Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/21/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Die Beratung des gestern mit der Zusatzpunktliste aufgesetzten Antrags der Fraktion der F.D.P. zur Erweiterung des Untersuchungsauftrages des 1. Untersuchungsausschusses ist für eine der folgenden Plenarsitzungen vorgesehen. Er soll daher von der heutigen Tagesordnung abgesetzt werden. Der in der 59. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene Entwurf eines Altenpflegegesetzes der Bundesregierung auf Drucksache 14/1578 soll nachträglich auch dem Rechtsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch die Wehrbeauftragte Jahresbericht 1998 ({1}) - Drucksachen 14/500, 14/1807 Berichterstattung: Abgeordnete Uwe Göllner Ich erteile der Wehrbeauftragten, Frau Marienfeld, das Wort. Claire Marienfeld, Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundeswehr steht mit ihrem Engagement in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo vor der größten Einsatzherausforderung ihrer Geschichte. Die Beanspruchung von Mensch und Material ist erheblich, und zwar nicht nur an den Einsatzstandorten, sondern auch an den Heimatstandorten. Die personellen und materiellen Lücken können oftmals nur durch eine hoch entwickelte Form von militärischer Improvisationskunst geschlossen werden. Immer öfter können die Lücken aber gar nicht mehr geschlossen werden. Soldaten in so genannten Mangelverwendungen wie zum Beispiel die Angehörigen des Sanitätsdienstes oder der Fernmeldetruppe müssen damit rechnen, mehrmals in einen Auslandseinsatz kommandiert zu werden. Nun ist es zwar richtig und entspricht auch meinen Beobachtungen, dass die dienstliche Motivation der Soldatinnen und Soldaten im Einsatzland außerordentlich hoch ist. Wenn aber angesichts einer regelmäßigen Kontingentdauer von sechs Monaten trotz der verdienstvollen Arbeit von Familienbetreuungszentren das private Umfeld, die Ehen und die Familien der Soldaten in einer Weise beansprucht werden, dass Entfremdungen und Krisen entstehen, dann kann der Preis für den gezeigten Einsatzwillen zu hoch werden. Motivations- und in der Folge Leistungseinbrüche werden so häufiger. Der Dienst in der Bundeswehr wird unter den gegebenen Verhältnissen nicht mehr als hinreichend attraktiv angesehen. Gerade erst sind entsprechende Zahlen über die Nachwuchslage veröffentlicht worden. Nehmen wir diese Zahlen und das von ihnen ausgehende Signal ernst. Die Herausforderung der Bundeswehr vor dem Hintergrund der gewachsenen internationalen Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland und die sich daraus ergebende besondere Fürsorgepflicht des Dienstherrn für seine Soldaten müssen gerade auch in diesem Hause auf Verständnis treffen. Mit dem Gesichtspunkt der Fürsorge des Dienstherrn für seine Soldaten berühre ich einen Kernbereich der inneren Führung. Nun gibt es in dieser Hinsicht viele Gemeinsamkeiten mit dem Bundesminister der Verteidigung. Gleichwohl habe ich Veranlassung, die konsequente Umsetzung solcher gemeinsamen Grundüberzeugungen bei der Lösung der einzelnen Problemstellungen einzufordern. Wenn ich beispielsweise in meinem letzten Jahresbericht unter der Überschrift „Kleine Mängel, großer Ärger“ auf flächendeckend auftretende Schwierigkeiten wegen fehlender Ersatzteile und Kleinmaterialien hingewiesen habe, dann erwarte ich auch Aufklärung darüber, inwieweit hier fehlende Mittel oder organisatorische Mängel und Nachlässigkeiten ursächlich sind, die letztlich durch angemessene dienstaufsichtliche und planerische Maßnahmen zukünftig verhindert werden können. Der Minister hat in seinen Zielgruppengesprächen Anfang des vergangenen Jahres eine Entbürokratisierung und Modernisierung gerade des Beschaffungswesens angekündigt. Meine Wahrnehmung ist, dass die Soldaten sehr auf die Erschließung der Effizienzreserven in diesem Bereich hoffen. So wird mit großer Aufmerksamkeit beobachtet werden, ob und welche praktischen Konsequenzen die vertragliche Vereinbarung zwischen dem Bundesminister der Verteidigung und namhaften Firmen der deutschen Wirtschaft haben wird. Schwierigkeiten gibt es auch in der sanitätsdienstlichen Versorgung in den Heimatstandorten. Auf dem Papier gibt es zwar eine recht zufrieden stellende Nachwuchs- und Stellenbesetzungslage bei den Sanitätsoffizieren und auch beim Sanitätsassistenzpersonal. In der Realität sieht dies aber anders aus. Einsatz- und lehrgangsbedingte bzw. auch mutterschaftsbedingte Ausfälle sind an der Tagesordnung. Im Jahr 1998 lag beispielsweise die durchschnittliche Tagesantrittsstärke bei Sanitätsoffizieren knapp über 50 Prozent. Ständiger Arztwechsel und überbeanspruchte Militärärzte, die dem einzelnen Patienten einfach nicht mehr gerecht werden können, machen die sanitätsdienstliche Versorgung der Soldaten zu einem Dauerthema. Im Interesse der Menschen, die hier Arbeit und Aufgabe finden, bitte ich um schnelle Verbesserung und Planungssicherheit. Mit Bezug auf einen weiteren Einzelpunkt möchte ich das Thema Infrastruktur aufgreifen. Das Bundesministerium der Verteidigung hat meine Anmerkungen dahin gehend kommentiert, dass die angespannte Haushaltslage die Beseitigung selbst gravierender Mängel in angemessenen Zeiträumen nicht zulasse. Ich möchte hier wie auch im Bereich der Überalterung von ausbildungs- und einsatzwichtigem Gerät mit aller Deutlichkeit darauf hinweisen, dass wir es hier mit einer seit vielen Jahren anhaltenden Entwicklung zu tun haben. In den Jahren unmittelbar nach der Wiedervereinigung war es richtig, die Kasernenanlagen in den neuen Bundesländern zu restaurieren, um das passende Wort zu verwenden. Jetzt droht in den alten Bundesländern vielfach ebenfalls der Verfall der Liegenschaften. Unter ökonomischen Gesichtspunkten ist hierbei zu bedenken, dass unterlassene Erhaltungsinvestitionen eine Bugwelle von in der Folgezeit notwendig werdenden teureren Baumaßnahmen nach sich ziehen. ({2}) Mein Punkt ist aber vor allen Dingen: Die Soldaten haben einen Anspruch auf menschenwürdige Truppenunterkünfte sowie hygienische Verhältnisse in Truppenküchen und Sanitätseinrichtungen. Ich möchte zu einem ganz anderen Thema kommen, bei dem sich im zurückliegenden Jahr eine ausgesprochen positive Entwicklung vollzogen hat. Bei der Präsentation meines Jahresberichts im März 1999 habe ich darauf hingewiesen, dass 1998 in der Truppe zwar die Zahl der bestätigten Vorkommnisse mit rechtsextremistischen Hintergrund zugenommen habe, dass diese Entwicklung jedoch vor dem Hintergrund einer gewachsenen Sensibilisierung und Meldebereitschaft nicht als Besorgnis erregend zu werten sei. Durch die Erkenntnisse des Jahres 1999 fühle ich mich in dieser Einschätzung bestätigt; denn es konnte ein deutlicher Rückgang der Zahl der einschlägigen Vorkommnisse verzeichnet werden. Wir werden es fast mit einer Halbierung zu tun haben. Angesichts dessen möchte ich der militärischen Führung für die eingeleiteten Maßnahmen zur Verbesserung der politisch-historischen Bildung, zur Intensivierung der Dienstaufsicht und schließlich auch zu einer konsequenten Ahndung rechtsradikaler Vorfälle ausdrücklich danken. ({3}) Vorgesetzte auf allen Ebenen haben daran teil, dass die Maßnahmen so positiv gegriffen haben. Abschließend möchte ich noch eine Wahrnehmung vermitteln, die sich an knapp 200 Tagen bei Truppenbesuchen in 1998 und 1999 immer wieder bestätigt hat. Ich möchte diese Wahrnehmung mit einer Bitte verbinden. Die Wahrnehmung ist: Soldaten sind bereit, vieles leise zu ertragen. Sie sind Staatsdiener im besten Sinne des Wortes. Sie leben seit Jahren mit Veränderungen - auch tief greifenden Veränderungen - ihrer beruflichen und privaten Lebensplanung, zum Teil auch mit herben persönlichen Enttäuschungen. Die Truppe wird sich bemühen, auch im Jahre 2000 alle Erwartungen zu erfüllen. Leiden wird sie nur, wenn der Virus der Planungsunsicherheit und der Gerüchte und Befürchtungen weiter grassiert. Meine Bitte ist, höchste Priorität auf Klarheit und Wahrheit zu legen. ({4}) Die Änderungen in Struktur und Ausstattung der Bundeswehr zu definieren, ist die verantwortungsvolle Aufgabe des Bundesministers. Natürlich ist der Inhalt der politischen Entscheidung das Wichtigste. Aber es kommt hinzu: Es ist auch die Form der Vermittlung in die Truppe hinein, die Möglichkeit des VerstehenKönnens aus der Sicht der Soldaten. Ende April endet meine Amtszeit. Ich habe mich entschieden, nicht erneut für dieses Amt zu kandidieren. Ich spreche also heute zum letzten Mal vor Ihnen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses und insbesondere den beiden Ministern, dem alten und dem neuen Minister, für die vertrauensvolle Zusammenarbeit in den letzten fünf Jahren herzlich zu danken. Meine persönliche Bilanz ist - bei allen Schatten, die naturgemäß mit dieser Aufgabe verbunden sind - uneingeschränkt positiv. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, dass Sie mir dieses schöne und interessante Amt übertragen haben. Herzlichen Dank. ({5}) Wehrbeauftragte Claire Marienfeld

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Marienfeld, ich darf Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Namen des ganzen Hauses ein herzliches Dankeschön für Ihre Arbeit sagen. ({0}) Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Uwe Göllner, SPD-Fraktion.

Uwe Göllner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002943, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute den Bericht der Wehrbeauftragten für das Jahr 1998. Wir haben eben gehört: Es wird der letzte Bericht sein, der unter der Verantwortung der ersten Frau, die dieses schwere und schöne Amt ausgeübt hat, abgegeben worden ist. Ich darf im Namen meiner Fraktion - ich vermute aber, auch im Namen aller Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen - der Frau Wehrbeauftragten für die fünfjährige Arbeit, die sie geleistet hat, danken. Frau Marienfeld, ich habe Ihre Arbeit drei Jahre begleitet. Es war eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Sie war es in jeder Situation - unabhängig von der Parteizugehörigkeit -, was in diesem Parlament selten geworden ist, was uns Kolleginnen und Kollegen im Sicherheitsbereich aber auszeichnet. Herzlichen Dank, Frau Marienfeld! ({0}) Meine Damen und Herren, die Institution des Wehrbeauftragten ist im letzten Jahr 40 Jahre alt geworden. Sie ist eine Einrichtung des Parlaments und hat ganz wesentlich dazu beigetragen, dass die Bundeswehr in der deutschen Gesellschaft großes Ansehen genießt. Dieses Ansehen reicht weit über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hinaus. Hätten nicht vor etwas mehr als 40 Jahren Rainer Barzel, Helmut Schmidt, Erich Mende und andere diese Institution, wie sie in Art. 45 b des Grundgesetzes beschrieben ist, geschaffen, so müssten wir sie heute erfinden. Ich setze diese lobenden Worte an den Anfang meiner Ausführungen, weil die positiven Grundansätze in der Diskussion um den Bericht der Wehrbeauftragten, der meist als Mängelbericht diskutiert wird, naturgemäß in den Hintergrund treten. Bei all diesen Mängeln, über die wir in der Debatte zu diesem Bericht reden werden, darf eines nicht vergessen werden: In der Einrichtung Bundeswehr arbeiten 340 000 Soldaten und nahezu 150 000 Zivilbeschäftigte. Wenn man diese Zahlen in Verhältnis zu den im Bericht erwähnten Mängeln setzt, dann kann man feststellen: Die Bundeswehr ist auch im Berichtsjahr 1998 ihrem positiven Ruf in der Bundesrepublik Deutschland durchaus gerecht geworden. ({1}) Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der F.D.P., Sie haben, als Sie noch in der Regierung waren, die Einsetzung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuss abgelehnt. Dies war aus meiner Sicht ein Fehler; denn die Bundeswehr hat die mit diesem Untersuchungsausschuss verbundenen Chancen voll genutzt. Unter der umsichtigen Leitung der Kollegen Rossmanith und Heistermann hat der Untersuchungsausschuss die Bundeswehr von dem Verdacht befreit, es gäbe in ihr rechtsradikale Netzwerke. Nach den Beobachtungen der Wehrbeauftragten geht die Bundeswehr heute mit der Traditionspflege weit bewusster und ausgewogener um als je zuvor. ({2}) Die Zahl der vermeintlichen und tatsächlichen Vorfälle mit rechtsextremistischem Hintergrund hat sich im Berichtsjahr nicht verringert; die Frau Wehrbeauftragte hat vorhin darauf hingewiesen. Aber es ist zu berücksichtigen, dass dies Ausfluss der höheren Sensibilisierung und Meldebereitschaft innerhalb der Bundeswehr ist. Ich denke, wir müssen das als Ergebnis der von der Bundeswehr vorgenommenen Abwehrmaßnahmen werten. Grund, sich zurückzulehnen, ist dies dennoch nicht. Ich habe schon vor zwei Jahren in der Diskussion um den Bericht der Wehrbeauftragten darauf hingewiesen, dass die Bundeswehr in puncto Rechtsradikalismus eben kein Spiegel der Gesellschaft sein darf. Sie muss in diesem Bereich besser sein als der Durchschnitt der Gesellschaft. Der politischen Bildung gebührt daher unsere hohe Aufmerksamkeit. Gerade vor dem Hintergrund der Einsätze im Ausland macht dies großen Sinn. Im Berichtsjahr waren 7500 Männer und Frauen der Bundeswehr im Ausland stationiert. Die Art und Weise, wie sie ihren Dienst dort verrichtet haben, hat das Ansehen der Bundeswehr und damit der Bundesrepublik Deutschland im Ausland, insbesondere bei unseren Verbündeten, sehr gestärkt. Dafür gilt es Dank zu sagen. ({3}) In diesen Dank müssen wir auch all jene Soldaten einschließen, die die dadurch im Inland aufgerissenen Lükken klaglos geschlossen haben. ({4}) Über den positiven Gesamteindruck dürfen wir aber nicht die negativen Kleinigkeiten, auf die die Frau Wehrbeauftragte hingewiesen hat, vergessen, die den Alltag der Soldaten oft unnötig belasten. Die Frau Wehrbeauftragte oder ihr Nachfolger bzw. ihre Nachfolgerin muss deshalb mit dem Verteidigungsministerium auch künftig im ständigen Dialog bleiben. Meine Damen und Herren, auf den hohen Stellenwert der politischen Bildung in der Bundeswehr habe ich hingewiesen. Es ist erschreckend, wie wenig junge Soldaten politische und historische Zusammenhänge erkennen und vor allen Dingen bewerten können. Die Defizite bei den Kenntnissen über unsere Werte und Normen sind oft beachtlich. Dabei erfordert gerade das Bild des Staatsbürgers in Uniform einen Soldaten, der den eigenen Auftrag und den Auftrag der Bundeswehr in politische Zusammenhänge einordnen kann. Die Bundeswehr kann gesellschaftliche Versäumnisse naturgemäß nicht nachholen, aber sie kann sie mildern. Wenn die Frau Wehrbeauftragte im Jahresbericht 1998 zum wiederholten Male feststellen muss, dass die politische Bildung nicht zweitrangig werden darf, dann zeigt uns dies, dass wir in diesem Bereich noch besser werden müssen. Junge Menschen können durch Vorbilder geprägt werden. Von daher kommt es stark auf das Verhalten ihrer Vorgesetzten an. Unser Kollege Gerd Höfer wird seit geraumer Zeit nicht müde, darauf hinzuweisen, dass der Rechtspflege wegen ihrer Bedeutung ein eigener Titel im Einzelplan 14 gebührt. Mir scheint, der Bericht der Wehrbeauftragten bestätigt den Kollegen Höfer. Wenn ich die Signale aus dem Hause recht verstehe, so wird seinem Begehren im nächsten Haushaltsjahr auch entsprochen werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo immer junge Menschen in so großer Zahl zusammenkommen, ist das Thema Drogenmissbrauch erfahrungsgemäß relevant. Die Zahl der gemeldeten Fälle ist konstant, Gott sei Dank leicht rückläufig. Aber jeder Einzelfall ist einer zu viel. Wenn man den missbräuchlichen Umgang mit Alkohol hinzunimmt, so erkennt man schnell, dass auch ältere Soldaten davor nicht gefeit sind. Dem Bericht sind - zugegebenermaßen - Einzelfälle zu entnehmen, die erschrecken. Wer mit Menschen, Waffen und Munition umgeht, der hat in jeder Situation einen klaren Kopf zu behalten. Raum für Toleranz, so stellt die Wehrbeauftragte fest, ist hier nicht gegeben. Dieser Feststellung können wir uns alle nachdrücklich anschließen. Auch hier gilt das vorhin Gesagte: Vorbildliches Verhalten der Vorgesetzten kann hilfreich sein. Der Bericht stellt fest, dass in der Bundeswehr professionell und mit angemessener Härte ausgebildet wird. Er hält aber auch fest, dass dabei seitens der Vorgesetzten, welche die grundlegenden Werte unserer Rechtsordnung eigentlich schützen sollen, gelegentlich Grenzen überschritten werden. Die Gewährleistung der Menschenrechte ist Teil der Zweckbestimmung unserer Streitkräfte und somit Grundlage ihrer Legitimation. Beim Überschreiten dieser Grenzen liegen immer Verstöße gegen bestehende Vorschriften zugrunde. Dies lässt auf deutliche Defizite in der Ausbildung schließen, die beseitigt werden müssen. Bisweilen deutet es auch auf Defizite bei der Auswahl hin. Meine Damen und Herren, die Auslandseinsätze der Bundeswehr haben die Militärseelsorge mehr in den Mittelpunkt gerückt, als dies in den zurückliegenden Jahren der Fall war. Die Evangelische und die Katholische Arbeitsgemeinschaft für Soldatenbetreuung, die Familienbetreuungszentren und die Militärseelsorge leisten gemeinsam einen unschätzbaren Dienst auch gerade an den Angehörigen der Soldaten, die im Ausland eingesetzt sind. Aber auch junge Soldaten selbst, ob gläubige Christen oder nicht, stellen sehr viel häufiger als früher die Frage nach dem Sinn. Die Militärpfarrer beider Konfessionen hören zu und beraten und stellen nie die Frage nach der Religionszugehörigkeit. Ihr Dienst ist sicher belastender geworden. Deshalb gilt allen, die in diesem Bereich arbeiten, unser herzlicher Dank. ({5}) Das Ost-West-Verhältnis wird immer noch durch die 86,5-Prozent-Regel belastet. Ich kenne die Zwänge des Beamtenrechts und ich kenne die Nöte der Länderfinanzminister. Aber im Interesse des Friedens in der Bundeswehr müssen wir bald zu einer Lösung kommen. ({6}) Ich schließe mich dem wiederholten Appell der Frau Wehrbeauftragten an, besonders junge Soldatenfamilien zu unterstützen, die freiwillig von Ost nach West oder umgekehrt umziehen, denn sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Überwindung von Vorurteilen auf beiden Seiten. ({7}) Der Bundesminister der Verteidigung hat eine Kommission eingesetzt, die unter der Leitung des früheren Bundespräsidenten von Weizsäcker über die Zukunft der Bundeswehr berät. Auch dies ist gegen den Widerstand der heutigen Opposition geschehen. Wir wissen aus den Diskussionen des vergangenen Jahres, dass es besser gewesen wäre, wenn die Kommission sehr viel früher eingesetzt worden wäre. Ich persönlich habe immer wieder der Versuchung widerstanden, mich in die Arbeit dieser Kommission einbringen zu wollen. Ich denke, wir alle sollten bis Mai abwarten können. Das käme auch der Forderung der Wehrbeauftragten entgegen, die in diesem Prozess einen möglichst breiten Konsens wünscht. Wie immer sich das politische Klima in dieser Republik bis Mai entwickeln wird, wir Abgeordnete im Sicherheitsbereich tragen eine besondere Verantwortung, wenn es um den Konsens in diesem Politikfeld geht. Ich denke, wir sollten uns gemeinsam darum bemühen. Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Werner Siemann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Werner Siemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003236, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr verehrte Frau Wehrbeauftragte! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Wehrbeauftragte, ich darf Ihnen namens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Ihre fünfjährige Tätigkeit außerordentlich danken. Sie haben mit Augenmaß und mit Einfühlungsvermögen Ihre Aufgaben wahrgenommen und sich durch diese Tätigkeit in den fünf Jahren große Anerkennung bei allen Beteiligten, insbesondere bei den Soldaten erworben. Dafür danke ich Ihnen noch einmal ausdrücklich. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, am 16. März 1999 wurde der Jahresbericht 1998 der Wehrbeauftragten, den wir heute diskutieren, dem Parlament vorgelegt. Zu diesem Zeitpunkt konnten wir nicht ahnen, welche Ereignisse uns acht Tage danach in Atem halten würden. Am 24. März 1999 begannen die Luftschläge gegen Jugoslawien. Während des ersten Kampfeinsatzes der Bundeswehr nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges haben sich unsere Soldaten in hervorragender Weise bewährt. Nach Einstellung der Luftoperation haben sie eine herausragende Rolle bei der Sicherung des Friedens übernommen. Zurzeit befinden sich 8056 Angehörige der Bundeswehr auf dem Balkan im Auslandseinsatz. Nach Abschluss des letzten Kontingentwechsels haben dann 63 000 deutsche Soldaten dort ihren Dienst verrichtet. Der Kosovo-Konflikt führt uns zweierlei eindrucksvoll vor Augen: zum einen, dass die Bundeswehr über professionelle und engagierte Soldaten verfügt, die mit Geschick und Einfühlungsvermögen den gefährlichen Auftrag ausführten. Zum anderen verdeutlichte er den Europäern im Allgemeinen und uns Deutschen im Besonderen sehr auffällig und gleichsam dramatisch die Probleme innerhalb der NATO. Ohne das amerikanische Engagement hätte der Kosovo-Konflikt, wie er sich zuerst darstellte, nicht zu einem erfolgreichen Ende geführt werden können. Vor dem Hintergrund der massiven Kürzungen im Wehretat durch das Sparpaket des Finanzministers muss befürchtet werden, dass Deutschland zukünftig nicht mehr imstande ist, solche Einsätze durchzuführen bzw. die Einsätze so durchzuführen, wie wir es jetzt können. Durch den verabschiedeten Verteidigungshaushalt wird sich der Gesamtzustand der Streitkräfte meines Erachtens auf dramatische Art und Weise verschlechtern. Das führt dazu, dass sich viele der im Bericht der Wehrbeauftragten thematisierten Kritikpunkte und Mängel weiter verschärfen werden. Nachfolgend möchte ich auf einige Punkte des Berichts eingehen, die meines Erachtens von besonderer Relevanz sind. Äußerst problematisch wirken sich die Baumaßnahmen in den neuen Bundesländern auf die Bundeswehrliegenschaften im Westen aus. Die erforderliche Renovierung ehemaliger Liegenschaften der NVA führte oftmals dazu, dass keine Haushaltsmittel für notwendige Renovierungen, etwa im Unterkunfts- und Kantinenbereich, in den alten Bundesländern vorhanden waren. Dies hatte zur Folge, dass Kantinen geschlossen werden mussten und in Küchen unzureichende hygienische Verhältnisse vorherrschen. Bei allem Verständnis für eine meines Erachtens auch zwingende finanzielle Bevorzugung der Bundeswehrliegenschaften in den neuen Bundesländern kann es nicht länger angehen, dass die Standorte in den alten Ländern in einem unvertretbaren Ausmaß darunter zu leiden haben. ({1}) Leider haben auch die Hinweise der Wehrbeauftragten in der Vergangenheit nicht geholfen, das Problem zu lösen. Auch die von der Wehrbeauftragten bemängelte fehlende Zivilcourage und Eigenverantwortung und die ihr oft begegnete Sprachlosigkeit geben Anlass zur Sorge. Wir müssen in der Bundeswehr Strukturen schaffen, in denen der Soldat im Einklang mit der Befehlsstruktur die Möglichkeit hat, Kritik und Alternativvorschläge zu äußern. Ein weiterer Kritikpunkt der Wehrbeauftragten ist die unterschiedliche Behandlung einzelner Dienstgradgruppen, insbesondere die zurückhaltendere Ahndung von Dienstvergehen dienstgradhöherer Soldaten. Entgegen der Einschätzung des Ministeriums sind die im Bericht dargestellten Fälle nicht von singulärer, sondern von repräsentativer Natur. Besondere Sorge - auch dies soll angesprochen werden - bereitet der Anstieg der Zahl von Kriegsdienstverweigerungen. Auch wenn die Wehrpflichtigen von einer faktischen Wahlfreiheit zwischen Wehr- und Zivildienst ausgehen, was der vor zwei Tagen im Verteidigungsausschuss behandelte Jahresbericht der Jugendoffiziere wieder bestätigte, so darf dieser Eindruck nicht auch noch gestützt werden. Die Wehrpflicht ist der persönliche Ausdruck der Mitverantwortung des Bürgers für das Leben in Frieden und Freiheit. ({2}) Der Zivildienst ist keine Alternative zum Wehrdienst, er ist die zu begründende Ausnahme. Dies ist keine politische Bewertung, sondern entspricht der durch Gerichte aller Instanzen bestätigten Rechtslage. Im Berichtszeitraum 1998 erreichte die Zahl der Kriegsdienstverweigerungen einen neuen Negativrekord von etwa mehr als 172 000. Für das zurückliegende Jahr wird sogar noch eine Steigerung erwartet. Voraussichtlich haben 1999 knapp 174 000 junge Männer den Dienst an der Waffe verweigert. Diese bedenkliche Entwicklung darf jedoch nur partiell verwundern. Die unausgewogenen Kürzungen im Verteidigungshaushalt wirken sich eben auch auf die Wehrpflicht aus, was wiederum zu Verunsicherungen bei den Jugendlichen führt. Darüber hinaus kommen bei den Jugendlichen auch Zweifel an der Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr im Ganzen auf. Auch die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen nach Abschaffung der Wehrpflicht trägt weder zu ihrer Stärkung noch zur Abnahme der Kriegsdienstverweigererzahlen bei. ({3}) Mit der rigiden Kürzungspolitik höhlt die Regierung zudem die Bundeswehr aus, schwächt dadurch das transatlantische Bündnis und setzt die Verlässlichkeit Deutschlands als NATO-Partner aufs Spiel. Obwohl der Kosovo-Konflikt doch sehr deutlich die erheblichen technologischen Defizite der Bundeswehr gezeigt hat, wird nicht nur der Wehretat, sondern auch dessen investiver Anteil abgesenkt. Deutschland wird seiner außenpolitischen Rolle damit nicht mehr gerecht. Auch die europäische Handlungsfähigkeit wird infrage gestellt, wenn Deutschland als Wirtschaftsnation Nummer eins in Europa nicht bereit ist, einen adäquaten Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung bereitzustellen. Es ist deshalb unzureichend, wenn der Regierungschef vor den Kommandeuren der Bundeswehr ein funktionales Sicherheitsverständnis anmahnt und den Vergleich der Verteidigungsetats der NATO-Mitgliedstaaten als zu kurz greifend ablehnt. Es ist unzureichend, in diesem Zusammenhang auf Leistungen der Vergangenheit zu verweisen. Diese Leistungen können nicht mit denen verrechnet werden, die wir heute zu erbringen haben. Zurzeit ist Deutschland nur bedingt europafähig. Eine Fortführung des Kurses setzt unsere Rolle als gestaltender Akteur internationaler Politik aufs Spiel. Auch durch den Umbau und die Modernisierung der Streitkräfte werden, wenigstens kurzfristig, keine zusätzlichen Mittel verfügbar sein, da jede Reorganisation zumindest einer Anschubfinanzierung bedarf. Damit steht für mich fest: In dem gegenwärtig vorgegebenen Finanzplan der Bundesregierung ist für eine Modernisierung unserer Bundeswehr kein Raum. Die von Bundesminister Scharping angekündigten Einsparungen stellen zwar einen ersten Schritt in die richtige Richtung dar, aber bei der Restrukturierung und Modernisierung der Bundeswehr geht es stärker um die Investition von Milliarden, die nur sehr bedingt durch Rationalisierungsmaßnahmen im Bereich der Bundeswehr zu erwirtschaften sind. Was wir benötigen, ist schlichtweg eine Erhöhung des Wehretats. Die rhetorisch-verbale Aufrüstungsakrobatik von Bundeskanzler Schröder steht der finanziellen Abrüstung im Verteidigungsetat diametral entgegen. So verwundert es wirklich keinen von uns, wenn Verteidigungsminister Scharping eingestehen muss, dass der Bundeswehr elementare Fähigkeiten fehlen, um einen wirkungsvollen und international angemessenen Beitrag zur kollektiven Verteidigung im Bündnis sowie zu Einsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung und der Konfliktverhütung zu leisten. Angesichts der drastischen Kürzungen im Verteidigungshaushalt kommt Minister Scharping zu dem Schluss: „Auftrag, Umfang, Ausrüstung und Mittel sind aus der Balance geraten.“ Allerdings zieht die Bundesregierung daraus nicht die notwendigen Konsequenzen. Stattdessen soll der Verteidigungshaushalt in den nächsten vier Jahren 18,6 Milliarden DM verlieren. Dies ist gleichbedeutend mit dem finanziellen Super-GAU der Bundeswehr. ({4}) Eine Erhöhung des Wehretats sowie die Umstrukturierung der Streitkräfte sind unausweichlich. Das sehen auch wir. Diese Umstrukturierung darf jedoch nicht unter finanziellen Gesichtspunkten betrachtet werden. Zuerst muss definiert werden, welche Aufgaben die Bundeswehr zukünftig erfüllen soll. Wir benötigen eine Armee, die so strukturiert und ausgestattet ist, dass sie nicht nur humanitäre Aufgaben und Verteidigungsoperationen wahrnehmen, sondern auch verzugslos Krisen bewältigen kann. Daher muss die Bundeswehr von einer ausbildungsorientierten auf eine einsatzorientierte Armee umgestellt werden. Die Beibehaltung der Wehrpflicht und damit die Aufwuchsfähigkeit stellen den spezifischen Beitrag Deutschlands als strategischen Rückhalt der potenziellen Bündnisverteidigung dar. Auch unsere europäischen Verbündeten fordern von uns einen stärkeren Beitrag, wenn die europäische Verteidigungsidentität kein Geschöpf von Absichtserklärungen sein soll. Zu bedauern ist vor diesem Hintergrund der unangemessene Umgang mit dem Bericht der Wehrbeauftragten. Die Stellungnahme des Verteidigungsministeriums muss leider als sehr oberflächlich bezeichnet werden. Die von der Wehrbeauftragten thematisierten Probleme werden bagatellisiert und als Einzelfälle abqualifiziert. Dies ist jedoch unzutreffend. Nicht Einzelfälle wurden durch die Wehrbeauftragte aufgegriffen, sondern es wurde lediglich die Spitze des Eisbergs skizziert. Es stellt eine unzulässige Verharmlosung der Probleme und Mängel der Bundeswehr dar, wenn diese als „Einzelfälle“ und „Ausnahmen“ deklariert werden. Bei den im Wehrbeauftragtenbericht angeführten Beispielen handelt es sich eben nicht um die unzulässige Verallgemeinerung von Einzelfällen, sondern um exemplarische Veranschaulichungen. Der Bericht des Verteidigungsministeriums ist jedoch von der stereotypen Behauptung gekennzeichnet, dass es sich bei den Beanstandungen um „individuelles Fehlverhalten“ und um „Einzelfälle“ handeln würde. Es kann nicht die Aufgabe einer Stellungnahme sein, die Kritikpunkte in allgemeiner Form lapidar zu wiederholen. Vielmehr verpflichtet ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Bericht dazu, die Kritikpunkte aufzugreifen und Lösungsansätze aufzuzeigen. Diesem wünschenswerten Prinzip wird leider nicht gefolgt. Die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages hat in den vergangenen Jahren immer wieder auf Probleme und Defizite in der Truppe hingewiesen. Ihrem Engagement ist es zu verdanken, dass in der Vergangenheit vor möglichen Fehlentwicklungen gewarnt wurde. Durch ihre Berichte erhält das gesamte Parlament ein Bild über die Lage der Bundeswehrsoldaten. - Frau Wehrbeauftragte, Ihnen und Ihren Mitarbeitern gebührt nochmals Dank für die Erstellung dieses Berichts. Der Einsatz der Bundeswehr auf dem Balkan hat uns gelehrt, dass Friedenserhaltung gleich bedeutend mit Friedenserzwingung sein kann. Nur eine funktionsfähige Armee wird in der Lage sein, solche gefährlichen und komplexen Einsätze zu meistern. Auch vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung des Amtes eines Wehrbeauftragten zukünftig noch zunehmen. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Marienfeld! Mit erheblicher Verzögerung ({0}) debattiert heute das Plenum den Jahresbericht 1998 der Wehrbeauftragten. Im vorigen Jahr dominierten der Kosovo-Einsatz, die Entwicklung des Einzelplan 14 und die Modernisierung der Bundeswehr unsere Debatte. ({1}) Wir müssen aufpassen, dass die Fragen der inneren Verfasstheit der Bundeswehr und der inneren Führung darüber nicht zu kurz kommen. Frau Marienfeld, Ihr Bericht ist wieder von sehr genauer Beobachtungsgabe geprägt und ist deshalb sehr hilfreich sowie unverzichtbar für die Beurteilung der inneren Lage der Bundeswehr. Dafür hat Ihnen auch die Fraktion der Bündnisgrünen sehr eindringlich und herzlich zu danken. ({2}) Angesichts der durch diesen Bericht ermöglichten Blicke hinter die Kulissen und in den Alltag der Bundeswehr denke ich, dass solche Berichte auch über andere Institutionen sehr interessant und wünschenswert sein könnten. Nun zu einzelnen Punkten des Berichts. Im Bereich Vorgesetztenverhalten und Verhalten in Hierarchien zeigt sich Ihre genaue Beobachtung. Unter der Überschrift „Zivilcourage“ heißt es, dass Sie vermehrt hörten, „dass das Nichterreichen eines Ziels als Versagen angesehen“ werde, was häufig zu einer gewissen Sprachlosigkeit führe. Beim Führungsverhalten von Vorgesetzten gebe es vielfach eine Mentalität der Absicherung, der Anpassung und Routine. Zitat: „Nicht selten stufen Soldaten ... Vorgesetzte als ‚karriereambitioniert‘ ein“ - mit entsprechenden Folgen im Hinblick auf die Ehrlichkeit der Meldung von Klarstand, Einsatzbereitschaft usw. Die Wehrbeauftragte konstatiert ein „zu häufiges Jobdenken“, „das auf fehlende Vorbilder bei den Vorgesetzten, Fehler in der Auswahl, aber auch auf eine vordergründige Werbung für die Streitkräfte hinweist“. All das sind Sachverhalte, wie sie auch in der Zivilgesellschaft in Unternehmen und Behörden anzutreffen sind. Es ist positiv, dass sich die Wehrbeauftragte damit eben nicht zufrieden gibt, sondern gerade und immer wieder die Vorbildfunktion der Vorgesetzten einklagt. Der Abschied des früheren Ministers und seines der Zivilcourage nicht förderlichen Führungsstils hat offenkundig einige Erleichterung verschafft. ({3}) Zum Punkt Rechtsextremismus und fremdenfeindliche Vorfälle sowie Untersuchungsausschuss: Wir erinnern uns noch deutlich an die künstliche Aufregung bei den damaligen Koalitionsfraktionen über die Konstituierung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuss. Rückblickend ist dem Urteil der Wehrbeauftragten zuzustimmen, dass der Untersuchungsausschuss zur Versachlichung der Debatte beigetragen hat, dass es eine gestiegene Sensibilität bei Vorgesetzten und eine Fülle schneller Gegenmaßnahmen gegeben hat. Insofern hatte der Untersuchungsausschuss einen zweifachen Nutzen. Richtig ist, dass Rechtsextremismus bzw. fremdenfeindliche Einstellungen ihre Wurzeln in der Gesellschaft haben. Offen ist aber weiterhin die damals von uns aufgeworfene Frage, ob solche Einstellungen überproportional über junge Wehrpflichtige in die Bundeswehr hineinwirken und wie der Ausbildungsbetrieb, die politische Bildung und der militärische Alltag, wie Auslandseinsätze und Multinationalität, auf solche Einstellungen zurückwirken. Offen ist, ob vor entsprechendem Verhalten nur „abgeschreckt“ wird oder ob es tatsächlich Einstellungsänderungen gibt. Hierüber wären weiterhin empirische Untersuchungen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr sehr sinnvoll. Zur politischen Bildung und Soldatenbeteiligung: Das sind offensichtlich Dauerprobleme im Bundeswehralltag. Die sehr schwierigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von politischer Bildung sind uns bekannt. Der gegenwärtige CDU-Spendenskandal steigert die Vorbehalte gegenüber der Politik insgesamt noch einmal enorm. Diese Vorbehalte können durch eine noch so gute politische Bildung nicht aufgefangen werden. Trotzdem bleiben auch selbstverursachte Defizite in der Truppe, die weiterhin bearbeitet werden müssen. Unverständlich und nicht entschuldbar ist, dass die im Soldatengesetz vorgeschriebene Ausbildung von Vertrauenspersonen bald nach ihrer Wahl nur in Ausnahmefällen stattfindet, wie die Wehrbeauftragte feststellt. Zuletzt zur Stellung der Bundeswehr in der Gesellschaft und ihrer Integration: Im Vergleich zu vielen anderen Armeen in demokratischen Staaten ist die Bundeswehr gut in die Gesellschaft integriert. Der gerade im Verteidigungsausschuss besprochene Bericht der Jugendoffiziere macht aber deutlich, dass diese Integration in Wirklichkeit nur eine Teilintegration in die Gesellschaft ist, denn der Austausch mit den gesellschaftlichen Bereichen, die - das sage ich jetzt an unsere Adresse eher den Koalitionsparteien oder auch dem grünen Bereich nahe stehen, ist deutlich unterentwickelt. Hier haben wir und haben unsere Jugendorganisationen, die Gewerkschaften und die Friedensorganisationen einen deutlichen Nachholbedarf. Mit dem Kosovo-Einsatz verdreifachte sich ungefähr die Zahl der Soldaten im Auslandseinsatz. In Anbetracht der wahrscheinlich bevorstehenden weiteren Reduzierung der Bundeswehr und der wahrscheinlichen Schrumpfung der Wehrpflicht wird die künftige Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft ein Thema, mit dem wir uns in Zukunft intensiver und auch fantasievoller werden beschäftigen müssen. Ich danke Ihnen, Frau Marienfeld, noch einmal für Ihre ausgezeichnete Arbeit in den letzten vier Jahren. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Hildebrecht Braun, F.D.P.-Fraktion.