Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/27/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die Sitzung ist eröffnet. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der folgenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P. gemäß Anlage 5 Nummer 1 Buchstabe b GO-BT zu den Antworten der Bundesregierung auf die Fragen 35 bis 38 in Drucksache 14/2552 zur Medienpolitik ({0}) 2. Beratung des Antrags der Fraktion SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Unterstützung des Stabilitätspaktes Südosteuropa - Drucksache 14/2569 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({1}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Hildebrecht Braun ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Für eine zügige Umsetzung und Vertiefung des Stabilitätspaktes Südosteuropa - Drucksache 14/2584 - Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 4. Beratung des Antrags der Fraktion der PDS: Aufhebung des Ölembargos gegen Jugoslawien - Drucksache 14/2573 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({4}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({5}), Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Straßenbau statt Autostau - Drucksache 14/2582 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss 6. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({7}): a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung atomrechtlicher Vorschriften für die Umsetzung von EURATOM-Richtlinien zum Strahlenschutz - Drucksache 14/2443 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8}) Ausschuss für Gesundheit b) Beratung des Antrags der Fraktion SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit zur Stärkung des Schutzes der Böden Drucksache 14/2567 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({9}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 7. Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache ({10}): Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung von Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet des Berufsrechts der Rechtsanwälte - Drucksache 14/2269 - ({11}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses - Drucksache 14/2594 Berichterstattung: Abgeordnete Alfred Hartenbach Norbert Röttgen Rainer Funke 8. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Haltung der Bundesregierung zu Berichten über Defizite bei der Pflegeversicherung und Auswirkungen auf die soziale Sicherheit alter Menschen 9. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes - Drucksache 14/2566 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({12}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss 10. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts - Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 ({13}) - Drucksache 14/2595 Berichterstattung: Abgeordnete Jörg van Essen Dr. Jürgen Meyer ({14}) Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Dr. Evelyn Kenzler Hans-Christian Ströbele 11. Beratung des Antrags der Fraktion SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Fortführung der Beratungen zum Endbericht der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ - Drucksache 14/2568 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({15}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 12. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Die Ergebnisse des Russland-Besuches des deutschen Außenministers Joseph Fischer am 20. Januar 2000 und die Haltung der Bundesregierung zum Tschetschenien-Krieg Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden. Darüber hinaus soll der Tagesordnungspunkt 8 a und b - es handelt sich um Anträge zu Jugoslawien - zusammen mit der Aussprache zur Regierungserklärung aufgerufen sowie das Seuchenrechtsneuordnungsgesetz - Tagesordnungspunkt 6 - mit den Beratungen ohne Aussprache behandelt werden. Des Weiteren mache ich auf die folgende nachträgliche Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 69. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung zur Mitberatung überwiesen werden: Gesetzentwurf der Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Günther Friedrich Nolting, Hildebrecht Braun ({16}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. zur Änderung des Grundgesetzes ({17}) ({18}) - Drucksache 14/1728 ({19}) Überweisungsvorschläge: Rechtausschuss ({20}) Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlos- sen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 und 8 sowie die Zusatzpunkte 2 bis 4 auf: 3. Abgabe einer Erklärung der Bundesregie- rung Der Stabilitätspakt Südosteuropa - Stand und Perspektiven 8 a) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS Aufhebung der Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien - Drucksache 14/2387 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({21}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 8 b) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS Schiffbarmachung der Donau und Wiederaufbau der zerstörten Donaubrücken - Drucksache 14/2388 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({22}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungwesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unterstützung des Stabilitätspaktes Südeuropa - Drucksache 14/2569 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({23}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Hildebrecht Braun ({24}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P Für eine zügige Umsetzung und Vertiefung des Stabilitätspaktes Südosteuropa - Drucksache 14/2584 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({25}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktion der PDS: Aufhebung des Ölembargos gegen Jugoslawien - Drucksache 14/2573 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({26}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Die PDS soll eine Redezeit von zehn Minuten erhalten. - Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat zunächst der Bundesminister des Auswärtigen, Joschka Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als am 10. Juni vergangenen Jahres der Stabilitätspakt für Südosteuropa in Köln beschlossen wurde, lag das Ende des Kosovo-Krieges nur wenige Stunden zurück. Die aus dem Kosovo abrückende jugoslawische Armee hinterließ ein verwüstetes Land und eine zutiefst traumatisierte Bevölkerung. Der Krieg im Kosovo war der vierte Krieg im ehemaligen Jugoslawien in weniger als einem Jahrzehnt. Seit 1991/92 waren Hunderttausende ermordet und Millionen Menschen vertrieben worden - eine furchtbare Bilanz. In Bosnien hatte die Staatengemeinschaft viel zu spät und viel zu zaghaft gehandelt. Durch das Eingreifen im Kosovo konnten wir verhindern, dass Milosevic sein Ziel der totalen Vertreibung erreichte und die Region immer tiefer in den Abgrund riss. Aber für die Hunderttausenden, die vertrieben, umgebracht, gefoltert oder vergewaltigt wurden, kamen wir auch dieses Mal zu spät. Die wichtigste Lehre aus dem Kosovo-Krieg musste und muss deshalb heißen, nicht wieder erst dann zu reagieren, wenn es schon zu spät ist, sondern mit einer umfassenden, massiven, lang andauernden Kraftanstrengung präventiv zu handeln, um den Teufelskreis von Gewalt, Unterdrückung und Instabilität endlich und endgültig zu durchbrechen. ({0}) Die Bundesregierung hat deshalb die Initiative zu dem Stabilitätspakt ergriffen. Der Stabilitätspakt befindet sich gegenwärtig in einer entscheidenden Phase. Eine gute Basis ist in den vergangenen Monaten gelegt worden. Doch darüber, ob der Pakt auch wirklich den tief greifenden Wandel bewirken kann, den wir uns alle erhoffen, werden maßgeblich die kommenden Wochen und Monate entscheiden, in denen es um die Umsetzung des Vereinbarten und vor allem um die Bereitschaft geht, sich hierfür langfristig, auch und gerade finanziell, zu engagieren. Ich möchte diese Erklärung zum Anlass nehmen, um an Sie den dringenden Appell zu richten, jetzt nicht zur Tagesordnung überzugehen, sondern sich weiter aktiv hinter den präventiven Ansatz des Stabilitätspaktes zu stellen. ({1}) Wie oft wurde das große Wort Prävention beschworen, wenn es um die Vermeidung von Konflikten gerade auf dem Balkan ging! Mit dem Stabilitätspakt müssen wir beweisen, dass wir es mit unserem Engagement ernst meinen. Dies ist auch eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit der deutschen und der europäischen Außenpolitik. Seit dem Startschuss in Köln haben viele Konferenzen stattgefunden und zahlreiche Einzelprojekte sind vereinbart worden. Die wichtigste bisherige Leistung ist jedoch, dass es gelungen ist, unter den 50 Beteiligten einen politischen Konsens über die Ziele und Methoden des Stabilitätspaktes herzustellen. Dies ist in hohem Maße das Verdienst des Sonderbeauftragten Bodo Hombach und seines Teams, die diese Leistung in wenigen Monaten in einer äußerst komplizierten internationalen Struktur und unter allem anderen als einfachen Startbedingungen erbracht haben. Bodo Hombach gebührt dafür nicht nörgelnde, kleinkrämerische Kritik oder die Übertragung innenpolitischer Kritik auf seine jetzige Aufgabe, sondern die Anerkennung des Deutschen Bundestages. ({2}) Der Stabilitätspakt muss jetzt von der Planungs- in die Realisierungsphase eintreten. Die auf dem Tisch liegenden Projekte müssen so rasch wie möglich zu konkreten Baustellen werden. Zentrale Bedeutung wird die Ende März stattfindende Finanzierungskonferenz haben. Im Mittelpunkt werden dabei die Finanzierung von Großprojekten mit Symbolkraft, so genannte Leuchtturmprojekte, stehen, außerdem so genannte Schnellstart-, oder, wie es auf Neudeutsch heißt, „Quick-startPakete“, mit sofort abfließenden Geldern sowie eventuell die Einrichtung eines Trust-Fund. Die Bundesregierung hat hierfür soeben ein Gesamtkonzept erarbeitet und, über vier Jahre verteilt, 1,2 Milliarden DM bereitgestellt. Mehrere von Finanzierungsvorbehalten unabhängige Projekte wurden bereits an den Arbeitstischen abgeschlossen. So hat der Wirtschaftstisch eine Investmentcharta verabschiedet, in der politische Ziele für alle Länder der Region festgelegt sind, einschließlich konkreter länderspezifischer Fahrpläne und Zieldaten. Dieses Projekt wird eine für private Investoren außerordentlich wichtige Grundlage bilden, um Planungs- und Rechtssicherheit herzustellen und damit Investitionen zu ermöglichen. Privatwirtschaftlichem Engagement, Know-how- und Kapitaltransfer kommt eine Schlüsselrolle für die Entstehung dauerhaft wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstrukturen in der Region zu. Die Bundesregierung hält deswegen eine praxisnahe Beratung vonseiten der Wirtschaft für unverzichtbar. Auf unsere Initiative wurde in der vergangenen Woche in Berlin ein „Business Advisory Council“ gegründet, der die Regierungen beraten und die Perspektive der Wirtschaft in den Reformprozess einbringen soll. Dem Ausschuss sitzen je ein deutVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer scher und ein französischer Spitzenmanager vor und ihm gehören Mitglieder aus zahlreichen Stabilitätspaktländern an, auch aus Südosteuropa. Ziel ist die Herausbildung effizienter, sich selbst tragender marktwirtschaftlicher Strukturen und die Schaffung eines regionalen, nach außen offenen Marktes. Dies ist auch die Konsequenz der Negativerfahrungen, die in Bosnien gemacht wurden. Am Tisch für Demokratie und Zivilgesellschaft wurde eine Mediencharta erarbeitet, die zum Kern einer Mediengesetzgebung nach westlichem Muster werden kann. Eine freie Medienlandschaft ist eine der ganz wichtigen, zentralen Voraussetzungen für die Demokratisierung. In vielen Ländern besteht jedoch noch kein oder nur ein sehr schwacher Schutz für Journalisten. Diese werden immer wieder Repressionen ausgesetzt. Um unsere verfügbaren Mittel optimal zu nutzen, wurde auf Initiative der Bundesregierung eine Clearing-Stelle für Medienhilfe im Rahmen des Stabilitätspaktes beim Bayerischen Rundfunk eingerichtet. Weitere Aktivitäten am Demokratietisch zielen auf die Schaffung einer starken Zivilgesellschaft, eines wirksamen Minderheitenschutzes, eine intensivierte Zusammenarbeit der Parlamente sowie eine Verbesserung der Bildungsinfrastruktur. Hervorheben möchte ich die Reform der Geschichtsbücher. Investitionen sind hier von größter Wichtigkeit, um die in der Region noch stark verankerten nationalen - um nicht zu sagen: nationalistischen - Denkmuster überwinden zu helfen. ({3}) Im Bereich der inneren Sicherheit wurden ebenfalls mehrere Projekte auf den Weg gebracht, darunter eine Antikorruptionsinitiative. Von den Regierungen in der Region wurde das Thema Kleinwaffen auf die Tagesordnung gesetzt, das für sie ein großes Problem bei der inneren Sicherheit darstellt. Insgesamt ist es beachtlich, wie schnell der Stabilitätspakt die Staaten der Region dazu ermutigt hat, in eigener Regie Projektvorschläge vorzulegen. Ohne den neuen Rahmen wäre dies so nicht vorstellbar gewesen. Ich möchte hier - ein sehr wichtiger Punkt - auf die griechisch-mazedonisch-albanische Zusammenarbeit hinweisen, ebenso auf die gemeinsamen Projektvorschläge Bulgariens, Albaniens und Mazedoniens. Erfreulich ist auch, dass Montenegro sich einigen dieser Initiativen angeschlossen hat. Die Beteiligten haben dabei ausdrücklich erklärt, dass sie im übergeordneten Interesse der Zusammenarbeit bereit sind, bestehende bilaterale Konflikte zurückzustellen. Dies ist genau der richtige und erwünschte Ansatz, um das gegenseitige Grundvertrauen in der Region zu fördern. ({4}) Meine Damen und Herren, der politische Richtungswechsel in Kroatien ist von allergrößter Bedeutung für Kroatien selbst wie für seine Nachbarn, gerade auch für Serbien. Kroatien hat sich in einem überzeugenden Votum vom Nationalismus Franjo Tudjmans frei gemacht. Es hat damit alle Chancen, die Weichen in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu stellen und damit den Anschluss an Europa zu finden. Nach jahrelanger politisch-mentaler Isolation und in desolater wirtschaftlicher Lage wird dies Zeit und auch unsere Hilfe brauchen. Doch die Entwicklung in Slowenien zeigt bei allen Unterschieden, dass dieser Prozess schneller gehen kann, als viele erwarten. Die Bundesregierung und ihre EU-Partner sind entschlossen, den Kurs der neuen, demokratischen Führung in Kroatien zu unterstützen, gerade auch im Rahmen des Stabilitätspaktes. ({5}) Wir werden dabei darauf drängen, dass unter der neuen Führung endlich auch Bewegung in die Frage der Flüchtlingsrückkehr in die Krajina kommt. Dieses wird vor allen Dingen für die Demokratisierung in Belgrad von überragender Bedeutung sein. ({6}) Damit wird hoffentlich auch die Blockade in anderen Teilen der Region überwunden werden können. Die Schlüsselfrage für die Zukunft der Region ist ohne Zweifel die Demokratisierung der Bundesrepublik Jugoslawien. Hierbei kann und muss der Stabilitätspakt einen zentralen Beitrag leisten. Es muss klar werden, dass mit dem Stabilitätspakt keine Mauer um das serbische Volk gebaut wird - im Gegenteil! ({7}) Wir stehen diesbezüglich in einem fortdauernden Dialog mit der demokratischen serbischen Opposition und mit der montenegrinischen Führung. Unser gemeinsames Ziel ist die Durchführung freier, unabhängiger und fairer Wahlen in Serbien. Alle serbischen Oppositionsgruppen haben Milosevic am 10. Januar aufgefordert, Wahlen auf allen Ebenen bis Ende April durchzuführen. Die Bundesregierung und ihre EUPartner unterstützen, zusammen mit den USA, diesen Appell mit allem Nachdruck. ({8}) Entscheidend ist, dass die serbische Opposition jetzt geschlossen auftritt, um der Bevölkerung eine glaubwürdige Alternative zu Milosevic zu bieten. Die jüngsten Erklärungen, künftig gemeinsam vorzugehen, sind ermutigend. Sie sind im Übrigen maßgeblich auf das Treffen in Berlin am 17. Dezember zurückzuführen. Zur Unterstützung der serbischen Opposition wird die Bundesregierung bilateral und mit unseren EU-Partnern die Maßnahmen humanitärer Hilfe und zur Stärkung der unabhängigen Medien fortsetzen und noch weiter ausbauen. Ein wichtiges Instrument zur Realisierung solcher Projekte sind Städtepartnerschaften. Eine entsprechende Initiative ist das erste konkrete Projekt des Stabilitätspaktes. Auf meine Anregung hin sind die deutschen Städte zur Mitarbeit im Rahmen von deutschserbisch-montenegrinischen Projektpartnerschaften eingeladen und ein Sonderbeauftragter hierfür, Herr Jupp Vosen, ist ernannt worden. Bisher haben zehn deutsche Städte Interesse daran bekundet. Wir bauen dabei auch auf die Unterstützung des Deutschen Bundestages. Als Antwort auf die gemeinsamen Forderungen der serbischen Opposition müssen wir unsere Sanktionspolitik jetzt überprüfen. Die Bundesregierung setzt sich aktiv für eine Verschärfung der direkt gegen das Milosevic-Regime und seine Freunde gerichteten Sanktionen, die übrigens schon heute sehr wirksam sind, vor allem Visa-Listen und ein Einfrieren der Bankkonten im Ausland, ein. Gleichzeitig aber wollen wir die Embargomaßnahmen, die in erster Linie die Bevölkerung treffen, lockern: zunächst die Aufhebung des Flugverbots und in einem zweiten Schritt die Aufhebung oder Suspendierung des Ölembargos. Wie Sie wissen, wird diese Meinung bisher noch nicht von allen EU-Partnern geteilt, aber wir werden uns in der Union weiter für diesen Kurs einsetzen. Solange das Ölembargo noch besteht, unterstützt die Bundesregierung zudem einen Ausbau des Programms „Energy for Democracy“. ({9}) Ich denke, das ist ein sehr wichtiger Punkt, auch im Zusammenhang mit der Veränderung der politischen Lage in Kroatien: Wir müssen hier klug vorgehen, um der neuen kroatischen Regierung zu helfen, die Wirtschaftskrise zu meistern, während Kroatien gleichzeitig Ernst machen muss mit seiner Verpflichtung, die Rückkehr der Flüchtlinge aus der Krajina zuzulassen und diese auch entsprechend praktisch umzusetzen. Gleichzeitig müssen wir jetzt, nachdem die Opposition in Serbien zur Einheit gefunden hat, diese Opposition unterstützen, Montenegro unterstützen und gleichzeitig die Forderung der Opposition, die inneren Sanktionen aufzuheben, umsetzen. Dann, so denke ich mir, werden wir eine völlig andere Lage im Innern Serbiens haben. Dann sind auch die Chancen, dass die demokratische Opposition wirklich in die Offensive Richtung Neuwahlen kommt und diese Neuwahlen auch gewinnen kann, sehr gut. Genau das ist das Ziel unserer Politik, und hierbei hat der Stabilitätspakt eine zentrale Funktion. ({10}) Sehr wichtig ist deshalb jetzt auch die Wiederherstellung der Schiffbarkeit der Donau. Die Donau ist für die Region eine überragende Verkehrsstraße angesichts der schwachen landseitigen Verkehrsinfrastruktur. Wir haben uns für eine Unterstützung der Europäischen Union bei der Räumung der Fahrrinne der Donau eingesetzt. Die Union ist dazu grundsätzlich bereit. Die Bundesregierung prüft darüber hinaus ganz konkret die Möglichkeiten, zum Bau einer Behelfsfußgängerbrücke bei Novi Sad beizutragen. Besonderes Augenmerk muss der Entwicklung in Montenegro im Rahmen der territorialen Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien gelten. Verläuft diese demokratische Entwicklung erfolgreich, so kann sie eine Schaufensterfunktion für Serbien ausüben. Hier kann aber auch ein weiteres potenzielles Pulverfass für die gesamte Region liegen. Die Bundesrepublik hat sich deshalb von Anfang an für eine Mitwirkung Montenegros am Stabilitätspakt eingesetzt. Jetzt geht es vor allem darum, Montenegro bei der Überwindung seiner großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu helfen. Wir müssen die internationalen Finanzinstitutionen, denen bisher aufgrund technischer Probleme die Hände gebunden sind, handlungsfähig machen und wir müssen natürlich auch selbst handlungsfähig werden. Die Bundesregierung prüft deshalb gegenwärtig eigene Möglichkeiten wirtschaftlicher und finanzieller Zusammenarbeit mit Montenegro. Auch die weitere Entwicklung im Kosovo wird starke Auswirkungen auf Serbien wie auf Montenegro haben. Nach den ersten sechs Monaten sind beachtliche Fortschritte zu verzeichnen: Die äußere Sicherheit ist dank KFOR gewährleistet. Eine Interimsverwaltung konnte endlich in diesem Monat aufs Gleis gesetzt werden. Aber die Probleme, denen sich die VN-Mission UNMIK und die KFOR-Soldaten unter General Reinhardt gegenübersehen, sind enorm. Die Arbeit der VNMission steht und fällt mit der Unterstützung, und zwar mit der materiellen und finanziellen, die sie von der internationalen Gemeinschaft erhält. Um der akuten Finanznot der VN-Mission abzuhelfen, hat das Auswärtige Amt im letzten Monat 19 Millionen DM aus seinem Haushalt in den KosovoTrust-Fund der Vereinten Nationen überwiesen. Wir stehen damit an der Spitze der Geber und werden auch weiterhin unseren Beitrag zur Stabilisierung des Kosovo leisten. Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, aber auch die Gelegenheit nutzen, mich sowohl bei General Reinhardt als auch bei Herrn Koenigs für die geleistete vorzügliche Arbeit, die sie im Kosovo im Auftrag der Vereinten Nationen leisten, recht herzlich zu bedanken. Ich kann Ihnen auch weiterhin unsere Unterstützung versichern. ({11}) Im Stabilitätspakt wird für Südosteuropa erstmals eine, wenn auch langfristig angelegte, konkrete Perspektive für den Beitritt zu den euroatlantischen Strukturen aufgezeigt. Nicht umsonst hat jetzt die Türkei einen Stabilitätspakt für den Kaukasus vorgeschlagen. Die Bedeutung dieser Perspektive kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Sie wirkt sich - wie es gerade die jüngsten Beispiele der Slowakei und Kroatiens eindrucksvoll zeigen - unmittelbar auf die Demokratisierung dieser Staaten aus. Die EU steht auch deshalb in besonderer Verantwortung für den Stabilitätspakt. Wir sind aber sehr froh über die breite Unterstützung seitens der vielen anderen internationalen Organisationen, der G 8, unter anderem durch die Steuerungsgruppe der Finanzminister, der NATO, der OSZE, der Vereinten Nationen, der OECD und vor allem auch der internationalen Finanzinstitutionen. Es ist besonders erfreulich, dass sich die USA auch finanziell so nachhaltig engagieren. Gleiches gilt für Japan, das - trotz der geographischen Entfernung - die wirklich beachtliche Summe von über 2 Milliarden Euro für den Wiederaufbau in Südosteuropa zur Verfügung gestellt hat. Wir sind hierfür sehr dankbar. ({12}) Meine Damen und Herren, der Stabilitätspakt als Gesamtkonzept für die politische Zukunft Südosteuropas ist ein ehrgeiziges Projekt. Es ist völlig klar, dass seine Realisierung eine lange Zeit brauchen wird. Es geht hier um die Überwindung von tief verwurzelten Denkkategorien und Konfliktursachen, aber auch von erheblichen institutionellen und ökonomischen Defiziten. Südosteuropa ist jedoch genauso wenig wie andere Teile Europas vom Schicksal zu Instabilität, Gewalt und immer neuen ethnischen Vertreibungen verdammt. Das zeigen schon die beeindruckenden Fortschritte einzelner südosteuropäischer Staaten, die bereits jetzt stabilisierend auf ihre Umgebung ausstrahlen. Doch um diesen Prozess weiterzuführen und zu beschleunigen, braucht es anhaltende und nachhaltige Unterstützung von außen. Der Balkan, der in der Geschichte immer wieder eine Quelle von Instabilität und Krieg auf unserem Kontinent war, muss endlich zur Ruhe kommen. Das wird er nur, wenn wir auch diese Region an das Europa der Integration heranführen. Mit der Arbeit an dem Stabilitätspakt können wir einen entscheidenden Beitrag für den Frieden in Europa leisten. Vielen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein halbes Jahr nach dem Gipfel von Sarajevo, der durch seinen Ablauf - Anflug, Gruppenfoto, kurze Reden, Abflug - ein kleines Schlaglicht auf die Probleme der westlichen Welt im nachhaltigen Umgang mit Südosteuropa geworfen hat, ist es an der Zeit, Zwischenbilanz zu ziehen und Anspruch und Wirklichkeit des Stabilitätspaktes zu untersuchen. Man muss sortieren: Was war mit diesem Pakt geplant, wo war er von vornherein unrealistisch und was wird den Wirklichkeitstest bestehen? Ich befürchte, dass wir mit krisenhaften Entwicklungen auf dem Balkan, die durch den Stabilitätspakt allein nicht verhindert werden, auch in Zukunft werden rechnen müssen. Herr Bundesaußenminister, der Ansatz des Stabilitätspaktes geht allerdings in die richtige Richtung. Insofern gehen auch wir nicht zur Tagesordnung über. Die Unterstützung für eine stabile Entwicklung in dieser Region Europas ist auch für unsere eigene Stabilität entscheidend. Allerdings ist es dem Stabilitätspakt bisher nicht gelungen, den zugrunde liegenden Teufelskreis zwischen ökonomischem Desaster, ethnischer Feindseligkeit und dem Abhandenkommen tragfähiger Verwaltungsstrukturen zu entkommen. Das liegt sicher zum Teil am heterogenen Teilnehmerkreis. Wenn man allein an die große Anzahl der internationalen Organisationen - 15 an der Zahl - denkt, bekommt jedermann einen Eindruck davon. ({0}) Diese Organisationen spiegeln ja nicht nur die Vielfalt der Möglichkeiten wider, sondern auch die Vielfalt der unterschiedlichsten Interessen. Es ist auch bisher nicht recht gelungen, sie glaubwürdig auf eine gemeinsame Strategie festzulegen. Ich will das nicht ausschließlich an der Person des Sonderkoordinators Hombach festmachen. Es leiden nicht nur die Länder in der Region, die vom Stabilitätspakt profitieren sollen, an der fahrigen Arbeitsweise à la Sarajevo-Gipfel, die eine Idee an die andere knüpft, die Ideen aber nicht richtig miteinander verknüpft, sondern auch daran, dass Herr Hombach - dafür kann er nun nichts - ein Sonderkoordinator zwar mit Titel, aber ohne Mittel ist. Die Bereitstellung der Mittel war ja doch sehr schwierig. Wenn ein Sonderkoordinator zuerst einmal alle seine Auftraggeber koordinieren muss, dann bestehen bei dem Einsatz vielleicht doch wenig Möglichkeiten, um das zu tun, was er eigentlich tun sollte. Die Einigkeit, die Sie, Herr Außenminister, beschworen haben, scheint nun wirklich nicht in diesem Ausmaße vorhanden zu sein, angesichts der Tatsache, dass Frau Albright gestern in einer öffentlichen Rede die Europäer ermahnte, sie sollten endlich ihren Verpflichtungen - sie meinte wohl vor allem die monetären, aber auch andere Verpflichtungen - in Bezug auf Kosovo nachkommen. Ich will das nun nicht kommentieren, ich will das nur einfach darstellen, weil hier doch offensichtlich unterschiedliche Akzente gesetzt werden. Es gibt ja auch, - dies stellt man fest, wenn man beispielsweise die Verlautbarungen aus Bulgarien verfolgt - eine starke Ungeduld in den Mitgliedstaaten des Solidaritätspaktes. Deswegen stimme ich Ihnen zu: Die Geberkonferenz im März muss klare Zeichen setzen. Sie muss finanzielle Mittel bereitstellen - und zwar ausgewogen und ohne einseitig zu belasten - und sie muss dieses Geld schnellstmöglich in Projekte umsetzen. Es fragt sich aber trotzdem, ob dieser Stabilitätspakt das Ziel, das wir alle mit ihm mehr oder weniger verbinden, wirklich mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, und mit der Philosophie, die ihm zugrunde liegt, erreichen kann. Leuchtturmprojekte und Quick-startPakete - sie scheint Bill Gates mit entwickelt zu haben sind sehr interessant, aber sie umreißen eigentlich nicht mehr als ein Symbol. Sie geben ein Leuchtfeuer ab, aber sie überbrücken deswegen noch längst nicht den Ozean und die reißenden Fluten. Das grobe Ziel ist umrissen. Man will einen befriedeten, dem friedlichen Handel und Wandel geöffneten Balkan, in dem Konflikte nach den Mechanismen der Prävention, der Verhandlung und des Ausgleichs gelöst werden und nicht durch Gewalt und Repression. Darüber sind wir uns völlig einig; das kann niemand ernsthaft anders wollen. Aber das ist noch keine Strategie. Die Skizzierung der Schritte zur Erreichung dieses Ziels, die der Stabilitätspakt vorgibt, mag in die richtige Richtung gehen; entscheidende Fragen kann sie nicht beantworten. Zutreffenderweise schrieb neulich Susan Woodward, dass der Stabilitätspakt „eine Hülle ohne Strategie“ bleibe. Damit hat sie wohl Recht. Eine Strategie müsste sich auch den Fragen stellen, die über das rein Kommunikative und Investive hinausgehen, zum Beispiel der Frage, wie die politische Gliederung des Balkans zukünftig aussehen soll. Ohne alle Staaten auf die EUMitgliedschaft zu vertrösten, muss vorher klar werden, wie beispielsweise der Kosovo staatlich gegliedert werden soll. ({1}) Es muss die Frage der weiteren Behandlung der Minderheiten - das, was im Balladur-Plan angedacht war - geklärt werden: Wie kann die Verknüpfung zwischen territorialer Situation und ethnischer Diversifikation erreicht werden? Auf diese Frage finde ich im Ansatz des Stabilitätspaktes zwar hochwohllöbliches Denken, aber wir müssen konstatieren, dass er uns bisher nicht in einer Weise Antworten geben konnte, die wir erwarten müssten. Ein Konzept für eine Zeit nicht nur nach Milosevic, sondern für eine Zeit, in der sich die KFOR-Truppen wieder zurückziehen können, muss vorhanden sein, wenn Sie so wollen - damit soll es mit der Computersprache aber sein Bewenden haben - eine Exit-Strategie genauso wie eine Input-Strategie. Ich meine damit eine Strategie, mit der versucht wird, für die Zeit danach tragfähige und nicht nur für den Augenblick nützliche Grundlagen zu schaffen. Dieses Konzept erfordert, dass wir uns auch mit der Frage der Präsenz europäischer Truppen auf dem Balkan auseinander setzen, etwa ob nach Ansicht der Bundesregierung eine Dauerstationierung wie in Zypern notwendig sein wird und welche Strategien zum Rückzug bestehen. Wenn ein baldiger Rückzug der Truppen als unrealistisch angesehen wird, dann muss die Bundesregierung dies jetzt auch der Bevölkerung offen sagen. Gespannt bin ich, welche Vorschläge zur Finanzierung der Bundeswehr dann von dieser Bundesregierung präsentiert werden; denn das wird nicht billig sein. Ich möchte das nur in den Raum stellen. Das ist eine ganz wichtige Frage, die immer öfter gestellt wird. Vor einem halben Jahr haben wir begonnen, uns im Kosovo zu engagieren. In Bosnien engagieren wir uns schon seit Jahren. Wie soll der Weg aus dieser Situation heraus aussehen und was soll nach dem Abzug geschehen? Das ist ein wichtiger Punkt, über den diskutiert werden muss. Er ist sogar entscheidend, nicht nur für unsere Soldaten. Es muss ein Übergang von der bloßen Befriedung hin zu einer tragfähigen Struktur, auf deren Grundlage die Konflikte so gelöst werden können, wie es der Bundesaußenminister in den letzten Sätzen seiner Regierungserklärung beschrieben hat, gefunden werden. ({2}) Die nächste Frage ist, ob das Konzept einer ethnischen Separierung Grundlage für die Zukunft des Balkans sein darf oder nicht. Das ist eine schwierige, sehr komplizierte Frage. Wir spüren die Schwierigkeiten, wenn wir uns angesichts der Entwicklung im Kosovo die Frage stellen: Kann die KFOR die serbische Minderheit im Lande schützen und halten? In der Frage der Rücksiedlung der Krajina-Serben nach Kroatien stimme ich Ihnen zu, Herr Außenminister. Wir erwarten in der Tat von der Führung in Kroatien, dass sie eine neue Entwicklung einleitet und die Dinge ernsthafter und konsequenter als bisher angeht. Dahinter stecken natürlich Grundsatzfragen, die eigentlich den ganzen Balkan betreffen. Ein Teil unseres Kontinents war immer schon ein Durchgangsgebiet, in dem sich schon aus Gründen der Topographie in den verschiedenen Tälern andere Ethnien angesiedelt haben. So leben beispielsweise in Nordserbien - wir reden immer nur von der ungarischen Minderheit - insgesamt 40 verschiedene ethnische Volksgruppen, die zum Teil sehr klein sind und die sich auch die Frage stellen: Wie können wir in Zukunft in Sicherheit leben, ohne befürchten zu müssen, dass unser Haus angezündet wird? Wenn der Stabilitätspakt etwas leisten will, dann muss er über das hinausgehen, was bisher von Herrn Hombach vorgelegt worden ist. Aber der Stabilitätspakt - damit komme ich zur Frage der wirtschaftlichen Beteiligung und der Lösung der fortbestehenden ökonomischen Katastrophe - darf sich nicht auf die Frage der öffentlichen Finanzierung des Wiederaufbaus auf dem Balkan beschränken; vielmehr muss er versuchen, Kräfte wirtschaftlicher Dynamik zu entfalten. Deswegen unterstützen wir ausdrücklich den Versuch des Business Advisory Council, auch für privates Investment in einer Situation zu sorgen, in der Unsicherheiten bestehen, die aber von staatlicher Seite allein auch mit noch so viel Geld nicht überwunden werden können. Hier bedarf es der Aktivierung der Kräfte des Marktes mit Flankierung und Unterstützung durch die öffentliche Seite. ({3}) Ich glaube, dass wir auf dem richtigen Weg sind, der eine entsprechende Entwicklung auslösen wird. Allerdings steht auch hier der Test noch aus. Wir sind gespannt, was uns der „Wirtschaftstisch“ in seinen nächsten Sitzungen präsentieren wird und wo investiert werden soll. Man darf auch nicht aus der Ferne einen Zaun um Jugoslawien herum ziehen. Das ist völlig richtig. Christian Schmidt ({4}) Ich komme zu der von Ihnen angesprochenen Embargopolitik. Ein Embargo ist meistens dann wirksam, wenn es angedroht wird, und nicht dann, wenn es durchgeführt wird. Was Jugoslawien und Milosevic betrifft: Ich stimme zu, dass vom Embargo einiges Sinnvolles ausgegangen ist. Was allerdings die Aufhebung des Flugembargos betrifft, so ist schon ganz interessant zu sehen, dass sich Großbritannien, das zu Beginn dieses Embargos eine ganz andere Position eingenommen hat, nun anders verhält. Man muss fragen, was dahinter steckt. Unter der Überschrift „Einigkeit der Europäer und der transatlantischen Partner“ wäre es interessant, darüber nachzudenken.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Abgeordneter, denken Sie an die Redezeit, bitte.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Der Stabilitätspakt ist ein von uns im Ansatz unterstützter Schritt. Er darf nicht überfrachtet werden, weil er das wahre Problem der ethnischen Gliederung und der staatlichen Ordnung des Balkans nicht löst. Deswegen muss da sehr viel mehr „Butter bei die Fische“. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gernot Erler.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Stabilitätspakt für Südosteuropa ist eine Antwort auf Erfahrungen der letzten zehn Jahre. Diese Erfahrungen waren unterschiedlich. Es gab Fortschritte bei der europäischen Integration und bei der Entwicklung der Europäischen Union. Es gab die Vorbereitungen auf den Erweiterungsprozess, erste Schritte zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und erfolgreiche Transformations- und Reformprozesse in einigen Ländern Osteuropas, Mitteleuropas und auch Südosteuropas. Auf der anderen Seite gab es in Südosteuropa aber ein regelrechtes Desaster: nacheinander vier Kriege im Auflösungsprozess der Bundesrepublik Jugoslawien, zweimal mit militärischer Intervention und Beteiligung des Westens. Dazu kamen unerhört kostspielige Wiederaufbaumaßnahmen, die uns lehren, dass Reparatur immer teurer ist als Prävention, ({0}) und eine Fortdauer der Instabilität. Jederzeit können neue Konflikte, Krisen und auch Kriege in dieser Region ausbrechen. Das sind die Erfahrungen dieser zehn Jahre. Insofern stehen folgende Erkenntnisse hinter der Initiative des Stabilitätspakts. Wir konnten Fehlentwicklungen nicht vermeiden, weil es eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Europas und des Westens nicht gab und weil unsere präventiven Instrumente zu schwach ausgebildet waren. Die Anreize und die Perspektiven für die Staaten und die Menschen Südosteuropas waren für ein anderes Verhalten, für eine andere Art von Konfliktlösung nicht ausreichend. Im Zeitalter der europäischen Integration und der Globalisierung kann es ein stabiles Europa aber nur mit einem stabilen Südosteuropa geben; anders ist dies nicht möglich. ({1}) Insofern besteht ein Handlungszwang. Die Existenz einer „Kriegsgeburtsgrotte“, um einen Begriff von Peter Handke für den Balkan aufzunehmen, ist mit Europas Zukunft nicht vereinbar. ({2}) Die gemeinsame Politik Europas und der Weltgemeinschaft, diese jetzt in Südosteuropa stattfindende Initiative ist insofern ohne Alternative. Das Drehbuch zu dieser Politik ist der Stabilitätspakt. Wie ist der Status im Augenblick? Die wichtigste Botschaft dieser Debatte sollte sein: Bundesregierung und Bundestag unterstützen nachdrücklich den Ansatz, den Weg und die Umsetzung des Stabilitätspakts - gerade jetzt in einer schwierigen und kritischen Phase seiner Genese. Wir sind zu erheblichen Anstrengungen bereit. Wir erwarten solche aber auch von unseren anderen europäischen Nachbarn und Freunden. Wir sind der Meinung, dass die Parlamente in dieser Frage eine wichtige Rolle spielen sollen, ebenso wie die internationalen Finanzorganisationen. ({3}) Wo stehen wir heute? Es ist schon gesagt worden: Die Idee des Stabilitätspaktes kam während des KosovoKriegs aus Deutschland. Am 10. Juni fand der Kölner Gipfel statt. Am 30. Juli fand die große Konferenz in Sarajevo statt. 31 Staats- bzw. Ministerpräsidenten und 17 internationale Organisationen haben da ein spektakuläres Commitment, eine Selbstverpflichtung, zum Ausdruck gebracht, die uns bindet. Sie hat Erwartungen geweckt. Diese Erwartungen dürfen nicht enttäuscht werden. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Seither ist ein halbes Jahr vergangen. Herr Schmidt, ich danke Ihnen wirklich für Ihre abwägende und sachliche Rede, in der Sie zu Recht gesagt haben, dass noch nicht alle Aufgaben des Stabilitätspaktes erfüllt worden sind. Aber das Büro des Sonderbeauftragten in Brüssel hat mit 28 Mitarbeitern eine gute Vorarbeit geleistet. Auch die drei Tische und der Regionaltisch, die vom Koordinator selbst geleitet werden, sowie die internationalen Organisationen haben intensive Arbeit geleistet. Herr Kollege Schmidt, ich möchte Ihnen ausdrücklich dafür danken, dass Sie - anders, als es der eine oder andere hier vielleicht erwartet hat - nicht die Person des Sonderkoordinators in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung gerückt haben. Ich möchte meinen Dank aber mit einer Bitte an Ihre Fraktion verbinden: Sagen Sie doch einmal Ihren Kollegen im Europäischen Parlament, Christian Schmidt ({4}) dass es einfach beschämend ist, wenn deutsche Parlamentarier in Europa immer wieder so tun, als ob das Wichtigste am Stabilitätspakt die Nutzung von unbewiesenen Vorwürfen gegen Herrn Hombach sei. Das lenkt von der eigentlichen Hauptsache ab und gehört sich einfach auch nicht. Parlamentarier im Ausland sollten sich nicht so benehmen. Ich wollte Sie einfach bitten, das zu tun. ({5}) Bundestag und Bundesregierung haben dadurch, dass sie für die nächsten vier Jahre 1,2 Milliarden DM bewilligt und in den Bundeshaushalt eingestellt haben, eine gute Vorleistung erbracht, der Signalwirkung zukommt. Dies geschah in der Hoffnung, dass andere dies nachmachen. Jetzt befinden wir uns in der entscheidenden Vorbereitungsphase für die Finanzierungskonferenz am 29. und 30. März dieses Jahres. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Prozess der Definition der regional bedeutsamen Projekte läuft auf Hochtouren. Wir sind von über 400 solcher Projekte ausgegangen. Jetzt sind noch 118 in der engeren Prüfung. Es ist bemerkenswert, dass 89 davon aus der Region heraus formuliert worden sind. Die Teilnehmerstaaten des Stabilitätspakts bereiten sich jetzt darauf vor, ihre Reform- und Transformationsprojekte auf dieser Finanzierungskonferenz im März zu präsentieren. Beides gehört zusammen. Ich freue mich, Herr Kollege Schmidt, dass Konsens über die Bedeutung des Business Advisory Council besteht, der auf deutsche Initiative hin jetzt die Arbeit aufgenommen hat; denn es ist in der Tat wichtig, dass führende europäische Wirtschaftsvertreter die Projekte evaluieren, dass sie versuchen, Konzepte zu finden, um das Investitionsklima in den Ländern zu verbessern, damit das berühmte Prinzip der „Public-Private-Partner-ship“ Realität werden kann. Das Ganze allerdings - auch das hat Ihre Rede gezeigt - findet jetzt in einem Umfeld ungeduldiger Erwartung statt. Letztes Wochenende haben sich sieben Regierungschefs aus Südosteuropa - das waren die von Albanien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Mazedonien, Rumänien und Ungarn - im bulgarischen Hissarja getroffen und haben noch einmal diese Ungeduld und Erwartung zum Ausdruck gebracht. Auch die Fragen bei uns werden drängender: Wann wird denn aus den Projekten das, was man Baustellenoder Leuchtturmprojekte - das ist ein tolles Wort nennt? Das heißt nichts anderes, als dass es Projekte sind, die den Leuten zeigen sollen, dass - etwa durch Brückenbau, Straßenbau, Verkehrsverbindungen, Kommunikationsverbindungen - konkret etwas für diese Region passiert. Ich denke, in dieser Zeit verstärkter Erwartung ist es unsere Pflicht, die Übersicht zu behalten. Das heißt, wir müssen erkennen, wie wichtig es war, mit dem Stabilitätspakt die politischen Antworten auf den KosovoKrieg zu institutionalisieren. Wir müssen heute doch von einer Karawane der internationalen Politik sprechen. Diese Karawane ist längst von Südosteuropa zu anderen Schauplätzen, nach Osttimor oder nach Tschetschenien, weitergezogen. Jetzt zeigt sich, wie richtig und wichtig es war, hier eine Institutionalisierung vorzunehmen. Es ist wichtig zu unterstreichen, dass wir die Lehren aus den Erfahrungen mit dem Wiederaufbauprozess in Bosnien-Herzegowina ziehen müssen. Dort sind schon mehr als 4 Milliarden Dollar investiert worden. Aber politische Stabilität und wirkliche Perspektiven sind nicht entstanden. Das hängt auch mit der Vorbereitung dieses Aufbauprozesses zusammen. Das darf sich beim Stabilitätspakt nicht wiederholen. ({6}) Deswegen war es richtig, eine andere Reihenfolge zu wählen, die jetzt allerdings Ungeduld auslöst. Diese andere Reihenfolge heißt: Erst werden solche Projekte, bei denen grenzüberschreitend gearbeitet wird und die etwas für die Region bringen, definiert, geprüft und Prioritäten festgelegt. Erst dann wird auf der geplanten Finanzierungskonferenz konkret für jedes einzelne Projekt die Finanzierung sichergestellt. Das bedeutet: Der Prozess selber ist schon ein Fortschritt und Fortschritt ist nicht nur die Summe des am Ende Erreichten. Denn die Frage der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit soll bei diesen Projekten immer eine Rolle spielen. Das beinhaltet natürlich die Erwartung, aber auch die realistische Chance, dass unmittelbar nach der Finanzierungskonferenz die Umsetzung, also etwa die Eröffnung von Baustellen, beginnt und dass dann nicht noch einmal ein langer Verzögerungsprozess einsetzt. Notwendig ist ebenso - auch das gehört zu dieser Übersicht -, dass wir für die Reformprozesse bzw. für die Transformationsprojekte in den jeweiligen Ländern Finanzierungsregeln finden. Das ist schwierig. Denn das gehört nicht zur Normalfinanzierung der internationalen Finanzinstitutionen. Es wird hier an Fondslösungen gedacht. Ich sehe, dass das auf einem guten Weg ist. Allen, die ungeduldig sind, rufen wir zu: Auch wir sind es. Aber letztlich führt nur gründliche Vorbereitung zum Erfolg. Die ist im Gange. Auf dieser guten Basis muss die Finanzierungskonferenz dann die nächste Phase, nämlich die der konkreten Umsetzung, einleiten. Natürlich gibt es - darauf haben auch Sie, Herr Schmidt, hingewiesen - eine ganze Reihe von noch ungeklärten Fragen und Herausforderungen. Kroatien hat bisher wenig Projekte grenzüberschreitender Natur definiert. Wir begrüßen den politischen Wechsel, der dort jetzt stattfindet. Aber das heißt auch, dass wir uns jetzt beeilen müssen, bis zum März dieses Jahres noch Projekte zu finden, an deren Durchführung Kroatien sinnvollerweise beteiligt werden kann. Herr Bundesaußenminister, wir begrüßen ausdrücklich, dass Sie und die Bundesregierung jetzt erhebliche Anstrengungen unternehmen, um die Sanktionen und das Embargo gegenüber der Bundesrepublik Jugoslawien zu lockern und aufzuheben. ({7}) Schon lange haben wir den Eindruck, dass diese Maßnahmen mittlerweile eher zur Stabilisierung von Milosevic und seiner politischen Klasse in Belgrad beitragen, - und zwar auf dem Rücken der Bevölkerung -, als dass sie als Anreiz für einen Erfolg der Opposition wirken. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der SzegedProzess, also das Bestreben, mit weiteren Städten in der Bundesrepublik Jugoslawien - ich meine nicht Städte, in denen die Opposition regiert, sondern jene, die sich zu den Zielen des Stabilitätspaktes bekennen - Städtepartnerschaften zu schließen. Wir wünschen unserem ehemaligen Kollegen Jupp Vosen Erfolg dabei. Es ist erstaunlich: Bereits zehn Orte haben ihre Bereitschaft erklärt, neue Städtepartnerschaften einzugehen. Ich nenne beispielsweise Dortmund, Jena und München. Wir wünschen uns, dass das so weitergeht. ({8}) Wir müssen einen Weg finden, damit die durch die Finanzierungsregeln der EIB, der Europäischen Investitionsbank, ausgelöste Selbstblockade aufgehoben wird, um Montenegro einbeziehen zu können. Diese Regeln müsste man vielleicht ändern bzw. man müsste andere bilaterale Maßnahmen treffen. Denn wir alle wissen ich will das hier nicht vertiefen -, welche friedenspolitische Bedeutung das für diese Region hat. Natürlich ist unsere wichtigste Hoffnung nach wie vor, dass die Menschen in der Bundesrepublik Jugoslawien die Kraft haben und auch Wege finden, dass in Zukunft Änderungen stattfinden, die das ganze Land an dem Prozess, der von diesem Stabilitätspakt ausgeht, teilnehmen lassen. Denn eines ist sicher: Wir können dem Stabilitätspakt zu einem Erfolg verhelfen; aber dauerhafte Stabilität in dieser Region ist ohne die Einbeziehung der Bundesrepublik Jugoslawien nicht möglich. ({9}) Ein Projekt möchte ich noch ansprechen - in diesem Zusammenhang appelliere ich an die Regierungen von Bulgarien und Rumänien -: Der Bau einer neuen Brücke über die Donau ist eine unendliche Geschichte. Jetzt besteht die Chance - denn es handelt sich dabei um ein grenzüberschreitendes Projekt -, endlich die Standorte festzulegen, damit dies zu einem der ersten - jetzt verwende ich noch einmal dieses Wort - Leuchtturmprojekte des Stabilitätspaktes wird. Dieses Projekt ist wirklich überfällig. Ich appelliere an die zuständigen Regierungen, dies umzusetzen. Meine Damen und Herren, der Stabilitätspakt hat für meine Fraktion eine besondere Bedeutung. Er ist ein entscheidender Baustein für eine neue, vorausschauende Friedenspolitik sowie für eine wirksame Krisenprävention und er ist für uns zugleich die wichtigste Lehre aus dem Kosovo-Krieg. Das ist nicht nur ein verbales Bekenntnis. Wir haben in unserer Fraktion eine Taskforce für den Stabilitätspakt für Südosteuropa mit Vertretern aus acht verschiedenen Ausschüssen des Bundestages gebildet, die regelmäßig die Arbeit des Stabilitätspaktes begleiten. Wir haben im September hier in Berlin eine Konferenz mit deutschen Experten durchgeführt. Wir haben im Oktober hier eine Parlamentarierkonferenz mit 20 Abgeordneten aus acht Ländern des Stabilitätspaktes durchgeführt und bereiten eine zweite für das erste Halbjahr dieses Jahres vor. Deswegen kann ich abschließend sagen: Wir setzen auf die Signalwirkung dieser Aktivitäten und dieser Bundestagsdebatte in den anderen europäischen Ländern. Die Hoffnungen der Menschen in Südosteuropa auf den Stabilitätspakt dürfen auf keinen Fall enttäuscht werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Kinkel.

