werden wir die Vollkaskomentalität nicht
beseitigen können. Das ist ein struktureller Mangel, und
deswegen müssen wir dies ändern. Das gilt insbesondere
für die sehr ausgabenträchtige Ebene der Landkreise, die
in Bezug auf die Finanzen im Augenblick überhaupt
keine Achse zu ihren Bürgern haben. Man kann ungestraft neue Turnhallen, neue Schulen und Ähnliches fordern. Das müssen wir ändern.
Drittens. Diese finanzielle Verbindung muss aber
nicht nur zwischen der Bürgerschaft und dem Staat bestehen, sondern sie muss auch zwischen der Wirtschaft
und dem Staat bestehen, damit man aufeinander Rücksicht nimmt, damit man auf die gegenseitigen Interessen
eingeht. Deshalb muss auch im Rahmen der Unternehmensteuerreform über diese Fragen neu nachgedacht
werden. Wir haben deshalb in unserem Konzept vorgesehen, dass uns zunächst einmal ein Gutachter beraten
soll.
Herr
Kollege Fromme, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Rössel?
Aber bitte.
Lieber Kollege
Fromme, Sie haben das Problem der Landkreisfinanzierung angesprochen. Dazu möchte ich Ihnen eine Frage
stellen.
Würden Sie dafür plädieren, den Landkreisen eine eigene Steuerhoheit zuzuerkennen? Sollten sie eigene
Steuern erheben können? - Dazu möchte ich gern Ihre
Position erfahren.
Ich bin
schon dafür, dass eine finanzielle Achse zwischen den
Bürgern und den Landkreisen geschaffen wird. Ob das
im Wege der Erhebung von Steuern passieren muss oder
ob man das anders regeln kann, muss man im Laufe der
Diskussion sehen. Dazu gibt es sehr unterschiedliche
Vorstellungen. Auf jeden Fall muss es nicht eine neue
Steuer geben.
Wenn ich von Strukturveränderungen rede, beziehe
ich mich auf die Frage der qualitativen Verbesserungen
der Kommunalfinanzen. Zu der Frage des Volumens
komme ich an anderer Stelle.
Viertens. Trotz Ausweitung der Aufgaben ist der Anteil der Kommunen an den Steuereinnahmen gesunken.
Hatten die Kommunen 1991 noch 12,8 Prozent des
Steueraufkommens, so erhielten sie 1999 nur noch 12,3
Prozent. Das wird nach der Finanzplanung im nächsten
Jahr ähnlich sein - trotz erheblich gestiegener Aufwendungen im Bereich der Jugendhilfe, trotz erheblich gestiegener Aufwendungen im Bereich der Sozialhilfe.
Fazit: Qualität und Quantität der kommunalen Finanzausstattung stimmen nicht mehr. Deswegen brauchen wir eine Gemeindefinanzreform im Rahmen einer
Föderalismusreform.
({0})
Die neue Regierung hat versprochen, dass es nicht zu
Lastenverschiebungen kommt. Im Koalitionsvertrag ist
- das wurde hier bereits gesagt - das Konnexitätsprinzip
verankert. Das bedeutet, dass eben Aufgaben und Ausgaben miteinander in Beziehung stehen sollen.
Meine Damen und Herren, Anspruch und Wirklichkeit liegen bei Ihnen - wie zum Beispiel auch bei der
steuerlichen Behandlung der Übungsleiterpauschale -
weit auseinander.
Die jetzige Bundesregierung hat mit dem Sparpaket
schwer in die kommunalen Haushalte eingegriffen. Das
war zum großen Teil kein Sparpaket, sondern ein Verschiebebahnhof. Allein mit der Neuregelung der originären Arbeitslosenhilfe, die hier genannt wurde, hat man
nach den Aussagen des Städte- und Gemeindebundes
circa 2,5 Milliarden DM mal eben zulasten der kommunalen Kassen verschoben.
Ein zweiter schwerer Sündenfall dieser Regierung offenbart sich in der Finanzierung des Familienausgleichs.
Die A-Länder haben 1996 eine Sonderregelung
durchgesetzt, nach der außerhalb der üblichen Deckungsquotenberechnung die Finanzierung des Familienlastenausgleichs im Verhältnis 74 zu 26 festgeschrieJochen-Konrad Fromme
ben wurde. Manche von Ihnen wollen das nicht mehr
wahrhaben. Zwei von den damaligen Hauptmatadoren,
Herrn Voscherau und Herrn Lafontaine, haben Sie unterwegs verloren. Aber der heutige Bundeskanzler und
der heutige Finanzminister Eichel haben als Ministerpräsidenten daran mitgewirkt. In den Unterlagen zum
Gesetzgebungsverfahren war ausdrücklich von einem
Sonderlastenausgleich die Rede. Es sollte nicht, wie Sie
es heute glauben zu machen versuchen, im Rahmen des
üblichen Berechnungsverfahrens geregelt werden. So
ändert sich mit der Position auch die Einstellung.
Nur, aus kommunaler Sicht kann man Ihnen das nicht
durchgehen lassen; denn das bedeutet, dass im Laufe der
Jahre den Kommunen 6 Milliarden DM vorenthalten
worden sind. Das Vorenthalten von 6 Milliarden DM
bedeutet, dass die Kommunen ihrem Auftrag nicht mehr
in vollem Umfang nachkommen können. Das bedeutet,
dass die Ausgaben für das kulturelle Leben gekürzt werden müssen. Wenn Sie einmal offenen Auges durch die
Städte und Gemeinden fahren, dann werden Sie sehen,
dass im Augenblick die Unterhaltung der Straßen und
der Hochbauten sträflich vernachlässigt wird. Wir werden bitter erfahren, dass in Zukunft eine Bauhypothek
nach der anderen aufgenommen wird. Jeder Einfamilienhausbesitzer weiß, dass eine unterlassene Unterhaltungsmaßnahme am Ende sehr viel teurer wird.
Es droht neues Ungemach. Wenn der von Ihnen neu
ins Amt berufene Kartellamtspräsident den Querverbund
über den Weg des Wettbewerbrechts aus den Angeln
heben will - hier geht es um ein Finanzvolumen von
10 Milliarden bis 20 Milliarden DM, mit dem im Augenblick die Kommunen zum Beispiel den ÖPNV sowie
kulturelle und sportliche Einrichtungen finanzieren -,
dann müssen Sie für eine Ersatzfinanzierung sorgen.
Das Ganze setzt eine Abwärtsspirale in unserer
Volkswirtschaft in Gang: Es fehlen Aufträge. Das Fehlen von Aufträgen bedeutet weniger Arbeit. Dies bedeutet wiederum einen Mehrbedarf für die Arbeitslosenunterstützung. Dies bedeutet weniger Steuereinnahmen.
Deswegen muss hier Grundlegendes geschehen.
Aber das Wichtigste - das kann auch schnell erledigt
werden - ist eine gute Wirtschaftspolitik für mehr Arbeit
und Beschäftigung. Eine solche Politik kann im Rahmen
des vorhandenen Systems - ohne Korrekturen - für
mehr Geld in den kommunalen Kassen sorgen. In dem,
was wir für richtig halten, unterscheiden wir uns sehr
deutlich von Ihnen.
Ich möchte jetzt nicht im Einzelnen die Fragen der
Unternehmensteuerreform aufribbeln. Aber ich möchte einen Punkt herausgreifen, nämlich die Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer.
Sie wollen das auf der Basis des doppelten Messbetrages
machen. Das ist eine Einladung zur Anhebung der
Gewerbesteuer; denn jede Gemeinde, deren Hebesatz
zurzeit unter 400 Punkten liegt, kann die Gewerbesteuer auf 400 Punkte anheben, ohne dass es den Steuerpflichtigen selber trifft; denn dieser bekommt es
vom Finanzamt wieder. Ich möchte einmal den Stadtkämmerer sehen, der angesichts der Notlage, in die Sie
ihn durch Ihre Politik gebracht haben, dies nicht tun
wird.
Sie merken: Es gibt strukturelle Mängel in Ihrer Steuerpolitik en masse. Die Kommunen sind bei Ihnen nicht
gut aufgehoben, wie Sie das versprochen haben. Ganz
im Gegenteil: Still und heimlich werden den Kommunen
überall neue Daumenschrauben angelegt. Sie werden
neu belastet und können ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen. Mit dieser Koalition sind die Kommunen wahrlich
nicht gut bedient. Aber das ändert nichts daran, dass die
Union den Antrag der PDS ablehnt; denn dieser Antrag
sieht keine strukturellen Veränderungen vor. Aber eine
Gemeindefinanzreform muss strukturelle Veränderungen umfassen.
Danke schön.
({1})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Christine
Scheel vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Mit der Beschreibung irgendwelcher Horrorszenarien bezüglich der
finanziellen Entwicklung in den Kommunen wird keiner
Kommune geholfen. Wir müssen stattdessen die föderalen Finanzen grundsätzlich und umfassend neu ordnen.
Um dies zu erreichen, haben wir aufgrund des Urteils
des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November letzten Jahres den Auftrag erteilt, dass der Finanzausgleich
insgesamt auf eine neue Grundlage zu stellen ist. Die
Arbeiten an diesem Gesetz werden forciert fortgeführt.
Die Kommunen werden selbstverständlich - das ist für
die Regierung eine klare Sache - an diesen Arbeiten beteiligt. Das heißt, man versucht, die vorhandenen Probleme aufzudröseln.
Da hilft ein solcher Antrag wenig. Wir wissen alle,
dass die derzeitige Vermischung von Kompetenzen zwischen Bund, Ländern und Kommunen und auch die
staatlichen Finanzströme innerhalb des föderalen Aufbaus immer unübersichtlicher geworden sind.
({0})
Das hat nicht die neue Regierung zu verantworten;
vielmehr ist dies die Entwicklung der letzten Jahrzehnte.
Wir wissen alle, dass das von Mischfinanzierungen geprägte Bild oftmals auch für die finanzielle Verantwortung der einzelnen Ebenen und für den effizienten Umgang mit Geldern nicht gerade förderlich ist.
({1})
Das ist ein Grundproblem, das gelöst werden muss.
Herr Fromme, Sie haben angesprochen, dass Kommunen auf bestimmten Maßnahmen sitzen bleiben. Das
liegt - man muss sagen: leider - oft auch daran, dass
vonseiten der Länder Komplementärmittel eingestellt
werden sollen - die Aufträge waren genehmigt, die
Kommunen haben Vorfinanzierungen geleistet -, diese
sich dann aber aus der Finanzierungsverantwortung zum
gegebenen Zeitpunkt erst einmal zurückgezogen haben.
Dementsprechend müssen die Kommunen mit einer hohen Zinslast vorfinanzieren. Wir kennen das vor allem
aus Bayern.
({2})
Nicht ohne Not erzielt der bayerische Landeshaushalt
zwar in der Öffentlichkeit eine gute Wirkung; aber dahinter steckt auch, dass man viele Gelder noch nicht
durchgereicht hat.
({3})
In der neuen Finanzverfassung muss glasklar definiert
werden, welche Ebene für welche Aufgabe zuständig ist.
Demzufolge muss die finanzpolitische Kompetenz verteilt werden. Mehr finanzielle Autonomie bedeutet ein
stärkeres Interesse an Steuereinnahmen und auch mehr
Wettbewerb zwischen den Standorten. Das sollte man
nicht unterschätzen.
Herr Rössel, Sie haben die Zahlen angesprochen.
Niemand bestreitet, dass die Kommunen in den neuen
Bundesländern über einen sehr engen finanziellen Spielraum verfügen. Die Landesrechnungshöfe haben Beispiele für Ausgaben geliefert, über deren Sinn man streiten kann. Darüber sind wir uns in diesem Hause einig.
Auf der anderen Seite muss man die Gesamtverantwortung des Bundes für die Entwicklung des Ganzen sehen.
Wir sind Bundespolitiker. Ich verstehe gut, dass Sie,
weil Sie in Halle Wahlkampf machen, versuchen,
Kommunalpolitik in die Debatte einzubringen und dementsprechend hier den Kommunalpolitiker mimen. Wir
tragen eine Gesamtverantwortung, und zwar für alle
Länder und alle Kommunen.