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau Marienfeld! Die heutige Debatte sollte ja eigentlich die parlamentarischen Beratungen des letzten Jahres und damit des letzten Jahrhunderts beschließen. Sie ist auch jetzt an der Nahtstelle des letzten Jahrhunderts zu diesem neuen Jahrhundert angesiedelt, und deswegen erlaube ich mir heute nicht nur über den Bericht der Wehrbeauftragten zu sprechen, sondern auch einige Ausführungen zur Institution der Wehrbeauftragten zu machen. Wir haben nämlich allen Anlass, den Ahnherren und Ahndamen, die im Jahre 1957 diese Epoche machende Institution in unsere Verfassung gebracht haben, unseren Dank und unsere Anerkennung auszusprechen. Wohl kein anderes Land hat eine vergleichbare Einrichtung zur Wahrung der Rechte des einzelnen Soldaten, zugleich auch zur parlamentarischen Kontrolle des Militärs, wie Deutschland. Natürlich hat ja auch kein anderes Land, zumindest kaum eines, ähnlich fatale Erfahrungen mit Militarismus und Totalitarismus, mit einer Entrechtung der Menschen durch das Militär, aber auch im Militär selbst. Die Einrichtung des Wehrbeauftragten ist fürwahr ein Glanzlicht demokratischer Kultur in unserem Lande. ({0}) Es kommt nicht von ungefähr, dass sich diese Einrichtung zu einem Exportartikel der Bundesrepublik Deutschland entwickelt hat. Ich erinnere nur an unsere Gespräche mit ukrainischen Generälen vor etwa zwei Monaten, die an vielen Dingen in der Bundeswehr Interesse hatten, die aber mit größtem Interesse zur Kenntnis genommen haben, welche Einrichtung wir hier für die Soldaten und für das Militär insgesamt im Auftrag des Parlamentes haben. Sie sagten, das würden sie sehr gerne auch in der Ukraine einführen. - Dies ist nur ein Beispiel unter vielen. Wenn der Deutsche Bundestag und der Bundesrat den Wehrbeauftragten sogar in der Verfassung verankert und damit der Beliebigkeit der jeweiligen Mehrheit entzogen haben, so hat dies nicht nur mit dem Versuch eines Beitrages zur Bewältigung einer höchst problematischen Vergangenheit im eigenen Land zu tun. Zugleich wurde ein großer Schritt für die Zukunft von Staatsbürgern in Uniform gewagt, die im Bewusstsein ihrer eigenen individuellen Menschenwürde Verantwortung für unseren Staat, für unsere Bürger und für die westliche Wertegemeinschaft übernehmen. ({1}) Der Wehrbeauftragte ist nur dem Parlament verantwortlich. Er hat eine herausragende Stellung sowohl gegenüber der Truppe in ihrer Vielfalt als auch gegenüber allen sonstigen Einrichtungen des Staates, die für das Wohl des Soldaten, insbesondere des einzelnen Soldaten, von Bedeutung sind. Dank und Anerkennung gebührt den verschiedenen Inhabern dieses Amtes, die mit großem Engagement und großer Sachkenntnis sowie mit Einfühlungsvermögen in die verschiedenartigen Situationen von Untergebenen und Vorgesetzten in der Bundeswehr gehandelt haben. Sie haben positive Entwicklungen ermutigt und begünstigt, negative Erscheinungen in der Bundeswehr gebrandmarkt und damit Änderungen angestoßen. Kein einziger dieser früheren Wehrbeauftragten erwies sich im Nachhinein als ungeeignet, und auch Sie, liebe Frau Marienfeld, haben sich in die Reihe dieser hervorragenden Wehrbeauftragten nahtlos und erfolgreich eingereiht. ({2}) Sie erleben nicht nur bei den Politikern aller Parteien, von denen Sie beauftragt wurden, Anerkennung, sondern insbesondere auch bei den Menschen in den Streitkräften, die Ihnen vertrauen. Deshalb will ich Ihnen sowie Ihren hoch qualifizierten und motivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ebenfalls unseren nachdrücklichen Dank und unsere Anerkennung aussprechen. ({3}) Eine unabhängige Institution, die bewusst von einer Zivilperson geführt wird, die Zugang zu allen Unterlagen der Bundeswehr hat und im Verteidigungsausschuss regelmäßig anwesend ist, ist der Schlüssel zum Abbau der Angst von Soldaten, zur Verhinderung von Übergriffen und zu modernen Streitkräften in einer modernen Gesellschaft. Der vorliegende Bericht könnte in seinem Aufbau, in seiner Verständlichkeit und Klarheit, aber auch in seinem sensiblen Umgang mit verschiedensten Problemstellungen insgesamt als Vorbild für das Berichtswesen im öffentlichen Bereich gelten. Der Jahresbericht als Entscheidungshilfe für den Bundestag, als Frühwarnsystem bei sich abzeichnenden Negativentwicklungen, als Situationsbericht für alle Beteiligten, natürlich auch die Presse, ist fürwahr ein wichtiges Dokument. Die Bundeswehr ist nicht besser als die Gesamtgesellschaft. Es ist nicht hilfreich, unerfüllbare Erwartungen an die Bundeswehr zu stellen. Wir sollten festhalten: Die „Schule der Nation“ ist die Schule, nicht die Bundeswehr. ({4}) Was im Elternhaus versäumt wird, was im Kindergarten und in der Schule nicht gelernt wird, was an Fehlhaltungen nicht zuletzt durch Tausende von Fernsehsendungen, in denen der Gewalttätige Erfolg hat, in der Seele der jungen Menschen entstanden ist, kann nicht in dem kurzen Zeitraum der Wehrpflicht korrigiert werden. Sie kennen den in der Politik oft zitierten Satz: Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Sachverstand. Dieser Satz ist genauso falsch wie seine leicht mögliche Abwandlung: Wem der Staat eine Uniform verpasst, dem gibt er auch Reife und einen guten Charakter. Zweifellos kann das Leben in der Bundeswehr während des Grundwehrdienstes zu vielen Erkenntnissen führen, die für die persönliche Entwicklung eines jungen Menschen hilfreich sind, weil er erlebt, dass jeder in der Gruppe auf den anderen angewiesen ist, weil er oft in Vorgesetzten Vorbilder findet, weil bis zum Beginn des Wehrdienstes erlebte soziale Barrieren im Wehrdienst überwunden werden, weil mancher erstmals im Leben Verantwortung für andere übernimmt und weil er nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten kennen lernt. Das Leben in der Bundeswehr kann für den jungen Menschen hilfreich sein, weil er gefordert und gefördert wird, weil er in vielfältiger Weise die Chance hat, sich zu bewähren und zu zeigen, dass er ein Kerl ist, auf den Verlass ist. All diese Punkte sind wichtig und auch bei der immer wieder aufflackernden Diskussion über eine eventuelle Abschaffung der Wehrpflicht von Bedeutung. Ich betone noch einmal: Die Bundeswehr findet junge Männer vor, sie kann sie nicht formen. Ob die Bundeswehr allerdings ihre Chance, in positiver Weise auf die Entwicklung junger Männer einzuwirken, in vollem Umfang nützt, muss auch nach diesem Bericht bezweifelt werden. Hier ist wohl noch viel zu tun. Ein dauernder Optimierungsprozess, speziell in Fragen der Pädagogik oder - militärisch gesprochen - der Menschenführung ist sicherlich veranlasst. Ich denke speziell an die Staatsbürgerkunde, die nach wie vor alles andere als optimal ist. Die Bundeswehr hat sich in den letzten zwei Jahren gravierend verändert. Sie wissen, frühere Generationen von deutschen Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich kaum vorstellen, dass deutsche Soldaten jemals wieder in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt würden. Dies hat sich spätestens nach dem Kosovo-Einsatz grundlegend geändert. Jeder Soldat weiß mittlerweile, dass er im Zweifel auch für andere Menschen, für deren Lebensrecht und für deren Menschenwürde unter Kriegsbedingungen einstehen muss. Ziel unserer Bemühungen muss sein, jungen Menschen nahe zu bringen, dass sie stolz auf die Bundeswehr und auf ihre persönliche Leistung in der Bundeswehr sein können. Die Leistungen der Bundeswehr im ehemaligen Jugoslawien, aber auch bei der Bewältigung des Oder-Hochwassers haben zu einer nie gekannten Anerkennung und Wertschätzung der Soldaten in der Gesellschaft geführt. Das ist eine großartige Entwicklung, die sich auch im Bericht der Wehrbeauftragten widerspiegelt. Ich möchte aber auf zwei Punkte gesondert zu sprechen kommen, die mir wichtig sind. Der Anstieg der Vorkommnisse mit Drogen zwingt uns alle zu allergrößter Vorsicht. Es geht um den Schutz unserer Soldaten vor negativen, äußerst gefährlichen Einflüssen, denen sie allein oft nicht gewachsen sind. Wer das Drogenproblem verniedlicht und den Gebrauch von Drogen als Ausdruck von Freiheit versteht, hat immer noch nicht verstanden, worum es bei dem Kampf gegen Drogen und ihren Missbrauch geht. Menschenwürde kann nicht nur durch Handlungen ungeeigneter Vorgesetzter verletzt werden. Menschenwürde wird ganz besonders durch diejenigen verletzt, die es dulden oder nicht genügend dagegen unternehmen, dass junge Menschen mit diesem Teufelszeug Drogen ruiniert werden. ({5}) Ich danke der Führung der Bundeswehr, aber auch den Vorgesetzten auf der untersten Ebene, die rassistischen und nationalistischen Ausschreitungen konsequent und mit Härte entgegentreten. Auch durch derartiges Einschreiten lernen junge Menschen, was gut ist und was böse ist, was recht ist und was unrecht ist. Ich möchte allerdings auch ein klares Wort zu einem Missstand sagen, der nicht den einzelnen Vorgesetzten in der Bundeswehr angelastet werden muss, sondern der politischen Führung der Bundeswehr selbst. Nach wie vor werden in der Bundeswehr homosexuelle Soldaten diskriminiert - und das mit dem Segen des Verteidigungsministers. ({6}) Herr Scharping, das ist ein unerträglicher Zustand, dessen Verteidigung Ihnen nicht neue Stimmen in der so genannten Neuen Mitte bringen wird, sondern in den ultrarechten Kreisen der Gesellschaft, mit denen Sie sonst nichts zu tun haben wollen. ({7}) Wer Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung die Befähigung zum Vorgesetzten abspricht, so gerade erst wieder in der Antwort auf eine parlamentarischen Anfrage, die nicht deshalb falsch ist, weil sie von der PDS kommt, der weckt seinerseits nachhaltige Zweifel daran, dass er in vollem Umfang verstanden hätte, was Demokratie und Menschenwürde bedeuten. ({8}) Erst vorgestern haben Sie, Herr Scharping, erklärt, dass Sie nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes nahezu alle Bereiche der Bundeswehr für Frauen öffnen wollen. Es wird daher nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel sein, dass Männer Vorgesetzte von Frauen und Frauen Vorgesetze von Männern auch in der Bundeswehr sein werden. Es kann doch wohl nicht sein, dass wir bei heterosexuellen Vorgesetzten annehmen, sie würden ihre vorgesetzte Stellung nicht missbrauchen, um sexuelle Vorteile bei Untergebenen zu erhaschen, ({9}) während bei homosexuellen Vorgesetzten Derartiges unterstellt wird. Für eine solche Unterstellung gibt es keine faktischen Hintergründe. Sie sind nicht zu rechtfertigen. ({10}) Hildebrecht Braun ({11}) Ich kann nur darum bitten, liebe Kolleginnen und Kollegen in der Koalition, dass Sie dazu beitragen, dass diese Fehlhaltung der Führung des Verteidigungsministeriums ein für alle Mal beendet wird. ({12}) Es kann nicht sein, dass dieses Land mit seiner politischen Führung nach wie vor Diskriminierung von Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung unterstützt. ({13}) Ich muss zum Schluss kommen und möchte nochmals mit Nachdruck den Personen, die mit Ihnen, Frau Marienfeld, diesen Bericht erarbeiten, die aber auch die tagtägliche Arbeit für unsere Soldaten und für den Bundestag leisten, ganz herzlich danken. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried Wolf, PDS-Fraktion.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Werte Frau Wehrbeauftragte Marienfeld! Um mich mit der Materie vertraut zu machen, habe ich nicht nur den Bericht der Wehrbeauftragten aufmerksam studiert. Ich las auch die Debatte, die es zum selben Thema am 24. Juni 1998 gab, nach. Damals sagte der Abgeordnetenkollege Gerhard Zwerenz: Die PDS kann sich ein Deutschland ohne Armee durchaus vorstellen. Das Protokoll vermerkt hier den Zwischenruf der Kollegin Brigitte Baumeister von der CDU/CSU: Und wir uns eines ohne PDS! Nun blieb die PDS nicht nur in Deutschland, sondern auch gestärkt im Parlament bestehen. Es gibt heute ernsthafte in- und ausländische Kommentatoren, die sich ein Deutschland ohne CDU vorstellen können. Die ehemalige Schatzmeisterin der CDU, Frau Baumeister, dürfte sogar besser wissen, wo all das noch enden kann. Zum Bericht der Wehrbeauftragten. Trotz der genannten Vorbehalte und möglichen Vorurteile finde ich Ihren Bericht, Frau Claire Marienfeld, bemerkenswert aufschlussreich. Sie bemühen sich auf eine eminente Art und Weise nicht nur um die Wehrpflichtigen, sondern auch darum, in der Bundeswehr Vorfälle und Strukturen zurückzudrängen, die die Menschenwürde verletzen. Ich möchte Ihnen, wie dies vor zwei Jahren auch mein Kollege Zwerenz tat, dafür meine Anerkennung aussprechen. Nach dem Lob von allen anderen Parteien ist dies, glaube ich, kein Todeskuss, wenn es von der PDS kommt. ({0}) Ich zolle Ihnen Anerkennung dafür, dass Sie beispielhaft die vielen Fälle von Machtmissbrauch, Verletzungen der Menschenwürde und Schinderei aufzeigen, und Respekt davor, wie Sie betonen, dass insbesondere bei jungen Soldaten … die Unkenntnis über politische und geschichtliche Zusammenhänge oft erschreckend groß ist. Ich stimme Ihrer Feststellung im Abschnitt „Rechtsextremistische und fremdenfeindliche Vorfälle in der Bundeswehr“ zu, es könne bei diesem Thema „keine Entwarnung“ geben. Der Bericht zeichnet aus meiner Sicht - hier werden Sie, Frau Marienfeld, mir natürlich nicht zustimmen können - in seiner Detailfülle ein Bild, wie ich mir die Bundeswehr durchaus vorstellte, nämlich das Bild einer klassischen Armee, die Menschen systematisch verformt, verbiegt und verkrüppelt, eben weil es eine Armee ist. ({1}) Wir alle wissen um die Bundeswehrvideos, die auch Folterszenen als „Übung“ enthielten. Wenn man dies als Exzessen abtut, dann antworte ich: Ich finde eine Reihe der im Wehrbeauftragtenbericht wiedergegebenen Beispiele aus dem Alltag wichtiger, weil sie symptomatisch zu sein scheinen. Ich möchte dem Kollegen Siemann der dies nicht schön finden wird - darin zustimmen, dass diese Beispiele nur die Spitze des Eisbergs sind. Nehmen wir nur ein Beispiel. Der Bericht hält folgenden Vorfall fest: Ein Oberfeldwebel befahl als Militärkraftfahrlehrer einem Fahrschüler aus Erziehungsgründen, ein übersehenes Verkehrszeichen mit einem Stück Papier zu putzen. Der Obergefreite kletterte dabei an dem wackelnden Schilderpfahl hoch und begann unter den Augen von Passanten mit dieser symbolischen Reinigung. Vertreter der Bundeswehr und manche hier im Plenarsaal dürften Derartiges als normal betrachten, obwohl dieser Vorgang nach Intervention zum Schluss geahndet wurde. Es zeichnet diesen Bericht aus, dass dies unter der Überschrift „Verletzung der Menschenwürde“ festgehalten wurde. Der Bericht endet am 31. Dezember 1998. Im Bericht ist bereits von den „neuen Aufgaben der Bundeswehr“ die Rede. Dort heißt es: Die sittliche und geistige Grundorientierung des Dienstes als Soldat muss unverändert bleiben. Im Abschnitt „Politische Bildung“ wird darauf verwiesen, dass nach § 33 Soldaten staatsbürgerlichen und völkerrechtlichen Unterricht erhalten. Die Wehrbeauftragte klagt dabei ein: Der Soldat der Bundeswehr als Staatsbürger in Uniform soll sich jedoch von dem Befehlsempfänger unterscheiden, der gedankenlos und ohne Bewertung allem folgt, was ihm vorgegeben wird. Hildebrecht Braun ({2}) Nun diskutierten wir, wie die meisten schon gesagt haben, diesen Bericht nach einer entscheidenden Zäsur, die im Bericht noch nicht vermerkt werden konnte. Erstmals seit 1945 war eine deutsche Armee wieder an einem Krieg beteiligt. Die Beteiligung der Bundeswehr an einem Krieg erfolgte wie 1914 und 1939 unter Bruch des Völkerrechts und unter Bruch der Aussagen in den Programmen von SPD und Grünen und ihrer Wahlversprechen. Ich betone trotz aller massiven Unterschiede, die es zwischen diesen Kriegen gibt: Auch der NATOKrieg gegen Jugoslawien war ein Krieg unter offenem Bruch des Völkerrechts. ({3}) Zu fragen ist: Inwieweit unterschied sich diese Bundeswehr vom - Zitat - „Befehlsempfänger, der gedankenlos und ohne Bewertung allem folgt, was ihm vorgegeben wird“? In Tschetschenien werden wir nächste Woche vor der russischen Botschaft gegen diesen Krieg demonstrieren. ({4}) Zumindest bis dahin galt die UN-Charta als Teil von Recht und Ordnung, die zu verteidigen die Bundeswehr mit aufgerufen war. Uns liegt jetzt der Fall eines Bürgers vor, der in dieser Situation zu Zivilcourage und zu Befehlsverweigerung, also zur Einhaltung des grundgesetzlichen Gebots „kein Angriffskrieg“ und zur Respektierung des Völkerrechts bzw. der UN-Charta, aufrief und dafür vor Gericht stand. Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen wurde in erster Instanz verurteilt. Auch das scheint dem Tenor zu folgen: Gewünscht ist der Befehlsempfänger. Andere Richter - so hier in Berlin - entschieden in vergleichbaren Fällen nicht so. Es handelt sich unter anderem um eine Person, die von dem Kollegen Ströbele verteidigt wurde. Die Grünen sollten sich im Übrigen in dieser Debatte erneut bewusst machen, wie sie sich im vergangenen Jahr bis zur Unkenntlichkeit veränderten. In der bereits zitierten Rede von Gerhard Zwerenz vor zwei Jahren sagte dieser: Der militärische Sieg über Hitler wurde nur deshalb notwendig, weil es in Deutschland am Anfang zu wenig pazifistischen Widerstand gegeben hat ... Es muss Pazifisten geben. Ein Land, das keine Pazifisten hat, ist ein armseliges Land. ({5}) Hier vermerkt das Protokoll: Beifall bei der PDS sowie des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] Werte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss auf ein Thema verweisen, das im Bericht der Wehrbeauftragten im Kapitel „Traditionspflege“ auftaucht. Am 27. Januar vor einem Jahr, als der Befreiung von Auschwitz gedacht wurde, wurde der neue Staatsminister für Kultur Naumann von einer Fernsehstation zu seiner Meinung nach denjenigen Kasernen gefragt, die weiterhin die Namen von Nazigenerälen tragen. Naumann antwortete: Das ändern wir jetzt. Das schwöre ich Ihnen: In zwei Jahren finden Sie keine mehr. ({6}) In wenigen Tagen, am 27. Januar 2000, gedenken wir erneut der Befreiung von Auschwitz. In diesem Plenarsaal wird Elie Wiesel reden. Das gereicht unserem Haus zur Ehre. Doch gerade an einem solchen Tag müssen wir uns vergegenwärtigen: Diese deutsche Armee bildet ihre Soldaten in Kasernen aus, die bis zum heutigen Tage in mindestens einem Dutzend von Fällen nach Nazigenerälen, nach Naziluftkriegs-„Helden“, nach erklärten Antisemiten und nach einem Kolonialkriegsgeneral und Kapp-Putschisten benannt wurden. Wir mögen mit unserer Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht, nach massiver Reduktion der Armee und letztlich nach Abschaffung der Bundeswehr vielleicht allein stehen, obwohl dies ein Zurück zum ursprünglichen Grundgesetz ist. Doch das Nein zu dieser Art krimineller Traditionspflege sollte alle Demokraten in diesem Haus einen. Danke schön. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Ilse Schumann, SPD-Fraktion, das Wort.