Dr. Klaus Kinkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe jetzt 14 Monate lang ruhig auf meinem „Resozialisierungssitz“ auf der Oppositionsbank gesessen ({0}) und in Ruhe und Gelassenheit beobachtet, wie sich die Außenpolitik in Deutschland entwickelt hat. Lieber Herr Kollege Fischer, ich möchte mich in meinen elf Minuten Redezeit ganz besonders an Sie wenden. Wenn ich Sie reden höre, sehe ich Sie immer noch auf Ihrem Abgeordnetenplatz sitzen. Dann erinnere ich mich an manche päpstliche Attitüde, die Sie manchmal lautstark, manchmal herablassend und manchmal auch hochmütig - eingenommen haben. Das hat sich in eine staatsmännische Attitüde gewandelt: sorgenzerfurcht und von der Verantwortung niedergedrückt. ({1}) Dazu kann ich nur sagen: Das ist gut so, aber Sie dürfen nicht alles vergessen, lieber Herr Kollege Fischer. Damit Sie das nicht tun, möchte ich ein paar Bemerkungen machen und auch ein paar Fragen an Sie richten. ({2}) Es ist gut, dass wir heute den Stabilitätspakt für Südosteuropa erörtern. Er ist eine gute Idee, keine Frage. Das haben wir damals alles begrüßt. Dennoch muss ich Ihnen dezidiert und deutlich zwei Vorwürfe machen: Erstens ist nicht ausreichend nachgearbeitet und umgesetzt worden, was beschlossen worden ist. Zweitens kommt die für März vorgesehene Finanzierungskonferenz mit weitem Abstand zu spät. ({3}) Ich nehme an, dass die meisten von Ihnen heute die „FAZ“ gelesen haben. Dort lautet eine Überschrift - das ist schon erwähnt worden -: „Das teuerste Familienfoto der Geschichte: Vom Stabilitätspakt in Südosteuropa ist noch wenig zu spüren“. Das stammt von Matthias Rüb, einem Kenner der Region. Er schreibt: Nach dem mit großem Pomp inszenierten Gipfel von Sarajevo haben sich rasch die Mühen der Ebene eingestellt. Genauso ist es. Dem ist im Prinzip nichts hinzuzufügen. Ich kritisiere nicht, dass Herr Hombach noch nicht alles erreicht hat, was er erreichen muss. Ich kritisiere, dass er damals abgeschoben und als der falsche Mann dorthin geschickt wurde. Ich kritisiere auch, dass man ihm zumutet, hin und her zu reisen und zu rasen, ohne über aureichende Mittel und die notwendige Unterstützung zu verfügen. Man kann den eigenen Mann nicht so herumrennen lassen, wie es hier geschieht; man sollte ihn auch etwas rumrennen lassen, wie es hier geschieht; man sollte ihm auch etwas mitgeben und ihn genügend unterstützen. Wenn die heutige Regierungserklärung die Unterstützung für Hombach darstellen soll, dann hätte ich den Zeitpunkt für diese Erklärung ein bisschen früher gewählt. ({4}) Seit acht Monaten sind die Militäraktionen vorbei. Das war zwar viel Zeit für diejenigen in der Regierung, die nach- und abarbeiten müssen. Ich bleibe dabei: Das ging zu langsam. Die Menschen auf dem Balkan erwarten jetzt keine großspurigen Ankündigungen, sondern tatsächliche Hilfe, damit die Region zur Ruhe und wieder auf die Beine kommen kann. Das müssen wir bewältigen; das ist viel wichtiger als großspurige Ankündigungen. ({5}) Aufhebung des Ölembargos für Jugoslawien: Herr Kollege Fischer, Sie wollen es lockern. Die F.D.P. und ich halten das zum jetzigen Zeitpunkt für falsch. Ich räume ein, dass man darüber unterschiedlicher Meinung sein kann. Ich sage Ihnen, warum wir es für falsch halten: nicht, weil die Amerikaner, die Briten und die Niederländer anderer Meinung als Sie sind und unsere Auffassung unterstützen, sondern deswegen, weil wir glauben, dass Sie mit dem, was Sie erreichen wollen, nicht zurande kommen werden. Sie werden dadurch nicht die Opposition zusammenführen können; Sie werden das Gegenteil erreichen. Das ist unsere Auffassung. Milosevic wird dadurch gestützt. Mit Nachgeben wird man diesen Mann nicht los; man geht ihm höchstens auf den Leim. Ich habe diesbezüglich meine eigenen Erfahrungen. Milosevic hat als Hauptverantwortlicher vier Kriege angezettelt. Er ist für vielfachen Völkermord verantwortlich und er gehört endlich nach Den Haag. Ihm sollte nicht entgegengekommen werden. Das ist meine Meinung. ({6}) Noch ein Wort zur Bevölkerung, Herr Kollege Fischer. Wir teilen Ihre Meinung, dass den Menschen geholfen werden soll. Aber man muss ein klein wenig unterscheiden: Die Bevölkerung des Irak etwa kann ihren Anführer nicht selbst wählen. Die Serben aber haben - zum Teil mit sehr großer Mehrheit - Herrn Milosevic gewählt. Deshalb ist die Situation dort ein klein wenig anders. Der ohnehin tief gespaltenen jugoslawischen Opposition wäre durch die Aufhebung des Ölund Flugembargos nicht gedient. Deshalb sind wir der Meinung, dass diese Aufhebung nicht richtig wäre. Die heutige Debatte kann nicht ohne ein Wort zu Tschetschenien geführt werden, Herr Kollege Fischer. Ich muss Ihnen vorhalten: Von der wortgewaltigen Rhetorik des Menschenrechtlers Fischer ist nicht sehr viel übrig geblieben. ({7}) Ich habe einmal nachgelesen, was Sie uns 1995 vorgehalten haben - deshalb die Erinnerung an Ihre Zeit auf der Oppositionsbank -: Fischer sprach mit emphatischer Gebärde von barbarischen Kriegen und grausamen Morden einer nuklearen Supermacht gegen ein kleines kaukasisches Volk. Er beschwor mit ungeheurer Geste die damalige Regierung, endlich eine westliche Initiative gegen Moskau zu ergreifen. Herr Fischer, ich kann heute nur sagen: Sie waren in der ersten Reihe der westlichen Politiker, die nach Moskau gereist sind und die dem - ich sage das bewusst so Kriegsherrn im Kreml die Aufwartung gemacht haben. Sie warnen davor, Russland zu isolieren. Außer verbaler Verurteilung haben Sie aber nicht viel unternommen. Ich weiß, wie schwierig diese Frage ist. In diesem Punkt sind wir uns einig. ({8}) - Was zur Debatte gehört, können wir selber entscheiden. Im Übrigen hat sich auch Herr Fischer früher nicht immer an das Thema gehalten. ({9}) Heute sieht die Welt ein klein wenig anders aus. Sie haben es nicht einmal erwogen - das halte ich Ihnen vor -, im Europarat für die Suspendierung der Mitgliedschaft Russlands einzutreten und zum Beispiel mit dem IWF über wirtschaftliche Sanktionen zu reden. Also kleine Münze und schwache Erklärungen im Vergleich zu dem, was Sie früher großmundig erklärt haben. ({10}) Im Übrigen wettert Cap Anamur nicht umsonst. Es ist offensichtlich sehr schwierig, Hilfslieferungen in diese Region zu bringen. Ich möchte Sie fragen: Was tun das Auswärtige Amt und speziell Sie, damit dort die humanitären Maßnahmen durchgeführt werden können? Im Hinblick auf das, was Sie mir früher vorgeworfen haben, müssen Sie sich schon vorhalten lassen - ich sage das ganz ruhig -: Aus dem Menschenrechtsgladiator Joschka Fischer ist dann doch ein Menschenrechtsdäumling geworden, und zwar in vielerlei Hinsicht. ({11}) Nur auf die Türkei, Herr Kollege Fischer, wird draufgehauen. Auf der einen Seite wird der Kandidatenstatus unterstützt - ich persönlich bin dafür - und auf der anderen Seite wird aus innenpolitischen Gründen wegen der Grünen die Leo-2-Frage in den Vordergrund gestellt. Es wird außerdem mitgeteilt, wie im Bundessicherheitsrat entschieden wurde. Damit wird deutsche Außenpolitik als Schwerpunkt der Tätigkeit des Außenministers sozusagen zur Politik der Grünen in den Kreisverbänden. Das kritisieren wir und halten wir Ihnen vor. Im Übrigen möchte ich Ihnen eine Frage stellen, die mir sehr wichtig ist. Ich hatte den Eindruck, dass Sie sich ungeheuer stark auf die Fragen fokussieren, die innenpolitisch für Sie von Bedeutung sind. Wenn wir uns die Weltlage anschauen, Herr Fischer, dann können wir erkennen, dass die Welt - Deutschland übrigens auch andere Probleme hat. Ein klein wenig erinnert mich Ihre Politik an „CNN-Außenpolitik“ - eine CNN-Außenpolitik zum Wohlgefallen grüner Kreisverbände. Dort ein Zückerchen für die Fundis, hier ein Zückerchen für die Realos. ({12}) - Sie müssen sich das schon anhören. ({13}) Herr Fischer, Sie haben jetzt zum vierten Mal - hören Sie genau zu; Ihr Lachen ist fast wieder so hochmütig wie zur Zeit der Opposition; Ihre staatsmännische Attitüde sollte eine andere Haltung zulassen, gerade dann, wenn Sie nur so angegriffen werden, wie Sie es früher selbst getan haben ({14}) eine Afrikareise abgesagt, diesmal mit der Begründung, Sie müssten Wahlkampf in Schleswig-Holstein machen. Ich frage Sie: Wo bleibt Ihr Engagement für Afrika, den gepeinigten Kontinent mit 800 Millionen Menschen, der 23 Prozent der Erdoberfläche bedeckt? Wo bleibt Ihr Engagement für Lateinamerika? Wo bleibt Ihr Engagement für den asiatisch-pazifischen Raum? Wo bleibt Ihr Engagement für den arabischen Raum? Still ruht der See, kaum ein Wort in 14 Monaten. ({15}) - Ja, zum Balkan gehört vor allen Dingen der Punkt, den ich noch vorbringen möchte. Wo ist Ihre Unterstützung für die deutsche Wirtschaft in Außenhandelsfragen, auch was den Balkan anbelangt? ({16}) - Der Fraktionsvorsitzende der Grünen hat immer besondere Stärken, wenn er hinten sitzt. ({17}) Deutschland ist die drittgrößte Wirtschaftskraft, die zweitgrößte Exportnation der Welt. Herr Fischer, ich frage Sie: Haben Sie in 14 Monaten ein einziges Mal einen Wirtschaftsvertreter in Ihrem Flugzeug mitgenommen, auch in die Regionen, über die wir gerade reden, wo Aufbau stattfinden soll und wo wir daran interessiert sind, dass insbesondere auch deutsche Wirtschaftsvertreter ihre Chance haben? ({18}) Ich komme zum Schluss. Der Balkan braucht keine Sonntagsreden, ({19}) sondern Aktionen. Jugoslawien braucht keine unüberlegte Aufhebung der Sanktionen, Frau Beer, zum falschen Zeitpunkt, sondern muss vielmehr Milosevic loswerden. Wir brauchen vor allem keine Menschenrechtsrhetorik und keine eventorientierte, sondern eine solide Außenpolitik, und wir brauchen kontinuierliche, besonnene und durchdachte außenpolitische Arbeit. ({20}) Herr Kollege Fischer, hören Sie es sich an! Ich musste es mir früher auch anhören. Es reicht nicht aus, das eigene Image zu verwalten. Was wir von Ihnen erwarten, ist, deutsche Außenpolitik zu gestalten, die diesen Namen verdient. ({21}) Ich möchte, liebe Frau Beer, sagen: Vielleicht ist der Heiligenschein doch ein klein wenig angekratzt. Ich würde empfehlen, ihn wieder ein bisschen aufzupolieren. - Vielen Dank. ({22})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch einmal auf Folgendes hinweisen: Im Verlauf dieser Debatte haben dreimal Handys geklingelt. Wir hatten vereinbart, dass Handys in diesem Raum nicht benutzt werden, weder passiv noch aktiv. ({0}) Wir setzen die Debatte fort. Der Kollege Lippelt hat das Wort.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Altaußenminister, ({0}) bei dem, was ich eben gehört habe, ({1}) habe ich mir gesagt: 14 Monate Wunden geleckt, mein Gott, wie tief muss das gesessen haben! ({2}) Jetzt komme ich mit ein paar Fragen; das lässt sich ja ein bisschen substantiieren. Sie haben gesagt: Ankündigungen und nichts folgte. Herr Kinkel, dieser Außenminister, diese Regierung hat das Problem Kosovo in einem Moment übernommen, als neun Monate versäumt worden waren, wo durchaus eine aktive, präventive Außenpolitik hätte eingreifen können - nicht militärisch. ({3}) Zweitens. Es sind fünf Jahre seit Dayton versäumt worden. Vielleicht erinnern Sie sich an eine Sitzung des Auswärtigen Ausschusses, wo ich die Ehre hatte, Ihren Bericht über das Normalisierungsgespräch mit Milosevic zu hören. Was Sie dem Ausschuss berichteten, war: „Ich habe ihm gesagt, er muss nun aber sofort die abgelehnten Asylbewerber zurücknehmen.“ Sie erinnern sich vielleicht an das, was wir Ihnen damals parteiübergreifend, CDU/CSU inklusive, gesagt haben, und Sie erinnern sich vielleicht an das, was Ihnen Herr Schwarz-Schilling damals gesagt hat. Herr Kinkel, Sie wissen doch, dass drei Viertel dieser Abzuschiebenden Kosovo-Albaner sind. Die wollten Sie in eine Situation zurückschicken ({4}) - ja, so war das damals -, die politisch nicht gelöst war. Warum haben Sie nicht zu Milosevic gesagt: „Lösen Sie das Kosovo-Problem erst einmal politisch!“? Damals war es anzupacken gewesen. Jetzt zu kommen und zu sagen, es hat nur Ankündigungen gegeben und der Stabilitätspakt läuft nicht - lieber Herr Kinkel, das geht nicht. Sie haben fünf Jahre verpasst und erheben hier nun Vorwürfe. ({5}) - Ich bin nicht getroffen. Aber ich kann doch wohl solch pharisäerhaftes Verhalten, an das ich mich erinnere, ansprechen. ({6}) Wenn jemand getroffen sein sollte, schlage ich vor: Wir können uns einmal unterhalten. Sie sind der Sache so fern wie ich. Lassen wir das jetzt hier. Jetzt aber zu dem, was ich sagen wollte. ({7}) Selten hat sich der Termin einer zuvor zwischen den Fraktionen und der Regierung vereinbarten Debatte als so glücklich gewählt erwiesen wie der heutige. Warum? Vereinbart hatten wir diese Debatte unter dem Gesichtspunkt, dass es sich bei dem Stabilitätspakt um ein ganz wichtiges Teil gerade von Deutschland den europäischen Partnern vorgeschlagener gemeinsamer Außenpolitik handelt. Das parlamentarisch zu begleiten steht deshalb diesem Bundestag gut an. Die Anerkennung, Herr Kinkel, dass hier wirklich einmal eine handwerklich gute Politik gemacht worden ist, habe ich vermisst. Vereinbart hatten wir die Debatte unter dem Eindruck, dass der Außenminister und sein Amt von Beginn des Krieges an sehr intensiv nach Friedensmöglichkeiten gesucht und diese auch gefunden hatten, zugleich aber auch an die Planung einer Nachkriegspolitik schon in Kriegszeiten gegangen waren, dass dieser Nachkriegsplanung die Einsicht zugrunde lag, dass das Regime Milosevic nur deshalb Massenmord und Vertreibung hatte entfesseln können, weil es Gegensätze, die sich aus multiethnischem Zusammenleben in jeder Gesellschaft ergeben können, ausgenutzt, ja angeheizt hatte, Gegensätze, die in ihrem Entstehen weit, bis zum Ersten und Zweiten Balkankrieg zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, zurückreichen, und dass deren Überwindung deshalb auch einer Langfriststrategie bedarf, eines langfris-tigen politischen und ökonomischen Engagements Europas. Der Stabilitätspakt ist entworfen worden als ein kunstvolles Geflecht von runden Tischen: drei Haupttische - Demokratie, Minderheiten, wirtschaftlicher Wiederaufbau, Sicherheit - und eine Reihe von Untertischen - all dies mit rotierendem Kovorsitz von je einem EU-Mitglied und regionalen Mitgliedern des Paktes, mit der Ausnahme Serbiens, solange es noch unter der Milosevic-Regierung steht. Herr Schmidt, Sie haben ja vorhin zwischen den Mitteln und der Philosophie des Stabilitätspaktes unterschieden. Sie haben gesagt, die Mittel seien - darin stimmen wir ja überein - immer eher zu wenig vorhanden. Ich habe nicht recht verstanden, was Sie in diesem Zusammenhang mit Philosophie meinten. Denn Sie sagten dann: Eine Strategie ist nicht da. Sie machten das an der Frage des ungeklärten Status des Kosovo fest. ({8}) - Ja, auch an anderen Punkten. Ich will jetzt hier nicht darauf eingehen. Das war aber der Hauptpunkt. Ich weise auf Folgendes hin: Wir beide haben doch die Verhandlungen von Rambouillet und den Vertrag miterlebt. Dort wurde die Frage des Status des Kosovo auf fünf Jahre verschoben. Jetzt zu sagen: „Wir können in diesen komplizierten Prozess der Neuordnung der Balkan-Verhältnisse nur einsteigen, wenn wir diese Frage vorher lösen“, das wird den Problemen nicht gerecht. Der Stabilitätspakt, wenn man ihn recht betrachtet, ist ein langfristiger Prozess, wie das der Kollege Erler ja auch schon gesagt hat. Er ist in seiner Zeitplanung und seiner Bedeutung mit dem KSZE-Prozess zu vergleichen. Dass dieser KSZE-Prozess die Welt verändert hat, das wissen wir. Wir haben davon, Gott sei Dank, profitieren können. Dass der Stabilitätspakt seinerseits den Balkan verändern wird und ihn zu Europa führen wird, das hoffen wir, und deshalb müssen wir ihn auf jeden Fall intensiv unterstützen. ({9}) Wir dürfen aber von ihm nicht die Beantwortung von Fragen verlangen, deren Beantwortung, gerade weil es sich um einen Prozess handelt, in diesem Moment geradezu schädlich wäre. Es wäre gewiss sehr schädlich, gerade die Frage, die Sie aufgeworfen haben, zu beantworten. Dieser Stabilitätspakt bedarf in der Tat der begleitenden Debatte, weil er bei nachlassendem öffentlichen Interesse in der Gefahr steht, in der diplomatischbürokratischen Routine ins Leere zu laufen. Deshalb sind wir für diese Debatte dankbar und müssen heute gelegentlich nimmt mir mein Außenminister die besten Gedanken weg; ({10}) er hat es schon erwähnt, einem Abgeordneten bleibt aber, dies zu vertiefen - darüber diskutieren, welche Bedeutung die kroatischen Wahlen für den Stabilitätspakt haben, und darüber reden, ob sie eine Neuakzentuierung der Politik des Stabilitätspaktes möglich und erforderlich machen. Sehen Sie, Herr Schmidt, so schnell muss man den neuen Prozesscharakter einbeziehen: zunächst den Tod Tudjmans, des Gegenspielers und doch auch Komplizen von Milosevic, des Bruders im Geiste nationaler Autokratie, dann die nationalen Wahlen mit dem Triumph der Opposition, dem Durchbruch zur Demokratie und nun die erste Runde der Präsidentenwahl, wonach sich der für den zweiten Wahlgang ausgeschiedene moderate Parteigenosse Tudjmans, Außenminister Granic, fragt, ob er mit vorheriger Niederlegung seiner Parteiämter nicht viel zu langsam vom untergehenden Schiff der Herrschaftspartei abgesprungen sei und nicht stattdessen den radikaleren Schritt des Austritts hätte machen müssen. Wir erleben zurzeit die Selbstauflösung des Herrschaftsinstruments der HDZ des Herrn Tudjman. Wir erleben insofern einen enormen, aufregenden Strukturwandel, etwas, was für uns vor zwei Monaten, als Tudjman Bosnien zerstören wollte mit der Forderung, auch die Herzegowina müsste jetzt die dritte Entität werden, unvorstellbar war. Wir erleben die Abwendung vom Ungeist nationalistischer Isolierung, die Erkenntnis der Wähler, dass die wirtschaftliche Malaise der Selbstisolierung dem Regime Tudjman zu verdanken ist, und die Hinwendung der Wähler nach Europa, zu den Prinzipien demokratischer Kooperation. Das bedeutet - zaghaft haben die noch im Rennen um die Präsidentschaft befindlichen beiden Kandidaten und der zukünftige Ministerpräsident Racan das Wort ja auch in den Mund genommen - die Anerkennung des UNHCR-Prinzips der Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat. Das bedeutet also, auf das Kernproblem zugespitzt, die jetzt mögliche und durchzusetzende Rückkehr der Krajina-Flüchtlinge, den Bruch mit der Flüchtlingspolitik Tudjmans, die eine Politik nationalistischer Sabotage einer solchen Rückkehr war. ({11}) - Das können wir gemeinsam in Auftrag geben. Wir sind dabei. Wer die Berichte des UNHCR, die dieser dem runden Tisch eins vorgelegt hat, liest, der weiß, dass es noch 1,5 Millionen interner Flüchtlinge im ehemaligen Jugoslawien gibt, der liest von ersten vom UNHCR identifizierten Gruppen, etwa von 14 500 bosnischen Kroaten, die aus Kroatien zurück in ihre Heimat Bosnien wollen, oder von 16 000 Serben, die zurück in ihre Heimat Kroatien möchten, oder von Kroaten, die zurück in ihre Heimat in die jetzige Republika Srpska wollen. Die Rückkehr der Krajina-Flüchtlinge ist deshalb die Schlüsselfrage. Überall, insbesondere in Bosnien-Herzegowina und in der Republika Srpska, blockieren einsitzende Flüchtlinge die Rückkehr der Geflohenen. Überall blockieren nationale Parteien und Regierungen den Ringtausch von Wohnungen - der Kollege SchwarzSchilling hat dies in seinen Berichten anschaulich dargestellt -, offensichtlich weil eine Rückkehr wieder zu multiethnischem Zusammenleben führen würde, was die zurzeit noch Herrschenden absolut nicht wollen. Selbst der im Dayton-Vertrag als exemplarisch vorgeschlagene und besonders leicht durchführbare Austausch der Flüchtlinge in Jajce und Bugojno ist noch nicht über kümmerliche Anfänge hinausgekommen. Deshalb: Die Chance muss genutzt werden, Hilfen für wirtschaftliche Aufbauprojekte in Kroatien - es müssen sehr viel mehr auf den Weg gebracht werden; denn wir haben hier eine neue Situation - mit der Rückkehr der Krajina-Flüchtlinge zu konditionieren. Darauf müssen wir vorübergehend die Energien und die Mittel des Stabilitätspaktes konzentrieren. Davon würde eine große Ausstrahlung auf Bosnien und Restjugoslawien, auf das Kosovo, ausgehen. Damit bin ich beim zweiten Thema. Ich muss es jetzt nicht mehr, wie ich gedacht habe, nur unter Bezugnahme auf die Anträge der PDS behandeln, denn es wurde hierüber schon reichlich diskutiert. Die Frage ist: Wie gliedert man Serbien, obwohl es noch unter dem Regime eines in Den Haag angeklagten Präsidenten steht, in die Politik des Stabilitätspaktes ein? Die PDS spricht - sie hat das mehrfach gefordert - von einer Aufhebung der Sanktionen. Dies ist richtig, aber - wie auch schon gesagt wurde - die Nomenklatura-Sanktionen - Sperrung der privaten Auslandskonten der Betroffenen und der Visa für Auslandsreisen - müssen doch wohl bestehen bleiben. ({12}) - Okay. Im Übrigen ist es richtig - das kann weiter begründet werden -, dass die Wirtschaftssanktionen - und dies mit Blick auf die F.D.P. - nur dem Regime und einer parasitär-mafiösen Schicht zugute kommen. Benzin kann man in Belgrad - ich war kürzlich dort - an jeder Ecke kaufen, nur eben sehr viel teurer. Der Chef der Mordkommandos, Arcan, der jetzt umgebracht wurde, beherrschte circa 20 Prozent des gesamten jugoslawischen Ex- und Importhandels. Sanktionen können eine jugoslawische Exportwirtschaft kaum noch treffen, weil es eine solche nicht mehr gibt. Sanktionen eignen sich aber hervorragend, die Schuld an einer wirtschaftlichen Misere der internationalen Gemeinschaft zuzuschieben. Jugoslawien befindet sich auf dem Weg in irakische Verhältnisse. Sanktionen erhalten dem Diktator die Loyalität einer apathischen Bevölkerung, ({13}) weil sie immer wieder ein überzeugendes Argument für den demagogischen Hinweis auf äußere Feinde abgeben. ({14}) Dem Regime werden kroatische Erkenntnisse, die die kroatischen Wähler jetzt haben, über die eigene Regierung als politischen Verursacher der wirtschaftlichen Malaise erspart, solange man das Land unter Sanktion stellt. Jetzt zu den Donaubrücken: Ja, in Novi Sad fließt die Donau über drei Brücken statt unter ihnen hindurch. Nur, auch hier ist es wieder etwas komplizierter, als die PDS - mit Verlaub - meint. ({15}) Die Trümmer würde die Donau-Schifffahrtskommission ja räumen - dazu bedarf es keiner Aufforderung an die Bundesregierung -, allerdings will Belgrad die Brücken erst wieder gebaut sehen und dann der Räumung der Trümmer zustimmen. Und zum Wiederaufbau wird sich keine westliche Regierung von einem Regime erpressen lassen, das die Spirale der Gewalt im Kosovo in Gang setzte. Da ist es schon sinnvoller - als solch leicht dahingeschriebene Anträge, verehrter Kollege -, was die Stadt Dortmund tut. Sie ist mit Novi Sad durch Städtepartnerschaft verbunden. Sie sammelt Geld für die erste Brücke und wird sie bauen. Es ist auch wichtig, dass bei Eisgang - man sagt in Novi Sad, die Wahrscheinlichkeit liegt bei einmal in zehn Jahren - nicht nur das Umland betroffen ist, sondern die ganze Altstadt unter Wasser steht und absäuft. Deshalb muss bei einem möglichen strengeren nächsten Winter die Donau tatsächlich geräumt sein. Nur, das ist nicht die vordringliche Sorge des Regimes. Wer mit der Zerstörung Jugoslawiens in Slowenien und im Kosovo begann, wird damit in Montenegro, im Sandschak und der Vojvodina enden. Wir sprechen damit über die gefährliche Zuspitzung der innenpolitischen Verhältnisse in Serbien. Doch zunächst ist darauf hinzuweisen - was auch schon geschehen -, dass es gerade deshalb richtig ist, die Isolierung der serbischen Gesellschaft zu durchbrechen, und zwar auf jeder nur möglichen Ebene. Die Bundesregierung bemüht sich zusammen mit anderen Regierungen der EU darum. Dazu gehört vor allem die Förderung der Kontakte zu jenen Städten, die seit den Lokalwahlen 1997 oppositionelle Mehrheiten haben und trotzdem unterschiedslos von den Bomben getroffen wurden. Ich zähle nur beispielhaft auf: Novi Sad mit erheblichen Umweltschäden, Pancevo - 8 Tonnen Quecksilber sind in die Erde gegangen - oder Kragujevac mit den zerstörten Zavasta-Autowerken oder eben Niš. Es ist richtig, dass die EU die demokratischen Repräsentanten dieser Städte mehrfach zu Konferenzen lud, dass aber mehr als die Erdöllieferungen im Winter nach Niš und Pivot bisher nicht möglich waren und dass mit solchen Konferenzen die Bürgermeister und andere Vertreter der Opposition dem Spott des Regimes immer mehr ausgeliefert werden. Das muss man klar sehen. Je öfter sie zu diesen Konferenzen ohne vorzeigbare Ergebnisse kommen, umso mehr werden sie zu Hohnfiguren der Regierungspropaganda. Wenn wir aber von der Zuspitzung der innenpolitischen Lage in Serbien selbst sprechen, so müssen wir sagen: Der Mord an dem Kriegsverbrecher Arkan mag ja noch der Rivalität mafiöser Gruppen zuzuschreiben sein; das versuchte Attentat gegen Draskovic war jedoch von ganz anderer Art. Selbst wenn sich die Urheberschaft des staatlichen Geheimdienstes nicht zweifelsfrei nachweisen lässt, Draskovics eigene Anhänger glauben daran und sie nehmen das Gewehr wieder in die Hand. Wenn Draskovic als inzwischen wichtigster Oppositionspolitiker die Bekanntgabe eines Wahltermins bis Ende April fordert und wenn andererseits das Regime nicht daran denkt, so etwas vor Ende dieses Jahres zu tun - wenn überhaupt -, so sehen wir einem sehr heißen Sommer entgegen. Wenn die Spannungen hinsichtlich Montenegro dazugerechnet werden, müssen wir feststellen: Wir stehen vor einem Bürgerkrieg, in den politisch zu intervenieren kaum möglich sein wird, solange es keine diplomatischen Beziehungen gibt, und in den militärisch zu intervenieren völlig ausgeschlossen ist. Deshalb sind intensive Ausstrahlungen von Erfolgen des Stabilitätspakts in Kroatien und in Bosnien auf den Rest Jugoslawiens dringend erforderlich. Es ist die einzige Art zurzeit möglicher präventiver Außenpolitik. ({16}) Nochmals: Die Bundesregierung, ihr Außenminister, hat sehr früh ein vorzügliches Gerüst für eine Politik zur Heilung der Balkanprobleme entworfen. Wir müssen diese Politik unterstützen und sie vorantreiben. Ein letzter Punkt. Ein Finger weist dann doch auf uns selbst. 300 000 Flüchtlinge sind nach Bosnien zurückgekehrt, 30 000 sind noch hier. Es handelt sich zum größten Teil um Traumatisierte und um Leute, die als Augenzeugen für Den Haag von großem Gewicht wären. Der Innenminister ist leider nicht mehr da, aber ich appelliere an die Bundesregierung, diesen Gruppen endlich Bleiberecht zu geben. ({17}) Sonst würden wir eine Politik diskreditieren, mit der wir - bei allen Problemen, die sie jedem Einzelnen von uns bereitet hat - in europäischer Gemeinsamkeit die hoffentlich letzte große Krise Europas bewältigen. ({18})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mir zu Beginn meiner Rede eine knappe Bemerkung zum Beitrag des verehrten Kollegen Kinkel erlauben. Es drängt mich ein bisschen danach und man soll ja manchmal einem Drängen nachgeben, auch in einer solchen Frage. ({0}) - Mehrdeutig meine ich das, Herr Westerwelle. Natürlich ist es Ihr Recht, jederzeit und zu allen Fragen in diesem Parlament zu diskutieren. Das kann und sollte Ihnen keiner bestreiten. Aber vielleicht wären Sie etwas klüger beraten gewesen, wenn Sie zu den außenpolitischen Fragen etwas länger geschwiegen hätten. ({1}) Ihr Beitrag hat ehrlich gesagt einen Gestus gehabt wie „Was ich schon immer einmal sagen wollte“. Ich glaube, bei einem solchen Gestus mischen sich auch Fragen unter, die in dieser Art und Weise nicht dazugehören. Was ich wiederum gut daran finde, dass Sie zu außenpolitischen Fragen gesprochen haben, ist: Man weiß wieder, was man verloren hat. Es ist wichtig, dass man das weiß und schätzen kann. Das macht ja auch Freude. ({2}) Jetzt zum eigentlichen Thema. Die bisherige Bilanz des Stabilitätspaktes wird aus meiner Sicht auch dadurch nicht besser, dass sich die Bundesregierung dazu erklärt und die Fraktionen von SPD und Grünen hier einen Antrag einreichen, dessen Hauptinhalt ehrlich gesagt darin besteht, der Regierung auf die Schulter zu klopfen. Gerade weil die Ausgangslage sehr kompliziert war und niemand Wunder erwartete, wäre eine kritische, die Probleme benennende Analyse doch angebracht gewesen. Doch diese Analyse fehlt, und das ist kein Zufall. Meines Erachtens war der Stabilitätspakt von Anfang an in einer Schieflage und ist daraus auch nicht herausgekommen. Ich will Ihnen die Gründe nennen, die mich zu diesem Urteil bringen. Erstens. Der Stabilitätspakt war der Versuch einer politischen Antwort auf den Kosovo-Krieg, aber er ist selbst durch den Krieg gezeichnet und deformiert. Wenn es aber heute, fast ein Jahr nach dem Krieg, im Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen heißt - ich zitiere das -, dass „sich die Geschlossenheit der NATO besonders bewährt“ habe, könnte es einem doch die Sprache verschlagen, tut es mir aber nicht. Ich will Sie gar nicht auf das verweisen, was die PDS immer wieder vorgetragen hat, aber ich will deutlich wiederholen: Ich bin mir heute sicherer denn je, dass unser Nein zum Krieg politisch, juristisch und moralisch begründet und richtig war. ({3}) Ich finde, Ihnen müssen doch die Ohren klingen, wenn die „FAZ“ vom 20. Januar 2000 schreibt - ich zitiere zwei Dinge daraus -, dass der Bundestag „aufgrund einer unzureichenden Informationslage“ einem Kriegseinsatz zugestimmt habe und „der Krieg im Kosovo zu keiner entscheidenden Verbesserung der Menschenrechtssituation der dortigen Bevölkerung geführt hat“. ({4}) Zweitens. Dass der Stabilitätspakt durch den Krieg gezeichnet und deformiert wurde, zeigt sich schon darin, dass Jugoslawien ausgeschlossen und zusätzlich mit Sanktionen belegt wurde. So konnte der Pakt auch als Anti-Serbien-Pakt verstanden oder missverstanden werden. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang feststellen: Es ist an der Zeit, dass die Embargos und die Sanktionen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien aufgehoben werden. ({5}) Der Sonderberichterstatter des UN-Generalsekretärs für die Lage der Menschenrechte in der Region, Jiri Dienstbier - dieser Name dürfte Ihnen ja geläufig sein -, stellt dazu in seinem Bericht fest: Einige Unzulänglichkeiten kann man schon jetzt bei der Durchführung des Stabilitätspaktes erkennen, so zum Beispiel die Tendenz, Serbien zu isolieren, das den geographischen und wirtschaftlichen Mittelpunkt der Region darstellt. Der Sonderberichterstatter ist der Überzeugung, dass Embargos und ähnliche Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft nur dazu beitragen können, antidemokratische Regimes in der Region zu stärken, und sie stellen selbst einen groben Verstoß gegen die Menschenrechte dar. Herr Außenminister, es sollte Sie doch nachdenklich machen, wenn der UN-Sonderbeauftragte in Ihrer Politik einen groben Verstoß gegen die Menschenrechte sieht. Nun ist, was die Embargopolitik angeht, eine Veränderung in der Position der Bundesregierung zu erkennen. Ich finde, dass diese Worte und diese Ankündigung auch unter Beweis gestellt werden sollten. Nach dem Debattenbeitrag, den Kollege Lippelt gehalten hat, gehe ich mit der Hoffnung schwanger, dass man endlich konstruktiv mit unseren Anträgen umgehen wird. ({6}) Wenn Sie also gegen die Fortsetzung des Ölembargos sind, wird diese Forderung nicht deswegen falsch, weil wir als PDS die Aufhebung beantragt haben. Sie können damit umgehen. Was die zerstörten Donaubrücken angeht: Sie müssen geräumt und wieder aufgebaut werden. Kollege Lippelt, es wird doch jeder einsehen, dass man von der Bundesrepublik Jugoslawien nicht erwarten kann, zur Brückenräumung Ja zu sagen ohne Hoffnung auf Wiederaufbau. Da kommt doch kein Sinn hinein. ({7}) Ich glaube auch, dass man festhalten muss, wer unter dem Embargo in Serbien leidet. Das sind die einfachen Menschen, die hungern, die frieren, die unterdrückt werden, die keine Perspektive haben. ({8}) Unter dem Embargo leidet doch nicht die Nomenklatura. Vor allem deswegen muss dieses Embargo aufgehoben werden. Was den Kosovo angeht, so sollte sich gerade der Außenminister noch einmal die Äußerung des von ihm hier gewürdigten Generals Reinhardt vor Augen halten, der das Geld, das in den Krieg gesteckt worden ist, mit dem Geld verglichen hat, das zum Wiederaufbau im Kosovo fehlt. Er hat gesagt, dies sei eine riesengroße Dummheit gewesen. Der ganze Krieg war eine riesengroße Dummheit. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Eberhard Brecht.

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es gibt kein Ende der Geschichte und schon gar kein Ende der Geschichte des Balkans. Das ist die Erfahrung, die wir in Europa gemacht haben. Das Konzept „Eine Nation - ein Staat“ hat zu vielen blutigen Kriegen geführt. Heute hatten wir eine Gedenkstunde, und diese Gedenkstunde hat auch daran erinnert, dass nationales Denken in die Katastrophe führen kann. Deshalb orientieren wir uns heute in der Europäischen Union an einem Integrationskonzept. Denn wer miteinander Sicherheit teilt, wer miteinander kulturell kommuniziert, wer miteinander Handel treibt, der hat keinen Grund, aufeinander zu schießen. Die große Zahl erfolgreicher Minderheitengesetze und Autonomieregelungen in Europa beweist, dass sich scheinbar unlösbare ethnische Konflikte am Ende relativieren. Meine Damen und Herren, Südosteuropa hat in der Vergangenheit nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems und mit dem Zerfall Jugoslawiens zunächst einen anderen Weg gewählt. Als Antwort auf Demokratiedefizite, auf zentralistische Bevormundung feierte eine alte Idee ihre Renaissance, nämlich die Transformation multiethnischer Staaten in eine Landschaft ethnisch homogener Nationalstaaten. Eine nationalstaatliche Abgrenzung ist aber kaum in Übereinstimmung mit allen Ethnien in einer Region möglich. Wenn nämlich das Recht auf Selbstbestimmung - das wird immer wieder eingefordert - egozentrisch nur auf die eigene Nation konzentriert bleibt, entstehen neue sicherheitspolitische Risiken. Solche Risiken werden noch erhöht, wenn Nationalökonomien sich abschotten und damit natürlich die wirtschaftliche Prosperität behindert wird. Meine Damen und Herren, derzeit werden wir mit Bestrebungen aus Montenegro und Kosovo konfrontiert, die Bundesrepublik Jugoslawien verlassen zu wollen und einen eigenen Nationalstaat zu begründen. Die Fälle liegen ziemlich verschieden. Trotz dieser Unterschiede gibt es eine Reihe von Argumenten, die man zu hören bekommt, wenn man nach Podgorica oder nach Pristina reist. Da wird ein vermeintliches Recht auf Selbstbestimmung - in Klammern: Sezession - eingeklagt. Da wird hingewiesen auf die Ungewissheit einer Demokratisierung des Milosevic-Regimes. Und wer weiß - so argumentieren die entsprechenden Politiker in Pristina und Podgorica -, was nach Milosevic kommt? Da wird die Gefahr beschworen, dass auch diese beiden Regionen in den Strudel des wirtschaftlichen Abwärtstrends Belgrads hineingezogen werden, und da wird die Hoffnung geäußert, noch viel mehr in den Stabilitätspakt einbezogen werden zu können. Bereist man jedoch weitere südosteuropäische Staaten, wird man angesichts solcher Träume mit klaren Realitäten, mit klaren realen Ängsten konfrontiert, da man sich im Fall eines sich ablösenden Montenegros Bürgerkriegsunruhen ausrechnen kann. In Skopje zum Beispiel befürchtet man eine Implosion Mazedoniens, gäbe es eine unabhängige Republik Kosovo. Ich denke, in diesem Raum glaubt auch niemand an die Beteuerungen, die wir aus den Kreisen der Albaner in Mazedonien immer wieder hören, es würde nie einen Anschluss an eine solche Republik Kosovo geben. Ich erinnere auch daran, dass die ethnischen Zentrifugalkräfte in BosnienHerzegowina, die durch Dayton leidlich eingefangen wurden, wieder neuen Auftrieb bekämen, käme es zur Bildung von weiteren Nationalstaaten. Meine Damen und Herren, der von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorgelegte Entschließungsantrag plädiert daher für den integrativen Ansatz, auch und gerade für Südosteuropa. Es führt nämlich kein Weg vorbei an einem friedlichen Nebeneinander, wenn schon beispielsweise ein Miteinander im Kosovo derzeit undenkbar zu sein scheint. Eine Lösung der bestehenden Sicherheits-, Wirtschafts- und Sozialprobleme in Jugoslawien ist nicht durch eine weitere Abgrenzung voneinander erreichbar, sondern nur durch die Entwicklung von Demokratie, Menschen- und insbesondere Minderheitenrechten, wie sie in der Kopenhagener Erklärung 1990 niedergeschrieben worden sind, und die Ermöglichung eines freien Handels. Genau dies ist auch der Ansatz des Stabilitätspaktes. Natürlich kann die westliche Gemeinschaft Menschen nicht dazu zwingen, miteinander zu kooperieren, aber sie kann, der Philosophie des Stabilitätspaktes folgend, jene Kräfte in Serbien unterstützen, die künftig als demokratische Kooperationspartner ihren Nachbarn zur Verfügung stehen. ({0}) Meine Damen und Herren, ich möchte noch auf die Bemerkungen von Herrn Gehrcke eingehen. Natürlich wird Serbien nicht isoliert. Es gibt viele Beziehungen, von denen auch der Bundesaußenminister gesprochen hat. Es existieren Städtepartnerschaften, und auch das Energieprogramm wird durch uns gefördert. Meines Erachtens - das ist die Antwort - kann es nicht darum gehen, in einen Dialog mit einem verbrecherischen Regime einzutreten. Herr Gysi hat diesen Dialog einmal begonnen, aber ich glaube, wir müssen auf eine andere Karte, nämlich auf die demokratischen Kräfte in Serbien, setzen. ({1}) Die Ablösung des verbrecherischen Regimes von Slobodan Milosevic erzwingt man andererseits nicht dadurch, dass Sanktionen aufrechterhalten werden. Hier möchte ich Herrn Kinkel widersprechen: Es geht nicht nur um den von außen erzwungenen Solidarisierungseffekt des serbischen Volkes, das darbt und in Lethargie verbleibt, mit Milosevic, sondern es geht - das sagen die Experten immer wieder - auch um eine massive Unterstützung der organisierten Kriminalität und des Schwarzhandels, der auf dem Balkan durch dieses Sanktionsregime neue Blüten treibt. Ich glaube, es ist höchste Zeit, über die Sinnhaftigkeit eines solchen Sanktionsregimes nachzudenken. ({2}) Damit komme ich zu einem anderen Antrag der PDS, in dem die volle Einbeziehung des Regimes in Belgrad in die Unterstützungsprogramme des Stabilitätspaktes gefordert wird. Ich kann mir kaum vorstellen, dass wir Herrn Milosevic dieselbe Unterstützung gewähren wie den Staaten, die den Weg der Demokratisierung gegangen sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassen: Wir sollten der Versuchung widerstehen, einer scheinbar schnellen Lösung der Konflikte auf dem Balkan durch eine muntere Nationalstaatenbildung den Vorzug zu geben. Wir sollten vielmehr auf eine nachhaltige Politik der Integration, der Unterstützung demokratischer Staaten setzen. Wir sollten den Stabilitätspakt aktiv begleiten und ihn unterstützen, damit wir langfristig zum Frieden auf dem Balkan kommen. Ich bedanke mich. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Hintze.

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vorweg: Ich finde es gut, dass wir diese Parlamentsdebatte haben, und ich glaube, dass das Thema öffentliche Aufmerksamkeit verdient. Das Thema verdient vielleicht sogar mehr Aufmerksamkeit, als es im Moment im Plenum erfährt. Ich finde es gut, dass unsere Regierung dazu eine Regierungserklärung abgegeben hat. Es hat ein wenig Aufregung gegeben, als der frühere Bundesaußenminister Kinkel hier das Wort ergriffen hat. ({0}) Es hat dazu bereits einige unsachliche Kommentare gegeben. Ich finde erstens, er hat hier einen sehr guten Beitrag geleistet, ({1}) und zweitens kritisieren wir ja nicht das, was die Bundesregierung in der Frage der Außen- oder Europapolitik falsch macht. Wir sagen noch nicht einmal, dass sie in der Europa- oder Außenpolitik alles falsch macht. Nein, ich sage sogar, sie macht in der Europa- und Außenpolitik sehr viele Dinge richtig. Der Kollege Erler hat schon verwirrt darauf reagiert, dass wir auf die Person des Koordinators nicht eingegangen sind. Das tun wir in dieser Debatte auch nicht. Die Regierung macht in der Sache sehr vieles richtig. Uns beschwert aber, Herr Außenminister Fischer - das hat Herr Kinkel sehr schön herausgearbeitet -, ({2}) dass sich hinter oder - schlimmer noch - vor eine manchmal durchaus richtige und interessante Politik ein allzu großes Stück Selbstverliebtheit unseres Bundesaußenministers schiebt ({3}) Das ist das, was wir hier kritisieren. ({4}) In den letzten 10 Jahren hat kaum ein Thema so viel europäische Kraft gefordert wie das Thema Südosteuropa. Herr Kinkel hat davon gesprochen, der Bundesaußenminister hat davon gesprochen. Wir haben hierüber viele Debatten geführt, und ich finde es auch gut, dass wir heute über den Stand der Dinge Rechenschaft ablegen. ({5}) Die Europäische Union und Deutschland haben enorm viel Kraft in diese Sache hineingesteckt. Wir haben politische, finanzielle und militärische Ressourcen mobilisiert, und wir haben durch die Aufnahme von Hunderttausenden von Flüchtlingen auch einen großen Beitrag dazu geleistet, dass dieses Problem gelöst werden konnte. Ich finde, in diese Debatte gehört auch ein Dank an die vielen Helfer, an unsere Bundeswehrsoldaten, an die Polizeibeamten, an die ehrenamtlichen Helfer der Organisationen, die unter Rückstellung manch anderer Dinge in die Krisengebiete gegangen sind und dort geholfen haben. ({6}) Nun hat der Bundesaußenminister in seiner Rede gesagt, der Stabilitätspakt komme jetzt in eine entscheidende Phase. Das ist ohne Frage richtig. Wir debattieren hier darüber, welche Entscheidungen fallen, was also entschieden wird. Wir haben heute gehört, es geht um schnell startende Leuchttürme. Zugegeben, der Bundesaußenminister hat bei den Worten „Leuchttürme“ und „Quickstart“ selbst geschmunzelt. Ich meine, die Menschen dort brauchen keine Leuchttürme und Quickstarts; sie brauchen Straßen, Arbeitsplätze, Schulbücher, und das im Rahmen eines vernünftigen Gesamtkonzepts. Ich hoffe, dass sich hinter dem glanzvollen Symbol des Leuchtturms konkrete Dinge wie Straßen, Arbeitsplätze und Schulbücher auch tatsächlich verbergen, damit dem pompösen Gipfel und den großen Worten jetzt auch vernünftige Taten, die den Menschen helfen, folgen. Wenn diese Taten geplant sind, sind wir bereit, die Bundesregierung darin zu unterstützen, meine Damen und Herren. ({7}) Schmerzhaft hat die Europäische Union im vergangenen Jahrzehnt ihre Unzulänglichkeit erfahren müssen, und vollständig haben wir sie noch nicht überwunden. Anfang der 90er-Jahre waren die Einsicht und die Fähigkeit, Stabilität auf dem Balkan herzustellen, das Richtige zu tun, noch nicht gegeben. Ich erinnere mich daran, dass andere europäische Partner sagten, dort militärisch etwas zu unternehmen, das sei zu teuer. Heute wissen wir, dass es zu teuer war, am Anfang nichts zu tun. Das ist eine Erkenntnis, die in Europa gewachsen ist, und es ist positiv, dass wir heute sagen können, dass sich das verändert hat. An Südosteuropa zeigte sich die politische Schwäche der Europäischen Union, und an Südosteuropa zeigt sich auch, was wir hier noch zu leisten haben. Wir sind als Europäische Union sehr stark im Export von Waren und Dienstleistungen; wir müssen einfach im Export von Stabilität noch stärker werden. Das wäre der größte Dienst, den wir in Europa und an Europa leisten können. ({8}) Nun, meine sehr geehrten Damen und Herren, für uns gilt der Grundsatz: Es kann uns nicht auf Dauer gut gehen, wenn es unseren Nachbarn auf Dauer schlecht geht. Deswegen will ich auch Rednern aller Parteien Recht geben, die hier sagten: Wir können nicht immer die Aufmerksamkeit von Krisenherd zu Krisenherd lenken, sondern müssen jetzt schauen, dass nach dem öffentlichkeitswirksamen Gipfel auch tatsächlich die Dinge vor Ort betrieben werden. Herr Bundesaußenminister, wir hörten gestern in unserer Anhörung im EU-Ausschuss, dass die 3 Millionen US-Dollar, die Bosnien für die Übernahme der Gipfelkosten versprochen worden sind, noch nicht bezahlt worden seien. Ich weiß nicht, ob das zutrifft, aber ich wäre dankbar, wenn die Regierung in dieser Debatte dazu noch etwas sagte. Gleich spricht noch die Frau Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit, und vielleicht kann sie dazu etwas sagen. Das wäre natürlich hammerhart, wenn es stimmte, wie es gestern in unserer Anhörung gesagt wurde: Man veranstaltet einen großen Gipfel - Christian Schmidt hat ihn ja eben ein bisschen beschrieben -, der eine Menge Kosten verursacht - das haben Gipfel so an sich -, aber Bosnien-Herzegowina, das wirklich auf die letzte Mark angewiesen ist, wartet noch auf 3 Millionen US-Dollar. Ich wäre der Regierung dankbar, wenn sie uns darüber Auskunft geben könnte, ob dies so zutrifft, wie es gestern in der Anhörung im Europaausschuss gesagt wurde. ({9}) Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt die Bemühungen der Bundesregierung, der Europäischen Union und der internationalen Gemeinschaft, Frieden, Freiheit, Demokratie und Minderheitenschutz in Südosteuropa zu verankern. Nur dort, wo es für alle Freiheit und gesicherte Verhältnisse gibt, herrschen auch Stabilität und Frieden. Der Stabilitätspakt kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten, wenn er richtig angelegt wird. Nun will ich auf einen weiteren kritischen Punkt zu sprechen kommen. Wir unterstützen das Projekt, aber wir erlauben uns Kritik im Detail. Deswegen, liebe Kollegen von der SPD, sind auch die Zwischenrufe absolut unangebracht, denn man kann ja nicht sagen: Die Sache ist richtig; deswegen ist eine Kritik im Detail nicht erlaubt. ({10}) Ich möchte also einen kritischen Punkt im Detail als Beispiel bringen. In der Erkenntnis der Notwendigkeit der Sache ist ein Konferenzmechanismus in Gang gesetzt worden, und zwar nach dem Motto: Die Konferenzen werden immer größer, aber die Effizienz der Konferenzen wird immer geringer. Man muss die Frage stellen - deswegen ist die von Herrn Kinkel zitierte „FAZ“Überschrift mehr als berechtigt -, ob dem Anspruch tatsächlich die Wirklichkeit entspricht. Man muss auch fragen, ob man sich nicht mit der Konstruktion, immer mehr Institutionen einzubinden, die dann wieder koordiPeter Hintze niert werden müssen, wobei für die Koordination dann wieder ein Koordinator eingesetzt werden muss, zu sehr in Selbstbeschäftigung verstrickt, die bei den Menschen vor Ort zu wenig ankommen lässt und die bei den Staaten der Region, die mitwirken können und wollen, das ungute Gefühl verstärkt, hier werde Geopolitik ohne ihre eigene Beteiligung gemacht. Wir wollen - nur dann gibt es eine tragfähige Lösung -, dass die Menschen und die Staaten vor Ort tatsächlich beteiligt werden. Damit komme ich auf die Frage zu sprechen, die sehr schmerzt: Wie kann sichergestellt werden, dass die Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, dort wieder leben können? Es ist eine große bleibende Wunde - das ist in Bosnien und im Kosovo so, dass ethnische Minderheiten bei der Rückkehr in ihre Dörfer und Häuser keine reale Chance haben. Das ist ein Riesenproblem. Wir stellen fest - auch ich habe kein Patentrezept -, dass man mit Zwang offensichtlich nicht das notwendige Vertrauen stiften kann. Wir stellen fest, dass in diesem Problem der Keim für ein neues Problem liegt: Wenn Gruppen, die in ihrer Heimat nicht mehr leben können, in andere Regionen verbracht werden - denken wir zum Beispiel an die Vojvodina -, dann gefährdet dies die Balance in diesen Regionen und sorgt für die Entstehung neuer Konflikte. ({11}) - Das habe ich eben geschildert. - An diesem Problem müssen wir gemeinsam arbeiten. Wir schaffen dafür nur dann eine Lösung, wenn wir die Staaten der Region beteiligen, wenn wir - das möchte ich klipp und klar sagen; darin soll kein Hauch der Bevormundung liegen für ein demokratisches Serbien sorgen und wenn wir die demokratischen Kräfte in Serbien stärken. ({12}) - Sie sind da die allerschlechtesten Ratgeber; das möchte ich Ihnen sagen. ({13}) Verehrter Herr Zwischenrufer, es waren doch die kommunistischen Kräfte in diesem Hause, die sich mit Herrn Milosevic zusammengesetzt haben und die in ihm ihren Bündnispartner gesucht haben. Sie müssen sich also ganz zurückhalten. ({14}) Eine der zentralen und entscheidenden Aufgaben ist, dafür zu sorgen, dass die Menschen in ihre Heimat zurückkehren können, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können und dass wir unsere Hilfe so leisten, dass dort eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung möglich ist. Es stimmt nachdenklich, dass unsere Hilfe etwa 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von Bosnien-Herzegowina ausmacht - es ist positiv, dass wir helfen -, dass dieser Prozentsatz auch noch durch das, was die dort eingesetzten Soldaten und Beamten ausgeben, erhöht wird, dass aber die Arbeitslosigkeit gewaltig ansteigt. Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes sagen: Über dem 20. Jahrhundert stand der Satz: Der Balkan produziert mehr Geschichte, als der Rest Europas verdauen kann. Wir haben im 21. Jahrhundert die Chance, das Tor zu einer Friedensordnung für Südosteuropa aufzuschließen. Der Stabilitätspakt ist dafür ein Schlüssel. Wir wollen, dass mit diesem Schlüssel sinnvoll umgegangen wird, dass das Tor aufgestoßen wird, dass jetzt auf der Grundlage der Ergebnisse der Beratungen und Konferenzen konkrete Projekte entstehen, dass Straßen gebaut werden - denken wir nur an den Verkehrskorridor Nr. 8, die Straßenverbindung von der albanischen Küste über Skopje nach Bulgarien -, dass der Vorschlag der Konferenz der Anrainerstaaten, die in der vorigen Woche in Bulgarien stattgefunden hat, aufgegriffen wird, nicht nur zu schauen, wie viel Geld überhaupt bereitgestellt werden kann, sondern das Geld auch so bereitzustellen, dass Investitionen getätigt werden und Arbeitsplätze entstehen. Wir wünschen uns, dass sich diese Region im 21. Jahrhundert mit Europa verbunden fühlt und dass wir uns mit ihr verbunden fühlen und dass die Kriege auf den Balkan, die den Anfang und das Ende des 20. Jahrhunderts bestimmt haben, der Vergangenheit angehören. Wenn das der Stabilitätspakt schafft, dann sind wir von der CDU/CSU bereit, ihn mit Herz und Verstand zu unterstützen, dann schauen wir über Detailfehler hinweg, obwohl wir sie weiter benennen werden, und dann können wir auch einen Koordinator verkraften, selbst wenn wir der Meinung sind, dass es Vorschläge in Europa gab, die vielleicht zu einer besseren Lösung geführt hätten. Ich danke Ihnen. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe Hiksch.

Uwe Hiksch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002677, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Haus eint, dass wir alle meinen: Die Region Südosteuropa braucht einen Stabilitätspakt, der dafür sorgt, dass in der Region alles unterstützt wird, was einen sozialen, einen wirtschaftlichen und einen zivilgesellschaftlichen Wandel hin zu demokratischen und vor allen Dingen friedlichen Strukturen ermöglicht. Dennoch unterscheiden uns die Vorstellungen sowohl von der Form als auch vom Inhalt dieses Stabilitätspaktes. Sehr geehrter Herr Außenminister, ich glaube, auch Sie wissen, dass die Entstehung des Stabilitätspaktes kein präventiver, sondern ein reaktiver Ansatz war, der entstanden ist, als der Krieg auf seinem Höhepunkt war und als Bomben auf Fabriken, auf Menschen und auch auf die Infrastruktur geschmissen wurden. Daraufhin wurde überlegt, wie man aus dieser falschen Politik herauskommt. Wir alle wissen auch, dass dieser Stabilitätspakt eigentlich schon vor fast zehn Jahren notwendig gewesen wäre, nämlich damals, als aus der Bundesrepublik Deutschland die falsche Anerkennung der Sezessionstendenzen gekommen ist. Ich empfehle allen, die visionäre Rede von Günter Verheugen zu lesen. Er hat sie gehalten, als damals die Regierung Kohl die Sezessionstendenzen anerkannt hatte. In dieser Rede hat er gesagt, ein solcher Stabilitätspakt sei notwendig, Sezession aber führe zum Krieg. ({0}) Lieber Kollege Brecht, ich glaube, Sie liegen falsch, wenn Sie glauben, dass ein Stabilitätspakt dadurch in Gang gesetzt werden kann, dass man ausgrenzt, indem man einer Regierung sagt: Du darfst aber nicht mitmachen, du wirst ausgeschlossen. Genau das Gegenteil steht auf der Tagesordnung. Man muss sich einmal anschauen, wie der KSZE-Prozess gegen den Widerstand einer Seite dieses Hauses aufgebaut wurde. Man muss sich einmal anschauen, wie damals Egon Bahr, Olof Palme und auch Willy Brandt deutlich gemacht haben, dass es nicht darum gehen kann, Regierungen auszugrenzen. Diese Haltung hat nichts damit zu tun, dass man eine Regierung gut findet und dass man mit den Strukturen eines Landes einverstanden ist, sondern damit, dass Stabilität nur entstehen kann, wenn alle in dieser Region ernst genommen werden und sich keiner ausgegrenzt, sondern jeder einbezogen fühlt. ({1}) Deshalb ist dieser Stabilitätspakt nur dann ein wirklicher Stabilitätspakt, wenn es kein Embargo gibt, wenn alle betroffenen Regionen einbezogen werden und wenn auch die jugoslawische Regierung, die wir alle gern abgelöst sähen, mit in diesen Stabilitätspakt einbezogen wird. ({2}) Wir wissen auch, dass die Menschen in dieser Region - sei es im Kosovo, sei es in Mazedonien oder in der Bundesrepublik Jugoslawien - auf diesen Stabilitätspakt angewiesen sind. Wer liest, wie schlecht es den Menschen im Kosovo oder in Jugoslawien geht, wer liest, welch dramatische wirtschaftliche und soziale Situation auch in der Bundesrepublik Jugoslawien herrscht, der muss in Interesse der Menschen diese Region voll und ganz mit einbeziehen und dieses Embargo endlich beenden. Kollege Lippelt, ich halte es für problematisch, darauf hinzuweisen, dass man überall Benzin kaufen kann - was stimmt -, nur der Preis sei etwas überhöht. Wer kann denn diesen überhöhten Preis nicht zahlen? Das sind doch nicht die Menschen aus der Nomenklatura, das sind doch nicht die Menschen der Regierung. Vielmehr trifft es die einfachen Menschen, die kleinen Handwerksbetriebe und die Industrie, die versucht, in diesen Regionen wieder auf die Beine zu kommen. Wir müssen dafür sorgen, dass die wirtschaftliche Basis dafür geschaffen wird, dass sich auch die Bundesrepublik Jugoslawien wieder entwickeln und ökonomisch Fuß fassen kann. ({3}) Wir verstehen unter „Stabilitätspakt“ auch, dass diese Region demilitarisiert werden muss. Es muss darüber geredet werden, wie die Abschaffung der Armeen in dieser Region als Beispiel für einen Stabilitätspakt erfolgen kann. Es darf nicht wieder das „Gleichgewicht des Schreckens“ geschaffen werden; vielmehr muss in dieser Region endlich einmal Abrüstung durchgesetzt werden. ({4}) Eigentlich ist es ja eine Schande, zu sehen, wie schnell Milliarden zur Verfügung gestellt wurden, um einen Krieg zu führen, wie schnell es möglich war, militärische Aktionen durchzusetzen, und wie schwierig es ist, jetzt, wo es darum geht, Aufbau zu leisten, eine Geberkonferenz möglich zu machen und die Geberländer dazu zu bringen, großzügig Geld zur Verfügung zu stellen. Wenn man sich das anschaut, dann merkt man, dass wir noch immer in den Denkstrukturen des Militärs sind. Für Militär ist - egal was es kostet - Geld da; für Aufbau muss verhandelt werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, zum Schluss ein Zitat. Der deutsche General Reinhardt hat richtigerweise gesagt - ich zitiere -: Das gesamte Kosovo-Budget der UN lag für 1999 bei 125 Millionen DM. Das ist ein Viertel dessen, was die NATO an einem Tag für Geld verbombt hat. Es ist abenteuerlich und dumm, dass wir damals die Finanzen aufbrachten. Doch jetzt, wo es um Wiederaufbau geht, fehlen sie. Dem ist nichts hinzuzufügen. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin Heidemarie WieczorekZeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Stabilitätspakt hat - das ist in allen Diskussionsbeiträgen immer wieder deutlich geworden; ich bin in dieser Frage dafür, dass wir auch die Gemeinsamkeiten benennen Bedeutung für Gesamteuropa und leistet einen Beitrag zur Stabilität auf dem gesamten Kontinent. Er wird auch globale Auswirkungen haben. Wir sollten die Gelegenheit nicht versäumen, in einer solchen Diskussion deutlich zu machen, dass damit zum ersten Mal in der Geschichte dieser Region den Völkern in Südosteuropa überhaupt die Chance eröffnet wird, ihre Interessen im friedlichen Miteinander auszugleichen. Diese Chance sollten wir nutzen und wir sollten alles, was wir dazu beitragen können, auch tun. ({0}) Es ist richtig - das ist in der Debatte immer wieder deutlich geworden -: Wiederaufbau und Prävention sind schwieriger als Krieg führen. Deshalb müssen wir jetzt alles dafür tun, dass mit dem präventiven Ansatz Ernst gemacht wird, dass wir all unser Engagement dafür aufbringen. ({1}) Ich möchte an dieser Stelle all denjenigen danken, die vor Ort im Sinne dieses Ziels Präventionsarbeit leisten: etwa dem Technischen Hilfswerk, der GTZ, der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Auch unseren Soldaten und den Polizisten, die dort in diesem Sinne tätig sind, sage ich ein Dankeschön dafür, dass sie dort praktische Präventionsarbeit leisten. ({2}) Es wird ersichtlich, dass die Entwicklungspolitik eine unverzichtbare und auch eigenständige Rolle gerade im Rahmen dieses Stabilitätspaktes erfüllt. Übrigens will ich für die Kolleginnen und Kollegen, die hier über einen Mangel an Geld geklagt haben, darauf hinweisen: Außerhalb des Stabilitätspaktes stellen wir im Rahmen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit für die beteiligten Länder 160 Millionen DM zur Verfügung, und zwar in ganz praktischen Arbeitsfeldern, die wir mit den Maßnahmen des Stabilitätspaktes verknüpfen. Ich bin davon überzeugt, dass wir unsere außen- und sicherheitspolitischen Ziele nur erreichen, wenn wir in den beteiligten Ländern vor Ort das notwendige Entwicklungsfundament schaffen. In dem Gesamtkonzept, das die Bundesregierung für die Umsetzung des Stabilitätspaktes vorgelegt hat und das unser Ministerium gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt formuliert hat, wird deutlich: Die Bundesregierung nimmt ihre Verantwortung wahr. Sie leistet trotz angespannter Haushaltslage einen erheblichen Beitrag, um die Ziele des Stabilitätspaktes zu verwirklichen. ({3}) Ich meine, es wird vor allem darauf ankommen, dass die Millionen Menschen in der betroffenen Region, in Südosteuropa, in sehr unterschiedlichen Ländern, den Nutzen des Vertrages unmittelbar im Alltag erfahren, indem eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen erreicht wird. Ich bin sicher: Sie werden persönlich erleben - das ist doch unsere Hoffnung: das Ausstrahlen der europäischen Idee -, dass es zu guter Nachbarschaft, zu Verständigung, zu Ausgleich und Versöhnung keine sinnvolle Alternative gibt. ({4}) Das wird die Erfahrung mit diesem Stabilitätspakt sein. Ich möchte auf die Frage, was mein Ministerium praktisch und auch im Rahmen des Stabilitätspaktes tut - Herr Hintze hat ja danach gefragt -, antworten, dass wir alle Instrumente einsetzen, die für die Erreichung der Ziele, Arbeit zu schaffen sowie eine produktive Wirtschaft und vor allen Dingen eine Demokratisierung herzustellen, notwendig sind. Dies betrifft zum einen den Bereich der Energie- und Wasserversorgung. Wir helfen beim Aufbau der entsprechenden Strukturen, und zwar sowohl auf regionaler Ebene als auch auf Landesebene. Denn die regionalen Projekte sind ja diejenigen, die dazu beitragen, Menschen in Arbeit zu bringen. Wir leisten durch Beratung Hilfe beim Aufbau öffentlicher Kommunalverwaltungen. Ebenso wird über die Carl-Duisberg-Gesellschaft und über die Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung Unterstützung geboten bei Ausbildungsmaßnahmen und bei Vorbereitungen der Qualifizierung der Beschäftigten im öffentlichen Sektor, damit die Menschen die erforderlichen Voraussetzungen und Chancen haben. Jeder, der Schwierigkeiten beim Aufbau der zivilen Verwaltung im Kosovo kennt, weiß, wie wichtig eine solche Arbeit ist. ({5}) In diesem Zusammenhang sind besonders auch die politischen Stiftungen zu nennen, an die hohe Erwartungen gerichtet werden. Denn sie werden einen wesentlichen Beitrag leisten, um in den südosteuropäischen Ländern Demokratie und Pluralismus zu fördern sowie gesellschaftliche Organisationen wie zum Beispiel Gewerkschaften mit aufbauen zu helfen, unabhängig zu beraten und zu unterstützen. Diese Arbeit leisten wir mit den Instrumenten der Entwicklungszusammenarbeit. ({6}) Das Ziel ist, dass sich diese Völker zu pluralen, zu sozial gerechten Gesellschaften entwickeln. An dieser Stelle möchte ich betonen: Alle Formen des Austausches, auch des persönlichen Austausches zwischen Jugendlichen - ich denke im Übrigen auch an den parlamentarischen Austausch - sind wichtig, um den Stabilitätspakt mit wirklichem Leben zu erfüllen. Vorhin hat Herr Kinkel gefragt: Was ist mit der Wirtschaft? Manchmal habe ich das Gefühl, ein Teil der Entwicklung geht an einigen vorbei. Eine ganz wichtige Zusammenarbeit besteht unter dem Stichwort „Entwicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft“. Gerade in der letzten Woche hat mein Ministerium in Zusammenarbeit mit einem Konsortium, dem auch eine deutsche Bank angehört, die erste Bank in Kosovo eröffnet. Sie wird insbesondere kleine Betriebe mit Beratungsangeboten und finanzieller Starthilfe unterstützen. Das schafft Arbeitsplätze, eine konkrete Perspektive und Hoffnung. Dies ist eine konkrete Zusammenarbeit mit der Wirtschaft. Es wird dort also Arbeit geleistet; man muss sie nur zur Kenntnis nehmen. ({7}) Vor allen Dingen geht es darum, dass das, was dort geleistet wird, der Motor des Wiederaufbaus ist. Wir legen mit dieser Arbeit in den betroffenen Ländern, insbesondere im Kosovo, die Grundlagen für den Wiederaufbau aus eigener Kraft. In Pristina besteht übrigens getragen von der Kreditanstalt für Wiederaufbau, der GTZ und anderen Institutionen eine Anlaufstelle für alle Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen. Dies möchte ich hier dem einen oder anderen, der über diese Informationen bisher nicht verfügt hat, zur Kenntnis geben. Wir haben mit dem Deutschen Industrie- und Handelstag eine Konferenz zu Südosteuropa durchgeführt ich selbst habe zusammen mit Bodo Hombach teilgenommen, der übrigens in diesem Prozess ein ganz hervorragende Rolle gespielt hat und spielt -, an der die Vertreter der betroffenen Länder und Unternehmen aus Deutschland und aus Südosteuropa teilgenommen und konkrete Verabredungen für eine Zusammenarbeit erarbeitet haben. Ich weiß, das alles ist weniger spannend als die großen politischen Entscheidungen. Aber dies ist die Realität in Bezug auf die Beantwortung der Frage, ob daraus Frieden entsteht oder ob die Konflikte weiter bestehen. Deshalb sind diese kleinen Schritte so notwendig. ({8}) Zum Schluss möchte ich zwei Punkte, die mir besonders am Herzen liegen und von denen bisher auch hier nicht gesprochen worden ist, nennen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Ministerin, Herr Hintze möchte eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie damit einverstanden?

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Herr Hintze, lassen Sie mich doch bitte erst meine Ausführungen beenden. Danach können wir darüber sprechen, falls es noch notwendig sein sollte.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Er wollte eigentlich nur eine Frage stellen. Ich empfehle Ihnen, die Frage zuzulassen; denn das verlängert Ihre Redezeit, Frau Ministerin.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Wenn das so ist, dann ist das in Ordnung.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Hintze, bitte.

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, ich habe die Bitte - ich muss diese Frage jetzt stellen; denn Sie wollten gerade zum Schluss kommen -, dass Sie noch einmal auf die Frage, die im Europaausschuss thematisiert wurde, ob die Kosten für diese Konferenz erstattet werden, eingehen.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Herr Hintze, betraf das den Punkt mit den 3 Millionen DM?

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Ich habe diese Frage hier zur Kenntnis genommen. Sie wurde mir nicht aus dem Europaausschuss berichtet. Der Außenminister hat gesagt, das werde geprüft. Nach dieser Prüfung wird eine entsprechende Antwort erfolgen. ({0}) Frau Präsidentin, ich bedanke mich bei Ihnen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr, Frau Ministerin.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen: Natürlich sind die großen Investitionen, die „Leuchttürme“, wichtig. Aber wichtig ist auch eine wirkliche Versöhnung vor Ort. Deswegen haben wir ein Konzept vorgeschlagen, das vor allen Dingen die Schaffung eines regionalen Netzwerkes in ganz Südosteuropa vorsieht, das zur Versöhnung, zur Bewältigung individueller und kollektiver Traumata, zur behutsamen Aufarbeitung von Gewalt- und Gräueltaten und zur offenen Begegnung von Menschen und Völkern beiträgt. Wir möchten ein solches regionales Netzwerk in den Stabilitätspakt einbringen. Ich habe dieses Vorhaben dem Koordinator Bodo Hombach übergeben. Wir sind dabei, dieses Konzept auch inhaltlich auszufüllen. Ich bin ganz sicher, dass solche Vorhaben genauso wirksam zum friedlichen Zusammenleben wie Tausende Kilometer von Straßen oder Eisenbahnstrecken oder Vorkehrungen für die Telekommunikation beitragen, so wichtig sie auch sind. An die Ausarbeitung und Verwirklichung eines Netzwerkes der Versöhnung knüpfen wir große Hoffnungen. ({0}) Zum Schluss möchte ich einen Punkt ansprechen, der in der heutigen Diskussion noch keine Rolle gespielt hat, der aber dafür, wie ich mich zum Thema Kosovo verhalte, erhebliche Bedeutung hatte und hat. Die militärische Intervention im Kosovo hat erreicht, dass die Vertreibung der Kosovo-Albaner beendet wurde und Vertriebene und Flüchtlinge zurückkehren konnten. Aber es ist auch klar, dass es Frieden und Stabilität im Kosovo erst geben wird, wenn die Gewaltanwendung gegen andere Volksgruppen aufhört und Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verwirklicht sind. ({1}) Die Situation der Roma und Aschkali im Kosovo ist noch immer unerträglich. ({2}) Sie werden vielfach auf dramatische Weise diskriminiert. Sie dürfen nicht in ihre angestammten Dörfer zuBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul rückkehren. Sie werden von der Lebensmittelversorgung ausgeschlossen. Frauen und Kinder werden häufig genug von den wenigen Krankenhäusern und Gesundheitsstationen abgewiesen. In dieser Volksgruppe, die wie alle anderen ein angestammtes Anrecht auf Heimat und Gemeinwesen hat, herrschen unsägliches Leid und blanke Angst. Auf die dramatische Situation der Roma und Aschkali hat die Gesellschaft für bedrohte Völker - ich stehe immer mit Tilman Zülch von dieser Organisation in Verbindung - aufmerksam gemacht. Wir unterstützen deren Initiative mit all unseren Möglichkeiten. Die internationale Gemeinschaft darf nicht zusehen, wie dort vorgegangen wird. Der Krieg ist auch deswegen geführt worden, damit Vertreibungen, insbesondere ethnische Vertreibungen, aufhören. Es ist jetzt die Pflicht von uns allen, dazu beizutragen, dass es in dieser Region keine Vertreibung ethnischer Gruppen mehr geben wird. ({3}) Dazu müssen wir all unsere Möglichkeiten einsetzen. Auch das ist ein Ziel, das die Bundesregierung nach Kräften und mit nennenswerten Beiträgen fördert und begleitet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, daran, ob wir bei den kleinen Umsetzungsschritten zäh und hartnäckig bleiben, entscheidet sich, ob Südosteuropa eine Chance hat, Frieden zu entwickeln. Wenn wir zäh und hartnäckig an diesen kleinen Schritten arbeiten, sie praktisch umsetzen und eine europäische Perspektive vermitteln, dann hat die Region eine gute Chance. Ich bedanke mich sehr. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Debatte ist deutlich geworden, dass mit dem Stabilitätspakt für Südosteuropa große Hoffnungen verbunden sind. Die in den dortigen Ländern lebenden Menschen wollen jedoch nicht nur etwas über Konferenzen, für die offensichtlich die Kosten noch nicht bezahlt worden sind, über Regierungserklärungen sowie über staatstragende Reden und Debatten erfahren, sondern sie wollen endlich Taten sehen. ({0}) Die „Süddeutsche Zeitung“ schreibt in dieser Woche zu Recht: Bislang konnte der im Juli in Sarajevo von mehr als 30 Staats- und Regierungschefs aus der Taufe gehobene Stabilitätspakt die Hoffnungen nicht erfüllen. In der Region wächst die Ungeduld und der Koordinator Bodo Hombach steht immer wieder in der Kritik. Ich finde, es hat schon viel zu lange gedauert, bis jetzt Ende März endlich die so genannte Geberkonferenz stattfindet. Die „FAZ“ schreibt heute zu Recht, dass dies die „Stunde der Wahrheit für den Stabilitätspakt“ Südosteuropa wird. Herr Bundesaußenminister, „Leuchtturmprojekte“ und „Quickstart-Pakete“ - diese tollen Bezeichnungen sind schon mehrfach zitiert worden - sollen auf dieser Konferenz beschlossen werden. Ich glaube, man sollte sich davor hüten, nur auf die gute Publicity solcher Projekte zu achten. Aus der Entwicklungszusammenarbeit der letzten Jahrzehnte kann man meines Erachtens eines lernen: Die Großprojekte haben sich oft als diejenigen Projekte erwiesen, die zu einem großen Reinfall wurden. Viel wichtiger sind die kleinen Schritte, die situationsgerechten Projekte, die Selbsthilfe und Selbstorganisation der Betroffenen aktivieren. Es kann auch nicht darum gehen, das Füllhorn wahllos auszuschütten. Entscheidend ist die Einhaltung von Konditionen einer entwicklungsorientierten Politik. ({1}) Die Länder müssen sich zuallererst selbst bewegen und Reformen einleiten. Nun stellt Deutschland, ausweislich unseres Bundeshaushaltes, drei Jahre lang jährlich 300 Millionen DM zur Verfügung. Wir können damit zeigen, wie durch eine zielgerichtete und sinnvolle Entwicklungszusammenarbeit die Stabilität in Südosteuropa gestärkt werden kann. Frau Bundesministerin Wieczorek-Zeul, ganz verstanden habe ich die lobende Erwähnung Ihrer eigenen Tätigkeit und die Ihres Ministeriums nicht. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie für Ihr Ressort den jährlichen Mittelbedarf für Südosteuropa auf 400 Millionen DM beziffert. Ich halte es langsam, aber sicher für einen Skandal, dass zwei Monate, nachdem der Bundeshaushalt beschlossen wurde, heute immer noch nicht klar ist, wie die 300 Millionen DM unter den Ressorts aufgeteilt werden. ({2}) So wie es aussieht, werden Sie weniger als die Hälfte dessen, was Sie selber einmal für notwendig erachtet haben, für das BMZ zur Verfügung haben. Aber auch im Stab von Bodo Hombach ist kein Vertreter aus dem Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit; in der Südosteuropa-Agentur gibt es ebenfalls keinen Vertreter aus diesem Bereich - von der angeblich so großen Bedeutung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit und Ihres Hauses also keine Spur. Ziel unserer Entwicklungszusammenarbeit mit den Ländern Südosteuropas muss eine nachhaltige und selbsttragende Entwicklung in der Region sein. Wesentliche Voraussetzung dafür - in diesem Punkt, Frau Ministerin, sind wir mit Ihnen einig - ist ein Prozess der Demokratisierung. Legitimierte, akzeptierte und handlungsfähige politische Strukturen sind zentrale VorausBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul setzungen für die Stabilität und für die wirtschaftliche Entwicklung. Aus der bisherigen Erfahrung mit den Transformationsprozessen in Mittel- und Osteuropa wissen wir, dass nur durch eine entschlossene Reformpolitik die von den westlichen Staaten zur Verfügung gestellten Mittel wirklich sinnvoll eingesetzt werden können. Deshalb sollte sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit vorrangig darauf konzentrieren, den Demokratisierungsprozess zu unterstützen und Hilfen für den Aufbau funktionsfähiger Verwaltungen und des Rechtswesens zu entwickeln. Erfolge sind jedoch nur möglich, wenn dieser Prozess der Demokratisierung nicht allein eine Frage des formalen Staatsaufbaus und demokratischer Institutionen ist. Ohne gesellschaftliche Verankerung bleiben freie Wahlen und auch freie Märkte lediglich formale Ordnungsstrukturen, die dann erst recht von mafiosen Strukturen missbraucht werden können. Deshalb sind für uns der Aufbau und die Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen in den Ländern Südosteuropas ein zentraler Angelpunkt für den Erfolg der Entwicklungszusammenarbeit und damit auch des Stabilitätspaktes Südosteuropa. Aufgrund von Traditionen und Mentalität ist das in vielen Ländern Südosteuropas zum Teil sehr schwierig. Aber gerade deswegen sollten wir einen Großteil der Mittel aus der deutschen Entwicklungszusammenarbeit für die Arbeit der politischen Stiftungen, der Kirchen, der Nichtregierungsorganisationen und deren Partner vor Ort einsetzen, um in die Breite wirkend diesen Demokratisierungsprozess und den Aufbau einer Zivilgesellschaft durch entsprechende Programme zu unterstützen und zu begleiten. ({3}) Den Weg einer erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung werden die Länder Südosteuropas nur einschlagen, wenn die notwendigen wirtschaftlichen Reformen ernsthaft durchgeführt werden und soziale Marktwirtschaft nicht nur ein Lippenbekenntnis der Politiker ist, sondern tatsächlich im Wirtschaftsleben und in der Gesetzgebung stattfindet. Nach wie vor ist die Privatisierung in vielen Ländern nur unzureichend vorangekommen. Die wirtschaftliche Entwicklung muss die eigenen Anstrengungen der Bevölkerung stützen. Sie wird sich nur entfalten, wenn Politik und Verwaltung den Investoren und Unternehmen Planungssicherheit und Berechenbarkeit bieten, indem sie Eigentumsrechte praktisch schützen, Rahmengesetze geben und durchsetzen, eine stabile Währung bieten und die Eigenanstrengung durch eine angemessene Wirtschaftsreform begleiten. Dazu gehört etwas, was wir auch in Deutschland dringend brauchen: ein transparentes und einfaches Steuersystem. Dies alles sind auch entscheidende Voraussetzungen dafür, dass sich die Privatwirtschaft in dem auch von der Bundesregierung gewünschten Maß stärker in Südosteuropa engagiert. Sehr unterschiedlich, meine Damen und Herren, gestaltet sich die Situation der einzelnen Länder Südosteuropas hinsichtlich deren Fähigkeit, die eingesetzten und angebotenen Mittel tatsächlich zeitgerecht und in sinnvoller Weise umzusetzen. Vielfach ist festzustellen, dass die staatlichen Institutionen, aber auch die privaten nur ungenügend in der Lage sind, Projekte zu entwickeln und umzusetzen. Deshalb, finde ich, ist es in jedem Fall wichtig, dass wir nicht aus politischen Gründen jetzt auf einen schnellen Mittelabfluss dringen. Sonst könnte es geschehen, dass die Südosteuropahilfe sehr bald in Misskredit gerät und erst recht die Korruption fördert. Deshalb sollte die Anregung des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik aufgegriffen werden, so genannte Länderfonds einzurichten. Meine Damen und Herren, die Reformpolitik in den Ländern Südosteuropas kann sinnvoll unterstützt werden, indem ihnen eine Perspektive für einen Eintritt in die Europäische Union eröffnet wird. Die politisch Verantwortlichen in den meisten Ländern Südosteuropas wollen jedoch einzeln, möglichst ohne Rücksichtnahme auf die Entwicklung im Nachbarland den Weg nach Europa gehen. Leider ist das politische Denken trotz mancher gemeinsamer Konferenzen nach wie vor davon geprägt, nicht auf regionale Integration, sondern eher auf Abgrenzung zu setzen. Jeder will der Erste auf dem Weg nach Europa sein. Durch unsere Außen- und Entwicklungspolitik können wir dazu beitragen, dass die Länder Südosteuropas zunächst einmal ihre eigenen Chancen in der regionalen Zusammenarbeit erkennen und nutzen. Mit Sicherheit lässt sich der Weg nach Europa gemeinsam leichter gehen als jeweils getrennt. ({4}) Angesichts der Vielzahl von Teilnehmern des Südosteuropapaktes ist eine effiziente Koordination notwendig. Ich finde es allerdings sehr fraglich, ob mit der Schaffung neuer Institutionen tatsächlich ein Fortschritt erzielt worden ist. Weil Sie so oft Bodo Hombach ansprechen und loben mussten, möchte ich nur eines dazu feststellen - das ist einfach ein Fakt -: Bodo Hombach ist der falsche Mann am falschen Ort. ({5}) Ohnehin, unabhängig von der Person, Herr Erler, finde ich, ein EU-Koordinator für Südosteuropa gehört nicht auf die weichen Sessel in Brüssel, sondern auf die harte Bank des Balkan, nach Skopje, Pristina oder Sarajevo. ({6}) Für einen partnerschaftlichen Umgang mit den Ländern Südosteuropas gilt wie auch sonst im Leben: Das eigene gute Beispiel wirkt ansteckend und überzeugend. Wir fordern von den Ländern Südosteuropas Effektivität, schlanke Verwaltung, schnelle Entscheidungen, perfekte Organisation, Reformbereitschaft, Koordinationsfähigkeit und empfehlen beratend unsere Dienste. Und sie stellen zu Recht die Rückfrage an uns: „Was macht eigentlich ihr mit uns?“ Ist das, was wir Europäer da an Organisation, an Koordination, an Beauftragtentum aufgebaut haben, nicht ein Lehrstück, das dem, was wir den Ländern selbst empfehlen, diametral entgegensteht? Peter Weiß ({7}) In einem Gespräch mit deutschen Parlamentariern fragte der mittlerweile nach innenpolitischen Querelen gestürzte Ministerpräsident Albaniens mit einem ironischen Unterton: „Der Stabilitätspakt - was ist das?“ Ich befürchte, wenn man alles nur schönredet, wird dieser ironische Unterton weiter bestehen bleiben. Die „FAZ“ schreibt heute: Und doch nährt der Stabilitätspakt nach einem halben Jahr seiner fast unsichtbaren Existenz eher Verdruss als Hoffnung. Meine Damen und Herren, wir sollten gemeinsam alles daransetzen, dass sich in Südosteuropa die Hoffnung durchsetzt und nicht der Verdruss. Vielen Dank. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/2569 und der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/2584 sowie den Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 14/2575 zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den Ausschuss für wirt- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu überweisen, wobei der Entschließungsantrag nicht an den letztgenannten Ausschuss überwiesen wer- den soll. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos- sen. Weiterhin wird vorgeschlagen, die Anträge der PDS auf den Drucksachen 14/2387 und 14/2388 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung zu überweisen. - Damit sind Sie einverstan- den. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Der Antrag der PDS auf Drucksache 14/2573 soll zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis d sowie Zu- satzpunkt 5 auf: 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eduard Oswald, Dirk Fischer ({0}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Zukunft sichern - Verkehrsinfrastrukturinvestitionen verstärken - Drucksache 14/2360 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss 4 b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Straßenbaubericht 1998 - Drucksache 14/245 Überweisungsvorschag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus 4 c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Christine Ostrowski, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS Geschwindigkeitsbegrenzung auf 130 km/h auf Autobahnen - Drucksache 14/1082 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit 4 d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Christine Ostrowski, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS Für eine sozial, finanziell und ökologisch nachhaltige Bundesverkehrswegeplanung - Drucksache 14/2262 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({5}), Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Straßenbau statt Autostau - Drucksache 14/2582 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Peter Weiß ({7}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Eduard Oswald, CDU/CSU-Fraktion.