Wenn wir uns die Zahlen für 1999 anschauen, dann
wird deutlich, dass der Bund und die Länder Defizite
ausweisen, während die Kommunen mit einem Finanzierungsüberschuss von insgesamt 2,5 Milliarden DM wesentlich günstiger dastehen. Zur Erinnerung: 1997 hatten
die Kommunen noch ein Defizit von 5,9 Milliarden DM.
Das Gesamtdefizit ist zurückgegangen, weil die Kommunen ihrer Verantwortung, ihre Haushalte zu konsolidieren, Rechnung getragen haben.
Ich möchte noch eine Prognose für das Jahr 2000 abgeben. In den Zahlen des BMF wird davon ausgegangen, dass die Kommunen als einzige föderale Ebene
mehr Einnahmen als Ausgaben haben werden. Die Rede
ist von 1,5 Milliarden DM.
({4})
Wenn man das Zukunftsprogramm 2000 anschaut,
dann erkennt man, dass es Ihrerseits der Ehrlichkeit halber angebracht wäre, diejenigen Teile, die sich von diesem Reformpaket positiv auf die Kommunen auswirken - beispielsweise die Begrenzung des Rentenanstiegs
oder die Eigenheimzulage -, anzuerkennen, statt es mit
keiner Silbe zu erwähnen. Wir müssen den Bogen etwas
weiter schlagen: Das gesamte Zukunftsprogramm 2000,
das wir seit über einem Jahr verwirklichen, ist natürlich
auch Politik im Interesse der Kommunen.
Wir setzen unsere Haushaltskonsolidierung fort. Wir
setzen ganz eindeutig auf eine wachstumsorientierte
Steuerpolitik. Wir lenken den Fokus auf mehr Investitionen und Beschäftigung. Dies wird den Kommunen nützen. Es bringt mehr Arbeitsplätze und baut die Sozialhilfe ab. Das - nicht irgendwelche populistischen Forderungen - ist der richtige Weg.
Danke schön.
({5})
Als
nächster Redner hat der Kollege Gerhard Schüßler von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Kollege Rössel, Ihr Antrag ist PDStypisch: Er zeigt Probleme auf, ohne in irgendeiner Weise Lösungsansätze zu bieten, allenfalls solche, die nicht
realisierbar sind.
({0})
- Herr Kollege Scheelen, wir können hier in einer halben Stunde keine kommunalpolitische Generaldebatte
führen.
({1})
Wenn wir eine solche führten, dann müsste man auf vieles von dem eingehen, was Sie gesagt haben. Dann würde von Ihrem Anspruch, die Kommunalpartei in
Deutschland zu sein, nicht allzu viel übrig bleiben.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brauchen eine radikale Selbstverantwortung der Kommunen. Das setzt aber voraus - Frau Scheel hat schon darauf hingewiesen -, auch die Verteilung von Steuerquellen in einer Weise zu verändern, dass der erhöhten
Selbstverantwortung der Kommunen Rechnung getragen
wird. Das wird aber nie Erfolg haben, wenn bei der Verteilung der Staatsaufgaben auf Bund, Länder und Gemeinden alles so bleibt wie bisher.
Es gibt einen unauflösbaren Zusammenhang, der da
lautet: Reform der Finanzverfassung. Inzwischen hat
auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die
Reform der Finanzverfassung unabweisbar ist. Nur in
diesem Zusammenhang kann es die von niemandem
mehr bestrittene Gemeindefinanzreform geben. Wer
diese Voraussetzung nicht sieht, läuft mit allen Gedanken, Ideen und Anträgen schlicht und einfach ins Leere.
Das Herumdoktern an Symptomen führt keinen Schritt
weiter. Das gilt auch für den uns heute vorliegenden Antrag der PDS, der zwar - das räume ich ein - manche
Reformnotwendigkeiten als Problem richtig beschreibt,
aber keine realistischen Lösungen aufzeigt.
Im Übrigen enthält der Antrag auch Horrorszenarien,
die dem richtigen Gedanken von mehr SelbstverantworChristine Scheel
tung fundamental widersprechen. Darauf habe ich schon
bei der Einbringung des Antrags in diesem Hause hingewiesen.
({3})
- Ich nenne als Beispiel nur die Revitalisierung der Gewerbesteuer. Alles andere will ich heute nicht wiederholen.
Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
11. November des vergangenen Jahres rückt der Finanzausgleich, der Teil unserer föderativen Ordnung ist - das
ist den meisten nicht mehr bewusst - in das Zentrum des
öffentlichen Interesses.
Im letzten Jahrzehnt hat der Umfang der Umverteilung von Steuereinnahmen zwischen den Gebietskörperschaften ganz erheblich zugenommen, und das ganz gewiss nicht zum Vorteil der Kommunen. Daran haben allerdings auch die Länder ein erhebliches Maß an Mitschuld.
Die Gründe dafür liegen nicht allein in den Folgen
der deutschen Einheit. Nein, die Gründe liegen darin,
dass es keinen angemessenen Finanzausgleich mehr
gibt. Eine weit gehende Nivellierung ist zum Prinzip
geworden. Die damit verbundenen großen Probleme - in
Sonderheit für die Gemeinden - sind Anlass, nicht nur
den Finanzausgleich, sondern die Gestaltung unserer föderativen Ordnung insgesamt zu überdenken.
Wir müssen die Fehlentwicklungen, deren Vorhandensein im Grundsatz von niemandem bestritten wird,
stoppen und Prinzipien wie Eigenverantwortlichkeit,
Subsidiarität und Solidarität in ihrem Verhältnis zueinander neu ordnen. Das ist unsere primäre Aufgabe. Der
PDS-Antrag wird dieser Aufgabe in keiner Weise gerecht. Darum wird die F.D.P.-Fraktion ihm auch nicht
zustimmen.
({4})
Ich
schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion der PDS zu einer Reform der Kommunalfinanzierung, Drucksache 14/2556. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/1302 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS
angenommen.
Ich rufe auf den Zusatzpunkt 12:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Die Ergebnisse des Russland-Besuches des
deutschen Außenministers Joseph Fischer am
20. Januar 2000 und die Haltung der Bundesregierung zum Tschetschenienkrieg
Ich eröffne die Aussprache. Als Antragstellerin hat
die PDS Anspruch auf die erste Rede. Ich erteile das
Wort dem Kollegen Wolfgang Gehrcke von der PDSFraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen mit dieser Aktuellen Stunde dem Bundestag die Gelegenheit geben,
über den Krieg in Tschetschenien zu diskutieren. Uns
schien, dass die von Außenminister Fischer in Moskau
geführten Gespräche dazu der richtige Anlass seien. Ich
hätte mir allerdings gewünscht, dass der Bundestag unter Anwesenheit von noch mehr Abgeordneten zu einem
früheren Termin darüber diskutiert hätte. Mein Dank an
alle Kolleginnen und Kollegen, die zu dieser Stunde an
dieser Debatte teilnehmen.
Aus meiner Sicht ist die an der Reise des Außenministers nach Moskau geübte Kritik unangemessen. Keiner konnte erwarten, dass substanzielle Ergebnisse erzielt werden. Ich halte es für notwendig, dass gerade in
Krisenzeiten der Dialog nicht abreißt, man auf Dialog
setzt und daran arbeitet.
({0})
Das war übrigens schon zu Zeiten der alten Regierung
so, wenn man zum Beispiel an den Krieg in Afghanistan
denkt.
Aus meiner Sicht ist eine Doppelstrategie der deutschen Politik notwendig. Diese sollte aus einer strikten
Ablehnung des Krieges und dem gleichzeitigen Beharren auf Sicherheit für Russland bestehen. Es kann keinen
Zweifel geben: Der Krieg Russlands in Tschetschenien
ist nicht akzeptabel - weder moralisch noch politisch,
noch völkerrechtlich.
({1})
Auch wenn dies in Moskau anders gesehen wird: Es
handelt sich um einen Krieg. Terroristen bekämpft man
nicht mit Panzern, Artillerie, Flugzeugen und einer ganzen Armee. Das Völkerrecht spricht in diesem Falle von
angemessenen Mitteln. Die hier eingesetzten Mittel sind
nicht angemessen.
Für mich steht auch fest, dass die Ursachen dieses
Krieges nicht nur in Tschetschenien selbst, sondern auch
in der russischen Innenpolitik zu suchen sind. Ich glaube, dass der Aufstieg des amtierenden Ministerpräsidenten in gewisser Weise damit verbunden ist. Mich besorgt, dass man heute mit Kriegen und nicht mit Frieden
Wahlen gewinnen kann. Das möchte ich gerne geändert
haben.
({2})
Mich besorgt, dass ich keine politische Konzeption
Russlands, wie es aus diesem Krieg herauskommt, erkennen kann. Eine solche politische Konzeption muss
eingefordert werden. Wir als Deutscher Bundestag sollten an unsere Kolleginnen und Kollegen in der russischen Duma appellieren, den Krieg in Tschetschenien zu
beenden. Seitens der Duma sollte deutlich gemacht werden, dass Russland Frieden auch in Tschetschenien will.
Wir sollten an sie appellieren, dass die Bereitschaft internationaler Organisationen hier zu vermitteln, angenommen wird. Wir sollten an sie appellieren, den dortigen Flüchtlingen endlich zu helfen. Ich glaube, wir haben ein Recht, in diesem Sinne an unsere russischen
Kolleginnen und Kollegen zu appellieren.
({3})
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass im Kaukasus die
Interessen verschiedener Kräfte, die Interessen Russlands, Europas, der USA und anderer Staaten - übrigens
auch die der NATO - aufeinander stoßen und dass man
mit solchen Interessen sensibel umgehen muss. Zur
Wahrheit gehört auch, darauf hinzuweisen, dass viele
Äußerungen - aus meiner Sicht zu Recht - Unruhe in
Moskau auslösen.
Auf eine dieser Äußerungen möchte ich kurz eingehen: Für die USA gebe es eigentlich nur eine Region, für
die es sich wirklich zu kämpfen lohne, schrieb im Sommer 1998 der damalige Stellvertretende Direktor im Büro des Staatssekretärs im US-Verteidigungsministerium,
David Tucker. Dieses Gebiet sei „das Gebiet vom Persischen Golf nördlich bis zum Kaspischen Meer und östlich bis nach Zentralasien“. Er klärt seine Leser auf, warum man für dieses Gebiet kämpfen sollte: Diese Region
berge rund 75 Prozent der weltweiten Öl- und
33 Prozent der Erdgasreserven.
Ich kann das Gefühl Russlands, eingekreist zu werden, verstehen; es ist nicht von der Hand zu weisen. Ich
nenne in diesem Zusammenhang die Osterweiterung der
NATO, die Beitrittswünsche der baltischen Staaten und
Georgiens, das Angebot Aserbaidschans, NATOKontingente auf seinem Territorium zu stationieren, die
neuen Trassen für Erdölpipelines unter Umgehung der
billigeren russischen Transportwege und die Debatte, die
darüber geführt wird, ob diese Pipelines militärisch
durch die Türkei geschützt werden sollen. Ich habe das
Gefühl, dass der Krieg in Tschetschenien ohne den
Krieg im Kosovo nicht möglich gewesen wäre. Der
Krieg im Kosovo hat die Sitten verwildern lassen.
({4})
Ich empfinde die Situation so: Zwei Züge rasen aufeinander zu, und zwar von der einen Seite die neue NATO-Konzeption, der Krieg im Kosovo, die ausbleibende
Ratifizierung des Atomteststoppabkommens und die
Debatten über die Aufkündigung des ABM-Vertrages
sowie von der russischen Seite der Krieg in Tschetschenien, eine neue Sicherheitsdoktrin, die Senkung der
Schwelle für Atomwaffeneinsätze und die gerade heute
erschienene Meldung, die Rüstungsausgaben für das
Jahr 2000 um 50 Prozent zu erhöhen.
Die Wege aus dem Krieg heraus müssen auf der
Grundlage einer solchen Doppelstrategie gefunden werden. Russland muss die Sicherheit haben, dass Deutschland für seine territoriale Integrität in Wort und Tat eintritt. Wir sollten unsere guten Beziehungen zu Georgien
und Aserbaidschan nutzen, um auch dort für gute Nachbarschaft und die Sicherheit der Grenzen von Russland
zu werben. Ebenso klar, wie wir Russland kritisieren,
muss unsere Ablehnung des tschetschenischen Terrorismus ausfallen.