Ilse Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002794, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Frau Wehrbeauftragte! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn es sich jährlich wiederholt: Die Debatte über den Bericht der Wehrbeauftragten ist mehr als parlamentarische Routine oder sogar eine Pflichtübung; denn unsere Bundeswehr ist ein Parlamentsheer. Wir, die Parlamentarier, entscheiden über die bewaffnete staatliche Macht und wir müssen sie kontrollieren. Unser Hilfsorgan ist die Institution der Wehrbeauftragten - eine Einrichtung, deren hohes Ansehen weit über die Grenzen Deutschlands hinausreicht. ({0}) Es ist nicht nur das Amt, dem ich meinen Respekt zollen möchte; vielmehr möchte ich ganz ausdrücklich der Frau Wehrbeauftragten Marienfeld und ihren Mitarbeitern für ihre engagierte, glücklicherweise manchmal auch unkonventionelle Arbeit im Interesse unserer Soldaten danken. ({1}) Als erste Frau in diesem hohen Amt haben Sie, liebe Frau Marienfeld, Beispielhaftes geleistet. Ich habe mit Respekt, aber auch mit Bedauern gehört, dass Sie nicht noch einmal für das Amt der Wehrbeauftragten kandidieren. So wie Sie es geführt haben, kann man das Bedauern verstehen. Sie waren überparteilich und immer objektiv - im Interesse unserer Soldaten. ({2}) Der vorliegende Jahresbericht 1998 vermittelt ein umfassendes Bild über den inneren Zustand der Bundeswehr. Er lenkt die Aufmerksamkeit des Parlaments ebenso auf die Sorgen und Anliegen des einzelnen Soldaten wie auf den inneren, den technischen, aber auch den politischen Zustand des Gesamtsystems Bundeswehr. Ich kann in diesem kurzen Beitrag nicht alle Punkte des umfassenden Jahresberichtes würdigen. Deshalb habe ich mir einige Schwerpunkte herausgegriffen. Da ist einmal die Stellung der Streitkräfte im politischen Koordinatensystem des Landes: Die Bundeswehr gehört weder einer Partei noch der Regierung. Ich sagte es bereits: Die Bundeswehr ist ein Parlamentsheer. Soldaten sind Bürger in Uniform. Die Grundrechte der Soldaten - ihre Würde - werden geachtet. Die Grundsätze der inneren Führung, ein von Sozialdemokraten eingeführtes Prinzip, werden eingehalten. Die Frau Wehrbeauftragte, als Kontrollorgan, aber auch als Petitionsinstanz, schenkt der Einhaltung dieser Prinzipien große Beachtung. Und man kann sagen, dass sich Stimmung und Klima in der Bundeswehr seit der Amtsübernahme des Bundesministers der Verteidigung Rudolf Scharping bedeutend verbessert haben. ({3}) Die Verantwortung, die die Vorgesetzten mit der Ausbildung insbesondere der jungen Wehrpflichtigen übernehmen, ist groß. Aber es ist auch eine schöne Aufgabe, der sie sich - auch das weist der Bericht aus - gern und erfolgreich stellen. Ich kann an dieser Stelle ja ruhig einmal einflechten, dass meine beiden Söhne, die ihre Wehrpflicht in der NVA absolviert haben, da ganz andere Erfahrungen machen mussten. Mit Blick auf Herrn Wolf von der PDS weise ich für die Bundeswehr den Begriff „verkrüppelt“ entschieden zurück. Nach den mir bekannten Erfahrungen trifft er eher auf die NVA zu. ({4}) Damit bin ich bei der Armee der Einheit. Es ist wirklich eine Erfolgsstory, wie aus zwei deutschen Armeen, die sich jahrzehntelang feindlich gegenüberstanden, beginnend mit dem Datum des Oktober 1990 eine gemeinsame deutsche Streitkraft wurde, deren Auftrag nun mittlerweile - über Landes- und Bündnisverteidigung hinaus - auch humanitäre und Katastrophenhilfe, Überwachung von Rüstungskontrollabkommen, Aufbauhilfe für demokratische Streitkräfte in anderen Ländern und die Teilnahme an UNO-Missionen beinhaltet. Die Bundeswehr hat mit der Integration der Soldaten der ehemaligen NVA wirklich Beeindruckendes geleistet. Ich wiederhole mich gern: Hier ist ein Stück deutscher Einheit wirklich gelungen. ({5}) Ich muss Ihren Beifall ein bisschen relativieren und ein paar Wermutstropfen in den Freudenbecher gießen. Es kann nämlich niemand von den ostdeutschen Soldaten - ich übrigens auch nicht - begreifen, dass wir, die Parlamentarier, es dulden, dass es im zehnten Jahr der Armee der Einheit immer noch zwei Besoldungsklassen gibt ({6}) 100 Prozent im Westen, 86,5 Prozent im Osten -, ein Umstand, der nach dem Bericht der Wehrbeauftragten in der Bundeswehr sowohl bei den Betroffenen wie auch bei deren „100-Prozent-Kameraden“ auf Unverständnis stößt. ({7}) Der jetzige Generalinspekteur der Bundeswehr, General von Kirchbach, schilderte beim Neujahrsempfang 1996 der Landesregierung von Sachsen-Anhalt das Schicksal zweier junger Männer, die gemeinsam aufgewachsen sind, gemeinsam ihre Ausbildung gemacht haben, an verschiedenen Standorten zum Soldaten auf Zeit berufen worden sind und nun bei gleichem Dienst in gleichen Einheiten mit unterschiedlicher Besoldung nach Hause gehen. Das kann man, glaube ich, niemandem mehr plausibel erklären. ({8}) - Wir werden, Herr Kollege Braun, an diesem Problem gemeinsam arbeiten. Ich hoffe eigentlich sehr, dass sich etwas bewegen wird. Gerade dieser Tage - das wollte ich noch sagen - hat mich ein Brief des Vorsitzenden des Landesverbandes Ost des Bundeswehr-Verbandes erreicht, in dem auch diese schreiende Ungerechtigkeit beklagt wird. Er weist darin zu Recht auf den skurrilen, gar nicht so seltenen Umstand hin, dass Vorgesetzte Ost manchmal weniger verdienen als von ihnen geführte Soldaten West. So frage ich mich ernsthaft - und gebe diese Frage an Sie, liebe Kollegen, weiter -, welcher Bürger der alten Bundesländer das beinahe zehn Jahre lang klaglos ertragen hätte. Natürlich weiß ich, dass insbesondere unter Beachtung desolater Staatsfinanzen, die wir Sozialdemokraten nicht zu verantworten haben, der ganz große Sprung so bald nicht möglich sein wird. Aber lassen Sie uns alle gemeinsam darangehen, in kleinen Schritten - mit einem festen Zeitplan - diese für ostdeutsche Soldaten demütigenden Einkommensunterschiede abzubauen. ({9}) Das Hauptargument gegen ein solches Vorgehen ist schon seit Jahren ein angeblich zu erwartendes Veto finanzschwacher ostdeutscher Länder. Ich sehe hier Hoffnung grünen. Die Ministerpräsidenten Stolpe, Brandenburg, und Höppner, Sachsen-Anhalt, haben sich im SPD-Forum „Ostdeutschland“ für den Gedanken einer schrittweisen Erhöhung der Gehälter über mehrere Jahre hinweg stark gemacht. Soldaten haben eine Folgepflicht und wir als Parlament haben ihnen gegenüber eine ganz besondere Fürsorgepflicht. Denn wir schicken sie notfalls ins Kosovo oder nach Osttimor. Wir dürfen diese Armee nicht in zwei Klassen spalten. ({10}) Das Parlament muss hier handeln, aus eigener Autorität, und wir sollten nicht warten, bis uns möglicherweise ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Herstellung des verfassungsgemäßen Gleichheitsgrundsatzes zwingt. An dieser meiner Überzeugung ändert auch das gestrige Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes nichts. Ich sehe, dass meine Redezeit bald abläuft.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Richtig beobachtet. ({0})

Ilse Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002794, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wollte zum Schluss noch kurz zu einem Teilaspekt kommen, ({0}) der die Fachpolitiker und die Bundeswehr, aber auch die interessierte Öffentlichkeit beschäftigt: Das ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg, nach dem sich die Bundeswehr nun auch für Frauen unter Waffen öffnen muss. Es wird dazu sicher ausführliche Debatten hier im Hohen Haus geben. ({1}) Ich möchte nur anmerken, dass nach dem Bericht der Wehrbeauftragten die Erfahrungen mit Frauen in unseren Sanitätseinheiten und in den Musikkorps gut sind. Ich denke, Frauen werden auch auf anderen Dienstposten ihren Mann stehen. Ich wünsche mir eine parteiübergreifende, offene, faire und erfolgsorientierte Diskussion, wie ich sie manchmal leider hier im Hohen Hause schmerzlich vermisse.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kollegin, Sie müssen jetzt aber wirklich zum Schluss kommen.

Ilse Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002794, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, das ist wirklich der letzte Satz. - Der sachliche, objektive Bericht der Frau Wehrbeauftragten, der frei von parteipolitischer Polemik ist, könnte uns dabei Vorbild sein. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Anita Schäfer, CDU/CSU-Fraktion.

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Frau Wehrbeauftragte! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Wesentliche am Bericht der Wehrbeauftragten ist der Einblick in die Bedingungen, unter denen die Soldaten ihren wichtigen und wertvollen Dienst für unsere Demokratie und damit für unsere gesamte Gesellschaft leisten. Ich möchte dabei die Verdienste unserer Soldaten der UN-Kontingente nicht unterschlagen, im Gegenteil: Sie leisten unter schwierigen Bedingungen hervorragende Arbeit, wofür ich an dieser Stelle ausdrücklich danken möchte. ({0}) Es geht mir heute vielmehr um alle Soldaten der Bundeswehr, von denen die UN-Kontingente lediglich einen kleinen Teil ausmachen. Leider ist der alltägliche Dienst hier in den Kasernen den Medien selten eine Meldung wert. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass auch unsere Soldaten im Inland durch die Auslandseinsätze erhebliche Mehrbelastungen zu bewältigen haben, Mehrbelastungen, für die oftmals nur die im Ausland eingesetzten Soldaten den Dank bekommen, Mehrbelastungen, die aber, wenn sie zur Normalität werden, die Motivation und damit auch die Einsatzfähigkeit der Truppe beeinträchtigen. Doch nicht nur andauernde Überbelastungen, auch die Rahmenbedingungen, unter denen die Soldaten ihren Dienst leisten müssen, sind schlechte Voraussetzungen für motivierte Soldaten. Dabei sind es nicht nur die kleinen Mängel, die zu größerem Ärger führen. Viel gravierender sind die offenen Fragen um die Zukunft der Bundeswehr. Sie verunsichern viele Soldaten. Hier sind klare Entscheidungen nötig, zu denen diese Koalition jedoch nicht imstande ist. ({1}) - Wir warten ab. Dieser Bericht ist nun schon fast ein Jahr alt. Ich sage nur: ein verlorenes Jahr für die Bundeswehr. Planungssicherheit zu gewährleisten, Herr Verteidigungsminister, ist auch Teil der Fürsorgepflicht, der Sie - das muss ich hier schon sagen - bisher geschickt ausgewichen sind. Denn weder der jetzige Verteidigungshaushalt noch die weiteren geplanten signalisieren unseren Soldaten gesicherte Zukunftsperspektiven. Wenn die stiefmütterliche Art und Weise, mit der die Koalition die Bundeswehr und damit unsere Soldaten behandelt, schon von unseren Bündnispartnern gerügt wird, dann scheinen wir mit unseren Forderungen nach einer Aufstockung des Verteidigungshaushaltes so falsch ja gar nicht zu liegen. Konkrete Argumente für einen erhöhten Etat sind nicht nur dem Bericht zu entnehmen. Hier geht es nicht allein um überalterte Reifen oder fehlende Kleinteile, sondern um klare Technologie- und Ausrüstungsdefizite, die im Übrigen auch während des Einsatzes im Kosovo ganz deutlich zutage getreten sind. Erst kürzlich sind mir bei einem Besuch von Fernmeldeeinheiten die drastischen Rückstände aufgezeigt worden, die wir schon heute gegenüber den Streitkräften anderer Bündnispartner haben - und das in einem Bereich, der nicht nur für Koordination und Kooperation mit unseren Partnern grundlegend ist. Vor allem bei der Krisenfrüherkennung kann dies fatale Folgen haben. Wenn sich das Parlament vorbehält, über Einsätze der Bundeswehr zu entscheiden, dann muss die Parlamentsmehrheit auch die Bereitschaft aufbringen, die notwendigen Mittel für die entsprechende Ausrüstung zur Verfügung zu stellen. ({2}) Bleibt die Koalition bei ihrer halbherzigen Anpassung unserer Armee an die veränderten Anforderungen, dann - da bin ich mir sicher - werden die zukünftigen Berichte der oder des Wehrbeauftragten ein desolates Bild der Bundeswehr aufzeigen. Um die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr zu sichern, müssen aber auch die vorhandenen Mittel effizienter eingesetzt werden. ({3}) In diesem Zusammenhang muss sicherlich manches neu überdacht werden. Nur einer von vielen solchen Punkten ist das Kasinowesen in den Kasernen. Wenn schon bei den militärischen Notwendigkeiten gespart wird, dann ist es nicht mehr einzusehen, warum die Kasinos jährlich mit einem mehrstelligen Millionenbetrag subventioniert werden. Die Privatisierung der Heimbetriebe seit 1995 kann hier als gutes Vorbild dienen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende Bericht belegt auch, dass es begründeten Anlass gibt, über grundsätzliche Fragestellungen bezüglich des Dienstes von Frauen in der Bundeswehr zu sprechen. Zur Frage des Dienstes von Frauen an der Waffe hat Frau Marienfeld hervorgehoben, dass weder die weiblichen Soldaten noch ihre männlichen Kollegen mit der jetzigen Situation einverstanden sind. Vor allem die Einteilung zum Wachdienst ist immer wieder Anlass für Unmut. Dass sich in dieser Frage bisher noch nichts bewegt hat, ist leider bezeichnend für den Stellenwert, den die Koalition den Problemen unserer Bundeswehr beimisst. Ich schließe mich daher ausdrücklich der Forderung der Wehrbeauftragten an, dass die auch jetzt noch gültige Praxis, Frauen vom Wachdienst auszuschließen, nun einer zufrieden stellenden Lösung zugeführt werden muss. Aber das darf nur ein erster Schritt sein. Einsatzbereitschaft und Effizienz der weiblichen Soldaten im dienstlichen Alltag sind durchaus mit den Leistungen ihrer männlichen Kameraden vergleichbar. ({4}) Ich bin sicher nicht die Einzige, die sich vorstellen kann, dass das auch in anderen Einheiten als dem Sanitätsdienst möglich sein wird. ({5}) Ein vermehrter Einsatz von Frauen in der Bundeswehr kann dabei aber nicht gleich bedeutend mit einer Abschaffung der Wehrpflicht sein, auch wenn die Grünen das gerne hätten. ({6}) Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes haben sich sehr bewusst, gerade auch aus den vielfältigen und leidvollen Erfahrungen der deutschen Geschichte heraus, für die Wehrpflicht entschieden. Sie ist sichtbarer Ausdruck der Bürgerverantwortung in unserer Demokratie. Damit ist sie zu einem unverzichtbaren Bestandteil zur Vermittlung der Wertvorstellungen unserer freiheitlichen humanen Gesellschaft geworden. Die Wehrpflicht ist aber auch eine unverzichtbare Grundlage für eine wirksame Sicherheitsvorsorge. Auch unsere Bündnisverpflichtungen, die von der gesamten Koalition unter Führung des grünen Außenministers Fischer eingegangen wurden, setzen eine angemessene Aufwuchsfähigkeit der Bundeswehr voraus. An diesen Grundlagen unseres Staatswesens und unserer Gesellschaft können auch wirtschaftliche und berufliche Begehrlichkeiten nichts ändern, selbst wenn sie vom Europäischen Gerichtshof abgesegnet werden. Der Europäische Gerichtshof hat zwar mit seiner Entscheidung in einen innerstaatlichen Kompetenzbereich eingegriffen, er hat zugleich aber auch Anlass und Grund gegeben, den Wehrdienst durch eine flexible Ausgestaltung auch weiterhin attraktiv zu gestalten. Für Gespräche hierüber sind wir jederzeit bereit. Doch vor den Karren der Abschaffung staatsbürgerlicher Pflichten lässt sich die CDU/CSU nicht spannen. Die besondere Bedeutung der Wehrpflicht vor allem für das innere Gefüge der Bundeswehr wird dabei seit Jahren durch die Berichte der Wehrbeauftragten belegt. Auch das sollte in der Koalition, vor allem beim Juniorpartner, etwas mehr Berücksichtigung finden. Sehr verehrte Frau Wehrbeauftragte Marienfeld, ich danke Ihnen sehr für Ihre offene und ehrliche Berichterstattung. Gerade Ihr Engagement als Anwältin der Soldaten ist für uns alle ein wertvoller Beitrag zur Zukunftssicherung unserer Bundeswehr. Schade, dass Sie nicht mehr zur Verfügung stehen! Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Georg Pfannenstein, SPD-Fraktion, das Wort.