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mich umblicke und sehe, dass der Herr Bundesminister noch nicht da ist, gehe ich davon aus, dass er noch im Stau steht, wie auch der eine oder andere der Kolleginnen und Kollegen. Nur so kann ich mir das erklären. Auch das ist eines der Themen, derentwegen wir eine umfangreiche Verkehrsdebatte führen. Es ist gut, dass wir uns Zeit nehmen, ausführlich über die Verkehrspolitik zu sprechen. Mit unserem Antrag „Zukunft sichern - Verkehrsinfrastrukturinvestitionen verstärken“ wollen wir deutlich machen, dass in einer durch Arbeitsteilung und Globalisierung geprägten Wirtschaft Mobilität ein Schlüsselfaktor für die künftige Entwicklung des Standortes Deutschland ist. Nur eine gut ausgebaute Infrastruktur, die eine schnelle, flexible, zuverlässige und kostengünstige Mobilität von Gütern und Personen ermöglicht, bietet die Chance, im internationalen Wettbewerb mithalten zu können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gegenwärtig stellt sich die Lage für den Verkehrsteilnehmer so dar: Er wird zur Kasse gebeten und beim Straßen- und Eisenbahnbau wird massiv gekürzt. Ihr Investitionsprogramm 1999 bis 2002 ist Stillstand statt Offensive. ({0}) Unser Antrag enthält zahlreiche Anstöße zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur des Bundes und dies ist notwendig. Der Bundesminister, Reinhard Klimmt, hat kürzlich in einem Interview klar gesagt: Ich werde um jede Mark kämpfen. Das ist gut so; unser Antrag wird ihm dabei helfen. Ich bitte, ihm das mitzuteilen. Wir meinen, dass es sinnvoll ist, die Mineralölsteuer in festzulegenden Anteilen zweckgebunden für den Bundesfernstraßenbau zu verwenden, nicht nur, um mit dem durch den Straßenverkehr erbrachten Aufkommen Finanzierungslücken im Bundesfernstraßenbau zu schließen, sondern auch, um dem Autofahrer das Bewusstsein zu vermitteln, dass ihm die Mineralölsteuer zu einem großen Teil wieder zugute kommt. ({1}) Tatsache ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die gegenwärtige Finanzausstattung nicht ausreicht, um weitere dringlichste Vorhaben aus dem Bedarfsplan für den Ausbau der Bundesfernstraßen und aus dem Schienenwegeausbauprogramm zu realisieren. Als besonders gravierend erweist sich die Finanzlücke im Bundesfernstraßenbau. Die Straße mit ihren auch künftig zu erwartenden Zuwächsen ist der Verkehrsträger Nummer eins. Deswegen brauchen wir mehr Investitionen. Nach Ihren eigenen Aussagen ist der Stau auf den Straßen zu 40 Prozent auf nicht ausreichende Straßenkapazitäten zurückzuführen. Die Zeitverluste schlagen volkswirtschaftlich mit Kosten in Milliardenhöhe durch. Die Universität Köln hat in einer Studie nachgewiesen, dass jede D-Mark, die beim Ausbau des Straßennetzes eingespart wird, einen volkswirtschaftlichen Verlust von 3 DM nach sich zieht. Tatsache ist: Die Qualität unserer Verkehrsinfrastruktur bestimmt die Qualität des Standortes Deutschland. Die Länderverkehrsminister haben errechnet, dass nach dem vorliegenden Investitionsprogramm für die Jahre 1999 bis 2002 allein im Bundesfernstraßenbau eine jährliche Finanzierungslücke von 4 Milliarden DM bleibt. Sie wissen doch aus Ihren Wahlkreisen, wie hoch der tatsächliche Bedarf ist. Denken Sie nur an die zahlreichen notwendigen Ortsumfahrungen! Hier ist Straßenbau Menschenschutz, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Wir müssen die Straße als Rückgrat unseres gesamten Verkehrssystems anerkennen und als Konsequenz den ökologisch und ökonomisch ausgewogenen Neu- und Ausbau des Bundesstraßennetzes weiter vorantreiben. Übrigens: Bereits mit einem Pfennig aus dem Mineralölsteueraufkommen kann der Bundesfernstraßenetat um rund 700 Millionen DM aufgestockt werden. Da Bundesminister Reinhard Klimmt - zu Recht gesagt hat: „Ich werde um jede Mark kämpfen!“, möchte ich ihm vorschlagen, die zusätzlichen Einnahmen aus dem Mehrwertsteueraufkommen des Bundes durch den Anstieg der Kraftstoffpreise zugunsten von Investitionsmaßnahmen in den Verkehrssektor zurückfließen zu lassen. ({3}) Nach Verteilung des Mehrwertsteueraufkommens auf Bund und Länder verbleiben dem Bund mindestens 1,8 Milliarden DM mehr in der Staatskasse. Wir fordern dies gerne laufend, damit es der Finanzminister immer wieder hört. Wenn man zudem berücksichtigt, dass 1 Milliarde DM an Investitionsvolumen 12 000 bis 15 000 Arbeitsplätze im Bau- und Zulieferbereich bindet, bedeutet dies gleichzeitig einen wertvollen Beitrag für unseren Arbeitsmarkt. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung in einer Expertenkommission über neue Finanzierungsmodelle nachdenken lässt. Vieles deutet darauf hin, dass Sie neue Wege gehen wollen. ({4}) Nur, jeder muss wissen, dass dann der Autofahrer möglicherweise zweimal zur Kasse gebeten wird: einmal durch die Mineralölsteuer und dann noch einmal über Vizepräsidentin Anke Fuchs mögliche zusätzliche Gebühren. Ein zweimaliges Kassieren kommt für uns nicht infrage. ({5}) Mit Interesse warten wir auf Ihre Vorschläge, auch auf die koalitionsinternen Debatten dazu. Jetzt sind Sie am Zug. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Nachfrage nach Mobilität wird auch in Zukunft steigen. Die Mobilität von Bevölkerung und Wirtschaft ist eine wichtige, ja entscheidende Voraussetzung für die Produktivität einer Volkswirtschaft. Verkehr ist Wirtschaftsmotor und kein Selbstzweck; dies kann man nicht oft genug wiederholen. Wenn wir wissen, dass in jedem Jahr die Verkehrsmenge um 2 bis 3 Prozent steigt, und wenn wir wissen, dass sich die Verteilung auf die Verkehrsträger nur geringfügig verändert, dann ist es unsere Aufgabe, auch in ein leistungsfähiges Schienennetz zu investieren. Wir haben gestern im Ausschuss für Verkehr, Bauund Wohnungswesen über vier Stunden - das kann ich allgemein sagen - ein wertvolles, wichtiges Gespräch mit dem neuen Bahnvorstand Hartmut Mehdorn geführt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die Leistungsfähigkeit der Bahn verbessern, indem wir die Rahmenbedingungen für den Eisenbahnverkehr insgesamt verbessern und indem die Investitionen es der Bahn ermöglichen, ihr Streckennetz zu modernisieren und zu erweitern, um einen größeren Anteil des allgemeinen Verkehrszuwachses aufzunehmen. Eine der großen Schlüsselfragen ist, ob wir in Europa für die Bahn die Netzöffnung schaffen. Ich halte dies schlechthin für die Zukunftsfrage des Rad-Schienen-Systems. ({6}) Wir werden alle Vorschläge zu einer möglicherweise neuen Politik der Bahn nach Folgendem beurteilen: Erstens. Was bringen sie für den Bahnkunden? Zweitens werden wir auch an der grundsätzlichen Frage festhalten: Kommen durch diese Politik zusätzliche Verkehre auf die Schiene? Drittens. Für uns wird es wichtig sein, dass alle Regionen der Republik an das Fernschienennetz angebunden und eingebunden sind. Uns geht es um die gleichmäßige Erschließung aller Räume in unserem Lande, um die Erschließung der Fläche. Ein einseitiges Schielen nur auf die Zentren wäre und ist nicht unsere Politik. ({7}) Viertens. Der Schlüssel für eine neue Bahnpolitik liegt in den Antworten für den Güterverkehr. Hier ist eine Verlagerung von der Straße auf die Schiene gerade im Langstreckenbereich notwendig. Wir müssen uns immer wieder vergegenwärtigen, dass der LKW für uns alle unverzichtbar bleibt. 80 Prozent aller LKW-Fahrten finden in einem Bereich bis zu 100 km statt. Daher wissen wir um die Grenzen der Verlagerung. Wir alle wissen, dass wir die Straßen nicht so ausbauen können wie der Verkehr wächst. Deswegen muss die Bahn gerade im Güterverkehr einen gewaltigen Sprung nach vorne machen. Natürlich müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass eine Verlagerung von lediglich 10 Prozent der Straßengütertransporte auf die Schiene ein Wachstum der dort erbrachten Verkehrsleistung von 50 Prozent erfordert. Dem Güterverkehr muss also unsere besondere Aufmerksamkeit gelten. Wir müssen hier die Schiene verbessern, ohne die Straße zu verteuern. Denn die internationale Konkurrenz ist da. Der Gütertransport auf der Schiene muss schneller und billiger werden. Dies geht nur mit mehr Logistik und möglicherweise mit mehr Wettbewerb. Die Vernetzung der Verkehrsträger muss stärker vorangetrieben werden. Unser Ziel muss der Aufbau einer Verkehrsinfrastruktur sein, in der sich die jeweiligen Systeme stärker ergänzen, in der das Gesamtsystem Verkehr gestärkt wird. Die Mobilitätsbedürfnisse der Zukunft lassen sich nur mit integrierten Verkehrssystemen befriedigen, die allerdings eine intelligente Infrastruktur voraussetzen. Gemeinsam wissen wir, dass Infrastrukturkapazitäten nicht beliebig vermehrbar sind. Es gilt, Verkehre zu vermeiden, Verkehre zu verlagern und Verkehre verträglicher abzuwickeln. Aber eines wissen wir: Ohne einen Ausbau der Verkehrsinfrastruktur wird es nicht gehen. Dazu braucht man mehr Geld. Wir wollen die Mobilität sichern, den Standort stärken, eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur schaffen und erhalten und die Sicherheit auf all unseren Verkehrswegen verbessern. Unterstützen Sie unseren Antrag! Vielen herzlichen Dank. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile nun dem Kollegen Reinhold Hiller, SPD-Fraktion, das Wort.

Reinhold Hiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000901, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ganz zum Schluss, lieber Kollege Oswald, hätte ich fast geklatscht, ({0}) denn Ihre Ausführungen zur Bahnpolitik finden, schätze ich, die Zustimmung des ganzen Hauses. Das kann man nicht bestreiten und das sollte man dann auch sagen. ({1}) Allerdings ist Ihr Antrag eher der verzweifelte Versuch, die gescheiterte Verkehrspolitik der alten Regierung aufzuarbeiten. ({2}) Denn vieles von dem, was in dem Antrag steht, hätten Sie tun können, haben es aber leider versäumt. Das muss man Ihnen sagen. ({3}) Sie machen den Eindruck, als wenn Sie kurzatmig einer neuen erfolgreichen Politik der Regierung in Berlin, aber auch der Landesregierung in Kiel hinterherhecheln. Bei einigen Bildern, die mir ins Bewusstsein kommen, muss ich die F.D.P. anschauen. Das ist eine Partei, die seit 1969 an jeder Mineralölsteuererhöhung beteiligt war. Sie haben es geschafft, auf 1,90 DM zu kommen. Ein Jahr später machen Sie diese lächerliche Tankstellenaktion. Ich finde, so leicht kann man sich von der eigenen Vergangenheit nicht verabschieden. ({4}) Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass wir mit einer schwierigen Erblast zu kämpfen haben. Jahrelang haben Sie immer neue Ortsumgehungen und Autobahnabschnitte versprochen. Sehr häufig waren die Spatenstiche Ihre einzigen Aktionen hinsichtlich Ihrer Versprechungen. Dabei mussten Sie schon damals wissen, dass Sie viele Ankündigungen und Versprechungen nicht würden einhalten können. Sie haben bewusst ungedeckte Schecks auf die Zukunft ausgestellt und den Bruch von Wahlversprechungen zumindest billigend in Kauf genommen. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass Ihre Aktionen finanziell nicht abgesichert waren. ({5}) Kollege Börnsen ist ja jetzt hier eingetroffen. Ich will Ihnen das gerne am Beispiel Schleswig-Holsteins vorrechnen. Die tatsächlich getätigten Investitionen in SchleswigHolstein sanken zwischen 1994 und 1998 von 239 Millionen DM auf 210 Millionen DM. Das sind die Fakten. Dass Sie jetzt unruhig werden, kann ich verstehen. ({6}) Die neue Regierung hat dieser Benachteiligung Schleswig-Holsteins ein Ende gemacht. ({7}) 1999 wurden in diesem Bundesland - das gilt für die anderen Bundesländer teilweise genauso ({8}) 247 Millionen DM investiert. Das sind 40 Millionen DM mehr als bei der alten Bundesregierung. ({9}) Allein für Schleswig-Holstein betrugen die Luftbuchungen der Regierung Kohl für diese Legislaturperiode 193 Millionen DM. 1999 waren nur 32 Prozent des tatsächlichen Bedarfs gedeckt und auch im Jahr 2002 wird es nur ein Drittel sein. Es scheint also so, dass bei den Verkehrsinvestitionen die chronische Unterdeckung durch großherzige Versprechungen und Ankündigungen ausgeglichen werden soll. Diese verheerende Ausgangslage haben wir vorgefunden. Deshalb ist es absurd, dass die CDU und die F.D.P. jetzt in Schleswig-Holstein den Vorwurf erheben, wir hätten das Land Schleswig-Holstein bei der Verkehrspolitik vernachlässigt. Sie wissen ganz genau - ich will es hier gerne noch einmal sagen -: Die Ostseeautobahn A 20 im Raum Lübeck ist im Bau. Davon können Sie sich, wenn Sie das nicht wissen, alle selber überzeugen, indem Sie sich das anschauen. Die technischen Bauwerke sind in der Landschaft deutlich sichtbar und der Lückenschluss zwischen Lübeck und der mecklenburgischen Nachbarschaft wird spätestens im Jahr 2002 fertig gestellt werden. Diese Mittel sind auch im Sofortprogramm niedergelegt. Als regional Beteiligter will ich Ihnen einmal sagen: Ich kenne eigentlich in Westdeutschland keine einzige Autobahn, die so schnell von der Planung bis zur Fertigstellung gekommen wäre. Das muss man leider so sagen. Daran haben auch Sie Ihren Anteil, aber das sollte man vor allem den Verkehrspolitikern wirklich anerkennen. Denn die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern brauchen diese Verkehrsverbindung ganz dringend. Ich glaube, darüber besteht Einigkeit. ({10}) Deshalb appelliere ich an Sie, damit aufzuhören, diese Dinge ständig infrage zu stellen. Dann haben Sie - das tun Sie jetzt im Wahlkampf auch immer - die Frage gestellt, wie es mit dem Weiterbau der A 20 mit der Elbquerung westlich von Hamburg aussieht. Es stimmt, dass dieser Streckenabschnitt nicht im Sofortprogramm bis zum Jahr 2002 enthalten ist, was zu vielen Irritationen in Schleswig-Holstein geführt hat. Das liegt aber daran, dass in dieses Programm nur Vorhaben aufgenommen worden sind, die bereits baureif und gerichtsfest sind. Ich finde, das ist eine seriöse Politik. Sie können die Urteile zum Bau der A 20 selbst durchlesen und werden erkennen, welche Gefahren im Rahmen dieser Infrastruktur letztlich bestehen, wenn man dabei bleibt, Ankündigungen zu machen, ohne dass man gerichtsfeste und baureife Planungen hat. Insofern gibt es auch da keinen Anlass für Kritik an dieser Bundesregierung. Wir als SPD-Fraktion unterstützen eindeutig die positiven Aussagen von Bundesverkehrsminister Klimmt zum Weiterbau der A 20. Das können Sie auch im Wahlkampf nicht zerreden. ({11}) Dies gilt natürlich auch für die Landesregierung. Ich glaube, auch darüber gibt es, wenn man bei der Sache bleibt, überhaupt keinen Streit. Deshalb bin ich der Meinung, dass sich diese Dinge gar nicht so sehr für den Wahlkampf eignen. Reinhold Hiller ({12}) Trotz leerer Kassen sind darüber hinaus wesentliche Projekte in Schleswig-Holstein abgesichert worden, die vorher nicht abgesichert waren. Das betrifft die Ortsumgehung in Neumünster oder auch die Verlegung der B 207 in Groß Grönau im Zusammenhang mit der A 20. Ich will die Projekte jetzt nicht im Einzelnen nennen. Wir werden diesen Weg weitergehen. Zum ersten Mal ist ein Bundeskanzler in Schleswig-Holstein gewesen, der sich in Übereinstimmung mit der dänischen Regierung für den Bau einer festen Beltquerung ausgesprochen hat. Das sollten Sie auch einmal anerkennen. ({13}) - Ich finde es ganz toll, dass Sie klatschen. Damit sind Sie jetzt wieder auf der Linie der schleswig-holsteinischen F.D.P. Neulich bei einer Begegnung mit dänischen Kolleginnen und Kollegen hat das bei Ihnen, Herr Kollege Friedrich, ganz anders geklungen. ({14}) - Dies ist erfreulich. Und wenn Sie dem zustimmen, dann sollten Sie dies auch so tun und sich nicht so undiplomatisch verhalten, wie es Herr Rühe in SchleswigHolstein tut, indem er sich höhnisch über die Gäste aus Skandinavien geäußert hat. Ich finde, wenn es positive Dinge gibt, dann sollte man diese letztlich auch positiv herausstellen. ({15}) - Sie haben Recht. Deshalb haben Sie auch Ihren Antrag eingebracht, und deshalb haben wir auch Ihre diesbezüglichen Äußerungen zu den verkehrspolitischen Themen in Schleswig-Holstein vernommen. Daher begrüße ich, dass ich bei dieser Gelegenheit etwas dazu sagen kann. Zur Ostsee-Kooperation ist in dieser Woche auf einer Veranstaltung der schleswig-holsteinischen Landesregierung vom Botschafter der USA ein dickes Lob für die Landesregierung in Kiel ausgesprochen worden, das auch geopolitische Bedeutung hat. Ich glaube, dass man darauf besonders stolz sein kann. Meine Damen und Herren, auch bei der Schiene hat man sich seitens der Bundesregierung und seitens der Landesregierung darauf verständigt, die Planungskosten für die Elektrifizierung der Strecke Hamburg - Lübeck zu teilen. Das ist etwas Neues und dafür sollte man der Bundesregierung Dank sagen. ({16}) Denn Sie haben es in der Vergangenheit lediglich geschafft, über dieses Projekt zu reden. Sie, Herr Kollege Oswald, haben die Verknüpfungen angesprochen. Das betrifft insbesondere die Häfen, über die in diesem Hause viel zu wenig gesprochen wird. Auch in diesem Falle ist es so, dass sich der Bund an der Entwicklung von KLV-Terminals in den Häfen nicht nur in Schleswig-Holstein, sondern überall an der Küste beteiligt. Auch das muss man hier einmal sagen. Das ist sehr erfreulich. 28 Millionen DM sind bewilligt worden, um zum Beispiel in Lübeck ein Terminal für den kombinierten Ladungsverkehr zu bauen und TrailerWechselbehälter und Container schnell und wirtschaftlich umschlagen zu können. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Investitionen im Verkehrsbereich - auch da kann ich meinem Vorredner zustimmen - dienen nicht nur der Infrastruktur, sondern sie schaffen auch Arbeitsplätze. Auf diese Bundesregierung kann man sich verlassen und deshalb darf ich meine Ausführungen mit einem Dank an Verkehrsminister Klimmt beenden. Danke. ({17})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Horst Friedrich, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Lieber Kollege Hiller, das war eine gelungene Wahlkampfrede, allerdings offensichtlich im falschen Parlament. Es wäre besser gewesen, sie in SchleswigHolstein zu halten. ({0}) Das Muster war ein bisschen kleinkariert. Um wenigstens bei den Fakten zu bleiben: Dass die Mineralölsteuer 1,90 DM beträgt, kann man in diesem Haus nicht so stehen lassen. ({1}) Wir haben die Mineralölsteuer von 49 auf 98 Pfennige angehoben. Das ist richtig. Dazu stehen wir auch. Wir haben im Gegenzug dem Autofahrer damals aber auch immer das Kilometergeld erhöht, um zumindest in der Fläche die Möglichkeit des Ausgleichs zu schaffen, was Sie bis jetzt schuldig geblieben sind. ({2}) Ihr Motto zur Erhöhung der Ökosteuer lautet ja: Rasen für die Rente, damit Entsprechendes in der Kasse bleibt. Der Autofahrer wird abgezockt, ohne dafür etwas zu bekommen. Ihre mittelfristige Finanzplanung untermauert dies, denn die Investitionen im Verkehrsbereich werden abgesenkt. ({3}) Zur A 20, lieber Kollege Hiller, kann ich sagen: Sie waren immer dafür. Ich freue mich auch, dass Sie akzeptieren, dass man so etwas schnell bauen kann. Ich will hier nur noch einmal feststellen: Das VerkehrswegeplaReinhold Hiller ({4}) nungsbeschleunigungsgesetz wurde gegen die Stimmen der SPD durchgesetzt ({5}) und die Investitionsmaßnahmengesetze im Zusammenhang mit der A 20 auch. Offensichtlich hatten wir doch die besseren Argumente damals. ({6}) Wenn Sie mich schon bei der festen Fehmarnbeltquerung in die Pflicht nehmen wollen: Erstens habe ich gesagt, wir müssen über das Thema ordentlich nachdenken. Ich glaube nicht, dass es in Deutschland erste Priorität hat. Ich sehe momentan auch noch nicht die abgesicherte Finanzierung für diese Maßnahme. ({7}) Insofern sollte man vielleicht Gästen aus Dänemark nicht etwas versprechen, was in dieser Form in keiner einzigen Planung, auch von Ihnen nicht, bisher im Investitionsplan abgesichert ist. Meine Damen und Herren! Der Bundesverkehrswegeplan ist fürchterlich unterfinanziert. Er liest sich seit Jahren wie ein Märchenbuch. Wir müssen endlich einen ehrlichen Plan aufstellen. Es ist fraglich, ob wir genug Geld haben, um die Infrastruktur auszubauen und auf Dauer zu unterhalten. An diese Fragen wird der Verkehrsminister ganz grundsätzlich drangehen. Das kann zu weitreichenden Konsequenzen führen, etwa zum Privatbetrieb oder zur privaten Errichtung von Straßen, Schienen oder Verkehrswegen. Denn eines kann sich die Bundesrepublik auf keinen Fall leisten: eine ungenügende Infrastruktur. ({8}) Sie werden sich jetzt wundern: Ich habe soeben den Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel, aus einem Interview zitiert, das er im Juni letzten Jahres dem „Stern“ gegeben hat. ({9}) In einem hat er Recht: Wir können es uns nicht leisten, eine ungenügende Infrastruktur zu haben. ({10}) Wenn ich allerdings die Messlatte seines Haushaltes und der Dotierung des Investitionsplanes an dem messe, was er dem „Stern“ gesagt hat, kann ich nur sagen: Ziel klassisch verfehlt. ({11}) Das Letzte, was wir uns in Deutschland im globalen Wettbewerb leisten können, ist eine schlechte Infrastruktur, insbesondere aber auch schlechte Straßen, da nur flexible Transportleistungen der Arbeitsteiligkeit der Wirtschaft dienen und damit auch die entsprechenden Beschäftigungseffekte und Arbeitsplatzsicherheit schaffen. Die tatsächliche Entwicklung des Straßenverkehrs in Deutschland hat aus mehreren Gründen alle Prognosen bei der Erstellung des Bundesverkehrswegeplans 1992 bereits weit übertroffen. Wirklich verantwortliche Politik muss sich deswegen auch an den tatsächlichen Verkehrsmengen und -strömen orientieren. ({12}) Alle seriösen Prognosen von ernst zu nehmenden Instituten, angefangen beim Ifo-Institut, weisen darauf hin, dass der Personenverkehr bis zum Jahr 2010 um weitere 30 Prozent und der Güterverkehr auf deutschen Straßen um weitere 60 Prozent zunehmen werden. Deswegen müssen die Investitionen dem Bedarf einer arbeitsteiligen Volkswirtschaft angepasst werden und dürfen nicht nach unten gefahren werden. ({13}) Der Schienenverkehr kann bei allen Anstrengungen, Hilfen und Investitionen keine wesentliche, spürbare Entlastung bringen. Wenn er in der Lage sein soll, den prognostizierten Zuwachs aufzunehmen, müsste er sich gegenüber dem jetzigen Stand fast verdreifachen. Derzeit besteht ein Verhältnis von 60 : 20 zwischen Straße und Schiene im Güterverkehr, beim Personenverkehr liegt das Verhältnis klassisch bei 90 : 8. Das Entscheidende - das hat Herr Mehdorn gestern im Verkehrsausschuss zugegeben - ist, dass die Bahn derzeit kein in sich schlüssiges Logistikkonzept anbieten kann. Sie wird es auf Dauer auch nicht anbieten können, und genau das ist das eigentliche Problem. Es nützt doch nichts, einen Verkehrsträger zu bestrafen, ohne dass der andere in Zukunft in der Lage ist, überhaupt Güter in signifikantem Umfang zu übernehmen. ({14}) Darüber hinaus - das ist bereits vom Vorsitzenden des Verkehrsausschusses gesagt worden - muss man akzeptieren, dass der Großteil der Güter über Entfernungen von unter 100 Kilometern oder nur knapp darüber transportiert wird. Das ist eine klassische nicht bahnaffine Entfernung. Der Anteil der Güter, der auf dieser Strecke transportiert wird, wird zunehmen, weil die Verlagerung der Transporte von schweren Massengütern wie Kohle oder Stahl hin zu hochwertigen Kaufmannsgütern, die zeit- und kostenempfindlich sind, zunimmt. Deswegen werden auch die Verteilungsströme kleinteiliger. Auf diese Tendenzen muss man Antworten geben. Das kann man nicht dadurch tun, dass man die Straßeninfrastruktur in den jetzigen Planungen zusätzlich vernachlässigt. Angeblich haben Sie doch schon erkannt, wo der Pferdefuß ist. Horst Friedrich ({15}) ({16}) - Sie können uns noch eine Zeit lang vorwerfen, wir hätten unseren Verkehrshaushalt ungenügend dotiert. Ich gehe jetzt die Aufstellung in der Fragestunde durch, die der Kollege Ibrügger bezüglich der Frage des Kollegen Fischer aufgeführt hat. Bei dem Vergleich der Zahlen stellt sich heraus, dass wir mehr Investitionsmittel zur Verfügung gestellt haben, als Sie es derzeit tun. ({17}) Dabei haben Sie jetzt bereits zweimal zusätzlich in die Taschen der Autofahrer gegriffen. Der Kollege Schmidt behauptet nach wie vor, in den Jahren 1999 und 2000 würde es mehr Investitionsmittel geben. Betrachten wir es wirklich ernsthaft: Die Steigerung in 1999 ist ausschließlich darauf zurückzuführen, dass es 100 Millionen DM mehr für den Ausbau von Eisenbahnkreuzungen, einer Last, die von den Kommunen auf den Straßenbauhaushalt übertragen worden ist, gegeben hat. ({18}) - Es ist verschoben worden. Es kommt keine Mark in den Straßenbau. Es werden Aufgaben in den Straßenbautitel verschoben, die vorher ganz woanders waren. Wenn das Ihr Rechenexempel ist, dann ist das ein wenig kurz gehüpft. ({19}) Tatsächlich haben Sie schon 30 Millionen DM weniger ausgegeben. ({20}) Fakt ist: Sie erhöhen mit Ihren Ökosteuerschritten die Zahllast für den Autofahrer auf 110 Milliarden DM. Sie haben eine mittelfristige Finanzplanung vorgelegt, in der die investiven Ansätze auf 22 Milliarden DM im Jahre 2003 reduziert werden. Das heißt, Sie ignorieren nach wie vor den mittlerweile dreimal gefassten Beschluss der Verkehrsminister des Bundes und der Länder, dass für die Finanzierung der Straßeninfrastruktur 4 Milliarden DM zu wenig zur Verfügung stehen: 1 Milliarde DM für den Erhalt der bestehenden Infrastruktur und 3 Milliarden DM für den Ausbau. Diese Beschlüsse sind immer einstimmig von allen Verkehrsministern, egal, welcher parteipolitischen Couleur sie angehört haben, gefasst worden. ({21}) Das Einzige, was zutrifft, ist Folgendes: Der deutsche Autofahrer hat einen Trost: Die Luft im Stau wird besser. Prägnanter kann man die Ergebnisse einer ShellStudie nicht zusammenfassen, in der steht, dass die Zahl der PKW demnächst von 42 Millionen auf 51 Millionen zunimmt, aber die Schadstoffbelastung geringer ist als Anfang der 90er-Jahre. Ich sage es noch einmal: Das ist angesichts der von Ihnen veranlassten Abzockerei der Autofahrer ein billiger Trost; denn der Stau ist nun einmal nicht wegzudiskutieren. Die Verkehrsentwicklung hat seit 1960 um sage und schreibe 900 Prozent zugenommen, die Entwicklung der Infrastruktur gerade einmal um 50 Prozent. Deswegen haben wir, die F.D.P., einen Vorschlag in unserem Antrag „Straßenbau statt Autostau“ gemacht, der schrittweise systemgerechte Verstärkungen der Investitionsmittel vorsieht. ({22}) Wir fordern in einem ersten Schritt eine Aufstockung des Straßenbautitels des Bundes um 1,3 Milliarden DM. Um dem Vorwurf der Unseriosität bei diesem Vorschlag zu entgehen, haben wir natürlich auch gleich die Gegenfinanzierung vorgelegt. Wir fordern Sie hier auf, die bisher vorliegende zeitbezogene Vignette für den LKW in eine zweckgebundene Vignette umzuwandeln - das sind immerhin knapp 800 Millionen DM - und endlich das Wibera-II-Gutachten für die Zahllast für den Nahverkehr zwischen Bund und Ländern gesetzlich umzusetzen. In diesem Gutachten, das einvernehmlich von Bund und Ländern akzeptiert worden ist, wird festgestellt, dass der Bund, gemessen am Status-quo-Verkehr 1992, für den Nahverkehr jährlich eigentlich 500 Millionen DM zu viel an die Länder bezahlt. Um auch dem nächsten Vorwurf gleich entgegenzutreten: Das heißt nicht, dass wir uns aus der Finanzierungsverantwortung des Bundes zurückziehen wollten; wir bleiben ja bei über 12 Milliarden DM. Es geht darum, das im Gesetz festgelegte Verfahren endlich umzusetzen. Man kann das auch sein lassen. Dann muss man es aber als Regierung ebenso gesetzlich festlegen und sagen: Wir möchten den Vollzug dieser 500 Millionen DM nicht. Auch das kann man dem Autofahrer erklären, denn auch diese Abgaben werden aus der Mineralölsteuer finanziert. ({23}) Auch das muss besprochen und festgestellt werden. Das zweite Element ist die Forderung, dass der Bundesverkehrsminister sein Programm zur Beseitigung von Engpässen und Stauschwerpunkten nicht erst im Jahr 2003 auflegt, sondern es auf das Jahr 2001 vorzieht. ({24}) Im langen Weg ist das für uns ein Einstieg zur langfristigen Umstellung der Finanzierung der Straßenverkehrsinfrastruktur auf ein verursachergerechtes und effizientes System in „Public-Private-Partnership“ unter Einbeziehung ausländischer Nutzer. Auf dem Weg dahin fordern wir, dass erstens die Möglichkeiten des seit 1994 bestehenden Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetzes zielgerichtet erweitert werden sollen, um entsprechende Erfahrungen zu sammeln, dass zweitens unverzüglich Horst Friedrich ({25}) mit der Ausschreibung von Modellprojekten begonnen wird ({26}) und dass drittens im Zusammenhang mit den Modellprojekten und der Gesetzesänderung ein Zeitplan zur Umstellung des Systems der Finanzierung der Straßeninfrastruktur aufzustellen ist. Das ist, meine Damen und Herren Kollegen, schon deshalb notwendig, weil das EU-Recht ja verbietet, gleichzeitig zeitbezogene Vignetten und nutzerabhängige Entgelte auf der gleichen Strecke einzuführen. Das heißt im Endeffekt: Wir werden uns dann überlegen müssen - auch, wenn es Modellprojekte im Detail sind -, ob das EU-Recht nicht unter Umständen bereits gegen eine solche gleichzeitige Einführung steht. Deswegen muss das zügig und im Zusammenhang dargestellt werden. Ziel der ganzen Operation muss es sein, dem Autofahrer in Deutschland zu signalisieren, dass er von der von ihm finanzierten gigantischen Summe von 110 Milliarden DM wenigstens den Anteil zurückbekommt, der einigermaßen dem bereits seit 1960 bestehenden Gesetz entspricht, wonach Steuern und Abgaben zweckgebunden dem Straßenverkehr zurückzugeben sind. ({27}) - Herr Kollege Schmidt, es war 1960 in Deutschland bereits Gesetz, dass so etwas zweckgebunden ist. Sie sagen, es gibt keine zweckgebundene Steuer. Die Mineralölsteuer ist zweckgebunden, zumindest zum Beispiel zur Finanzierung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes. Wir sollten uns hier nicht gegenseitig mit Halbwahrheiten überzeugen wollen. Eine Zweckbindung muss vorgenommen werden, und das ist auch möglich, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist. Dieser Wille ist bei Ihnen nur nicht vorhanden. Sie nutzen den Autofahrer in Deutschland als billige Melkmaschine, ({28}) was die Finanzierung angeht, um Ihre Versprechen einzulösen, und senken gleichzeitig die Investitionen in die Infrastruktur aller Verkehrsträger. ({29}) Das ist eigentlich das, was man Ihnen politisch vorwerfen muss. ({30})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich dem Kollegen Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sollten weniger über landwirtschaftliche Geräte sprechen, sondern besser über den Verkehr. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion und aus der PDS-Fraktion, mit Ihren Anträgen die Gelegenheit schaffen, im Hohen Haus eine längere Verkehrsdebatte durchführen zu können. ({0}) Ich glaube, es gibt jenseits aller notwendigen und sicher immer wieder deutlich sichtbaren Differenzen auch eine ganze Menge an Aussagen, die ich bisher gehört habe, die man unterstreichen kann. Besonders dann, wenn Kollege Oswald spricht, muss ich mich direkt immer zusammennehmen, damit ich nicht an der falschen Stelle klatsche. ({1}) Aber im Ernst: Ich glaube, wir können uns darauf verständigen, dass die zweifellos große und notwendigerweise zu lösende Aufgabe, das dichte Verkehrsnetz Straße und Schiene - in einem vernünftigen Zustand zu erhalten und es dort, wo es notwendig ist, sogar noch auszubauen, von Jahr zu Jahr schwieriger geworden ist und noch schwieriger werden wird, und zwar - das behaupte ich einfach - ganz egal, ob der Finanzminister rot, grün oder schwarz ist. Wenn wir das konzedieren, dann müssen wir uns fragen, warum das so ist. Der eine Grund ist sicherlich der: Je länger und je älter das Verkehrsnetz wird - es wird ja täglich und jährlich älter -, desto größer wird von Jahr zu Jahr der Aufwand für den schieren Erhalt und für die Sicherung des Bestands meine Kollegin Eichstädt-Bohlig wird darauf noch im Detail eingehen - sowie für die Erneuerung von Bauwerken wie Tunneln und Brücken. Das ist keine politische Angelegenheit, sondern einfach ein Fakt. ({2}) - Ich komme darauf noch zu sprechen, Herr Kollege. Bitte haben Sie einen Moment Geduld, bis ich meinen Gedankengang zu Ende entwickelt habe. Der zweite Grund, warum es von Jahr zu Jahr schwieriger wird, dieser Aufgabe ausreichend nachzukommen - auch darauf werden wir uns verständigen können -, ist, dass wir gezwungen sind, generell den Haushalt zu konsolidieren, und dass wir uns nicht damit abfinden dürfen und wollen, durch eine immer größer werdende Neuverschuldung den Schuldenrucksack für künftige Generationen dauernd schwerer werden zu lassen. Auch Horst Friedrich ({3}) der Ausweg in immer mehr Schulden scheidet also aus, jedenfalls für uns. Für uns gilt der Grundsatz der Nachhaltigkeit nicht nur in der Umweltpolitik, sondern auch in der Finanzpolitik. ({4}) Auch ein anderer Ausweg verbietet sich: Die private Vorfinanzierung verursacht dem Finanzminister zwar zunächst keine Kosten. Aber die Jahresraten verteuern das fertig gestellte Verkehrsprojekt, wenn es zurückgekauft wird. Das gilt nicht nur für Autobahnprojekte, sondern auch für Schienenprojekte. Sie alle kennen als Musterbeispiel die ICE-Neubaustrecke über Ingolstadt. Dieses Projekt wird durch die Rückzahlung von 622 Millionen DM pro Jahr über 15 Jahre zum Schluss 9,6 Milliarden DM kosten. Die geplante Bausumme liegt eigentlich nur bei 3,8 Milliarden DM. Ein solcher Ausweg scheidet für uns auch aus. Wir müssen nüchtern feststellen, dass ein ungebremster und immer weiterer Ausbau der Verkehrsinfrastruktur - das ist unabhängig von der parteipolitischen Couleur - nicht nur an ökologische Grenzen, sondern auch ökonomische Grenzen stößt. Wer dies heute noch verschleiern will, der gesteht sich eine Tatsache nicht ein. ({5}) Gerade weil es so schwierig ist, der von mir beschriebenen Aufgabe nachzukommen, ist es eine ungeheure Leistung dieser Bundesregierung, im Rahmen des Investitionsprogramms 1998 bis 2002 mit einem Gesamtvolumen in Höhe von 67 Milliarden DM Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur zu sichern und gleichzeitig ganz bewusst und sehr gezielt mindestens die Hälfte dieses Kapitals in den Bestand der Netze zu investieren. Das ist ein Paradigmenwechsel, mit dem die Realitäten anerkannt werden. Das sollte man nicht kritisieren, sondern anerkennen. ({6}) Sie haben darüber geklagt - dafür habe ich Verständnis -, dass auch das Verkehrsministerium prinzipiell nicht von den allgemeinen Konsolidierungszwängen ausgenommen worden sei. Aber Sie müssen auch ganz nüchtern konzedieren, dass in den vier Jahren der letzten Legislaturperiode zum Beispiel der Investivansatz für den Straßenbau von 8,7 Milliarden DM auf 8,1 Milliarden DM reduziert worden ist, obwohl die Mineralölsteuer erhöht worden ist und obwohl die Schulden jedes Jahr mehr geworden sind. Das ist der Unterschied zu dieser Bundesregierung: Wir verringern die Staatsverschuldung; wir betreiben keine bedenkenlose Steuererhöhungspolitik. Trotzdem sorgen wir für Investitionen in den Ausbau und Erhalt des Straßen- und Schienennetzes. ({7}) Mit begleitenden Maßnahmen zum Investitionsprogramm - auch das möchte ich bei dieser Gelegenheit in Erinnerung rufen - hat sich das Bundeskabinett am 3. November 1999 befasst. Die dort versammelte Runde der Ministerinnen und Minister hat damals zusätzlich zum Investitionsprogramm Folgendes beschlossen. Wir halten noch einmal fest - ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Meine Damen und Herren, überwiegend hat der Kollege Schmidt das Wort.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber ich finde es ganz interessant, wenn Frau Rönsch mit Herrn Schlauch streitet. Ich rufe noch einmal in Erinnerung, dass das Kabinett am 3. November letzten Jahres, zusammen mit diesem Investitionsprogramm, Folgendes beraten und beschlossen hat: Es wurde erstens festgelegt, dass gemäß der Vereinbarung im Koalitionsvertrag der Investitionsanteil Schiene am gesamten Investivvolumen auch künftig kontinuierlich gesteigert werden solle, dass zweitens bei den globalen Minderausgaben der Bereich der Bahn wegen der allgemein anerkannten Nachholinvestitionen möglichst verschont bleiben solle und dass drittens nicht verausgabte Mittel für andere Projekte schwerpunktmäßig auch der Ertüchtigung der Schiene zugute kommen sollten. Darüber hinaus wurde die Realisierung einer Reihe von Projekten bekräftigt und festgeschrieben. Diese Projekte sind nicht Teil des Investitionsprogramms. Gleichwohl soll in dem Programmzeitraum in der Größenordnung von 5,4 Milliarden DM zusätzlich in das Schienennetz investiert werden. Das muss ehrlicherweise zum Schienenanteil addiert werden, um zu einer richtigen Bilanz zu kommen. Dies alles zusammen ist für uns als Koalitionspartner eine sehr akzeptable Grundlage, obwohl ich nicht verhehle - das sage ich genauso offen -, dass uns bei einzelnen Autobahnprojekten - ich nenne eines, das uns besonders wehtut, nämlich die A 71/A 73, die Autobahn durch den Thüringer Wald - eine abgespeckte Planung, ein verkehrs- und bedarfsgerechter Ausbau von Bundesstraßen, inklusive Ortsumfahrungen und Überholspuren am Berg, ökologisch verträglicher und ökonomisch verkraftbarer als eine Neutrassierung durch den Wald erscheint. ({0}) Aber so ist es in einer Koalition. Ich muss Ihnen von der F.D.P. doch nicht erzählen, dass man sich nicht immer durchsetzt. ({1}) - Man kann auch Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ modifizieren. Das nicht zu tun, sollte kein Dogma sein. Albert Schmidt ({2}) Ich möchte auf die Frage der Finanzierung von Infrastruktur im Zusammenhang mit der Kommission, die vor kurzem ihre Arbeit aufgenommen hat - die so genannte Pällmann-Kommission - zurückkommen. Diese Kommission soll im Auftrag des Bundesverkehrsministers nach Wegen der Verkehrsfinanzierung für die Zukunft suchen. Wir müssen uns alle - das sage ich, damit wir uns richtig verstehen, auch an die Adresse der eigenen Fraktion und der eigenen Partei - auf neue Debatten einstellen. Wir werden uns einer Diskussion über eine echte Privatfinanzierung im Sinne von Road-Pricing, sozusagen im Sinne einer streckenbezogenen Maut für besonders teure Infrastrukturabschnitte, nicht verschließen können. Wir werden allen Ernstes darüber sprechen müssen, ob und unter welchen Bedingungen so etwas sogar verursachergerecht und sinnvoll sein kann. Wir werden außerdem miteinander die Frage zu erörtern haben, was eigentlich aus den Einnahmen der streckenbezogenen LKW-Benutzungsgebühr, die wir, soweit ich sehe, alle gemeinsam wollen, wird. Unsere Fraktion unterstützt die Position des Verkehrsministers, der die Auffassung vertritt, dass es am besten wäre, dieses Geld in die Verkehrswegeinfrastruktur zu reinvestieren. Man kann sich darüber unterhalten, in welchem Umfang und für welchen Verkehrsträger dies geschehen soll. Das wird sicherlich eine spannende Debatte sein. Aber für uns Verkehrspolitiker muss gelten, dass wir gemeinsam für Beiträge zur Verkehrswegeinfrastruktur eintreten. Wir werden aber auch eine viel härtere Debatte über die Setzung von Prioritäten erleben, gerade in der Diskussion über den neuen Verkehrswegeplan. Wir sollten uns auch mit Konzepten zu einem reduzierten Ausbau anfreunden. Ein starres Festhalten an Maximallösungen beim Straßenbau schafft kein Geld; vielmehr schafft es möglicherweise nur endlose und haltlose Versprechungen und Verzögerungen. Das kennen wir aus der Vergangenheit zur Genüge. Man sollte auch bei Straßenbauprojekten, überall wo es möglich ist, Ausbaustandards reduzieren, um kostengünstiger zu realisieren. ({3}) - Nicht auf Kosten der Sicherheit, Frau Kollegin. Sie wissen sehr gut, dass der damalige Verkehrsminister Wissmann das Wort von der Streckung und der Straffung von Projekten im Munde geführt hat. Obwohl ich es eigentlich gar nicht vorhatte, will ich zur aktuellen Situation der Bahn Stellung nehmen, nachdem auch meine Vorredner dies getan haben. Die Bahn ist auf eine zuverlässige Investitionsplanung sehr stark angewiesen. Ich möchte nur Folgendes sagen: Wir unterstützen ausdrücklich den Ansatz des neuen Bahnchefs Hartmut Mehdorn, der gesagt hat: Wir müssen in einem Zweiklang dazu beitragen, dass aus dem Sanierungsfall ein Erfolgsmodell wird, nämlich Kostensenkung einerseits - besser und effizienter werden in der Erbringung und Anbietung von Leistung -, andererseits zugleich Umsatzsteigerung durch höhere Attraktivität, durch besseres Marketing und qualitative Verbesserungen. Zugleich müssen wir aber dafür sorgen - das füge ich als Drittes hinzu; das geht an unsere eigene Adresse -, dass unsere verkehrspolitischen Hausaufgaben gemacht werden, dass für die Bahn als Verkehrsträger Chancengleichheit auf dem Verkehrsmarkt besteht. Da ist noch einiges zu tun. Das wird nur schrittweise gehen. Ich bin, wie der Kollege Oswald weiß, Realpolitiker. Ich glaube nicht, dass das von heute auf morgen geht. Aber wir müssen problematisieren, warum der Luftverkehr bis heute - ich halte das für einen Skandal - von jeglicher Mineralölsteuer befreit ist, während die Bahn die Mineralölsteuer treudoof bezahlen muss. Das ist nicht in Ordnung. ({4}) Das muss europäisch angegangen werden; das werden wir tun. Ob das eine Steuer oder eine Abgabe ist, ist dabei sekundär. Wir müssen die Frage der Mehrwertsteuer problematisieren. Ich bin dankbar dafür, dass das - wie ich mit Interesse festgestellt habe - neuerdings sogar die CDU/CSU tut. Wir sind das einzige Land Europas, das der Bahn im Fernverkehr auferlegt, den vollen Mehrwertsteuersatz zu entrichten. In allen anderen Ländern gilt der halbe oder ein noch niedrigerer Steuersatz. Des Weiteren müssen wir die Frage der Wegekosten, Trassenpreise problematisieren. Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass die Trassenpreise gerade im Güterverkehr auf der Schiene zu hoch sind - sie liegen um das Doppelte höher als im Rest Europas -, während die Kosten auf der Straße zu niedrig sind. Wir wollen die Bahn nicht bevorzugen oder den LKW-Verkehr bestrafen, wie Sie, Kollege Friedrich, ein bisschen unterstellen, sondern wir wollen Waffengleichheit herstellen. ({5}) Die Schwerverkehrsabgabe muss eine reale Bezugsgröße zu den verursachten Schäden sein, und zwar als Wegekostendeckung im engeren Sinne. Wenn ein 40-Tonner mit einer einzigen Achse das 160 000fache dessen an Schäden verursacht wie ein PKW, weil die Beanspruchung der Straße exponential mit der Achslast steigt, dann wird klar, dass da ganz anders herangegangen werden muss. Wir brauchen eine völlig andere Art und Höhe der Wegekostenbelastung. Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zur Ökosteuer. Ich habe viel Verständnis dafür, dass man im Wahlkampf besonders gegen die Ökosteuer zu Felde zieht und sagt, dass eine Steuer erhöht wird usw. Das ist alles in Ordnung. Aber was mich an dieser Diskussion fast erbittert - das möchte ich deutlich sagen -, ist, dass Leute von Ihnen, die ich eigentlich sehr schätze, vor Jahren etwas ganz anderes gewusst und gesagt haben als heute. Ich nenne die damalige Umweltministerin Angela Merkel, die - ich habe es selbst erlebt - in Kioto buchAlbert Schmidt ({6}) stäblich Tag und Nacht mit den Umweltministern der anderen Länder über das Kioto-Protokoll verhandelt hat, in dem die Eco Taxes ausdrücklich drinstehen. Kollegin Angela Merkel, die damals die maßvolle Ökosteuer befürwortet hat, entblödet sich heute nicht, auf das Niveau von Hintze herabzusinken und wider besseren Wissens gegen eine Mineralölsteuererhöhung von 6 Pfennig einen Scheinfeldzug zu beginnen. Das finde ich unglaubwürdig bis sonst wohin. ({7}) Ein allerletzter Satz, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich freue mich, dass die PDS uns Gelegenheit gibt, noch einmal über Tempo 130 zu diskutieren, zumal die SPD diese Forderung auf dem letzten Parteitag in Berlin, wenn ich richtig informiert bin, auch beschlossen und mindestens als Material an die Bundestagsfraktion überwiesen hat. Auf diese Diskussion freue ich mich sehr. Das ist eine Forderung, die mir sehr sympathisch ist. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Winfried Wolf, PDS-Fraktion.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es gibt in jeder Verkehrsdebatte drei zentrale Irrtümer. Der erste Irrtum betrifft das Verständnis von Mobilität, der zweite die Gleichsetzung von Verkehrswachstum mit einem Mehr an Auto- und Luftverkehr. Der dritte ist das Totschlagargument mit den Arbeitsplätzen. Zum Ersten. Vor acht Tagen saßen ein Dutzend Verkehrsmenschen in der Redaktion der „Reformwerkstatt“ der Zeitung „Die Zeit“ in Hamburg. Das Thema hieß Mobilität. Das erste, was wir dort diskutierten, war die Definition von Mobilität. Es gab natürlich unterschiedliche Auffassungen, zum Beispiel zwischen dem DaimlerChrysler-Vertreter, einer Testpilotin, einem Jugendforscher, einem Werbefachmann und den Verkehrswissenschaftlern. Mehrheitlich wurde jedoch akzeptiert, dass die rein quantitative Definition von Mobilität problematisch sei. Professor Holzapfel und ich sprachen sich in der Runde darüber hinaus für eine strikt qualitative Bestimmung von Mobilität aus. Ganz anders verhält es sich bei den hier zur Debatte stehenden Anträgen von CDU/CSU und F.D.P. Darin wird Verkehrswachstum weitgehend mit Mobilitätsgewinn gleichgesetzt. Warum, so frage ich Sie von der F.D.P. und der CDU/CSU, beginnen Sie nicht mit einem Zugriff auf Ihre geistige Festplatte, Datei „Großes Latinum“? Kommt das Wort „Mobilität“ nicht von „mobilis“, was so viel wie „beweglich“ bedeutet? Nicht anders ist das beim Verb „movere“, das mit „bewegen“ übersetzt wird, und beim Substantiv „mobilitas“, das „Beweglichkeit“ und „Biegsamkeit“ heißt. ({0}) - Ich bedanke mich bei der Fraktion des großen Latinums. - Übertragen heißt das also, sich ausreichend um den eigenen Lebensmittelpunkt biegen bzw. bewegen zu können. ({1}) Es geht bei Mobilität nicht darum, ob wir pro Jahr möglichst viele Kilometer zurücklegen oder ob ein Joghurtbecher möglichst viele Kilometer weit transportiert wurde. Es geht um Lebensqualität und Produktgüte. ({2}) Es geht darum, ob der Mensch über eine ausreichende Beweglichkeit verfügt, um die lebensnotwendigen und die Lebensfreude bringenden Dinge mit akzeptablem Zeitaufwand zu erledigen: Gelangt er in passabler Zeit zum Arbeits- oder Ausbildungsplatz? Gibt es Freizeitmöglichkeiten, Kulturangebote und Kindergärten in passabler Entfernung? Sind die Wege zum Einkaufen, zu Verwaltungen oder zum Psychologen ausreichend kurz? Es gibt heute in Westeuropa Menschen, die pro Jahr 5 000 Kilometer zurücklegen und sich als zufriedenstellend mobil bezeichnen. ({3}) Es gibt andere Menschen, die pro Jahr 15 000 Kilometer zurücklegen, aber erklären, ihre Mobilität, Herr Friedrich, sei stark eingeschränkt. ({4}) Das Rätsel löst sich dadurch auf, dass im zweiten Fall jeweils die Länge der Wege einem Vielfachen der Wegelängen des ersten Mobilitätstyps entspricht. In unserem heute ebenfalls zur Debatte stehenden Antrag zum Bundesverkehrswegeplan schreiben wir ich zitiere -: Wasserleitungen im Haushalt sind bekanntlich nicht dafür gedacht, möglichst große Mengen an Wasser durchzuleiten, sondern dazu, eine weitgehend konstante Menge von Wasch-, Spül- und Kochvorgängen zu ermöglichen. So gesehen sollten auch Verkehrswege nicht dazu da sein, größtmögliche Verkehrsmengen zu bewältigen, sondern als Leitungssystem für die Gewährleistung von Mobilität, die sich kaum verändert hat. Seit mehr als hundert Jahren - so weiter der Text - ist ... nicht nur die von den Menschen im Verkehr verbrachte Zeit annähernd gleich geblieben. Auch die Zahl der Zielbewegungen pro Person und Jahr liegt praktisch unverändert bei dem runden Wert von etwa tausend ... Albert Schmidt ({5}) ({6}) Auf dieser Grundlage fordern wir eine Strukturpolitik, die kurze Wege begünstigt. Vor diesem Hintergrund klagen wir die längst ausstehende Neudefinition der für die Bewertung eines Bundesverkehrswegeplans erforderlichen Kriterien ein und wir bedauern, dass sich die Regierung von SPD und Grünen dafür eine volle Legislaturperiode Zeit lassen will. Wir meinen, dass es hier einer Verkehrswende bedarf. Der zweite Irrtum betrifft die Art des Verkehrswachstums. Für CDU/CSU und F.D.P. geht es in ihren Anträgen primär um das Wachstum des Straßen- und Luftverkehrs, wobei es schon grotesk ist, wenn angesichts der Tatsache, dass die CDU/CSU 16 Jahre die Verkehrsminister stellte, 16 Monate nach Bildung einer neuen Regierung die Autofahrernation im Jammertal und dort im Stau stehend sieht und die F.D.P. von einem „Dauerstau mit passabler Luftqualität“ spricht. ({7}) Die CDU/CSU-Fraktion fordert, dass die Schiene einen größeren Anteil am Verkehrszuwachs einnimmt, wohlgemerkt: am Zuwachs und nicht am Verkehrsmarkt. Diese Sicht entspricht leider der Verkehrsrealität. Der heute mit debattierte Straßenbaubericht dokumentiert erneut die Anteilsverluste der Schiene und die Gewinne von Luftfahrt und Straße. In den Jahren von 1982 bis 1998 hat sich auf dem Verkehrsmarkt der Anteil der Schiene im Personenverkehr bei 7 Prozent - dem niedrigsten Wert bisher - stabilisiert. Im öffentlichen Nahverkehr hat sich der Anteil der Schiene um ein Drittel, und zwar auf 8,1 Prozent, und im Güterverkehr um 40 Prozent auf jetzt 15,7 Prozent reduziert. Gestern bekamen wir, wie Kollege Oswald es schon ausgeführt hat, im Verkehrs- und Bauausschuss einen Einblick darin, wie es um die Deutsche Bahn AG wirklich steht. Der neue Vorstandsvorsitzende der Bahn, Mehdorn, bilanzierte knallhart, dass die Bahn erneut mit 20 Milliarden DM verschuldet sei, dass sie ihr Kapital weitgehend aufgezehrt habe, dass sie im operativen Geschäft längst rote Zahlen schreibe und dass sie erneut ein Sanierungsfall sei. Was Mehdorn dann an weit reichenden Vorschlägen zur erneuten „Sanierung“ der Bahn vortrug, findet nicht unsere Zustimmung. So viel ist jedoch festzuhalten: Als wir im Jahre 1993 als einzige Bundestagspartei die Bahnprivatisierung abgelehnt haben, sprachen wir exakt von einer solchen Perspektive, und zwar von noch mehr Marktverlusten, neuen Schulden und davon, dass bis Ende der 90er-Jahre ein neuer Sanierungsfall Bahn entstehe. Das ist kein Grund zu Schadenfreude und Rechthaberei; aber so war es und so ist es. Zu unseren Forderungen, wie eine wirkliche Verkehrswende erreicht und wie Mobilität in diesem qualitativen Sinne gesichert werden kann, gehört - Kollege Schmidt hat darauf hingewiesen - nicht zuletzt auch eine Geschwindigkeitsbegrenzung. Diese haben nicht nur die Grünen immer vehement eingefordert. Dazu sagte vielmehr im Jahre 1992 ein bereits damals prominenter Politiker: Das Tempolimit ist ein Gebot der Vernunft. Nun wird es hoffentlich auch der verkehrspolitischen Betonriege in der Bundesregierung klar sein: Die Zeit der unbegrenzten Raserei auf Deutschlands Autobahnen ist vorbei. Wir brauchen eine Rückkehr zum menschlichen Maß. Das war Gerhard Schröder. Ziemlich exakt so lautet unser heute ebenfalls debattierter Antrag: ({8}) zurück zum menschlichen Maß, Maximalgeschwindigkeit 130 als Angleichung an Rest-Europa. ({9}) Der dritte Irrtum: Die Anträge von CDU/CSU und F.D.P. setzen Verkehrswachstum mit Wohlstand und Arbeitsplätzen gleich. Das ist volkswirtschaftlich einfach Unsinn. Dazu nur zwei Hinweise: In der Schweiz legt ein Durchschnittsbürger ein Drittel weniger Kilometer pro Jahr mit dem Pkw zurück. ({10}) Die Schiene hält einen doppelt so hohen Anteil am Personen- und Güterverkehr. Doch es gibt halb so viele Arbeitslose und mehr Wohlstand als hierzulande. Die Gründe für Letzteres sind natürlich höchst unterschiedliche. Doch Sie von SPD und Grünen stimmen mir wohl zu: Der Schluss, den die Anträge von CDU/CSU und F.D.P. nahe legen - hätten die Schweizerinnen und Schweizer mehr Straßen und mehr Autoverkehr, wären sie mobiler und wohlhabender und hätten sie sogar noch weniger Arbeitslose -, ist nicht logisch, sondern ein Trugschluss. ({11}) Zweiter Hinweis: Bei den Arbeitsplätzen sind immer nur sehr spezielle im Blick. Wir fragen: Was ist mit den 250 000 Jobs, die seit 1990 bei der Bahn abgebaut wurden? Was ist mit den 70 000 Jobs, die Herr Mehdorn künftig bei der Bahn abbauen will? Was ist mit den 100 000 Jobs, die bei den öffentlichen Verkehren in den Städten unter anderem auf Grund der EU-Liberalisierung zur Disposition stehen? Was ist mit der deutschen Bahnindustrie, mit Adtranz, Bombardier und Siemens, wo jährlich 1 000 Jobs wegfallen? ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der eingangs zitierten „Reformwerkstatt“ der „Zeit“ hat die Runde am Ende der sechsstündigen Debatte den Verkehr der Zukunft erörtert. Einiges klang dabei futuristisch; an vielem hätten die Technikfetischisten, die es in allen Parteien gibt, also die Leute, die auf S und M - schneller und mehr - stehen, ihre helle Freude gehabt. Ich bin da erDr. Winfried Wolf heblich bodenständiger. Ich sagte in Hamburg und ich sage hier heute: Es gibt bereits den Verkehr der Zukunft; wir müssen nur die Mosaiksteine zum Puzzle Verkehr in der Stadt und Verkehr im Land zusammensetzen, und zwar eins zu eins und nicht als kleines Modell. Nehmen wir die vorbildliche Struktur des Fußgängerund Fahrradverkehrs, wie sie in Münster existiert. Kombinieren wir dies mit dem hervorragenden öffentlichen Nahverkehr der Stadt Zürich mit der Tram als Rückgrat und dem schönen Slogan „Wo wir fahren, lebt Zürich!“ Fügen wir die Erschließung der Region hinzu, wie sie in Karlsruhe mit der Straßenbahn existiert, die sogar weit in den Schwarzwald hinein fährt. Denken wir uns zusätzlich einen Schienenverkehr, wie er in der Schweiz, aber ansatzweise auch - dank Herrn Brüderle - in Rheinland-Pfalz mit einer engen Vernetzung und Vertaktung von Nah-, Regional- und Fernverkehr existiert. ({13}) Dann, wenn diese real existierenden Verkehrswelten zusammengefügt werden, können wir noch darüber diskutieren, ob wir ein bisschen Elektronik, ein paar Fahrpläne im Internet und ein bisschen Telematik in der Tram hineinmischen. ({14}) Eine solche Verkehrsrealität anzusteuern, wäre ein herausragendes Ziel für eine SPD-Grünen-Regierung. Das brächte Arbeitsplätze, Umweltschutz und ein Stimmenplus. Das Umweltbundesamt hat errechnet, dass im Jahre 1994 70 Prozent der Bevölkerung für ein Tempolimit eingetreten sind. Doch es sieht nicht nach einer solchen Politik aus. Werte Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss erinnere ich an die Behauptung, der Enkel von Willy Brandt habe etwas gründlich missverstanden: Während Willy Brandt von „Mehr Demokratie wagen“ gesprochen habe, wolle Gerhard Schröder nur „mehr Volks-Wagen“. Wir sollten mehr Demokratie wagen und den anderen Verkehr, eine Verkehrswende, wagen. Danke schön. ({15})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile dem Minister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Herrn Reinhard Klimmt, das Wort.