Die russische Regierung muss den ersten Schritt tun.
Sie muss eine friedliche Lösung wollen. Hilfreich wäre
es, wenn sie die internationale Öffentlichkeit einbezöge
und dafür die Voraussetzungen schaffte. Notwendig ist,
dass die internationale Öffentlichkeit - die NGOs, Regierungen, Parteien und internationale Organisationen über den Kaukasus und das Kaspische Meer spricht, die
Lage analysiert und die Interessenkonstellationen benennt. Kenntnis, Aufgeschlossenheit und Vorschläge der
internationalen Öffentlichkeit würden es den Konfliktparteien in der Region erleichtern, einen Dialog aufzunehmen. Ich erwarte, dass die deutsche Politik dazu einen Beitrag leistet. Es geht um Sicherheit für Russland
und Friede in Tschetschenien.
({5})
Als
nächster Redner hat der Kollege Kurt Palis von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Was als kurzfristige Operation zur
Bestrafung und Eliminierung einiger weniger Terrorbanden ausgegeben wurde, ist zu dem geworden, was
nicht wenige Beobachter von vornherein vorausgesehen
haben: zum zweiten Tschetschenienkrieg Russlands,
der inzwischen in den fünften Monat geht. Ein erfolgreiches Ende der Kämpfe ist entgegen wiederholter russischer Ankündigung nicht abzusehen. Die tschetschenische Hauptstadt Grosny erlebt, obwohl bereits in Trümmern liegend, pausenlos Luft- und Artillerieangriffe, dazu einen Häuserkampf Mann gegen Mann.
Wie viele Zivilpersonen ihr Leben lassen mussten, ist
nicht bekannt; viele müssen aber noch in den Kellern
von Grosny um ihres fürchten. Russland meldet offiziell
circa 600 tote Soldaten und 1 500 Verwundete. Die
Moskauer Presse misstraut den Angaben und schätzt
die Verluste auf mindestens 1 300 Tote und circa
5 000 Verwundete. Das „Komitee der Soldatenmütter“
in Moskau geht mit seinen Schätzungen darüber hinaus
und spricht von 3 000 Toten und 6 000 Verwundeten.
Hinsichtlich der Rebellenverluste schwanken die Angaben zwischen mehreren Hundert und einigen Tausend.
Meine Fraktion unterstützt die Bundesregierung in ihrem Bemühen, mäßigend auf die russische Politik einzuwirken
({0})
und für eine Beendigung der Kampfhandlungen zu werben.
({1})
Bombardierungen und groß angelegte militärische Bodenoperationen sind keine geeigneten Mittel der TerroWolfgang Gehrcke
rismusbekämpfung. Die zivilen Opfer und die Zerstörung von Dörfern und Städten wiegen am Ende schwerer
als die dadurch erreichte Schwächung von Terroristen.
Auch wenn wir nachvollziehen können, dass man
nach den verheerenden Bombenanschlägen auf russische
Wohnhäuser die Schuldigen zur Verantwortung ziehen
will, appellieren wir auch von dieser Stelle aus an die
russische Seite, die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu
beachten und die vielen unschuldigen Menschen nicht
zu übersehen, die ihr Leben, ihre Gesundheit und ihr
Hab und Gut verlieren.
({2})
Die Erwartung jedoch, der deutsche Außenminister
werde mit seinem Appell zur Beendigung der Kampfhandlungen in Moskau auf offene Ohren treffen, wäre
auf jeden Fall unrealistisch gewesen. Soweit ich sehe Herr Kollege Gehrcke hat das eben noch einmal bestätigt -, ist sie auch nicht geäußert worden. Selbst die PDS
als die diese Aktuelle Stunde beantragende Fraktion
muss eigentlich mit dem Ergebnis des Gesprächs von
Minister Fischer mit Wladimir Putin und Außenminister
Iwanow zufrieden sein. Zum Beleg zitiere ich den ADNBericht von Mittwoch, dem 26. Januar 2000, über die
Demonstration der PDS vor der russischen Botschaft,
wo es heißt:
Eine Isolierung oder gar ein Embargo hielt Gysi für
gefährlich, da diese Maßnahmen mit Sicherheit zu
einer Verhärtung der Situation führen würden.
Auch wolle man den europäischen Frieden mit solchen Forderungen nicht aufs Spiel setzen.
Das klingt richtig staatsmännisch.
({3})
Wie aber sollen die europäischen Institutionen und
die Bundesregierung bei all dem auch noch „wirksameren Druck auf die russische Staatsführung ausüben“,
wie ADN Sie weiter zitiert, Herr Gysi? Dies ist, wie
mir scheint, eine hohle Forderung. Sollten sich jedoch
Ihre Pläne bezüglich der Reise nach Moskau realisieren lassen, dann können Sie ja zeigen, wie dies funktioniert.
Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion begrüßt
die Ankündigung der OSZE, in Tschetschenien ein Büro
zu eröffnen und vor Ort humanitäre Hilfe leisten zu wollen. Die humanitäre Notlage, insbesondere das Heer der
circa 200 000 Flüchtlinge in Inguschetien, erfordert sofortiges Handeln. Die internationalen Hilfsorganisationen sollen und wollen schnell und wirksam helfen.
Wenn die russische Regierung in Zusammenarbeit mit
den örtlichen Behörden dafür die Voraussetzungen
schafft, werden wir darin auch einen wichtigen Teilerfolg des Moskaubesuchs unseres Außenministers erkennen können.
({4})
Ich habe vor wenigen Minuten einer Tickermeldung
von Interfax von heute entnehmen können, dass Russland die humanitären Hilfsaktionen im Nordkaukasus
unterstützen wolle - so der amtierende Präsident Putin
gegenüber dem UN-Generalsekretär Kofi Annan. Es
bleibt jedoch das wichtigste Ziel, die russische Seite und
die tschetschenischen Kämpfer zu einer Deeskalation
und Einstellung der Kämpfe zu bewegen.
({5})
Die gegenwärtige militärische Eskalation birgt die
Gefahr in sich, sich in einen anhaltenden Guerillakrieg
zu verzetteln und die gesamte Kaukasusregion zu destabiliseren. Eine dauerhafte Lösung der Probleme in dieser
Region kann nur politisch herbeigeführt werden.
({6})
Dies Ihren Gesprächspartnern in Moskau in eindringlicher Weise vorgetragen zu haben, entsprach vollständig
der Erwartung meiner Fraktion. Dafür, Herr Minister Fischer, danken wir Ihnen.
({7})
Herr
Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Wir sind der Ansicht, dass der Dialog mit Moskau
nicht abgebrochen werden darf. Nur durch weitere Gespräche und Anmahnungen kann die russische Regierung zu einer friedlichen Lösung in Tschetschenien gedrängt werden.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass dieser Ministerbesuch weitere Ergebnisse hatte, die für die
Entwicklung der Beziehung zwischen Deutschland und
der NATO einerseits und Russland andererseits von
großer Bedeutung sind: Wenn es alsbald gelingt, die institutionellen Beziehungen im NATO-Russland-Rat
wieder zu beleben, so ist dies ebenso begrüßenswert wie
die Festigung und der Ausbau der bilateralen Beziehungen zwischen unseren Ländern. Wir werden uns jederzeit dafür einsetzen. Doch zunächst müssen die Waffen
in Tschetschenien schweigen.
({0})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Andreas
Schockenhoff von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht hätKurt Palis
ten wir diese Aktuelle Stunde auf Antrag der PDS ja gar
nicht gebraucht, wenn Vertreter der PDS vor zwei Tagen
im Auswärtigen Ausschuss anwesend gewesen wären,
als wir zu diesem Thema gesprochen haben.
({0})
- Herr Gehrcke, ich komme gleich darauf zu sprechen.
Sie haben sich in aller Form und korrekt entschuldigt.
Sie waren bei der Demonstration vor der russischen Botschaft hier in Berlin.
({1})
Mich hat ein Anflug von Ironie überkommen, dass
die Nachfolger der SED, die früher die Völkerfreundschaft mit dem sozialistischen Brudervolk demonstriert
haben, auf der Straße Unter den Linden gegen den Krieg
in Tschetschenien demonstrieren. Der Frankfurter Sponti und Friedensaktionist Joseph Fischer sitzt in feinem
Tuch im Deutschen Bundestag und erklärt, warum wir
gegenüber den Kriegsherren im Kreml Zurückhaltung
walten lassen müssen. Herr Außenminister, das war
schon eine ironische Situation.
Ich hätte gern Gedanken gelesen. Mich würde interessieren - Sie brauchen es nicht hier vor dem Hohen
Hause sagen, aber vielleicht sagen Sie es mir einmal unter vier Augen; Sie haben ja die Seiten gewechselt -:
({2}) - Dr. Uwe
Küster [SPD]: Nehmen Sie mal Herrn Kohl in
den Beichtstuhl!)
Wenn Sie vorübergehend für ein paar Stunden Ihre
Kleider umtauschen könnten, hätten Sie dann nicht Lust,
wieder einmal in einer solchen Situation an einer fetzigen Demonstration teilzunehmen?
Wir sind von dem Ergebnis Ihres Besuches in Moskau nicht enttäuscht, weil ein anderes Ergebnis realistischerweise nicht zu erwarten war. Wir werfen Ihnen
nicht vor, Herr Außenminister, dass Sie mit leeren Händen zurückgekommen sind. Aber die Frage muss schon
erlaubt sein, ob es sinnvoll war, sich für das Spiel herzugeben, das im Kreml derzeit gespielt wird.
Der Krieg in Tschetschenien ist eine Machtdemonstration, die sich in erster Linie an die eigene Bevölkerung
und an das nahe Ausland richtet. Putin hat kein Interesse
an einer politischen Lösung; er hat - zumindest bis zu
den Wahlen - ein Interesse am Krieg. Die innenpolitische Wirksamkeit dieses Mittels ist ja leider bei den
Duma-Wahlen im Dezember bestätigt worden. Für Putin
ist dieser Vernichtungskrieg ein Mittel, den Großmachtanspruch Russlands zu untermauern und der eigenen
Bevölkerung zu suggerieren, dass Russland dadurch ein
stärkeres nationales Selbstbewusstsein wiedererlangen
könne.
Wir haben es doch mit Krieg als Strategie zur Machterhaltung zu tun. Nur militärische Erfolge konnten Putin
die Zustimmung in der Bevölkerung geben, die er heute
genießt. Deswegen müssen wir aufpassen, dass die Appelle, die gut gemeint und die auch richtig sind, in dieser
Situation nicht zu einer Demonstration der Hilflosigkeit
des Westens werden. Der Krieg hat innenpolitische Motive. Deswegen zeigt die Reaktion Russlands, dass es
sich nicht für unsere Haltung in dieser Frage interessiert.
({3})
Die Entwicklungen im Kaukasus stehen viel stärker
als beim ersten Tschetschenienkrieg im Kontext wachsender geostrategischer Gegensätze zwischen Russland
und anderen Regionalmächten wie etwa der Türkei.
Aber in zunehmender Weise haben auch die Vereinigten
Staaten von Amerika den Kaukasus und Zentralasien
explizit zu einer strategischen Interessenzone erklärt.
({4})
Demgegenüber ist die öffentliche Reaktion der Vereinigten Staaten jetzt auffallend zurückhaltend. Wir Europäer stehen erst am Anfang, eine gemeinsame Strategie
gegenüber Russland zu entwickeln, die wir dringend
brauchen. Im Moment besteht Einigkeit noch nicht in
hinreichendem Maße. Aber wir sind diejenigen, die Aktivitäten entfalten und die sich zum Musterschüler entwickeln, indem wir nach Moskau fahren, um Appelle zu
überbringen. Der Verdacht kann ja nicht von der Hand
gewiesen werden, dass die Aktionen auch bei uns
manchmal eher aus innenpolitischen oder auch aus parteiinternen Motiven erfolgen.