Georg Pfannenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002749, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Wehrbeauftragte! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In dieser Debatte hat die Opposition natürlich einiges pflichtgemäß beanstandet. Alles, was mit der materiellen Lage zusammenhängt, wurde kritisch angemerkt. Wir sehen uns allerdings nicht in der Lage, die schlechte Kassenlage so schnell zu verbessern. Sie haben uns ja die leeren Kassen hinterlassen; das ist ein schlimmes Erbe. ({0}) Nun beklagen Sie bitterlich die Auswirkungen. Eigentlich hätten wir von Ihnen etwas anderes erwartet; denn es ist ja bekannt, dass Sie ein Händchen für den Umgang mit Geld haben. Aber hier scheint das nicht der Fall zu sein. Ich möchte zu den eher immateriellen, zu den ideellen Fragen kommen, die für die Bundeswehr erheblich sind. Ein zentraler Begriff ist für mich dabei die Zivilcourage. Während der Amtszeit von Herrn Rühe hat sich im BMVg und in der Bundeswehr eine besondere Form der Angst entwickelt. Soldaten haben aus Furcht vor dienstlichen Nachteilen oder Repression durch Vorgesetzte geschwiegen. So manche Vorgesetzte haben aus Furcht vor einem Karriereknick einen nicht vorhandenen Klarstand gemeldet oder notwendige Maßnahmen unterlassen. ({1}) Angst ist immer der ärgste Feind von konstruktiver Kritik und von Eigeninitiative. Diese sind aber auch in einer Struktur nötig, die eigentlich auf Befehl und Gehorsam basiert; ohne Kritik und Eigeninitiative kann ein Apparat von der Größe einer Armee nicht gut funktionieren. ({2}) Ohne Kritik und Eigeninitiative - da wären wir wieder bei der materiellen Seite - kann ein Apparat auch sein Rationalisierungspotenzial nicht ausschöpfen. ({3}) Angst ist auch der Feind der Demokratie. Die Soldaten der Bundeswehr sind Staatsbürger in Uniform; sie sind ein Teil unserer Gesellschaft. Fehlt Zivilcourage in dieser Gesellschaft, kann sie keine couragierten Soldaten hervorbringen. Geht den Soldaten die Zivilcourage gar während ihrer Bundeswehrzeit verloren, tragen sie diese Haltung auch ins bürgerliche Leben zurück. Die Kritikfähigkeit des Gemeinwesens leidet; das sollten wir gemeinsam verhindern. ({4}) Die Wehrbeauftragte hat in ihrem Bericht eine deutliche „Forderung nach mehr Mut“ ausgesprochen. Soldaten werden dann kritischer und mutiger sein, wenn sie durch ihre Vorgesetzten dazu ermuntert werden. Ein kritischer Geist muss also durch alle Hierarchien bis an die Spitze erlaubt sein. Das war unter der alten Regierung nicht der Fall. Mit der Stabübergabe im Oktober vorletzten Jahres hat sich das Klima im BMVg und in der Truppe spürbar verbessert. ({5}) - Doch. - Die Angststarre hat sich gelöst, eine größere Offenheit hat sich etabliert. ({6}) Kritisches und damit innovatives Denken ist nunmehr erwünscht, verehrter Herr Kollege. Der Bericht der Wehrbeauftragten umfasst nur den Zeitraum bis Anfang 1999. Insofern konnte sich die neue Offenheit in dem Bericht noch nicht niederschlagen. Ich bin mir sicher, dass im nächsten Bericht diese neue Offenheit deutlich werden wird. ({7}) - Nicht „Offenbarung“; tut mir Leid, Herr Kollege. Bis in die 80er-Jahre war für die Bundeswehr, wie das geflügelte Wort damals hieß, der Frieden der Ernstfall. Heute sind Auslandseinsätze gleichsam zu einem gefährlichen Alltag geworden, bei dem militärische Auseinandersetzungen und menschliches Leiden zu einer unmittelbaren persönlichen Erfahrung werden können. Das stellt neue Anforderungen an die innere Führung, an die Vermittlung von Werten. Die Erweiterung des Aufgabenspektrums verändert damit auch das Selbstverständnis des Soldaten, der sich - zunehmend im internationalen Kontext - immer mehr als Schützer und Helfer versteht und verstehen muss. Internationalität und Toleranz müssen daher zum Markenzeichen des Soldaten werden. Auch andere Entwicklungen machen dies nötig: Mit einem neuen Staatsbürgerschaftsrecht werden zunehmend junge Menschen in die Bundeswehr eintreten, die einer anderen Kultur entstammen und vielleicht auch eine andere Religion als ihre Kameraden haben, deren Familien bereits seit Generationen Deutsche sind. Ohne jede Frage wird sich das soldatische Image grundlegend ändern, wenn Frauen nun stärker - und zu Recht - in die Bundeswehr drängen. Gerade die zunehmende Einbindung in bi- und multinationale Verbände, die beginnende Europäisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik haben Rückwirkungen auf das soldatische Selbstverständnis und auf die Werte, die durch die Vorgesetzten vermittelt werden müssen. Sicher: Die Landesverteidigung bleibt ein wesentlicher Zweck der Bundeswehr. Die Identifizierung mit dem Mutterland ist von daher richtig und wichtig. Aber sie reicht nicht mehr. Deutschland ist in EU, WEU und NATO Partner der europäischen Staaten und der USA. Auf dem Helsinki-Gipfel der EU wurde sogar über den Kern einer europäischen Armee gesprochen. Für die Sozialdemokraten ist diese partnerschaftliche Idee entscheidend und nicht eine Idee von Führung, die nur in nationalen Kategorien denkt. Es ist Aufgabe militärischer Vorgesetzter, diese europäische Verankerung zu transportieren. Insofern möchte ich das weiterführen, was der Inspekteur des Heeres in seiner Leadership-Weisung im Sommer letzten Jahres formuliert hat. Es heißt da im Zusammenhang mit der Bindung des soldatischen Gehorsams an ethische Maßstäbe: Dieser Maßstab muss durch die emotionale Bindung an unser Land, das heißt an die Nation als Schicksalsgemeinschaft, ergänzt werden, und in diesem Sinne versteht sich der Soldat als Patriot. Eine solche Formulierung kann leicht missverstanden werden und kann falsche Assoziationen wecken. Wenn es für Sozialdemokraten eine „Schicksalsgemeinschaft“ gibt, dann ist das eine Gemeinschaft der Demokraten; dann bildet Europa diese Gemeinschaft. Dieses Europa darf nicht im Sinne einer militärisch bewehrten „Festung Europa“ verstanden werden. Für den einzelnen Soldaten heißt das, dass wir keine Rambos und keine Haudegen und schon gar keine Nationalchauvinisten brauchen. ({8}) Wir brauchen besonnenes, gut geschultes und international teamfähiges Bundeswehr-Personal, das hoch motiviert ist. Genau darin liegt auch die eigentliche Stärke der Bundeswehr. In diesem Zusammenhang möchte ich noch kurz auf einen anderen Punkt eingehen. Die Wehrbeauftragte hat in ihrem Bericht auch auf die Motivationslücken und Frustrationen hingewiesen, die in der Truppe dadurch entstehen, dass die Beförderungsmöglichkeiten begrenzt sind. Wir alle wissen, dass dies noch eine Erblast des Vereinigungsprozesses von NVA und Bundeswehr ist. Außerdem stand die Verkleinerung der Bundeswehr an. Teilweise ist es aber auch das Ergebnis der Personalpolitik der früheren Bundesregierung. Trotz des engen finanziellen Spielraums haben wir im Haushalt 2000 begonnen, die Personalstruktur durch die Schaffung zusätzlicher Beförderungsmöglichkeiten zu verbessern. Sie betreffen 900 Stellen im Bereich A 9 und A 9 + Z sowie weitere Stellen im Bereich des Truppendienstes bis A 15.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen leider die Aufzählung beenden. Ihre Redezeit ist deutlich überschritten. ({0})

Georg Pfannenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002749, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich, Herr Präsident. - Wir haben auf jeden Fall den erfolgreichen Versuch unternommen, den Beförderungsstau in der Bundeswehr aufzulösen. Wir konnten ihn angesichts der kurzen Zeit natürlich noch nicht beseitigen. Ich denke aber, wir haben dazu beigetragen, dass wir auf einem guten Weg sind. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat der Kollege Kurt Rossmanith von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Verehrte Frau Wehrbeauftragte, liebe Claire Marienfeld! Selbstverständlich möchte auch ich mich dem Dank anschließen, den alle Fraktionen dieses Hohen Hauses Ihnen - ich unterstreiche: zu Recht - gezollt haben. Ich denke dabei besonders, Frau Wehrbeauftragte, an Ihre sehr beruhigende und versachlichende Arbeit im Zusammenhang mit dem Thema Rechtsradikalismus in der Bundeswehr. Sicherlich, Herr Kollege Göllner, haben wir - ich als Vorsitzender dieses Untersuchungsausschusses, der am 14. Januar 1998 eingesetzt wurde, und meine Fraktion damals hinsichtlich der Art und Weise Sorge gehabt, wie über die festgestellten Einzelfälle in der Öffentlichkeit diskutiert wurde. Die Sorge war, dass dies zu einer unerträglichen Belastung für das innere Gefüge der Truppe werden würde. ({0}) Ich war aber im Nachhinein froh über diesen Ausschuss und auch dankbar - das haben wir damals schon zum Ausdruck gebracht -; denn es hat sich gezeigt, dass die Bundeswehr, was diese Frage betrifft - Herr Göllner, Sie sind in besonderer Weise darauf eingegangen -, jetzt sogar besser dasteht als der Durchschnitt der Bevölkerung. Dies darf aber für uns, die wir als Parlament eine Verpflichtung gegenüber der Bundeswehr haben, kein Ruhekissen sein. Es muss weiter unser Bestreben sein, der Truppe in diesem Bereich Hilfe angedeihen zu lassen. Die gleiche versachlichende Arbeit hat die Frau Wehrbeauftragte beim Thema Tradition gezeigt, einem Thema, bei dem viele gerne - wir haben es heute wieder erlebt - ein ideologisches Spiel betreiben. Ich glaube, dass man Tradition nicht ideologisch verordnen kann; sie wächst eben. Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog sagte an einem Holocaust-Gedenktag: Wenn ein Volk versucht, in und mit seiner Geschichte zu leben, dann ist es gut beraten, in und mit seiner ganzen Geschichte zu leben und nicht nur mit ihren guten und erfreulichen Teilen. Der Wille zur Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist Voraussetzung dafür, Tradition wachsen zu lassen und zu pflegen. Für die deutsche Militärgeschichte heißt das, dass sich eine unkritische Rechtfertigung und Heroisierung verbietet, genauso aber eine Kollektivverurteilung ohne jede Differenzierung. Jede ideologisch betriebene Auseinandersetzung mit der Geschichte ist zum Scheitern verurteilt, wie das klägliche Schicksal der Wehrmachtsausstellung zeigt. Umso mehr begrüße ich es, dass die Bundeswehr noch zu unserer Regierungszeit in unaufgeregter Art und Weise Maßnahmen ergriffen hat, um die Verunsicherung im Traditionsbereich zu beenden. Ich begrüße ausdrücklich die vom Bundesministerium der Verteidigung erlassenen Richtlinien zur Unterstützung der politisch-historischen Bildung durch militärische Exponate. Ich sehe darin eine wichtige Orientierungshilfe für die verantwortlichen Vorgesetzten, wie sie bei der durchaus wünschenswerten Darstellung von Militärgeschichte vorgehen können. Dazu gehört auch, dass die Bundeswehr den Kontakt zu Vereinen und Gemeinschaften, die sich mit der Bundeswehr und ihrer Geschichte befassen, nicht abreißen lässt, sondern weiterhin konstruktiv pflegt. Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt eingehen, nämlich auf den Bereich, den die Frau Wehrbeauftragte in ihrem Jahresbericht 1998, über den wir heute diskutieren, herausgestellt hat und den einige Kolleginnen und Kollegen schon angesprochen haben! Es geht um die Belastungen, die für unsere Soldaten und deren Familien aus den vielen Änderungen erwachsen sind oder erwachsen, die wir der Bundeswehr in ihrer Struktur und in ihrem Auftrag im letzten Jahrzehnt haben zumuten müssen. Bei aller Flexibilität, die man dem Soldatenberuf zu Recht abverlangen muss, steht dem die berechtige Forderung nach Sozialverträglichkeit gegenüber. Es gibt für mich eine Grenze für die Verunsicherung, die den Familien unserer Soldaten vernünftigerweise zugemutet werden kann. Der Rückhalt unserer Soldaten, den sie in ihren Familien und in den Gemeinden, in denen die Familien beheimatet sind, erfahren, ist ein nicht zu vernachlässigender Faktor für die Einsatzfähigkeit unserer Soldaten. ({1}) Ich will sicherlich nicht einer Weinerlichkeit das Wort reden. Unsere Soldaten sind belastbar; das haben sie bewiesen. Aber wir müssen die Grenzen im Auge behalten. Insofern ist das schon seit über zwölf Monaten andauernde Reformgespräch von Rot-Grün, ohne dass zwischenzeitlich irgendwelche konkreten Entscheidungen getroffen wurden, eine Belastung für die Soldaten, insbesondere für ihre Familien. Der Bundesminister der Verteidigung versucht - das erkenne ich auch an -, diese Aufregung in Grenzen zu halten. Doch die jetzige Regierung hat mit ihrem offenkundigen Widerspruch zwischen ihren Versprechungen gegenüber der NATO und der Westeuropäischen Union und den finanzpolitischen Fakten, die sie geschaffen hat, nicht nur das Vertrauen in die deutsche Sicherheitspolitik nach außen beschädigt, sondern auch die innere Skepsis genährt. Die Regierung wird noch beweisen müssen, ob sich hinter ihren großen Reformankündigungen für die Bundeswehr eine radikale Schlankheitskur auf dem Rücken unserer Soldatenfamilien und zulasten des Gewichts Deutschlands verbirgt oder ob die Regierung wirklich bereit ist, die notwendigen Investitionen bereitzustellen, um unsere Streitkräfte für all die Aufgaben zu rüsten, zu denen sie sich international verpflichtet hat. ({2}) Strukturveränderungen in den Streitkräften waren in der Vergangenheit notwendig und werden natürlich auch weiterhin notwendig sein. Aber dennoch verweise ich mit großem Ernst auf die Sorge der Frau Wehrbeauftragten. Die Ungewissheit für die Angehörigen der Streitkräfte und der Familien muss so schnell wie möglich beendet werden. Die Soldaten und ihre Familien hören immer von neuen Aufgaben. Sie spüren natürlich auch ganz konkret die Folgen davon. Die Verlängerung der Auslandseinsätze der Bundeswehrsoldaten auf sechs Monate geht, wie ich meine, an die Grenze der Belastung heran. ({3}) Wir können, meine sehr verehrten Damen und Herren, gemeinsam mit unseren Soldaten stolz feststellen, dass die Bundeswehr mit ihren Kriseneinsätzen sehr erfolgreich ist. Doch der Einsatz von Streitkräften im Krisenmanagement ist letztendlich nur verantwortbar, wenn er auch in eine funktionierende Außenpolitik eingebettet ist, die die Dauer der Einsätze begrenzbar hält. Militärische Kriseneinsätze schaffen Zeit für politische Lösungen. Sie sind aber sicherlich kein Ersatz dafür. Wir können es uns nicht leisten, durch teure Dauerstationierung im Ausland Konfliktsituationen regelrecht einzufrieren, ohne mit Nachdruck außenpolitische Lösungen voranzutreiben. ({4}) Welche Struktur wir unseren Streitkräften auch immer geben werden, wir werden sie überfordern, wenn wir die Dauer von Kriseneinsätzen nicht überschaubar und den Einsatzradius nicht begrenzt halten. Um es einmal so zu sagen: Je weiter eine Krisenregion von uns entfernt ist - das Beispiel Osttimor springt hierbei ins Auge -, umso präziser müssen die deutschen und europäischen Interessen in diesem Zusammenhang definiert werden. Streitkräfteeinsatz ohne funktionierende Außenpolitik hält keine Bundeswehrstruktur aus und muss auf Dauer unsere Soldaten demotivieren. ({5}) Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz auf die am Mittwoch vorgestellte Neufassung der politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern eingehen. ({6}) Die Frau Wehrbeauftragte hat auch angesprochen, dass die Wehrtechnik und Ausrüstung unserer Soldaten natürlich eine wichtige Voraussetzung sind, auch für eine moderne Armee. Deshalb heute in aller Kürze nur so viel zu diesem Thema: Die zukünftigen Herausforderungen an die Bundeswehr sind meines Erachtens nur mit modernen technischen Fähigkeiten zu erfüllen. Dies ist nur mit einer effizienten wehrtechnischen Industrie in Deutschland und in Europa zu realisieren. Nach den massiven Strukturanpassungen der deutschen Wehrindustrie im letzten Jahrzehnt - wir wissen alle, dass wir, wenn ich es am Arbeitskräftepotenzial festmache, von rund 280 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in diesem Industriebereich jetzt bei etwa 80 000 Mitarbeitern angelangt sind - müssen wir alle mit dafür Sorge tragen, dass wir nicht wichtige technologische Kapazitäten verlieren und weiteren Arbeitsplatzabbau auch in diesem Industriebereich unterstützen. Ich glaube, dass damit auch unsere Kooperationsfähigkeit im europäischen Rahmen gefährdet wäre. Dies können und dürfen wir so nicht fortschreiten lassen. Dagegen müssen wir alle gemeinsam etwas tun. Deshalb hoffe ich auch, dass die Richtlinien entsprechend ausgelegt werden und dass sie insgesamt im europäischen Rahmen angeglichen werden. Frau Wehrbeauftragte, Sie haben gesagt, dass Sie nicht wieder für dieses Amt kandidieren werden. Deshalb nochmals zum Abschluss meinen Dank und Ihnen persönlich weiterhin alles Gute. Sie haben in diesem Amt sicherlich viel Ärger, aber auch viel Freude erlebt. Diese Freude wünsche ich Ihnen auch weiterhin. Viel Glück, Gesundheit und vor allem Gottes Segen! ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Marienfeld, Sie haben in Ihrem Bericht, aber auch in der Praxis mit dem Untersuchungsausschuss „Bundeswehr und Rechtsextremismus“ viel mit Tradition zu tun gehabt. Ich möchte hier jetzt eine ganz andere Tradition ansprechen. Ich glaube, Sie haben im positiven Sinn die Tradition der Wehrbeauftragten - ich möchte hier auch Willi Berkhan erwähnen - fortgesetzt und in die Praxis umgesetzt. Auch ich möchte Ihnen persönlich, aber auch für meine Fraktion für Ihr Engagement und für die gute Zusammenarbeit mit dem Parlament danken, ({0}) auch wenn ich mit Bedauern feststellen muss, dass man an dieser Stelle immer den Kopf verrenken muss, um die Wehrbeauftragte persönlich ansprechen zu können. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir hatten im Berichtszeitraum den Untersuchungsausschuss „Rechtsextremismus in der Bundeswehr“. Ich glaube, auch der Bericht der Wehrbeauftragten macht deutlich, dass es richtig war, dass wir ihn eingesetzt haben. Es ist das Ergebnis, das letztlich von fast allen getragen wurde, bis auf wenige Ausnahmen auch von der Opposition und der damaligen Regierung, dass es keinen Generalverdacht bezüglich des Rechtsextremismus in der Bundeswehr gibt, ({1}) dass es Defizite in der inneren Führung, in der Traditionspflege gibt ({2}) und dass vor allen Dinge durch die Diskussionen, auch die öffentlichen und parlamentarischen Diskussionen über dieses Problem eine Sensibilität in der Truppe entstanden ist, die zu einer deutlichen Verbesserung und einem demokratischen Verständnis beigetragen hat. Ich glaube, dass es richtig ist, dies noch einmal zu unterstreichen. ({3}) Frau Marienfeld, Sie hören zu einer Zeit auf, die, wie ich glaube, ganz besonders spannend wird, sicherlich auch für die nächste Wehrbeauftragte oder den nächsten Wehrbeauftragten. Wir stehen in diesem Jahr vor einer Zäsur. Wir stehen vor der Umstrukturierung der Bundeswehr. Ganz sicherlich werden sowohl die Kommission „Zukunft der Bundeswehr“ als auch der Verteidigungsminister versuchen, das, was Sie an Mängeln aufzeigen - auch in dem nächsten Bericht über das vergangene Jahr, den wir noch von Ihnen bekommen werden -, an Defiziten feststellen, zu berücksichtigen, um zu verhindern, dass strukturelle oder auch Führungsmängel innerhalb der Bundeswehr durch eine Veränderung der Bundeswehrstruktur verstärkt werden. Das wird eine Aufgabe sein, die wir als Parlament auch sehr engagiert begleiten werden. ({4}) Sie haben das Stichwort „oberflächliche Werbung für Wehrpflichtige“ erwähnt. Ich bin überzeugt, da hat sich einiges geändert. Aber auch das ist ein ganz wichtiger Punkt, wenn wir in die Zukunft schauen. Da möchte ich nicht nur die Anforderungen an die Bundeswehr, an eine präventive Außen- und Sicherheitspolitik im Rahmen der aktuellen Auslandseinsätze, aber auch der möglichen zukünftigen Einsätze zur Friedenswahrung und Friedensstabilisierung nennen, sondern natürlich wird auch die Frage der Frauen in der Bundeswehr - ich erwähne das EuGH-Urteil - zu einer massiven Veränderung führen. Die Führung der Bundeswehr, die Soldaten, aber auch die Frauen stehen vor einer Herausforderung, die heute nur in ihrem Rahmen zu sehen ist. Umso wichtiger wird es sein, dann auch die innere Führung zu stärken, die Menschenführung und die Gleichberechtigung zu stärken sowie das, was unter Volker Rühe manifestiert worden ist, nämlich das Diskussionsverbot, die Angst, Mängel zu benennen, zu beseitigen. Wir werden in Zukunft noch viel mehr darauf angewiesen sein, dass die Truppe diesen Prozess aktiv begleitet, damit wir die Zukunft der Bundeswehr gestalten können. Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen. Ich glaube, dass das EuGH-Urteil nicht nur eine Zäsur für die Bundeswehr bedeutet, sondern auch für die Rolle der Frauen in der Gesellschaft insgesamt. ({5}) Wir wollen die öffentliche, die gesellschaftliche Debatte. Sie wissen, dass wir für die Abschaffung der Wehrpflicht und die Stärkung der Freiwilligkeit in dieser Gesellschaft eintreten. - Ich weiß, dass Ihnen das noch immer nicht gefällt, Herr Nolting, aber dann hätten Sie sich als Redner melden sollen, statt jetzt dazwischenzurufen. Wir werden versuchen, alle Diskriminierungen in der Bundeswehr - da gebe ich Ihnen Recht, Herr Braun - zu beseitigen. Das betrifft natürlich auch die Frage der Gleichstellung der Rechte von Homosexuellen in der Bundeswehr. Diese Aufgabe liegt noch vor uns, aber ich bin guten Mutes, dass wir sie in Kürze positiv bewältigen. Herr Rossmanith, was Sie zu den Rüstungsexportrichtlinien gesagt haben, zeigt Ihr Unverständnis. Ihre Aussage war, wir hätten keine aktive Außenpolitik. ({6}) Diese Bundesregierung hat unter Außenminister Fischer die Außenpolitik in einem neuen Rahmen der präventiven Außen- und Sicherheitspolitik formuliert. Die Rüstungsexportrichtlinien sind ein Gewinn für die Sicherheitspolitik, ({7}) weil sie zum ersten Mal die Frage der Menschenrechte im Empfängerland und die Frage des Endverbleibes regeln. Das heißt, wir tragen zur Sicherheit in der eigenen Region, aber auch zur Sicherheit in Spannungsregionen bei. Das hat Ihre Regierung 16 Jahre nicht geschafft. Das ist ein Garant dafür, dass wir die Gefahr reduzieren, dass die Soldaten bei Auseinandersetzungen durch illegal weiterexportierte Waffen gefährdet werden. Auch das ist Sicherheits- und Außenpolitik, die Sie innerhalb der nächsten drei Jahre vielleicht noch besser verstehen lernen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich Ihnen, Frau Marienfeld, sehr herzlich für die geleistete Arbeit als Wehrbeauftragte danken. Den Stimmen aus dem Deutschen Bundestag schließe ich mich voller Überzeugung an. Ich schließe in diesen Dank auch Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein. Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr haben Ihnen vertraut. Das wird auch in den verbleibenden Monaten Ihrer Amtszeit so sein. Ich hoffe sehr, dass wir, unbeschadet Ihrer Entscheidung, so wie in der Vergangenheit gut und vertrauensvoll zusammenarbeiten werden. Die Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages handeln, wie der Name sagt, im Auftrag des Parlaments. Sie haben eine sehr klar beschriebene Aufgabe, nämlich sich um die sozialen und die dienstlichen Belange der Soldaten, die Wahrung ihrer Rechte, die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften usw. zu kümmern. Dass in bestimmten Situationen eine gewisse Versuchung besteht, das Thema gewissermaßen ad infinitum, in globale Dimensionen auszuweiten, kann ich nachvollziehen. Auch ich werde ihr nicht vollständig widerstehen. Aber zunächst einmal möchte ich etwas zum Amt der bzw. des Wehrbeauftragten und zu dem Bericht sagen, der sich ja auf das Jahr 1998 bezieht. Es ist ganz interessant, zu sehen, wie einige Mitglieder des Parlamentes das dringende Bedürfnis haben, bloß nicht über das Jahr 1998, ({0}) sondern lieber im Stile des Verdachtes und der Vermutung über die Zukunft zu reden. Auf diese Weise erzeugen sie genau das, was sie hinterher beklagen. ({1}) Die Wehrbeauftragten handeln, wie gesagt, im Auftrag des Parlamentes. Naturgemäß muss ein solcher Jahresbericht wie ein Mängelbericht angelegt sein. Er muss Missstände ansprechen, aber auch gute Leistungen würdigen. Er soll ausdrücklich Fehlentwicklungen aufzeigen, aber auch Impulse für Verbesserungen geben. Diesem Anspruch wird, soweit ich mir dieses Urteil erlauben darf, der Jahresbericht 1998 der Wehrbeauftragten in besonderer Weise gerecht. Er ist ausgewogen, er ist konstruktiv und er ist hilfreich für die weitere Arbeit. ({2}) Deshalb wäre es ganz gut, wenn dieser sehr fundierte Bericht nicht zum Anlass genommen würde, die eine oder andere Sache, die mit den Realitäten gar nichts zu tun hat, mit der Notorik des Ignoranten in die Welt zu setzen. ({3}) Ich möchte Ihnen das an zwei Beispielen deutlich machen: Einige von Ihnen haben davon gesprochen, die Quote der Kriegsdienstverweigerer steige dramatisch. Seit Jahren - dies trifft auch für die Jahre 1998 und 1999 zu; ich habe die entsprechenden Zahlen vorliegen verweigern allerdings konstant zwischen 34 und 35 Prozent der tauglich gemusterten jungen Männer den Wehrdienst. Wenn sich Jahrgangsstärken verändern, dann führt dieser Prozentsatz zu anderen absoluten Zahlen. Das ist völlig klar. Das betrifft die Grundrechenarten. Deshalb ist es wichtig zu wissen: Die Quote ist konstant. Anstatt bundeswehrkritische, zweifelnde Fragen zu stellen, sollten wir in einem Punkt stolz auf die jungen Männer in Deutschland sein: 65 Prozent der jungen Männer entscheiden sich freiwillig für die Bundeswehr. Das ist ein gutes Zeugnis für die Bundeswehr und für den Dienst, der dort für unser Land geleistet wird. ({4}) - Herr Breuer, ich habe mich auf Herrn Siemann bezogen. Sie hätten Ihrem Kollegen aufmerksam zuhören sollen. ({5}) Auch auf den Nachwuchs wurde verwiesen. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen die entsprechenden Zahlen für 1998 und 1999 nennen, damit Sie diese beiden Jahre einmal vergleichen können: Bezogen auf die Nachwuchsgewinnung sind 1998 83 Prozent der angebotenen Stellen besetzt worden. 1999 waren es 82 Prozent. Ein dramatischer Rückgang! Im Bereich der Statuswechsler, also bei denen, die innerhalb der Bundeswehr in einen neuen Status wechseln, den Einsatz bei der Bundeswehr zu ihrem Beruf machen, wurden 1998 80,7 Prozent der angebotenen Stellen besetzt. 1999 sind es 90 Prozent gewesen. Wie können Sie angesichts dessen davon sprechen, dass die Nachwuchsgewinnung gefährdet sei! Eine gewisse Orientierung an den Realitäten und keine völlige Ignoranz gegenüber dem, was Sie bei der Bundeswehr getan haben, das wäre auch für zukünftige Debatten hilfreich. ({6}) Ich weiß, diese Orientierung an den Realitäten wird eher im privaten Gespräch erreichbar sein als in öffentlichen Diskussionen. So ist das Leben. Trotzdem, sonderlich viel hilft es nicht. Ein demokratischer Staat braucht Streitkräfte, in denen der Soldat als Staatsbürger in Uniform betrachtet wird und die Werte unserer Verfassung im täglichen Dienst erlebt. Auch darüber wacht das Amt des Wehrbeauftragten. Das hat Frau Marienfeld mit Blick auf die sozialen und familiären Belange in einer, wie ich finde, sehr ausgeprägten und guten Weise getan. Diese Erfahrung entscheidet darüber, ob das Wort vom Staatsbürger in Uniform nur ein schönes Etikett oder auch eine erfahrene Realität ist, die nicht am Kasernentor endet, genauso wenig wie dort Demokratie und Grundrechte zu enden haben. Dahinter steckt die Überzeugung: Nur wer diese Erfahrung im Alltag macht, wird seine Aufgaben für Frieden und Freiheit überzeugt wahrnehmen. Deshalb muss - das sage ich an das gesamte Parlament gerichtet - mit Blick auf die Zukunft der Dienst in den Streitkräften attraktiv bleiben. Das hat etwas mit Perspektiven zu tun. Das hat etwas mit sozialen Belastungen zu tun. Das hat auch etwas mit Bezahlung usw. zu tun. Gerade eine Demokratie kann nicht daran interessiert sein, dass in den Sicherheitsberufen - sei es beim Grenzschutz, bei der Polizei oder in der Bundeswehr wegen mangelnder Attraktivität so etwas wie eine negative Auslese stattfindet. Denn damit kreieren wir Probleme, die wir unbedingt vermeiden sollten. ({7}) Auch in diesem Sinne sind die Wehrbeauftragten Anwälte der Soldaten. Sie haben sich immer um die Lösung sozialer Probleme und die Verbesserung des Arbeitsplatzes Bundeswehr bemüht, dadurch Vertrauen und Ansehen bei den Soldatinnen und Soldaten erworben, auf Unzulänglichkeiten aufmerksam gemacht, sich schützend vor die Bundeswehr gestellt, wenn Sie dies für erforderlich hielten. Das gilt auch für den Bericht 1998. Er schenkt auch den Soldatinnen und Soldaten im Einsatz großes Augenmerk. Die Erfahrungen, die wir insbesondere in Bosnien und im Kosovo machen, sind in vielerlei Hinsicht wertvoll und sie zeigen, welch kostbaren Schatz auch die Konzeption der inneren Führung für die Streitkräfte darstellt und für das demokratische Eingebettet-Sein der Streitkräfte in eine freiheitliche Demokratie.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Braun?

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Aber gern.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister Scharping, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die Berufe im Bereich der Sicherheit, und zwar alle, durch eine ausreichende, attraktive Bezahlung in ihrem Bestand gesichert werden müssen. Stimmen Sie mir zu, dass die finanziellen Möglichkeiten, insbesondere die Aufstiegsmöglichkeiten im Bereich der Bundeswehr bei Unterführern deutlich schlechter sind als bei der Polizei?