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005297

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei der wichtigsten Aufgabe, die wir wohl alle bei unserer politischen Arbeit sehen, nämlich für mehr Beschäftigung zu sorgen und die Arbeitslosigkeit bei uns im Lande in den Griff zu bekommen, spielt selbstverständlich die Infrastrukturpolitik eine wichtige und wesentliche Rolle. Sie spielt einmal eine wichtige und wesentliche Rolle, da sie direkt zu Beschäftigung führt. Es ist schon von Herrn Oswald gesagt worden, dass jede Milliarde, die wir in die Infrastruktur investieren, unmittelbar zu zwischen 10 000 und 12 000 Arbeitsplätzen führt. Das ist eine nennenswerte Zahl; hier wirken die Investitionen bereits von sich aus. ({0}) Der zweite Grund, warum wir den Verkehr und seine Weiterentwicklung brauchen, ist der, dass es sehr wohl einen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und dem Verkehr von Gütern und Personen gibt. Sicherlich gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, sich mithilfe der neuen Techniken Verkehr zu ersparen. Aber stellen wir uns einmal vor, wir würden nur noch in Form von Videokonferenzen die Sitzungen des Deutschen Bundestages abhalten! Was würde sich daraus wohl für ein Klima entwickeln? ({1}) Es ist daher gut, dass wir aus allen Teilen des Landes hier zusammenkommen, um über die wichtigen Angelegenheiten unseres Landes zu reden. Wir brauchen die Mobilität. ({2}) Wer in der Nähe wohnt, kommt zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Andere müssen sich der Bahn, des Automobils oder auch des Flugzeuges bedienen. Es handelt sich um eine Selbstverständlichkeit, unser gesellschaftliches und politisches Leben weiterzuentwickeln. Das gilt auch für den Güterverkehr. Natürlich kann ich einen Kühlschrank über das Internet bestellen. Aber er muss immer noch geliefert werden, weil wir die Technik des Beamens noch nicht beherrschen. Daher wird es die entsprechende Mobilität weiterhin geben müssen. Dabei kommt es darauf an, dass wir die Mobilität sinnvoll einsetzen - diese Forderung ist absolut richtig -, und darauf, dass wir die verschiedenen Verkehrsträger ihren Möglichkeiten entsprechend nutzen. Wenn wir darüber nachdenken, in welcher Weise wir bei uns die Verkehrsinfrastruktur ausbauen wollen, müssen wir auch dafür Sorge tragen, dass dabei insgesamt nicht nur volkswirtschaftliche Überlegungen eine Rolle spielen die Bequemlichkeit werden wir den Menschen nicht austreiben können -, sondern dass auch die Frage der Ökologie berücksichtigt wird. Es ist wichtig, die Wasserstraßen auszubauen und die Schiene weiterzuentwickeln. Wir haben nämlich nicht nur das Automobil als Transportmittel. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Minister, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Rönsch?

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005297

Ja.

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, Sie befinden sich mit Ihren Kollegen in der Kontinuität der Schaffung von Arbeitsplätzen. Wie beurteilen Sie aber, dass der Wirtschaftsminister die Referenzstrecke für den Transrapid einfach ins Ausland verlegen will? ({0})

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005297

Das Thema Transrapid hat uns bereits beschäftigt. Wir waren uns hier alle darüber einig, dass ein Bau im Inland in den nächsten 10 bis 20 Jahren nur eine Ergänzungsfunktion von geringem verkehrspolitischen Wert haben kann. In 50 Jahren mag es vielleicht anders aussehen. In der näheren Zukunft wird das aber der Fall sein, weil wir alle gemeinsam auf das Rad-Schiene-System gesetzt haben. Es geht jedoch darum, einen Exportmarkt für unsere technologische Entwicklung zu schaffen. Dafür braucht man Referenzstrecken. Warum soll es nicht möglich sein, dass vonseiten des Bundeswirtschaftministers für den Fall, dass bei uns die Strecke nicht zustande käme ich gehe nicht davon aus; wir führen noch entsprechende Gespräche -, daran gedacht wird, eine Verbindung über die Grenzen beispielsweise nach Holland zu bauen? Momentan befinden wir uns aber in einer anderen Phase der Diskussion. Ich werbe dafür, dass wir gemeinsam in einem Spitzengespräch der Beteiligten zu einer Lösung kommen, sodass die Strecke Hamburg - Berlin verwirklicht werden kann. ({0}) Falls das nicht gelingen sollte - auch das habe ich gesagt -, wollen wir eine andere Strecke im Inneren unseres Landes suchen, um auf diese Weise ein Exemplum zu liefern, mit dem wir nach außen deutlich zeigen können, zu welchen Leistungen die deutschen Ingenieure fähig sind. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Rönsch möchte noch eine Frage stellen.

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005297

Ja.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr.

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

War Ihre Antwort als Ja zum Transrapid in Deutschland zu verstehen? ({0})

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005297

Ja, natürlich. ({0})

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wären Sie auch bereit, wie es der Wirtschaftsminister gesagt hat, 6,1 Milliarden DM ins Ausland zu geben, damit dort die Referenzstrecke gebaut wird? ({0})

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005297

Das hat er nicht gesagt. In diesem Fall wäre ich mit ihm nicht einverstanden gewesen. ({0}) - Nein, das hat er nicht gesagt. Wir reden ja miteinander. Insofern kann ich das ganz authentisch wiedergeben, was wir zu diesem Thema verabredet haben. Es ging um den Fall, dass es andere Interessenten gibt und diese dann eventuell noch einen kleinen Anreiz brauchen, um die entsprechende Investition zu tätigen. Aber von 6,1 Milliarden DM war keine Rede. Ich glaube, wir streiten uns jetzt auf einem falschen Feld. Wir sind uns doch darüber im Klaren, dass wir die Technologie und Innovationen fördern wollen und dass wir Technologie exportieren wollen. Es geht daher darum, einen vertretbaren, hier untereinander abgestimmten Weg zur Durchsetzung dieses gemeinsamen Ziels zu finden. ({1}) In diesem Stadium befinden wir uns noch. Wir werden aber die Probleme entsprechend lösen. ({2}) Integrierte Verkehrspolitik - alle Systeme sinnvoll einsetzen und miteinander kombinieren -, das ist das Ziel.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Minister, die Kollegin Blank möchte noch eine Zwischenfrage stellen.

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005297

Ja, ich lasse sie zu, aber ich möchte auch irgendwann zum Schluss kommen; ich habe ja kaum mit dem Eigentlichen angefangen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich darf Sie beruhigen: Diese Ausführungen werden nicht auf Ihre Redezeit angerechnet.

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005297

Dann sage ich jetzt gleich: Das ist vorerst die letzte Zwischenfrage, die ich zulasse - damit niemand das persönlich nehmen muss. ({0}) - Deswegen fällt es mir ja leicht zuzustimmen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Was heißt „nur Damen“, Herr Kollege? - Frau Kollegin, Sie haben das Wort.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, ich komme auf das Thema Transrapid zurück. Wie bewerten Sie denn die Aussage des Bahnchefs Mehdorn gestern im Ausschuss, dass sich die Strecke Hamburg - Berlin absolut nicht rechne und er im Grunde genommen dagegen sei?

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005297

Das ist ja nun keine unbedingte Neuigkeit. Wir werden im Spitzengespräch mit den Beteiligten, um die es geht, diese Frage erörtern. Da ist die Bahn nun einmal dabei. Denn erstens kann die Bundesregierung das System nicht betreiben - das ist nicht unsere Aufgabe - und zweitens ist das Industriekonsortium nicht bereit, von sich aus das System zu betreiben. Deshalb geht es darum, jemanden zu haben, der bereit ist, dies zu tun. Das kann nur die Bahn sein; denn eventuell noch jemand anderen damit beauftragen zu wollen, hielte ich für einen schweren strategischen Fehler. Insofern müssen wir uns jetzt zusammensetzen und werden im Gespräch zwischen Konsortium, Bahn und Bundesregierung feststellen, ob die Strecke Hamburg Berlin für den Transrapid geeignet ist. Falls die Aussage ist, dass dies nicht der Fall ist, werden wir gemeinsam nach einer Alternativstrecke - das ist meine Absicht und mein Ziel - im Inland suchen. ({0}) Ich freue mich übrigens bei den Anträgen über die grundsätzliche Unterstützung, die geleistet wird. Ich nehme das gerne zur Kenntnis, möchte aber auch nicht verhehlen, dass vielleicht doch die eine oder andere Krokodilsträne dabei ist. Ein Vorschlag ist, für die Mineralölsteuer jetzt eine Zweckbindung einzuführen. Wem würde es, ganz gleich, welchen Etat man zu verantworten hat, nicht zusagen, wenn auf diese Art und Weise die Finanzierung gesichert würde? Aber auch Sie haben das zu Ihrer Zeit nicht verfolgt. Die Tatsache, dass der entsprechende Passus im Haushaltsgesetz immer wieder aufgehoben worden ist, ist keine Übung der rot-grünen Koalition gewesen. Das haben wir von Ihnen übernommen. Insofern stehen wir in diesem Fall in Ihrer Kontinuität. ({1}) Sie sollten es deswegen nicht so intensiv kritisieren. Die Notwendigkeit der Konsolidierung der Haushaltsmittel, die zur Verfügung stehen, ist eine Aufgabe, die Sie uns hinterlassen haben. Denn die Schwierigkeiten, unter denen der Bundeshaushalt leidet, bestehen nicht darin, dass man jetzt Finanzierungen finden muss, um die Schuldenlast zurückzuführen. Nein, wir sind ja dabei, in dieser Legislaturperiode zu erreichen, dass die Neuverschuldung zurückgeführt wird, damit am Ende der Anstrengungen keine zusätzliche Verschuldung mehr nötig ist. Das schränkt selbstverständlich die Bewegungsspielräume von uns allen ein. Mehr als 80 Milliarden DM nur für Zinsen! Wie gerne würden ich und alle anderen diese Mittel ausgeben: im Bereich des Städtebaus, für die Infrastruktur im Bereich des Verkehrs. Aber leider stehen uns diese Mittel aufgrund Ihrer Hinterlassenschaft nicht zur Verfügung. ({2}) Wir kämpfen mit der privaten Vorfinanzierung. die momentan unsere finanziellen Spielräume einengt und worin sehr viel Geld steckt, das den Banken zugewiesen werden muss. Deswegen ist bei der grundsätzlichen Diskussion um Vorfinanzierung, in der wir uns derzeit noch befinden, völlig klar: Dies kommt nur infrage, wenn auf diese Art und Weise nicht zusätzliche Zinsbelastungen entstehen, die später aus dem Bundeshaushalt finanziert werden müssen. Wir müssen damit fertig werden, dass der Bundesverkehrswegeplan, an dem wir auch unser Investitionsprogramm orientiert haben, hoffnungslos unterfinanziert gewesen ist. Für den Zeitraum bis zum Jahr 2012 besteht eine Finanzierungslücke von 100 Milliarden DM. Insofern kämpfen wir um zusätzliche Spielräume im Haushalt. Sicherlich ist auch der Finanzminister mit dabei, wenn es darum geht, Investitionen im Rahmen des Verfügbaren sicherzustellen. Ich bedaure sehr, dass wir es in dem Haushalt unseres Ministeriums - immerhin mit circa 50 Milliarden DM ein sehr dicker Brocken - nicht schaffen können, einen höheren Anteil als 55 Prozent für Investitionen zu erreichen, unter anderem weil wir mit Belastungen aus der Vergangenheit fertig werden müssen. Allein 14 Milliarden DM müssen an das Bundeseisenbahnvermögen überwiesen werden. Das ist eine Verpflichtung, zu der wir gerne stehen, weil sie hier gemeinsam vereinbart worden ist. Aber es geht um die Bewältigung von Altlasten und die Mittel stehen nicht für zusätzliche Investitionen zur Verfügung. Wir haben das getan, um der Bahn zu ermöglichen, aus eigener Kraft wirtschaftlich zu arbeiten, und in der Hoffnung, dass die Bahn in der Lage ist, im investiven Bereich durch wirtschaftlichen Erfolg selber etwas beizutragen. Deswegen müssen wir erwarten, dass die Bahn auch unter dem neuen Chef Mehdorn die Wirtschaftlichkeit in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellt, um auf diese Art und Weise zu erreichen, dass wir nicht erneut in eine Sanierungsdiskussion kommen. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Minister, nun möchte schon wieder jemand eine Zwischenfrage stellen.

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005297

Wir müssen außerdem die Standards überprüfen, mit denen wir unsere Verkehrswege - - ({0}) - Lassen Sie mich gerade einmal einen Gedanken zu Ende führen. ({1}) - Ja.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr, Herr Kollege.

Wolfgang Dehnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000366, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Minister, Frau Präsidentin. Sie haben im Dezember der Zeitschrift eines Verbandes, der Millionen Kraftfahrer vertritt, ein Interview gegeben. Da steht in der Überschrift: „Ich werde um jede Mark kämpfen.“ Sie haben das gerade wieder angeführt: „Ich werde um jede Mark kämpfen.“ Sie haben dann auch vom Investitionsplan gesprochen. Wie können Sie angesichts dessen diesem Haus die enormen Kürzungen erklären, die in diesem Investitionsplan vorgesehen sind, gerade auch für unser Land Sachsen? Sie sagen, dass Sie um jede Mark kämpfen werden. Wie sehen Ihre Pläne, dort etwas aufzusatteln, konkret aus? Welche Absprachen mit dem Finanzminister sind getroffen worden?

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005297

Wir brauchen, wie gesagt, ein möglichst hohes Investitionsniveau.Wenn es darum geht, mit den knappen Mitteln zurechtzukommen, dann ist meine Empfehlung: Lasst uns über Standards reden! Ich bin schon in anderen Teilen der Welt herumgekommen. Auch dort funktioniert der Verkehr. ({0}) Sicher haben wir die höchste Qualität deutscher Ingenieurleistungen zu bieten. Aber das ist, glaube ich, manchmal fast des Guten zu viel und sehr teuer. Wir haben die Investitionen - 26,1 Milliarden DM werden in unserem Ministerium für Investitionen sowohl im Verkehrs- als auch im Baubereich ausgegeben - im Jahre 2000 noch einmal um immerhin eine halbe Milliarde DM steigern können.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun besteht noch ein Fragewunsch, Herr Minister: bei Herrn Seifert.

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005297

Ich nehme einen Anlauf zu der Frage, weil ich zu dem angesprochenen Investitionsprogramm und einem weiteren Thema meiner Rede noch etwas sagen will. Sie sind sicherlich einverstanden, wenn ich diese beiden Fragen im Zusammenhang darstelle.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Der Kollege Seifert von der PDS wollte noch eine Frage stellen.

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005297

Ich möchte jetzt die Dinge im Zusammenhang darstellen können. Sonst wird die Rede zu sehr zerfleddert. Trotz all der Gnade, die ich von der Präsidentin erfahre, sehe ich, dass meine Redezeit knapp wird und ich befürchten muss, dass ich einige wichtige Punkte vielleicht nicht mehr vortragen kann.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Minister, ich nehme zur Kenntnis, dass Sie keine weiteren Zwischenfragen zulassen. Dann ist das für uns alle klar und ich muss Sie auch nicht mehr unterbrechen. Sie haben das Wort.

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005297

Wir haben mit dem Investitionsprogramm ein Gesamtinvestitionsvolumen von 64,5 Milliarden DM festgelegt. Dabei geht es um die hoch prioritären Maßnahmen; wir hoffen, dass wir hier der globalen Minderausgabe des Finanzministers entgehen können. Es ist festgelegt, dass 2,85 Milliarden DM für den Bereich der prioritären Maßnahmen zur Verfügung stehen, um auf diese Weise zusätzliche wichtige und notwendige Maßnahmen durchführen zu können. Das Entscheidende ist - das richtet sich insbesondere an Sachsen -, dass bei diesem Investitionsprogramm die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ ganz weit vorne stehen. Das führt dazu, dass der Großteil der Mittel für die neuen Bundesländer ausgegeben wird, ({0}) was natürlich von den alten Bundesländern - zum Beispiel in Baden-Württemberg, aber auch in NordrheinWestfalen - teilweise kritisiert wurde. Deswegen halte ich es nicht für angemessen, wenn vonseiten Sachsens, das nun wirklich gut bedient ist, in Bezug auf dieses Investitionsprogramm, was den Autobahnausbau und die Bereiche des Schienenverkehrs angeht, so getan wird, als ob man ihnen einen Tort angetan hätte. Das ist nicht der Fall. ({1}) Weil wir in der Vergangenheit in der Bundesrepublik mehr in die Verkehrsinfrastruktur investiert haben und dies in der DDR vernachlässigt wurde, muss der Aufbau Ost erste Priorität haben. Dies muss weitergeführt wer7750 den; das tun wir auch. Deshalb geht der größere Teil der Mittel in die neuen Bundesländer. ({2}) Wir haben angefangene Projekte. Diese lassen uns natürlich nicht viel Spielraum, um etwas ganz Neues anzufangen. Das ist das Problem, mit dem wir augenblicklich zu kämpfen haben. Ich möchte auf einen anderen Umstand hinweisen, der oft nicht bedacht wird. Wir haben aus der Vergangenheit noch ein anderes Problem: Wir haben zwar ein wirklich weit entwickeltes Netz an Verkehrsinfrastruktur, aber dieses Netz muss gepflegt werden. Mit jedem Kilometer, den wir neu bauen, wächst natürlich auch die Notwendigkeit zum Erhalt und das kostet Geld. In der nächsten Zeit benötigen wir aber auch noch zusätzliche Mittel. Der Bedarf steigt. Auch für die Sanierung der Brückenbauwerke brauchen wir eine entsprechende finanzielle Unterlegung. Wir haben daher zu Recht überlegt: Was kann man eigentlich zusätzlich tun, um an den nötigsten Stellen, die erkennbar sind, noch Verbesserungen zu erreichen? Es geht darum, Engpässe, die in unserem Verkehrssystem zweifellos vorhanden sind - man kann es drehen, wie man will -, zu überwinden. Man kann bestimmte Kennziffern anlegen, zum Beispiel wie viele Autos auf einem Autobahnabschnitt fahren oder wie stark die Geschwindigkeit eines Zuges gemindert ist aufgrund der Tatsache, dass er auf einer Strecke fahren muss, die nicht ausreichend gepflegt ist. Wir wollen ein zusätzliches Programm auflegen - allerdings im Rahmen dessen, was uns momentan im Anschluss an das Investitionsprogramm zur Verfügung steht -, um weitere Engpässe sowohl im Bereich der Schiene als auch im Bereich der Autobahnen und der Wasserstraßen zu beseitigen. Auf diese Weise wollen wir erreichen, dass dort, wo es am nötigsten ist, Abhilfe geschaffen werden kann. Wir werden vonseiten des Ministeriums, mit den Fachleuten abgestimmt, in absehbarer Zeit ein entsprechendes Programm vorlegen, über das man sich nachher konkret unterhalten kann. Selbstverständlich muss dies finanziert werden können. Das entscheidende Thema, mit dem wir uns zukünftig zu befassen haben, ist: Wie können wir auch dann, wenn die Mittel in den öffentlichen Haushalten nicht ausreichen - das ist erkennbar -, allen Ansprüchen und Notwendigkeiten gerecht werden? Das Ministerium hat eine Kommission eingesetzt, die unabhängig von irgendwelchen Weisungen oder Vorgaben daran arbeitet, welche zusätzlichen Finanzierungsmöglichkeiten es gibt. Richtig ist auch der Hinweis, dass wir bereits eine entsprechende gesetzliche Grundlage haben, die wir nutzen wollen, um mit dem Element der privaten Organisation und Finanzierung bestimmte Engpässe zu beseitigen, beispielsweise auch mit dem Hilfsmittel Maut. Es gibt Projekte, beispielsweise die Moselquerung in Rheinland-Pfalz oder die Warnowquerung in Rostock, wo man vorher bezahlt hat, wenn man mit der Fähre gefahren ist. Man wird demnächst bezahlen, wenn man den Tunnel nutzt, um unter der Warnow hindurchzufahren. Es muss in jeder Hinsicht sorgfältig überprüft werden, wie wir diese Projekte erweitern können und in welchen Bereichen wir das anwenden können. Wir hoffen - dies ist bereits von Ihnen angesprochen worden -, mithilfe der Telematik zu erreichen, dass wir sehr bald, möglichst ab dem Jahre 2002, bei den LKWs eine entfernungsbezogene Gebühr erheben können, damit in dem Maße, wie unsere Autobahnen genutzt werden, auch die entsprechende Gebühr bezahlt wird. ({3}) Ich bin sehr froh darüber, dass ich im gesamten Haus die Unterstützung dafür habe, dass das Geld, das diese Gebühr erbringt, dem Verkehrshaushalt zusätzlich zweckgebunden zur Verfügung steht - also nicht in den Topf hineingerührt wird -, damit wir zusätzliche Wünsche finanzieren können. ({4}) Meine Damen und Herren, ich möchte den Hinweis auf die Telematik noch einmal aufgreifen. Die Telematik ist nicht nur ein Spielzeug, das ganz nett ist, um sich eventuell als Computerfreak zu betätigen. Nein, diese Technik wird von uns in dem Sinne zu nutzen sein, dass wir den knappen Verkehrsraum, den wir haben, besser ausnutzen. Wenn es richtig ist, dass wir mit dem System CIR-ELKE erreichen können, zum Beispiel den Schienenverkehr auf der Strecke zwischen Karlsruhe und Basel um 30 Prozent steigern zu können, dann ist das von großer Bedeutung. Das gilt übrigens auch für die Autobahnen. Wenn wir auf diese Art und Weise unsere Verkehrsströme besser lenken können, sparen wir Investitionen am falschen Platz. Wir können mit den kostbaren Investitionsmitteln dann noch viel rationeller umgehen, als es bis jetzt der Fall ist. ({5}) Einen letzten Punkt, meine Damen und Herren, möchte ich gerne aufgreifen - neben all den Themen, die wir an anderer Stelle diskutieren müssen, zum Beispiel wie wir eine ökologische Verkehrspolitik durch andere Kraftstoffe betreiben könnten und was zum Thema Tempolimit zu sagen ist -: Es geht mir jetzt um die Bahn. Die Bahn kann meines Erachtens nur dann eine erfolgreiche Arbeit machen - das ist auch schon gesagt worden -, wenn wir es schaffen, die im europäischen Bereich vorhandenen Hindernisse auszuräumen. Ich komme gerade aus Griechenland zurück, wo ich mit dem dortigen Verkehrsminister geredet habe. Dort haben wir Strategien überlegt, wie man den Korridor 10, der durch das ehemalige Jugoslawien, durch Serbien, führt, wieder öffnen kann. Das ist keine verkehrspolitische, sondern eine außenpolitische Frage, die hier hineinspielt. Gleiches gilt für die Frage, wie man den Korridor 4 praktikabel machen kann, um auf diese Art und Weise den Güterverkehr auf der Schiene wirklich schnell abzuwickeln. Denn es ist das Elend der Vergangenheit, dass wir aufgrund einer immer noch in den Köpfen vorhandenen Kleinstaaterei im Bahnwesen nicht mit Schnelligkeit und Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit haben auftrumpfen können. Es geht jetzt darum, diese europäischen Netze zu definieren, um auf diese Art und Weise zu erreichen, dass die Bahn auf der langen Strecke ihre ganze Kraft und ihre ganze Qualität entfalten kann und so die entsprechenden Chancen und Möglichkeiten genutzt werden. Dazu müssen wir nicht nur die gesetzlichen Hinderungen, die noch auf EU-Ebene und in anderen Staaten bestehen, bewältigen, sondern auch für Kooperationsbereitschaft der Bahnen sorgen, damit dieses wichtige Verkehrsmittel wirklich die Chance hat, mehr vom erwarteten Zuwachs des Güteraufkommens aufzunehmen, als es bis dato der Fall war. Das ist ein ganz wichtiges Ziel unserer Politik. ({6}) Wir werden kontinuierlich weiterdiskutieren. Wir werden noch in diesem Jahr den Verkehrsbericht 2000 vorlegen. Dort wird etwas mehr über die Kriterien ausgesagt werden, die bei der Weiterentwicklung des Bundesverkehrswegeplans modifiziert worden sind, damit man weiß, auf welcher Grundlage das geschieht. Ich bedanke mich bei Ihnen für die Beiträge, aber vor allem für das, was in den Anträgen steht. Es gibt manches, bei dem wir nicht übereinstimmen - vielleicht war das eine oder andere auch vergiftend gemeint -, aber das meiste - das muss ich ganz ehrlich sagen - empfinde ich als hilfreich und dafür bedanke ich mich. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat der Kollege Dirk Fischer, CDU/CSU-Fraktion.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte eigentlich nicht vor, heute etwas zum Thema Transrapid zu sagen; das habe ich erst am letzten Donnerstag gemacht. ({0}) Aber ich komme nicht ganz daran vorbei, Herr Minister, Sie darauf hinzuweisen, dass, als Sie gerade Worte gefunden hatten, die eigentlich für den Unkundigen, Außenstehenden ermutigend waren, ({1}) der verkehrspolitische Sprecher Ihres Koalitionspartners den Zwischenruf machte: „Transrapid ist mausetot“. ({2}) - Das haben viele gehört, Herr Kollege, das ist das Problem. ({3}) Das haben Sie eben auch nicht zum ersten Mal gesagt. Sie haben das schon im Ausschuss und in der Öffentlichkeit gesagt. ({4}) Auch in der Debatte am letzten Donnerstag haben Sie das gesagt. ({5}) Das macht deutlich, welches Verwirrspiel in der Koalition bei diesem Thema herrscht. Man gewinnt gelegentlich den Eindruck,

Not found (Kanzler:in)

„Machen Sie ihn ruhig tot, aber nicht vor der Schleswig-Holstein-Wahl“. ({0}) Außerdem sind Sie ganz offenbar dabei, den schwarzen Peter aus der Hand des Bundes jemand anderem in die Hand zu drücken, um am Ende für dieses einmalige Desaster und den Skandal, dass diese Zukunftstechnologie in Deutschland totgemacht wird, die Verantwortung nicht übernehmen zu müssen. ({1}) Ich sage Ihnen ganz freimütig: Ich habe persönlich ein großes Interesse daran, im Moment möglichst viele derartige Zitate in das Protokoll des Deutschen Bundestages zu bringen, die ich mit ziemlicher Sicherheit sehr bald noch sehr gut gebrauchen kann. Ich möchte zu diesem Thema nur sagen: Nach meiner Auffassung werden wir darüber in der allernächsten Zeit Endgültiges hören. Zum eigentlichen Thema. Die Mobilität ist ein zentraler Bestandteil unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und von Freiheit und Wohlstand. Wenn ich den Antrag der Sozialdemokraten lese, stelle ich fest, dass im Hause darüber Einigkeit zu herrschen scheint. Verkehrsinfrastruktur ist von entscheidendem Einfluss auf die Lebensqualität unserer Bürger. Eine gute Verkehrsinfrastruktur ist auch ein Garant für die Leis-tungs- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Vor diesem Hintergrund ist es schlimm, dass bei den Ministern Müntefering und Klimmt, in Koproduktion mit den Finanzministern Lafontaine und Eichel, in gut 15 Monaten rot-grüner Regierungsverantwortung eine verkehrs- und finanzpolitische Fehlleistung die nächste jagte. Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben, wenn Sie es mit der Zukunft unseres Landes sowie Europas gut meinen, allen Grund, sich von Ihren ideologischen Zwängen - die hörte man bei Ihnen in jedem Satz, Herr Schmidt ({2}) zu lösen. Deutschland muss mobil bleiben können. Deshalb müssen wir verstärkt und unvermindert in Verkehrsinfrastruktur investieren. Ihre Märchenstunde Haushalt ist längst widerlegt. Lafontaine hat den Haushalt 1999 um 31,2 Milliarden DM erhöht, um Wahlversprechen zu bezahlen. Minister Eichel will genau diesen Betrag wieder einsparen. Aber im Vergleich zu 1998 gibt er im Haushalt 2000 immer noch 22 Milliarden DM mehr aus, während die alte Koalition ab 1995 Schrumpfhaushalte gemacht hat, wirklich gespart hat und jeder Folgehaushalt niedriger war als der vorhergehende. Das ist Sparen! ({3}) Klar, dass Sie diese Haushaltslöcher bei der desolaten Politik Ihrer Regierung nur noch durch unsystematische, kopflose Kürzungen stopfen können. Besonders tragisch ist Folgendes: Erhöhungen im konsumtiven Bereich; Streichungen, Einsparungen im investiven Bereich, insbesondere bei den Verkehrsinfrastrukturinvestitionen Straße/Schiene. Das so genannte Investitionsprogramm 1999 bis 2002 verdient seinen Namen nicht, es müsste „Investitionskürzungsprogramm für den Straßenbau“ heißen. Sie betreiben hier eine semantische Verdummung der Bevölkerung. ({4}) Denn Sie werden nicht bestreiten können, dass dieses Programm Kürzungen in einer Größenordnung von etwa 5 Milliarden DM gegenüber der mittelfristigen Finanzplanung der Vorgängerregierung beinhaltet. Sie behaupten in Ihrem Antrag, dass der von uns verabschiedete Bundesverkehrswegeplan mit seinem Zielhorizont bis 2012 mit mehr als 90 Milliarden DM unterfinanziert sei. ({5}) Das ist eine gewaltige Rosstäuscherei. Der Bundesverkehrswegeplan - so bestätigt das Bundesverkehrsministerium permanent - ist kein Finanzplan, sondern nur ein Bedarfsplan. ({6}) Der Minister hat eben bestätigt, dass der Bedarf immer größer ist, als die Haushaltsmöglichkeiten es erlauben. ({7}) Deswegen kann das gar nicht anders sein. Im Übrigen war das auch noch nie anders. Der erste Bundesverkehrswegeplan war der von Lauritz Lauritzen aus dem Jahre 1976, und nachdem die Periode herum war, hat es einen Überhang nicht gebauter Projekte in Höhe von 26 Milliarden DM - und das zu damaligen Preisen - gegeben. Der nächste von 1985/86 hatte, soweit ich weiß, auch einen Überhang von etwa 40 Milliarden DM. Das liegt in der Systematik begründet. Sonst muss der Bedarfsplan mit dem Finanzplan identisch sein. Rein logisch ist das gar nicht anders möglich. Aber nun das Dreisteste: Obwohl Sie schon eine Unterfinanzierung beklagen, ist Ihre Antwort auf Unterfinanzierung eine drastische Kürzung der Mittel. Da fasst man sich an den Kopf und fragt: Sind die von allen guten Geistern verlassen? In diesem Bereich vergießen Sie Krokodilstränen - total unglaubwürdig! ({8}) Denn in Wahrheit jubelt Herr Schmidt - so wie er geredet hat -, hüpft das Herz, dass das so ist. ({9}) Er freut sich ja über jede Unterfinanzierung und beklagt sie nicht, weil er Straßenbau nicht will. Deswegen ist er im Grunde genommen dem Ziel seiner Träume ziemlich nahe gekommen. Das ist die Wirklichkeit. ({10}) Bei dem Programm handelt es sich in Wahrheit um einen ziemlich plumpen Täuschungsversuch; denn statt bis 2002 läuft das Programm in Wirklichkeit bis 2010 und länger. Der Zeitraum ist eben nicht 1999 bis 2002, sondern 1999 bis 2010 - wegen Kostensteigerungen und Planungsverbesserungen wahrscheinlich länger. Ich befürchte sogar, er geht über den Zeitraum 2012, den Endzeitpunkt des jetzigen Bundesverkehrswegeplanes, hinaus. Denn zwei Drittel der Gesamtmittel fallen nach dem Programm von vornherein erst nach 2002 an. Ich frage mich die ganze Zeit: Was soll eigentlich in der von Ihnen angekündigten Fortschreibung des Bundesverkehrswegeplanes noch Neues stehen? Sie haben mit seiner Bewältigung doch genug Arbeit. ({11}) Alle in dem Programm nur als „prioritär“ eingestuften Maßnahmen im Straßenbau werden nicht realisiert. Sie fallen mit einem Anteil von 1,3 Milliarden DM der globalen Minderausgabe zum Opfer. Und es ist ja gar nicht zufällig, sondern Absicht, dass das Volumen der so genannten prioritären Maßnahmen mit dem Volumen der globalen Minderausgabe Straße auf den Pfennig identisch ist. „Prioritär“ heißt also bei Ihnen „vorrangig zu streichen“ und nicht „vorrangig zu bauen“. Dirk Fischer ({12}) ({13}) Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist die „neue Rechtschreibung“ von Rot-Grün, an die sich das Land erst einmal gewöhnen muss. Unklar ist zudem, wo der Anteil der globalen Minderausgabe nun erbracht wird, der - so haben Sie entschieden - nicht mehr der Schiene auferlegt werden soll. Also noch einmal 1,3 Milliarden DM! Die Folge: Erneut wird der Straßenbauhaushalt der Steinbruch sein. Das ist doch ganz unabweisbar. ({14}) ({15}) Wie können Sie da die Unverfrorenheit besitzen, in Ihrem Entschließungsantrag zu behaupten, dass die Projekte des vordringlichen Bedarfs, die in diesem Programm zusammengestellt sind, realisiert werden? Die Wahrheit ist: Das Investitionsprogramm ist Makulatur. ({16}) Von Verlässlichkeit der Infrastrukturplanung, wie es in Ihrem Antrag heißt, kann überhaupt keine Rede sein. Dringliche Maßnahmen des Straßenbaus sind massiv gefährdet, 100 000 Arbeitsplätze im Tiefbaubereich akut bedroht. ({17}) Unvertretbar gegenüber Bürgerinnen und Bürgern ist es, die Mehrbelastung des Autofahrers durch permanente Mineralölsteuererhöhungen und zusätzliches Abkassieren von 47 Milliarden DM bis 2003 zu praktizieren ({18}) und gleichzeitig die Investitionen in den Straßenbau in den Keller zu fahren. Das ist unverantwortlich. ({19}) Das einzige Verhältnis, das Sie emotional zum Straßenverkehr haben, ist, dass er sich als Schröpfbereich eignet, aber für ihn tun wollen Sie nichts. Die Folgen des Programms sind schwer wiegende volkswirtschaftliche Schäden. ({20}) Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt muss man bedenken, dass der Verkehrssektor direkt und indirekt rund 4,3 Millionen Erwerbstätige beschäftigt. Es gibt volkswirtschaftliche Verluste als Folge allgemeiner Überlastungen durch Staus in zweistelliger Milliardenhöhe pro Jahr. Ein unverantwortlicher Kahlschlag im Verkehrshaushalt wird die Leistungsfähigkeit unseres Sys-tems nicht steigern, im Gegenteil. Das müssen Sie endlich begreifen. Nun haben einige Kollegen von dem berühmten Beschluss der Länderverkehrsminister gesprochen. Den haben die schon dreimal gefasst, im November 1997, im April 1998 und im November 1999. ({21}) Das Pikante daran ist: Die Initiative stammt aus dem Kabinett des Ministerpräsidenten Gerhard Schröder und ist von seinem damaligen Verkehrsminister Peter Fischer initiiert worden. Das besonders Reizvolle daran ist nach meiner Auffassung: Sie haben gesagt, 4 Milliarden DM im Jahr mehr, aber ({22}) Sie haben nicht gesagt, 5 Milliarden DM weniger. Das müssen Sie begreifen. ({23}) Ich komme zu unseren Forderungen: Die Haushaltsansätze aus dem mittelfristigen Finanzplan von Matthias Wissmann müssen wiederhergestellt werden. Beginnend mit dem Haushalt 2001 muss die Zweckbindung des Straßenbaufinanzierungsgesetzes von 1960 ausgeführt werden und darf nicht durch das Haushaltsgesetz jährlich aufgehoben werden. Es müssen neue Modelle der Finanzierung, also der Privatfinanzierung entwickelt werden. Herr Minister, das ist wunderbar. Wir unterstützen Sie dabei. Das Gesetz haben wir schon gemacht, damals gegen den Widerstand von SPD und Grünen. Aber wir müssen das EURecht, das zu eng ist, ausweiten. Sie gehen jetzt nach der Methode vor: Wenn ich nicht weiter weiß, mache ich einen Arbeitskreis. Er liefert bis Mitte 2000 seine Ergebnisse. Ich habe Ihnen gesagt: Gehen Sie in Europa an das Aufbrechen des zu engen Rechtsrahmens heran. Sie haben gesagt: Das mache ich erst hinterher. Also wird die Folge sein: In dieser Legislaturperiode passiert gar nichts ({24}) und in der nächsten sind Sie eh nicht mehr da. ({25}) Das heißt, Sie haben heute weiße Salbe aufgetragen. Meine Damen und Herren, wir brauchen eine leistungsfähige und moderne Verkehrsinfrastruktur in den neuen Ländern. Da sind wir uns einig. Wir brauchen eine zügige Realisierung dieser Projekte. VerkehrsinvestiDirk Fischer ({26}) tionen werden auch in der Zukunft Motor für wirtschaftliche Entwicklung und Angleichung der Lebensverhältnisse sein. Lassen Sie mich zum Schluss sagen - ich glaube, das ist außerordentlich wichtig -: Wir brauchen - das war immer Ziel unserer Politik - ein wirksames Miteinander von Straße, Schiene, Wasser und Luft in einer gesamtvernetzten Verkehrssystematik. Das geht ohne Investitionen nicht. Dieses Ziel wird durch Ihre InvestitionsKahlschlagpolitik zerstört, ({27}) mit schweren Folgen für das deutsche und das europäische Verkehrssystem.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege!

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Verkehrskollaps ist programmiert. Eine andere Politik muss her, wie es in unserem Antrag steht: Zukunft sichern Verkehrsinfrastrukturinvestitionen steigern. ({0}) Stimmen Sie diesem vernünftigen und überzeugenden Antrag zu! ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Schmidt.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Fischer, Sie haben in Ihrer Rede soeben behauptet, ich hätte während der Rede des Ministers den Zwischenruf gemacht: Der Transrapid ist mausetot! ({0}) Ich sitze hier vorne in der ersten Reihe. Jeder einzelne Zwischenruf ist protokolliert worden. Ich stelle hier fest, dass ich weder dem Sinne noch dem Worte nach einen solchen Zwischenruf gemacht habe, weder heute noch sonst irgendwann. ({1}) Diese Diktion habe ich nicht benutzt. Darauf lege ich großen Wert. ({2}) Herr Kollege, ich sage Ihnen heute zum vierten Mal - das können Sie schon in drei Bundestagsprotokollen nachlesen -: Es haben sich inzwischen zwei Unternehmer deutlich erklärt. Der eine heißt Hartmut Mehdorn und ist Chef der Deutschen Bahn Aktiengesellschaft. Sie haben gestern Vormittag im Ausschuss selbst hören können, dass er gesagt hat: Das Ding ist nicht wirtschaftlich. Es hat sich ein weiterer Unternehmer öffentlich erklärt, und zwar Rolf Rexrodt von Adtranz, einem der Hersteller des Systems. ({3}) - Eckrodt, habe ich doch gesagt. ({4}) - Herr Eckrodt hat es nicht verdient, dass ich ihn mit Herrn Rexrodt verwechsle. So viel Unterschied muss auch nach der Rechtschreibreform noch sein. ({5}) Auch Herr Eckrodt hat sich öffentlich erklärt. Beide Unternehmer haben gesagt: Lasst uns das Abenteuer beenden, es ist unwirtschaftlich. - Ihnen scheint das nicht zu gefallen. Sie wünschen sich anscheinend einen Staatskommissar, der wie in alten Zeiten die Bahn anweist, ein unwirtschaftliches Projekt zu realisieren. Das scheint Ihre Vorstellung von Marktwirtschaft zu sein. ({6}) Ich kann Ihnen sagen: Nach der Bahnreform sind diese Zeiten Gott sei Dank vorbei. Wir werden eine rationale Entscheidung nach dem abschließenden Treffen, bei dem alle Projektbeteiligten an einem Tisch sitzen und in abschließender Runde die Datenlage bewerten, fällen. Ich sage Ihnen heute zum vierten Mal: Ich bin sehr zuversichtlich, dass die richtige Entscheidung getroffen wird.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zur Antwort der Kollege Fischer.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Herr Kollege Schmidt, offenbar muss die Akustik zwischen dort und hier schlecht sein. ({0}) Aber ich denke, ich sollte mich darüber freuen, dass Sie jetzt vor dem Deutschen Bundestag erklärt haben, dass Sie den Transrapid nicht für mausetot halten und das, was Sie in der Vergangenheit häufig dazu gesagt haben, zurücknehmen. Wir als CDU/CSU-Fraktion stellen mit Freude fest: Der Kollege Schmidt hält den Transrapid für kerngesund und lebendig. ({1}) Dirk Fischer ({2}) Dies ist eine gute Botschaft zum Tage. Im Übrigen muss ich Ihnen eines sagen. Sie haben Recht: Als erster hat der Bund unter Ihrer Regierung das Eckpunktepapier verworfen, indem er sich verpflichtet hat, den Fahrweg in eigener Verantwortung zu bauen, und indem er völlig unrealistische Schätzpreise, die durch Ihre Koalition zu Endpreisen erklärt wurden, angesetzt hat. ({3}) Auch bei der Neubaustrecke Köln-Rhein/Main wird der Schätzpreis für diese Strecke der Rad-SchieneTechnologie im Ergebnis dreimal höher abgerechnet werden, wogegen Sie weder als Abgeordneter noch als Aufsichtsratsmitglied der DB AG interveniert haben. Sie zahlen vielmehr alles und Sie ignorieren die Aufforderung, gleiches Recht für den Transrapid herzustellen, konsequent. Das steht im Widerspruch zu Ihrem heutigen, soeben nachgeschobenen klaren Bekenntnis zur Anwendung des Transrapid auf der Strecke HamburgBerlin. Letztlich hat Herr Eckrodt in Wort und Schrift sein klares Bekenntnis zu seinen Verpflichtungen aus dem Konsortium bekundet. ({4}) Sie wissen genau, dass Herr Eckrodt weniger ein Problem mit dem Transrapid hat, sondern eher damit, dass er mit seinem Unternehmen pro Jahr eine Dreiviertelmilliarde DM Verlust schreibt und der Daimler-ChryslerKonzern dieses Unternehmen deswegen lieber heute als morgen verkaufen möchte. ({5}) Eckrodt hat also keine Puste, um ein solch vernünftiges Konzept bis zum Jahr 2007 durchzustehen. Sie sollten nicht die Probleme eines Unternehmens zu Problemen eines hervorragenden und zukunftsweisenden technologischen Systems machen und beide in einen Topf schmeißen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt fahren wir in der Debatte fort. Die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig hat das Wort.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Fischer, ich habe nach Ihrer Rede den Eindruck, dass Sie noch nicht einmal in der seinerzeitigen Realität des Kollegen Wissmann angekommen sind, ({0}) denn das Problem des Bundesverkehrswegeplans von 1992 war und ist bis heute, dass er auf so vielen Illusionen aufgebaut hat und über so lange Zeit hinweg Gelder und Straßenbauvorhaben bindet, dass schon Wissmann nicht anders konnte, als hier und dort und da einen Spatenstich zu machen, ohne zu wissen, wie die Projekte überhaupt sinnvoll zu einem Ende kommen sollten. Es ist doch gerade das Problem, dass die verkehrlichen Notwendigkeiten, die ökologische Verträglichkeit und die finanzielle Machbarkeit in den vergangenen Jahren einfach so oft missachtet worden sind, dass wir tatsächlich - da haben Sie mit Ihrer Äußerung Recht, nur andersherum, als Sie es eigentlich gewollt und gemeint haben - an diesem Erbe sehr lange tragen müssen und jetzt sehr lange sehr sorgfältig in der Verkehrsplanung eine Feinabstimmung vornehmen müssen, wo und wie weitergebaut werden kann und weitergebaut werden muss. Wir müssen diesen riesigen Berg abtragen und das zu einem guten Ende bringen. Von daher ist auch klar: Rot-Grün wird nicht einfach einen Strich ziehen können. ({1}) Deswegen muss ich auch von hier aus all die Bürgerinitiativen, die natürlich die Hoffnung hatten, wir könnten einen schnellen Stopp von bestimmten Verkehrsprojekten, die wir für ökologisch problematisch halten, veranlassen, um Nachsicht bitten. So schnell kann man diesen schweren Tanker, den Sie uns hinterlassen, nicht umsteuern. Ein Teil der Hauptarbeit besteht auch darin, dass wir Schritt für Schritt die Planungen, die Sie uns hinterlassen haben, überhaupt auf ein vernünftiges Maß bringen. Von daher ist das Investitionsprogramm 1999 bis 2002 in keiner Weise Rosstäuscherei, sondern das Programm macht endlich das, was in den Jahren vorher bereits dringend notwendig gewesen wäre: Es bringt Planungsklarheit und -sicherheit für den weiteren Fortgang. Dafür war es allerhöchste Zeit, denn das haben Sie ja wirklich versäumt. Auch die Überarbeitung, die 1997 fällig gewesen wäre, haben Sie eben nicht gemacht. ({2}) Wir bleiben dabei: Das Problem, dass der Bundesverkehrswegeplan mit 90 Milliarden DM überfinanziert bzw. untergedeckt war, kann man jetzt nicht einfach mit dem Satz aus der Welt schaffen, das sei eben der Bedarf. Das ist doch nicht wahr. Wir alle wissen aus den Ländern, dass sie natürlich ihre Planungen und Projekte begonnen und angemeldet haben und die Hoffnung haben, dass nicht nur aus den Spatenstichen, sondern auch aus den in der Schublade liegenden Projekten endlich etwas wird. Von daher geht es nicht darum, einfach zu sagen: Das ist Bedarf; so haben wir das nicht gemeint. Vielmehr wollen wir die Verantwortung jetzt wahrnehmen, Schritt Dirk Fischer ({3}) für Schritt daraus vernünftige Lösungen abzuleiten. Von daher kann man nicht von Rosstäuscherei reden, sondern von der verantwortlichen Fortführung dessen, was Sie uns eingebrockt haben. Wir haben folgende Aufgaben: Wir müssen erstens den Bundesverkehrswegeplan nach Kriterien der Realisierbarkeit, der Sinnhaftigkeit, aber auch der kostenmäßigen Verantwortbarkeit und der Umweltverträglichkeit überarbeiten. Wir haben auch die Aufgabe, Verkehrsträgerkonkurrenzen, die Sie nicht sonderlich ernst nehmen wollten, sehr genau zu bedenken und abzuwägen, was an welcher Stelle miteinander verträglich ist. Weiter haben wir beschlossen und realisieren es auch, dass die Ausbauprojekte in Ostdeutschland, die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ eine klare Priorität haben, weil hier der Nachholbedarf noch immer sehr groß ist. Von daher werden wir uns auch der Absicht entgegenstellen, an diese Aufgabe mit willkürlichen Kürzungen heranzugehen. Wir haben aber als Zweites die Aufgabe - dazu stehen wir, und das ist Ihnen gestern im Ausschuss sehr deutlich von Herrn Mehdorn gesagt worden -, die Investitionsschere zwischen Straße und Schiene zu schließen. Das wird Jahr für Jahr von Rot-Grün schrittweise abgebaut werden, weil wir uns dafür einsetzen, dass endlich die Chancengleichheit der Schiene gewährleistet wird und die Schiene überhaupt ihren wirtschaftlichen Spielraum bekommt. ({4}) Darüber sind wir uns einig; ich bin froh, dass Kollege Oswald das gleich uns positiv gesehen hat. Der dritte Punkt ist: Wir müssen auch noch den Berg der privat vorfinanzierten Verkehrsinvestitionen mit abtragen. Auch das ist ein Stück Erbe, mit dem wir nur realitätsgerecht umgehen können, das man nicht einfach durch Forderungen nach mehr Geld wegreden kann, wie Sie das in Ihrem Antrag getan haben. Mein Kollege Ali Schmidt hat auf den vierten Punkt bereits hingewiesen. Wir müssen uns auch verstärkt mehr noch, als wir das zur Zeit finanziell selbst beim besten Willen überhaupt tun können - dem Problem stellen, dass wir einen riesigen Berg von Bestandserneuerungsaufgaben vor uns herschieben, der mehr und mehr Leistungen von uns fordert. Von daher müssen wir auch die Prioritäten zwischen Schienenneubau und -netzerweiterung, Straßenneubau und -netzerweite- rung schrittweise zugunsten der Bestandspflege und der Erhaltungs- und Erneuerungsaufwendungen - sei es gekoppelt mit Ausbau oder auch nicht - verschieben. Das ist eine sehr große und schwierige Aufgabe. Minister Klimmt hat erklärt, dass wir uns dieser Aufgabe stellen. Das hat auch schon Herr Müntefering sehr deutlich erklärt. Mit dem „Netz 21“ hat die Bahn AG bereits den Schwerpunkt vom Neu- und Ausbau zum Unterhalt verlagert. Sie hat deutlich angekündigt: Neu- und Ausbau werden nur dort vorgenommen, wo sich ein Nutzen für das Gesamtnetz ergibt. Dieser Aufgabe, denke ich, müssen wir uns auch im Straßenbau vermehrt stellen. Es gibt über 11 000 Kilometer Autobahnen und über 40 000 Kilometer Bundesstraßen. Es gibt einen wachsenden Bedarf an Erhaltung und Erneuerung insbesondere von Brücken- und Tunnelbauwerken. Auch Minister Klimmt hat schon darauf hingewiesen: Allein 1990 wurde der jährliche Bedarf an Erneuerungen im Bereich von Tunnelund Brückenbauwerken - das gilt nur für die Straße mit 500 Millionen DM angesetzt. 1998 waren es schon 700 Millionen DM. In den nächsten Jahren wird allein diese Position aufgrund des Bedarfs auf über 1 Milliarde DM ansteigen. Trotzdem wird immer weiter gebaut. Insofern steigt der Bedarf sowohl aufgrund der Alterung als auch aufgrund der Netzerweiterung. Konkret kommt hinzu: Ingenieure sagen uns einen schnell und umfangreich steigenden Bedarf an Stahlbeton- und Spannbetonsanierungen im Straßenbereich voraus. Im Schienenbereich gibt es die Notwendigkeit der Grundsanierung vieler Eisenbauwerke aus der Gründerzeit, bei denen zunehmend das Material ermüdet. Deshalb möchte ich dafür werben, dass wir nicht einfach mehr Geld für Ausbau und Erweiterung fordern, wie Sie es in Ihrem Antrag getan haben, sondern dass sich alle Beteiligten gemeinsam - gerade auch die Opposition - dem Thema Bestandserneuerung sehr ernsthaft stellen. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es spricht jetzt die Frau Kollegin Blank.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister Klimmt, ein Wort zum Transrapid: Ich glaube nach der Debatte in der vergangenen Woche und nach den gestrigen und heutigen Äußerungen, dass Sie eigentlich nur noch einen Grabredner suchen und die Frage beantwortet haben wollen, wer die Verantwortung für dieses Trauerspiel übernehmen soll. ({0}) Wir diskutieren heute nicht nur über die Verkehrsinvestitionen, sondern auch über den Straßenbaubericht. Ich möchte einige Bemerkungen zum Straßenbaubericht 1998 machen, in dem die Verhältnisse von 1997 geschildert werden. Damals waren 10,1 Milliarden DM geplant. Verausgabt wurden fast 10,2 Milliarden DM, rund 31 Millionen DM mehr als vorgesehen. Davon wurden 4,8 Milliarden DM in die alten Bundesländer und 3,6 Milliarden DM in die neuen Bundesländer investiert. Kollege Hiller, das ist eine Beseitigung der Erblast der SED und des alten DDR-Regimes, und das, was wir Ihnen in der Verkehrspolitik hinterlassen haben, ist keine Erblast. ({1}) Zum Kollegen Schmidt: Er behauptet nach wie vor, dass in den Haushalt 1997 nur 8,1 Milliarden DM für Investitionen eingestellt worden seien. Das hat er vorher leider wieder behauptet. Aber das stimmt nicht. Eigentlich müsste er das besser wissen. Tatsächlich wurden genau 8,377 Milliarden DM ausgegeben. In der Antwort auf eine Anfrage, die er gestellt hat, ist deutlich geworden, dass auf der Ist-Seite mehr ausgegeben wurde. Das habe ich gerade ausgeführt. Der Straßenbaubericht macht klar, dass die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ Vorrang haben; denn sie dienen ja auch dem Zusammenwachsen Deutschlands und vor allen Dingen der Verbesserung des OstWest-Verkehrs. Wirtschaftswachstum benötigt eine gut ausgebaute Verkehrsinfrastruktur. Kollegen von der SPD, ich erinnere mich, dass der damalige Ministerpräsident des Landes Niedersachsen der heutige Bundeskanzler - den Wunsch geäußert hat, dass „seine“ Autobahn zur EXPO in Hannover ausgebaut wird, und zwar mit zusätzlichen Mitteln in Höhe von 620 Millionen DM. Wir waren damals in der Lage, ihm diesen Wunsch zu erfüllen - die anderen Bundesländer sind zurückgetreten -, und haben diese 620 Millionen DM lockergemacht. Man sollte vielleicht ein kleines Dankeschön dafür sagen, dass der Verkehr zur EXPO 2000 aufgrund entsprechender straßenbaulicher Maßnahmen gut funktionieren wird. ({2}) Zu unserem Antrag. Als exportorientierte Wirtschaftsnation brauchen wir natürlich eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur. Das ist eine alte Binsenweisheit und hoffentlich auch allgemein bekannt; aber manchmal frage ich mich, ob das auch für die derzeitige Regierungskoalition gilt. Der Verkehrsbereich trägt nach einer Untersuchung des Verkehrswissenschaftlichen Instituts der Universität Köln zu 27 Prozent zur inländischen Wertschöpfung bei. Ohne Verkehrswachstum wäre die volkswirtschaftliche Bruttowertschöpfung in Deutschland zum Beispiel 1990 um ein Viertel geringer ausgefallen. Unternehmen beurteilen im Zeitalter der Globalisierung auch die Qualität der Verkehrsinfrastruktur, bevor die Entscheidung für einen Standort getroffen wird. Bisher war die gute Verkehrsinfrastruktur in Deutschland ein Standortvorteil. Wir sollten diesen Vorteil nicht leichtsinnig verspielen. Dass Verkehrsinvestitionen Arbeit schaffen oder erhalten, ist mittlerweile jedem bekannt. Investitionen in Höhe von 1 Milliarde DM schaffen bzw. erhalten circa 12 000 Arbeitsplätze. Bisher hat die rot-grüne Verkehrspolitik allerdings mehr verwaltet als gestaltet. ({3}) Die Verwaltung hatte mit einem politischen Unfall des damaligen Ministers Müntefering angefangen; er wollte nämlich den Senioren das Autofahren verbieten. ({4}) Eine solche Diskriminierung unserer Senioren war fatal. Nach geharnischten Protesten ist der Vorschlag wieder verschwunden. Heute wollen Sie ihn nicht mehr wahrhaben; aber der Vorschlag war da. Allein der Gedanke, dass ältere Menschen auf Mobilität verzichten müssen, ist unfassbar. Er ist nahezu eine Frechheit. Vielleicht liegt ihm die Unkenntnis über die tatsächlichen Unfallverursacher zugrunde. ({5}) Wie wichtig Ihnen Verkehrssicherheit ist, sieht man auch daran, dass Sie im Haushalt die Ausgaben für Verkehrssicherheit gekürzt und nicht erhöht haben. Herr Minister Klimmt, da Sie erst wenig über 100 Tage im Amt sind, sehe ich Ihnen nach, dass Sie noch nicht so genau wissen, dass der Bundesverkehrswegeplan ein Bedarfsplan ist. ({6}) Aber der SPD sehe ich das nicht mehr nach. Es ist die Verbreitung einer Lüge. Der Bedarfsplan ist dazu da, dass der Bedarf aus den einzelnen Ländern angemeldet wird. Wenn das geschehen ist, dann werden die Kosten und der Nutzen errechnet. Liebe Kollegen von den Grünen, wenn Ihre Vertreter nicht ständig gegen eine Verbindung von A nach B demonstrieren würden, ({7}) dann würden die Baukosten für manche Projekte nicht ins Unermessliche steigen; vielmehr könnte man die Projekte wesentlich früher bauen. ({8}) Nun möchte ich einige Worte zum Investitionsprogramm sagen. Das Programm 1999 - 2002 ist absolut nicht zukunftsweisend, sondern ein groß angelegtes Täuschungsmanöver. Das Programm sollte Klarheit und Wahrheit bringen; aber allein die Sprache verrät so manches. Während kurz nach der Regierungsübernahme in Ihrem Programmentwurf noch von einer Aufnahme des Verkehrs die Rede war, steht jetzt „zur Verkehrsabwicklung“ im Text. Diese negative Sprache kommt dann auch bei Kürzungen bei Neubaumaßnahmen, aber auch bei Erhaltungsinvestitionen voll zum Ausdruck. Die Auswirkungen auf den staugeplagten Autofahrer, aber auch auf das Gewerbe sind verheerend. Es gibt fast keine neuen Baubeginne, sondern nur den Weiterbau. ({9}) Das zeigt dieses Investitionsprogramm ganz deutlich auf. Die Wahrheit, die in diesem Programm enthalten ist - mein Kollege Fischer hat schon darauf hingewiesen -, lässt zu wünschen übrig; denn es wird suggeriert, dass es bis 2002 laufen soll. Aber es läuft natürlich wesentlich länger. Zur Erinnerung: Wir hatten in unserer mittelfristigen Investitionsplanung bis zum Jahr 2002 den Betrag von 22,3 Milliarden DM vorgesehen. Jetzt sind es nur noch 17,4 Milliarden DM, also rund 5 Milliarden DM weniger, die in den Straßenbau investiert werden. Ich verweise auch auf die Aussage der Verkehrsministerkonferenz der Länder vom 3./4. November. Ich zitiere: Die Verkehrsministerkonferenz fordert den Bund eindringlich auf, zur unverzüglichen Behebung der kritischen Situation im Bundesfernstraßenbau und Schienenwegeausbau entsprechende Vorschläge zu unterbreiten und die Finanzierungsmittel dem tatsächlichen Bedarf anzupassen. ({10}) Nichts ist geschehen. Das Investitionsprogramm - so geht es weiter im Text - stehe im krassen Widerspruch zu den VMK-Beschlüssen, wonach ein jährlicher Zusatzbedarf von 4 Milliarden DM erforderlich sei, und jetzt hören auch Sie zu! - der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur außerhalb der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ könne nicht mehr im notwendigen Umfang fortgeführt werden. Nehmen Sie sich doch die Worte Ihrer SPD-Länderverkehrsminister ein bisschen zu Herzen; das wäre gut. ({11}) Die Worte der Länderverkehrsminister sprechen eine deutliche Sprache. Ich zitiere ein Beispiel aus Bayern: Bayern erhält bis 2003 für neue Projekte nur noch 29,4 Millionen DM. Damit kann man vielleicht 3 Kilo- meter Straße bauen. Die für baureife Projekte erforderli- chen Mittel betragen allein für Bayern rund 3 Milliarden DM. Meine Kolleginnen und Kollegen, Ortsumgehungen sind natürlich nicht nur Umweltschutz, sondern auch Menschenschutz. Bei den Investitionen für die Schienenwege ist eben- falls Stillstand eingetreten. Die angebliche Mobilisie- rung zusätzlicher Mittel in Höhe von 5,4 Milliarden DM ist eine reine Nebelkerzenaktion. Die erneute Niederlage der Grünen, Kollege Schmidt, sollte damit verschleiert werden; denn die Grünen hatten die Zustimmung zum Investitionsprogramm von der Anhebung der Höhe der Mittel für die Schiene abhängig gemacht. Kollege Schmidt, Sie hören es nicht gern, aber ich muss Ihnen sagen: Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ich höre Ihnen immer gern zu!) Es sind keine neuen Mittel für die Schiene bereitgestellt worden, sondern es handelt sich um einen plumpen Versuch, Ihr Einknicken zu kaschieren. Bekannt ist, dass Sie für das privat vorfinanzierte Verkehrsprojekt Nürnberg München, das Sie eigentlich immer abgelehnt haben, ({12}) jetzt 3 Milliarden DM in das Investitionsprogramm einstellen. Dem Investitionsprogramm haben Sie zugestimmt. ({13}) Lassen Sie mich eine Bemerkung zu einer privaten Vorfinanzierung machen: Sie übersehen immer den volkswirtschaftlichen Nutzen und den Gewinn, der dann über Steuereinnahmen wieder in den Haushalt zurückfließt. Die Aussagen, die der neue Bahnchef Mehdorn gestern im Ausschuss gemacht hat, was zum Beispiel das Schienenprojekt Stuttgart-München oder auch das Projekt Nürnberg-Erfurt anbelangt, stimmen eigentlich sehr hoffnungsvoll; denn er hat gesagt, es seien schnelle Zugverbindungen von einem Verkehrsknoten zum anderen erforderlich. Zum Beispiel sollte auf der Strecke München-Berlin eine Fahrzeit von dreieinhalb Stunden erreicht werden, damit mehr Verkehr auf die Schiene verlagert wird. ({14}) Meine Damen und Herren von der Koalition, da müssen Sie aber noch ziemlich viel umdenken; denn das Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ NürnbergErfurt gehört nicht gerade zu Ihren Lieblingsprojekten. Kollege Schmidt, die Grünen haben dieses Konzept gestern - das waren ihre Aussagen im Ausschuss - eindeutig gebilligt. Wir werden Sie beim Wort nehmen: Auch Sie wollen in Zukunft dieses Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“. Das freut uns ganz besonders. ({15}) Wir benötigen dringend mehr Geld für Verkehrsinvestitionen. Ein Weg wäre, Einnahmen aus der Ökosteuer, die den Namen nicht verdient, zweckgebunden für Investitionen in die Verkehrswege auszugeben. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, ich muss Sie darauf hinweisen, dass Sie zum Schluss kommen müssen.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gut. - Ich verhehle nicht, dass es uns als Verkehrspolitikern damals nicht gelungen ist, eine Zweckbindung bei der LKW-Gebühr herbeizuführen. Aber, meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wollten doch alles besser machen. ({0}) Jetzt können Sie den Beweis antreten, indem Sie eine Zweckbindung forcieren. Ihre Verkehrspolitik ist nicht zukunftsgerichtet, sondern ein Schritt in den Abgrund. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich. ({0})

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, Liebe Kollegen! Sehr verehrte Frau Blank, in einen Abgrund werden wir uns ganz sicherlich nicht stürzen. Wir sind gerade noch einmal vor dem Abgrund gestoppt, den Ihre Finanzpolitik uns beschert hat. ({0}) Sie bezeichnen in Ihrem Antrag Mobilität als den Schlüsselfaktor unserer Entwicklung. Dem ist zuzustimmen. Aber dennoch muss man hier einmal Klarheit und Wahrheit auf die Tagesordnung bringen. ({1}) - Ja, Herr Friedrich, das ist immer gut. Daher bezeichne ich Ihren und den Antrag der CDU/CSU als Bankrotterklärung Ihrer Politik der letzten 16 Jahre. ({2}) CDU, CSU und F.D.P. haben auf Kosten künftiger Generationen Politik gemacht. Sie haben die Staatsverschuldung in die Höhe getrieben, sodass wir jährlich 80 Milliarden DM an Zinsen zu bezahlen haben. Wenn wir doch nur ein Zehntel davon hätten, Herr Friedrich, also 8 Milliarden DM, so wäre in Ihren damaligen Haushalten vielleicht anderes möglich gewesen. ({3}) Es ist uns gelungen, diese Schuldenspirale zu durchbrechen. Trotz der notwendigen Sparmaßnahmen auch im Haushalt des Ministers für Verkehr, Bauen und Wohnen ist es aber gelungen - ich möchte hier jetzt wirklich dem Märchen von der Absenkung der Investitionen begegnen -, den Investitionsanteil gerade auch im Bereich des Straßenverkehrs stabil zu halten. ({4}) Herr Waigel hatte für das Jahr 1997 8,1 Milliarden DM und für 1998 8,4 Milliarden DM vorgesehen. Wir haben für den Haushalt 1999 8,4 Milliarden DM, für 2000 8,3 Milliarden DM und für 2001 und 2002 jeweils 8,2 Milli-arden DM Investitionsanteil beim Straßenbau eingeplant, den Sie hier immer so hervorheben. Von einem Kahlschlag kann überhaupt keine Rede sein. ({5}) Zwei Punkte Ihrer unverantwortlichen Verkehrspolitik möchte ich jetzt herausgreifen, und zwar weil ich aus Baden-Württemberg komme und wir darunter ganz besonders leiden. Erstens: die unverantwortliche private Vorfinanzierung. Dies war ein teurer Einkauf von Zeit. Sie haben kommenden Generationen Gestaltungsspielräume genommen. Weil dies auch immer im theoretischen Bereich bleibt, möchte ich jetzt auf die Zahlen, die zum Beispiel der Engelbergtunnel gekostet hat, eingehen. ({6}) 600 Millionen DM Baukosten waren angegeben. Er ist etwas teurer geworden: 800 Millionen DM. Die Planungen im Bundesverkehrswegeplan stimmen eben oft nicht. Die Kosten werden sich unter dem Strich nach Rückzahlung der Zinsen für die private Vorfinanzierung auf 1,3 Milliarden DM belaufen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber bitte.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, wenn Sie die Konzessionsmodelle ansprechen und sagen, das sei ein relativ teurer Einkauf von Zeit, dann möchte ich gerne von Ihnen wissen, welchem Konzessionsmodell die SPD-Bundestagsfraktion im Haushaltsausschuss, im Verkehrsausschuss oder im Plenum widersprochen hat. Gibt es ein einziges Konzessionsmodell, das ohne die Zustimmung der SPD beschlossen worden wäre?