Wir begrüßen, dass sich Europa seit dem ersten
Tschetschenienkrieg intensiver in der Region engagiert. Das beste Beispiel ist die Aufnahme Georgiens in
den Europarat im vergangenen Jahr. Wir begrüßen den
Versuch, mit Russland gemeinsam Maßnahmen zur Befriedung des Kaukasus vorzuschlagen. Wir glauben aber
nicht, dass dies mit einem Russland möglich ist, das einen Krieg zu Wahlkampfzwecken führt.
Wir wollen Russland nicht isolieren; Russland isoliert
sich selbst, solange es die Spielregeln, die nach unserem
demokratischen Verständnis selbstverständlich sind,
nicht einhält. Deswegen ist die Frage, ob im Moment öffentliche Zurückhaltung gegenüber Russland nicht angebrachter wäre.
Vielen Dank.
({5})
Als
nächster Redner hat der Kollege Helmut Lippelt vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Gehrcke, nachdem wir uns alle darin einig
sind, dass die Reise des Außenministers nach Russland
der Schwierigkeit der Situation angemessen war und
deshalb nicht zu beanstanden ist, möchte ich einen Punkt
ansprechen, der auch von Ihnen schon angesprochen
wurde und über den wir schon lange gemeinsam nachdenken. Es geht um den Zusammenhang zwischen dem
Kosovo- und dem Tschetschenienkrieg.
Ich glaube, dass man die Situation ein wenig anders
als Sie interpretieren muss. Wer die Daten und Fakten
genau verfolgt, der weiß, dass seit April 1998 der Aufbau der russischen Truppen in Südrussland Richtung
Kaukasus stattgefunden hat. Diese Tatsache muss man
im Kopf haben.
Man muss aber auch im Kopf haben, dass es eine
seltsame Änderung der Kriegsziele unter dem jetzt amtierenden Präsidenten Putin gab. Zunächst Containment,
dann Revision des Friedens von 1996, also des von
Russland als Schandfrieden empfundenen Friedens. Ich
glaube, dass dies schon sehr viel früher der geheime
Grund war. Deshalb ist dies alles so kompliziert. Und es
wird - nun in Richtung von Herrn Schockenhoff - noch
komplizierter, wenn man sieht, dass die Reise des Außenministers auch deshalb unter besonderen Bedingungen stattfand, weil die Provokationen, die den Tschetschenen - zum Teil zu Recht, zum anderen Teil zweifelhafterweise - zugeschrieben wurden, die russische
Stimmung so beeinflussten, dass das Reden zur Vernunft so schwierig ist. Eine der Provokationen war der
Einfall nach Dagestan; Wahnsinn des Herrn Bassajew.
Das andere waren die zusammenfallenden Häuser, über
die ja viele verschieden denken.
Wir müssen das wissen, wenn wir jetzt über Tschetschenien sprechen. Wir haben im Auswärtigen Ausschuss jetzt nach langem Zögern, weil wir erst auch die
andere Seite hören wollten, einen Antrag verabschiedet.
Die Debatte, die wir heute führen, ist der Einstieg in eine Debatte, die weitergehen wird.
Im Europarat ist, wie ich finde, etwas ganz Hervorragendes geschehen. Ein sehr weit gehender Antrag, den
russischen Delegierten ihre Rechte zu nehmen, wurde
mit ganz knapper Mehrheit abgelehnt und dann wurde
mit den russischen Delegierten eine politische Resolution, die auf sofortigen Waffenstillstand drängt, verabschiedet. Hier zeigt sich die Möglichkeit eines Verhaltens, das wir auch in Betracht ziehen müssen.
Im Europarat sitzt der von uns allen hoch geschätzte
Herr Kowaljow. Weil ich seine intern gegebenen Wertungen so aufregend fand, dass ich sie mitgeschrieben
habe, möchte ich einen entscheidenden Punkt seiner
Wertung vortragen als Einstieg in die Diskussionen, die
wir in den nächsten Wochen im Zusammenhang mit der
Verabschiedung des Antrages weiterführen werden.
Kowaljow sagt, er habe für die Aufnahme Russlands
in den Europarat gekämpft. Er habe auch immer gesagt,
der Europarat nehme damit eine große Last auf sich,
denn Russland sei noch keine Demokratie in unserem
Sinne. Ein Ausschluss der russischen Delegation sei berechtigt, wäre aber völlig wirkungslos. Wichtiger sei es,
eine ständige Beobachtermission mit weit reichenden
Vollmachten zu verlangen, auf sofortige Friedensgespräche zu drängen - was ja auch die russischen Delegierten getan haben - und dafür die Vermittlerdienste
des Europarats anzubieten.
Dann spricht Kowaljow über Maschadow. Das ist
sehr wichtig, weil Maschadow immer wieder von Moskau beiseite geschoben und immer wieder diskreditiert
wird, indem er mit unmöglichen Forderungen, etwa Bassajew mal soeben auszuliefern, überzogen wird. Stattdessen baut man hier einen Kriminellen als Quisling auf.
Kowaljow sagt über Maschadow - über den er gewiss
viel weiß; denn er hat mit ihm damals beim ersten
Tschetschenienkrieg im Keller des Regierungsgebäudes im Grosny gesessen -, er hätte nach dem Frieden
von 1996, wäre er damals geachtet worden, nur zu gern
einen Rechtsstaat in Tschetschenien aufgebaut.
({0})
- Von Russland.
Er habe extremistischen Kräften nachgegeben; denn
er wollte keinen Bürgerkrieg in Tschetschenien selbst.
Dafür habe er jetzt teuer bezahlen müssen. „Aber wir,
die Russen“, so Kowaljow, „haben ihm nicht geholfen.
Maschadow hatte nur 30 Prozent der Bevölkerung hinter
sich, die extremistischen Kommandeure 70.“
Damit beschreibt er die Tragödie eines Mannes, die
man, glaube ich, für die weiteren Gespräche mit Moskau
im Hinterkopf haben muss, um nicht zu schnell der
Moskauer oder der Iwanowschen Rede zu folgen: „Wir
brauchen Verhandlungspartner.“ Wenn man dann nach
dem Grund der Diskreditierung fragt, heißt es: Maschadow hat ja nichts hinter sich. - Das Problem geht tiefer.
Ich glaube, das ist ein Mann, der eine große persönliche
Tragik durchlebt.
({1})
- Ein wenig. Aber interessanterweise kommt Rugova
wieder. Das ist das Überraschende.
Damit in die nächste Woche, wo die Diskussion fortgeführt wird!
({2})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Ulrich Irmer
von der F.D.P.-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Wir kritisieren den Bundesaußenminister nicht dafür, dass er nach Moskau gereist ist und dort versucht hat, auszuloten, um welche
Persönlichkeit es sich bei dem neuen amtierenden russischen Präsidenten handelt. Wir halten es für ganz selbstverständlich, dass Kontakte mit denen sich an der Macht
befindenden Menschen gesucht, geknüpft und gepflegt
werden.
Was wir kritisieren, Herr Bundesaußenminister, ist
die Diskrepanz, die sich hier zwischen großen Worten
und sehr verhaltenem Tun wieder aufgetan hat. Der GipDr. Helmut Lippelt
fel von Helsinki hat sehr starke Vokabeln gefunden, um
die Situation in Tschetschenien zu beurteilen und zu
verurteilen. Sie haben jetzt nach Ihrem Besuch in Moskau öffentlich erklärt, dass gar nicht erwogen wird, irgendwelche Sanktionen gegen Russland zu verhängen,
um auf das Kriegsgeschehen Einfluss zu nehmen. Ich
weiß - das habe ich Ihnen im Auswärtigen Ausschuss
vorgestern bestätigt -, dass Sanktionen immer eine
schwierige Sache sind, weil man nicht wissen kann, ob
sie, wenn sie verhängt werden, das Ziel, das man damit
anstrebt, tatsächlich erreichen oder ob das Ganze nicht
ins Leere läuft. Aber von vornherein zu erklären, es
würden keinerlei Sanktionen auch nur in Erwägung gezogen, gibt der Seite, die man beeinflussen will, die
Möglichkeit, eine „carte blanche“ zu haben. Sie haben
doch öffentlich erklärt, dass an Sanktionen nicht gedacht
ist.
Ich halte es deswegen für wesentlich wirkungsvoller,
was die Delegation des Europarates in Moskau erwirkt
hat. Unter Leitung des Präsidenten Lord Russel Johnston
ist eine Delegation der Parlamentarischen Versammlung
in Moskau bei Herrn Putin gewesen, hat dort ganz deutlich gesagt, was die Staatengemeinschaft und insbesondere der Europarat von dem Krieg in Tschetschenien
halten und hat Putin daran erinnert, dass seitens Russlands bei der Aufnahme in den Europarat Verpflichtungen übernommen worden seien.
Auch Kowaljow hat es damals für richtig gehalten,
dass Russland aufgenommen wurde. Jetzt stellt sich heraus, dass die Drohung, die Mitgliedschaft Russlands unter Umständen zu suspendieren oder einzuschränken und
die Mandate der russischen Kollegen nicht zu bestätigen, offensichtlich ein wirkungsvolleres Mittel ist als alles andere sonst. Die Russen haben nämlich eine Heidenangst davor, dass ihr Status im Europarat in irgendeiner Weise verändert werden könnte. Deshalb
haben sie reagiert. Sie haben Lord Russel Johnston zugestanden, dass eine permanente Beobachtermission des
Europarates installiert wird. Man muss jetzt natürlich noch ausloten, wo sie aus Sicherheitsgründen etabliert werden kann. Aber dies ist zumindest ein Zugeständnis.
Die Parlamentarische Versammlung hat mit großer
Mehrheit gesagt, sie werde weiter ihren Finger in der
Wunde lassen, sie werde weiter Sanktionsmaßnahmen
gegen Russland erwägen. Das ist eine dringend notwendige Maßnahme, die zeigt, dass die Wirkung erzielt
werden kann, dass die Russen weiterhin wissen, dass ihr
Verhalten nicht akzeptabel ist.
({0})
Ich möchte noch folgende kurze Bemerkung machen.
Herr Putin könnte sich mit der nach wie vor gezeigten
Härte in diesem Krieg verrechnen. Man könnte etwas
zynisch sagen, die Tatsache, dass man diesen Krieg so
führt, wie er geführt wird, um innenpolitisch die Zustimmung bei Duma-Wahlen zu erzielen, beweist schon,
dass Russland auf dem Wege zur Demokratie weiter
fortgeschritten ist, als das manche für möglich halten.
Das ist zwar ein zynisches Argument, aber nicht ganz
von der Hand zu weisen.
Es mehren sich bedauerlicherweise die Opfer beim
russischen Militär; mehr und mehr Tote und Verletzte
sind zu beklagen. Wie lange in der öffentlichen Meinung
in Russland der Krieg angesichts dieser zunehmenden
Zahl von Opfern noch bejubelt wird und innenpolitisch
zugunsten der Regierenden als Instrument eingesetzt
werden kann, das bleibt abzuwarten. Vielleicht wäre Putin gut beraten, auch aus innenpolitischen Rücksichten
den Krieg rechtzeitig zu beenden.
Wir wissen, wie wichtig Russland für uns ist. Ohne
Russland wird es keine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur geben können. Wir müssen Russland als
Partner behandeln. Insofern, Herr Fischer, war das jetzt
bei weitem keine Fundamentalkritik. Wir müssen uns
aber doch gemeinsam überlegen, wie wir mit den Instrumenten, die wir haben, also OSZE und Europarat,
den Druck auf Russland verstärken können, um zu einem Ende des Schlachtens und des Mordens zu kommen.
Ich bedanke mich.
({1})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Rudolf Bindig
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist Krieg in Tschetschenien.
Auch heute wird gekämpft, auch heute wird geschossen,
auch heute wird bombardiert. Davon sind betroffen die
Zivilbevölkerung, die -in Grosny ist, aber auch die intern vertriebenen Flüchtlinge, die südlich von Grosny in
den Bergen eingeschlossen sind, die keine Unterstützung
und keine humanitäre Hilfe erhalten. Es gibt die vielen
Flüchtlinge in Inguschetien. Es gibt auch die 140 000
Soldaten der Russischen Föderation, von denen keiner
den Krieg wollen kann, ihn aber durchzuführen hat. Es
gibt auf der anderen Seite auch die tschetschenischen
Kämpfer, die sich - aus welchen Motiven auch immer dort engagieren. Deshalb müssen alle Überlegungen
darauf gerichtet werden, dort die Kriegshandlungen zu
beenden und in Verhandlungen überzuleiten, um nach
Wegen zu suchen, wie humanitäre Hilfe geleistet werden kann.