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Ja, das ist erstens richtig. Zweitens hat der Kollege Pfannenstein, wenn ich es recht erinnere, darauf aufmerksam gemacht, dass wir erste Maßnahmen dagegen getroffen haben. Drittens will ich Ihnen ankündigen, dass wir weitere Maßnahmen treffen werden im Zusammenhang mit der Neukonzeption der Bundeswehr. Und viertens will ich Ihnen sagen, dass es ja kein Wunder ist, wenn ich mir betrachte, wie sich die Haushaltszahlen in den 90er-Jahren entwickelt haben. Sie haben Recht mit der Feststellung, wir müssten diese Attraktivität erhalten und in bestimmten Bereichen auch erhöhen. Das Einzige, was mich etwas verblüfft, ist: Sie sagen das als Mitglied einer früheren Koalition, die zum Beispiel durch die Veränderung von Erschwerniszulagen und anderem genau diese Attraktivität, wenn man sie einmal finanziell, einkommensmäßig betrachtet, in einem erheblichen Umfang in Gefahr gebracht hat. Das ist einfach eine Tatsache. ({0}) Wenn ich auf den Gedanken der internationalen Einsätze zurückkommen darf: Diese zeigen uns, dass bei dem Konzept der inneren Führung, übrigens auch mit Blick auf die Ausbildung, ein Stillstand nicht eintreten darf. Ein Offizier oder ein Unteroffizier muss in der Lage sein, die konkreten politischen Bedingungen des Einsatzlandes zu beurteilen. Er braucht politische Bildung, Urteilsvermögen, diplomatisches Fingerspitzengefühl und Charakterstärke. Das sind die Voraussetzungen, um zwischen Parteien zu vermitteln, die sich zuvor noch erbittert bekämpft haben. Diese Empathie, die Wolf Graf Baudissin als Element kooperativer Sicherheitspolitik verstanden hat - sehr interessant, denn es liegt ja schon mehrere Jahrzehnte zurück -, darf auf keinen Fall mit Sympathie verwechselt werden. Soweit es um militärische Beiträge zur Friedenssicherung oder zur Vermittlung geht, braucht man einen eigenen festen Standpunkt in den Werten unserer Verfassung, einen Standpunkt, der Menschen politisch überzeugt. Wenn ich mit Kollegen, Außenministern wie Verteidigungsministern, anderer Länder hier oder in deren Heimat spreche, dann bestätigen sie alle uneingeschränkt, was auch mein Eindruck von vielen Besuchen in Bosnien wie im Kosovo ist: Die Angehörigen der Streitkräfte werden den Anforderungen im Auslandseinsatz in einer herausragenden Weise gerecht. Sie verdienen jede Anerkennung und jede Unterstützung dafür. ({1}) Das gilt übrigens auch für die Situation bei uns zu Hause, wohl wissend um die schwierigen Bedingungen, die manchmal entstehen, um die Notwendigkeit der Unterstützung der Familien. Deshalb sind ja im Jahr 1999 erste Entscheidungen getroffen worden. Ich nenne als Beispiel die Aufstockung der KRK-Verbände, den Abbau des Beförderungsstaus, der etwas mit der sozialen Lage und der planerischen Sicherheit zu tun hat, und vieles andere, was ich jetzt aus Gründen mangelnder Zeit nicht aufzählen kann. Das Hauptproblem und die Wurzel der Schwierigkeiten ist, dass die Bundeswehr seit Jahren von der Substanz zehrt. Das hat negative Auswirkungen auf die Streitkräfte und es hat negative Auswirkungen auf die Motivation des einzelnen Soldaten. Darüber hinwegzureden würde eine Verfälschung der Realität bedeuten. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass in den Jahren 1999 und 2000 gegenüber 1997 und 1998 -, nur um einmal zwei Jahre miteinander zu vergleichen -, diese Koalition für die Streitkräfte einschließlich der internationalen Einsätze 1,9 Milliarden DM mehr aufwendet als im vergleichbaren Zeitraum vorher, selbst wenn man berücksichtigt, dass in den Jahren 1999 und 2000 diese Koalition für die Beseitigung von Ausrüstungsmängeln 2,5 Milliarden DM mehr aufwendet als im gleichen Zeitraum die vorherige Koalition, ändert das an den tatsächlichen Schwierigkeiten und an der notwendigen Anstrengung für die Zukunft nichts. ({2}) Dafür braucht man, bevor man über Einzelheiten redet, klare Leitlinien, planerische und soziale Sicherheit, Wirtschaftlichkeit und Effizienz innerhalb der Bundeswehr und muss im Übrigen Beiträge für ein zukunftsfähiges Deutschland leisten. Um die „Beiträge für ein zukunfstfähiges Deutschland“ kurz zu erläutern: Wir haben die Zahl der zivilberuflichen Ausbildungsmöglichkeiten in der Bundeswehr verbessert. Die Zahl der Ausbildungsplätze in ganz traditionellen zivilen Ausbildungsberufen ist in der Bundeswehr um 15 Prozent erhöht worden. Ich bin entschlossen, dies, wenn irgend möglich aufrecht zu erhalten. Ebenso sinnvoll und gut ist es, dass wir aus den Mitteln des Verteidigungshaushalts für die zivilberufliche - ich betone ausdrücklich: zivilberufliche Ausbildung - über 2 Milliarden DM aufwenden und damit der größte Investor im Bereich der Ausbildung junger Leute in der Bundesrepublik Deutschland sind. ({3}) Dies gereicht unserem Land zur Ehre und ist für die Attraktivität der Bundeswehr von entscheidender Bedeutung. Wirtschaftlichkeit und Effizienz erhöhen:Ich weiß, dass einige sich gedacht haben, der Verteidigungsminister macht dazu einmal einen attraktiven Spruch. Aber was steckt dahinter? Wir haben im Juli mit 14 großen Industrieunternehmen einen Vertrag über Ausbildung, Fortbildung und Weiterbildung abgeschlossen. Einige haben sich gefragt: Was wird dabei wohl herauskommen? Andere haben gefragt: Wieso ist der Mittelstand nicht beteiligt? Ich will heute dem Deutschen Bundestag sagen, dass sich mittlerweile über 300 Firmen in Deutschland, vom Handwerksmeister bis zum weltweit tätigen Industrieunternehmen, an diesen Anstrengungen der Bundeswehr zur Lösung von Ausbildungsproblemen und zur Verbesserung der zivilberuflichen Perspektiven der Soldatinnen und Soldaten beteiligen. Dies ist ein enormer Fortschritt. ({4}) Wir haben mit den Gewerkschaften und Verbänden des öffentlichen Dienstes im Dezember eine Rahmenvereinbarung über die Modernisierung der Verwaltung abgeschlossen sowie mit einer Handwerkskammer ein Pilotprojekt über Ausbildungsmöglichkeiten für Soldaten mit Gesellenbrief initiiert. Diese Maßnahmen treffen auf eine enorm große Resonanz. Dem zuständigen Staatssekretär liegen mittlerweile Schreiben von zirka 30 weiteren Unternehmen vor, die sich an diesem Rahmenvertrag beteiligen wollen, um Wirtschaftlichkeit und Effizienz zu erhöhen. Warum sage ich Ihnen das? Wenn Sie hier schon über Entscheidungen für die Zukunft reden, muss ich Sie fragen: Was haben denn meine Vorgänger, was hat denn die Koalition vor uns jemals getan, um auf diese Weise zu einer Kooperation mit der Wirtschaft in Fragen der Ausbildung, der Fortbildung und der Weiterbildung, der Beschaffungsvorgänge, der Betriebsabläufe, der Logistik usw. zu kommen? Was haben Sie denn getan? ({5}) Wenn aus Ihren Reihen beklagt wird, wir hätten zum Beispiel im Bereich der Fernmeldemittel einige Schwierigkeiten, so stimmt das. Es macht auch einem Verteidigungsminister wahrlich kein Vergnügen, in einer Einheit der Bundeswehr festzustellen, dass für die Abwicklung des Lufttransports eigentlich 75 PCs erforderlich sind. Da die Bundeswehr hier nur über 25 PCs verfügt, erlaubt die Bundeswehr die dienstliche Nutzung privater PCs, sodass die Soldaten die fehlenden Geräte selbst mitbringen. Ich könnte viele solche Beispiele aufzählen. Ich wundere mich nur, dass dies aus den Reihen der heutigen Opposition beklagt wird. Sie müssen mich ja nicht dafür loben, dass ich begonnen habe, diese Missstände abzubauen. ({6}) Das wäre von der Opposition zu viel verlangt. Sie müssten jedoch der Korrektheit halber wenigstens sagen: Wir haben in den letzten Jahren auf der Seite der Ausrüstung der Bundeswehr leider schwere Fehler gemacht. ({7}) Die von mir genannten Vereinbarungen stehen. Hinzu kommt, was ich für die Conditio sine qua non halte, nämlich die planerische und soziale Sicherheit. Das größte Kapital der Bundeswehr - das habe ich bis im Parlament mehrmals gesagt - sind ihre Angehörigen, ihr Leistungswille, ihre Fähigkeiten und ihre Bereitschaft zur Verantwortung. Der größte Mangel liegt auf der Seite der Ausrüstung. Das muss berücksichtigen, wer an die Neuausrichtung der Bundeswehr geht. Die Bundeswehr der Zukunft muss sich durch ausgeprägte schnelle und hohe Fähigkeit zu reagieren auszeichnen. Sie muss - auch in Einsätzen - flexibel sein. Sie muss modern ausgerüstet sein. Sie bedarf einer straffen Führungsorganisation. Sie muss ganz unterschiedlichen Ausbildungserfordernissen genauso gerecht werden, wie sie Aufwuchsfähigkeit unter dieses tragfähige Dach bringen muss. Die Bundeswehr der Zukunft wird für Männer und Frauen ein attraktiver Arbeitsplatz sein, und zwar in allen Laufbahnen. Wer die EU-Richtlinie und das Urteil des Europäischen Gerichtshofs ernst nimmt, der wird sehen, dass es einen jedenfalls aus dem Geschlecht abgeleiteten Grund nicht gibt, jemanden von einer bestimmten Laufbahn, von einer bestimmten Verwendung auszuschließen. Das halte ich auch für richtig. ({8}) In all diesen Bereichen muss - damit komme ich, gewissermaßen den großen Bogen schlagend, auf die Arbeit der Frau Wehrbeauftragten und ihr geschätztes Engagement zurück - unser Ziel sein: frühzeitig einbeziehen, Menschen mitnehmen, ihre Kreativität nutzen, ihre Fantasie anregen, zur Diskussion, zum Denken und zu Mitverantwortung ermutigen. Das ist in meinen Augen zeitgemäßes Führungsverständnis. Deshalb gab es im Jahr 1999 weit über zehn Tagungen. An eine Tagung mit Soldaten, deren Eltern aus dem Ausland kommen, erinnere ich mich sehr gut: Ich saß mit 70 Wehrpflichtigen - ich betone: Wehrpflichtigen zusammen, deren Eltern aus weit über 20 Nationen, aus Japan über Vietnam bis Costa Rica, aus den USA über Polen bis nach Usbekistan und aus vielen Ländern mehr. Die Bundeswehr vollbringt diese Integrationsleistung mit aller Ruhe, sehr konsequent und manchmal viel besser als solche, die immer davon reden und über sie in anderen Bereichen klagen. ({9}) Diese Tagungen haben mir gezeigt, dass man sehr viel mobilisieren kann. Ich müsste Sie eigentlich fragen: Wann hat es so etwas zum letzten Mal gegeben? Der letzte Verteidigungsminister, der sich auf diese Weise um die Bundeswehr bemüht hat - ich will jetzt nicht meine 70 Truppenbesuche in einem Jahr ansprechen -, war Helmut Schmidt. Es weiß doch jeder, dass es meinem Vorgänger eher lästig war, wenn Soldaten gedacht haben. Wenn ihm Ergebnisse nicht gepasst haben, dann haben es die Soldaten auch zu spüren bekommen. Dazu könnte ich Beispiele nenne, aber das würde den zeitlichen Rahmen sprengen. Herr Präsident ({10}) - Entschuldigung -, Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Ich will Ihnen ausdrücklich ankündigen: Ich werde auch in diesem Jahr, im Zeitraum vom 1. Februar bis Ende April, mit allen Vorgesetzten, vom Kompaniefeldwebel bis zum Divisionskommandeur, reden. Dafür werde ich mir in diesen zweieinhalb Monaten zehn Tage Zeit nehmen. ({11}) Ich werde in ganz Deutschland mit allen Präsidien, mit allen Hauptgeschäftsführern der Industrie- und Handelskammern und der Handwerkskammern über die Möglichkeiten der Zusammenarbeit von der Ausbildung bis hin zum wirtschaftlichen Betrieb der Bundeswehr reden. Ich lege großen Wert darauf, dass sich die gesamte Bundeswehr, und alle die Soldatinnen und Soldaten wie der zivile Teil der Bundeswehr, an der Stabilität, an der Sicherheit und an der Gewährleistung der Freiheit unseres Landes Interessierten und dafür Engagierten an diesem breiten Dialog über die Bundeswehr der Zukunft beteiligt. In diesem Dialog muss für die Soldatinnen und Soldaten sowie für die zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr eines sichtbar werden: Planerische und soziale Sicherheit, Wirtschaftlichkeit und Effizienz zum Zwecke einer modernen Ausbildung und gute Beiträge für die Zukunft eines modernen Deutschlands gehören zusammen - übrigens nicht nur in der Bundeswehr. ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich freue mich, meine Damen und Herren, dass der Wechsel auf dem Präsidentenstuhl so geräuschlos vor sich geht, dass sich der Redner nicht gestört fühlt. Da Herr Scharping ein Frauenfreund ist, habe ich das richtig eingeschätzt. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung des Ver- teidungsausschusses zum Jahresbericht 1998 der Wehr- beauftragten - Drucksache 14/500 - auf Drucksache 14/1807 ab. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Wer stimmt dagegen? - Die Beschlussempfeh- lung ist einstimmig angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b so- wie Zusatzpunkt 10 auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr Wolfgang Gerhardt, Jörg van Essen, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages ({1}) - Drucksache 14/2363 Überweisungsvorschlag: A. f. Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wolfgang Gerhardt, Hildebrecht Braun ({3}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Änderung der Anlagen 1 und 3 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages - Drucksache 14/2365 Überweisungsvorschlag: A. f. Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({4}) Rechtsausschuss ZP 10 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages ({5}) - Drucksache 14/2518 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Max Stadler, F.D.P.-Fraktion.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es könnte einem fast schwindelig werden, wenn man an die Geschwindigkeit denkt, mit welcher tagtäglich immer wieder neue brisante und nahezu unglaubliche Vorgänge bekannt werden, mit denen sich der Parteispenden-Untersuchungsausschuss befassen muss. Deshalb sollte sich der Ausschuss wenigstens im Verfahrensrecht auf sicherem Boden bewegen. ({0}) Juristen, zumal deutsche, streben bekanntlich nach Perfektion. Es ist sehr erstaunlich, dass das Parlament ausgerechnet für die Tätigkeit eines eigenen Gremiums, eben der Untersuchungsausschüsse, bisher keine eigenständige gesetzliche Regelung zustande gebracht hat. Diese Lücke will die F.D.P. mit ihrem Entwurf vom 15. Dezember 1999 schließen, gerade auch im Hinblick auf eine erfolgreiche Arbeit des Parteispenden-Untersuchungsausschusses. ({1}) Bisher gab es so genannte IPA-Regeln, die aber zu Rechtsunsicherheit geführt haben. Häufig wurde deshalb das Bundesverfassungsgericht als Schiedsrichter angerufen. Das ist kein sehr günstiger Zustand. Es stärkt die Fähigkeit der Untersuchungsausschüsse zur Aufklärung, wenn wir klare gesetzliche Vorgaben schaffen. Alle früheren Versuche sind leider gescheitert. Am nächsten kam man dem Ziel am Ende der 11. Legislaturperiode, als es im Geschäftsordnungsausschuss einen fraktionsübergreifenden Beschluss über ein einheitliches Verfahrensrecht gab. Auch dieser Entwurf hat jedoch wegen des Endes der Legislaturperiode das rettende Ufer, sprich: das Bundesgesetzblatt nicht mehr erreicht. Aber auf die damalige Initiative kann man jetzt zurückgreifen. Dies tut die F.D.P. - wir wollen uns hier nicht mit fremden Federn schmücken - mit der Vorlage eines überarbeiteten Entwurfs. Uns ist bewusst, dass es bei scheinbaren Formalien in Wahrheit oft um politisch bedeutsame Regelungen geht. Ich nenne nur eine in Untersuchungsausschüssen immer wieder umstrittene Verfahrensmodalität: Die Reihenfolge von Zeugenvernehmungen hat natürlich hochpolitische Hintergründe. Verfahrensrecht ist immer konkretisiertes Verfassungsrecht. Im Verfahrensrecht werden wesentliche Elemente des Rechtsstaatsprinzips verwirklicht. Es muss klar und eindeutig sein und muss die Arbeit eines Ausschusses berechenbar machen. Das Verfahrensrecht sollte keinen Platz für Willkür lassen, sondern Streitigkeiten über prozessuale Fragen vorbeugen. „Legitimation durch Verfahren“ hat das bekanntlich Niklas Luhmann in einem seiner Hauptwerke genannt. Vor allem aber muss in einem solchen Verfahrensgesetz, gerade weil es um ein parlamentarisches Gremium geht, das demokratische Grundprinzip der Mehrheitsentscheidung in sinnvoller Weise mit einem weiteren Grundgedanken der Verfassung harmonisiert werden, nämlich dem Minderheitenschutz. Die Verfahrensordnung darf kein Hebel für die Mehrheit sein, einer Minderheit die Chance zur Aufklärung des Untersuchungsgegenstands zu nehmen oder auch nur zu erschweren. ({2}) Wir meinen, dass der F.D.P.-Entwurf diesen hohen Anforderungen schon sehr nahe kommt. Aber selbstverständlich sind wir im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens offen für weitere Verbesserungen. In den letzten Tagen, Herr Bachmaier, ist öffentlich darüber diskutiert worden, ob es künftig gestattet werden soll, über Sitzungen des Untersuchungsausschusses live im Fernsehen zu berichten. Das ist bisher weder in unserem noch im Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen vorgesehen. Wir haben uns an das alte Dichterwort erinnert, dass dann die Szene leicht zum Tribunal werden kann. Auf der anderen Seite geht es eben nicht um ein Gerichtsverfahren - schon gar nicht um ein normales -; vielmehr ist ein Untersuchungsausschuss natürlich eine politische Veranstaltung mit einem hohen Informationsinteresse der Bürgerinnen und Bürger. Ich könnte mir daher vorstellen, dass wir uns im Ausschuss auf eine Öffnungsklausel, zumindest was die Fernsehberichterstattung angeht, einigen werden. In den Ausschussberatungen sollten wir auch prüfen, ob der Minderheitenschutz bezüglich des Untersuchungsgegenstandes noch einer weiteren Klarstellung bedarf. Wir sind der Meinung, dass, wenn 25 Prozent der Abgeordneten des Parlaments einen Untersuchungsausschuss beantragen können, folglich 25 Prozent auch das Quorum dafür sein sollten, einen Untersuchungsgegenstand nachträglich zu erweitern. ({3}) Dies ist aber gerade von den Regierungsfraktionen im Parteispenden-Untersuchungsausschuss in Zweifel gezogen worden, weil sie nicht wollten, dass der Ausschuss auch die Möglichkeit hat, das Verhalten der damaligen Oppositionsparteien zu untersuchen. Wenn dieser Zweifel aufrechterhalten wird, dann sollten wir im Sinne des Minderheitenschutzes eine Klarstellung ins Gesetz aufnehmen. ({4}) Schließlich führen für mich die Erfahrungen aus der gestrigen Sitzung des Parteispenden-Untersuchungsausschusses noch zu einer weiteren Frage. Im Parlament werden oft seltsame Rituale gepflegt, die der Nichtpolitiker schwer nachvollziehen kann. Zum Beispiel haben wir gestern erlebt, dass allgemeines Einverständnis darüber besteht, den früheren Bundeskanzler Helmut Kohl im Untersuchungsausschuss als Zeugen zu vernehmen. Gleichwohl haben SPD und Grüne dem entsprechenden Beweisantrag der CDU/CSU nicht zugestimmt. ({5}) Umgekehrt besteht allgemeine Einigkeit, dass selbstverständlich Dr. Wolfgang Schäuble im Untersuchungsausschuss als Zeuge zu vernehmen ist. Einem entsprechenden Antrag von SPD und Grünen hat aber seltsamerweise die Unionsfraktion nicht zugestimmt. ({6}) Ich erwähne dies deshalb, weil solche eigentümlichen Rituale den Verdacht nahe legen, dass prinzipiell Anträgen anderer Fraktionen nicht zugestimmt wird, obwohl es von der Sache her notwendig wäre. Das kann das Beweisantragsrecht gerade von kleinen Fraktionen tangieren, sodass ich im Ausschuss zur Debatte stellen werde, ob man den Minderheitenschutz beim Beweisantragsrecht gegenüber unserem eigenen Entwurf noch mehr verbessern muss. ({7}) SPD und Grüne haben mit einem eigenen Gesetzentwurf vom 18. Januar 2000 nachgezogen. ({8}) - Herr Bachmaier, ich weiß, dass Sie jahrelang daran gearbeitet haben. Das ist verdienstvoll. ({9}) Die Lektüre zeigt allerdings, dass man Unterschiede zwischen diesem und unserem Entwurf mit der Lupe suchen muss, weil beide Entwürfe auf den Vorarbeiten aus der 11. Legislaturperiode beruhen. Es gibt genau fünf Detailpunkte, in denen Unterschiede vorliegen. Darüber können wir im Ausschuss gerne reden.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Aber Ihre Redezeit lässt das nicht mehr zu, Herr Kollege.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich mache am Schluss nur darauf aufmerksam, dass in der Eile Fehler unterlaufen sind, etwa die Bezugnahme auf das Strafgesetzbuch von 1987, obwohl es eine Neufassung von 1998 gibt. Ein anderer Fehler ist ein Änderungsantrag zu einer Vorschrift aus dem StGB, die mittlerweile längst geändert worden ist. Solche peinlichen Verfahrensfehler, solche inhaltlichen Versehen müssen wir im Ausschuss korrigieren. Noch besser wäre es, wenn Sie unseren Entwurf als Grundlage für die Beratungen nehmen. Am besten wäre es, wenn wir diese unendliche Geschichte am Ende mit einem einmütigen Beschluss zu einem Erfolg führen. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Hermann Bachmaier, SPD-Fraktion, das Wort.