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Engelbergtunnel ist ein rein privat vorfinanzierter Tunnel. Es wird in der Zukunft keine Maut erhoben werden. Die Verkehrspolitiker haben - das wissen Sie ganz genau - allen diesen Modellen im Bereich der privaten Vorfinanzierung immer widersprochen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie auch noch eine Nachfrage des Kollegen Fischer?

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. ({0}) - Das war kein Geeiere. ({1}) - Wenn Sie so großen Wert darauf legen. Herr Fischer, bitte.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Darf ich Sie darauf hinweisen, dass Sie eben in Ihrer Formulierung genau die Definition des Konzessionsmodells gewählt haben? Ist Ihnen bekannt, dass alle Konzessionsmodelle - es gibt keine Ausnahme - von der SPD-Bundestagsfraktion im Haushaltsausschuss, in den Fachausschüssen und im Plenum mitgetragen worden sind? Deswegen ist eine Kritik an der Vorgängerregierung in diesem Zusammenhang zumindest aus Ihrem Munde unangemessen. Können Sie dem zustimmen?

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, dem kann ich nicht zustimmen. Deswegen habe ich zuvor Wert darauf gelegt, dass wir Verkehrspolitiker und -politikerinnen der SPD dies immer abgelehnt haben. ({0}) - Selbstverständlich. - Das andere, was Sie im Haushaltsbereich dargestellt haben, ist richtig. Jetzt möchte ich aber mit meinen Ausführungen fortfahren. Auf Kosten der Substanz haben Sie auch in einem zweiten Bereich gelebt. Die F.D.P. begründet den von ihr gestellten Antrag mit einer verheerenden Zustandsbeschreibung unseres deutschen Straßennetzes. Hier haben Sie nun wirklich einen Offenbarungseid geleistet, Herr Kollege Friedrich. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass der Zustand unseres Straßennetzes erst in den letzten 15 Monaten so erschreckend geworden ist, wie Sie ihn hier beschreiben. Richtig ist, dass Sie in den vergangenen Jahren systematisch die Pflege vorhandener Verkehrswege vernachlässigt haben und stattdessen Spatenstiche an allen Ecken und Enden der Republik vorgenommen haben, ohne dass die Finanzierung der Baumaßnahmen langfristig abgesichert gewesen wäre. ({1}) 300 Millionen DM betrug die Differenz zwischen den für die Erhaltung notwendigen Mitteln und den tatsächlichen Ausgaben alleine für die Ingenieurbauwerke der Bundesfernstraßen in den alten Bundesländern. Die Versäumnisse der Vergangenheit bestehen darin, dass Sie die steigende Beanspruchung der Straßen durch höhere Achslasten und zunehmenden Verkehr missachtet haben. Die Erhaltungsmaßnahmen spielen dagegen in unserer Finanzplanung eine wichtige Rolle. Für Erhaltungsinvestitionen haben wir rund 3,5 Milliarden DM in den Haushalt eingestellt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSUFraktion, wenn Sie in Ihrem Antrag schreiben, „Maßstab darf nicht der gegenwärtige Bedarf sein, sondern das zu erwartende Verkehrsaufkommen“, so ist das ja richtig. Aber der gegenwärtig gültige Bundesverkehrswegeplan ist schon lange nicht mehr haltbar. Vorhin wurden schon die für diesen Plan erforderlichen Finanzmittel genannt; in diesem Zusammenhang wurde auch auf die Unterdeckung in Höhe von 90 bis 100 Milliarden DM hingewiesen. ({2}) Das ist übrigens nicht von der SPD ausgerechnet worden, sondern von verschiedenen Verkehrsinstituten. Sie müssten also Herrn Professor Aberle fragen, der diese 100 Milliarden DM genannt hat. ({3}) - Nein, diese Zahlen müssen Sie einfach zur Kenntnis nehmen. ({4}) Deshalb ist ein neuer Bundesverkehrswegeplan dringend notwendig. Grundlage hierfür wird ein Verkehrsbericht 2000 sein, der die aktuellen Verkehrsprognosen aufnehmen wird. Auch sollen die Bewertungskriterien überarbeitet und ergänzt werden. Umwelt, Raumordnung und Städtebau bekommen einen neuen Stellenwert. Die Schnittstellen und Verknüpfungen der einzelnen Verkehrsträger werden für die zukünftige Verkehrsplanung eine größere Rolle spielen müssen. Damit vor dem In-Kraft-Treten des neuen Bundesverkehrswegeplans Sicherheit und Klarheit einkehren können, haben wir das Investitionsprogramm aufgelegt, das für die Zeit bis 2002 67 Milliarden DM umfasst. Dies schafft Planungssicherheit für Länder, Städte und Gemeinden. Ferner wird es darum gehen, die Investitionen für die Bahn zu verstärken. Im Investitionsprogramm 1999 bis 2002 ist es uns schon gelungen, 55 Prozent der Mittel in den westlichen Bundesländern auf die Schienenwege zu lenken. In einem Gespräch mit Herrn Mehdorn haben wir auch erfahren - dies ist uns schon seit langem klar -, dass es zuallererst darum geht, Chancengleichheit für die Bahn herzustellen, was im Hinblick auf den europäischen Rahmen umso notwendiger, aber auch umso schwieriger sein wird. Innerhalb der Europäischen Union ist es jetzt schon gelungen, zu verabreden, dass im Bereich der transeuropäischen Netze der Zugang für Verkehrsunternehmen, die die Sicherheitsvorschriften erfüllen, gewährleistet sein wird, ohne dass nationale Regierungen Einspruch erheben können. Das heißt, wir haben den ersten Schritt in Richtung einer besseren Politik getan, um mehr Chancengleichheit für die Bundesbahn zu erreichen. ({5}) Der zweite Ansatz, den wir einführen werden - Verkehrsminister Klimmt hat schon darauf hingewiesen -, ist die kilometerabhängige Autobahngebühr für LKWs. Diese entfernungsabhängige Gebühr ist für Deutschland als Transitland ein wichtiges Instrument, um ein Zeichen zu setzen, dass Güter von der Straße auf die Schiene gehören und dass in dem Wettbewerb der Verkehrsträger auch die Straße die Kosten, die durch ihre Benutzung entstehen, zum Teil selbst zu tragen hat. Das bisherige System, das Wenigfahrer benachteiligt und Vielfahrer bevorzugt, wird abgeschafft werden. Ein positiver Ausblick: Es wird in Zukunft darum gehen, die Verkehrsinfrastruktur in allen Bereichen für alle Verkehrsträger leistungsfähig zu machen. Es geht um den Ausbau und um den Erhalt der europäischen Verkehrswege sowie um klare Prioritäten und um eine realistische Investitionspolitik. Es geht auch darum, dass das Investitionsprogramm als Brücke zu einem neuen Bundesverkehrswegeplan in diesen Zeiträumen realisiert wird, dass ein verlässliches Planungsinstrument entsteht und dass wir einen Bundesverkehrswegeplan aufstellen werden, der kein unterfinanzierter Wunschzettel ist, so wie dies in der Vergangenheit bei Ihnen der Fall war. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, ich denke, dies wäre ein schöner Schluss. Ihre Redezeit ist nämlich abgelaufen.

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ein letzter Satz. Es wird darum gehen, die Chancengleichheit der Verkehrsträger in den Mittelpunkt zukünftiger Verkehrspolitik zu stellen, die - im Gegensatz zu Ihnen - Wahrheit und Klarheit in ihren Haushalts- und Investitionsplänen aufweist. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Herr Kollege Börnsen das Wort. ({0})

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Warum ist eine verantwortungsbewusste Verkehrspolitik gerade in Deutschland so wichtig? Wir sind auf unserem Kontinent Transitland Nummer eins. Bedingt durch unsere geographische Lage ist die Bundesrepublik Verkehrsdrehscheibe in Europa. Die wirtschaftliche Entwicklung unserer Nachbarn in Ost und West, in Nord und Süd ist ganz entscheidend von einer klugen und zukunftsorientierten Verkehrspolitik bei uns abhängig. Als größte Exportnation auf diesem Kontinent müssen wir ein elementares, ja vitales Interesse an dynamischen Märkten in Deutschland und in unserem Umfeld haben, die Arbeit und Nachfrage sichern. Ein solches Verständnis einer global ausgerichteten Verkehrspolitik sehe ich derzeit bei der rot-grünen Bundesregierung nicht. Gegenüber dem Verkehrsetat des Jahres 1998 hat sie in ihrem ersten Regierungsjahr den Etat um 6,5 Milliarden DM gekürzt und im zweiten Jahr im Vergleich zu 1998 um 5,3 Milliarden DM. Das bedeutet eine Kürzung von 11,8 Milliarden DM in nur zwei Jahren und damit weniger Ausbau von Schiene, Straße, Wasserstraße und Luftverkehr. Mit diesen drastischen Streichungen schadet man unserem und dem europäischen Arbeitsmarkt. Vergessen wir nicht: Über 4 Millionen Arbeitlose allein bei uns erwarten, dass für die Schaffung von Arbeitsplätzen gehandelt und nicht gekürzt wird. ({0}) Die Politik dieser Regierung ist aktuell unverantwortlich und mittelfristig von verheerender Auswirkung. Allein in den nächsten zehn Jahren werden die Verkehrsleistungen bei uns drastisch steigen, beim Individualverkehr um 30, bei der Bahn um 41 und im Luftverkehr um 150 Prozent. Für den Gütertransport lautet die Prognose: 95 Prozent Zunahme für die Straße, 55 Prozent Zuwachs für die Bahn und 84 Prozent Zuwachs für die Wasserwege. Der europäische Ost-West- und WestOst-Verkehr wird sich in den kommenden zehn Jahren verdreißigfachen. Die Frage ist nicht, ob wir die Voraussetzungen für zügigen Verkehr schaffen, sondern die Frage ist allein, wie wir diese Zukunftsherausforderungen meistern. Schon jetzt sind große Teile unseres Bundesfernstraßennetzes überlastet, stressige Staus gehören zum Alltag. Die volkswirtschaftlichen Schäden belaufen sich auf über 200 Milliarden DM pro Jahr. Aber statt Abhilfe und Vorsorge zu betreiben, ist fast Stillstand eingetreten. Ich rufe in Erinnerung: Über 11 Milliarden DM hat die Bundesregierung gegenüber 1998 im Verkehrsbereich gekürzt, nicht zuletzt auf Druck der Bündnisgrünen. Sie wollten die Verkehrswende und schaffen, überspitzt gesagt, das Verkehrsende. Das Magdeburger Wahlprogramm der Grünen vom März 1998 gibt für diese Feststellung reichlich Nahrung. Während dieses Papier auf Konfrontation mit dem bisherigen Verkehrskurs ausgerichtet ist, bemüht die SPD in ihrem Leipziger Beschluss vom April 1998 mehr die Kontinuität. In der Koalitionsvereinbarung vom Oktober 1998 kommen die teilweise gegensätzlichen Standpunkte zu einem künstlichen Kompromiss. Dieses Dilemma begleitet seitdem deutsche Verkehrspolitik: Handeln mit angezogener Handbremse! ({1}) Beispiel eins: das Auto. „Wir wollen ein Verkehrssystem, das die Mobilität aller Menschen flächendeckend ... gewährleistet. ... Die besonderen AnforderunKarin Rehbock-Zureich gen an Mobilität gerade im ländlichen Raum werden berücksichtigt.“ So der rot-grüne Koalitionsvertrag. Tatsache ist: Die Ökosteuer ist eine Strafsteuer für Menschen im ländlichen Raum geworden. ({2}) Am 1. April 1999 wurden die ersten sieben Pfennig kassiert, bis zum Jahre 2003 werden es 35 Pfennig sein. Der ADAC spricht von einer Zusatzbelastung für den Autofahrer bei 15 000 Jahreskilometern von 1400 DM. Der Bund der Steuerzahler, der die Kfz-Steuer mit einrechnet, geht bei einem Pendler mit 27 500 Jahreskilometern und einem Hubraum von 1,8 Litern von einer Zusatzbelastung von jährlich 603,36 DM durchschnittlich aus. Das heißt, fünf Jahre Ökosteuer bedeuten für eine Landfamilie 3016,80 DM Mehrausgaben - eine einseitige Mehrbelastung für den, der nicht umsteigen kann. Das ist unfair, das ist ungerecht. Es trifft die Schwächeren in unserer Gesellschaft. ({3}) Im März 1998 haben die Bündnisgrünen in ihr Wahlprogramm für die Bürger der Bundesrepublik geschrieben: „Kommt die Ökosteuer, wird die Kfz-Steuer gestrichen und ... es kommt zu einem sozialen Ausgleich für die Pendler.“ Fehlanzeige für beide Zusagen. In Magdeburg versprochen, in Berlin gebrochen. ({4}) Beispiel zwei: die Bahn. „Die Bahn muss beim Güter- und Personenverkehr Vorrang erhalten. Die Wettbewerbsbedingungen müssen zugunsten der Bahn verändert werden.“ So das SPD-Grundsatzpapier vom April 1998 in Leipzig. ({5}) Tatsache ist: Der Bahnstrom steigt nach Aussage des neuen Bahnchefs Hartmut Mehdorn um 100 Prozent in den nächsten drei Jahren. ({6}) Eine steuerliche Belohnung für umweltgerechtes Handeln gibt es nicht. Die Bahn wird teurer. Um die Bahn auch beim Gütertransport wettbewerbsfähig zu machen, wären dreimal so viel Investitionen in das Schienennetz notwendig - so der Bahnchef. Die Verlagerung von Gütern von der Bahn auf die Straße wird also weitergehen. Die zugesagten Wettbewerbsvorteile für die umweltfreundliche Schiene fallen aus. Das Bahn-Fazit: In Leipzig versprochen, in Berlin nicht eingehalten! ({7}) Beispiel drei: der Transrapid, über den schon gesprochen worden ist. „Die Magnet-Schwebebahn ist eine hoch entwickelte Technologie. Grundlage für die Realisierung ... sind die Vereinbarungen im Eckpunktepapier ... vom April 1997.“ So der Koalitionsvertrag. Die Grundlage hat sich bis heute nicht verändert. Erst kürzlich hat sich Bundeskanzler Schröder wieder eindeutig für den Transrapid ausgesprochen. Der Verkehrsminister Klimmt, die Minister Eichel und Müller, Herr Müntefering, die Ministerpräsidenten Clement, Runde und Stolpe, sie alle sind für den Transrapid. Leider sind viele Bündnisgrüne und Frau Simonis in Kiel dagegen. Sie betreiben eine Dauerblockade gegen ein Zukunftsprojekt, das auf der Welt einmalig ist. Fünfmal ist die Entscheidung verschoben worden. Aber über 1 Milliarde DM stehen im Bundesverkehrswegeplan bereit. ({8}) Die Strecke Hamburg-Berlin ist fix und fertig ausgeplant. Im Herbst könnte der Bau beginnen, wenn die Bundesregierung zügig zu Potte käme. 17 Monate ist sie bereits im Amt; doch die Bündnisgrünen sperren sich immer noch gegen dieses bedeutendste Verkehrsprojekt Europas und der Welt. ({9}) Das Transrapid-Fazit: In Bonn noch gewollt, in Berlin den Bündnisgrünen Tribut gezollt. ({10}) Beispiel vier: der ÖPNV. „Wir wollen den ÖPNV durch ... Modernisierung zu einer Alternative für den Individualverkehr ausbauen." - So das grüne Grundsatzprogramm. Tatsache ist: Die Ökosteuer bewirkt das Gegenteil. Sie ist eine Mogelpackung. Bei den Verkehrsbetrieben in meinem Wahlkreis Schleswig-Flensburg sind bei 185 Bussen Energiemehrkosten von 130 000 DM jährlich entstanden. ({11}) Eine Preiserhöhung steht an, die besonders Schüler und Rentner trifft. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund rechnet mit 500 Millionen DM an ÖPNV-Zusatzkosten für die betroffenen Gemeinden. Mindestens 5 Prozent Fahrpreissteigerung durch die Ökosteuer sind seine Prognose. ({12}) Höhere Preise senken die Attraktivität des ÖPNV. Das Fazit: Von Grün den Bürgern versprochen, von Grün gebrochen. ({13}) Beispiel fünf: „Verkehrsinvestitionen sind für nachhaltiges Wachstum unverzichtbar.“ So der Koalitionsvertrag. Richtig. Tatsache ist: 11,8 Milliarden DM hat man bereits gekürzt. In den kommenden vier Jahren - so die Hiobsbotschaften aus den Haushaltsunterlagen werden bei der Straße 1,4 Milliarden DM, bei der SchieWolfgang Börnsen ({14}) ne 750 Millionen DM und bei den Wasserstraßen 460 Millionen DM gestrichen. Dazu kommen noch jährliche Regelkürzungen von 900 Millionen DM. Das bedeutet 3,5 Milliarden DM weniger für den Ausbau von Verkehrswegen. Tatsache ist, dass es auch im Investitionsprogramm zu einer Verlagerung kommt, weil erst im Jahre 2003 der Bundesverkehrswegeplan greift. Das bedeutet eine Verlagerung von Investitionen von insgesamt 5 Milliarden DM. Wer diese Resultate mit Ankündigungen im Koalitionsvertrag vergleicht, der muss feststellen: In Bonn formuliert, in Berlin degradiert. ({15}) Letztes Beispiel: Schleswig-Holstein. ({16}) Alle wichtigen Verkehrsprojekte für das Land zwischen den Meeren seien in trockenen Tüchern, so der damalige Bundesverkehrsminister Franz Müntefering in Kiel. ({17}) Tatsache ist: Auch in meinem Heimatland sind diese drastischen Mittelkürzungen und Planverschiebungen spürbar. Der Ausbau der A 7 ist plakativ angekündigt, aber weder gesetzlich noch finanziell gesichert. ({18}) Die westliche Elbquerung ist angekündigt, aber weder gesetzlich noch finanziell gesichert. ({19}) Die Fehmarnbeltquerung ist angekündigt, aber weder gesetzlich noch finanziell gesichert. Erst im Jahre 2003 soll nach dem Willen der Bundesregierung ein neuer Verkehrswegeplan greifen. Das bedeutet für Schleswig-Holstein konkret: Wir diskutieren derzeit Phantomprojekte - nach dem Motto: In Kiel präsentiert, in Berlin demontiert. ({20}) Diese wenigen Beispiele beweisen: Eine gestaltende Verkehrspolitik mit europäischer Verantwortung findet derzeit in Deutschland nicht statt. Verkehrswege und Verkehrsträger werden nicht optimiert, sondern reduziert. ({21}) Der Autofahrer zahlt durch jährliche Steuererhöhungen die Zeche.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Börnsen, leider ist auch bei Ihnen die Redezeit abgelaufen.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. Würde man nur 10 Pfennige von der Ökosteuer für den Ausbau von Verkehrsprojekten nutzen, ({0}) hätte der Verkehrsminister 7 Milliarden DM jährlich in der Kasse. ({1}) Das hieße vernünftige Verkehrspolitik. Auf jeden Fall gilt: Die drastische Rücknahme von Infrastrukturinvestitionen schadet dem Verkehrsstandort Deutschland, schadet dem Wirtschaftsstandort Deutschland und letzten Endes auch dem Lebensstandort Deutschland. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Weis.

Reinhard Weis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002457, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Verkehrsinfrastrukturinvestitionen sind Schlüsselinvestitionen für die Verbesserung von Standortbedingungen; da sind wir uns hier im Haus einig. Für die ostdeutschen Länder gilt das wegen des noch immer vorhandenen Infrastrukturdefizites in ganz besonderer Weise. Auch darüber, so denke ich, sind wir uns in diesem Hause einig. Es gibt Wirtschaftsforschungsinstitute, die sagen, dass man deshalb alle besonderen Förderinstrumente für die Entwicklung der ostdeutschen Bundesländer infrage stellen könnte, die Verkehrsinfrastrukturförderung aber noch mindestens für 10 Jahre bevorzugt aufrechterhalten muss. Seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation und der Wiedervereinigung ist die Bedeutung der Bundesrepublik Deutschland und damit der ostdeutschen Länder als Haupttransitregion in Europa ganz immens gestiegen. Das ist für uns eine positive Entwicklung. Sie stellt aber an die Verkehrspolitik Anforderungen ganz besonderer Art. In den neuen Bundesländern kommt eine wichtige Erblast aus der DDR-Zeit, die die Menschen und ihre Lebensqualität besonders unmittelbar berührt, hinzu. Trotz enormer Anstrengungen fehlt noch immer eine Vielzahl von Ortsumgehungen. Wolfgang Börnsen ({0}) Wenn ich von den bereits erbrachten Anstrengungen spreche, dann möchte ich die in den vergangenen Jahren geleistete Arbeit ausdrücklich würdigen, nicht nur auf der Basis des Straßenbauberichtes 1998, den wir heute mit behandeln, sondern vor allem aus der ganz persönlichen Erkenntnis der in der Tat verbesserten Verhältnisse. ({1}) Viele Ortsumgehungen sind gebaut, große Verkehrsbelastungen konnten aus den Innenstädten herausgeführt werden. Das Gleiche gilt für den Bau von Fernstraßen und Bundesautobahnen, auch für die Straßen, die in Veranwortung der Länder und Landkreise gebaut bzw. instand gesetzt wurden. Daran gibt es nichts auszusetzen. Es gibt aber sehr wohl etwas auszusetzen, wenn aus dieser Sachlage falsche Schlüsse gezogen werden. Das Gleiche gilt für den Bau von Fernstraßen und Bundesautobahnen, auch für die Straßen, die in Verantwortung der Länder und Landkreise gebaut bzw. instand gesetzt wurden. Daran gibt es nichts auszusetzen. Es gibt aber sehr wohl etwas auszusetzen, wenn aus dieser Sachlage falsche Schlüsse gezogen werden. Die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, die uns heute einen Antrag vorgelegt haben, den wir mit beraten, tun dies aber. Dieser Antrag beruht auf falschen Schlüssen und Aussagen. Ich will zwei Punkte, die für uns Ostdeutsche sehr wichtig sind, besonders hervorheben: Sie fordern die Bundesregierung auf, die Investitionsquote für den Bundesfernstraßenbau entsprechend der bisherigen und der zu erwartenden Verkehrsleistung des Straßengüter- und Straßenpersonenverkehrs zu erhöhen. Sie fordern auch, die investiven Voraussetzungen für eine weitgehend staufreie Verkehrsabwicklung zu schaffen, wobei der Entlastung von Städten und Gemeinden durch den Bau von Umgehungsstraßen besondere Bedeutung zukommt. ({2}) - Das ist an und für sich nicht verkehrt. Wie aber schon in der Ausschussberatung behandelt, suggerieren Sie mit diesem Antrag und den darin enthaltenden Forderungen, Sie hätten alles getan und die Bundesregierung tue dies nicht. Das kann ich so nicht stehen lassen. Sie ignorieren wider besseres Wissen die Haushaltszahlen sowohl dieses Jahres als auch des vergangenen Jahres in Bezug auf die Mittel, die für die neuen Bundesländer bereitgestellt wurden bzw. werden. Auch dies haben wir im Verkehrsausschuss besprochen und richtig gestellt. Ich möchte das in der Öffentlichkeit wiederholen. Der Ansatz von 8,2 Milliarden DM für die Sicherung der Straßenverkehrsinvestitionen - das wurde heute schon angesprochen -, der exakt in der Größenordnung vergangener Ansätze liegt, zeigt, dass es keine Kürzungen gibt. 1999 wurden allein 18 Prozent der Verkehrsinvestitionen für die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ aufgewendet. Bis 2002 wird sich dieser Anteil auf rund 20 Prozent erhöhen - wohlgemerkt nur für die VDE. Von den Straßenbauprojekten des vordringlichen Bedarfes werden rund 60 Prozent der Investitionen auf die neuen Bundesländer konzentriert. Bei den Schieneninvestitionen entfallen bis 2002 45 Prozent der Mittel auf die neuen Bundesländer. Allein diese Zahlen belegen meinen eingangs erwähnten Schwerpunkt unserer Verkehrspolitik für die ostdeutschen Länder. Wie ich schon sagte, beschäftigt uns Politiker aus den ostdeutschen Ländern insbesondere das Thema der Ortsumgehungsstraßen. Es beschäftigt uns allerdings wegen eines besonders ärgerlichen Erbes, das wir jetzt zu bewältigen haben, auf ganz besondere Weise. Die SPD hat lange vor Übernahme der Regierungsverantwortung, nachweislich seit der Diskussion um den Bundesverkehrswegeplan 1992, immer wieder darauf hingewiesen, dass für die Realisierung dieses Bedarfsplanes keine finanzielle Absicherung gegeben ist. Das Wort von der Unterfinanzierung hören Sie nicht gern. Wir haben das heute mehrfach erfahren. Heute haben wir Ihre Suppe auszulöffeln. Ich kann mir vorstellen, dass es großen Spaß gemacht hat, von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt zu ziehen, um als willkommener Gast dringend gebrauchte Ortsumgehungen anzukündigen. Wir können uns das umso besser vorstellen, als wir diejenigen sind, die nun die bitteren Wahrheiten auf den Tisch legen müssen. Wir müssen bei uns zu Hause erklären, dass das erforderliche Geld für die von Ihnen versprochenen Ortsumgehungen von Ihnen nicht in erforderlichem Maße eingestellt war. ({3}) Herr Staatssekretär Ibrügger hat kürzlich Ihre unsolide Finanzierungspraxis dokumentiert. Abgesehen von den VDE waren nach der mittelfristigen Finanzplanung Ihres Finanzministers Waigel 1998 insgesamt 15 Prozent der Hauptbautitel nicht gedeckt. Im Jahre 2002 wären es nach Ihrer Finanzplanung bereits 30 Prozent gewesen. Was hätten Sie bloß der Bevölkerung gesagt bzw. heute getan, wenn Sie in der Regierungsverantwortung geblieben wären? ({4}) Damit haben Sie wohl aber wirklich nicht mehr gerechnet, denn Ihre Finanzplanung für die Zeit nach dem Jahre 1998 folgte offenbar dem Motto: Nach mir die Sintflut. ({5}) Nun komme ich zu den alternativen Finanzierungsmöglichkeiten für den Straßenbau, die Sie in Ihren Anträgen erwähnt haben. Natürlich möchten auch wir mehr Geld in den Verkehrshaushalt einstellen. Deshalb ist von Bundesminister Klimmt die Kommission ins Leben gerufen worden, die die Möglichkeiten zusätzlicher privater Finanzierung von Bundesstraßen durchleuchtet. Insofern laufen die Forderungen des F.D.P.Antrages ins Leere. Wir brauchen heute keinen Beschluss aus dem hohlen Bauch. Lassen Sie uns die Ergebnisse der Kommissionsarbeit abwarten und dann entscheiden! Reinhard Weis ({6}) Ansonsten möchten die alten Koalitionspartner gern die Ökosteuer zur Finanzierung von Verkehrsprojekten heranziehen. Sie alle wissen, dass die Ökosteuer zur Absenkung der Lohnnebenkosten verwendet wird. Der Faktor Arbeit muss billiger werden, wenn wir die Voraussetzungen für zusätzliche Arbeitsplätze schaffen wollen. ({7}) Ich finde es bedauerlich, dass Sie mit der Diffamierung unserer Politik hinter Ihren eigenen Erkenntnisstand von 1997 zurückfallen. Bereits 1997 hat zum Beispiel Ihr Parteivorsitzender Wolfgang Schäuble vor dem Umweltarbeitskreis der CDU festgestellt - ich zitiere das aus der „Frankfurter Rundschau“ -: Es führt kein Weg daran vorbei: Der Straßenverkehr, und zwar der Güterverkehr ebenso wie der Personenverkehr, ist zu billig zu haben. Die Preise spiegeln die wahren Kosten nicht wider. ({8}) Wir werden den Straßenverkehr teurer machen müssen, - so Wolfgang Schäuble! gerade in Deutschland. In den meisten anderen europäischen Ländern liegt der Benzinpreis höher als bei uns. ({9}) - Ja, wo er Recht hat, hat er Recht. Zählt die CDU/CSU das Thema Umweltschutz immerhin noch zu den Kriterien, die bei der Verkehrspolitik zu berücksichtigen sind, zeigt der F.D.P.-Antrag hier gar kein Verantwortungsbewusstsein. Der Titel des Antrages „Straßenbau statt Autostau“ erinnert in seiner Einfalt fatal an den Slogan von gestern „Freie Fahrt für freie Bürger“ und an alle in diesem Zusammenhang stehenden Fehlentwicklungen. ({10}) Fazit ist also: Der Bundesverkehrswegeplan von 1992 war und ist zweifellos unterfinanziert. ({11}) Viele der vollmundig angekündigten Verkehrsprojekte waren von Waigel und Wissmann nicht im Haushalt abgesichert. ({12}) Der alte Bundesverkehrswegeplan wird deshalb überarbeitet. Für die Übergangszeit hat die Bundesregierung mit ihrem Investitionsprogramm bis 2002 verlässliche Planungssicherheit geschaffen. Die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ sind zu ihrer zügigen Fertigstellung finanziell abgesichert. Die Bundesregierung setzt den Aufbau Ost auch bei der Infrastrukturentwicklung mit einem überproportionalen Anteil an den Investitionsmitteln auf unvermindert hohem Niveau fort. Zum Schluss möchte ich mich an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wenden: Herr Fischer hat uns völlig überflüssigerweise empfohlen, wir sollten unsere ideologische Betrachtungsweise ablegen. Ich denke, unsere praktische Politik zeigt, dass wir Verkehrspolitik nicht nach ideologischen Grundsätzen machen. ({13}) Ich sage Ihnen: Wischen Sie sich den Sand, den Minister Wissmann und Minister Waigel in Ihre Augen gestreut haben, heraus und akzeptieren Sie die verkehrs- und finanzpolitischen Wahrheiten, denen wir uns stellen müssen. Danke. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Punkt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/2360, 14/245, 14/1082 und 14/2262 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage auf Drucksache 14/2262 nicht an den Finanzausschuss überwiesen werden soll. Der Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/2576 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden wie der Straßenbaubericht auf Drucksache 14/245. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Interfraktionell wird ferner vorgeschlagen, den Antrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/2582 an folgende Ausschüsse zu überweisen: zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und zur Mitberatung an den Finanzausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, den Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder, den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und den Haushaltsausschuss. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 und 15 a bis 15 f sowie die Zusatzpunkte 6 a und 6 b auf: 6. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur NeuReinhard Weis ({0}) ordnung seuchenrechtlicher Vorschriften ({1}) - Drucksache 14/2530 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 15. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 4. August 1995 zur Durchführung der Bestimmungen des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982 über die Erhaltung und Bewirtschaftung von gebietsübergreifenden Fischbeständen und Beständen weit wandernder Fische - Drucksache 14/2421 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({3}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. August 1998 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Mexikanischen Staaten über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 14/2422 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4}) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 5. November 1998 zwi- schen der Bundesrepublik Deutschland und Antiqua und Barbuda über die Förde- rung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 14/2423 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Diemers, Maria Eichhorn, Hannelore Rönsch ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Initiative zur Schaffung von alternierenden Telearbeitsplätzen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten im Rahmen des Umzuges von Bonn nach Berlin - Drucksache 14/1313 Überweisungsvorschlag: Ältestenrat ({6}) Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Eva-Maria Bulling-Schröter, Carsten Hübner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Keine Hermesbürgschaften für den IlisuStaudamm in der Türkei - Drucksache 14/2336 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung f) Beratung des Antrags des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes“ für das Wirtschaftsjahr 1998 - Drucksache 14/2484 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({8}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ZP 6 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({9}) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung atomrechtlicher Vorschriften für die Umsetzung von EURATOMRichtlinien zum Strahlenschutz - Drucksache 14/2443 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10}) Ausschuss für Gesundheit b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grenzüberschreitende Zusammenarbeit zur Stärkung des Schutzes der Böden - Drucksache 14/2567 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({11}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen zu den Tagesordnungspunkten 6 und 15 a bis 15 f an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überwei- sen, wobei der Antrag auf Drucksache 14/2336 zusätz- lich an den Ausschuss für Menschenrechte und humani- täre Hilfe gehen soll. Einverstanden? - Ja. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Zum Zusatzpunkt 6 wird interfraktionell vorgeschla- gen, die Vorlage auf Drucksache 14/2443 zur federfüh- renden Beratung an den Ausschuss für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Ausschuss für Gesundheit zu überweisen. Gibt es Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind auch diese Überweisungen so beschlossen. Die Vorlage auf Drucksache 14/2567 soll zur feder- führenden Beratung an den Ausschuss für Umwelt, Na- turschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss für Ernäh- rung, Landwirtschaft und Forsten, den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi- schen Union überwiesen werden. - Andere Vorschläge sehe ich nicht. Dann ist auch das so beschlossen. Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 16 a bis 16 m sowie zum Zusatzpunkt 7. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Wir werden jetzt eine Reihe von Abstimmungen haben. Tagesordnungspunkte 16 a bis 16 d: Abschließende Beratung ohne Aussprache a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 11. Dezember 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik El Salvador über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 14/1840 ({12}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({13}) - Drucksache 14/2539 - Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. August 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Turkmenistan über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 14/1842 ({14}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({15}) - Drucksache 14/2540 - Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. September 1996 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der mazedonischen Regierung über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 14/1843 ({16}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({17}) - Drucksache 14/2541 - Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz d) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. März 1997 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kroatien über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 14/1844 ({18}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({19}) - Drucksache 14/2542 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Ich gehe davon aus, dass wir über diese vier Vertragsgesetze gemeinsam abstimmen können. - Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf den Drucksachen 14/2539, 14/2540, 14/2541 und 14/2542, die Gesetzentwürfe unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die den Gesetzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erheben. - Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Die Gesetzentwürfe sind damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Tagesordnungspunkt 16 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({20}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Friedrich ({21}), Friedrich Merz, Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Deutschland muss verlässlicher Partner in europäischer Raumfahrt bleiben - Drucksachen 14/655, 14/1350 Berichterstattung: Abgeordnete Lothar Fischer ({22}) Ilse Aigner Hans-Josef Fell Cornelia Pieper Angela Marquardt Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/655 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden. Tagesordnungspunkt 16 f: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({23}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer ({24}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Hannelore Rönsch ({25}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Satellitennavigationssystem Galileo - Drucksachen 14/945, 14/2217 Berichterstattung: Abgeordneter Reinhold Hiller ({26}) Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/945 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen; die PDS hat sich enthalten. Tagesordnungspunkt 16 g: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({27}) zu der Unterrichtung über ein Unionsdokument gemäß § 93 Abs. 2 GO-BT Entwurf einer Entschließung des Rates zur sozialen und arbeitsmarktspezifischen Dimension der Informationsgesellschaft - Drucksachen 14/2211 Nr. 2.1, 14/2346 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Irmgard Schwaetzer Der Ausschuss empfiehlt, die Haltung der Bundesregierung zu unterstützen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 16 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 111 zu Petitionen - Drucksache 14/2532 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 111 ist angenommen mit den Stimmen aller Fraktionen bis auf die PDS, die sich der Stimme enthalten hat. Tagesordnungspunkt 16 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 112 zu Petitionen - Drucksache 14/2533 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 112 ist ebenfalls mit dem eben festgestellten Stimmenverhältnis angenommen worden, also mit den Stimmen aller Fraktionen bis auf die PDS, die sich der Stimme enthalten hat. Tagesordnungspunkt 16 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30}) Sammelübersicht 113 zu Petitionen - Drucksache 14/2534 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 113 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen alle Oppositionsstimmen angenommen worden. Tagesordnungspunkt 16 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschuss ({31}) Sammelübersicht 114 zu Petitionen - Drucksache 14/2535 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 114 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden. Tagesordnungspunkt 16 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32}) Sammelübersicht 115 zu Petitionen - Drucksache 14/2536 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 115 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen alle Oppositionsstimmen angenommen worden. Tagesordnungspunkt 16 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33}) Sammelübersicht 116 zu Petitionen - Drucksache 14/2537 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 116 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS angenommen worden. Zusatzpunkt 7: Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache ({34}) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung von Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet des Berufsrechts der Rechtsanwälte - Drucksache 14/2269 ({35}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({36}) - Drucksache 14/2594 Berichterstattung: Abgeordnete Alfred Hartenbach Norbert Röttgen Rainer Funke Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Haltung der Bundesregierung zu Berichten über Defizite bei der Pflegeversicherung und Auswirkungen auf die soziale Sicherheit alter Menschen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Ulf Fink.

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das, wovor ich im Namen der CDU/CSU-Fraktion nun schon seit Monaten warne und was von der Regierungskoalition immer abgestritten wurde, ist jetzt amtlich: Die Finanzentwicklung der Pflegeversicherung ist im vergangenen Jahr erstmals seit Bestehen der Pflegeversicherung defizitär. Zwar ist das Defizit von 74 Millionen DM im vergangenen Jahr noch verhältnismäßig gering, aber - das ist das Entscheidende - diese Finanzentwicklung belegt auf bestürzende Weise die Vorausschätzungen des Bundesversicherungsamtes vom 18. Oktober vergangenen Jahres. Diese Vorausschätzungen hatten zum Ergebnis, dass die Zahlungsfähigkeit der Pflegeversicherung im Jahre 2002, also noch in dieser Legislaturperiode, nicht mehr gewährleistet ist. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, dies ist nicht lediglich das Ergebnis der zunehmenden Zahl von Pflegefällen, sondern das Ergebnis Ihrer Politik. ({0}) Sie haben sich am Geld der Pflegeversicherung bedient, um den Bundeshaushalt zu sanieren. ({1}) 400 Millionen DM haben Sie jährlich der Pflegeversicherung an Einnahmen entzogen. Ihre Entscheidung, der Pflegeversicherung nur noch Beiträge von der Arbeitslosenhilfe auf der Grundlage des tatsächlichen Zahlbetrages und nicht, wie bisher, auf der Grundlage von 80 Prozent des früheren Bruttoentgelts zu zahlen, erweist sich schon jetzt als gänzlich unverantwortlich. ({2}) Sie sparen damit zu Lasten der Schwächsten in unserer Gesellschaft, nämlich der Pflegebedürftigen, die sich nicht wehren können. Da, wo Sie Widerstand gespürt haben, im Gesundheitswesen, bei den Krankenkassen, sind Sie zurückgezuckt. Da werden nach wie vor Beiträge auf der Grundlage von 80 Prozent des früheren Bruttogehalts gezahlt. Vor den Mächtigen kuschen Sie, bei den Schwachen greifen Sie zu. Das nenne ich eine Sozialpolitik nach dem Urwaldprinzip. ({3}) Sie haben es zu verantworten, dass die Pflegeversicherung selbst zum Pflegefall wird. Marc Hujer kommentiert Ihr Vorgehen in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 18. Januar dieses Jahres damit, dass es gerade diese Haltung ist, „die die rot-grüne Koalition für ihre weiteren Vorhaben unglaubwürdig macht“. Er fährt fort: Überall in der Sozialversicherung, insbesondere in der Rentenversicherung, will sie die Zukunftsprobleme mit Kapitalfonds, Zins und Zinseszins lösen. Den Menschen redet sie ein, dass durch mehr Privatvorsorge die Belastungen, die wegen der Alterung der Bevölkerung auf die Sozialsysteme zukommen, bewältigt werden können. Doch den einzigen Sozialversicherungszweig, der dies bisher beherzigte, hat sie dafür bestraft. Ich glaube, diesen Worten von Marc Hujer in der „Süddeutschen Zeitung“ braucht man nichts hinzuzufügen. ({4}) Ich frage Sie: Wo soll nun das Geld herkommen, um den Demenzkranken, den Altersverwirrten zu helfen? Sie haben Hilfe für die Demenzkranken in der Regierungserklärung angekündigt, und diese ist auch dringend notwendig. Wir haben eigene Anträge dazu eingebracht. Aber woher soll denn nun das Geld kommen? Zweitens: Die Pflegeversicherung wurde eingeführt, um mit dem unwürdigen Zustand Schluss zu machen, dass die Pflegebedürftigen reihenweise zu über 80 Prozent in den Pflegeheimen zu Sozialhilfeempfängern wurden. Das war unser gemeinsames Ziel. Aber jetzt schauen Sie tatenlos zu, wie die Preise der Pflegeheime Jahr für Jahr steigen, während die Leistungen der Pflegekassen gleich bleiben. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Mittlerweile liegen die Pflegesätze für die höchste Pflegeklasse in den Pflegeheimen in den alten Bundesländern zwischen 3 300 und 4 300 DM. Da sind noch nicht die Kosten für Unterkunft und Verpflegung enthalten. Diese müssen die Betreffenden sowieso schon alleine bezahlen. Die Pflegeversicherung zahlt aber höchstens 2 800 DM. Seit 1995/96 sind diese Sätze nicht angepasst worden. In allen Vorausschätzungen, auch in denen des Bundesversicherungsamtes, die ich eben zitiert habe, ist überhaupt keine Anpassung dieser Leistungen für die nächsten Jahre vorgesehen. Was ist denn nun mit dem Ziel, die Pflegebedürftigen sozialhilfefrei zu stellen? Drittens: Wie wollen Sie den gesetzlichen Auftrag erfüllen, den Beitragssatz von 1,7 Prozent zur Pflegeversicherung nicht zu überschreiten? Die Situation wird doch immer auswegloser. Sie betreiben eine Vogel-StraußPolitik. Sie fahren mit Ihrer Politik die Pflegeversicherung wissentlich und willentlich an die Wand und sagen immer nur, es wird vermutlich nicht so schlimm kommen. ({5}) Meine Damen und Herren, wir haben Ihnen ein intaktes Erbe, eine Pflegeversicherung mit vollen Kassen hinterlassen. ({6}) Mit über 9,5 Milliarden DM waren die Kassen der Pflegeversicherung gefüllt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Fink, in der Aktuellen Stunde hat man nur fünf Minuten Redezeit. Wir werden das streng handhaben.

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Geben Sie Auskunft darüber, was Sie mit diesem Erbe angefangen haben. Die Millionen von Pflegeversicherten und Pflegebedürftigen haben ein Recht darauf. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Regina Schmidt-Zadel.

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Fink, das von Ihnen als Anlass für die heutige Aktuelle Stunde bemühte angebliche Defizit in der gesetzlichen Pflegeversicherung ist ein alter Hut. Das müssten Sie wissen. ({0}) Die Entwicklung ist längst bekannt und ist auch voraussehbar gewesen. Lesen Sie dazu doch einmal den ersten Pflegebericht der Bundesregierung vom März 1998. Dort werden Ihnen - noch unter Norbert Blüm - neben der Finanzschätzung auch die Gründe dafür geliefert, warum in den kommenden Jahren der bisherige jährliche Überschuss zu einem Defizit von 670 Millionen DM in diesem Jahr und von 70 Millionen DM im Jahr 2003 wird. ({1}) - Hören Sie mir bitte zu, ich komme noch darauf zu sprechen. Die Gründe dafür sind die Zunahme der kostenintensiven Pflege, Sachleistungen im ambulanten Bereich, der demographische Faktor und die Mehrkosten durch den Anstieg des Anteils der höheren Pflegestufe. ({2}) Die 400 Millionen DM, die der Pflegeversicherung aufgrund der veränderten Bemessungsgrundlage fehlen, sind nur ein Teil der Wahrheit. Auch das wissen Sie. ({3}) Natürlich wäre es wünschenswert, wenn wir dieses Geld für notwendige Verbesserungen zur Verfügung hätten. ({4}) Aber die Bewältigung der finanziellen Schieflage, die Sie uns hinterlassen haben, ({5}) lässt uns auch in diesem Bereich keinen Spielraum. ({6}) Wenn Sie das jetzt kritisieren und in der Bevölkerung Proteste wegen eines angeblichen Pflegenotstands schüren, verschweigen Sie den Bürgerinnen und Bürgern, dass es vor allem die Folge der vorgefundenen finanziellen Erblasten Ihrer Regierungszeit ist, die wir heute bewältigen müssen. ({7}) Ich denke, dass wir an dieses Thema sachlich herangehen sollten. Für Schnellschüsse, wie Sie sie jetzt bringen, und für billige Polemik, Herr Fink, oder gar als Ablenkung von anderen politischen Debatten ist ein so sensibler Bereich wie die Pflegeversicherung nicht geeignet. ({8}) Wenn ich Ihre Erklärungen aus der letzten Zeit betrachte, Herr Fink, dann drängt sich mir dieser Verdacht auf. Ich denke, er drängt sich nicht nur mir, sondern auch vielen Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land auf. ({9}) Ich will einen wunden Punkt ansprechen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Zahl der Arbeitslosen während Ihrer Regierungszeit merklich gesunken wäre. ({10}) Im Gegenteil, Sie haben den Anstieg auf über 400 Millionen Arbeitslose in diesem Land politisch zu verantworten. ({11}) - Sie haben den Anstieg auf über 4 Millionen Arbeitslose politisch zu verantworten. ({12}) Rechnen Sie sich einmal aus, welchen Mittelbestand die Pflegeversicherung heute hätte, wenn Sie seinerzeit den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit ernst genommen hätten. ({13}) Auch Ihr Vorwurf, für Leistungsverbesserungen sei kein Geld da, zielt ins Leere. Wahr ist: Die Koalition hat bereits zu Beginn dieser Legislaturperiode Verbesserungen durchgesetzt, die Sie längst hätten durchsetzen müssen ({14}) und die Sie wegen Ihres Koalitionspartners - Herr Parr, da sind Sie gefragt - damals nicht durchgesetzt haben. Wahr ist: Die Union hat heute das große Wehklagen angestimmt - Herr Fink ist der Anführer -, aber ihre Behauptung, sie hätte in der letzten Wahlperiode Verbesserungen auf den Weg gebracht, wenn es ihr Koalitionspartner nur zugelassen hätte, ist scheinheilig. ({15}) Meine Damen und Herren, die Koalition lässt sich die Pflegeversicherung nicht schwarz malen. ({16}) Das will ich ganz klar sagen. Unsere Devise heißt: Verbesserungen vornehmen, wo Verbesserungen notwendig sind, und die finanziellen Grundlagen der Pflegeversicherung durch Erfolge beim Abbau der Arbeitslosigkeit stabilisieren. ({17}) Ich rufe Sie auf - hören Sie mir bitte gut zu -, die Pflegeversicherung nicht zum Spielball im politischen Tagesgeschäft zu machen. ({18}) Nehmen Sie die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen ernst. Beteiligen Sie sich sachlich und konstruktiv an der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. Billige Wahlkampfpolemik auf dem Rücken der Pflegebedürftigen führt zu nichts, meine Damen und Herren. ({19}) Die Pflegeversicherung - Herr Fink, hören Sie gut zu - braucht keine Aktuellen Stunden im Deutschen Bundestag. Sie benötigt Lesungen von Gesetzentwürfen, die Verbesserungen bringen. Wir werden die Entwürfe in nächster Zeit einbringen. Sie haben dann die Gelegenheit, im Interesse der Pflegebedürftigen zu beweisen, wie ernst Ihnen diese Sache ist. ({20})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Detlef Parr. ({0})

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Elisabeth Flickenschildt hat einmal in Düsseldorf gesagt, man spricht von kleinem, großem und mittlerem Echauffement. Ich glaube, Frau Schmidt-Zadel, mit dem großen Echauffement lösen Sie die Probleme nicht, die wir dabei sind hier zu diskutieren. Hätten wir die Pflegeversicherung auf andere ordnungspolitische Säulen gestellt, dann hätten wir uns die heutige Debatte vielleicht sparen können. ({0}) Es sollte anders sein. Nun müssen wir feststellen, dass in den letzten Monaten der Pflegeversicherung vermeidbare Belastungen zugemutet worden sind. Wir alle wissen, wie das aussieht, und es bedarf keiner hellseherischen Fähigkeiten, um erkennen zu können, wohin die Politik, die Sie betreiben, führt. ({1}) Woher nehmen Sie, meine Damen und Herren von der SPD und den Grünen, und Sie, Frau Staatssekretärin, eigentlich Ihren Optimismus, mit einem „Weiter so“ die erkennbaren Hürden in Angriff zu nehmen? Wir alle kennen doch die demographische Entwicklung, wir alle kennen die lebensverlängernden Folgen des rasanten medizinischen Fortschritts. Wie wollen Sie eigentlich diesen Tatsachen Rechnung tragen? Wie leichtfertig gehen Sie eigentlich mit diesen Argumenten um? Wenn Sie sich die Zahlen und Prognosen des Bundesversicherungsamtes genau anschauen, dann müsste Ihnen doch eigentlich angst und bange werden. Der Trend zu einer wachsenden Zahl von Pflegebedürftigen hält ungebrochen an. 1996 hatten wir circa 1,2 Millionen Menschen, die Leistungen aus der Pflegeversicherung erhielten. In diesem Jahr ist ihre Zahl bereits auf 1,8 Millionen angewachsen. Frau Schmidt-Zadel, wir wissen, dass die ambulante Pflege abnimmt, während die stationäre zunimmt. Auch das wird Kostenfolgen haben. In eine solche Situation hinein setzen Sie einen Verschiebebahnhof zwischen verschiedenen Zweigen der sozialen Sicherung in Gang. Das, was Sie da getan haben, ist leichtfertig. ({2}) Sie sorgen damit dafür, die finanzielle Basis für die soziale Absicherung im Pflegefall zu unterminieren. Es ist genau das eingetreten, was wir immer befürchtet und wovor wir immer gewarnt haben. Kollege Fink hat das erwähnt: Wo Gelder im Zugriffsbereich des Staates angehäuft werden, entstehen Begehrlichkeiten. In Zeiten knapper Kassen ist dann die Hemmschwelle sehr niedrig, sich an solchen Töpfen zu vergreifen. Genau das haben Sie getan. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass man diesen Weg nur in der Pflegeversicherung beschritten hat, nicht hingegen in der Krankenversicherung. Unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten ist das nicht zu rechtfertigen, meine Damen und Herren. Der Tatsache einer überproportionalen Zunahme älterer Menschen und damit verbunden einer überproportionalen Zunahme pflegebedürftiger Menschen müssen wir anders Rechnung tragen. Dieses Problem kann eben nicht über eine Reservenbildung in der gesetzlichen Pflegeversicherung gelöst werden, denn dieses Geld ist eben vor dem Zugriff nicht sicher. Wir müssen etwas anderes tun. Die demographischen Probleme, die wir zurzeit in der Rentenversicherung diskutieren, betreffen nämlich die Pflegeversicherung in gleichem Maße. Sie werden zu genauso großen Verwerfungen führen, wenn nicht frühzeitig gehandelt wird. Auch in der Pflegeversicherung muss klar gesagt werden, dass an einem höheren Maß an Eigenvorsorge kein Weg vorbei führt. ({3}) Die Pflegeversicherung ist keine Vollkosten- oder Vollkaskoversicherung. Sie kann es unter den gegebenen Umständen ja auch gar nicht sein. ({4}) - Nein, Herr Kirschner, aber das ist vielen Menschen nicht bewusst. Ich denke, hier ist mehr Aufklärung erforderlich, mehr Ehrlichkeit in der Debatte, und das sollte man den Menschen auch wirklich sagen. ({5}) Für die Zukunft heißt das für die F.D.P., die Leistungen aus der Pflegeversicherung auf diejenigen zu konzentrieren, die diese Hilfe besonders benötigen. Dazu gehört für uns auch, dass wir für die Demenzkranken etwas tun müssen. Das ist über die Fraktionsgrenzen hinweg völlig unstrittig. Über neue Versorgungsformen in diesem Bereich denken wir intensiv nach. Zum Ausbau teilstationärer Betreuungsangebote gehört zum Beispiel auch die Frage, wie man den Transport in diese Einrichtungen vernünftig organisieren kann. Der Aufbau von betreuten Wohngemeinschaften scheint ein anderer Erfolg versprechender Ansatz zu sein, die Demenzkranken so zu betreuen, dass ihnen ein Höchstmaß an Autonomie bleibt. Ich denke, das ist ein wichtiges Ziel, meine Damen und Herren. ({6}) Die Leistungen sollen also nur dort ausgeweitet werden, wo es wirklich notwendig ist, und auch nur dann, wenn es für die Finanzierung entsprechende Deckungsvorschläge gibt. Ein Weiteres: Statt Überschüsse in anderen Sozialversicherungszweigen auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu lassen, sollten sie in die Taschen derjenigen zurückfließen, die sie gesammelt haben, damit ihnen mehr Spielraum verbleibt, die Grundleistungen durch Eigenvorsorge aufzubessern. Dass zu diesem erweiterten Spielraum auch eine Steuerreform gehört - nach den F.D.P.-Grundsätzen: niedriger, gerechter, einfacher -, versteht sich von selbst. „Weniger Staat, mehr privat“ kann dann auch hier unsere Devise sein. Das ist der einzige Ausweg, so denke ich, aus einer Sackgasse, in die Sie uns gerade hineinführen. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Knoche.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Ich habe Verständnis dafür - Herr Fink und Herr Parr, gestatten Sie mir, dass ich das so sage; ich tue es ohne Polemik -, dass Sie ein Interesse daran haben, zu sachpolitischen Fragen zurückzukehren. Aber ich bezweifle, dass dafür ausgerechnet die Finanzentwicklung der Pflegeversicherung das geeignete Thema ist, zumal es dazu schon Aktuelle Stunden gegeben hat und die Thematik von der Ministerin hinreichend öffentlich dargestellt worden ist. Ich war wirklich verwundert über Ihre Rede, Herr Parr. Gut, ideologische Motive können einen oft zu einer fehlgeleiteten Argumentation verführen. ({0}) Aber ich weiß genau, dass die Pflegeversicherung eine rein von Arbeitnehmern finanzierte Versicherung ist. Wie Sie angesichts dieser Tatsache von privater Zusatzvorsorge sprechen können, erschließt sich mir überhaupt nicht. ({1}) Ich erinnere mich sehr gut - ich war seinerzeit dabei -, dass die Gewerkschaften mit der damaligen Regierung den Konflikt um den Erhalt von Feiertagen ausgetragen haben, deren Streichung für die Finanzierung der neuen Versicherung vorgesehen war. Damals ist nach meiner Meinung richtigerweise die Frage aufgeworfen worden - diese Frage haben Sie, Herr Fink, angenehmerweise nicht direkt ausgesprochen, aber doch unterschwellig gestellt -: Wie können wir diesem nicht immer krankenversicherungsgeeigneten Versorgungsbereich gerecht werden? Wie können wir das Risiko absichern? Es gab Abgrenzungsprobleme und Überlegungen, dieses Risiko in die GKV zu übernehmen. Aber die grundlegende Frage war: Warum soll bei der Pflegeversicherung aus der Parität ausgestiegen werden? Angesichts der Tatsache, dass wir auch schon damals wussten, dass die Erfordernisse einer qualitativ hochwertigen Pflege für wachsenden Bedarf sorgen - auch in finanzieller Hinsicht -, war es richtig - ich vertrete diese Haltung auch noch heute -, diesen Versicherungszweig paritätisch anzulegen, um ein sozial-staatliches Selbstverständnis zum Ausdruck zu bringen. Ich halte im Rahmen der heutigen Diskussion um die Zukunftsfähigkeit des gesamten Sozialversicherungssystems kaum eine Frage für aktueller und zukunftsweisender als die nach der Weiterentwicklung der paritätischen Finanzierung. ({2}) Wenn wir uns so sehr an der Beitragssatzstabilität orientieren und die Lohnnebenkosten nicht steigen lassen wollen, dann ist die Erweiterung der solidarischen Versicherung um möglichst breite Erwerbstätigenkreise die richtige Antwort. Den Beweis hat diese Regierung schon durch die Regelungen zu den 630-Mark-Arbeitsverhältnissen erbracht. ({3}) Eigentlich haben Sie vollkommen Recht - ich stimme Ihnen gerne zu - , dass wir bei der zukünftigen Ausrichtung diese Frage im Sinne der Modernisierung und der Gestaltung der Zukunftsfähigkeit beantworten sollten. Es ist seltsam, wenn Sie die heutige Regierung für etwas kritisieren, was wir in der Opposition der damaligen Regierung abringen mussten. Damals wollten Sie auf die Rücklagen der Pflegekasse zugreifen. Wir haben gesagt: „Tut es nicht! Keine Beitragssatzsenkung, keine Fremdverwendung dieser Mittel, weil es Zuwächse geben wird!“ ({4}) Ich denke an die Sicherheit der heutigen Finanzlage. Ich habe keinen Anlass, den Ausführungen der Ministerin an dieser Stelle keinen Glauben zu schenken. Über die jetzt noch vorhandene Stabilität und über die jetzt noch vorhandenen Ressourcen verfügen wir - ich sage nicht „ausschließlich“, denn darüber ist auch innerhalb der Parteien der heutigen Regierungskoalition stark diskutiert worden -, weil wir damals den Griff in die Pflegekassen verhindert haben. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Situation von Menschen, die aktivierende Begleitung, Hilfe oder etwas Ähnliches brauchen - manche nennen das „Pflege“ -, ist immer aktuell. Insofern ist eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema jederzeit gerechtfertigt. Wir kommen nicht umhin, festzustellen, dass gegenwärtig tatsächlich eine Situation eingetreten ist, in der aus einer verhältnismäßig komfortablen finanziellen Ausstattung eine rückläufige Kassenlage geworden ist. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Regierung - Frau Knoche, ich muss Ihnen schon sagen: leider - das, was sie in der Opposition mit uns und mit anderen verhindert hat, zu tun anfängt: Sie beschneidet die Einnahmen der Pflegeversicherung. Man kann auch sagen: Sie fängt an, in die Kasse zu greifen. 400 Millionen DM weniger sind kein Pappenstiel. Das erste Defizit des Jahres ist da. Jedes Jahr 400 Millionen DM weniger sind schon eingeplant. Demente Menschen bleiben unberücksichtigt. Es gibt noch kein einziges Blatt Papier, auf dem steht, wie Sie demente Menschen in die Pflegeversicherung einbeziehen wollen. Es gibt jede Menge Papier, auf dem steht, dass Sie es tun wollen; aber es gibt kein Blatt Papier, auf dem steht, wie Sie es tun wollen. Dies ist so, weil es eben im System der Pflegeversicherung nicht möglich ist. Geistig behinderte Menschen und psychisch kranke Menschen sind in dieser Art Pflegeversicherung - das geht an die Adresse der CDU/CSU - einfach nicht vorgesehen. Was diese Menschen brauchen, kann mit diesem unglaublich somatischen, unglaublich eingeengten Pflegebegriff überhaupt nicht geleistet werden. Leider versucht auch die gegenwärtige Regierung nicht, das zu ändern. Im Allgemeinen werden Menschen mit Behinderungen aus Einrichtungen der Behindertenhilfe zunehmend in Einrichtungen der Pflegeversicherung abgedrängt. Diesen Prozess verzeichnen wir vielerorts. Es ist sehr bedauerlich, wenn pädagogische, soziale und andere aktivierende Leistungen einfach ausgeklammert bzw. ausgegrenzt werden und nur noch Pflege im Sinne von „satt, sauber und trocken“ gewährt wird. Das hat mit Menschenwürde nichts zu tun. ({0}) Man muss in jeder Aktuellen Stunde zu dieser Thematik sagen: Erforderlich wäre, dass wir erst einmal einen ganz anderen Pflegebegriff einführen, der die Aktivierung der Menschen - nicht das „Satt, sauber und trocken“ - in den Mittelpunkt stellt. ({1}) Ich denke an Aktivierung auch in den Fällen hochgradiger Demenz, geistiger Behinderung und körperlicher, psychischer oder sonstiger dauernder Behinderung. Wir brauchen dazu - das kann das Pflegeversicherungsgesetz, so wie es angelegt ist, nicht leisten; deshalb habe ich es nicht gemocht und mag es auch heute noch nicht - ein Leistungsgesetz, das zum Ziel hat, Menschen, die auf aktivierende Hilfe angewiesen sind, voll am Leben der Gemeinschaft teilhaben zu lassen. Sie haben noch nicht einmal dieses Ziel formuliert. Sie sagen: Ein bisschen mehr, aber nicht, dass Menschen mit Behinderungen, Menschen, die auf Pflege, auf Hilfe, auf Assistenz, auf Begleitung angewiesen sind, als Teil der Gesellschaft so anerkannt werden, dass sie mitten in der Gesellschaft gesehen werden und nicht irgendwo am Rande auch noch „mit“ gesehen werden. Darum geht es. ({2}) Es ist ein anderes Menschenbild erforderlich. Dann können wir über aktivierende und sinnvolle Pflege reden. Nun noch ein Wort zu Ihnen von der CDU/CSU. Am Anfang habe ich gesagt, die Aktuelle Stunde ist gerechtfertigt, weil dieses Thema immer aktuell ist. Am 3. Dezember hatten wir, die PDS, einen entsprechenden Änderungsantrag hier im Bundestag vorgelegt. Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, haben ihn „ganz selbstverständlich“ abgelehnt. Das ist nicht gerade dazu angetan, dass Sie jetzt in populistischer Weise ein Samaritergehabe an den Tag legen sollten. Bleiben Sie ehrlich: Entweder Sie stimmen dann zu, wenn es angesagt ist, oder Sie lassen es sein. Eine Sache abzulehnen, nur weil sie von uns kommt, ist ein bisschen am Thema vorbei. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Eva-Maria Kors.