({0})
Für eine sofortige humanitäre Hilfe und für Prozesse
zur Überleitung in Verhandlungen muss alles eingesetzt
werden, alle internationalen Gremien, die es gibt: Das ist
die OSZE, das sind die G-7-Gespräche, das sind bilaterale Gespräche, das ist der Europarat. Ich finde, dass es
ganz wirkungsvolle Ansätze gibt, mit einem breiten
Spektrum von Maßnahmen zu wirken. Der Außenminister ist dort gewesen und hat dort gesprochen.
Als Teilnehmer einer Delegation des Europarates hatte ich die Möglichkeit, mich erst in Dagestan, dann in
Tschetschenien und dann in Inguschetien zu informieren
und mit den Verantwortlichen im Kreml darüber zu reden und Argumente vorzutragen, dass es unmöglich ist,
dort den Konflikt mit Gewalt zu lösen. Alle Erfahrungen, auch mit internationalem Terrorismus, zeigen, dass
man sich irgendwann an den Verhandlungstisch setzen
muss, wenn man tragfähige Ergebnisse erzielen will, um
später nicht wieder einen Partisanenkrieg oder einzelne
Terrorakte im Lande zu haben.
Wir haben darüber gestern den ganzen Tag im Europarat diskutiert. Hier wurde gesagt: Die Russen haben
eine Heidenangst. Das haben sie wahrlich nicht in dieser
Frage. Aber sie nehmen das Problem doch ernst, wenn
sie sehen, wie die internationale Völkergemeinschaft
und andere Staaten Europas darauf reagieren.
({1})
Herr Iwanow hat sich gestern im Europarat fünf
Stunden lang die Reden von Parlamentariern aus 41
Ländern angehört. Diese wurden dort im Vier-MinutenRhythmus gehalten. Praktisch alle, die dort geredet haben - ob das die Delegierten aus Großbritannien, aus
Frankreich, aus Italien, aus Deutschland, aus Moldawien
waren; auch einige russische Redner haben sich entsprechend geäußert -, haben gesagt: So kann der Konflikt in Tschetschenien nicht ausgetragen werden. Das
ist kein Kampf gegen angebliche Terroristen, sondern es
ist ein Krieg, der auch aus anderen Motiven geführt
wird.
Wir haben Herrn Iwanow vorgetragen, dass die Russische Föderation mit ihren Maßnahmen die Europäische Menschenrechtskonvention, das Recht auf Leben,
den Schutz vor unwürdiger Behandlung oder Strafe, das
Recht auf Sicherheit verletzt. Die Vorgehensweise dort
verletzt ebenfalls das Genfer Abkommen zum Schutz
von Zivilpersonen in Kriegszeiten. Wir haben ihm sogar
vorgehalten, dass die Vorgehensweise nicht im Einklang
steht mit der Gesetzeslage in der Russischen Föderation.
Dort gibt es ein Gesetz zum Kampf gegen die
organisierte Kriminalität. Auf dieser Basis wird das
gemacht. Das rechtfertigt aber nicht solche großen
Militärinterventionen. Es ist kein Notstand ausgerufen
worden - bewusst nicht -, weil man willkürlich handeln
will. Man will dort ohne irgendeine Rechtsgrundlage,
ohne irgendwelche Regeln vorgehen.
Herr Iwanow hat sich dies - Gott sei Dank - fünf
Stunden anhören müssen. Dann hat die Versammlung in
Ruhe und Besonnenheit Beschlüsse gefasst, um einerseits festzustellen, dass dort schwere Menschenrechtsverletzungen stattfinden, und um diese andererseits mit
harten Worten zu verurteilen, einen sofortigen Waffenstillstand zu verlangen und operative Schritte vorzuschlagen, wie man unter Beteiligung des Europarates
und der anderen Gremien versuchen kann, Einfluss zu
nehmen, damit zumindest - das ist ja auch etwas - humanitäre Hilfe geleistet wird und Verhandlungsprozesse
in Gang kommen.
Diese Strategie, mit einer Fülle von Maßnahmen verschiedener Gremien und auch bilateral zu versuchen,
weiter Einfluss zu nehmen, scheint mir hier ein richtiger
Ansatzpunkt zu sein. Andere Gremien und auch die
Bundesregierung werden weiter daran arbeiten. Wir hoffen, dass wir die Russen doch noch irgendwie beeinflussen und überzeugen können. Es wird schwer sein. Einige
sagen, sie wollten das aus innenpolitischen Gründen
durchziehen, so brutal und hart das auch sei.
({2})
Das Wort hat
jetzt Dr. Karl Lamers.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist
schon recht pikant, dass ausgerechnet die PDS diese Aktuelle Stunde zum Thema Tschetschenien beantragt hat,
geht es doch nicht zuletzt um Menschenrechte. Bei diesem Thema kann natürlich gerade die PDS ungewöhnlich glaubwürdig auftreten, quasi als Experten,
({0})
nachdem Ihre Vorgänger der SED über 40 Jahre die
Menschenrechte mit Füßen getreten haben.
({1})
Jeden Abend sehen wir die schrecklichen Bilder aus
Grosny von diesem furchtbaren Krieg, der so viel Leid
über die Menschen in Tschetschenien und viele Russen
gebracht hat und bringt. Wir alle sind uns sicher einig:
Dieser Krieg darf nicht militärisch entschieden werden.
Was wir brauchen, ist eine politische Lösung. Das müssen auch die Russen endlich begreifen.
Herr Außenminister Fischer hat nach seiner Rückkehr
aus Moskau mit Stolz berichtet, dass sich Präsident Putin statt der geplanten einen Stunde ganze eindreiviertel
Stunden Zeit für ihn genommen habe. Ich verstehe, das
schmeichelt der Eitelkeit.
({2})
Aber für mich ist weniger die Quantität, die Länge des
Gesprächs von Bedeutung als vielmehr der innere Gehalt des Gesprächs.
({3})
Sie sprechen von einem tief greifenden, sehr offenen
Gespräch. Mich interessiert: Was haben Sie konkret erreicht? Was konnten Sie von unserer, der deutschen, der
europäischen, Position umsetzen? Sie haben erklärt, die
Verständigung sei gut gewesen - in deutscher Sprache.
Ich frage Sie: Haben Sie sich auch gut verstanden? Hat
Herr Putin gespürt, um was es geht, nämlich dass kein
Land, auch nicht Russland, das Recht hat, das Völkerrecht zu verletzen und gegen Menschenrechte sowie gegen europäische Vereinbarungen und Verhaltensmaßregeln zu verstoßen? All dies geschieht doch in diesem mit
unglaublicher Brutalität geführten Krieg Russlands gegen das tschetschenische Volk.
Wir müssen doch die Dinge beim Namen nennen.
Russland greift massiv zivile Ortschaften an. Russland
macht ein ganzes Volk zu Geiseln seiner Machtpolitik.
Russland ist verantwortlich für den massenhaften Tod
von Zivilisten und für die Vertreibung von Hunderttausenden von Menschen. Das widerspricht dem Völkerrecht. Das alles kann doch nicht mit einer „antiterroristischen Operation“ gerechtfertigt werden! Nein, das verletzt insbesondere den OSZE-Verhaltenskodex von
1994, nach dem kein Staat, auch nicht bei einem Einsatz
im Innern seines Landes, unverhältnismäßige Gewalt
anwenden darf.
Russland will sich aus dem Kaukasus nicht verdrängen lassen. Rechtfertigt das diesen Krieg? Der amtierende Präsident Putin verspricht sich Vorteile für seine
Wahl. Rechtfertigt das diesen Krieg? Viele wollen dem
neuen Mann auf der diplomatischen Bühne eine Chance
geben. Ist das, Herr Außenminister, der Grund für die
neue Milde des westlichen Protests? Nützen wir ihm,
nützen wir irgendjemandem damit? Müssen wir nicht
erkennen, dass das, was wir sagen, fordern und erklären,
in Moskau zwar freundlich zur Kenntnis genommen
wird, aber doch letztlich keinerlei erkennbare Reaktionen und Konsequenzen in der russischen Politik nach
sich zieht?
Der Außenminister ist so richtig Realpolitiker geworden und betont immer wieder - sicherlich nicht zu Unrecht -, dass unsere Möglichkeiten, mit Sanktionen auf
Russland einzuwirken, in Wirklichkeit sehr bescheiden
sind.
Herr Fischer ist ein richtiger Diplomat, ganz staatsmännisch. Das passt zum Amt. Aber ich frage mich: Passt es
auch zur Person?
Ich habe nachgelesen, was Sie, Herr Außenminister,
im Jahre 1996, am 28. Februar, bei einer Tschetschenien-Debatte im Deutschen Bundestag zu Bundeskanzler Kohl nach seiner Rückkehr aus Moskau gesagt haben.
({4})
Es ging auch um Tschetschenien, aber es gab einen großen Unterschied: Sie waren noch nicht Außenminister.
Sie sind überhaupt, wie ich meine, kaum wiederzuerkennen, in jeder Hinsicht.
Herr Fischer war zwar schon damals nicht mehr der
große Moralisierer, der er vorher gewesen ist, aber allen
Ernstes haben Sie damals dem Bundeskanzler vorgeworfen, er habe das Einklagen der Menschenrechte und einer demokratischen Entwicklung seiner Realpolitik geopfert. Das war Ihr Vorwurf! Sie sprachen von „geduckter Haltung“, gar von „Anbiederung“. Das sind starke
Worte, verglichen mit dem, was Sie heute an Verständnis für die Besorgnisse der Russen im Nordkaukasus äußern.
Ich heiße nicht Fischer, und deswegen möchte ich
meinerseits nicht diese harten Worte wiederholen und
auch keine Vergleiche zu damals anstellen. Nur eins
möchte ich feststellen: Die Zeiten haben sich geändert.
Vielleicht haben Sie auch dazugelernt, geläutert durch
das Amt, das Sie heute bekleiden.
Ich will nur sagen: Uns allen wird in diesen Wochen
klar, wie schwer es ist, Russland tatsächlich in unsere
Werteordnung einzubinden und es tatsächlich zu beeinflussen. Dazu bedarf es Mut.
Es ist richtig: Putin, der Interimspräsident, schlägt eine neue Linie ein. Ich frage mich: Stehen die Zeichen
auf Demokratie und Frieden oder gibt es einen Rückfall
in alte, überholte Strukturen und Denkmuster? Was wir
jetzt brauchen, ist Realismus, keine Verniedlichung, ist
die Bereitschaft, sich dem Neuen zu öffnen, aber auch
Wachsamkeit.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Rita Grießhaber.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Reise
des Außenministers war richtig und notwendig. Kollege
Schockenhoff ist jetzt nicht mehr da; er hat gefragt, ob
es sinnvoll war, sich für das Spiel des Kremls herzugeben. Dazu kann man auch umgekehrt sagen: Was
hätten Sie hier für einen Terz aufgeführt, wenn Außenminister Fischer nicht gefahren wäre!
({0})
Dann hätten Sie gesagt: Er versucht nicht einmal, igendetwas zu erreichen. Sie hätten versucht, ihn zu geißeln
und uns hier Unterlassungssünden vorzuwerfen. Nun ist
er gefahren und da sagen Sie, man gebe sich für ein
Spiel des Kremls her.
({1})
Meine Damen und Herren, enttäuschend ist, dass
Russland die Beschlüsse des OSZE-Gipfels in Istanbul
nicht eingehalten hat, und nicht einmal den russischen
Zusagen, wenigstens Sicherheitsgarantien und Erleichterungen für Hilfsmaßnahmen, für humanitäre Maßnahmen zu gewähren, sind Taten gefolgt. Hier müssen wir
und auch die Bundesregierung unermüdlich nachhaken,
um wenigstens ein Minimum an Verbesserung der Situation der Flüchtlinge herbeizuführen.
({2})
Dr. Karl A. Lamers ({3})
Wir sind hier aber auch noch in einer anderen Weise
gefordert: Wenn die wenigen Flüchtlinge, die überhaupt
nach Deutschland kommen, hier nach Asyl fragen,
stimme ich Pro Asyl zu, die Bleiberecht und Schutz in
Deutschland für sie fordern.
({4})
Es ist für mich unfassbar, dass es jetzt noch einen Richter in Deutschland gibt, der nach Grosny abschieben
lässt. Deswegen bin ich auch sehr froh, Herr Außenminister, dass wir endlich die Nachricht haben, dass die
Bundesanstalt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge ab sofort die Entscheidung über Asylanträge
russischer Staatsbürger ausgesetzt hat.
Was die Situation in Russland und Tschetschenien
angeht, sind wir uns hier sicher alle einig: Es leidet zuallererst die Zivilbevölkerung in Tschetschenien. Russland
schickt seine jungen Männer in den Tod und letztendlich
leidet die russische Gesellschaft als Ganzes unter diesem
Verstoß gegen Normen und Grundsätze, die die Grundlage für Menschenrechte, Sicherheit und internationale
Zusammenarbeit bilden.
Russland versucht, seine Herrschaft über Tschetschenien mit unverantwortbaren Mitteln aufrecht zu erhalten.
Aber es kann diesen Krieg auf lange Sicht nicht gewinnen. Im Gegenteil: Dieser Krieg destabilisiert die Region und es ist an der Zeit, dass Russland sich vom Traum
der alten Großmachtpolitik verabschiedet und die Lehren aus Afghanistan zieht, statt das Desaster weiter voranzutreiben.
Aber so bitter es ist, Herr Kollege Irmer: Wir haben
keinen wesentlichen Einfluss auf diese Politik. Leere
Drohungen bewirken nichts und rein verbale Zusagen
helfen nicht weiter. Russland ist ein anderer Partner auf
dem internationalen Parkett als Ex-Jugoslawien. Es hat
seine Rolle noch nicht gefunden.
Was kann unsere Konsequenz daraus sein? Ich glaube, sie heißt, den Dialog nicht abbrechen, aber mit den
Verantwortlichen immer Klartext reden. Sie bedeutet
auch, die Kräfte der Zivilgesellschaft wahrnehmen und
stärken. Für uns heißt sie, nicht schweigen, nicht nachlassen und nicht resignieren, sondern unsere Forderungen an Russland bei jeder Gelegenheit vorbringen.
Unsere Forderung ist bekannt, wir alle haben sie erhoben: die Einhaltung internationaler humanitärer Völkerrechtsbestimmungen. Es geht nicht an, dass man ein
ganzes Volk zur Geisel erklärt. Es geht nicht an, dass
man die Männer im Alter von 10 bis 60 Jahren - das
muss man sich einmal vorstellen - zum Freiwild erklärt,
und es geht nicht an, dass man Krankenhäuser beschießt
und humanitäre Hilfe nicht zulässt.
Das Angebot der OSZE, eine Vermittlerrolle zu übernehmen, steht, und Russland sollte endlich darauf eingehen.
({5})
Die Forderungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats sollten so schnell wie irgend möglich umgesetzt werden: Waffenstillstand, Verhandlungen, Bewegungsfreiheit für die Flüchtlinge und - dafür
möchte ich noch einmal ganz dringend appellieren Zugangsmöglichkeiten und verbindliche Schutzzusagen
für humanitäre Hilfsmaßnahmen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Carsten Hübner.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte in
Stichpunkten mit dem beginnen, was aus Sicht der PDSFraktion im Bereich der Menschenrechte und in der
Flüchtlingsfrage getan werden kann und verstärkt getan
werden muss, um den Opfern dieses Krieges zu helfen
und um diejenigen Kräfte in Russland zu stärken, die
diesen Krieg entschieden ablehnen.
Erstens. Russischen und tschetschenischen Deserteuren muss in Deutschland ohne Wenn und Aber Schutz
gewährt werden. Ihre Weigerung zu töten ist ein wesentliches Moment bei der Schwächung der militärischen
Logik in diesem Konflikt.
({0})
Zweitens. Pazifistische Organisationen und Kriegsgegner, etwa das Komitee der russischen Soldatenmütter, müssen massiv politisch und finanziell unterstützt
werden. Das gilt nicht zuletzt mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen.
({1})
Drittens. Die Bundesrepublik muss sofort einen Abschiebestopp - ich habe gehört, er sei jetzt ausgesetzt für tschetschenische Flüchtlinge erlassen und einen aktuellen Lagebericht vorlegen. Dieser fehlt nämlich noch
immer. Es ist bedenklich - übrigens in jeder Hinsicht -,
dass das Auswärtige Amt den letzten Bericht 1998 vorgelegt hat und es heute offenbar noch Entscheider und
Richter gibt, die aufgrund dieses Lageberichts ihre Entscheidungen fällen. Es drängt sich schlicht der Eindruck
auf, so manche Amtsstube befindet sich entweder im Tal
der Ahnungslosen oder - wie so häufig - es dominieren
die Asylpraxis auch hier wieder einmal innenpolitische
Vorgaben und nicht etwa die jeweilige Menschenrechtslage.
Viertens. Die Unterstützung für die Kaukasusrepubliken Inguschetien und Dagestan muss verstärkt werden.
Allein Inguschetien hat derzeit etwa 180 000 Flüchtlinge
aus Tschetschenien aufgenommen, und das bei einer eigenen Bevölkerungsgröße von etwa 300 000 Menschen.
Das muss man sich vorstellen.
Rund 80 Prozent der Flüchtlinge sind in Privathaushalten untergekommen, die restlichen 20 Prozent leben
unter äußerst problematischen Bedingungen. Laut
UNHCR droht derzeit eine Tuberkuloseepidemie. Gegenüber Jürgen Bartel, Mitarbeiter der Hilfsorganisation
Care Deutschland, formulierte der inguschetische Minister für Gesundheitswesen dementsprechend eindringlich:
Wenn die ausländische Hilfe ausbleibt, sieht es sehr
schlecht aus.
Inguschetien wendet derzeit - nach eigenen Angaben - täglich 250 000 US-Dollar zur Unterbringung der
Flüchtlinge auf. Diese Zahl muss man ins Verhältnis zur
Größe des Landes setzen.
Fünftens. Gegenüber Russland müssen umgehend erste Anzeichen dafür gibt es - bessere Arbeitsbedingungen für diejenigen Hilfsorganisationen mit Nachdruck eingefordert werden, die die Flüchtlinge unterstützen. Formelle wie informelle Kontakte müssen dafür intensiver genutzt werden. Dies funktioniere auch schon
jetzt bei entsprechendem Engagement, wie mir ein Sprecher von Care Deutschland erst gestern versicherte. Derzeit sind, jedenfalls nach meinen Informationen, lediglich UNHCR und Care kontinuierlich und Cap Anamur
sporadisch vor Ort.
Sechstens. Die Bundesrepublik und die EU müssen
ihren Druck auf beide Kriegsparteien dahin gehend verstärken, dass es zu einem Waffenstillstand, zumindest
aber zu einer Feuerpause kommt, die es Hilfsorganisationen ermöglicht, der in Grosny eingeschlossenen Zivilbevölkerung wirksam zu helfen, besser noch: sie aus der
Stadt zu bringen, wenn es die einzige Lösung ist. Allen
Berichten nach leben noch zwischen 10 000 und 30 000
Menschen in der völlig zerstörten Stadt; ihre
Lebensbedingungen sind grauenhaft. Hier muss eine
Lösung gefunden werden, die über Appelle hinausgeht.
Siebtens. OSZE und EU müssen stärken darauf drängen, so schnell wie möglich ein Büro in Tschetschenien
zu eröffnen, um von dort aus sowohl im Menschenrechtsbereich als auch in der Frage einer zivilen Konfliktbewältigung aktiv werden zu können. Konkrete
Vermittlungsarbeit vor Ort ist nicht selten wirkungsvoller als internationale Diplomatie, zumal als die
bisher betriebene.
So weit die konkreten Forderungen. Erlauben Sie mir
aber noch einige grundsätzliche Bemerkungen.
Was sich derzeit in Tschetschenien, aber auch in
Russland abspielt, ist eine politische Katastrophe - eine
politische Katastrophe, die darauf verweist, wie gefährdet zurzeit der Demokratisierungsprozess in Russland
ist, wie stark sich dort soziale und ökonomische Verwerfungen, der Zusammenbruch selbst rudimentärer sozialer Sicherungssysteme und die seitens des Westens offensiv betriebene Verdrängung Russlands von der Bühne der international respektierten Akteure instrumentalisieren lassen, um nationalistischen und chauvinistischen
Kräften den Boden zu bereiten, um ein politisch völlig
konzept- und hilfsloses, dafür aber umso brutaleres Umsich-Schlagen zu legitimieren.
Aber auch wenn klar ist, dass die unmittelbare Verantwortung für das Morden, der Schlüssel für das Ende
des Krieges, für eine politische Lösung des Konflikts in
Moskau liegt, kann man nicht umhin, auch dem Westen
eine nicht unerhebliche Verantwortung für diese Entwicklung zuzuschreiben. Dazu gehört nicht zuletzt eine
Menschenrechtspolitik der gespaltenen Zunge.
Heiko Kauffmann, der Sprecher von Pro Asyl - er ist
eben hier zitiert worden -, hat gestern noch auf etwas
anderes hingewiesen. Er hat mit Blick auf den Krieg im
Kosovo gesagt, Deutschland und die NATO-Staaten hätten sich im vergangenen Jahr nicht gescheut, einen
Krieg gegen Serbien zu führen mit der Begründung,
Menschenrechtsverletzungen verhindern zu wollen. Jetzt
reiche die Empörung des Bundesaußenministers nicht
einmal zu einem entschiedenen Protest gegenüber der
russischen Regierung aus. O-Ton Kauffmann:
Hier muss man den Eindruck gewinnen, dass Menschenrechte instrumentalisiert, nach zweierlei Maß
gemessen werden.
Dem ist zuzustimmen, meine Damen und Herren,
womit ich keineswegs dafür plädieren will, gegenüber
Russland ähnlich verhängnisvoll zu agieren wie gegenüber Serbien, also mit völkerrechtswidriger Gewaltanwendung, der Zerstörung ziviler Infrastruktur und Sanktionen, die allein der Zivilbevölkerung massive Opfer
abverlangen. Das wäre eine untaugliche Logik.
Woran ich aber erinnern möchte, ist die gerade an
diesem Ort von der Bundesregierung vorgetragene moralische Entrüstung, sind die präsentierten Bilder von
Vertreibung und Mord, ist der Ruf nach entschiedenen
Reaktionen auf die massiven Menschenrechtsverletzungen im Kosovo. Das ist erst wenige Monate her. Und
obwohl sich die humanitäre Situation in Tschetschenien
- ich komme gleich zum Schluss - derzeit wohl kaum
von der im Kosovo unterscheidet - das haben wir alle
konstatiert -, herrscht nun vergleichsweise Funkstille
oder Pragmatismus, wie man will.
Ich möchte, weil ich meine Rede etwas zu lang konzipiert habe, nur noch ein Zitat bringen, weil es mehrfach Appelle an die russische Regierung gegeben hat,
was die Verhältnismäßigkeit der Mittel anbetrifft. Um
deutlich zu machen, dass die russische Regierung dies in
einer ganz bestimmten Art und Weise wertet, möchte ich
zitieren, was Edward N. Luttwak, der strategische Berater der US-Regierung, am 25. Januar in der „FAZ“ geschrieben hat:
Die russische Taktik ist nicht zimperlich und missachtet die Sicherheit der Zivilisten, die sich noch in
Grosny aufhalten, vollkommen. ... Aber westliche
Armeen würden keine andere Taktik verwenden,
weil sie hohe Verlustzahlen mindestens ebenso sehr
scheuen wie die Russen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Ich glaube in
der Tat, Herr Kollege Hübner, dass das Text für mindesCarsten Hübner
tens zehn Minuten war. Man kann nicht schneller sprechen, als Sie es an diesem Pult getan haben. - So viel für
das nächste Mal.