Eva Maria Kors (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits am 24. August vergangenen Jahres brachte die „FAZ“ den Titel: „Pflegeversicherung drohen hohe Defizite“. Das „Handelsblatt“ folgte im Oktober: „Pflegekassen steuern auf Defizite zu - Bundesversicherungsamt rügt Fehlbuchungen der Krankenkassen“. Am 5. November 1999 folgerte die „FAZ“: „In der Pflegeversicherung können Beiträge steigen“. Im „Focus“ vom 17. Januar war zu lesen: „Pflegeversicherung - Vom Milliardenüberschuss in die roten Zahlen“. Angesichts solcher Überschriften, meine Damen und Herren - das ist nur eine kleine Auswahl -, muss man die Fragen stellen, ob die ansonsten so medien- und pressebewusste Regierung keine Zeitung mehr liest. Oder verschließen Sie bewusst die Augen vor dem Problem? Nehmen Sie Gutachten, wenn Sie schon die Opposition nicht hören wollen, ausgewiesener Experten, wie die des Bundesversicherungsamtes, gar nicht mehr ernst? Ein Sprecher des Hauses hat lapidar verkündet, das Ministerium sehe keinen Anlass, über eine Erhöhung der Beiträge nachzudenken. Ist das alles, was zu diesem Thema aus dem Hause kommt? Ich sage Ihnen: Wenn die Regierung ihre Politik im Bereich der Pflegeversicherung weiterhin so betreibt, dann wird es Anlässe en masse dafür geben, dass Beiträge erhöht werden müssen. ({0}) Sie können auch sicher sein: Die CDU/CSU-Fraktion wird nicht lockerlassen und Sie, wenn es denn nicht anders geht, Monat für Monat immer wieder an Ihre Aufgabe erinnern, die finanziellen Grundlagen der Pflegeversicherung zu stabilisieren und die Pflegeversicherung zukunftsfähig zu machen. Niemand von uns will das Ende der Pflegeversicherung. Das unterstellen wir Ihnen auch nicht. Aber wir brauchen unverzüglich eine Reform, damit eine aus gutem Grund geschaffene Säule unserer sozialen Sicherungssysteme nicht ohne Not den Bach heruntergeht. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind es den pflegebedürftigen älteren Menschen in unserem Land schuldig, dass das Risiko einer Pflegebedürftigkeit im Alter auf lange Sicht abgesichert ist, also nicht nur für zwei bis drei Jahre, bis zur nächsten Bundestagswahl. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass es eine richtige Entscheidung war, die Pflegeversicherung einzuführen. Dies darf auf keinen Fall - auch nicht von Ihnen fahrlässig aufs Spiel gesetzt werden. Den Jüngeren muss klar sein, dass die politisch Verantwortlichen in Deutschland alles daransetzen, die Beiträge zur Pflegeversicherung stabil zu halten. Wir dürfen daher die Notwendigkeit von Beitragserhöhungen nicht billigend durch Nichtstun in Kauf nehmen oder gar, wie Sie es in Ihrem Sparpaket getan haben, noch fördern. Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen. Das ist umso weniger zu verstehen, als Sie doch dauernd davon reden, die Probleme etwa in der Rentenversicherung über den Aufbau eines Kapitalstocks lösen zu wollen. Sie reden ebenso ständig davon, eine stärkere private Eigenvorsorge der Bürgerinnen und Bürger trage zur Bewältigung der Probleme bei. Dies ist sicherlich kein falscher Ansatz. Aber gerade da, wo dieses Prinzip bisher ausreichend beherzigt wurde, nämlich bei der Pflegeversicherung, tun Sie genau das Gegenteil. ({2}) Es war und ist unverantwortlich, dass es die Regierung durch Ihre Maßnahmen im so genannten Sparpaket grob fahrlässig riskierte, die Pflegeversicherung zum finanziellen Pflegefall werden zu lassen. ({3}) - Dass Sie das nicht gerne hören, ist klar. - Es waren allein 400 Millionen DM weniger Einnahmen im Jahr infolge der Kürzungen im Sparpaket. Dies geschah ohne Not, nur zum Zwecke des kurzfristigen Stopfens von selbst geschaffenen Haushaltslöchern. Frau Ministerin und liebe Frau Kollegin Schmidt-Zadel, wo war da Ihr hörbarer und spürbarer Protest? Ich habe nicht gehört, dass Sie heute das Gegenteil gesagt haben. Wir alle wissen doch, dass die Pflegeversicherung vor weiteren schwierigen Aufgaben steht. Es ist hier schon die Frage einer Einbeziehung von altersverwirrten Menschen in die Pflegeversicherung genannt worden, ebenso die von der Frau Ministerin so vehement geforderte Diskussion über eine verstärkte Qualitätssicherung in der Pflege. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, stabilisieren Sie erst einmal die Grundlage der Pflegeversicherung, sonst brauchen Sie keine Qualitätssicherung mehr! Wir von der Union haben bereits zu Beginn des letzten Jahres unsere Vorschläge zur langfristigen Sicherung vorgelegt. Unser Konzept, zum Beispiel zur Bildung einer Generationenreserve, liegt Ihnen vor. Ich fordere Sie noch einmal auf: Legen Sie endlich ein eigenes Konzept vor, und lassen Sie uns dann über den besten Weg zur langfristigen Stabilisierung der Pflegeversicherung streiten! ({4}) Aber tun Sie endlich etwas für die pflegebedürftigen Menschen in unserem Land! ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Marga Elser.

Marga Elser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003113, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In jedem von uns schlummert ein kleiner Robin Hood. Dass sich aber nun Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, heute zum Retter der Witwen und Waisen mit einer Aktuellen Stunde zur Pflegeversicherung hochstilisieren wollen, ({0}) hat sicher auch seinen Grund darin, dass der Sheriff von Nottingham hinter Ihnen her ist. ({1}) In diesem Zusammenhang wäre meine Frage an Sie, was sich bei Ihnen in der Einschätzung seit dem 9. September vergangenen Jahres geändert hat. Sie erinnern sich sicher, dass Sie damals zu ebendiesem Thema eine ebenso unnötige Aktuelle Stunde veranstaltet haben. Geändert hat sich für Sie, dass Sie damit nicht gerechnet haben, dass wir das Sparpaket fast vollständig durchsetzen werden. Wir sind damit in der Konsolidierung der Staatsfinanzen einen entscheidenden Schritt nach vorne gekommen. Sie hatten uns diese Aufgabe freundlicherweise vererbt. Anstatt uns bei diesen Aufräumarbeiten zu unterstützen, wie es Ihre Pflicht wäre, erschöpfen Sie sich in Kritteleien und Aktuellen Stunden. ({2}) Um die finanzielle Situation der Pflegeversicherung, meine Damen und Herren von der Opposition, müssen Sie sich keine Sorgen machen. Wer behauptet, dass die Pflegeversicherung gefährdet sei oder gar Auswirkungen auf die soziale Sicherheit alter Menschen zu befürchten seien, handelt grob fahrlässig. Es geht um hochgerechnet 400 Millionen DM Einnahmeverringerung, die auf die Senkung des staatlichen Zuschusses bei den Beiträgen der Arbeitslosenhilfeempfänger zurückzuführen ist. Sie wissen genau, Herr Fink, dass diese Summe nie und nimmer für die Aufnahme der Demenzkranken ausreichen wird. Wir sind dabei, dafür andere und bessere Lösungen zu finden. ({3}) Durch Ihre Panikmache werden gerade die alten, pflegebedürftigen Menschen und ihre Familien verunsichert und verängstigt werden, denen Sie vorgeblich helfen wollen. Aber das war auch schon bei Ihrer Rentenkampagne so zu beobachten; darin haben Sie Übung. Ich erinnere Sie daran, dass es in der Kohl-Regierung 1997 sogar Überlegungen gegeben hat, der Pflegeversicherung einmal eben 4,5 Milliarden DM zu entziehen. Die F.D.P., für die ein jeder seines Glückes Schmied ist, wollte den Beitragssatz senken und hätte damit langfristig enorme Ausfälle in der Größenordnung von 3,6 Milliarden zu Lasten der Pflegekasse zu verantworten gehabt. ({4}) Hier aber geht es um eine Veränderung in der Beitragsbemessung, die - das will ich Ihnen gerne zugestehen - auch uns schmerzt, ({5}) aber als Beitrag zur Konsolidierung des Haushaltes unumgänglich war. Nicht zulässig ist jedoch, diese 400 Millionen DM als jährlichen Einnahmeausfall hochzurechnen. ({6}) Diesen Fehler machen Sie. Zum einen wird auf Jahre hinaus bei einem Beitragssatz von derzeit 1,7 Prozent trotz dieser Einnahmeverluste ein Mittelbestand von mehr als 8 Milliarden DM in der Pflegekasse sein. Zum anderen gehen wir davon aus, dass die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und unsere aktive Arbeitsmarktpolitik dafür sorgen werden, ({7}) dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen - das kann man jetzt schon beobachten - kontinuierlich zurückgeht und durch mehr Beschäftigung auch mehr Geld in die Pflegekasse kommt. ({8}) Natürlich werden auch wir die demographische Entwicklung nicht aus den Augen lassen. Das haben wir hier immer erklärt. Natürlich wird auch der finanzielle Spielraum bei Leistungsverbesserungen begrenzt sein. Aber daraus eine Gefahr für die soziale Lage alter pflegebedürftiger Menschen zu konstruieren, ist schon ein starkes Stück Angstkampagne. Daraus resultieren dann auch von Ihnen so gern zitierte irreführende Pressemeldungen wie zum Beispiel die im „Focus“, wo unter der Überschrift „Vom Milliarden-Überschuss in die roten Zahlen“ ein völlig falsches Bild gezeichnet wird. ({9}) Bei dieser Gelegenheit abschließend noch der Hinweis, dass wir es waren, die in der 14. Legislaturperiode für Änderungen und Klarstellungen von leistungsrechtlichen Vorschriften in der Pflegeversicherung gesorgt haben, die den Pflegebedürftigen und ihren Familien nun wirklich zugute kommen. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat Herr Kollege Zöller das Wort. ({0})

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eines wird hier, wie ich glaube, übersehen. Warum diskutieren wir heute über die Pflegeversicherung? Rot-Grün hat die Einnahmeseite der Pflegeversicherung drastisch verschlechtert. Das müssen Sie einfach zur Kenntnis nehmen. ({0}) In der Koalitionsvereinbarung hat Rot-Grün festgelegt, im Rahmen der Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit insbesondere im Hinblick auf den Betreuungs- und Beaufsichtigungsbedarf bei demenzkranken Menschen eine Verbesserung zu erreichen. ({1}) Ebenfalls sollte die Bildung eines Kapitalstocks in der Pflegeversicherung angestrebt werden. Bis dahin sind wir einer Meinung. Beim 4. Änderungsgesetz wurde jedoch weder etwas für Demenzkranke noch für die Einführung eines Kapitalstocks getan. Demgegenüber hatten die Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen, noch bevor Sie Ihren Gesetzentwurf eingebracht hatten, eine Initiative im Bundesrat ergriffen: Mit dem so genannten Pflegezukunftssicherungsgesetz sollten unter anderem die Bildung des Kapitalstocks und eine bessere Absicherung für Demenzkranke erreicht werden. Unsere damalige Gesetzesinitiative wurde aber schon im Frühjahr 1999 bei den seinerzeit bestehenden Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat von Ihnen abgelehnt. Auch Folgendes ist wahr: Als bei der Beratung im Gesundheitsausschuss diese Thematik von uns wieder aufgegriffen wurde, stimmte Rot-Grün dagegen. Dass Sie diese Vorschläge abgelehnt haben, war für die Betroffenen bestimmt sehr bedauerlich. Aber Ihre Begründung für die Ablehnung dieser Vorschläge ist mehr als ärgerlich. Sie haben nämlich damals diese Vorschläge nicht aus fachlichen, sondern aus rein finanziellen Gründen abgelehnt. ({2}) Im Ausschuss hieß es, diese rund 500 Millionen DM für Demenzkranke seien nicht finanzierbar. Nun bedient sich die gleiche Bundesregierung schamlos bei der Pflegeversicherung, indem sie ihr die rund 500 Millionen DM zugunsten der Bundesanstalt für Arbeit entzieht. Das ist es, was wir Ihnen vorwerfen. ({3}) Wir werfen Ihnen nicht vor, dass Sie nichts getan haben, sondern wir werfen Ihnen Ihre Begründung vor. Sie ist einfach nicht ehrlich. Damit nicht genug: Das nächste selbst gemachte Loch zeichnet sich schon ab; es ist vorprogrammiert. ({4}) - Ich werde Ihnen diese Frage beantworten. - Wenn die Aussagen der gesetzlichen Krankenversicherungen stimmen, dass die von Rot-Grün beschlossene Kürzung der Rentenerhöhung in den nächsten beiden Jahren einen Einnahmeverlust der GKV von rund 2,2 Milliarden DM bedeutet, dann muss es analog dazu in der Pflegeversicherung zu einem Fehlbetrag in dreistelliger Millionenhöhe kommen. Das ist das nächste von Ihnen selbst gemachte Loch. Sie verschlechtern die Einnahmeseite und wundern sich dann, dass für die notwendigen Maßnahmen plötzlich kein Geld mehr da sein soll. ({5}) Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Regierung, ich muss Ihnen sagen: Ihre unredlichen Wahlversprechungen in diesem Zusammenhang holen Sie ein. Auch Rot-Grün wird erkennen müssen: Mit weniger Geld kann man den Menschen nicht mehr versprechen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Für die Bundesregierung erhält jetzt die Staatssekretärin Christa Nickels das Wort.

Christa Nickels (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001601

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich auf das eingehen, was Herr Fink, der für seine Fraktion immer der zuständige Mann für den Bereich Pflegeversicherung war, gesagt hat. Herr Fink, es ist wirklich ein Jammer mit der HerzJesu-Fraktion der CDU/CSU. Nachdem Ihre Vorschläge nach 16 Jahren Regierung Kohl auf dem Altar der Koalitionsraison zugunsten der F.D.P. geopfert worden sind, haben Sie heute noch nicht einmal die richtigen Zahlen im Kopf. Ich möchte zunächst ein paar Zahlen klarstellen. Herr Fink, Sie haben erstens gesagt, im Jahr 1999 hätte die Bundesregierung der Pflegeversicherung 400 Millionen DM entzogen. ({0}) - Das haben Sie gesagt. Sie können es im Protokoll nachlesen. - In diesem Punkt sind die Gäule mit Ihnen durchgegangen. Diese Aussage ist völlig falsch; so ist es nicht gewesen. Die Einsparung gilt nämlich erst ab diesem Jahr; sie ist ein Beitrag zur allgemeinen Konsolidierung. Es handelt sich nicht um eine sadistische Grausamkeit. Auch das wissen Sie. Die alte Bundesregierung hat uns einen riesigen Schuldenberg hinterlassen. So haben Bund und Länder insgesamt 1500 Milliarden DM Schulden. Es müssen über 80 Milliarden DM an Zinsen und Tilgung aufgebracht werden. ({1}) - Frau Rönsch, schreien Sie doch nicht so! Sonst legen Sie immer so viel Wert auf gute Manieren. Es ist so, dass die Sozialversicherungssysteme langfristig in die Knie gehen würden, wenn diese Schulden nicht abgebaut werden. Unserem Hause hat diese Maßnahme weh getan. Aber es war notwendig, dass wir diesen angemessen Beitrag leisten mussten. Wenn Sie noch nicht einmal die Jahreszahlen auseinander halten können, Herr Fink, dann muss ich feststellen, dass Sie dem Ernst der Debatte nicht angemessen diskutieren. Zum zweiten Punkt, den Sie nicht richtig vorgetragen haben. Sie sind davon ausgegangen, dass es Defizite im letzten Jahr gegeben hat. Sie vergessen aber - wie Herr Parr richtig sagte, haben Sie schließlich die ordnungspolitischen Säulen der Pflegeversicherung mit erarbeitet -, dass die Überschüsse der Einnahmen der Pflegeversicherung von 1995 bis 1998 in jedem Jahr zurückgegangen sind. Diese Entwicklung ist doch nach einer Aufwuchsphase normal. ({2}) 1998 hatten wir 250 Millionen DM Überschuss. Im Jahr davor waren es noch 1,6 Milliarden DM. Es war jedem klar, dass in dem Maße, wie die Betroffenen - wie gewünscht - diese Pflegeversicherung in Anspruch nehmen, die Überschüsse zurückgehen. ({3}) - Sie dürfen hier keine Lügen verbreiten; das ist das Thema. Sie dürfen nicht die Debatte um die Pflegeversicherung dazu missbrauchen, um vom Spendensumpf abzulenken. ({4}) Trotzdem haben wir im letzten Jahr, was wir vonseiten der Bundesregierung begrüßen, gemeinsam vier praktische Punkte umgesetzt - Herr Zöller beklagt sie jetzt, weil sie ihm nicht weit genug gehen -, die für die Pflegeversicherung wichtig sind und die wir eigentlich alle zusammen schon in der vorletzten Legislaturperiode umsetzen wollten, was aber an der F.D.P. gescheitert ist. ({5}) Das waren 250 Millionen DM im letzten Jahr. ({6}) Das wollten wir alle zusammen, und das war richtig gut eingesetztes Geld. Man kann nicht einerseits sagen: „Das hätten Sie nicht machen sollen“, und andererseits wie Herr Zöller noch viel mehr verlangen. Jetzt bin ich beim nächsten Punkt, bei Herrn Zöller. Herr Zöller, Sie werfen der Bundesregierung vor, dass die im Koalitionsvertrag angestrebte Verbesserung der Situation der Dementen nicht eingetreten sei. Wir arbeiten intensiv daran, müssen uns aber innerhalb der ordnungspolitischen Säulen des vorgegebenen Pflegeversicherungssystems bewegen. Das kann man nicht einfach mit einem Fingerschnipp aus den Angeln heben. Wir arbeiten intensiv daran und Sie werden in diesem Jahr etwas davon hören. Der Antrag aus Bayern, den Sie als beispielhaft vorstellen, war überhaupt nicht solide durchgerechnet. Ich habe ihn mir selber vorgenommen, weil wir ihn auch im Gesundheitsausschuss beraten haben. Bayern ist von Überschüssen und Reserven in Höhe von 12 Milliarden DM ausgegangen. Das war um knapp 3 Milliarden DM zu hoch geschätzt. Bayern wollte beides: die Einbeziehung der Dementen und den Kapitalstock. Das kann nicht innerhalb der ordnungspolitischen Säulen der Pflegeversicherung geleistet werden, die von Ihrer RegieWolfgang Zöller rung, von Herrn Blüm, nie als Vollabsicherung, sondern als eine Teilfinanzierung der Pflege gedacht war, unter Festlegung eines Beitragssatzes von 1,7 Prozent, wobei man wusste, dass dies ein begrenzter Beitrag ist. Bayern wollte beides. Ich kann Ihnen gern die Ausschussdrucksache vorlegen. Es sind Milliardensummen, die dafür nötig wären. ({7}) - Das ist nicht richtig, Herr Zöller. Ich zeige Ihnen noch einmal die Ausschussdrucksache. Bayern hat die Reserven um 3 Milliarden DM nach oben gerechnet und die Ausgaben in einer riesengroßen Höhe unterschätzt. Das ist unsolide und ist nicht richtig. Man darf pflegebedürftigen Menschen keinen Rosengarten versprechen, wenn man ihn nicht schaffen kann. Und man darf sie auch nicht verunsichern, wenn die Sicherheit der Pflege gegeben ist. Wenn Bayern einen solchen Antrag vorlegt, ist das Populismus, ein Spiel auf dem Rücken der zu Pflegenden, und das machen wir nicht mit. Wir gehen in aller Ruhe daran. Ich finde, das, was Sie hier veranstalten, nicht richtig. Jetzt möchte ich zu einigen Punkten der aktuellen Diskussion zurückkommen. Meine Kolleginnen haben schon darauf hingewiesen, dass wir das Zahlenspiel, das Sie hier veranstalten, schon von der Aktuellen Stunde vom 9. September und von der Fragestunde am 4. November kennen, und wir haben es im Gesundheits- und im Haushaltsausschuss mit im Wesentlichen gleichen Zahlen erlebt. Dazu muss man noch einiges sagen. Sie nehmen sich hier immer die Angaben des Bundesversicherungsamtes in der Haushaltsausschussanhörung vor. Dabei ist in der Öffentlichkeit nie gesagt worden, dass es sich bei der Einschätzung der Finanzentwicklung der Pflegeversicherung um eine Bandbreite bezüglich der zu erwartenden Einnahmen handelt. Das heißt, man hat eine Bandbreite, die sich zwischen ganz pessimistischen Schätzungen und optimistischen Schätzungen bewegt, die aber nicht irgendwo im Kaffeesatz vorgefunden, sondern aufgrund der Hochrechnung von Daten ermittelt worden ist. Wir als Bundesregierung bewegen uns nicht auf der ganz pessimistischen, auch nicht auf der ganz optimistischen, sondern auf der mittelfristigen Finanzplanungsschiene und auch auf der Grundlage des Rentenversicherungsberichts 1999. ({8}) Von diesem Zahlentableau ausgehend kommen wir zu dem Ergebnis, dass aufgrund der erwarteten Einkommensentwicklung ab Mitte dieses Jahrzehnts sich wieder Überschüsse in der Pflegeversicherung einstellen können, ({9}) dass wir bis dahin einen Rückgang haben, weil die Ausgaben die Einnahmen übersteigen. Allerdings gehen wir davon aus - das sollten auch Sie sagen -, dass zu keinem einzigen Zeitpunkt die Liquidität der Pflegeversicherung eingeschränkt wird oder die Versorgung der zu Pflegenden zur Disposition steht. So etwas dürfen Sie auch nicht suggerieren. Das ist ein übles Spiel mit Menschen, die sich nicht wehren können und die Sie verunsichern. ({10}) Wir gehen nach der mittelfristigen Finanzplanung davon aus, dass der Mittelbestand der Pflegeversicherung nicht unter 8 Milliarden DM absinkt und die vorgeschriebene Mindestreserve von rund 4 Milliarden DM erhalten bleibt. Nun zu unseren Bemühungen, hier etwas zu verbessern. Sie wissen, dass wir zur Verbesserung der Situation der zu Pflegenden und vor allem auch der Dementen in zwei Häusern, im Ministerium von Frau Bergmann und im Ministerium von Frau Fischer, also Senioren und Gesundheit, zeitgleich eine Novellierung des Heimgesetzes und ein Qualitätssicherungsgesetz erarbeiten, das in seinen Anlagen mit dazu beiträgt - ({11}) - Man kann auch über Qualitätssicherung, über bestimmte Regelungen eine Menge tun, um die Betroffenen besser zu stellen. Das wird im Frühjahr geschehen. ({12}) Der zweite Punkt ist: Wir sind dabei, zu prüfen, wie wir im Rahmen der vorhandenen Mittel in der Situation des riesengroßen Schuldenbergs, den ich geschildert habe, die Situation der Dementen verbessern können. Damit muss man sorgsam umgehen; das ist ein schwieriges Geschäft. Herr Fink, auch Sie wussten das einmal. Wahrscheinlich wissen Sie es immer noch. Nur stehen Sie nicht mehr dazu. Sie machen jetzt in Populismus und stellen Forderungen auf, die Sie unter Kohl selbst dann nicht gestellt hätten, wenn Sie es gedurft hätten. Wir machen das nicht. Wir gehen damit solide um. Es werden Vorschläge kommen. Ob auf ganz lange Sicht die ordnungspolitischen Säulen der Pflegeversicherung, wie Herr Parr gesagt hat, ausreichen, das wird man beim langfristigen Konzept diskutieren müssen. Allerdings kann ich Ihnen, Herr Parr, eines schon jetzt sagen: Die Vorstellungen, die Sie in den Raum stellen, finden nicht die Zustimmung dieser Regierung, weil sie zu Lasten der Schwachen gehen. ({13}) Das ist nicht unsere Politik. Danke. ({14})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Gerald Weiß, CDU/CSU-Fraktion.

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Nickels! „Wir arbeiten am Problem“, „Wir sind dabei zu prüfen“, „Wir werden demnächst“ - ich habe den Eindruck, dass die rot-grüne Koalition auch bei der Pflegeversicherung entnervend konzeptionslos ist. ({0}) Keine einzige konkrete Festlegung! Wolkenschiebereien! Sie sagen nicht, wie Sie die Versprechungen erfüllen wollen, die in Ihrem Koalitionsvertrag stehen. Vielmehr erschweren Sie die Erfüllung dieser Versprechungen gravierend. Es ist schon eine Ironie des Schicksals, dass zum Beispiel der sehr beachtenswerte Entwurf Bayerns und Baden-Württembergs im Bundesrat zur Pflegeleistungsverbesserung für Demenzkranke etwa denselben Umfang hatte, nämlich 500 Millionen DM, wie das, was Sie jetzt der Pflegeversicherung durch brutalen Eingriff abknapsen. Sie kämen sehr viel weiter, wenn Sie mit diesem Geld gearbeitet hätten. ({1}) Sie sprechen von Zahlenspielereien. Frau Knoche bestritt die Aktualität der Stunde. Frau Elser sprach von unnötiger Debatte. - Aktueller kann sie doch nicht sein. Die Horrorzahlen des Bundesversicherungsamtes sind in diesen Tagen über uns gekommen und haben das bestätigt, was wir im Herbst vergangenen Jahres bereits zum Gegenstand einer ersten Debatte gemacht hatten. ({2}) Es ist doch eher schlimmer als wir damals gesagt haben. Im vergangenen Jahr hatten wir, wie, glaube ich, seit heute feststeht, 74 Millionen DM Defizit in der Pflegeversicherung. Für das nächste Jahr sagt eine vorsichtige Prognose aus, dass Verluste von 850 Millionen DM zu befürchten seien. Manche Befürchtungen gehen auf 1 Milliarde DM und mehr. Frau Nickels, gibt Ihnen die Heuchelei, mit der Sie an dieses Pult getreten sind, nicht zu denken? Die Hälfte des Verlustes haben Sie selber mit dem brutalen Griff Eichels in die Pflegekasse bewirkt. Gibt Ihnen das nicht zu denken? ({3}) In Ihrer Politik passt nichts zusammen. Sie sagen, das sei ein normaler Vorgang, das hätten Sie fiskalisch tun müssen und die Absenkung der Bemessungsgrundlage habe seine Ordnung. Das passt nicht zusammen. Bei der Krankenversicherung ist es doch, nur weil der Druck größer war, bei der Bemessung von 80 Prozent Lohn brutto geblieben. ({4}) Mir ist aufgefallen, dass in Ihrem Beitrag der pflegebedürftige Mensch überhaupt nicht vorkam. Weil das Klientel schwächer und politisch weniger wirksam ist, haben Sie diesen Eingriff getan. Nein, Sie sind nicht gerüstet für das, was kommt. Sie sind nicht darauf vorbereitet, ernsthaft etwas für die verwirrten und psychisch Kranken zu tun. Sie sind nicht auf die gewaltigen Verschiebungen im Altersaufbau der Bevölkerung vorbereitet. Denn daraus wird zwangsläufig mehr Pflegebedarf erwachsen. Sie sind nicht auf das Problem der Verschiebung des Pflegebedarfs hin zu aufwendigeren Pflegeformen, zum Beispiel von der Geldleistung in der ambulanten Pflege zur Sachleistung, vorbereitet. Wenn wir die Leistungssätze in der Pflege bei steigenden Kosten nicht anpassen, gibt es nur zwei denkbare Wirkungen: Entweder sinkt die Qualität der Pflegeleistung, oder der Pflegebedürftige muss letztendlich als derjenige, der betroffen ist, zahlen. In jedem Fall trifft es den Schwachen, den Pflegebedürftigen. Zudem wird eines der Kernziele der Pflegeversicherung, nämlich die Absicherung gegen die Abhängigkeit von der Sozialhilfe, zunehmend verletzt. Nein, all das, was die Vorgängerregierung Ihnen hinterlassen hat, gefährden Sie durch Nichtstun, durch inkonsistentes Handeln. Deshalb ist es in dieser Debatte eine besondere Gemeinheit, wenn von Erblast gesprochen wird. Ich halte fest: CDU/CSU und F.D.P. haben Ihnen eine stabile Pflegekasse übergeben, ({5}) mit Überschüssen und Rücklagen in Höhe von über 9 Milliarden DM. Das ist übrigens nicht vom Himmel gefallen; dem lag ein kluges Gesetz zugrunde. Norbert Blüm hat mit diesem Gesetz ganz sicher Sozialgeschichte gemacht: mit dem stufenweisen Aufbau von Leistungen, mit Preissystem statt Selbstkostendeckung

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist begrenzt. Wir befinden uns in einer Aktuellen Stunde.

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- ich komme zum Schluss -, mit einem klar definierten Leistungsgefüge, mit Markt und Wettbewerb statt überzogener Staatsplanung. Das waren die klugen Bausteine eines klugen vorsorgenden Gesetzes. Rot-Grün aber das muss man nach dem Stand dieser Debatte sagen steht für Problemverschärfung statt Problemlösung, steht für Ratlosigkeit statt Konzept. Danke. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt erteile ich der Kollegin Barbara Imhof, SPD-Fraktion, das Wort.

Barbara Imhof (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002687, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Richtung CDU/CSU sage ich ein freundliches Grüezi. ({0}) - Das war auf die Wette bezogen. Ich denke, dass wir uns hier im Haus alle darüber einig sind, ({1}) dass wir eine bedarfsgerechte, humane und aktivierende Pflegeversorgung und Betreuung brauchen und dass wir die Pflegequalität gesichert und weiterentwickelt wissen wollen. ({2}) Dass Sie jetzt aber, meine Damen und Herren auf der rechten Seite, anhand der hinlänglich genannten Zahlen ein regelrechtes Horrorszenario entwickeln wollen, dazu besteht nun wirklich kein Grund. Es ist allerdings zu befürchten, dass es Ihnen hiermit gelungen ist, die Betroffenen einmal mehr zu verunsichern. Halten wir uns doch lieber an die Fakten! Mit dem 4. SGB-XI-Änderungsgesetz haben wir eine ganze Reihe von Verbesserungen auf den Weg gebracht. Ich nenne vor allem die Änderungen bei der Tages- und Nachtpflege, den Pflichtpflegeeinsätzen und der Urlaubs- und der Verhinderungspflege. ({3}) Von der letzten Neuregelung haben übrigens insbesondere die pflegenden Angehörigen von Demenzkranken profitiert. Weitere Verbesserungen für Demenzkranke in der Pflegeversicherung - es wurde gesagt, dass diese hier nicht vorkommen; deshalb erwähne ich sie - stehen als Prüfauftrag in unserer Koalitionsvereinbarung. Das können Sie nachlesen. ({4}) Ein Schwerpunkt unserer Arbeit in diesem Jahr wird die Qualitätssicherung in der Pflege sein. Hier besteht die Notwendigkeit - da sind wir uns bestimmt auch einig -, die jetzigen Regelungen noch zu verbessern. Ebenso wird an der Novellierung des Heimgesetzes gearbeitet, das mit dem Qualitätssicherungsgesetz abgestimmt werden muss. Schließlich werden wir auch die Frage einer Heimpersonalverordnung noch in diesem Jahr einer Lösung zuführen. ({5}) Ich möchte den Punkt der Qualitätssicherung hervorheben. Die in der Vergangenheit bekannt gewordenen Skandale über die Misshandlung und Vernachlässigung alter Menschen sind Gott sei Dank kein Spiegelbild des Alltags in den Pflegeheimen und bei den Pflegediensten. Die meisten Pflegekräfte versuchen unter wirklich schwierigen Rahmenbedingungen, mit großem persönlichen Einsatz die ihnen anvertrauten Pflegebedürftigen zu betreuen. ({6}) Eben weil sie die Verantwortung dafür tragen, dass sich die Bewohner der Heime wohl fühlen, sind Qualitätssicherung und -verbesserung zunächst einmal Aufgabe der Heime selbst. Zum Glück setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen im Mittelpunkt des Pflegewesens stehen müssen. Erfahrungen und Einschätzungen gerade dieser Menschen sind ein ganz entscheidender Faktor für ein funktionierendes Qualitätsmanagement. Der gute Ruf eines Heimes bietet natürlich auch die Gewähr dafür, dass seine Leistungen nachgefragt werden, und damit dient es letztlich auch der Existenzsicherung dieser Häuser. Dies haben die Heime und Verbände vielfach schon selbst erkannt und etliche eigene Initiativen ergriffen. Auch die Erkenntnis, dass eine gute Beratung vor Aufnahme in eine Einrichtung diesen oft sehr schwierigen Schritt für die Pflegebedürftigen und natürlich auch für die Angehörigen leichter macht, setzt sich immer mehr durch. Ebenso hat die Diskussion um die Einführung von Qualitätssiegeln gezeigt, dass das Bewusstsein zur Qualitätsverbesserung vor Ort geweckt worden ist. Aber zu viele verschiedene Qualitätssiegel führen dazu, dass die Menschen verunsichert sind, was nicht der Aufklärung dient. Deshalb würden wir es begrüßen, wenn sich die Beteiligten auf bundeseinheitliche Vergabekriterien verständigen könnten, damit der Verbraucher letztendlich mit einem Siegel etwas anfangen kann. ({7}) Eine verantwortliche Rolle bei der Qualitätssicherung hat der Gesetzgeber auch den Pflegekassen und den Medizinischen Diensten zugewiesen. Die Pflegekassen haben gemeinsam mit den Leistungserbringern die Qualitätsvereinbarungen nach § 80 SGB XI abgeschlossen. Die dadurch angestoßene Diskussion ist wichtig zur Weiterentwicklung der Qualität in allen Pflegebereichen. Damit Misshandlungen und Vernachlässigungen, die ich schon angesprochen habe, gar nicht erst entstehen können, müssen die Fragen nach der Verbesserung der Aufsicht einer Lösung zugeführt werden. ({8}) Neben dem Strafrecht als schärfste Sanktionsmöglichkeit steht zum Schutz der Heimbewohner auch das Heimgesetz zur Verfügung. Es ist in seiner ordnungspolitischen Funktion zur Gefahrenabwehr ein wichtiges Instrument. An der Novellierung dieses Gesetzes arbeiten wir ebenso. Darauf habe ich bereits hingewiesen. Für mich ist klar, dass es ein Gesamtkonzept geben muss, das die Änderungen auf dem Pflegemarkt berücksichtigt. Patienten- und Verbraucherschutz haben in unserer Politik einen hohen Stellenwert, der sich in diesem Gesamtkonzept auch wiederfinden muss. Vielen Dank. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun die Kollegin Hannelore Rönsch, CDU/CSU-Fraktion.

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Thema der Aktuellen Stunde ist die Pflegeversicherung und die Haltung der Bundesregierung zu dieser Pflegeversicherung. Darauf möchte ich wieder zurückkommen. Ich kann durchaus verstehen, dass Sie heute darüber nicht sprechen wollen, denn meine Kolleginnen und Kollegen haben Sie auf die Misere, die Sie veranlasst haben, schon hingewiesen. Aber wir werden noch einige Punkte aufgreifen. Wir wollten die Haltung der Bundesregierung zur aktuellen Situation in der Pflegeversicherung hören. Wenn ich zur Regierungsbank schaue und dort eine Staatssekretärin aus dem Gesundheitsministerium sitzen sehe, die mit einer menschlichen Kälte mit Zahlen jongliert hat, dann ist es mir um die Alten, um die Pflegebedürftigen, um die Wehrlosen in unserer Gesellschaft bange. ({0}) Ich vermisse auf der Regierungsbank die Seniorenministerin. Ich muss davon ausgehen, dass das, was in der Pflegeversicherung veranlasst wurde, im Kabinett beraten wurde und dort auch einstimmig weitergegeben worden ist. ({1}) - Frau Kollegin, ich komme auch auf Ihren Beitrag noch zu sprechen. - Ich frage mich: Wie kann es diese Seniorenministerin überhaupt verantworten, ausgerechnet im Jahr der Senioren in die Taschen oder - man muss sagen - sehr oft in die Nachthemden der Pflegebedürftigen zu greifen ({2}) und dort 400 Millionen DM zu nehmen, um die Haushaltskassen des Bundes zu füllen? ({3}) Wir hatten schon einmal, Frau Kollegin, große Gemeinsamkeit; ich kann mich sehr gut daran erinnern. In den Jahren 1995, 1996 und dann, zur Einführung der Pflegeversicherung, 1997 waren wir uns einig: Wir wollten den alten und älteren Menschen die Sorge nehmen, ({4}) dass sie, wenn sie im Alter pflegebedürftig werden, dann nicht von der Sozialhilfe abhängig werden. Wir wollten ihnen die Sorge nehmen, dass sie dann ihren Kindern auf der Tasche liegen. ({5}) - Herr Kollege, das habe ich doch gerade gesagt. Wir hatten große Gemeinsamkeiten. Wir waren 1995 und 1996 an dem einen oder anderen Punkt in der Diskussion ein wenig uneinig, aber wir hatten das gemeinsame Ziel, den alten Menschen die Angst vor der Pflegebedürftigkeit im Alter zu nehmen. ({6}) Wir haben 1997 die Pflegeversicherung eingeführt und wir haben Ihnen die Rücklage überlassen - ich war in Gedanken noch bei 8 Milliarden DM Rücklage, aber Gerald Weiß hat von 9 Milliarden DM gesprochen -, damit wir in der Zukunft dem demographischen Faktor gerecht werden können ({7}) und damit wir den Entwicklungen in unserer Gesellschaft, die wir gemeinsam gesehen haben, auch in der Zukunft begegnen können und alte Pflegebedürftige weiterhin versorgen können. ({8}) Ich würde mir wünschen, dass Sie ein wenig mehr Besonnenheit und vielleicht auch wieder ein wenig mehr Wärme ({9}) in die Arbeit und in die Diskussion bringen. Denn die alten Menschen haben das, was jetzt hier veranstaltet wird, nicht verdient. ({10}) Wir haben im vergangenen Jahr eine Große Anfrage eingebracht, die unlängst von der Seniorenministerin beantwortet wurde. Jeder von uns kennt die demographische Entwicklung. Gerade in diesen Tagen sind die jüngsten Zahlen bekannt geworden. Die Frauen werden im Durchschnitt 80 Jahre, die Männer 74,3 Jahre, und das wird sich in der Zukunft weiter steigern, Gott sei Dank. Wir wissen aber auch - jetzt will ich einmal aus der Antwort auf die Große Anfrage zitieren -, dass 5 bis 6 Prozent der über Fünfundsechzigjährigen unter mittelschwerer bis schwerer Demenz und 7 bis 8 Prozent unter leichter Demenz leiden. ({11}) Wenn Sie sich dann einmal anschauen, wie von Forschern die Entwicklung in der Zukunft gesehen wird, stellen Sie fest, dass damit gerechnet wird, dass Menschen zwischen 70 und 80 Jahren 2010 einen Anteil an der Bevölkerung von 10 Prozent haben. ({12}) - Ich habe darauf gewartet, dass das angesprochen wird, Herr Kollege. Ich bin mein Arbeitsleben lang gewerkschaftlich organisiert, seit dem 18. Lebensjahr, und war nur für zwei Jahre aus der Gewerkschaft ausgetreten, als ich im Untersuchungsausschuss „Neue Heimat“ war; da wollte ich ihnen keine Mark mehr geben. ({13}) Aber ich musste es in diesem Wahlkampf zulassen, dass mit 8 Millionen DM von meinen Beiträgen gegen mich Wahlkampf gemacht wurde, auf eine sehr schmutzige Art und Weise. Da wäre ich an Ihrer Stelle ausgesprochen ruhig. ({14}) - Ich verstehe, dass Sie das aufregt. Aber ich möchte Sie zum Abschluss noch einmal mahnen: Besinnen Sie sich auf Ihre Koalitionsvereinbarung, die sich ja noch ganz gut anhörte. ({15}) - Ich verstehe, dass Sie ablenken wollen; Sie haben allen Grund dazu, weil Sie sich an den armen, wehrlosen alten Menschen vergreifen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Sie sind über die Zeit, Frau Kollegin.

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kommen Sie mit uns wieder zu einem Stück Gemeinsamkeit wie bei der Rente! Auch dort waren Sie belehrbar. Lassen Sie die alten Menschen nicht im Stich! Wir werden ihr Anwalt sein. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat der Kollege Dr. Martin Pfaff das Wort.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Rönsch, wir können ja verstehen, dass die Devise „Angriff ist die beste Verteidigung“, vor allem in einer schwierigen Situation, auch zum Taktieren führt. Aber was wir heute von Ihnen, Frau Rönsch, und von den anderen gehört haben - ich werde das noch einmal wiederholen -, geht über das Zumutbare hinaus. ({0}) Sie haben nicht nur die Sorgen und Ängste der alten Menschen geschürt, Sie haben an den Grundfesten des Konsenses, der zur Pflegeversicherung führte, gerüttelt. ({1}) Sie haben anderen in die Hände gespielt. Ich sage es noch einmal: Die Probleme der Pflegeversicherung, der alten, pflegebedürftigen Menschen sind viel zu ernst für solche billigen parteitaktischen Spiele. ({2}) Frau Rönsch, ist Ihnen und übrigens auch dem verehrten Herrn Kollegen Fink, den ich sonst besonders schätze, denn bewusst, wie verantwortungslos das heutige Vorgehen eigentlich ist? Betrachten Sie doch einmal die Aussagen beispielsweise des Arbeitgeberpräsidenten Hundt. Er sagte, es zeige sich an den sich abzeichnenden Defiziten, dass die Einführung der umlagefinanzierten Pflegeversicherung ein schwerer sozialpolitischer Fehler gewesen sei. ({3}) Auch die Pflegeversicherung müsse auf die Basissicherung konzentriert werden. Und haben Sie gehört, was der Herr Kollege Parr gesagt hat? Ist Ihnen bewusst - ich sage das in Anführungszeichen -, dass Sie mit Ihren Ausführungen hier nicht nur schlafende Hunde wecken, sondern dass Sie denen in die Hände spielen, die das System infrage stellen? ({4}) Aber wenn Sie den Kapitalstock in diesen schwierigen Zeiten aufbauen wollen, dann sagen Sie den Menschen doch auch, dass Sie ihnen eine Doppelbelastung zumuten. Einmal sollen sie Beiträge zum Kapitalstock zahlen, der irgendwann in einigen Jahrzehnten relevant ist; andererseits sollen sie jetzt mit ihren Beiträgen für die jetzt Pflegebedürftigen zahlen. Seien Sie ehrlich und sagen Sie den Menschen, dass Sie ihnen eine solche Doppelbelastung zumuten. Dann können wir weiterreden. Hannelore Rönsch ({5}) ({6}) Wir finden Ihr Vorgehen übrigens umso erstaunlicher, als wir die Pflegeversicherung gemeinsam verabschiedet und die Lücken gemeinsam zu verantworten haben. Es wurde schon gesagt, dass wir in dieser Legislaturperiode schon einige dieser Lücken gemeinsam entfernt haben. Und 250 Millionen DM tragen auch zu dem angesprochenen Defizit bei. Verehrte Frau Rönsch, ich würde Ihnen wirklich empfehlen, das, was Sie gesagt haben, zurückzunehmen. Wer hier im Deutschen Bundestag behauptet, diese Bundesregierung greife in die Nachthemden der Pflegebedürftigen, um sich haushaltsmäßig zu sanieren, hat nicht nur einen Irrweg begangen. Ich empfinde das als eine Geschmacklosigkeit, die Sie unbedingt zurücknehmen sollten. ({7}) Wir wissen alle, dass beispielsweise die Qualitätssicherung verbessert werden muss. Und sie wird verbessert werden. Wir alle wissen, dass das Heimgesetz novelliert werden muss. Und es wird novelliert werden. Wir alle wissen, dass die Problematik der Demenzkranken aufgegriffen werden muss. Das ist in Arbeit. Und wenn Sie hier schon im Brustton der Überzeugung reden und sich als moralisch höher stehend präsentieren wollen, frage ich Sie: Was haben Sie denn in den 16 Jahren Ihrer Regierungsverantwortung für die Demenzkranken getan? Das möchte ich gern wissen. Darüber können Sie hier sprechen. Eine Schuldenlast haben Sie uns hinterlassen. Ich sage auch ganz offen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Die 400 Millionen DM können keinem Sozial- und Gesundheitspolitiker Freude bereiten. Natürlich nicht! ({8}) - Ich weiche nicht aus! Aber die Wahrheit ist, dass seit dem Zweiten Weltkrieg leider Verschiebebahnhöfe immer wieder gang und gäbe waren. Ich nenne einige. Beispiel 1: zweimalige Senkung des Rentenversicherungsbeitrages durch Sie bei gleichzeitiger Anhebung des Beitrags zur Bundesanstalt für Arbeit - Verschiebebahnhof 1. Zweitens. Absenkung der Reha-Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung mit Auswirkungen auf einen anderen Bereich - Verschiebebahnhof 2. Drittens. Ausgliederung der medizinischen Rehabilitation, Belastung der Pflegeversicherung - Verschiebebahnhof 3. Und was Sie im Zweiten Neuordnungsgesetz mit der häuslichen Krankenpflege, mit der ambulanten Reha machen wollten - ich könnte das fortsetzen -: Verschiebebahnhof 4. Das macht es nicht richtiger, wenn in der Not eine Regierung dort hingreift, wo es etwas zu holen gibt. Tatsache ist: Wir sind dabei, unter diesen schwierigen Bedingungen das Heimgesetz zu novellieren. Ich kann jetzt nicht ins Detail gehen. Wir sind dabei, die Qualitätssicherung zu verbessern, und wir sind dabei, auch für die schweren Probleme der Demenzkranken etwas zu tun. ({9}) Alle Prognosen, was die langfristige Entwicklung angeht, zeigen, dass bis 2015 der Beitragssatz bei absehbaren Entwicklungen unter 2 Prozent gehalten werden kann, dass es nach den jetzigen Prognosen nach 2020/2030 schwieriger wird, aber dass es für eine Verunsicherungskampagne der Art, wie Sie sie vorgestellt haben, keinen sachlichen Grund gibt. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({0}) - zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nationale Armuts- und Reichtumsberichterstattung - zu dem Antrag der Fraktion der PDS Regelmäßige Vorlage eines Berichts über die Entwicklung von Armut und Reichtum in der Bundesrepublik Deutschland - zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Schnieber-Jastram, Wolfgang Mecklenburg, Hans-Peter Repnik, Peter Weiß ({1}) und der Fraktion der CDU/CSU Bekämpfung der „verdeckten Armut“ in Deutschland - Drucksachen 14/999, 14/1069, 14/1213, 14/2562 - Berichterstattung: Abgeordneter Peter Weiß ({2}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Kollege Wolfgang Spanier, SPD-Fraktion.

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn sich die Reihen auch lichten, ist heute dennoch ein guter Tag, weil wir endlich mit einer, wie ich denke, klaren parlamentarischen Mehrheit beschließen, dass ein nationaler Armuts- und Reichtumsbericht hier in Auftrag gegeben wird. ({0}) Wir folgen damit den Forderungen der nationalen Armutskonferenz, der beiden Kirchen, der Gewerkschaften, der einschlägigen Wissenschaftler, die seit Jahren fordern, dass wir hier endlich eine verlässliche empirische Grundlage für politisches Handeln haben müssen. ({1}) Wir folgen damit auch einem Versprechen der alten Bundesregierung, das sie 1995 auf dem Weltsozialgipfel gegeben hat, aber niemals umgesetzt hat. ({2}) Meine Damen und Herren, ich habe mich ein wenig gewundert, warum Sie Nein sagen zum Reichtums- und Armutsbericht. Ich habe mir noch einmal angeschaut, welche Argumente Sie in der ersten Lesung hier im Parlament vorgebracht haben, um dieses Nein zu begründen. ({3}) Es waren nicht sehr viele Argumente, aber dennoch will ich sie nennen und auf sie eingehen. Da ist zunächst einmal der Verdacht, dort würden nur „Papierberge, Datenfriedhöfe erzeugt, nur ein qualifizierter Satz von Daten in der Verteilung von Armut und Reichtum“. Das hängt letztlich vom Parlament ab. Wir werden entscheiden, wie wir mit diesem nationalen Armuts- und Reichtumsbericht umgehen. Wir werden entscheiden, ob die Schlussfolgerungen, die Konsequenzen, die dort vorgeschlagen werden, dann auch politisch umgesetzt werden. Den gleichen Verdacht könnte man natürlich gegen den Agrarbericht, gegen den Kinder- und Jugendbericht usw. erheben. Ich glaube, dass das kein stichhaltiges Argument ist. Ihr zweiter Punkt - er wurde, glaube ich, von Ihnen genannt, Herr Weiß -: Eine wissenschaftlich exakte und von allen geteilte Armutsdefinition lässt sich so leicht nicht finden. Wie Recht Sie haben! Dennoch gibt es seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik eine etablierte Armutsforschung. Es lässt sich also sehr wohl wissenschaftlich-empirisch begründet etwas zu Armut und Reichtum sagen. ({4}) Auch das ist, denke ich, ein Scheinargument, um das Ganze zurückzuweisen. Sie sagen weiter, es dürfe nicht nur ein Regierungsbericht sein, es müsse auch ein Expertenbericht sein. ({5}) Bei näherem Hinsehen werden Sie feststellen, dass dies gewährleistet ist. ({6}) Selbstverständlich werden Experten an diesem Bericht mitwirken. Ein letztes Argument ist Ihre Alternative, ein Bericht über verdeckte Armut. Zunächst einmal finde ich es erfreulich, dass auch Sie die verdeckte Armut entdeckt haben. Ich kann mich sehr wohl noch daran erinnern, wie Herr Seehofer, als wir noch im alten Parlament in Bonn über die Große Anfrage zur Armut diskutiert haben, mit Zwischenrufen gefragt hat: Was meinen Sie eigentlich mit verdeckter Armut? Woher wissen Sie das überhaupt? - Das kann ich Ihnen mit den Protokollen nachweisen. Sie haben also immerhin erkannt, dass es so etwas gibt. Es gibt auch erste Untersuchungen, die letztlich zwar nur Schätzungen sind, die aber zeigen, welchen dramatischen Umfang das hat. Sie haben nach Angaben der nationalen Armutskonferenz selbst von zwei Millionen Betroffenen gesprochen. Etwas putzig sind die Argumente der F.D.P. Das muss ich hier so sagen. ({7}) Sie sagen: Der Begriff Reichtum weckt Neid ({8}) und es geht um das Ausspähen, was für die Umverteilungspolitik zur Verfügung steht. Vielleicht haben Sie Angst um irgendwelche Kassen. Vielleicht haben Sie Angst, dass jetzt eine neue Fluchtbewegung nach Liechtenstein entbrennt. Aber, meine Damen und Herren, ich denke, das ist ein ganz und gar lächerliches Argument. Der Gipfel des Ganzen ist, dass Sie uns vorwerfen, papier- und diskussionsverliebte Ideologen zu sein. ({9}) Das sind Argumente ({10}) - Herr Hörster, ich finde es erfreulich, dass Sie sich dazu zu Wort melden -, die so wenig stichhaltig sind, dass unter dem Strich festzuhalten ist: Sie haben eben keine Argumente, um Ihr Nein zu begründen. Letztlich geht es Ihnen nur darum, nicht das Gesicht zu verlieren. Sie - die alte Koalition, die alte Regierung - haben sich vehement gegen einen solchen Bericht gewehrt, und dieser Linie wollen Sie treu bleiben. Das ist eigentlich das, was übrig bleibt. ({11}) Was ist das grundsätzlich Neue? Armut war bisher immer ein typisches Thema der Opposition. Ich finde es gut, dass es jetzt fester Bestandteil der politischen Programmatik der Parlamentsmehrheit und der Regierung ist. Die defensive Strategie der alten Regierung in dieser Frage - hier drücke ich mich sehr zurückhaltend aus Wolfgang Spanier wird endlich aufgegeben. Diese Regierung und diese Parlamentsmehrheit stellen sich der Verantwortung. Armut und Reichtum werden endlich als eigenständige Fragestellungen angesehen und durch eine regelmäßige differenzierte und wissenschaftlich fundierte Berichterstattung - dafür wird Sorge getragen - endlich auf die notwendige Grundlage gestellt. Diese Bundesregierung sieht ihre politische Verantwortung für diesen Bericht. Das ist wichtig. Es darf nicht nur ein Expertenbericht sein. Die Beteiligung der Fachreferate ist selbstverständlich. Die wissenschaftliche Untersuchung wird durch Wissenschaftler durchgeführt, damit handelt es sich auch um einen Expertenbericht. Die Beteiligung der nationalen Armutskonferenz, der Kirchen, Wohlfahrtsverbände, der Gewerkschaften und der Betroffenenorganisationen ist gewährleistet. Es findet eine öffentliche Begleitung, eine öffentliche Diskussion statt. Die Auftaktveranstaltung war - jeder, der dabei war, wird es bezeugen - ein Erfolg und hat gezeigt, wie sehr hier die Fachöffentlichkeit und die zuständigen Organisationen interessiert sind und sich in den Prozess einmischen. ({12}) Die Armutsberichte des Deutschen Gewerkschaftsbunds, des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, die Berichte der Caritas und der jetzt in Arbeit befindliche Bericht der Arbeiterwohlfahrt zur Kinderarmut haben ihre eigenen großen Verdienste. Sie haben immerhin eine breitere Öffentlichkeit auf diese Thematik aufmerksam gemacht. Es ist aber kein Zufall, dass diese Organisationen zusätzlich den nationalen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung gefordert haben. Weil die Möglichkeiten der Berichte des DPWV und der Caritas begrenzt waren, haben sie einen umfassenden und methodisch reflektierten Armuts- und Reichtumsbericht gefordert. Ich führe noch einen Punkt an, der neu ist: Schlussfolgerungen und Handlungsoptionen sind selbstverständlich auch Teil dieses Berichts. Es liegt in unser aller Verantwortung, die gewonnenen Erkenntnisse tatsächlich umzusetzen. Daran werden wir, die Regierung und die Mehrheit dieses Parlaments, gemessen. ({13}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schaue auf die Uhr. ({14}) - Das ist für Sie sicherlich erfreulich, das kann ich mir vorstellen. - Lassen Sie mich abschließend noch etwas Grundsätzliches sagen. Wir brauchen in unserem Land eine Grundsatzdebatte über die Armut in einem reichen Land. Wir brauchen auch eine Debatte über die Umbruchsarmut in den neuen Bundesländern. Beides gehört zusammen. Das hängt mit der Debatte über die Zukunft des Sozialstaats zusammen. Wir müssen in diesem Parlament über soziale Ungleichheit und darüber diskutieren, wie viel an sozialer Ungleichheit wir zu akzeptieren bereit sind. Wir müssen über soziale Gerechtigkeit und darüber diskutieren, ob sie ausschließlich Chancengerechtigkeit sein soll oder ob nicht auch die Verteilungsgerechtigkeit eine wichtige Aufgabe des Parlaments ist. ({15}) Es geht hier wirklich nicht nur um einen Bericht, sondern um grundlegende Wertvorstellungen unserer Demokratie, um ihren inneren Zusammenhalt, deswegen brauchen wir verlässliche empirische Grundlagen. Wir müssen wegkommen von den Betroffenheitsritualen, von den blinden Vorurteilen, von der Tabuisierung und dem Schlagabtausch. Ich glaube, das ist dringend notwendig, damit wir in diesem Parlament eine aktive Politik zur Vermeidung von Armut machen können. Herzlichen Dank. ({16})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

In die Richtung der Kollegen der F.D.P. möchte ich feststellen, dass der Begriff „putzig“ durchaus parlamentarisch ist. Nun hat der Kollege Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion beantragt eine Untersuchung - das ist schon von Herrn Spanier gesagt worden - zu einem Thema, zu dem bislang mehr Vermutungen denn handfeste Informationen vorliegen, nämlich zur verdeckten Armut. Gemeint ist jene Gruppe von Menschen, die bislang in den vielen bereits existierenden Berichten ausgeblendet oder als nicht quantifizierbar behandelt wird. ({0}) Es sind dies jene Mitbürgerinnen und Mitbürger, die trotz eines bestehenden Rechtsanspruchs auf Sozialhilfe ihre berechtigten Ansprüche gar nicht geltend machen. Demjenigen, der Sozialhilfe bezieht - das ist die Intention unseres Bundessozialhilfegesetzes -, wird ein menschenwürdiges Leben oberhalb des Existenzminimums garantiert. Bei jenen, die als verdeckt Arme aus verschiedensten Gründen ihre Ansprüche gar nicht geltend machen, besteht tatsächlich das Risiko einer existenziellen Gefährdung. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa zwei Millionen Menschen in Deutschland die ihnen zustehende Unterstützung nicht beantragen. Besonders gravierend ist, dass die so genannte verdeckte Armut mit der Haushaltsgröße ansteigt und somit Kinder darunter zu leiden haben. Wissenschaftliche Untersuchungen werden zu diesem Thema im Vergleich zum Thema der relativen EinkomWolfgang Spanier mensarmut kaum durchgeführt, und deshalb würde es sich tatsächlich lohnen, hierzu einen Bericht in Auftrag zu geben. Wer zielgerichtet politisch handeln will, wer denjenigen, die tatsächlich Hilfe brauchen, helfen will, der muss sich mit seinen Untersuchungen auf das Thema konzentrieren, bei dem tatsächlich Forschung notwendig ist. ({1}) Der von Rot-Grün beantragte Armuts- und Reichtumsbericht steht dagegen in der Gefahr, zusätzlich zu den bestehenden Untersuchungen und Berichten noch einmal ein weiteres Zahlengrab zu öffnen ({2}) oder eine Ansammlung sozialschwärmerischer Artikel über Armut und Reichtum zu werden. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, der Kollege Grehn möchte eine Zwischenfrage stellen.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gut, bitte sehr.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte schön.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege, mich würde einmal interessieren, welche Unterschiede Sie eigentlich zwischen versteckter Armut und offener Armut sehen, und zwar aus Sicht der Betroffenen. Was glauben Sie, wie sich die versteckt Armen im Unterschied zu den offen Armen fühlen? Ist nicht vielmehr die versteckte Armut ein Teil der gesamten Armut in diesem Land? ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Grehn, Inhalt und Geist unseres Bundessozialhilfegesetzes, 1961 unter einer CDU-geführten Bundesregierung eingeführt, ist es, jedem in Deutschland ein Leben zu garantieren, bei dem er nicht in existenzielle Armut fällt. Das ist die Aufgabe des Bundessozialhilfegesetzes. ({0}) Trotz aller Kritik erfüllt dieses Bundessozialhilfegesetz Gott sei Dank bis zum heutigen Tag diese Funktion. Verdeckt arm und damit tatsächlich in der Gefahr, in existenzielle Armut zu geraten, sind diejenigen Menschen unter uns, die ihre Ansprüche nach dem Bundessozialhilfegesetz gar nicht geltend machen, die also unterhalb des relativen Existenzminimums, das durch die Leistungen gemäß Bundessozialhilfegesetz garantiert wird, leben müssen. ({1}) Das nennt man verdeckt arm. ({2}) - Das war die Antwort.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Der Kollege Grehn möchte noch eine Zusatzfrage stellen.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte schön.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich sehe davon ab, dass meine Frage unbefriedigend beantwortet worden ist. Ist Ihnen bekannt, dass die Betroffenenorganisationen - insbesondere die Bundesarbeitsgemeinschaft der Arbeitsloseninitiativen, aber auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Obdachlosen - davon ausgehen, dass ein großer Teil der Sozialhilfeempfänger, hinsichtlich derer Sie davon reden, dass Sie Armut verhindern, tatsächlich Arme sind, oder sind Sie der Meinung, dass die Obdachlosen nicht unter die Armen fallen?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit Ihrer Frage zielen Sie auf die Definition. Ich wiederhole die Definition, die wir mit dem Bundessozialhilfegesetz entwickelt haben: Mit den Leistungen der Sozialhilfe verhindern wir, dass Menschen unterhalb des Existenzminimums leben müssen. Entschuldigung, wenn Sie mich so anschauen, dann muss ich Ihnen sagen: Auch das Bundesverfassungsgericht hat die Sozialhilfe als Existenzminimumsgrenze definiert. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass das höchste deutsche Gericht diese Definition festgelegt hat! Von nichts anderem sprechen wir.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun möchte der Kollege Spanier eine Zwischenfrage stellen.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege Spanier, bitte sehr. Danach lasse ich keine Zwischenfragen mehr zu, damit wir in der Tagesordnung fortfahren können.

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Weiß, ich verstehe, dass Sie hier vehement für Ihren Alternativvorschlag, einen Bericht über verdeckte Armut, eintreten. Ich gehe davon aus, dass auch Sie in die Konzeptund Umsetzungsstudie des zuständigen Ministeriums Peter Weiß ({0}) hineingeschaut haben. Wenn Sie das getan haben, dann dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass es nicht nur um die Erfassung von Einkommensarmut, sondern auch um die Berücksichtigung anderer Lebenslagen geht, zum Beispiel um Unterversorgung im Bereich des Wohnens oder der Gesundheit, und dass selbstverständlich auch die verdeckte Armut, das heißt, die Situation der Menschen, die Sozialhilfe - aus welchen Gründen auch immer - nicht in Anspruch nehmen, obwohl sie anspruchsberechtigt sind, und deren Zahl offensichtlich beschämend groß ist, in diesem Bericht dargestellt wird. Das ist ausdrücklich verankert. Ich frage Sie: Was macht Ihnen eigentlich Sorge? Besorgt es Sie, dass der Reichtum und die einzelnen Lebenslagen mit berücksichtigt werden? Das ist doch Konsens in der Armutsforschung. Die Wohlfahrtsverbände und gerade auch die Caritas, auf die ich besonders hinweise, stimmen schon seit Jahren darin überein, dass dies alles dringend im Zusammenhang aufgearbeitet werden muss.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Spanier, ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass für die Aufarbeitung des Themas verdeckte Armut - gerade weil es darüber kein Zahlenmaterial und keine Statistiken gibt Lebenslagenforschung und Lebenslagenuntersuchungen notwendige Instrumente sind, um einen solchen von uns beantragten Bericht über die verdeckte Armut zu erstellen. Ich wiederhole noch einmal das, was ich schon ausgeführt habe: Wir von der CDU/CSU-Fraktion sind der Auffassung, dass wir uns dann, wenn wir eine Untersuchung in Auftrag geben, auf das Thema konzentrieren sollten - das ist die verdeckte Armut -, bei dem tatsächlich politischer Handlungsbedarf besteht. Deswegen haben wir unseren Antrag gestellt. ({0}) Vielleicht geht es Rot-Grün auch gar nicht darum, mithilfe des Reichtums- und Armutsberichts genauere Fakten und Daten zu erheben, sondern darum, mit viel Papier die Diskussion über ihr eigenes Handeln bzw. Nichthandeln zu vernebeln; ({1}) denn die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land messen die Politik der Bundesregierung zu Recht daran, was sie wirklich tut, und nicht daran, welche Berichte sie schreiben lässt. ({2}) Was haben Sie von Rot-Grün in der Zeit, in der Sie regieren, eigentlich getan, was den Namen Armutsbekämpfung verdienen würde? ({3}) Sie haben die so genannte Ökosteuer eingeführt. Schon der Name ist ein Betrug. Jedes Jahr tritt eine neue Stufe mit Steuererhöhungen in Kraft. Jede dieser Stufen geht einseitig zulasten der Sozialhilfeempfänger. Ein Sozialhilfeempfänger hat keinen Ausgleich durch geringere Rentenversicherungsbeiträge oder durch eine allgemeinen Steuerentlastung. ({4}) Rot-Grün hat die so genannte originäre Arbeitslosenhilfe abgeschafft. Sie schicken Zigtausend Menschen zusätzlich in die Sozialhilfe. ({5}) - Ich verstehe schon, dass Sie erregt sind, wenn man Ihnen vor Augen führt, was Sie einmal beschlossen haben und dann tatsächlich getan haben. Rot-Grün kürzt in der Sozialversicherung die Beiträge für Arbeitslosenhilfebezieher. ({6}) Es ist absehbar, dass aufgrund dieser Politik in einigen Jahren noch mehr Menschen auf Sozialhilfe angewiesen sein werden. Ich kenne Ihre Antwort: bedarfsorientierte Grundsicherung. ({7}) Diese bringt dem entsprechenden Personenkreis keine zusätzlichen Leistungen. Ihre Sozialhilfe erhält schlichtweg nur einen anderen Namen: gleiche Leistung, aber neuer Farbanstrich. Das ist keine Politik; das ist schlichtweg ein schlechter Werbegag. ({8}) Alle politischen Gruppierungen und Experten sind sich einig: Die Sozialhilfe muss reformiert werden. Wir brauchen ein neues Bedarfsbemessungsschema. Die Frage, wie genau die Sozialhilfe zu bemessen ist, muss neu geregelt werden. Seit 1997 gilt eine Übergangsregelung, nach der die Regelsätze der Sozialhilfe in der gleichen Weise wie in der gesetzlichen Rentenversicherung erhöht werden. Um Zeit für eine Neuregelung zu gewinnen, haben Sie, die rot-grüne Regierungskoalition, im vergangenen Jahr beschlossen, dass diese Übergangsregelung für weitere zwei Jahre, bis 2001, anzuwenden ist. ({9}) Als Begründung haben Sie damals angeführt, dass die Verlängerung dieser Übergangsregelung gegenüber den Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern deshalb vertretbar sei, weil davon ausgegangen werden könne, dass die Renten in den nächsten beiden Jahren stärker als bisher steigen und dass damit auch die Sozialhilfe steigt. Doch das ist jetzt nicht mehr der Fall. Durch Ihren Rentenbetrug ist Ihre eigene Gesetzesbegründung entfallen. Dem Rentenbetrug folgte der Sozialhilfebetrug. ({10}) - Entschuldigung, Frau Kollegin, das ist die Systematik des Gesetzes. Doch der einen Schandtat soll bereits die nächste folgen. Nach dem von Ihnen beschlossenen Gesetz müsste spätestens zum 1. Juli 2001 ein neues Bedarfsbemessungsschema in der Sozialhilfe festgelegt werden; denn davon hängt in der Sozialhilfe alles ab. Doch schon hört man Stimmen, dass sich die rot-grüne Koalition ein weiteres Mal eine Übergangsfrist bis 2002 genehmigen lassen will. ({11}) - Nein, die hört man bei Ihnen, Herr Gilges, aus dem von Ihrer Partei geführten Bundesarbeitsministerium. Ich wette, im Frühjahr 2002 fällt Ihnen sicherlich ein weiterer so genannter gewichtiger Grund ein, warum Sie die eigentliche Reform des BSHG nochmals, über das Datum der Bundestagswahl hinaus, verschieben. Das bedeutet, dass Sie bei der eigentlichen Kernfrage der Sozialhilfe, nämlich wie und nach welchen Kriterien Sozialhilferegelsätze zu bemessen sind, kneifen. Ihr Motto heißt: Zeit schinden, aber ja keinen reinen Wein einschenken. ({12}) - Herr Gilges, die Opposition sitzt nicht in dem entsprechenden Arbeitskreis beim Deutschen Verein, der ein neues Bedarfsbemessungsschema entwickeln soll. Sie lassen für viel Geld auf viel Papier vieles über Armut und Reichtum in Deutschland schreiben; aber Papier ersetzt eben kein politisches Handeln. Für die angebliche Notwendigkeit Ihres Projekts eines Armutsund Reichtumsberichts nennen Sie als Kronzeugen die Kirchen, die nationale Armutskonferenz und die Wohlfahrtsverbände. Doch offensichtlich werden diese Verbände nur für die plakative Begründung gebraucht. Wenn es konkret wird und zur Sache geht, dann zählt deren Rat nichts mehr. Die nationale Armutskonferenz hat beim - schon erwähnten - vom Bundesarbeitsministerium durchgeführten Forum ein Modell vorgelegt, nach dem der neue Armuts- und Reichtumsbericht zwar unter der politischen Verantwortung der Bundesregierung zu erstellen ist, nach dem aber für das Berichtsmanagement eine neutrale Geschäftsstelle, zum Beispiel beim Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, eingerichtet werden soll. Die Beschlussfassung der Konzeption und des Forschungsbedarfs soll in einer Expertenkommission mit Vertretern aus Bund, Ländern, Kommunen, Verbänden, Betroffenenorganisationen und Wissenschaftlern sowie dem Statistischen Bundesamt erfolgen. Die wissenschaftlichen Untersuchungen werden durch Wissenschaftler und entsprechende Institute erfolgen. Die rot-grüne Koalition lehnt dies schlichtweg ab. Sie wollen einen regierungsamtlichen Bericht. Die Kronzeugen für die Armuts- und Reichtumsberichterstattung sind desavouiert. Genau das, was die Befürworter eines solchen Berichts in Wissenschaft und Verbänden bezüglich der Art und Weise, wie ein solcher Bericht zustande kommen soll - nämlich durch eine unabhängige Expertise -, erwartet haben, soll es nicht geben. Sie wollen einen Regierungsbericht und lehnen die Vorschläge der nationalen Armutskonferenz schlichtweg ab. ({13}) Von einer neutralen Steuerungsgruppe ist keine Rede mehr. Ich finde es übrigens interessant, dass die Frau Kollegin Deligöz - sie wird nach mir sprechen - bei jener Tagung im Oktober 1999 noch der Auffassung war, dass eine Trennung von unabhängigen Expertisen und Stellungnahmen der Bundesregierung sinnvoll sei, ({14}) dass ein so erstellter Bericht auch für die interessierte Öffentlichkeit aussagekräftiger und gewichtiger sein werde. Sie plädierte sogar dafür, das Berichtsmanagement dem Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge zu übertragen. Doch von alldem will jetzt bei Rot-Grün niemand mehr etwas wissen. ({15}) - Herr Kollege Gilges, Sie haben Recht: Sie wollten es nicht. Insofern haben Sie die arme Frau Kollegin Deligöz in dieser Frage platt gemacht. ({16}) Auf gut Deutsch: Schon heute steht fest, dass dieser nationale Armuts- und Reichtumsbericht, den Rot-Grün dank ihrer Mehrheit heute beschließen wird, seine Glaubwürdigkeit bereits vor dem Entstehen eingebüßt hat. Es ist schade um das viele Papier. Vielen Dank. ({17})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Ekin Deligöz.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Weiß, mich wundert es doch sehr, bei einem Blick in Ihren Lebenslauf feststellen zu müssen, dass Sie Karriere bei der Caritas gemacht haben. ({0}) Angesichts dessen müssten doch gerade Sie wissen, dass Herr Hauser als einer der Beauftragten für die ArmutsPeter Weiß ({1}) berichterstattung für die Caritas nicht nur bei uns im wissenschaftlichen Beratungsgremium eingeplant ist, sondern dass er in der Funktion als Caritas-Mitarbeiter eine Armuts- und Reichtumsberichterstattung von der Bundesregierung gefordert hat. Als jemand, der von der Caritas kommt, sollten Sie erst einmal in Ihre eigenen Unterlagen hineinschauen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte im Gegensatz zu meinen Vorrednern nicht mit dem Thema Armut, sondern mit dem Thema Reichtum anfangen. Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt. 1998 verfügten rund 44 Millionen Privathaushalte über ein Geldvermögen von 5,7 Billionen DM. Hinzu kamen Immobilien, Gebrauchswerte, Möbel, Teppiche, Schmuck und Uhren. Dabei hatte jeder Haushalt rechnerisch ein Geldvermögen von rund 153 000 DM und einen Besitz im Wert von 389 000 DM. Aber das, meine Damen und Herren, gilt nur im Durchschnitt. Tatsächlich sind 5 Prozent der Haushalte überschuldet. Fakt ist, dass wir 4 Millionen Arbeitslose haben, deren Einkommenssituation meist prekär ist. Fakt ist auch, dass 3,5 Prozent der Bevölkerung von Sozialhilfe leben. Fakt ist, dass wir in Deutschland nach wie vor Menschen haben, die zwar sozialhilfeberechtigt sind, aber aus Unwissenheit oder Scham auf ihre Ansprüche verzichten. Das ist die verdeckte Armut. Offene Armut in Deutschland hat vor allem ein junges Gesicht. Über 1 Million Kinder und Jugendliche leben in Haushalten, deren Einkunft Sozialhilfe ist. Die Sozialverbände sprechen von zusätzlich 700 000 Kindern, die in verdeckter Armut leben. Natürlich wissen wir in Deutschland schon einiges über Reichtum und auch über Armut. Alle fünf Jahre befragt das Statistische Bundesamt mehrere Zehntausend Haushalte über ihr Einkommen; auf freiwilliger Basis findet auch eine Befragung über die Vermögensverhältnisse statt. Allerdings werden in dieser Einkommensund Verbraucherstichprobe weder die Haushalte mit einem Monatseinkommen von über 35 000 DM berücksichtigt, die diese eindrucksvollen Vermögen besitzen, noch die nicht-deutschen Haushalte, die im Durchschnitt weniger gut situiert sind. Diese offiziellen Daten liefern uns deshalb nur eine eingeschränkte Auskunft über die Realität von Armut und Reichtum in Deutschland. ({3}) Auch über verdeckte Armut ist uns in der Tat sehr wenig bekannt. Aber darüber, dass Armut und Reichtum in Deutschland existieren, sind wir uns, denke ich, einig. Es sollte uns allen auch klar sein, dass wir als eines der reichsten Länder der Welt die Armut bekämpfen müssen und dass wir gerade als Politiker hierbei in der Verantwortung stehen. Aber dann beginnt die Debatte: Wo fängt Armut an? Wo hört Armut auf? Sind Menschen, die Sozialhilfe bekommen, arm? Oder stimmen die Aussagen von Sozialverbänden, die von einer Bedarfsunterdeckung der Sozialhilfe von 18 Prozent sprechen? Das ist die objektive Seite, die wir noch zu klären haben. Es gibt aber darüber hinaus eine subjektive Seite. Vom jeweiligen Verständnis und der Herangehensweise hängt es ab, was unter Armut verstanden wird. Sicherlich braucht in Deutschland niemand mehr zu hungern, auch wenn wir, vor allem bei Menschen mit geringem Einkommen, häufig von Fehlernährung und von ernährungsbedingten Krankheiten sprechen. Auch wer in Deutschland Sozialhilfe bezieht, hat zumeist ein Telefon bzw. einen Fernseher. Ebenso ist der materielle Lebensstandard von Arbeitslosen sicherlich um einiges höher als der von vielen Kleinunternehmern in den Entwicklungsländern. So gesehen ist Armut und so gesehen ist auch Reichtum relativ. Aber nach unserer Definition ist nicht nur derjenige arm, der nicht genügend Mittel zum physischen Überleben hat, sondern auch derjenige, der im Vergleich zu den Standards seiner Gesellschaft über nur geringe Ressourcen verfügt. ({4}) Arm sind Menschen, die gesellschaftlich an den Rand gedrängt werden, die kaum Chancen auf einen sozialen Aufstieg haben und deren Kindern die soziale Randständigkeit schon in die Wiege gelegt zu sein scheint. Für diese Menschen hat Armut viele Gesichter. Sie beginnt beim Familienurlaub und dann, wenn die Freizeit mit Kindern außerhalb der eigenen Wohnung zu einem wahren Luxusgut wird. Sie trifft auch die Mutter, die für ihr Kind keinen Kindergeburtstag ausrichten kann, weil sie nicht genug Geld dafür hat. Zur objektiven Seite der Armut gehört wiederum: Eine Politik, die sich für soziale Gerechtigkeit und für das Gemeinwohl einsetzt, braucht eine solide Informationsgrundlage. ({5}) Es ist sehr ehrenswert, dass Sie von der Union sich für die verdeckte Armut interessieren. Aber das ist nur ein kleiner Ausschnitt der Gesamtproblematik. Wir dürfen hier im Parlament nicht nur einen Teilbereich der Armut behandeln. Wir müssen vielmehr die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit wahrnehmen. Wir müssen auch über Tabus sprechen, also über Dinge, über die man angeblich bisher nicht gesprochen hat und auch in Zukunft nicht sprechen will. Eine Politik für soziale Gerechtigkeit braucht definitiv eine klare Wertentscheidung: Was verstehen wir unter Gerechtigkeit? Was verstehen wir unter Menschenwürde? Wir brauchen Informationen über die Verteilung von Einkommen und Vermögen. Wir brauchen Informationen über deren Fortentwicklung und deren volkswirtschaftlichen Einsatz. ({6}) Beides ist notwendig, um zum Beispiel die anstehende Debatte über die Neufestlegung der Regelsätze in der Sozialhilfe führen zu können. Beides ist auch notwendig, um den künftigen Herausforderungen der Armutspolitik gerecht zu werden. Herr Kollege Weiß, es ist schön, dass Sie sich Sorgen um meine Position machen. Aber arm, so wie Sie das gesagt haben, bin ich nicht. ({7}) Zudem lasse ich mich von guten Konzepten überzeugen. Die Planungen im Bundesarbeitsministerium im Hinblick auf den Berichtsprozess sind weit vorangeschritten. Im Gegensatz zu Ihnen, die Sie für Werbegags verantwortlich sind, schreiten wir lieber zu Taten und tun etwas. ({8}) Wir erwarten die Ergebnisse des ersten Armuts- und Reichtumsberichts im Frühjahr 2001. Ich freue mich sehr über eine wirklich gute und intensive Vorarbeit, die hier bereits geleistet wurde und auch in Zukunft geleistet werden wird. ({9}) Vorhin wurde gefragt, was wir getan haben. Das sollten Sie aber wissen. Wer hat die Kindergelderhöhungen durchgesetzt? Wer hat durchgesetzt, dass das erhöhte Kindergeld nicht auf die Sozialhilfe angerechnet wird? Das waren nicht Sie, sondern wir, und zwar im vergangenen Jahr, wenn ich mich richtig erinnere. ({10}) - Herr Kollege Niebel, dies ist meine erste Rede hier im Bundestag in diesem Jahrtausend und meine fünfte Rede über Armut, Reichtum und Sozialpolitik, seitdem ich Mitglied im zuständigen Ausschuss bin. Ich muss sagen: Das ist eine der Reden, bei der ich von Ihnen wiederum nur unterbrochen werde. Dafür würde ich Ihnen am liebsten den Machopreis des Jahres verleihen. ({11}) Lassen Sie mich wieder zum Thema zurückkommen. Wir bevorzugen zwar aus Gründen der Unabhängigkeit eine externe Vergabe. Würden wir aber diesen Bericht extern vergeben, hätten wir ihn frühestens im Jahr 2002. Mit einer solchen Verzögerung könnten wir kaum arbeiten. Wir möchten nämlich in dieser Wahlperiode nicht nur Ergebnisse haben, sondern über sie auch politisch diskutieren, Konsequenzen aus ihnen ziehen und die ersten Maßnahmen in diesem Bereich in die Wege leiten. Für künftige Armuts- und Reichtumsberichte bleibt die Frage der Organisation noch offen. Ich freue mich darüber, dass es seitens des Ministeriums Signale der Offenheit gibt. ({12}) Wir sind bereit, die wissenschaftliche Federführung des BMA zu akzeptieren, weil das Bundesministerium gesellschaftliche Institutionen, Fachverbände und kritische Armutsforscher und -forscherinnen - auch Herrn Hauser, auch Vertreter der Caritas - in den wissenschaftlichen Beirat aufnimmt. ({13}) Beide Gremien werden den Berichtsprozess in allen Fragen intensivst begleiten. Uns ist auch wichtig, eng mit den Sozialverbänden zusammenzuarbeiten und eine Verzahnung sicherzustellen. ({14}) Soziale Gerechtigkeit ist ein vielschichtiger Begriff. ({15}) Es geht in der Tat um Verteilungsgerechtigkeit, aber nicht weniger um Generationengerechtigkeit, um Chancengerechtigkeit und letztendlich auch um Leistungsgerechtigkeit. Wir wollen gerade diese Dimensionen nicht gegeneinander ausspielen, sondern in ihrer Vielschichtigkeit beurteilen und handhaben. Dafür brauchen wir neben inneren Überzeugungen auch eine rationale Informationsbasis. Das Konzept der Koalition schafft dafür eine unverzichtbare Grundlage. ({16})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Manchmal sind sehr häufig wiederholte Zwischenrufe für den Redner nicht so ganz einfach, Herr Kollege Niebel, wenn Sie mir erlauben, das zu sagen. ({0}) Nun hat Herr Kollege Dr. Heinrich Kolb, F.D.P.Fraktion, das Wort.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit unserer letzten Debatte sind wir durch die Verhandlung im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung und natürlich auch durch die Tagung „Armut und Reichtum in Deutschland“ am 7. Oktober letzten Jahres ein Stück weitergekommen, was die Behandlung und die Bewertung des Koalitionsantrages angeht. Herr Kollege Spanier, ich habe mir die Tagungsdokumentation noch einmal sehr intensiv angesehen. Ich muss Ihnen sagen, meine Zweifel, was Ihre Forderung nach Erstellung eines solchen Berichtes anbelangt, sind nicht kleiner, sondern größer geworden. Gestiegen sind auch meine Zweifel, dass es Ihnen gelingen könnte, in einem vertretbaren Zeitraum - zumindest nicht bis 2001 - zu einem aussagekräftigen Datenbestand zu kommen. Natürlich ist auch meine Skepsis bestätigt, was die Zielrichtung Ihres Wissensdranges anbelangt. Aber eines nach dem anderen. Die methodischen Fragen - Sie wollten ja konkrete Gründe für unsere Ablehnung - nehmen einen breiten Raum bei der Darstellung der Ergebnisse der Voruntersuchung anlässlich der Tagung „Armut und Reichtum“ ein. Bei der Beantwortung der Frage, was Armut ist, gibt es - so das Ergebnis der Voruntersuchung - zwei mögliche Ansätze, nämlich einen Ressourcenansatz und einen Lebenslagenansatz. Beim Ressourcenansatz geht es um die monetären Aspekte, beim Lebenslagenansatz um die nicht monetären Aspekte von Armut und Reichtum. Bei den monetären Ansätzen wird dann noch zwischen absoluter, relativer und politisch-normativer Armut unterschieden. Die Untersuchung der absoluten Armut in Deutschland wäre wenig ergiebig und ist wohl auch nicht das, was Sie von der Koalition anstreben. Auch Bundesminister Riester hat auf dem Forum am 7. Oktober 1999 gesagt - ich zitiere -: Von einer existenziellen, absoluten Armut, bei der die Mittel zum physischen Überleben fehlen, kann in Deutschland nur selten gesprochen werden. Relative Armut - ich muss das aus Zeitgründen hier knapp halten - als Ansatz zu wählen und zu beschreiben, ist nicht unproblematisch. Darauf weisen Dietrich Engels und Christine Sellin von der ISG GmbH hin, die diese Voruntersuchung gemacht haben. Sie sagen - ich zitiere -: Genau genommen ist es ja so, dass eine solche relative Armutsmessung Ungleichheit misst, aber nicht das, was Armut im strengen Sinne ausmacht. Das heißt, wenn das Wohlstandsniveau insgesamt ansteigt und wenn es gleichmäßig ansteigt, wird auch die Armut faktisch zurückgehen, aber die relative Armut im Vergleich zu den Durchschnitten der Gesellschaft wird sich nicht unbedingt verändern. Das sind Gesichtspunkte, die man kritisch im Auge haben muss. Ich denke, das spricht für sich. ({0}) Schließlich, Herr Gilges, der Ansatz der politischnormativ definierten Armut: Als arm in diesem Sinne, so Engels/Sellin, würde man den bezeichnen, der auf Sozialhilfe angewiesen ist. Hier muss ich wiederholen, Herr Kollege Gilges, was ich bereits in der Debatte vom 30. September gesagt habe. Der Bezug von Sozialhilfe ist nicht der Beweis von Armut, sondern er ist der Beweis von verhinderter Armut. Ich sehe die Sozialhilfe nicht als eine Schande unseres Gemeinwesens, sondern als eine Errungenschaft der Sozialpolitik an, auf die wir stolz sein können. ({1}) Gleichwohl muss ich zugeben: Es gibt Probleme neben und über der Sozialhilfe, wobei „neben der Sozialhilfe“ den Sachverhalt der verdeckten Armut beschreibt. Dazu habe ich bereits in der Debatte vom 30. September das Wesentliche gesagt. „Über der Sozialhilfe“ beschreibt eine andere interessante Kategorie, der wir vielleicht seitens der Politik bis jetzt zu wenig Beachtung schenken. Das ist die Kategorie prekärer Wohlstand. Das heißt, von Armut gefährdet sind auch die Personengruppen, die knapp oberhalb der Armutsgrenze liegen: Sie werden zwar von der vollen Wucht unseres Steuersystems getroffen, kommen aber gerade nicht mehr in den Genuss der diversen Transfer- und Sozialleistungen. Nur der Vollständigkeit halber will ich noch die subjektive Armut erwähnen. Danach ist arm derjenige, der sich selbst als arm einschätzt. Ich glaube, wir sind uns einig, dass dies eher eine Anspruchsgrenze als eine Armutsgrenze beschreibt. So haben es auch Engels/Sellin in ihrer Untersuchung gesehen. Ich hätte mir schon gewünscht, Herr Kollege Spanier, dass Sie heute einmal gesagt hätten, welchen Armutsbegriff Sie zugrunde legen wollen. Erscheint das alles schon schwierig, so wird die Reichtumsberichterstattung unter dem monetären Gesichtspunkt noch schwieriger. Auch hier stellt sich die Frage: Gibt es eine absolute Reichtumsgrenze? Die befragten Experten plädieren dafür, ein Einkommen, das höher als 200 Prozent des durchschnittlichen Einkommens liegt, als Indikator für Reichtum zu nehmen. ({2}) Ich habe mir, Herr Kollege Dreßen, einmal die Mühe gemacht, aus der Lohn- und Einkommensteuerstatistik, die im Statistischen Jahrbuch 1999 veröffentlicht worden ist, den Median der Einkommensverteilung das ist die von den Experten bevorzugte Methode - näherungsweise zu bestimmen. Das ist natürlich nur eine Tendenzaussage. Aber ich glaube, dass die Größenordnungen stimmen. Deswegen will ich das Ergebnis hier vortragen. In dieser Statistik sind 53,7 Millionen lohn- oder einkommensteuerpflichtige Einkommen nach Größenklassen aufgeführt. Man stellt fest, dass der Median im Bereich der Größenklasse zwischen 40 000 und 50 000 DM liegt. Armut, Herr Gilges, beginnt dann demzufolge in der Größenklasse 20 000 bis 25 000 DM, was ja durchaus noch einsichtig erscheint. Reichtum allerdings beginnt schon bei Einkommen von 80 000 bis 100 000 DM - wohlgemerkt: jeweils brutto. Da werden sich einige Menschen in der Bundesrepublik mit Recht schon bange fragen, was da möglicherweise auf sie zukommt. ({3}) Herr Kollege Gilges, Ihre Haltung ist in dieser Frage wenigstens in sich stimmig. Wenn ich mich nämlich daran erinnere, dass Ihr früherer Fraktionsvorsitzender Rudolf Scharping Alleinstehende mit Einkommen von 50 000 bis 60 000 DM brutto als Besserverdienende bezeichnet hat, dann muss ich sagen, dass es nur konsequent ist, die Grenze für Reichtum ab einem Einkommen von 80 000 bis 100 000 DM beginnen zu lassen. ({4}) All das, was ich für den Bereich der monetären Aspekte der Armut an methodischen Problemen versucht habe darzustellen, wird noch ungleich komplizierter, aber auch ungleich politischer und weniger exakt bestimmbar, wenn man an die nicht monetären Aspekte der Unterversorgung herangeht. Gibt es Armut an Gesundheit oder an Bildung? Gibt es einen Reichtum daran? Ist reich, wer einen - wenn ja, wie - bezahlten Arbeitsplatz hat, eine Wohnung oder Einfluss? Wie misst man das eigentlich? Meine Damen und Herren von der Koalition, bei alledem reden wir bisher nur von Einkommen. Geht es Ihnen aber nicht auch und gerade um die Vermögen? Ist Ihr Konzept, Herr Gilges, mit dem Sie sich an die Arbeit machen wollen, eigentlich richtig? War es nicht Ihre Partei, die noch vor dem Berliner Parteitag großspurig angekündigt hat, eine Vermögensabgabe zu erheben? Als Tiger gesprungen, als Bettvorleger gelandet! Alles schon vergessen? Ich werde das Gefühl nicht los, dass Ihr Handeln wie sollte es auch anders sein - politisch motiviert ist. Der differenzierte Armuts- und Reichtumsbegriff, den Frau Deligöz als „praktikable Grundlage für die Politik“ fordert, ist politisch motiviert. Sie, Herr Gilges, haben auf der Konferenz ganz ehrlich gesagt, dass die Vorlage des Berichts - Zitat - erhebliche symbolische Bedeutung hat, auch die Diskussion, die sich daran anschließt. Denn damit wird gerade den von Armut Betroffenen signalisiert, dass diese Bundesregierung ihre Probleme ernst nimmt und sich nicht darauf zurückzieht, dass Arme eigentlich selbst Schuld an ihrem Schicksal haben. ({5}) Ich sage hier ganz deutlich, Herr Gilges: Wenn das so ist, dann tun Sie, was Sie tun müssen. Aber erwarten Sie von uns bitte nicht, dass wir Sie auf diesem Weg begleiten. Und wenn Sie sich auf den Weg machen, nehmen Sie mit, was Abraham Lincoln auf so wunderbare Weise ausgedrückt hat: Ihr werdet die Schwachen nicht stärken, indem ihr die Starken schwächt. Ihr werdet denen, die ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, nicht helfen, indem ihr die ruiniert, die sie bezahlen. Ihr werdet keine Brüderlichkeit schaffen, indem ihr den Klassenhass schürt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort die Kollegin Dr. Barbara Höll, PDS-Fraktion.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Weiß, Ihr Beitrag vorhin war wirklich peinlich. Wenn man sich den Antrag anguckt, wird es noch peinlicher; denn dies ist nur ein Bemänteln dessen, was Sie in 16 Jahren Regierungspolitik versäumt haben. Und jetzt fordern Sie dazu auf, möglichst schnell Schritte einzuleiten. ({0}) Ihre Antworten deuten Sie in dem Antrag an: Sie möchten die Informationspolitik für die Sozialhilfeträger verbessern, Sie möchten den Sozialhilfeempfängern den Zugang erleichtern, indem Sie sie besser informieren. Aber das Problem als solches, die Armut insgesamt, betrachten Sie nicht. Dem haben Sie sich bisher verweigert. Sie haben nichts getan und haben heute wieder bewiesen, dass Sie nicht bereit sind, etwas zu tun. ({1}) Da bereits mehrmals in dieser Debatte eine Rolle spielte, wie Sozialhilfe zu bewerten ist - Sie verweigerten eine Antwort auf diese Frage -, kann man auf keinen Fall außen vor lassen, dass die Sozialhilfe als System sicher eine Errungenschaft war, aber eingeführt wurde in einer Zeit, da in der alten Bundesrepublik weitgehend Vollbeschäftigung herrschte. Die Sozialhilfe war ein Notnagel für Menschen, die - meistens durch äußere Umstände - tatsächlich in eine akute Notsituation gekommen sind. Heute heißt Sozialhilfe für viele Menschen sicher nicht Hunger, aber sie bedeutet zumindest den weitgehenden Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben, Ausschluss von gesellschaftlichen Aktivitäten. Und auch das ist Armut. Wenn ich in Leipzig Freitag abends in die Kaufhalle gehe, in Connewitz, und neben mir eine Mutti zu ihrem fünfjährigen Sohn sagt: „Die gefrorene Pizza für 2,99 DM gibt es nicht, weil sie zu teuer ist“, so weiß ich natürlich nicht: Hat sie Arbeit? Gehört sie eventuell zur Gruppe der Niedriglohnempfängerinnen, die von ihrer eigenen Arbeit nicht mehr leben können? Gehört sie zur Gruppe derjenigen, die Sozialhilfe bekommen und bei denen das Geld trotzdem nicht ausreicht? Oder gehört sie vielleicht zu der Gruppe von Menschen, die nicht einmal Sozialhilfe beantragen, weil sie Angst davor haben, dass vielleicht ihre Eltern regresspflichtig sind?

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte schön. Herr Kollege Singhammer.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Dr. Höll, wenn Sie über Reichtum und Armut sprechen: Stimmen Sie mir zu, dass ein Reichtumsbericht der Parteien die PDS, der Sie angehören, als eine der reichsten Parteien nicht nur Deutschlands, sondern sogar Europas ausweisen würde? ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Entschuldigung, Frau Präsidentin, dass ich lachen musste. Das ist ein etwas unparlamentarisches Verhalten. Aber die Frage ist wirklich lächerlich. Sie kennen die Berichte, Sie können sie sich angucken. Und Sie wissen, dass kein Großunternehmen auf die Idee käme, der PDS eine Spende zu überweisen, ob offiziell oder inoffiziell, weil wir garantiert nicht für die Interessen dieser Gruppen stehen, sondern für soziale Gerechtigkeit. ({0}) Ich möchte aber diese Frage nutzen, von hier aus an die Vertreter der Regierungskoalition einen Appell zu richten. Ich meine, die heutige Debatte zeigt auch, dass wir uns in wesentlichen Punkten einig sind. Die Forderung nach einem Armutsbericht, den zu erstellen sich die Bundesrepublik 1995 in Kopenhagen verpflichtet hat, hat eine Geschichte, auch eine parlamentarische Geschichte. In der letzten Legislaturperiode haben unserem Antrag nur die Grünen zugestimmt. Die SPD verweigerte sich damals und brachte danach einen eigenen Antrag ein. Ich meine, inzwischen haben sich die Positionen weitgehend angenähert. Wir fordern jeweils in unseren Anträgen eine Armuts- und Reichtums-berichterstattung, weil dies zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Ich meine, es wäre ein demokratisches Zeichen, wenn man am Ende einer solchen Diskussion, die doch eine weitgehende Übereinstimmung offenbart, bei der Abstimmung zumindest mit einer Enthaltung auf einen PDS-Antrag reagieren könnte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es ist wichtig, heute noch einmal herauszustellen: Dass wir zu dieser Debatte gekommen sind, ist nicht alleine und auch nicht zuerst Verdienst der Politikerinnen und Politiker. Sie ist aus breitem außerparlamentarischen Druck entstanden. ({1}) Sowohl die beiden großen christlichen Kirchen als auch viele Initiativen und Verbände wie der Kinderschutzbund und Sozialhilfeinitiativen haben daran großen Anteil. Es ist richtig und wichtig, sie in die weitere Arbeit einzubeziehen. Es gibt trotz aller Gemeinsamkeit Unterschiede zwischen den beiden Anträgen. Diese liegen aber in der Begründung. Wir stimmen ja über den Antrag ab und nicht über die Begründung. Ich glaube, dass schon fast zu viel Zeit ins Land gegangen ist, wenn der Bericht im Frühjahr 2001 kommt. Denn im Jahr 2002 sind Wahlen und wir wissen, dass im Vorfeld meistens nicht mehr sehr viel passiert. Ich denke, es ist wichtig, zu betonen, dass für uns als PDS Armut und Reichtum keine nationalen Größen sind. Daher muss der internationale Bezug aufgezeigt werden. Bei dieser Diskussion sollte Einigkeit darüber herrschen, dass es darum geht, mehr soziale Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft zu erreichen: Recht auf eine soziale Grundsicherung für jeden Menschen, der in der Bundesrepublik Deutschland lebt, ohne Bedürftigkeitsprüfung. Es ist für mich keine soziale Gerechtigkeit, Rentenansprüche von Arbeitslosen zu kürzen und die Rentenanpassung auf den Inflationsausgleich zu begrenzen - wobei CDU/CSU und F.D.P. in dieser Frage wirklich ruhig sein sollten; denn die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe haben sie schon probiert, damals aber nicht geschafft. Soziale Gerechtigkeit wäre es, wenn alle, gerade Bezieher hoher Einkommen, in alle Sozialkassen einzahlen würden. Da besteht Nachholbedarf. Keine soziale Gerechtigkeit ist es für mich, wenn das Kindergeld für alle ersten und zweiten Kinder um 20 DM erhöht wird, für die Kinder von sehr gut Verdienenden aber um 400 DM. Wenn das „Handelsblatt“ die Unternehmensteuerreform als „Benefizveranstaltung für das Großkapital“ begrüßt, so sollte das einer Partei, die für soziale Gerechtigkeit steht, doch sehr zu denken geben. Ich möchte abschließen mit einem kurzen Zitat aus der völlig unverdächtigen „Süddeutschen Zeitung“: Der neue Sozialstaat, der geschaffen werden muss, ist keineswegs teurer als der alte. Mehr Umverteilung heißt nicht mehr Geld - und angesichts der gegenwärtigen sozioökonomischen Machtverhältnisse wäre es auch töricht, eine solche Forderung aufzustellen. Mehr Gerechtigkeit muss dann aber auch durchgesetzt werden. Dazu werden Sie weiterhin unsere Unterstützung erhalten. Ich danke. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Ute Kumpf, SPD-Fraktion, das Wort.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Präsidentin! Kollegen und Kolleginnen! Wer Armen helfen will, muss nicht unbedingt ein Engel sein. Eigentlich genügt etwas Menschlichkeit. Ich füge in eigener Sache hinzu: vielleicht auch ein bisschen mehr Redlichkeit und Ehrlichkeit. ({0}) Die ersten zwei Sätze habe ich auf einer Weihnachtskarte von einem Kollegen von der Evangelischen Gesellschaft in Stuttgart bekommen. Vielleicht hat Frau Kolle7794 gin Reinhardt auch eine solche erhalten. Er hat sie mir als Losung für meine politische Arbeit auf den Weg gegeben. Mir ist klar, dass wir alle im Parlament - einschließlich der Opposition - uns mit unserem Antrag auf einen regelmäßigen Bericht über Armut und Reichtum in Deutschland, den wir heute - das zeichnet sich in der Debatte ab - auf den Weg bringen wollen, nicht zu Engeln machen werden. Das wäre ein teuflischer Ansatz, den wir ganz bestimmt nicht wählen. Wir können aber alle gemeinsam daran arbeiten - auch jeder, der einer Partei mit einem christlichen C angehört, kann dabei mitmachen -, Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Solidarität zum Maßstab unseres politischen Handelns zu machen. ({1}) Worum geht es uns bei dem Armuts- und Reichtumsbericht? Es geht uns darum, ein differenziertes Bild der sozialen Lage und der Verteilung von materiellen Ressourcen in Deutschland zu zeichnen. An Herrn Kolb und die Adresse der F.D.P., weil sie gern diese Platte spielen: Wir sind keine Neidhammel. Wir wollen keine Neidkampagne anzetteln, sondern es geht uns schlichtweg darum, dass wir hier eine Grundlage für unser politisches Handeln erhalten. Es geht nicht um diskussionsverliebte Ideologie, die nur auf dem Papier steht. Noch einmal an die F.D.P. gerichtet: Ich habe als junge Kommunalpolitikerin noch erlebt, dass sich die F.D.P. mit der Humanistischen Union auch sozialen Themen in einer ganz anderen Art und Weise gewidmet hat, als es ihre Diktionen und Ausführungen heute erkennen lassen. ({2}) Uns, der SPD, geht es darum, mehr Klarheit und Wahrheit hinsichtlich der tatsächlichen Einkommensund Vermögensverhältnisse in Deutschland zu erhalten. Klarheit und Wahrheit, tun unserer Politik, aber auch unserer gesamtgesellschaftlichen Debatte gut, weil wir dieses Thema tagtäglich auf der Straße zu hören bekommen. Es geht eben auch darum, eine Debatte über die Frage zu führen: Was ist soziale Gerechtigkeit? Eine offene Bestandsaufnahme ist schon längst fällig. Das wurde von verschiedenen Kollegen und Kolleginnen schon angeführt. Sie als alte Bundesregierung sind Ihrer Pflicht nicht nachgekommen, nach dem Weltsozialgipfel in Kopenhagen 1995 diesen Bericht zu erstellen. Sie waren schlichtweg dröge, schlampig und haben es verdrängt. ({3}) Es gilt zudem - meistens kommt dann der nächste Angriff - besonders in den Reihen der Opposition als altmodisch, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, wobei ich als Gewerkschafterin als traditionalistisch abgestempelt werde. Zudem ist es unschicklich, diese Verteilungsfragen zu stellen, weil es - dies ist immer Ihre Argumentation - in Zeiten der Globalisierung und des Wettbewerbsdrucks standortschädigend ist, die Verteilungsfrage in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei haben gerade Sie - das ist das Ärgerliche - ohne öffentliche Kontrolle zwei Jahrzehnte lang kräftig umverteilt. Die Bundesrepublik ist durch Ihre Politik, durch Ihr eigenes politisches Handeln, auf die schiefe Bahn geraten. ({4}) Immer mehr Menschen sind unter die Armutsgrenze gerutscht. Die Zahlen sind bekannt: Über eine Million Kinder wachsen unter den Bedingungen der Armut auf. Immer mehr sind dazu verurteilt, ein Leben unter Sozialhilfebedingungen zu fristen. Gleichzeitig aber hat sich die Zahl der Reichen und Superreichen, der Millionäre und gar Milliardäre erhöht. Es stimmt etwas nicht, sagen die Leute auf der Straße, wenn eine derartige Ungleichverteilung bei uns in der Bundesrepublik festzustellen ist. Schon die Kirchen haben uns und Ihnen ins Stammbuch geschrieben, dass nicht nur Armut, sondern auch Reichtum ein Thema der politischen Debatte sein muss: Umverteilung müsse zum Thema gemacht werden; das Gerechtigkeitsempfinden sei erheblich gestört. Uns geht es, wenn wir in Deutschland über Armut sprechen, auch darum, dass der Reichtum nicht verschwiegen werden darf. Es geht uns nicht darum, den Überfluss konkret zu identifizieren, also etwa Reiche und Superreiche namentlich mit ihrem Lebensstil vorzuführen. Das ist nicht unser Anliegen. Dafür müssen Sie weiter zu den bunt-goldenen Blättern greifen. Da können Sie sich bedienen. Wir alle wissen: Wir müssen uns vergegenwärtigen dazu verpflichtet uns unser Grundgesetz -, dass Eigentum, persönlicher Besitz und Vermögen, dem besonderen Schutz des Staates zu unterstellen ist. Das ist in Art. 14 unserer Verfassung verankert. Aber neben dem Recht gibt es auch eine Pflicht. Das übersehen wir gerne. In Art. 14 steht eben auch: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Aber ich frage mich: Wie soll es dem Wohl der Allgemeinheit dienen, wenn es im Verborgenen bleibt und wir selbst keinen Sachstand haben, wie sich diese Vermögenssituation darstellt? Geld hat man, darüber spricht man nicht. Das ist offenbar nicht nur im Schwabenland so, sondern geht anscheinend über die schwäbischen Grenzen hinweg. ({5}) Der Reichtumsforscher Ernst-Ulrich Huster sagt: Wahrscheinlich gibt es einen großen Zusammenhang zwischen Unkenntnis über hohe Einkommen und große Vermögen und deren Existenz. Unter Umständen ist Unkenntnis eine Grundvoraussetzung dafür, damit sie überhaupt blühen und sich entwickeln können. Beim Reichtum sind die Dinge sehr im Verborgenen. Wir haben erstens ein Problem, zwischen Einkommen und Vermögen zu unterscheiden. Zweitens ist die Datenlage, was den Reichtum anbelangt, noch schlechter als bei der Armut. Selbst das Statistische Bundesamt hat bei der Anhörung die Datenlage als unzureichend und verbesserungsbedürftig bewertet. ({6}) Wir können uns gerade einmal auf zwei Statistiken beziehen, wenn es um die Reichtumsbetrachtung geht: auf die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe mit 70 000 Haushalten und auf die Vermögenssteuerstatistik, die uns auch dahinschwinden wird, weil die Vermögenssteuer schlichtweg abgeschafft wurde und uns deswegen die Grundlage für diese Erhebung fehlt. Windeln, Wäschetrockner und Waschmaschinen, Mikrowelle und Maschendrahtzaun, der Verzehr von Speck, Schinken und Kaiserfleisch, Schalen- und Trockenobst und Kleingebäck aus Brotteig - dies alles findet sich im Statistischen Jahrbuch. Wenn man dort einmal hineinsieht, findet man Angaben darüber, wie viel wir davon verzehren und wie die Haushalte ausgestattet sind. Dies ist eine wahre Fundgrube für Kuriositäten. Aber über die wahren Verhältnisse von Einkommensund Vermögensreichtum in den deutschen Haushalten finden wir nichts - Fehlanzeige. Es gibt zwei dürre Datensätze, die bislang in den Diskussionen gehandelt werden; sie wurden schon genannt. Zum einen sind dies die Durchschnittswerte für das private Vermögen, die das Statistische Bundesamt erhebt. ({7}) Danach müssten Sie, Herr Kolb 150 000 DM Immobilienvermögen haben, 90 000 DM Geldvermögen und 40 000 DM Betriebsvermögen. Ich weiß nicht, ob Sie das haben; ich habe es nicht. Das ist aber immer so bei Durchschnittsbetrachtungen. Jeder weiß, dass die Wirklichkeit anders aussieht: Wenige haben viel, viele haben wenig und andere haben überhaupt nichts. Es geht schlichtweg darum, diesen Sachverhalt statistisch genauer und unter wissenschaftlicher Begleitung zu durchleuchten. Die dürren Datenäste, die bisher in diesem Bereich entwickelt wurden, gilt es entsprechend zum Blühen zu bringen. Deswegen setzen wir bei der Berichterstattung zu unserem Armuts- und Reichtumsbericht vor allem auf den Grundsatz: Wer Armut bekämpfen will, darf zum realen Reichtum in Deutschland nicht schweigen. ({8}) Um aber vernünftig reden zu können, brauchen wir aussagekräftige Daten und Informationen. Dies dürfte angesichts der oft zitierten gewollten und gewünschten Informationsgesellschaft selbstverständlich sein und Ihnen, die Sie doch so darauf setzen, nicht schwer fallen. Wir erwarten von der Berichterstattung, dass sie zu einer Versachlichung der Diskussion und der öffentlichen Debatte über Armut und Reichtum beiträgt, dass sie uns differenzierte Informationen zum Thema Armut und Reichtum liefert, mit denen wir im Parlament problemlösungsorientiert arbeiten können, dass der Bericht keine Eintagsfliege wird, sondern dass es sich - wie der Name schon sagt - um einen Prozess handelt und regelmäßig Berichte vorgelegt werden und dass wir allen Sachverstand, intern wie extern, bündeln und die Berichterstattung unter Einbeziehung von Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und betroffenen Organisationen entwickeln und aufbauen. Wir hoffen und rechnen damit, den Grundstein dafür zu legen, die Debatte um die Zukunft von sozialer Gerechtigkeit und sozialem Anstand auch in Zeiten von Individualisierung und Globalisierung in dieser Gesellschaft erfolgreich zu führen. Danke schön. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion.

Matthäus Strebl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002940, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Heute diskutieren wir den nationalen Armuts- und Reichtumsbericht. Wer die Zukunft gestalten will, darf Vergangenes nicht vergessen. Da erinnere ich an 1961, als das Bundessozialhilfegesetz als Ergebnis einer unionsgeführten Bundesregierung eingeführt wurde. ({0}) Es garantiert allen, auch den Schwächsten, ein menschenwürdiges Leben und hat die Armut in Deutschland weitgehend zurückgedrängt. Auch die Pflegeversicherung trägt die Unterschrift eines christdemokratischen Kanzlers. Sie hat die in den Siebzigerjahren unter dem SPD-Kanzler Schmidt zunehmende Altersarmut weitgehend beseitigt. ({1}) Das neue Vermögensbeteiligungsgesetz, mit dem sich in bunten Broschüren Walter Riester schmückt, stammt ebenfalls aus der Feder eines Christlich-Sozialen, nämlich von Norbert Blüm. ({2}) Die jetzige Bundesregierung hält es jedoch nicht einmal für nötig, den Investivlohn in die Gespräche über ein „Bündnis für Arbeit“ einzubringen. Stattdessen gibt es viele Ankündigungen, aber bisher keine Ergebnisse. Die Kirchen fordern in ihrem Sozialwort mit dem Titel „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ eine „strukturelle und moralische Erneuerung“ der sozialen Marktwirtschaft. ({3}) Sie sehen Reformbedarf im Steuerrecht und in der Vermögensbildung. ({4}) Dabei dürfe „Besitzstandswahrung“ nicht zu einem „Kampfbegriff in der Diskussion um den Umbau des Sozialstaates werden“. So das Sozialwort. Die Union hat im inhaltlichen und zeitlichen Einklang mit den Kirchen gearbeitet. Die CDU/CSU hatte bereits 1996 eine umfassende Steuerreform entwickelt, die Sie von der Sozialdemokratie aus kalten, machttaktischen Gründen verhindert haben. ({5}) Schröder, Lafontaine, ({6}) der wegen „Fahrerflucht“ nicht mehr zu belangen ist, und Eichel haben ihr Parteibuch vor die Interessen unseres Gemeinwesens und die Interessen der Arbeitslosigkeit gestellt. ({7}) Jeder Wirtschaftswissenschaftler bestätigt Ihnen von der SPD - da Sie gerade so lauthals schreien -, dass eine Steuerreform nach unserem Konzept eine massive Belebung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes nach sich ziehen würde. ({8}) Sie aber berufen sich auf die Kirchen und wollen einen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Wie dieser Bericht aus Ihrer Feder aussehen würde, kann ich Ihnen sagen: wie die Ergebnisse der Gespräche des „Bündnisses für Rhetorik“, nämlich rosarot, mit wenig Substanz, großen Worten und kleinen Taten, viel Papier und geringer Durchschlagskraft. ({9}) Mir bleibt schleierhaft, werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, was die Zielsetzung eines Reichtumsberichts sein soll, wahrscheinlich eine neue Neiddebatte in der Republik. ({10}) In keinem Land der Europäischen Union wird Geld für derartige Berichte verwendet. Wichtiger als Papier sind konkrete Handlungen, die ich bei Ihnen aber vermisse. ({11}) Wenn Sie das Sozialwort der Kirchen vollständig lesen würden und nicht nur in selektiver Wahrnehmung das herausgriffen, was Ihnen gefällt, dann hätten Sie die Politik der alten Bundesregierung unterstützen müssen, statt sie zu blockieren. Diesen Vorwurf mache ich Ihnen. ({12}) Mir ist es recht, wenn unabhängige Sozialverbände, wie zum Beispiel der Caritasverband, regelmäßig Armutsberichte vorlegen. Auch die Vermögensverteilung ist ein ständiges Thema der Veröffentlichungen. ({13}) Was wirklich fehlt, sind Forschungsergebnisse über die Bekämpfung verdeckter Armut. Dabei geht es auch darum, wie wir gemeinsam Armut in Deutschland definieren und mit ihr umgehen und wie wir Strategien und Zielsetzungen erarbeiten. ({14}) Das Gesicht der Armut ist vielschichtig wie das Leben. Wie gehen wir mit den Menschen um, die, aus welchen Gründen auch immer, mit unserem Sozialsystem gebrochen haben, ({15}) Menschen, die obdachlos vagabundieren oder aus Scham den Gang zum Sozialamt meiden? ({16}) Hier müssen neue Wege gefunden werden, die wir nicht aus parteitaktischen Gründen beschreiten dürfen, sondern deshalb beschreiten müssen, weil sie von der wirklich unabhängigen Forschung empfohlen werden. Die Arbeitnehmer in der Union, CDA und CSA, fordern, dass auch die Arbeitslosen, beispielsweise über die Kirchen, an den Gesprächen des „Bündnisses für Arbeit“ teilnehmen können. ({17}) Sie von der Koalition haben diese Forderung nicht einmal beantwortet. Sie schmücken sich hier und heute mit einem Sozialwort der Kirchen, bei dem ich davon ausgehe, dass Sie es nicht einmal gelesen haben. ({18}) Die Kirchen fordern einen Umbau des Sozialstaates. Norbert Blüm war hier Vorkämpfer. Aber Sie haben ihn in der letzten Legislaturperiode mit Steinen beworfen. Was Herr Riester derzeit zum Beispiel mit der Rente anstellt, riecht nach Systemwechsel: weg von der leistungsbezogenen Rente, hin zu einer Almosenrente. ({19}) Wenn Kanzler Schröder im Februar 1999 in Vilshofen erklärt hat, dass an der Rente nicht gerüttelt werde und es bei der nettolohnbezogenen Rente bleibe, die Haltbarkeitsdauer dieser Aussage aber nicht einmal ein halbes Jahr beträgt, muss ich sagen: Das ist das gebrochene Wort von Kanzler Schröder. ({20})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nickels?

Matthäus Strebl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002940, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich möchte im Zusammenhang vortragen. ({0}) Sie kürzen die Renten- und die Pflegeversicherungsbeiträge der Arbeitslosen und der Sozialhilfeempfänger und schaffen damit neue Armut, die Sie dann mit einem neuen Gesetz bekämpfen wollen. Ich will es einmal aufzählen, werte Kolleginnen und Kollegen: Die Kirchen fordern Reformen innerhalb des Rentensystems. Norbert Blüm hat gehandelt, Sie haben polemisiert, außer Kraft gesetzt und fahren den Rentenkarren krachend gegen die Wand. Die Kirchen fordern eine durchgreifende Steuerreform. Theo Waigel hat sie vorgelegt, Sie haben blockiert und kommen nun mit der Ökosteuer in einem ReformWischiwaschi daher. ({1}) Die Kirchen fordern eine bessere Vermögensbeteiligung. Norbert Blüm hat gehandelt und ein Gesetz vorgelegt, das die Tarifpartner mit Leben ausfüllen könnten. Was leisten Sie? Sie legen Broschüren auf und vergessen die politische Umsetzung. ({2}) Die Kirchen forderten die Einführung einer stabilen europäischen Währung. Helmut Kohl und Theo Waigel haben den Euro gegen den Widerstand aus Ihren Reihen, auch gegen Schröder, durchgesetzt. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der rot-grünen Koalition, ({3}) ich rate Ihnen: Wenn Sie die Kirchen ernst nehmen, dann setzen Sie den Investivlohn auf die Tagesordnung der nächsten Runde über ein „Bündnis für Arbeit!“. ({4}) Von 1985 bis 1996 - das muss man wissen - stieg in der Bundesrepublik Deutschland das Pro-Kopf-Einkommen um 19 Prozent. Auch die Kirchen bestätigen in ihrem Sozialwort, dass der deutsche Sozialstaat der großen Mehrheit der Bevölkerung soziale Sicherheit auf hohem Niveau garantiert. Das ist doch ein tolles Lob für Norbert Blüm und die von der Union entwickelte Sozialpolitik. Seit 1992 steigen die Kapitaleinkünfte fünfmal so schnell wie die Arbeitseinkommen. Das ist jedoch kein böser Wille von irgendeiner Regierung, ({5}) sondern hat etwas mit Rationalisierung und Globalisierung zu tun. Den Arbeitnehmer am Produktivkapital zu beteiligen, wäre ein Ausweg aus der Lohnfalle.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. Sie ist abgelaufen.

Matthäus Strebl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002940, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, alle Instrumente zur Armutsbekämpfung und für eine Vermögenspolitik der sozialen Marktwirtschaft sind hier zu ergreifen. Arbeiten Sie mit diesen Instrumenten! Setzen Sie nicht weiter darauf, dass durch die geburtenschwachen Jahrgänge die Arbeitskrise von selbst bewältigt wird! Daher sage ich: Sozial ist, was Beschäftigung schafft. Setzen Sie daher auch die richtigen politischen Rahmenbedingungen! ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Nickels das Wort.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Strebl, wir haben zwar nicht das hohe „C“ im Parteinamen, aber trotzdem sind uns die Äußerungen der Kirche gerade im Bereich Armut und Sicherung der Zukunft der Arbeit sehr, sehr wichtig. Bündnis 90/Die Grünen arbeiten seit Jahren intensiv mit den Kirchen zusammen. Das ist keine Eintagsfliege. Ich selbst habe zum Beispiel 1996 federführend für Bündnis 90/Die Grünen eine Kooperationstagung zur Zukunft der Arbeit in der Akademie organisiert. Dabei waren Fridtjof Bergmann und zahlreiche Politiker der Landesebene anwesend. Wir haben 1997 einen Studientag in Münster gemacht, an dem namhafte Vertreter der Evangelischen und Katholischen Kirche teilnahmen, und zwar expressis verbis zu dem gemeinsamen Wort der Kirchen. Ich habe mich sehr gefreut, dass ich auch meine Kolleginnen und Kollegen in der Partei dazu bewegen konnte, bundesweit, in allen Bundesländern - auch in den neuen Bundesländern, wo wir bekanntermaßen eine sehr dünne Mitgliederdecke haben, entsprechende Veranstaltungen durchzuführen. Die Kirchen haben sich darüber sehr gefreut. Das waren natürlich nicht Veranstaltungen, bei denen es Einstimmigkeit gab, sondern da hat man durchaus sehr kritisch und offen miteinander geredet. Aber das hat uns, glaube ich, insgesamt neue Erkenntnisse gebracht, auch neue Möglichkeiten in dem Sinne, dass Partei und Politik wirklich über die Grenzen der Institutionen hinweg zusammenarbeiten. Ich kann Ihnen eines sagen, was mir noch sehr im Ohr ist: Kirchenvertreter haben mir gesagt, sie würden sich wünschen - sie hätten es leider Gottes nicht erlebt -, dass ihnen auch die anderen Parteien in diesem Ausmaß die Gelegenheit geben würden, ihre Vorstellungen den Parteien nahe zu bringen und mit Ihnen zu diskutieren. Ich würde Sie also bitten, das zurückzunehmen, was Sie hier gesagt haben. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile dem Abgeordneten Strebl zu einer Entgegnung das Wort

Matthäus Strebl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002940, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Nickels, ich nehme zur Kenntnis, dass Sie so engagiert arbeiten. Ich wünschte mir aber, dass Sie auch bei anderen, genauso wichtigen Themen ebenso mit den Kirchen zusammenarbeiten würden. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich der Parlamentarischen Staatssekretärin Ulrike Mascher das Wort.

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Herr Strebl, vielleicht ist es Ihnen entgangen, dass sich 1997, als die beiden großen Kirchen ihr gemeinsames Sozialwort veröffentlicht haben, zum Beispiel die Forderung, die tatsächliche Armut endlich zur Kenntnis zu nehmen, an eine von CDU/CSU und F.D.P. - geführte Regierung gerichtet hat. ({0}) Ich sage dies nur um der historischen Wirklichkeit willen. Aber ich finde es bemerkenswert, Herr Weiß, dass die CDU/CSU in ihrem Antrag nun ausdrücklich bestätigt, dass es verdeckte Armut gibt. ({1}) In der letzten Legislaturperiode gab es nur bekämpfte Armut. ({2}) Vielleicht hat dies auch etwas damit zu tun, dass Sie jetzt einen etwas schärferen Blick mitten in die Gesellschaft werfen und festgestellt haben, dass es Armut gibt, zwar noch mit dem schönen Eigenschaftswort „verschämt“ oder „verdeckt“ erweitert, aber immerhin. Also: Verdeckte Armut gibt es in unserem Land. Sie beziehen sich sogar ausdrücklich auf die nationale Armutskonferenz, deren Forderungen Sie, solange Sie noch Regierungsfraktionen waren, immer abgelehnt haben. Aber ich begrüße diese Erkenntnis ausdrücklich. Verdeckte Armut ist selbstverständlich ein Aspekt, dem sich der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung widmen wird; denn für die Bundesregierung ist die Bekämpfung der Armut, der verdeckten und der offenen Armut, in all ihren Ausprägungen ein Schwerpunkt ihrer Politik. Dazu brauchen wir endlich eine zuverlässige Bestandsaufnahme der sozialen Lage in unserem Land. Grundlage hierfür ist ein Armuts- und Reichtumsbericht. Eine nationale Armuts- und Reichtumsberichterstattung hat drei wesentliche Anforderungen zu erfüllen. Sie dient der Analyse von materieller Armut und Unterversorgung und - das darf nicht vergessen werden - auch der Untersuchung der Strukturen der Reichtumsverteilung. Meine Kollegin Frau Kumpf hat schon deutlich gemacht: Wir finden im Statistischen Jahrbuch alles, nur keine verlässlichen, keine detaillierten Daten über die Reichtumsverteilung. ({3}) - Herr Dr. Kolb, dann haben Sie vielleicht ein anderes Statistisches Jahrbuch als wir. ({4}) Die Berichterstattung soll Hinweise geben für die Entwicklung geeigneter politischer Instrumente zur Vermeidung und Beseitigung von Armut. Sie hat durch eine kontinuierliche Berichterstattung die Aufgabe eines Controlling. Sie soll die Wirkungsweise und Effizienz dieser Instrumente dokumentieren. Herr Dr. Kolb, nur noch ein Hinweis: Unter seriösen Wissenschaftlern ist es völlig unumstritten, dass die Datenlage, was die Reichtumsverteilung in der Bundesrepublik betrifft, verglichen mit anderen europäischen Ländern, Substandard hat und dass wir hier dringenden Nachholbedarf haben. ({5}) - Ja, es ist schwierig, aber wir sind sehr ehrgeizig. Eine Berichterstattung unter diesen Vorgaben ist ein anspruchsvolles Vorhaben. Das Projekt in einer Legislaturperiode erfolgreich zu schultern ist eine riesige Aufgabe. Ich bin realistisch genug, um zu wissen, dass der erste Bericht nicht alle Aspekte von Armut und Reichtum abschließend und erschöpfend beleuchten kann, gerade auch unter Berücksichtigung der miserablen Datenlage in der Frage der Reichtumsverteilung, die Sie ja gar nicht bestreiten. Was wir aber leisten können und wollen, ist ein Einstieg in eine kontinuierliche Berichterstattung. Der erste Bericht kann ein Rahmen und ein erster Entwurf sein für ein Bild, das Schritt für Schritt vervollständigt werden muss. Die Vorarbeiten für die Armuts- und Reichtumsberichterstattung wurden in den vergangenen Monaten geleistet. Wir haben dabei die Diskussion über die geeigneten und notwendigen Konzepte, über Möglichkeiten und Perspektiven, aber auch über Grenzen des Berichtsprojekts öffentlich geführt. Herr Dr. Kolb, Sie haben deswegen auch die Chance, Ihre kritischen Anmerkungen mit Zitaten über diese öffentliche Diskussion und die öffentliche Vorstellung unserer Konzeption hier nachzuvollziehen. ({6}) Nach diesem intensiven Beratungsprozess lassen sich nun die Grundlinien für den Bericht festlegen. Der erste Bericht soll von der Bundesregierung erstellt werden. Dies ist im Sinne der Koalitionsvereinbarung und des gemeinsamen Antrags der Regierungskoalitionen, der heute beraten wird. Diese Aufgabe ist aber nicht zu meistern ohne Unterstützung der Wissenschaft und Beratung durch die Organisationen, ({7}) die sich seit langem mit der Frage sozialer Ausgrenzung, aber auch mit der Frage der Verteilung von Armut und Reichtum beschäftigen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Staatssekretärin, es besteht der Wunsch nach einer Zwischenfrage. Gestatten Sie diese?

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Ja.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin, nachdem Sie auf die Vorstellung der Konzeption in der öffentlichen Diskussion bei der Tagung im Oktober hingewiesen haben, möchte ich Sie fragen: Können Sie bestätigen, dass die Vertreter der nationalen Armutskonferenz und die Verbände mehrheitlich ein Modell zur Erstellung des Armuts- und Reichtumsberichts vorgestellt und vertreten haben, das nunmehr von der Bundesregierung abgelehnt wird, weil sie ein anderes Modell präferiert? Können Sie bestätigen, dass die Beteiligung der Verbände, die Sie nun nicht in einer unabhängigen Steuerungsgruppe, sondern in einem so genannten Beraterkreis vornehmen lassen wollen, dazu geführt hat, dass der Vorsitzende der nationalen Armutskonferenz, Herr Professor Specht, an Ihren Minister Riester einen Brief geschrieben hat, in dem er darum bittet, dass er ihm, bevor er einen Berater für den Beraterkreis benennt, sagt, welche Aufgabe er eigentlich hat, ob er nur raten oder auch beraten soll?

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Herr Weiß, wir haben für diesen Beraterkreis - ich hätte das noch weiter ausgeführt - auch die Vertreter der nationalen Armutskonferenz eingeladen. Wir werden mit ihnen beraten, was die Funktion des Beraterkreises ist. Ich bin ganz sicher, dass sich die Vertreter der Armutskonferenz daran beteiligen werden, denn wir haben schon im Vorfeld mit ihnen darüber gesprochen. Wir haben auf der öffentlichen Vorstellung unterschiedlicher Konzepte für die Armuts- und Reichtumsberichterstattung ein Konzept, das von einem Institut, dem ISG, entwickelt worden ist, als Muster für die erste Berichterstattung, die wir vornehmen wollen, herangezogen. Ich denke, dass wir, wenn wir den Bericht vorlegen, mit all denjenigen, die sich auf der Konferenz kritisch mit dem Konzept dieses Berichts auseinander gesetzt haben, gern diskutieren werden. Ich bin ganz sicher, dass wir hier eine positive Resonanz bekommen werden. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich lasse jetzt keine weiteren Zwischenfragen mehr zu, denn wir kommen in Zeitverzug. Ich bitte Sie um Verständnis, Herr Kollege, aber die nachfolgenden Debattenbeiträge stehen an und wir sind ein wenig in Verzug. Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Wir werden einen ständigen Beraterkreis einrichten, der den Bericht begleitet. Dem Beraterkreis werden Verbände und OrParl. Staatssekretärin Ulrike Mascher ganisationen, die Erfahrungen mit Armutsberichten haben - die Caritas, die Arbeiterwohlfahrt, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband, der DGB, aber auch die betroffenen Organisationen wie die nationale Armutskonferenz -, angehören. Wir werden natürlich auch Länder und Kommunen einbeziehen. Der Beraterkreis wird intensiv in den Berichtsprozess eingebunden, und es wird ein inhaltlicher Austausch mit den beteiligten Wissenschaftlern stattfinden. Wir werden renommierte Armuts- und Reichtumsforscher mit den wissenschaftlichen Untersuchungen beauftragen. Sie werden ein wissenschaftliches Gutachtergremium bilden. Dort werden sie ihre Forschungskonzeptionen vorstellen und regelmäßig über den Fortgang ihrer Arbeiten berichten. Hier soll die wissenschaftliche Diskussion über inhaltliche und methodische Fragen geführt werden. Die Gruppe der wissenschaftlichen Experten berät und begleitet die Bundesregierung in allen Fragen der Berichterstattung. Es wird eine enge Verknüpfung mit dem Beraterkreis geben; das habe ich schon gesagt. Der Bericht selbst wird von einer Projektgruppe im Arbeitsministerium erstellt werden. Grundlage dafür sind die wissenschaftlichen Gutachten und die Diskussion im Beratergremium. Ich bin ganz sicher, dass wir den Fehler der Bayerischen Staatsregierung, kritische Berichte in der Schublade verschwinden zu lassen, nicht machen werden. ({0}) Das führt zwar zu einer unglaublichen Verbreitung solcher Berichte, aber ich denke, das kann nicht der Sinn der Sache sein. Ich glaube, Sie können den renommierten Forschern, die wir beauftragen werden, nicht unterstellen, dass sie keine unabhängigen Gutachten erstellen. Ich glaube, das können selbst Sie nicht behaupten. ({1}) Ich bin mir durchaus bewusst, dass es auch andere Strukturen bei der Armuts- und Reichtumsberichterstattung hätte geben können; aber keine Lösung kann alle Erwartungen und Ansprüche zufrieden stellen. Für den Start jedoch war es uns wichtig, ein realisierbares und zügig umsetzbares Konzept zu finden. Unsere Planungen sind hierfür eine gute Basis. Ich betone noch einmal: Wir werden zu Beginn der Berichterstattung nicht alle Fragen aufarbeiten können. Wir wollen aber einen Anfang machen. Gleichwohl muss der erste Bericht unabdingbare Qualitätsmerkmale beachten. Ich will nur zwei wesentliche Merkmale nennen: Wir brauchen keine Sammlung und Anhäufung von leblosen Zahlen. Wir wollen keinen Datenfriedhof. Was wir uns wünschen, ist die Beschreibung und Analyse sozialer Wirklichkeit, die auf solidem und verlässlichem Datenmaterial beruht. ({2}) Wir möchten auch keinen endlosen Streit um Definitionen und keine abstrakte Methodendiskussion, mit der Sie immer die Forderung nach einer Armutsberichterstattung zurückgewiesen haben. ({3}) Was wir wollen, ist die Verständigung auf wissenschaftlich nachvollziehbare und akzeptierte Methoden und Standards, die ein hohes wissenschaftliches Niveau des Berichts und eine Vergleichbarkeit der einzelnen Berichtsteile garantieren. Meine Damen und Herren, unser Projekt Armuts- und Reichtumsberichterstattung ist ehrgeizig. Unter den skizzierten Rahmenbedingungen können wir das Projekt aber auf einen guten Weg bringen. Dafür werden wir mit unserem ganzen Engagement arbeiten. Ich freue mich auf die Diskussionen im Gutachtergremium, im Beraterkreis und dann, wenn wir den Bericht vorlegen, auch hier im Parlament. Ich bin ganz sicher: Das wird eine spannende, eine fundierte Diskussion auf der Basis von Material, das die alte Bundesregierung leider nie vorgelegt hat. Danke. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zu einer nationalen Armuts- und Reichtumsberichterstattung, Drucksache 14/2562, Buchstabe a. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/999 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ist diese Beschlussempfehlung angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion der PDS zu einer regelmäßigen Vorlage eines Berichtes über die Entwicklung von Armut und Reichtum in Deutschland, Drucksache 14/2562, Buchstabe b. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1069 abzulehnen. Wer folgt der Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Auch diese Beschlussempfehlung ist angenommen, und zwar gegen die Stimmen der PDS. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur Bekämpfung der verdeckten Armut in Deutschland, Drucksache 14/2562, Buchstabe c. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1213 abzulehnen. Wer folgt dieser Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Bei Enthaltung der F.D.P. und Ablehnung der CDU/CSU ist die Beschlussempfehlung angenommen. Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf: Beratung des Antrages der Abgeordneten Birgit Homburger, Horst Friedrich ({0}), HansMichael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Übergangsregelung für das neue Führerscheinrecht - Drucksache 14/2370 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Interfraktionell ist vereinbart worden, dass die Rede- beiträge zu Protokoll gegeben werden.* Das ist natürlich sehr schade, aber Sie sind offensichtlich damit einver- standen. - Dann ist das so beschlossen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2370 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Des Weiteren soll die Vorlage auch an den Ausschuss für die Angele- genheiten der Europäischen Union überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 9 a und b auf. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Entschließung des Europäischen Parlaments zu endokrine Störungen verursachenden chemischen Stoffen - Drucksachen 14/309 Nr. 1.11; 14/1471 Berichterstattung: Abgeordnete Jutta Müller ({3}) Bernward Müller ({4}) Ulrike Flach b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung zu der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament: Strategie für das Auslaufen der Verwendung von FCKW in Dosieraerosolen - Drucksachen 14/309 Nr. 2.43, 14/1472 Berichterstattung: Abgeordnete Monika Ganseforth Dr. Peter Paziorek Dr. Reinhard Loske Birgit Homburger Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Jutta Müller, SPD-Fraktion.