Jetzt hat der Herr Bundesminister Joschka Fischer das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man
der Debatte gefolgt ist - für jemanden, der an den Debatten des Auswärtigen Ausschusses über Tschetschenien teilgenommen hat, ist dies nicht verwunderlich - und parteipolitische Vorwürfe außer Acht lässt,
dann wird man feststellen, dass es in der Substanz eigentlich über alle Fraktionen hinweg Übereinstimmung
gibt. Das gilt auch für die PDS-Fraktion.
Herr Kollege Hübner, was Sie in der Sache vorgetragen haben, das ist im Wesentlichen das, was die Grundlage unserer Forderungen gegenüber Russland etwa im
humanitären Bereich von Anfang an ausgemacht hat,
aber über die Schwierigkeiten auf russischem Territorium haben Sie nichts gesagt, und das ist der entscheidende Punkt.
({0})
Die Bundesregierung kann sich eben nicht nur mit Forderungen begnügen.
Ich finde es schon putzig: Da wird mir auf der einen
Seite vorgeworfen, nicht entschieden genug aufzutreten,
und in der russischen Öffentlichkeit wird von Journalisten die Feststellung getroffen, ich sei der härteste Kritiker Europas am Tschetschenienkrieg, und die Frage gestellt, was ich zu folgenden Punkten sage. Es gibt hier
eine völlig unterschiedliche Perspektive.
Ich denke, wir sollten die Dinge einen Augenblick so
analysieren, dass die Handlungsalternativen, die wir haben, tatsächlich klar werden. Nur aufgrund des Versäumnisses, vorhandene Handlungsalternativen nicht
genutzt zu haben, für deren Einsatz vieles spricht, würde
meines Erachtens ein Vorwurf politisch zu erheben sein.
Wir haben es in Tschetschenien mit einer politischen
und humanitären Katastrophe zu tun, ohne jeden Zweifel. Sosehr wir das Recht Russlands betonen, ja sogar
seine Pflicht, seine Grenzen zu verteidigen, weil niemand ein Interesse an einem sich vielleicht auch nur partiell auflösenden Russland haben kann, sosehr betonen
wir aber auch, dass der Kampf gegen Terrorismus, den
wir bejahen, mit verhältnismäßigen, rechtsstaatlichen
Mitteln geführt werden muss. Der Krieg gegen ein ganzes Volk ist kein verhältnismäßiges Mittel im Kampf
gegen Terrorismus.
({1})
Für uns steht das Recht der Selbstverteidigung Russlands gegen Terrorismus mit verhältnismäßigen Mitteln,
für uns steht die territoriale Integrität Russlands nicht infrage. Insofern wird man hier nicht darüber diskutieren
müssen, sondern man muss die konkrete, spezifische Situation, die zu dieser humanitären und politischen Katastrophe geführt hat, analysieren und daraus die notwendigen Konsequenzen ziehen.
Der Vertrag von 1996, der damals unter Lebed ausgehandelt wurde, war so schlecht nicht. Das große Problem, das wir heute haben, ist, dass wir es aufgrund dessen, dass dieser Vertrag nie mit Leben erfüllt wurde Kollege Lippelt hat die tragische Rolle des Präsidenten
Maschadow angesprochen -, heute mit einem Dilemma
zu tun haben, das wir in Afghanistan in der Tat auf
furchtbare Art und Weise zum ersten Mal erleben mussten: entweder Interventionskrieg von außen, die russische, die damals sowjetische Intervention von außen,
oder - im Falle des Abzugs - aufgrund des nicht stattfindenden politischen Friedensprozesses die Talibanisierung, das heißt die Fortsetzung des Krieges gegen die
Zivilbevölkerung von innen heraus. Das ist die verfluchte Situation, in der wir heute stecken, weil die Zeit seit
1996 nicht für eine politische Lösung genutzt wurde.
Ich sage Ihnen, Herr Kollege Hübner: Die Situation
in Tschetschenien macht gerade den Unterschied zu
dem, was im Kosovo geschehen ist und warum dort eingegriffen werden musste, klar. Sonst hätten wir eine Situation der permanenten Destabilisierung aufgrund der
Gewaltpolitik Milosevics gehabt. Heute ist die Perspektive des Balkans bei allen Schwierigkeiten, bei allen
Menschenrechtsverletzungen, bei allen großen Problemen, die die nicht gelöste albanische Frage und das
Fortbestehen der Diktatur Milosevics mit sich bringt,
klar, nämlich eine Europäisierung. Der Anfang, der jetzt
in Kroatien gemacht wird, sich vom Nationalismus zu
lösen, stimmt mich sehr hoffnungsvoll. Ich bin mir sicher, dass wir etwa in Verbindung mit der Stärkung der
demokratischen serbischen Opposition und der Demokratie in Montenegro, verbunden mit einer massiven
Hilfe, aber auch mit dem Verlangen, mit einer Politik
der Flüchtlingsrückkehr in der Krajina Ernst zu machen,
in der Tat eine neue Dynamik demokratischer Veränderungen in Belgrad erreichen können - und das ist der
entscheidende Punkt - eingerahmt in den Stabilitätspakt.
({2})
Ich wäre heilfroh, wenn wir im Kaukasus nur einen
Schimmer einer solchen politischen Lösung hätten. Ich
wäre heilfroh, aber es ist nichts zu sehen.
Deswegen, meine Damen und Herren, meine ich, wir
dürfen nicht müde werden, uns in klarer und eindeutiger
Sprache zu artikulieren. Dabei bin ich für jede Unterstützung dankbar. Es gibt zwischen der Bundesregierung, dem Deutschen Bundestag und den politischen
Parteien verteilte unterschiedliche Rollen; das ist überhaupt keine Frage. Der Bundestag kann da eindeutig
weiter gehen.
Ich sage das, weil Sie es mit Hinweis auf meine damalige Position angesprochen haben. Sie hätten meine
Ausführungen insgesamt zitieren müssen. Ich war damals aus den selben Gründen wie heute gegen Wirtschaftssanktionen, gegen die politische Isolierung. AlVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
lerdings habe ich damals die klare Sprache vermisst.
Daran lassen wir es heute nicht mangeln.
Der entscheidende Punkt ist: Die Bundesregierung
kann sich natürlich nicht darauf zurückziehen, Dinge
anzuprangern, sondern zu Recht verlangen Sie von uns,
dass wir die Handlungsoptionen ausloten. Ich denke, da
muss man klar sehen, dass wir mit dem Beschluss von
Helsinki durchaus etwas erreicht haben, nämlich das Ultimatum wegzubekommen. Das war damals der entscheidende Punkt.
Wenn wir eine realistische Analyse durchführen,
müssen wir erkennen, dass unsere Kraft zwar ausreicht,
um das russische Vorgehen zu zügeln, aber nicht ausreicht, um es wirklich zu stoppen. Das ist die Realität.
Unter allen öffentlichen Diskussionsbeiträgen und
Kommentaren, die ich gelesen habe, ist mir kein Vorschlag aufgefallen, den wir bisher noch nicht bedacht
hätten. Ich habe auch im Rahmen der internationalen
Diskussion kein neuen Vorschlag gefunden.
Damit komme ich zu der meines Erachtens entscheidenden Frage, nämlich ob wir am Ende unserer Analyse
nicht zu Mitteln greifen, die das Gegenteil von dem bewirken, was wir erreichen wollen.
({3})
Das hat überhaupt nichts mit Appeasement, Anpassung
oder Verneigung vor irgendwelchen Kriegsherren zu
tun. Das wissen Sie.
({4})
- Es ist überhaupt nicht interessant, dass ich in der
„Zwischenzeit“ zu diesem Ergebnis komme. Entscheidend ist, dass wir nicht das Gegenteil von dem, was wir
wollen, erreichen.
Man muss erkennen, dass die Situation in Russland
gespalten ist. Wir haben ein substanzielles Interesse an
der territorialen Integrität Russlands. Wir haben auch ein
Interesse daran, dass demokratische, marktwirtschaftliche und rechtsstaatliche Reformen in Russland vorankommen. Wir haben ein großes Interesse daran, dass die
Wahlen zur Duma fair verlaufen und dass es einen konstitutionellen Machttransfer auf der Präsidentenebene
gibt. Das wären wichtige Entwicklungen; denn wir können ein in sich instabiles Russland angesichts seiner Bedeutung für die Sicherheit und den Frieden in Europa
und in der Welt nicht zulassen. Aber auf dieser Grundlage kritisieren wir auch das Vorgehen Russlands in
Tschetschenien und die humanitäre und politische Katastrophe, die der dortige Krieg verursacht hat; denn es
besteht in der Tat die Gefahr, dass Russland das Gegenteil von dem erreicht, was es will: Mit der Parole „Vernichtung der Terroristen“ wird die Grundlage für eine
massenhafte Unterstützung der Terroristen geschaffen.
Dies kann wiederum zur Talibanisierung der Region, zur
Destabilisierung anderer Regionen außerhalb Russlands
und auch zur Destabilisierung der demokratischen Entwicklung in Russland führen. Das ist ebenfalls unsere
große Sorge.
Die Forderung nach dem Schweigen der Waffen und
nach einer politischen Lösung muss im Zentrum stehen.
Die Bemühungen um eine humanitäre Lösung zu verstärken ist auch ein entscheidender Punkt. Wir verbinden mit dem Besuch von Kofi Annan am heutigen Tag
die Hoffnung, dass nicht nur der UNHCR, sondern auch
andere internationale Hilfsorganisationen endlich vorankommen und Bedingungen sowohl für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch für die materielle Hilfe
vereinbaren können, wie sie in solchen Krisensituationen in der Tat üblich und für eine effektive Unterstützung notwendig sind. Der entscheidende Punkt ist allerdings die Unterstützung durch die Innenpolitik Russlands. Machen wir uns nichts vor: Solange es dort eine
massive Mehrheit gibt, die die bisherige Politik Russlands unterstützt, so lange sind unsere Mittel begrenzt.
Herr Kollege Irmer, ich habe doch nicht Sanktionen
ausgeschlossen. Ich bin lediglich dafür, dass Sanktionen
sehr sorgfältig darauf geprüft werden, ob sie taugen oder
nicht. Ich war für die Verhängung von Sanktionen gegen
die Bundesrepublik Jugoslawien. Der Visa-Bann ist ein
hervorragendes Instrument gegen die Nomenklatura.
Das Einfrieren ihrer Konten ist ein hervorragendes Instrument, das ich sogar noch verschärfen möchte. Aber
mittlerweile sind nach meiner Meinung das Ölembargo,
das aus militärischen Gründen ausgesprochen wurde,
und das Flugverbot kontraproduktive Sanktionen, die
deswegen aufgehoben werden müssen. Ich appelliere darüber müssen wir uns im Klaren sein; ich bin für
Wahrhaftigkeit -, nicht Sanktionen zu verhängen, die in
Wirklichkeit noch nicht einmal an der Oberfläche kratzen, geschweige denn die russische Führung zu einer
anderen Politik als bisher zwingen. Wenn man Sanktionen erfolgreich durchsetzen möchte, dann muss man Instrumente einsetzen - ihre politische Wirkung sollte man
vorher durchdeklinieren -, wie zum Beispiel das drastische Herunterfahren der Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Europäischen Union und Russland. Dies würde auf eine Isolierung Russlands hinauslaufen. Davor
kann ich nur warnen; denn so lange sich Russland nicht
in einer strategischen Konfrontation mit Europa und
dem Westen befindet, so lange dürfen wir auch nicht
strategische Containment-Mittel einsetzen, es sei denn,
wir wollten eine neue Isolierung herbeiführen. Dies hielte ich für eine katastrophal falsche Politik.
({5})
Unsere Politik sollte sich an drei Elementen orientieren:
Punkt eins. Wir sollten Russland klarmachen, so wie
es alle Rednerinnen und Redner gefordert haben, dass
seine Vorgehensweise nicht akzeptabel ist, dass sie sich
mit den internationalen Vereinbarungen, die Russland
auf europäischer, aber auch auf globaler Ebene eingegangen ist, genau so wenig verträgt wie mit den langfristigen russischen Interessen.
Punkt zwei. Wir sollten auf Verbesserung der humanitären Hilfe insistieren, damit die humanitäre Katastrophe abgewandt werden kann. Neben dem Beenden des
Krieges ist das der andere wesentliche Punkt.
Punkt drei. Wir sollten allerdings darauf verzichten,
dass Russland in die Isolation abgleitet; denn wir würden damit mehr verlieren als gewinnen.