Jutta Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über eine Entschließung des Europäischen Parlaments zu Chemikalien - für diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die nicht im Ausschuss sind, will ich es einmal etwas einfacher ausdrücken -, die das Hormonsystem des Menschen belasten. Vor dem Hintergrund, dass wir in diesem Monat in den Medien erfahren haben, dass man solche Stoffe beispielsweise in Sportbekleidung und Fischkonserven gefunden hat, wird die Aktualität des Themas für jeden offenkundig. Das Institut für Toxikologie der Universität Kiel hat bereits 1997 im Auftrag des Bundesumweltamtes eine Literaturstudie über Substanzen mit endokriner Wirkung in Oberflächengewässern veröffentlicht. Zum ersten Mal wurde damals der aktuelle Kenntnisstand bezüglich über 200 Chemikalien ausgewertet, die im Verdacht stehen, hormonell wirksam zu sein. Dabei erwiesen sich einige Stoffe als besonders auffällig. Dazu gehört auch Tributylzinn, das berühmte TBT, das in den Fußballtrikots gefunden wurde. Das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin hat TBTVerbindungen schon vor Jahren als Stoffe eingestuft, von denen ernste Gesundheitsschäden für den Menschen ausgehen können. Seit Anfang der 90er-Jahre ist TBT in deutschen Holzschutzmitteln bereits verboten. Das Gleiche gilt auch für Schiffsanstriche von Booten unter 25 Metern, die sich überwiegend in Binnengewässern bewegen. Trotz dieser schon seit mehreren Jahren durchgesetzten Reglementierungen konnten in aktuellen Gewässerproben weiterhin erhöhte Konzentrationen nachgewiesen werden. Nicht zuletzt deshalb begrüßen wir ausdrücklich die Ankündigung des Bundesumweltministeriums, hinsichtlich der Verwendung dieser Stoffe in Kleidungsstücken ein sofortiges Verbot auszusprechen und bei den Schiffsanstrichen zu schnelleren Lösungen als angestrebt zu kommen. International soll TBT bei Schiffsanstrichen bis 2003 verboten werden. Wir wollen mit unserem Entschließungsantrag das Bemühen der Bundesregierung, schneller zu internationalen Lösungen zu kommen, unterstützen. ({0}) Die für das Frühjahr geplante Anhörung des Gesundheitsausschusses wird uns gerade im Hinblick auf die gesundheitlichen Risiken sicherlich noch weitere Erkenntnisse vermitteln. Die Verunsicherung der Verbraucher über den Grad der Gefährdung muss endlich beendet werden. Wir haben es im Zusammenhang mit den Fußballtrikots erlebt: Vizepräsidentin Anke Fuchs Zunächst wird behauptet, es sei schädlich. Danach haben die Kaufhäuser einen Verkaufsstopp, den sie selber verhängt haben, wieder mit der Begründung aufgehoben, es sei doch nicht so schlimm. Professor Wassermann - er ist sicherlich ein renommierter Wissenschaftler - hat allerdings dann erklärt, dass diese Substanzen sehr wohl über die Haut vom Körper aufgenommen werden können und dass sie dort das Immunsystem schwächen oder Missbildungen auslösen können. Es ist sicherlich ein Problem, dass wir es im Bereich der Stoffe, die endokrine Wirkungen zeigen, immer wieder mit einer Kumulation zu tun haben. Menschen nehmen die Substanzen auf mehrfachem Wege auf, zum Beispiel über das Fußballtrikot und über die Nahrungsmittel. Man hat festgestellt, dass man dann, wenn man den Inhalt einer 200-g-Fischkonserve isst - das ist ja nicht außergewöhnlich viel -, schon 36 Prozent des von der Weltgesundheitsorganisation aufgestellten Grenzwertes zu sich nimmt. Dieser Grenzwert bezieht sich ausdrücklich nur auf die Effekte, die TBT im Immunsystem auslöst. Die hormonelle Wirksamkeit, die schon bei der Aufnahme wesentlich geringerer Konzentrationen gegeben sein kann, ist dabei noch gar nicht beachtet. Bei Schwangeren und Kindern ist die Gefahr besonders groß, da hormonelle Schadstoffe bereits in geringsten Konzentrationen in das Hormonsystem beispielsweise von Ungeborenen und Kleinkindern eingreifen und schwere Entwicklungsstörungen des Wachstums und des zentralen Nervensystems hervorrufen können und damit das spätere Verhalten und die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen können. Weitere mögliche Effekte bei Menschen bestehen in der Vermännlichung von Frauen, in der Unfruchtbarkeit bis hin zu nachlassender Qualität der Spermien. Auch die Funktion der Immunzellen zur Bekämpfung von Infektionen kann gestört werden. Doch nicht allein das hochgiftige TBT birgt unabsehbare Risiken für uns. ({1}) Auch der Gruppe der Alkylphenole, die bei Waschmitteln, Industriereinigern und Kosmetika eingesetzt werden, konnten östrogene Eigenschaften nachgewiesen werden. Obwohl sich die deutsche Industrie 1986 eine Selbstverpflichtung auferlegt hat, werden in der Umwelt weiterhin hohe Konzentrationen festgestellt. Offensichtlich gelangen diese Stoffe über den Importsektor auch auf den deutschen Markt. Wir sollten nicht unbedingt eine EU-weite Regelung abwarten. Da diese Stoffe beispielsweise in der Schweiz nicht mehr in Wasch- und Reinigungsmitteln verwandt werden dürfen und in der Schweiz offensichtlich trotzdem sauber gewaschen wird, bin ich der Meinung, dass auch wir uns ein Verbot dieser Bestandteile leisten können. ({2}) Die dritte Substanz, die wahrscheinlich auch hormonelle Wirkungen hat, sind die Phthalate, die überwiegend als Weichmacher in Schläuchen, Folien und Fußbodenbelägen vorkommen. Das Bundesgesundheitsministerium hat bereits in einer Verordnung ein Verbot des Phthalates in Kinderspielzeug aus Weichplastik erstellt. Ich war ziemlich entsetzt, dass man das verbieten musste, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass man solche chemischen Stoffe in Beißringen für Babys verwendet. Es ist schlimm, dass der Gesetzgeber hier eingreifen muss und dass es in der Industrie nicht genügend Verantwortung gibt, so etwas von vornherein gar nicht zu produzieren. ({3}) Wir sollten auch im Interesse der Verbraucher fortfahren, den Eintrag von Chemikalien, die nachweislich endokrine Wirkungen haben, drastisch zu verringern. Es besteht über die Fraktionsgrenzen hinweg Einvernehmen darüber, dass wir nach den schon jetzt vorliegenden Erkenntnissen über die gesundheitlichen Wirkungen dieser Stoffe zu einer Lösung des Problems kommen müssen. Wir verfolgen mit unserem Entschließungsantrag auch das Ziel, eine andere Politik einzuleiten, also nicht mehr erst dann mit gesetzlichen Regelungen zu beginnen, wenn das Kind sozusagen schon in den Brunnen gefallen ist, wenn Menschen hochgradig erkrankt sind. Wir wollen vielmehr den Wechsel zu einer vorsorgenden Umweltpolitik, damit man bereits dann, wenn ein Verdacht besteht, eingreifen kann, um Erkrankungen zu verhindern. Das muss nicht unbedingt im Gegensatz zur Industrie geschehen. Ich weiß, dass uns immer wieder vorgehalten wird: Daran hängen Arbeitsplätze; wir müssen das produzieren und wenn ihr das verbietet, dann müssen wir viele Menschen entlassen. Diese bekannten Totschlagargumente kennen wir mittlerweile. In der chemischen Industrie gibt es sicherlich hochintelligente Spezialisten. Wir sollten uns mit ihnen einmal zusammensetzen und überlegen, was für einen Ersatz es gibt und wie man etwas anders produzieren kann. Bisher liefen solche Gespräche immer nach dem gleichen Muster ab. Auch in der Diskussion über Formaldehyd - vielleicht erinnern Sie sich - hieß es anfangs: Das macht überhaupt nichts; davon wird gar keiner krank. Erst als die Wirkungen wirklich nachgewiesen wurden, mussten nach einem längeren Zeitraum ungefähr 30 Produkte sofort vom Markt genommen werden. ({4}) Es ist auch für die Arbeitsplätze schlecht, wenn man immer bis ganz zum Schluss wartet und Dinge plötzlich vom Markt nehmen muss. Es liegt in der Verantwortung der Industrie, mit uns darüber nachzudenken, wie wir vorsorgende Umweltpolitik machen können, die sich auf die Gesundheit der Menschen positiv auswirkt. Das spart im Übrigen auch Geld und viel Ärger. Jutta Müller ({5}) Deshalb möchte ich an dieser Stelle sagen: Wir laden die chemische Industrie ausdrücklich ein, beim Prozess der Reduktion von Schadstoffen mitzuwirken und mit uns darüber zu diskutieren. Wenn das geschieht, dann wollen wir die Forschung gerne unterstützen. Danke schön. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Bernward Müller das Wort für die CDU/CSUFraktion.

Bernward Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Müller, es war wohl in der letzten Woche, als die Kollegin Deichmann aus Ihrer Fraktion gesagt hat: Es ist nicht der Stoff, sondern die Dosis, die giftig macht. Dies ist meine kurze Antwort auf Ihren Redebeitrag. Aber wir kommen darauf zurück. Wir sprechen heute über die eben beschriebene Problematik. Es geht um Substanzen, die endokrine Störungen verursachen können. Gestatten Sie mir am Anfang einen kurzen historischen Rückblick. Seit Anfang der 90er-Jahre wird diese Problematik sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit und der Politik diskutiert. In der Öffentlichkeit waren damals Verdachtsmomente der Wissenschaft über mögliche hormonähnliche Wirkungen bestimmter Chemikalien in der Umwelt bekannt geworden. In natürlichen Lebensräumen verschiedener Tierarten wurden bei einigen Spezies auffällige Veränderungen wie Reproduktions- und Entwicklungsstörungen beobachtet. Untersuchungen ergaben in diesen Fällen eine erhebliche Belastung der Umwelt durch synthetische Chemikalien mit hormonähnlicher Wirkung. In den USA wurde nach der Verunreinigung des Lake Apopka in Florida mit Insektiziden 1981 über Störungen berichtet, die die Entwicklung der Sexualorgane von Alligatoren betrafen. In England stellte man Anfang der 90er-Jahre Geschlechtsverschiebungen bei Forellen fest, die in der Nähe von Klärwerkseinläufen gehalten wurden. Auch Arzneimittel, die in der Human- und Veterinärmedizin Verwendung finden und über menschliche und tierische Ausscheidungen in das Abwasser gelangen, können solche endokrinen Effekte verursachen. Sie haben vor knapp drei Jahren - genau am 30. Januar 1997 - im Deutschen Bundestag über die Studie der Kopenhagener Forschungsgruppe von 1992 diskutiert. Frau Müller, Sie haben es gerade angesprochen. Es ging dabei um die Feststellung in dieser Studie, dass die Menge an Spermien zurückgeht. Aber es gibt weitere Entwicklungen, es gibt neue Erkenntnisse. Ich kann Sie insofern beruhigen: Es gibt heute hierzu eine ganze Reihe von Untersuchungen, die genau das Gegenteil dazu feststellen. Ich will den amerikanischen Forscher Harry Fisch nennen, der in seinen Forschungen, die er im Zeitraum von 1970 bis 1994 durchgeführt hat, registriert hat, dass die damals festgestellte beklagenswerte Entwicklung mittlerweile gegenläufig ist. Gleichwohl wurde infolge solcher Beobachtungen postuliert, dass derartige Stoffe nicht nur in Bezug auf die Tierwelt relevant sind, sondern auch von Einfluss auf die menschliche Gesundheit sein könnten. Wie ist der wissenschaftliche Erkenntnisstand heute? Dazu kurz drei Zitate. Das erste Zitat stammt vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages, veröffentlicht in „Der aktuelle Begriff“ Nr. 10/99. Der Wissenschaftliche Dienst stellt fest: Insgesamt ist das Gebiet der endokrin wirksamen Stoffe nur wenig erforscht, sodass abschließende Bewertungen nicht möglich sind. Insbesondere die Zusammenhänge zur vermuteten Spermienabnahme und zum vermehrten Auftreten von Brust- und Hodenkrebs sind jedoch noch nicht abschließend geklärt. Anerkannte standardisierte Testverfahren zur Beurteilung einer endokrinen Wirksamkeit werden noch weiterentwickelt. Deren Relevanz für den Menschen und die Ökosysteme bedarf aber noch einer Bewertung. Das zweite Zitat stammt aus der Zeitschrift „Tiergesundheit“ vom September 1999: Der Verdacht, bestimmte endokrin wirksame chemische Stoffe führten zu schwerwiegenden Störungen im Hormonhaushalt von Menschen und Tieren, kann immer mehr entkräftet werden. Das letzte Zitat stammt aus dem noch druckfrischen Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen „Umwelt und Gesundheit - Risiken richtig einschätzen“ Drucksache 14/2300, ich denke, wir werden hier auch noch darüber reden. Dort ist zu lesen: Die Ergebnisse aller bisher vorliegenden Studien zeigen, dass die Möglichkeit des Auftretens von schädlichen Wirkungen durch hormonähnlich wirkende Stoffe auf den menschlichen Organismus eher als gering einzuschätzen ist. Zusammenfassend heißt das: Die Forschung sieht ihren Anfangsverdacht, nämlich die Übertragbarkeit von Beobachtungen aus der Tierwelt auf die Menschen, zunehmend entkräftet. Endgültige Aussagen können aufgrund des derzeitigen Forschungsstandes jedoch noch nicht getroffen werden. ({0}) - Ja, Herr Kollege. Aber es ging um die Frage, ob das Auswirkungen auf den menschlichen Organismus hat. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, auch wenn Sie der Meinung sind - Sie haben es im Ausschuss so dargelegt -, es handele sich um eines der ältesten Umweltthemen, man habe sich daher nun schon lange genug mit diesem Thema auseinander setzen können und nun müsse - koste es, was es wolle - ein Beschluss her, werden wir Ihren Antrag nicht mittragen. Jutta Müller ({1}) ({2}) Ich will das kurz begründen. ({3}) - Hören Sie sich doch die Begründung an, bevor Sie werten. Zu viele Fragen sind in diesem Problemfeld noch nicht wissenschaftlich einwandfrei geklärt. ({4}) In solch einen sensiblen Bereich, wo es um den Schutz des Menschen und der Umwelt geht, wollen Sie, einfach weil es Ihnen an der Zeit zu sein scheint, hineinregeln. Ich will Ihnen sagen, was dabei herauskommt: Es kommt eine Beschlussempfehlung heraus, die an unausgegorenen Vorschlägen und wissenschaftlichen Gemeinplätzen kaum zu überbieten ist. ({5}) Ich bin der Meinung: Weitere Forschung ist dringend erforderlich. Ich glaube, das haben Sie im Ausschuss auch gesagt. Es wäre erfreulich gewesen, wenn Sie diesem Ansatz in den Haushalten der zuständigen Ministerien Rechnung getragen hätten und die Forschung auf diesem Gebiet - Sie haben es als einen Schwerpunkt Ihrer Regierungsarbeit definiert - entsprechend fördern würden. Solche Fragen treten jedoch angesichts Ihrer Beschlusshysterie völlig in den Hintergrund. Ich sage deshalb noch einmal: Wir brauchen mehr Forschung. Wir werden Ihren Vorschlag so nicht mittragen. Frau Müller, Sie haben ja die Notwendigkeit von Forschungsrichtlinien angesprochen. Ich stimme dem zu. Die Wirksamkeit im Hinblick auf Risikogruppen wie zum Beispiel ungeborene Kinder, aber auch die Zusammenhänge zwischen endokrinen Stoffen und der Häufigkeit von Tumorerkrankungen müssen wirklich untersucht und auf ein sicheres Fundament gestellt werden, um entscheiden zu können. ({6}) Niemandem - weder der Umwelt, den Tieren oder den Menschen - ist durch Verbote geholfen, die sich lediglich aus Verdachtsmomenten ableiten. Wie bitte wollen Sie die Verhältnismäßigkeit zwischen Eingriffsintensität und den tatsächlichen Gefahrenpotenzialen wahren, wenn sie die Beschlussempfehlung nicht einmal auf die Grundlage einer ausreichenden Datenmenge und daraus resultierender Risikobewertungen stellen können? Ich zitiere noch einmal den Rat der Sachverständigen: Hinsichtlich der menschlichen Gesundheit ergeben sich aufgrund der vorliegenden Datenlage ... keine Verdachtsmomente von solcher Plausibilität, dass ein unmittelbarer Handlungsbedarf besteht. Schieben Sie also bitte nicht die - im Übrigen noch von der CDU/CSU-geführten Bundesregierung 1986 formulierten - „Leitlinien Umweltvorsorge“ vor, wenn Sie jetzt auf die Annahme dieser Beschlussempfehlung drängen. Das hat mit dem Vorsorgegedanken, dem sich auch die CDU/CSU besonders verpflichtet fühlt, nichts zu tun. ({7}) Ich möchte Ihnen sagen, was ich vermute: ({8}) - Nein, das ist keine Verschwörung. - Es geht Ihnen darum, mit diesem Beschluss wieder einmal als Retter der gefährdeten Menschen aufzutreten. ({9}) - Genauso ist es: Es stehen Wahlkämpfe an. - Hier sehen Sie eine Möglichkeit - diese Wahrheiten müssen Sie sich gefallen lassen -, sich wieder einmal als Gutmensch zu präsentieren, ({10}) um den Bereich der Bevölkerung, den Sie mit Ihrer Ökosteuer und Ihrer Rentenlüge verprellt haben, wieder für sich zu gewinnen. Dies ist ja nicht abwegig. Sie brauchen nur die aktuelle Diskussion zu verfolgen. Ich erinnere Sie an den Politzirkus, den Sie beim Ausstieg aus der Atomenergie veranstalten. ({11}) Man erlebt das ja jeden Tag. Sie brauchen nur nach Nordrhein-Westfalen zu schauen und zur Kenntnis zu nehmen, was die dortige Umweltministerin gestern gesagt hat. ({12}) - So ändern sich Ihre Vorstellungen. ({13}) Der CDU/CSU liegt der Vorsorgegedanke am Herzen. Wir setzen uns für den Schutz von Mensch und Umwelt ein. Das gehört zu den Grundsätzen unserer Politik. Sie sollten eines nicht vergessen: Es war die CDU/CSU-geführte Bundesregierung, die bis zur letzten Bundestagswahl die Forschungen auf dem Gebiet der Endokrinologie intensiv gefördert und finanziert hat, und das europaweit und weltweit. Ich hätte mir gewünscht, das wäre unter Ihrer Regierung genauso. Aber in den entsprechenden Haushaltsansätzen ist davon nichts zu spüren. Ich denke, die von Ihnen vorgelegte Beschlussempfehlung ist, wie ich schon gesagt habe, in dieser politischen Hinsicht zu beurteilen. Bernward Müller ({14}) Ich will zum Schluss kommen; denn meine Redezeit ist abgelaufen. Die mögliche Gefährdung von Mensch und Tier durch endokrin wirksame Chemikalien ist ein sehr ernst zu nehmendes Thema, bei dem es immer noch erhebliche Wissenslücken gibt. Überlegungen und Beschlüsse über angemessene Maßnahmen bei möglichen Risiken können nur auf der Grundlage von wissenschaftlichen Fakten erfolgen. Hier ist nicht blinder Aktionismus gefragt, sondern politisch verantwortungsvolles und besonnenes Handeln. Verantwortungslos ist sowohl der, der mit wissenschaftlich unbelegten Hypothesen in der Öffentlichkeit Ängste schürt, als auch derjenige, der die Problematik der endokrin wirksamen Stoffe herunterspielt. Beides darf nicht geschehen. Vielen Dank. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Winfried Hermann.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Von impotenten Schnecken und einer tauben Bundesregierung“ betitelte vor einigen Jahren „Die Zeit“ eine Glosse über die Initiative der Grünen-Fraktion zum Thema endokrine Stoffe. In anderen Zeitungen lauteten die Überschriften: „Angriffe auf die Männlichkeit“ und „Kleinere Hoden, weniger Spermien“; Sie, Herr Kollege, haben Ähnliches zitiert. All dies, was so reißerisch daherkommt, verweist, wie Sie selbst gesagt haben, auf ein ernsthaftes Problem. Sie haben mit Recht darauf hingewiesen, dass wir noch nicht alles wissen. Aber wir wissen schon eine ganze Menge, und das ziemlich sicher. Warum sind diese Stoffe gefährlich? Weil sie eine hormonähnliche Struktur haben und sehr persistent sind, also dauerhaft in der Umwelt verbleiben und auf diese Art und Weise in den Organismus des Menschen kommen können. Weil sie hormonähnliche Strukturen haben, können sie auf das menschliche Hormonsystem wirken und damit den Organismus und seine Entwicklung gefährden. Das wissen wir, Herr Müller; das kann man nicht bestreiten. Schlimmer noch: Wir haben auch Anzeichen dafür, dass diese Stoffe beispielsweise die Plazenta-Barriere überwinden können und so auf den Embryo einwirken können. Die Plazenta kann also den Embryo nicht mehr vor den schädlichen Chemikalien schützen. Die Folgen sind - Sie haben es selbst genannt - zurückgehende Zeugungsfähigkeit und ein Nachlassen der Spermienqualität bei Männern, eine Zunahme von Missbildungen auch der Geschlechtsorgane und eine Zunahme von Brust- und Hodenkrebsfällen. Nun kann man sagen, das alles sei wissenschaftlich noch nicht endgültig und eindeutig erwiesen. In der Tat gibt es Belege, die nicht eindeutig sind. Nur, Herr Müller, daraus die Konsequenz zu ziehen und zu sagen, wir sollten abwarten, bis die Befunde endgültig geklärt sind, das ist hoch riskant. Das können wir uns nicht länger erlauben. ({0}) Die Indizien sind so eindeutig, dass wir vorsorglich handeln müssen. Was tun wir? Wir haben nicht einfach ein generelles Verbot erlassen, sondern eine Konzeption erarbeitet, die eine effiziente Reglementierung dieser hoch brisanten Stoffe bis hin zum Verbot zum Ziel hat. Es geht also nicht um ein generelles Verbot, sondern um eine Reglementierung, die in Einzelfällen ein Verbot einschließt. Das gilt zum Beispiel für die organischen Zinnverbindungen wie TBT und DBT, die kürzlich eine Rolle gespielt haben, weil sie in Sporttrikots oder Fischkonserven gefunden wurden. Diese Stoffe wollen wir jetzt für die Bereiche Textilien, Holzschutzmittel und Schiffbau verbieten. Daran arbeitet das Umweltministerium. Das Gesundheitsministerium hat schon in den letzten Monaten bei Babyspielzeug - unter anderem bei Beißringen dafür gesorgt, dass bestimmte Weichmacher verboten sind. Es ist einfach nicht einsichtig, dass solche Stoffe ausgerechnet dort enthalten sein sollen, wenn man weiß, dass sie gefährlich sein könnten. Dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass wir erst am Anfang stehen. Es gibt in jedem Jahr an die 300 Neuentwicklungen und es gibt an die 100 000 Altstoffe. Denken Sie nur an die starke Anreicherung von PVC. PVC-Böden bestehen bis zu 30 Prozent aus Weichmachern. Hier gibt es überall Risiken, weil diese Stoffe womöglich auch ins Grundwasser und damit in den biologischen Kreislauf und letztlich in den menschlichen Organismus gelangen. ({1}) Zugegeben, diese Entwicklung gleicht einer Hydra. Politik tut sich da schwer. Wir müssen unseren Weg finden. Das aber setzt voraus, ihn erst einmal zu suchen. Wir dürfen nicht immer das Risiko herunterreden, wie Sie es getan haben. ({2}) Herr Müller, Sie haben die Geschichte zitiert. Sie sind leider ein paar Jahre zu wenig zurückgegangen. Bereits in den 60er-Jahren hat Rachel Carson in ihrem Klassiker „The Silent Spring“ in sehr anschaulicher Weise beschrieben, wie diese gefährlichen Chemikalien wirken. Sie hat gezeigt, wie sich Fischarten in manchen fischreichen Gewässern völlig verändert haben und wie sich in der Folge auch vieles bei den Menschen verändert hat. Dazu schrieb sie: Wir setzen ganze Bevölkerungen dem Einfluss von Chemikalien aus, von denen wir aus Tierstudien - natürlich nur aus Tierstudien wissen, dass sie ungemein giftig sind und dass sich diese Effekte in manchen Fällen sogar addieren. ... Bernward Müller ({3}) Diese Belastung beginnt inzwischen schon vor oder bei der Geburt und dauert ... bei den heute lebenden Menschen ein Leben lang. Niemand weiß, wie die Ergebnisse dieses Experiments aussehen werden. Diese Erkenntnisse gab es also schon in den 60erJahren. Danach gab es einen Zeitraum, in dem sowohl die Industrie als auch die Wissenschaft immer wieder dagegen argumentiert haben und versucht haben, zu beweisen, dass diese Stoffe doch nicht so gefährlich sind. Ich meine, das Prinzip des Vorsorgens mahnt uns dieser Punkt wurde schon angesprochen -, wirklich etwas zu tun, endlich etwas zu ändern und nicht immer wieder Ausreden zu suchen; denn sonst bleibt das Prinzip, zu dem Sie sich immer wieder gerne bekennen, nämlich das Vorsorgeprinzip, ein reines Lippenbekenntnis. ({4}) Denken Sie daran, wie lange man etwa im Fall Contergan gewartet hat, bis man endlich den Beweis für die schädliche Wirkung hatte! Viele Tausende von Menschen haben dieses Warten mit ihrem schweren Schicksal bezahlen müssen. Ich finde, daraus sollte man lernen. Die Koalitionsfraktionen haben im vergangenen Sommer aufgrund dieser Einschätzung der Problematik und aufgrund des Anstoßes aus dem Europäischen Parlament von der Regierung ein Gesamtkonzept mit Verbots- und Reduktionsvorschlägen, bezogen auf das gesamte Spektrum dieser endokrin wirkenden Chemikalien, verlangt. Wir haben feststellen müssen, dass die chemische Industrie diese Entwicklung sehr wachsam beobachtet. Sie von der CDU/CSU und von der F.D.P. können ein Lied davon singen, wie die Lobbyisten aktiv geworden sind und wie sie versucht haben, auf Sie auch auf uns - Einfluss zu nehmen, damit das Thema von der Tagesordnung genommen wird. Ich sage heute ganz deutlich: Die chemische Industrie macht Werbung mit dem Prinzip „responsible care“, verantwortlich und vorsorgend handelnde Chemieindustrie. Ich sage Ihnen: Schluss mit riskanten Chemikalien. Wer sein eigenes Prinzip ernst nimmt, muss auch sagen: Schluss mit Schadstoffen in Trikots und im Nahrungsmittelkreislauf, von denen wir wissen, dass sie hoch riskant sind. Für einen fragwürdigen Gag - der Grund für diesen Inhaltsstoff ist ja banal: das Trikot sollte besser aussehen und das Gewebe sollte weniger leicht schimmeln - nimmt man ein hohes ökologisches Risiko in Kauf. Ich meine, dass wir von der Politik diese Verantwortungslosigkeit beenden müssen. Die Einzelhändler haben in den vergangen Wochen bewiesen, dass sie verantwortungsvoll handeln können. Auch die Verbraucher haben deutlich gemacht, dass man diesen „Luxus“, der mit einem hohen Risiko verbunden ist, nicht braucht. Ich sage Ihnen: Responsible care - lassen Sie uns dieses Motto ernst nehmen! Herr Müller, zu guter Letzt: Damals wurde „von impotenten Schnecken und einer tauben Bundesregierung“ gesprochen. Sie hätten jetzt die Chance, zu beweisen, dass Sie nicht auch eine taube Opposition sind. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der F.D.P. spricht nun die Kollegin Ulrike Flach.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Taube Opposition hin, taube Opposition her: Herr Hermann, es liegen uns heute zwei Beschlussempfehlungen vor. Lassen Sie mich aus diesem Grund wenigstens kurz auf den anderen Teil eingehen, nämlich den, der sich mit FCKW beschäftigt! Schließlich ist das einer der wenigen Fälle, in denen wir uns als Opposition und als Regierung völlig einig waren. Weltweit werden jährlich noch rund 10 000 Tonnen FCKW in Dosieraerosolen abgefüllt, davon circa 1 000 Tonnen in Deutschland. Ungefähr ein Drittel geht dabei in die Therapie chronischer Atemwegserkrankungen. Diese ozonschädigende Wirkung - das wissen wir alle - übertrifft bei weitem die Wirkung der FCKWEmissionen aus kälte- und klimatechnischen Anwendungen. In Deutschland und Europa stehen inzwischen Alternativen zur Verfügung, zum Beispiel Dosieraerosole mit FKW statt FCKW. Die vorliegende Strategie der EUKommission legt Kriterien für Alternativen fest und stellt für die deutschen Zulassungsbehörden die Grundlage dar, Ausnahmegenehmigungen in Zukunft abzulehnen. Wichtig für uns Liberale ist, dass weiter an Alternativen gearbeitet und für FCKW-freie Aerosole geworben wird. Für uns ist vorstellbar - diesen Punkt möchte ich an dieser Stelle besonders betonen -, umweltfreundlichere Aerosole aus dem Arzneimittelbudget herauszunehmen, um wirtschaftliche Anreize zu schaffen, den FCKW-Ausstieg zu beschleunigen. Wir haben in unserem Votum besonderen Wert darauf gelegt, dass der Ausstieg keine Nachteile für die Patienten bringt. Das ist offensichtlich jetzt der Fall. Wir stimmen der Vorlage zu. ({0}) Meine Damen und Herren, die Entschließung des EUParlaments zu Stoffen, die möglicherweise Störungen des hormonellen Systems verursachen, und die Beschlussempfehlung des Umweltausschusses beschäftigen sich - wir haben es gerade sehr deutlich bemerkt - mit einem äußerst komplexen Thema. Der Nachweis, dass einzelne Stoffe das Hormonsystem beeinflussen und wie das geschieht, ist außerordentlich schwer. Alle Experten sagen, dass wir nach wie vor zu wenig Kenntnisse über die Wirkungsweise des hormonellen Systems bei Mensch und Tier haben und es unheimlich schwer ist, zwischen natürlichen, körpereigenen Hormonproduktionen - die gibt es ja schließlich auch - und äußeren Einflüssen zu differenzieren. Bei TBT in Schiffslacken haben wir bereits ein Ausstiegsszenario, meine Damen und Herren, über das Sie immer so gerne hinwegreden. Innerhalb der EU haben wir ein Anwendungsverbot für Schiffe mit einer Länge von unter 25 Metern. Eine Vereinbarung der IMO sieht vor, TBT-haltige Schiffslacke ab 1. Januar 2003 zu verbieten. Ab 2008 dürfen Schiffe keinen TBT-haltigen Anstrich mehr haben. Ersatzstoffe stehen bereits zur Verfügung oder befinden sich in der Erprobungsphase. Hier möchte ich auf einen gemeinsamen Pilotversuch des WWF, des VCI und des niedersächsischen Umweltministeriums mit biozidfreien Schiffsanstrichen hinweisen, der Erfolg versprechende Zwischenergebnisse gebracht hat. Meine Damen und Herren, die IMO-Vereinbarung ist aber noch keineswegs in trockenen Tüchern. Wenn die Bundesregierung hier Druck macht, kann sie dabei sicher voll auf unsere Unterstützung rechnen. Ich wäre froh, wenn sie auch anwesend wäre. Wenn die Minister Trittin und Fischer sich aber vollmundig hier hinstellen und ein Verbot von TBT fordern, so ist mir das zu undifferenziert. Wollen Sie die Verwendung von TBT verbieten oder seine Produktion? Wollen Sie Schiffe, die zukünftig in deutsche Hoheitsgewässer einfahren, auf TBT-haltige Anstriche kontrollieren? Und vor allem: Wollen Sie alle Organozinnverbindungen verbieten? ({1}) Denn Experten weisen darauf hin, dass man auf TBT durchaus verzichten kann, auf Mono- und Dibutylzinn jedoch nicht. In diesen Stoffen gibt es nun einmal leider herstellungsbedingt Verunreinigungen durch TBT. Das ganze Thema ist leider nicht so einfach zu handhaben, wie Herr Hermann uns das eben gesagt hat, und auch nicht so einfach wie der Chemiebaukasten von Jürgen Trittin, den er offensichtlich in seiner Jugend gehabt hat. ({2}) Die Nachricht, dass in Sporttrikots TBT nachgewiesen wurde, hat viele Verbraucher verunsichert. Dabei ist bis heute nicht klar, ob das TBT in der Faser selbst war oder ob es durch ein Desinfektionsmittel bei der Lagerung oder durch einen Anstrich der Kisten beim Transport in die Trikots gekommen ist. Deshalb auch hier meine sehr, sehr dringende Bitte: Verunsichern Sie die Verbraucher nicht weiter, um ein neues kernkraftähnliches Thema zu bekommen. ({3}) Der Verband der Chemischen Industrie hat klargestellt, dass TBT von den elf Chemiefaserherstellern nicht verwendet wird. Auch von den rund 50 Produzenten von chemischen Textilhilfsmitteln wird es nicht als antibakterieller Zusatz verwendet. Der Nachweis von TBT ist nun einmal extrem schwierig, weil die Mengen, die ein gesunder Mensch zu sich nehmen kann, so gering sind: 15 Mikrogramm pro Tag. Wir dürfen aber auch die Hypothese, die der Bonner Hormonforscher Klingenmüller aufgestellt hat, nicht ignorieren, wonach bereits im Nanogrammbereich hormonelle Einflüsse nicht auszuschließen sind. Also - zusammenfassend -: Wie wollen Sie TBT in Importwaren nachweisen? Soll zukünftig jede Lieferung Sporttrikots, Badematten, Schwämme und andere Nässetextilien auf TBT überprüft werden? ({4}) Diese Untersuchungen, Frau Ganseforth, sind sehr kosten- und zeitaufwändig. ({5}) Meine Damen und Herren, die Verbotskeule, die in der Beschlussvorlage nicht nur für TBT, sondern auch hinsichtlich von Phtalaten und Alkylphenolen ausgepackt wird, löst das Problem nicht. Ähnlich wie bei Schiffslacken brauchen wir auch bei anderen Verwendungen chemischer Stoffe weltweite Vereinbarungen über Ersatzstoffe. ({6}) Dabei halten wir mehr davon, auf freiwillige Selbstverpflichtungen zu setzen, wie sie zum Beispiel die Waschmittelindustrie in Deutschland eingegangen ist, anstatt unsere eigenen Emotionen auf die internationale Ebene zu übertragen. Wir brauchen vor allem eine deutliche Intensivierung der Forschung auf diesem Gebiet, meine Damen und Herren, und da stimme ich Ihnen zu. Und bitte: Wenn Sie davon reden, dass es überall Ersatzstoffe gibt, dann ist Vorsicht geboten. Bei den Schiffslacken stimmt das mit Einschränkungen. In anderen Verwendungsbereichen sind die Ersatzstoffe dann zum Beispiel nicht hormonell wirksam, sondern toxisch. Das kann es ja wohl nicht sein. Die F.D.P. hat auch im Umweltausschuss betont, dass wir der EU-Vorlage durchaus zustimmen können, dass die Beschlussvorlage, die SPD und Grüne dazu eingebracht haben, aber zu undifferenziert ist und die Verbraucher nicht wirklich schützt. Wir lehnen sie deshalb ab. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort der Kollegin Eva Bulling-Schröter für die Fraktion der PDS.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ziemlich genau vor drei Jahren haben wir schon einmal über endokrine Stoffe und ihre Folgen für Mensch und Umwelt im Bundestag disUlrike Flach kutiert. Damals hatten die Anträge von SPD und Grünen, welche den Schutz vor hormonell wirksamen Stoffen deutlich erhöhen sollten, keine Chance. CDU/CSU und F.D.P. argumentierten ungefähr, das Ganze sei sicher ein ernst zu nehmendes Thema, aber es gebe noch erhebliche Wissenslücken und deshalb dürften keine voreiligen Schlüsse gezogen werden, also kein unangebrachter Aktionismus. - Ihre Position hat sich offensichtlich nicht sehr verändert. ({0}) Auch von uns unterstützte Anträge wurden damals leider abgeschmettert. Heute können wir ausnahmsweise einmal feststellen, dass der Regierungswechsel nicht ganz umsonst war. ({1}) Sie von der CDU/CSU-Fraktion sollten endlich Realitäten zur Kenntnis nehmen, ({2}) Realitäten wie die Tatsache, dass inzwischen einige Schiffswerften auf den Einsatz von TBT-haltigen Schiffsanstrichen verzichten. Eine freiwillige Selbstverpflichtung - das wäre doch etwas für Sie, Frau Flach. Diese Anstriche mit dem Wirkstoff Tributylzinn waren kürzlich allerdings auch Ziel einer erfolgreichen Greenpeace-Kampagne, die sowohl Teilen der Wirtschaft als auch der Politik auf die Sprünge geholfen hat. Wir meinen, dieses Beispiel zeigt einmal mehr, dass die Rolle von Umwelt-NGOs gar nicht überschätzt werden kann. Bei den endokrinen Stoffen haben wir es mit einer besonders üblen Stoffgruppe zu tun. Sie werden nicht nur in der Industrie angewendet, sondern sind auch Alltagschemikalien. Über Farben, Weichmacher von Kunststoffen, Reinigungsmittel, Konservendosenbeschichtungen, Arzneimittel oder über die Nahrungskette gelangen sie in unsere Körper und in die Körper von Tieren. Einige Hundert meist langlebige Chemikalien parken wir in unseren Organismen als Sammelstellen für die Nebenprodukte der so genannten Wohlstandsgesellschaft. Etliche dieser Substanzen stören den Hormonhaushalt, und zwar in einer Konzentration, die teilweise einige Tausend Mal über der natürlichen Konzentration der frei verfügbaren Hormone wie zum Beispiel des biologisch aktiven Östrogens liegt. Aber bereits viel geringere Mengen können die fötale Entwicklung im Mutterleib nachhaltig schädigen. Der von mir sehr geschätzte Professor Dr. Rochlitz hatte schon vor drei Jahren darauf hingewiesen, dass erhöhte Brust- und Hodenkrebsraten, ein vermehrtes Auftreten von Hodenhochstand und Harnröhrenspalte und sogar schwere Verhaltensstörungen Folgen solcher Prozesse sein können und dass zwei Drittel der Brustkrebsfälle weder auf Veranlagung noch auf die bekannten Risikofaktoren zurückzuführen sind. Mit großer Wahrscheinlichkeit fußen sie auf hormonell wirksamen Stoffen. Es ist umso erschütternder, dass auch deutsche Nordseehäfen wie Hamburg, Bremerhaven und Emden TBTverseucht sind. Es ist die Frage, was wir damit machen. Die Verklappung TBT-haltiger Schlämme kann wohl kaum als sicherer Entsorgungsweg bezeichnet werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den Strategien gegen die Belastung mit endokrinen Stoffen muss der Vorsorgegrundsatz, wie auch in der Beschlussempfehlung formuliert, klar vor der Gefahrenabwehr stehen. Das Verbot beziehungsweise die drastische Einschränkung der Verwendung ganzer Stoffgruppen ist deshalb zu verantworten und zu befürworten. Schließlich geht es um nicht weniger als die ungestörte Reproduktionsfähigkeit der Gattung Mensch, aber auch vieler Tierarten. Die Suche nach dem letzten wissenschaftlichen Beweis der Schädlichkeit, auf die sich die wirtschaftsnahe Politik und Wissenschaft gerne machen, ist dagegen unverantwortlich, Herr Müller. Tragödien um Contergan oder Holzschutzmittel dürfen sich nicht wiederholen, auch nicht schleichend. Zur Frage der Untersuchung hätte die PDS-Fraktion jetzt noch einen Vorschlag. Wir könnten hier im Plenum gleich mit der gegenseitigen Untersuchung unserer Klamotten anfangen. Vielleicht sind dann das nächste Mal bei diesen Debatten mehr Leute im Plenum. Danke. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Die Bundesregierung legt für das Protokoll Wert auf die Feststellung, dass die beiden Ressorts Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und Bundesministerium für Gesundheit auf der Regierungsbank vertreten sind, möglicherweise gerade nicht bei Ihrer Rede, Frau Kollegin Flach. ({0}) Damit ist diese Sache, denke ich, klargestellt und im Protokoll ordnungsgemäß vermerkt. Dann gebe ich das Wort an die Kollegin Monika Ganseforth für die SPD-Bundestagsfraktion weiter.

Prof. Monika Ganseforth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute auch um die Strategie für das Auslaufen der Verwendung von FCKW in Dosieraerosolen, das heißt in Asthmasprays. Wenn man Menschen fragt, was sie von FCKW halten, dann sind die meisten der Meinung, wir hätten die Produktion und die Anwendung von FCKW längst beendet, und es gebe das gar nicht mehr. Dabei trifft man auf Erstaunen, dass immer noch FCKW angewendet werden; denn vor 15 Jahren, im Jahr 1985, wurde die Wiener Konvention zum Schutz der Ozonschicht verabschiedet. Dies wurde dann im Montrealer Protokoll 1987 konkretisiert; das ist also schon ziemlich lange her. Damit wurde an sich die Produktion und Anwendung ozonschichtzerstörender Chemikalien, besonders der FCKW, beendet. In Deutschland ist es etwas später gewesen: Zehn Jahre ist es her. Damals haben wir erst einmal den vergeblichen Versuch gemacht, Frau Flach, den Sie uns andienen, nämlich mit der chemischen Industrie über Selbstverpflichtungen zum Verbot oder zur Beendigung der FCKW-Nutzung zu kommen. Das hat nicht geklappt. Wir sind hingehalten worden. Dann musste die FCKW-Halon-Verbots-Verordnung erlassen werden. Sie besteht nun schon seit über zehn Jahren, und zwar nicht zum Spaß, sondern wir haben es mit einem sehr großen Problem zu tun. Die langlebigen Chemikalien, die FCKW, haben eine Lebensdauer zwischen 60 und 400 Jahren. Während dieses Zeitraums sammeln sie sich in der Stratosphäre, also in der Atmosphäre, an, sozusagen in den oberen Etagen. Sie zerstören unter bestimmten Bedingungen rasant die schützende Ozonschicht. Die bestimmten Bedingungen sind niedrige Temperaturen und der Beginn der Sonneneinstrahlung nach dem arktischen oder antarktischen Winter. Diese Ozonausdünnung entsteht über den Polen. Von Jahr zu Jahr wird diese Ausdünnung oder das so genannte Ozonloch größer. Es fängt eher an und schließt sich später. Das nimmt kontinuierlich zu. Ich kann Ihnen sagen: Wir werden in wenigen Wochen, wenn der arktische Winter zu Ende ist, wieder hören, dass über der Nordhemisphäre der rasante Ozonabbau stattfindet und die schützende Ozonschicht abgebaut wird. ({0}) Die Folge ist, dass die harte ultraviolette Strahlung dann auf die Erde, also in die Troposphäre gelangen kann, dass sie am Boden ihre zerstörerische Wirkung entfalten kann. Flora und Fauna werden dadurch geschädigt. Beim Menschen nehmen Hautkrebs, Augenleiden und Immunschwächen zu. Trotz der vielen internationalen Vereinbarungen zum Schutz der Ozonschicht, über die ich eben gesprochen habe, wird sich der schützende Ozonmantel frühestens am Ende dieses Jahrhunderts wieder erholt haben. Das liegt auch daran, dass immer noch zu viele ozonschichtzerstörende Substanzen emittiert werden und dass es zu viele Ausnahmen und Schlupflöcher gibt. Heute wollen wir über solch ein Schlupfloch sprechen, nämlich die Verwendung von FCKW in Asthmasprays. Auf internationaler und nationaler Ebene wurde im Abkommen wegen des Schutzes der menschlichen Gesundheit eine Ausnahmegenehmigung vom allgemeinen FCKW-Verbot vereinbart, allerdings nur bis zur Verfügbarkeit vertretbarer Alternativen in den Asthmasprays. Das ist jetzt 15 Jahre her. Ich frage mich: Musste es wirklich so lange dauern, bis diese Alternativen gefunden worden sind? Das legt doch den Verdacht nahe, dass das Thema FCKW-Ausstieg und Schutz von Klima und Ozonschicht nicht die nötige Priorität in der Forschung und in der Wissenschaft hatte. Von einem HightechLand im Medizinbereich hätte man erwarten können, dass man die Lösung dieses Problems, das kein großes Problem ist, diese Sprays nämlich durch nicht ozonzerstörende Substanzen zu ersetzen, eher findet und dafür keine 15 Jahre benötigt. Die Europäische Gemeinschaft ist nach wie vor der größte Hersteller. 25 Prozent der hergestellten FCKWMenge werden sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländer exportiert. In diesem Bereich ist Deutschland mit 1 000 Tonnen FCKW der größte Produzent, das heißt, wir haben immer noch 10 Prozent der Weltproduktion. Die eine Hälfte der abgefüllten Sprays wird exportiert und die andere Hälfte wird in Deutschland freigesetzt. Damit ist FCKW aus Dosieraerosolen der größte inländische Emissionsherd dieser ozonschichtzerstörenden Verbindung. Das sind erschreckende Zahlen. Das ist auch heute noch so, nachdem so viele Vereinbarungen getroffen wurden. Der heutige Beschluss, den wir vorlegen, ist ein Fortschritt. Er ist überfällig und schließt endlich dieses Schlupfloch. Die vorige Regierung hat immer gesagt, wir seien an der Spitze der Bewegung und seien vorbildlich, was diesen Bereich angeht. Wenn man konkret hinsieht, kann man das wirklich nicht sagen. Der Fortschritt ist eine Schnecke und das, was wir heute beschließen werden, ist überfällig. ({1}) Was sind nun die Alternativen für den gefährlichen Treibstoff FCKW in Asthmasprays? Es gibt drei Möglichkeiten. Zum einen kann R 134 a genommen werden, das FKW, das nur noch einen Treibhauseffekt und kein Ozonzerstörungspotenzial hat. Das wird von der Chemie am liebsten genommen. Die Ersatzstoffe bewegen sich viel zu stark in diese Richtung. Die zweite und bessere Möglichkeit ist der Gebrauch von Kohlenwasserstoffen als Treibstoff, weil sie weder Ozonzerstörungspotenzial haben noch zum Treibhauseffekt beitragen. Sie befinden sich aber noch im Antragsverfahren. Das dauert in Deutschland sehr lange. Es bleibt zu hoffen, dass die Zulassung bald erteilt wird. Die dritte und beste Möglichkeit schließlich sind die Pulverinhalatoren, dass also gar kein Spray mehr genommen wird. Diese tragen weder zum Treibhauseffekt noch zum Ozonabbau bei. All diese Verfahren sind verfügbar und werden bei uns viel zu wenig genutzt. Zum Beispiel liegt der Anteil der Pulverinhalatoren für Asthmasprays in den Niederlanden und in Skandinavien bei 75 bis 85 Prozent. Es werden also nur noch 15 bis 25 Prozent Sprays benutzt. Davon ist nur ein ganz kleiner Teil mit FCKW abgefüllt. Schon seit vielen Jahren bewegen sich Skandinavien und die Niederlande in diese Richtung, während bei uns immer noch das umgekehrte Verhältnis existiert. Wir benutzen etwa nur ein Drittel der Pulverinhalatoren und der nicht mit FCKW abgefüllten Asthmasprays. Wir sind also weit davon entfernt, ein Musterknabe zu sein, was uns von der alten Regierung immer wieder geschilMonika Ganseforth dert wurde. Wir haben viel nachzuholen. Schaffen wir skandinavische Verhältnisse, was das angeht! Das nützt der Ozonschicht und das nützt dem Klima. ({2}) Als problematisch erweist sich in diesem Zusammenhang, dass die Mehrheit der Ärzte am Umweltschutz kaum interessiert ist und nicht so sehr viel darüber weiß. Wir brauchen für diese Umstellung die Mitwirkung der Ärzteschaft. Wir brauchen die Patientinnen und Patienten, die Apothekerinnen und Apotheker. ({3}) - Es gibt eine kleine Gruppe engagierter Ärzte, aber die Mehrzahl der Ärzte - ich habe es nur einschränkend gesagt - legt auf Umweltschutz keinen besonderen Wert. Das liegt ihnen fern. ({4}) - Ein besonderes Ärgernis möchte ich zum Schluss ansprechen, Herr Hirche. Da brauchen Sie sich gar nicht aufzuregen. Das Gesundheitsministerium ist bei diesem Thema der Adressat. Ich bin sehr froh, Frau Nickels, dass Sie hier sind. Frau Flach hat vorhin das Thema schon einmal angesprochen. Ich wollte es gar nicht mehr erwähnen, nachdem sich Herr Hirche so aufgeregt hat. Während es in Deutschland mit Beginn dieses Jahres endlich keine Neuzulassungen FCKW-haltiger Dosieraerosole mehr gibt - das ist jetzt ausgelaufen -, werden verstärkt Nachahmepräparate, also Generika, in der Atemwegs- therapie eingesetzt. Diese sind dann wieder FCKWgetrieben. Die Ursache ist das Arzneimittelsparprogramm, denn die Generika sind erheblich preiswerter als die Pulverinhalatoren. Das führt dazu, dass das, was möglich wäre und was es inzwischen gibt, zu wenig eingesetzt wird. ({5}) Die Budgetierung bevorzugt die Generika. Da müsste man aus der Sicht des Ausstiegs aus der FCKWVerwendung etwas machen. Es muss schnell eine Lösung in dieser Richtung gefunden werden. ({6}) Der Antrag, den wir heute beschließen, beseitigt eine Altlast, bringt einen Fortschritt, ist aber gleichzeitig eine Aufforderung zum schnellen Handeln. Schönen Dank. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort der Kollegin Marie-Luise Dött für die CDU/CSUFraktion.

Marie Luise Dött (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003070, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Mensch verändert vor allem durch seine industrielle Tätigkeit weltweit die Atmosphäre und damit das Klima, und zwar durch den Ausstoß von Gasen und Aerosolen. Die rund 250 Kilometer dicke Ionosphäre - das ist die äußerste Schicht der Atmosphäre - wird alle fünf Jahre um etwa einen Kilometer dünner. Zu diesem Ergebnis kamen 1998 Wissenschaftler des „British Antarctic Survey“, die Daten der letzten 38 Jahre ausgewertet haben. Ursache ist der Treibhauseffekt. Doch ohne den natürlichen Treibhauseffekt des Wasserdampfes und des Kohlendioxids wäre es auf der Erde um etwa 30 Grad kälter. In unserer Verantwortung liegt der vom Menschen zusätzlich verursachte Treibhauseffekt, der zu 50 Prozent auf Kohlendioxid aus der Verbrennung von fossilen Brennstoffen wie Kohle, Erdöl und Erdgas ({0}) und zu 25 Prozent auf FCKW und ähnlichen Gasen beruht. Zielsetzung muss sein, die Ozonschicht zu schützen. ({1}) Gerade deshalb ist das Zustandekommen des Montrealer Protokolls zum Schutz der Ozonschicht, das am 16. September 1987 unterzeichnet worden ist, von ganz besonderer Bedeutung. ({2}) Denn hier einigte sich die Völkergemeinschaft darüber, die Produktion der Fluorkohlenwasserstoffe einzuschränken und stufenweise auslaufen zu lassen. Der ehemalige CDU-Umweltminister Töpfer hat in dieser Thematik eine federführende Rolle gespielt. ({3}) Was das ozonschädigende FCKW angeht, stehen wir heute vor dem letzten Schritt, nämlich die Ausnahmegenehmigungen zur Herstellung und Nutzung FCKWhaltiger Dosierzerstäuber für Industrieländer zu beenden. Um Patienten, die auf bronchialerweiternde und entzündungshemmende Arzneistoffe mit FCKWhaltigen Dosierzerstäubern angewiesen waren, nicht zu gefährden, ist ursprünglich ein Sonderfahrplan für den Ausstieg beschlossen worden, der im Jahr 2003 ausläuft. Alle Beteiligten, Industrie, pharmazeutische Wissenschaft, Ärzte, Apotheker und Pflegepersonal, sind in Deutschland schon längst in diesen Prozess der Vermeidung von FCKW-haltigen Dosierzerstäubern eingebunden und tragen dazu bei, dass die Behandlung von Atemwegserkrankungen zunehmend mit umweltfreundlichen Alternativpräparaten durchgeführt wird. ({4}) Die Voraussetzungen für den Verzicht auf FCKWhaltige Arzneimittel sind in Deutschland damit weitgehend bereits heute erfüllt. Ich freue mich daher besonders, dass die Politik der Überzeugungsarbeit und der Selbstverpflichtung sowohl bei Herstellern wie auch bei Nutzern FCKW-haltiger Dosieraerosole dazu geführt hat, die geforderten Auslauffristen noch zu unterschreiten. Dies zeigt eindrucksvoll, dass man Umweltpolitik in Deutschland auch ganz kooperativ betreiben kann. ({5}) Es geht auch ohne Verbotsstrategien und Gesetzesfluten. ({6}) Zu überlegen bleibt, ob es erforderlich ist - da gebe ich Ihnen Recht, Frau Ganseforth -, die Ersatzmittel für FCKW-haltige Dosierzerstäuber, die im Regelfall teurer sind, aus dem Arzneimittelbudget der Ärzte herauszunehmen, denn die günstigen FCKW-haltigen Generika werden unter Sparzwang verordnet. Das würde natürlich wirtschaftliche Anreize für die Pharma-Industrie schaffen, den FCKW-Ausstieg zu beschleunigen. Wir sind uns über Fraktionsgrenzen hinweg einig, dass der nachhaltige Schutz der Ozonschicht eine der vordringlichsten umweltpolitischen Aufgaben darstellt. Das Bewahren der lebenserhaltenden Ozonschicht ist eine Verpflichtung, die wir gegenüber den kommenden Generationen zu erfüllen haben. Unserer Zielsetzung „FCKW - ade“ sind wir einen richtigen und bedeutenden Schritt näher gekommen. Wenn wir uns auf unsere Verantwortung für den von uns Menschen zusätzlich verursachten Treibhauseffekt besinnen, der auf 50 Prozent Kohlendioxid aus der Verbrennung von fossilen Brennstoffen und auf 25 Prozent FCKW und ähnlichen Gasen beruht, ist dies nur ein Schritt in die richtige Richtung. Wir sollten in diesem Zusammenhang nicht die Diskussion um den richtigen Weg zur Erfüllung des Kioto-Abkommens vernachlässigen, den Kohlendioxid-Ausstoß in Deutschland bis 2005 gegenüber 1990 um 25 Prozent zu reduzieren. Dazu reichen die Schritte der derzeitigen Regierung bedauerlicherweise nicht aus und gehen in die verkehrte Richtung. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das war die erste Rede der Kollegin Marie-Luise Dött. Ich darf ihr im Namen des Hauses dazu gratulieren. ({0}) Nun gebe ich der Kollegin Sylvia Voß für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Sylvia Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003252, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Arthur Schopenhauer hat einmal gesagt: Jeder dumme Junge kann einen Käfer zertreten, aber alle Professoren dieser Welt können keinen herstellen. - Auch wir können eine neue Atmosphäre für unsere Erde nicht herstellen. Aufgrund des Bestandteils „Schicht“ im Wort „Ozonschicht“ hört es sich immer so an, als wenn das irgendein dickes Gebilde wäre. Es ist ein ungeheuer fragiles, zartes Häutchen, das uns vor der tödlichen Strahlung aus dem Weltraum schützt. Diese tödliche Strahlung - Frau Professor Ganseforth hat es vorhin erwähnt - kommt durch die ständig zunehmende Größe der Ozonlöcher schon in erhöhtem Maße auf die Erde. Wissen Sie, ich kann das aus der Erfahrung sagen, da ich Hautärztin bin und, als ich noch in der Klinik tätig war, junge Leute sterben sah. Und dies nimmt zu! Ich glaube, wer so etwas miterlebt, der fragt sich dann: Warum dauert es denn so lange, bis wir wirklich Schritte tun, um da etwas zu unternehmen, wo es wirklich schnell notwendig wäre? Der Ausstieg aus der ozonschichtzerstörenden und klimabelastenden Anwendung von Fluorchlorkohlenwasserstoffen - FCKWs - wurde in Folge der Umsetzung der FCKW-Halon-Verbotsverordnung vom 6. Mai 1991 Ende 1994 in Deutschland nur mit einem halben Schritt getan; denn ausgenommen davon blieb der FCKW-Verbrauch der Pharmaindustrie. So gelangten noch 1998 knapp 10 000 Tonnen der in den Industrieländern sonst generell verbotenen harten, nämlich voll halogenierten FCKWs der Typen 11, 12 und 114 wieder als Treibgas in Asthmasprays. 10 Prozent dieses die Ozonschicht zerstörenden Stoffes werden bisher allein durch deutsche Produkte auf diese Weise in die Atmosphäre frei gesetzt. 400 Tonnen werden immer noch im Inland emittiert. Da frage ich mich, Frau Dött: Wo bleibt denn da die Freiwilligkeit bei den Verpflichtungen? FCKWs in Asthmasprays gelten im öffentlichen Bewusstsein immer noch als zu vernachlässigende Größe, zumal sie zur Linderung eines schweren Leidens eingesetzt werden. Asthmakranke müssen eben sehr häufig und manchmal mehrmals täglich Wirkstoffe in ihre Lunge inhalieren. Dafür tragen sie meistens diese kleinen Sprays bei sich. Da sagt man sich: Das ist ja nur so ein kleines Spray. - Die Wirkung aber ist verheerend. Unbekannt ist zumeist nicht nur Patienten, sondern auch so manchem Arzt und so mancher Ärztin, dass diese Spraydosen die entzündungshemmenden und bronchialerweiternden Wirkstoffe sowie die harten FCKWs 11, 12 und 114 im Verhältnis von 1 : 99 enthalten; 99 Prozent des Inhalts einer solchen Spraydose sind Treibgas. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass in Deutschland circa 4 Millionen Menschen, 10 Prozent der kindlichen und 5 Prozent der Erwachsenenbevölkerung, unter Asthma bronchiale leiden, dann wird auch verständlich ({0}) - ja, das nimmt zu, klar -, dass für 40 Prozent der Ozonschichtzerstörung, die durch FCKW-Emmissionen ausgelöst wurden, im Jahre 1995 - das ist, wie gesagt, schon eine ältere Zahl; die Zahl ist noch angestiegen die Dosiersprays aus der Asthmabehandlung verantwortMarie-Luise Dött lich waren. Darin sind noch nicht einmal die Anwendungen enthalten, die auch zunehmen, nämlich bei den immer häufigeren Allergien im Bereich der oberen Luftwege, wo auch solche Sprays zum Einsatz kommen und in den letzten Jahren immer stärker eingesetzt werden. Die jährliche Nutzung der Asthmasprays ergab eine Klimabelastung von knapp 10 Millionen Tonnen Kohlendioxidäquivalent. Das belegt, dass es sich bei den Asthmasprays keinesfalls um ökologische Peanuts handelt. ({1}) 1996 schätzte die damalige Bundesregierung in einer Antwort auf eine Anfrage meiner Fraktion ein, dass die FKW-Verwendung überwiegend entbehrlich sei. Sie schloss sich hier den Äußerungen des Sachverständigenrates für Umweltfragen an. Zu diesem Zeitpunkt betrug der Marktanteil von Pulverinhalatoren in Deutschland jedoch nur 10 Prozent. In Skandinavien betrug er damals schon zwischen 70 und 90 Prozent. Verschärfend zu diesem Missverhältnis kam hinzu, dass in Deutschland die klima- und ozonschichtfeindlichen FCKW-Präparate um die Hälfte günstiger zu erhalten waren als die umweltfreundlichen Ersatzprodukte. Eine Kennzeichnung FCKW- und FKW-haltiger Produkte unterblieb obendrein. Die These, dass treibgasbetriebene Asthmasprays medizinisch notwendig seien, war zu diesem Zeitpunkt längst wissenschaftlich widerlegt. Klare Vorgaben für den Ausstieg aus den FCKW-haltigen Asthmasprays blieb die damalige Bundesregierung entgegen ihrem eigenen Erkenntnisstand jedoch schuldig. Sie hat sich allzu lange von den lautstarken sprayorientierten Pharmafirmen paralysieren lassen. Zulassungsbehörde und Gesundheitsministerium hatten weiterhin FCKW-haltige Medikamente zugelassen, indem sie sich stets auf die Ausnahmeregelung beriefen, wonach eine weitere Zulassung solcher Arzneimittel möglich sei, solange dies für die Gesundheit erforderlich ist und keine technisch und wirtschaftlich möglichen Alternativen zur Verfügung stehen. Diese Alternativen gab und gibt es jedoch. Für jeden Schweregrad der Erkrankung stehen solche Pulverinhalatoren zur Verfügung. Die Beschleunigung des Pulvertrends, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist auch der ökologischen Kritik an den Spray-Treibgasen zu verdanken, wie sie glücklicherweise immer wieder aus den Umwelt- und Verbraucherverbänden, ja selbst aus Patientenorganisationen heraus und auch von den Grünen immer wieder vorgetragen wurde. Aber auch die Pharmaindustrie ist in den Fragen der Asthmasprays inzwischen kein monolithischer Block mehr. Heute arbeiten auch Pharmaunternehmen, Fachärzte, Apotheker, Patientenvertreter und Umweltschützer zusammen. Das ist ein ermutigendes Zeichen und hoffentlich auch zur Lösung von Problemen in anderen Zusammenhängen beispielgebend. Der Verzicht auf FCKW-haltige Asthmasprays ist ein guter und nicht zu unterschätzender Beitrag zur Umsetzung unserer Verpflichtungen im Rahmen des Montrealer Abkommens, die Herstellung und den Verbrauch von Substanzen zu verbieten, die zum Abbau der Ozonschicht führen. Nachdem der federführende Umweltausschuss und der mitberatende Ausschuss für Gesundheit einen Bericht und eine einstimmige Beschlussempfehlung vorgelegt hatten, hat die rot-grüne Bundesregierung unverzüglich mit der Prüfung der Umsetzbarkeit begonnen. Bereits Ende vergangenen Jahres wurde entschieden, Neuzulassungen von FCKW-haltigen Dosieraerosolen nicht mehr zu erteilen. Für kurz wirksame Spezialpräparate gilt eine Ausnahmeregelung für das Jahr 2000, ohne Chance auf Verlängerung. Damit werden ab 2001 in Deutschland keine solchen Präparate mehr zur Anwendung kommen, denn neben der Herstellung ist dann auch der Import verboten. Nach den internationalen Beschlüssen ist ein Verbot in der EU erst spätestens 2003, in den anderen Industrieländern sogar erst 2005 vorgesehen. Die Bundesrepublik kommt damit in der Erreichung des Klimaschutzzieles endlich einen deutlichen Schritt voran. Danke schön. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Zunächst zu Tagesordnungspunkt 9 a: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- sicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- rung über die Entschließung des Europäischen Parla- ments zu bestimmten chemischen Stoffen, Drucksache 14/1471. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- schlussempfehlung, die Entschließung des Europäischen Parlaments zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men des Hauses gegen die Stimmen der F.D.P. ange- nommen. 1) Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/1471 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 9 b: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung zur Beendigung der Verwendung von FCKW, Drucksache 14/1472. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, die Mitteilung der Kommission zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/1472 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Interfraktionell ist vereinbart worden, dass Zusatztagesordnungspunkt 10 vor Zusatztagesordnungspunkt 9 aufgerufen wird. - Ich gehe davon aus, dass Sie damit einverstanden sind. Wir verfahren so. Ich rufe Zusatzpunkt 10 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts - Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 ({0}) - Drucksache 14/1484 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2}) - Drucksache 14/2595 Berichterstattung: Abgeordnete Jörg van Essen Dr. Jürgen Meyer ({3}) Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Dr. Evelyn Kenzler Hans-Christian Ströbele1) Interfraktionell ist vereinbart, die Redebeiträge zu Protokoll zu geben.2) - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so beschlossen. Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzent- wurf zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrens- rechts, Drucksachen 14/1484 und 14/2595. Ich bitte die- jenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist da- mit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Ent- haltung der PDS angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz __________ 1) Anlage 2 2) Anlage 4 entwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie bei der zweiten Beratung angenommen. ({4}) Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes - Drucksache 14/2566 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war ursprünglich für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kolleginnen und Kollegen haben aber übereinstimmend beschlossen, den Wein lieber zu trinken, statt über ihn zu reden. ({5}) - Ich höre weit und breit keinen Widerspruch, sondern nur Zustimmung. Die Reden werden zu Protokoll ge- nommen.3) ({6}) - Herr Kollege Hirche, haben Sie noch eine Bemerkung zu machen? - Nein, dann geben wir das zu Protokoll, wenn Sie Ihr Abstimmungsverhalten noch geändert sehen möchten. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 14/2566 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss, den Finanzausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Gesundheit, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sind wir beim Weingesetz? -, den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und an den Haushaltsausschuss zu überweisen. Mir fehlt eigentlich noch der Ausschuss für Tourismus, aber er ist nicht vorgesehen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 28. Januar 2000, 9.00 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche einen schönen Abend.