({6})
Wenn das als Grundlage der gemeinsamen Politik in
diesem Hause anerkannt wird, dann werden wir nach der
Präsidentenwahl mit einer Politik der strategischen Geduld und der Prinzipienfestigkeit eine neue Chance haben. Darin besteht die Möglichkeit, einen Neuanfang zu
versuchen. Ob er gelingt, weiß ich nicht. Wenn er nicht
gelingt, wird man meines Erachtens die Diskussion danach erneut, und zwar in eine andere Richtung geleitet,
zu führen haben.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der
Diskussion über den Krieg ist viel über die unmögliche
Art und Weise der Terrorismusbekämpfung gesagt worden. Um diese Terrorismusbekämpfung zu begründen
und um den Terrorismus zu beenden, führt man einen
Krieg nach zaristischer und stalinistischer Art. Darauf
will ich gar nicht weiter eingehen.
Ich will zu der Frage zurückkommen, wie es in Moskau war. Ich bin überzeugt, dass Sie, Herr Außenminister, die Dinge angemessen vorgetragen haben. Es hat
uns allerdings etwas überrascht, dass bei Ihrem Landeanflug zur Realpolitik die Landeklappen ziemlich weit
ausgefahren waren und die Landung sehr sanft war.
({0})
Wenn Sie selbst meinen, Sie müssten diese Form der
Realpolitik aus Gründen der Abwägung vertreten, dann
kann ich mir vorstellen, dass der Bundeskanzler seine
Kontakte nach Moskau nutzt. Ich greife damit übrigens
ein Wort auf, Herr Außenminister, das der Oppositionspolitiker Fischer in einer Debatte, die wir an anderem
Ort, aber im gleichen Saale
({1})
vor vier oder fünf Jahren über die Frage „Wie verhält
man sich denn?“ geführt haben, benutzt hat. Der damalige Bundeskanzler hat sich an den damaligen russischen
Präsidenten gewandt.
({2})
- Das ist natürlich der Punkt. Wenn man sich um das
Thema nicht so kümmert, dann kann man auch nicht reagieren.
Allein aus Kontakten nach Moskau wird noch kein
Sommer in Tschetschenien werden. Die Frage ist: Was
können wir über das hinaus, was wir allseits beklagt haben, anbieten? Das, was der Europarat gesagt hat - Kollege Bindig musste schon weg -, kann ich nur als positiv
empfinden. Es ist zu bedauern, dass diese Stellungnahme nicht noch einen Schritt weiter gegangen ist. Kollege
Lippelt, ich muss zugestehen: Ich habe vor vier oder
fünf Jahren, als wir mit Kowaljow über die Mitgliedschaft im Europarat geredet haben, eigentlich die Position eingenommen, dass man die Russen lieber draußen
lassen solle. Wir haben auf seinen Rat hin - dies war in
der damaligen Moskauer Opposition übrigens keine einhellige Meinung; es gab auch da unterschiedliche Meinungen - gesagt: Gut, wir wollen euch aufnehmen, um
stärker einwirken zu können. Ich konstatiere, dass das
sicherlich der richtige Weg ist. Die fünf Stunden Iwanow haben das gezeigt.
Herr Außenminister, in der gegenwärtigen Debatte
fehlt mir über die drei Punkte hinaus die Behandlung der
Frage, was wir außer einer Kriegscontainmentpolitik,
außer einer appellativen Politik machen. Was sind die
Ursachen des Konfliktes? Die Lage im ethnischen Bereich ist verworren. Die Lage im wirtschaftlichen Bereich ist schwierig. Es geht um die strategische Position
dieser Region, Stichwort „Ölversorgung“. Es gibt vielfältige Interessen vielfältiger Staaten an dieser Region.
In der Debatte gestern haben Sie eine Regierungserklärung abgegeben, in der Sie sich zugute gehalten haben, dass Sie eine Initiative für Südosteuropa gestartet
haben. Wir haben das sachlich abgehandelt, kritisiert
und in wesentlichen Punkten haben wir Unterstützung
zugesagt.
An Ihrer Stelle würde ich einen vierten Punkt zu dem,
was wir tun müssen, hinzufügen. Wir sollten den Russen
nach dem 26. März oder hoffentlich etwas vorher eine
weitere Chance geben. Ich bin nicht so ganz sicher, ob
Putins Kalkül aufgeht. Sie hatten schon angesprochen:
Was ist denn, wenn der Terrorismus in die Städte Russlands zurückkehrt? Hören Sie sich Luschkow an, der
heute ganz anders argumentiert, als er es getan hat, als er
direkt unter dem Eindruck des damaligen Attentats
stand. Luschkow sagt heute: Wir hätten diesen Krieg
nicht anfangen sollen. Da hat er wohl Recht.
Wir müssen über die Energieversorgung und die
durchaus kontroverse Interessenlage diskutieren. Damit
verbunden ist, von einer ganz anderen Warte aus, die
Frage einer gewissen religiösen Fundamentalisierung.
Sie haben das Stichwort „Taliban“ genannt. Ich denke
an die Verknüpfung von Religion und Ölinteressen. Ich
erinnere an die Wahabiten und all das andere, was damit
verbunden ist.
Sollten wir nicht überlegen, eine Zentralasienkonferenz durchzuführen, die, gerade was diese Fragestellungen angeht, Russland eine Möglichkeit gibt, seine
durchaus berechtigten Interessen nicht in zaristischer
Form - was die Russen immer wieder in Tschetschenien
gemacht haben, sie notfalls eben zu kujonieren - durchzusetzen, sondern auch unter Einbeziehung anderer Interessen: georgischen, armenischen, aserbaidschanischen,
türkischen, europäischen und amerikanischen Interessen?
({3})
Wir lassen die USA in dieser Frage von europäischer
Seite aus relativ alleine laufen. Wieso formulieren wir
Europäer unsere Sicherheits- und Rohstoffinteressen in
dieser Region nicht? Das muss nicht in aggressiver
Form geschehen.
({4})
- Das ist gefährlich. Aber es ist noch gefährlicher, Dinge
laufen zu lassen, ohne zu erkennen, wo die wahren Ursachen des Konfliktes liegen.
({5})
Aus diesem Grunde würde ich den vierten Punkt gerne anfügen und sagen: Wir müssen überlegen, wie wir in
dieser Region - nicht nur in Tschetschenien, sondern
auch in Dagestan, Tatarstan, in all den Gebieten bis hin
in die anderen Länder der GUS - eine vernünftige Möglichkeit des Interessenausgleichs schaffen können. Leitungen um Russland herum zu bauen und Russland ausschalten zu wollen, das wird auf Dauer keinen Frieden
in dieser Region bringen.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Erstes möchte ich das aufgreifen, was der Kollege Kurt Palis gesagt hat. Die Russlandpolitik des Außenministers findet die volle Unterstützung der SPD-Fraktion. Das gilt auch für seine Reise
nach Moskau.
Herr Kollege Schmidt, was Ihre Appelle angeht, so ist
es für Sie vielleicht interessant zu wissen, dass es vor
der Reise von Herrn Fischer ein Gespräch zwischen dem
Bundeskanzler und Putin gegeben hat, übrigens, soweit
ich unterrichtet bin, auch ein Gespräch zwischen Ihrem
ehemaligen Ehrenvorsitzenden, dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl, und Jelzin.
Wenn man in Russland etwas erreichen will, wenn
man Kontakt mit Putin haben will, dann muss man nach
Moskau fahren. Sie kennen die russische Verfassung.
Putin hat als Ministerpräsident und als amtierender Präsident gerade eine Doppelrolle inne. Er darf das Land
nicht verlassen.
Es gibt hier eine Menge Gemeinsamkeiten. Es ist gut,
dass das zum Ausdruck gebracht worden ist. Man muss
aufpassen, dass wir uns hier nicht eine provinzielle Diskussion leisten; denn - darüber sind wir uns doch wohl
im Klaren - nur dann, wenn wir eine gemeinsame Position nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa
haben, kann das irgendeine Auswirkung auf eine Macht
wie die der russischen Föderation haben.
Wir müssen auch aufpassen, dass wir ehrlich mit den
berechtigten Forderungen an die russische Führung umgehen. Ich stimme all denen zu, die hier gesagt haben,
im Zentrum müsse dabei die Art der Kampfführung stehen. Unterschiedslose Bombardierung von Dörfern und
Städten ist kein Kampf gegen Terrorismus.
({0})
Insofern kann das nur den Protest der Weltöffentlichkeit
hervorrufen.
Ich möchte eines - das gehört zur Ehrlichkeit - dazusagen: Dieser Appell geht auch an die tschetschenischen
Kämpfer. Es gibt einen Bericht von Human Rights
Watch, aus dem hervorgeht, dass die tschetschenischen
Einheiten gegen den Willen der Dorfältesten Dörfer als
Schutz für ihre Operation nehmen, dass sie sogar Leute,
die dagegen protestieren, misshandeln. Das ist natürlich
auch eine Provokation, was die Angriffe auf diese Dörfer angeht. Dieser Appell muss also auch in diese Richtung gehen.
({1})
Bei der politischen Lösung, liebe Kolleginnen und
Kollegen, die wir immer wieder fordern, sind wir uns
über die Schwierigkeiten von Verhandlungsgesprächen
im Klaren. Es muss eigentlich auch weitergehen. In der
Tat, nach dem Vertrag von Chasaviot ist eines nicht passiert, nämlich irgendeine Perspektive für die lange schon
in der Krise lebende tschetschenische Bevölkerung aufzubauen. Das war in dem Vertrag versprochen worden,
ist aber nicht passiert. Das hat den enormen Exodus der
Bevölkerung aus Tschetschenien fortgesetzt, der 1991
begonnen hat.
1991 lebten in Tschetschenien 1 Million Menschen, und
zwar 750 000 Tschetschenen, 230 000 Russen und noch
einige andere. Schon bis 1994, bis zu dem Zeitpunkt, als
der erste Tschetschenienkrieg begann, sind wegen der
krisenhaften Entwicklung 250 000 Menschen weggezogen und bis 1996 weitere 100 000. Zu Beginn des jetzigen Krieges waren noch ganze 650 000 Menschen in
Tschetschenien, und zwar als Residenten - so hören
wir - nur noch 350 000; die anderen haben bereits in
Nachbarrepubliken gearbeitet und zum Teil dort auch
gelebt.
Das zeigt die ganze Tragödie, die sich dort abgespielt
hat. Das zeigt übrigens auch, welches Risiko Russland
eingeht, wenn es keine dauerhafte politische Lösung
sucht. Denn es gibt in der russischen Diaspora 500 000
Tschetschenen, davon 250 000 in Moskau. Das sind im
Grunde genommen sehr viele potenzielle Kämpfer,
wenn es keine dauerhafte Lösung gibt. Es ist immer
wieder lohnend, das der russischen Führung klarzumachen.
Christian Schmidt ({2})
Herr Kollege Schmidt, Sie haben von einer Zentralasienkonferenz gesprochen. Es stimmt, der Tschetschenienkrieg ist kein lokales Ereignis. Tschetschenien ist
eingebettet in eine Krisenregion, die von Transkaukasien
bis nach Transkaspien reicht. Was wir dort brauchen, ist
etwas Ähnliches wie auf dem Balkan, nämlich ein regionales Konzept, das von Machtspielen bzw. von einer
Neuauflage des „great game“ des 19. Jahrhunderts und
von einer Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen
Mitteln wegführt.
Dazu müssen wir einen konzeptionellen Beitrag leisten. Mit unseren amerikanischen Freunden sollten wir
einen Dialog führen, was die Art ihrer Interessenvertretung angeht. Denn wenn wir die Einbettung der Lösung dieses Konflikts in ein Konzept regionaler Sicherheit nicht erreichen, dann wird es morgen andere tschetschenisch aussehende Schauplätze in dieser Region geben.
Das waren zum Schluss dieser Debatte ein paar nachdenkliche Bemerkungen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Der Kollege
Gert Weisskirchen hat darum gebeten, seine Rede zu
Protokoll geben zu dürfen*). Diesem stimmen wir alle,
so glaube ich, gerne zu.
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet und wir sind
damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, 16. Februar 2000, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.