Hermann Bachmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000072, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im vergangenen Jahr haben wir das 50-jährige Jubiläum des Deutschen Bundestages begangen. Bei diesem Ereignis wurden die unbestrittenen Verdienste des Bundestages um die Festigung der Demokratie in der Bundesrepublik als dem zentralen Organ der deutschen Demokratie deutlich und mit Recht unterstrichen. Dennoch gibt es auch Anlass zu einem etwas kritischeren Rückblick. So ist es eine zentrale Aufgabe des Parlaments, für eine wirksame Kontrolle der Regierung bzw. der zentralen Machtapparate unseres Landes zu sorgen und Transparenz in der Republik herzustellen. ({0}) Auf diesem Gebiet sind Verbesserungen wünschenswert. Neben vielfältigen Kontrollbefugnissen wie Anfragen, aktuellen Debatten und Auskunftspflichten der Regierung gegenüber dem Parlament sind insbesondere Untersuchungsausschüsse das zentrale Kontrollinstrument des Bundestages, um Missstände aufzuklären und Verbesserungen auf den Weg zu bringen. Schon ein Viertel der Mitglieder des Bundestages hat nach Art. 44 des Grundgesetzes Anspruch auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Auf die Beweiserhebungen finden nach dem Grundgesetz die Vorschriften über den Strafprozess sinngemäße Anwendung. Das sind gute Grundsätze. Was dies aber im Einzelnen bedeutet, darüber kann man sich trefflich streiten: Inwieweit muss die Regierung Akten herausgeben? Welche Akten müssen Private herausgeben? Welche Fragen darf man bei Vernehmungen stellen? Welche Gerichte sind für Zwangsmaßnahmen zuständig? Ich könnte die Liste fortsetzen. Das ist nur ein Auszug aus einer Fülle von Fragen, die sich in der Praxis stellen und immer wieder zu Behinderungen bei der Untersuchungsausschussarbeit geführt haben. Der Bundestag und die Untersuchungsausschüsse haben sich über alle diese Fragen heftig gestritten - sehr oft, sehr lange, häufig vor den Gerichten. Bis heute ist es dem Bundestag aber nicht gelungen, diesem seinem schärfsten Kontrollinstrument auch eine angemessene Rechtsgrundlage zu geben und sich auf ein Untersuchungsausschussgesetz zu verständigen. Die Notwendigkeit hierfür ist weitgehend unbestritten. Viele Versuche und Initiativen einzelner Fraktionen und auch interfraktionelle Bemühungen in den zurückliegenden Legislaturperioden sind an den jeweils herrschenden Mehrheiten gescheitert. Die Folge ist, dass sich Abfolge und Durchführung wichtiger Beweiserhebungen und vor allem auch Zeugenvernehmungen in Untersuchungsausschüssen in einer schwer durchschaubaren rechtlichen Grauzone bewegen und deshalb zügige Sachaufklärung häufig auf der Strecke bleibt. Denjenigen, die kein ausgeprägtes Interesse an einer schnellen und gründlichen Aufklärung haben, konnte es deshalb immer wieder gelingen, Beweisaufnahmen zu verschleppen und bisweilen sogar ganz zu verhindern. Herr Stadler, an diesen Aktionen war Ihre Fraktion häufig sehr lebhaft beteiligt. ({1}) So konnte - um jetzt ein Beispiel zu nennen, an dem Sie kräftig mitgewirkt haben - im so genannten Plutonium-Untersuchungsausschuss die damalige Mehrheit aus CDU, CSU und F.D.P. über eineinhalb Jahre hinweg verhindern, dass der zentrale Zeuge Schmidbauer von der Opposition vernommen werden konnte. Der in diesem Untersuchungsausschuss auch nicht gerade unwichtige Zeuge Dr. Kohl konnte gar erst nach einem Rechtsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht - fast zwei Jahre nach Einsetzung des Untersuchungsausschusses - erstmals als Zeuge gehört werden. Auch daran waren Sie nicht unbeteiligt. ({2}) Die Aufklärung des Parlamentes wird durch einen derartig manipulativen Umgang mit der so genannten Verfahrensmehrheit häufig zu einer reinen Farce. Gelitten hat das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Funktionstüchtigkeit parlamentarischer Kontrolle. Um die Kontrollkompetenz des Parlaments zu stärken, muss das Recht der Untersuchungsausschüsse auf der Basis der verfassungsrechtlichen Vorgaben so ausgestaltet werden, dass die Ermittlungsinstrumentarien, wie Aktenbeiziehung, Auskunftsrechte und Zeugenvernehmungen, zügig eingesetzt werden können, ({3}) sodass auch die parlamentarischen Untersuchungsverfahren nicht endlos in die Länge gezogen werden können. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und die Grünen haben uns während der Oppositionszeit nach vielen leidvollen Erfahrungen mit Untersuchungsausschüssen fest vorgenommen, dann, wenn wir dazu die Mehrheit haben, endlich ein solches Untersuchungsausschussgesetz einzubringen und auch zu beschließen. Auf der Grundlage der ausgereiften Entwürfe aus den Jahren 1990/91, die federführend von den damaligen Abgeordneten Konrad Porzner, Horst Eylmann und Detlef Kleinert, um nur einige frühere Kollegen zu nennen, erarbeitet wurden, haben wir den heute in erster Lesung zu beratenden Koalitionsentwurf entwickelt. Dieser Gesetzentwurf führt auch das schwierige Verhältnis von Mehrheit und Minderheit in einem Untersuchungsausschuss einer gerechten Lösung zu, sodass die oft unerträglichen Kleinkriege und Scharmützel, die die ohnehin schwierige Aufklärungsarbeit in Untersuchungsausschüssen bisher erschwert haben, endlich der Vergangenheit angehören werden. Dabei haben wir als Mehrheitsfraktion mit einer soliden Regierungsmehrheit nicht vergessen, was wir bei einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie der Opposition schuldig sind. Wir wissen natürlich auch, dass die Regierungsmehrheiten in der Vergangenheit mit dem bestehenden diffusen Rechtszustand und einer weit gehend der Mehrheit überlassenen Gestaltung des Untersuchungsausschussverfahrens recht gut gelebt haben. Gelitten hat aber die verfassungsrechtlich festgelegte Kontrollkompetenz des Bundestages. Die Koalitionsfraktionen sind deshalb souverän genug, ein Untersuchungsausschussgesetz auf den Weg zu bringen, das sich nicht einseitig und ausschließlich an den Belangen der Mehrheit, sondern auch an den Notwendigkeiten einer funktionierenden parlamentarischen Kontrolle orientiert. Kalkulierbare Rahmenbedingungen für Untersuchungsausschüsse, bei denen die berechtigten Belange der Opposition hinreichend berücksichtigt sind, stärken aber nicht nur die Kontrollkompetenz des Parlaments, sondern führen auch zu überschaubaren Abläufen, woran letztlich auch Regierungen und Mehrheitsfraktionen ein elementares Interesse haben, zumindest haben sollten. ({4}) Gerade auch die Ereignisse dieser Tage führen uns deutlich vor Augen: Wo Macht ist, muss kontrolliert werden, ({5}) muss wirksam und zügig kontrolliert werden. Kontrolle ist eine notwendige, bisweilen zeitaufwendige und nicht immer angenehme Aufgabe. Damit sie funktioniert, bedarf es einerseits unerschrockener Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die nicht davor zurückschrecken, auch lästig zu werden. Damit Kontrolle funktionieren kann, bedarf es aber auch Rahmenbedingungen, die eine wirksame Kontrolle ermöglichen. Daran fehlt es bis zum heutigen Tag. Wir finden es ja recht erfreulich, dass auch die F.D.P. in der Opposition ihre Liebe zu einem Untersuchungsausschussgesetz wieder entdeckt hat. Leider haben Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P., sich in den vergangenen zehn Jahren, als Sie doch einen erheblichen Einfluss auf die Parlamentsmehrheit hatten, um das Untersuchungsausschussrecht überhaupt nicht gekümmert, sondern fleißig mit den Wölfen der Mehrheit geheult. ({6}) Es ist kein Geheimnis, dass die beiden vorliegenden Entwürfe von den gleichen Eltern stammen - Herr Heinrich, sparen Sie sich Ihre wegelagernden Bemerkungen! -, ({7}) nämlich von den leider damals knapp gescheiterten Entwürfen aus den Jahren 1990/91. Schade ist allerdings, dass sich die CDU/CSUFraktion bis zum heutigen Tage gegenüber diesem Anliegen völlig gleichgültig verhält und keine Gelegenheit auslässt, lieber Kollege Schmidt, ihr absolutes Desinteresse an dieser parlamentsrechtlichen Notwendigkeit zu bekunden. Die beiden Gesetzentwürfe unterscheiden sich auch in nicht ganz unwichtigen Detailfragen, wie der Regelung für die Änderung des Untersuchungsauftrages Herr Stadler hat mit Recht darauf hingewiesen -, die nach unserer Auffassung nicht ohne Zustimmung der Antragsteller erfolgen sollte, den Rechten einzelner Abgeordneter im Untersuchungsausschuss - darüber werden wir gründlich reden müssen -, den notwendigen Zwangsmitteln bei rechtswidrigem Verhalten von Zeugen, oder bei Vorenthaltung von Beweismitteln. Es gibt da noch andere nicht ganz zu vernachlässigende Fragen wie die Beschleunigung der Beweisaufnahme, an der uns sehr liegt. Ich empfehle auch Behutsamkeit bei der Erörterung der Frage, inwieweit Zeugenvernehmungen vom Fernsehen aufgezeichnet werden können. Da berühren wir einen heiklen und neuralgischen Punkt im Konflikt zwischen gründlicher Beweisaufnahme, Persönlichkeitsschutz und öffentlicher Berichterstattung. Ich glaube, wir werden eine vernünftige Lösung bekommen, die sich an den drei Erfordernissen orientiert. Sie haben dankenswerterweise darauf auch schon hingewiesen. Da die vorliegenden Gesetzentwürfe auf gründlichen Vorarbeiten engagierter Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus früheren Legislaturperioden und einschlägigen Erfahrungen in Untersuchungsausschüssen unter Berücksichtigung der vielfältigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung beruhen, sollten wir die Beratungen zügig aufnehmen, um möglichst bald die Arbeit in Untersuchungsausschüssen auf eine solide rechtliche Grundlage zu stellen. Wir gehen davon aus, dass das jetzt zu beratende und möglichst bald zu verabschiedende Untersuchungsausschussgesetz auch noch auf die laufende Arbeit des erst kürzlich eingesetzten Untersuchungsausschusses Anwendung finden sollte, auch wenn dieser Untersuchungsausschuss von seiner Konstellation her nicht der typischen Ausgangslage von Untersuchungsausschüssen in der Vergangenheit entspricht. Denn hier ist man in der komfortablen Lage, dass die Mehrheit von heute die Missstände der Mehrheit von gestern wirksam aufklären kann. ({8}) Davon werden wir zügig Gebrauch machen und auch dazu sind Sie herzlich eingeladen. Uns liegt also daran, dass wir schnell zu Potte kommen. Wir laden ausdrücklich auch die CDU/CSU-Fraktion zur Mitarbeit ein, Herr Schmidt. Schließlich soll das seit Bestehen des Bundestages, also seit 50 Jahren überfällige Untersuchungsausschussgesetz zur Rechts- und Arbeitsgrundlage für alle Fraktionen des Bundestages in Untersuchungsausschüssen werden. Deshalb gilt die Einladung selbstverständlich für alle Fraktionen. Ich hielte es aber für dringend notwendig, dass die größte Oppositionsfraktion ihre bisherige Enthaltsamkeit bei diesem Thema aufgibt und dem schärfsten Kontrollinstrument des Parlaments das gibt, was es dringend benötigt, um bisweilen unerträgliche Scharmützel und Schauspiele vor der Öffentlichkeit zu vermeiden. Diese leisten dem Ansehen des Parlaments keinen guten Dienst. ({9}) Meine Damen und Herren, wir sind fest entschlossen, den vielfältigen Vorberatungen und mehrfachen Versuchen zur Schaffung einer soliden Rechtsgrundlage für Untersuchungsausschüsse jetzt endlich Taten folgen zu lassen. Gestatten Sie mir noch eine kleine Bemerkung zur Zeitabfolge der Einbringung Ihres Gesetzentwurfs, Herr Stadler. Ich habe mir das einmal genau angeschaut und sage das jetzt doch, nachdem Sie eine diesbezügliche Bemerkung gemacht haben. Eigentlich wollte ich das nicht, es steht auch nicht in meinem Manuskript. Anfang Dezember wurde in der „Zeit“, in der „Frankfurter Rundschau“ und in anderen Zeitungen darüber berichtet, dass die Koalitionsfraktionen fest entschlossen sind, auf der Basis der früheren Entwürfe ein Untersuchungsausschussgesetz einzubringen. Sie hatten nichts Wichtigeres zu tun - die Eile merkt man diesem Gesetzentwurf an vielen Stellen an -, ({10}) in den Schrank zu greifen, den Staub abzustreifen und das, was in der Zeit bis 1990 unter sicherlich kompetenter Mitwirkung zum Beispiel Ihres Kollegen Detlef Kleinert geschaffen worden ist, schleunigst wiederzubeleben. Das fällt Ihnen aber erst in der Opposition ein. Das ist das Verräterische. Wir bringen es als Mehrheitsfraktion ein, weil wir wissen, was wir dem Parlament schuldig sind. ({11}) Sie machen es aus einem gewissen Oppositionsopportunismus heraus. ({12}) Dennoch freue ich mich auf kompetente Mitarbeit. Sie können damit einiges wieder gutmachen, was Sie zum Beispiel im Plutonium-Untersuchungsausschuss an Aufklärung versäumt haben. ({13}) Herzlichen Dank. ({14})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das war zeitlich eine Punktlandung, Herr Kollege. Ich erwähne das als gutes Beispiel besonders. Das Wort hat nun der Kollege Andreas Schmidt, CDU/CSU-Fraktion.

Andreas Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001999, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Bachmaier, Sie haben ja gerade noch einmal auf den Plutonium-Untersuchungsausschuss rekurriert. Wir beide haben daran ja noch gute Erinnerungen, auch wenn wir viel gestritten haben. Insbesondere haben wir sehr über die Reihenfolge der Zeugenvernehmungen gestritten; dazu hat es auch ein Verfahren gegeben. ({0}) Sie haben aber vergessen, dass Sie mit Ihrem Eilantrag in Karlsruhe sang- und klanglos gescheitert sind. ({1}) Auch dieses gehört zur Wahrheit und sollte hier noch einmal erwähnt werden. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die heute von der F.D.P., aber auch von den Regierungsfraktionen vorgelegten Entwürfe eines Untersuchungsausschussgesetzes entsprechen - dies ist gerade schon angemerkt worden - ganz wesentlich der Beschlussempfehlung und dem Bericht des 1. Ausschusses vom 20. September 1990. Auf den jetzt vorgelegten Text - auch darauf will ich hinweisen - hatten sich die Abgeordneten der CDU/CSU, F.D.P. und SPD gegen Ende der 11. Legislaturperiode geeinigt. Die damalige Koalition von CDU/CSU und F.D.P. hatte den Gesetzentwurf bereits gebilligt. Allerdings hatte sich die SPD dann gegen diesen Entwurf ausgesprochen, Herr Kollege Bachmaier. CDU/CSU und F.D.P. waren der Meinung, man sollte ein Untersuchungsausschussgesetz nicht gegen den Willen der stärksten Oppositionsfraktion beschließen. Selbstverständlich sind wir auch heute der Auffassung, dass ein Untersuchungsausschussgesetz nur mit Zustimmung der größten Oppositionsfraktion verabschiedet werden sollte. ({3}) Das parlamentarische Untersuchungsrecht nach Art. 44 ist nicht rechtlich-theoretisch, sondern politischpraktisch ein wesentliches Instrument der Opposition. Über viele Legislaturperioden hinweg ist immer wieder der Versuch unternommen worden, ein Untersuchungsausschussgesetz zu erarbeiten. Der Geschäftsordnungsausschuss, aber auch Untersuchungsausschüsse haben immer wieder einmal auf das Fehlen eines solchen Gesetzes hingewiesen. Gleichzeitig hat aber auch eine rege Untersuchungsausschusstätigkeit ohne Untersuchungsausschussgesetz stattgefunden. Ich weise darauf hin, dass derzeit der neu eingesetzte 33. Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages seine Arbeit aufgenommen hat. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie wir den Berichten der Untersuchungsausschüsse entnehmen können, haben diese ihre Aufgabe mit dem vorhandenen Instrumentarium eigentlich immer erfüllen können. ({4}) In aller Regel bestand eine weitgehende Einigkeit zwischen allen Fraktionen hinsichtlich der Sachverhaltsaufklärung. Die in den Medien so gerne herausgestellten Differenzen bezogen sich meistens auf die Bewertung des festgestellten Sachverhaltes. Wenn Untersuchungsausschüsse nach Meinung der jeweiligen Opposition nicht das erreicht haben, was sie vielleicht hätten erreichen sollen, dann lag es nach meiner Einschätzung eher am Zeitablauf als am Fehlen eines Untersuchungsausschussgesetzes. Wir müssen also ganz ernsthaft und ganz offen - dazu sind wir bereit- die Frage stellen, ob ein Untersuchungsausschussgesetz wirklich erforderlich ist. In der Vergangenheit war das Hauptklagelied der Opposition, dass die Termingestaltung im Ausschuss nicht ganz ihren Wünschen entsprochen habe - Kollege Bachmaier, ich komme auf Ihr Thema zurück -, wobei der Prozentsatz der Uneinigkeit, bezogen auf alle erfolgten Terminierungen, eigentlich immer äußerst gering war. Aber Streit dieser Art gibt es natürlich in allen parlamentarischen Gremien. Nach meiner Auffassung ist dies immer ein Streit im so genannten Innenverhältnis, nicht im Außenverhältnis. Also stellen wir uns doch die Frage, ob es auf Grund der jetzigen Regelung bei Untersuchungsausschüssen Probleme im Außenverhältnis gegeben hat. Nach meiner Auffassung hat es auch hier keine wesentlichen Probleme gegeben. Gerichtliche Auseinandersetzungen etwa mit Zeugen oder im Hinblick auf Beweismaterialien sind nicht einfach; aber es wird sie - unabhängig von der Existenz eines Untersuchungsausschussgesetzes - immer geben. ({5}) Dass es im Einzelfall Streit darüber gibt - den gibt es auch jetzt bereits wieder -, was noch zum Untersuchungsauftrag gehört und was nicht, würde nach meiner Einschätzung auch durch ein Untersuchungsausschussgesetz nicht vermieden werden. Fragen wir einmal danach, wo es in den vergangenen Jahren handfesten Streit zwischen Opposition und Regierungskoalition gegeben hat, meine Damen und Herren: Zu Zeiten des Flick-Ausschusses ging es um die Frage, ob durch das gesetzlich geregelte Steuergeheimnis geschützte Akten der Exekutive einem Untersuchungsausschuss auf dessen Verlangen vorzulegen sind. Darüber entbrannte damals ein großer Streit. Die Frage ist vom Bundesverfassungsgericht positiv entschieden worden mit der Maßgabe, im Bereich des Untersuchungsausschusses für den Schutz des Steuergeheimnisses zu sorgen. Auch dieser Rechtsstreit ist durch Rechtsprechung geklärt worden. ({6}) Auf Betreiben der SPD sind beim Bundesverfassungsgericht aus Anlass von zwei Untersuchungsausschüssen der beiden vergangenen Legislaturperioden Verfahren anhängig. Zum einen handelt es sich um einen Streit mit der damaligen Bundesregierung über die Herausgabe von Protokollen des Verwaltungsrates der Treuhandanstalt. Zum anderen ging es um die Frage Kollege Bachmaier hat es vorhin angesprochen -, ob die Mehrheit im Untersuchungsausschuss durchsetzen durfte, dass bei einem bestimmten Stand des Verfahrens ein Zwischenbericht erstellt wird, um Klarheit zu gewinnen, was noch geklärt werden muss. Diese beiden beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren wären ganz sicher auch bei Existenz eines Untersuchungsausschussgesetzes nicht vermieden worden. Nach meinem Kenntnisstand, meine Damen und Herren, ist beim Bundesverfassungsgericht auch immer noch ein Verfahren aus Schleswig-Holstein anhängig, das sich mit dem Status Betroffener und Zeugen vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss beschäftigt. Bereits aufgrund dieser Verfahren drängt sich auf zu sagen, dass dies vielleicht nicht die Zeit für eine Gesetzgebung im parlamentarischen Untersuchungsausschussrecht ist. Es gibt nach meiner Auffassung aber noch einen anderen Punkt, der mich skeptisch sein lässt, jetzt ein Untersuchungsausschussgesetz zu beschließen: Derzeit hat der möglicherweise bedeutendste Untersuchungsausschuss der letzten Jahre seine Arbeit begonnen. Ich habe Zweifel - diese sind sicherlich nicht ganz unberechtigt -, ob es gut wäre, während dieser Arbeit sozusagen die Spielregeln für diesen Ausschuss zu ändern. ({7}) - Ich habe ja gesagt, dass man sich diese Frage stellen und zumindest einmal abwägen muss, ob es sinnvoll ist, während eines laufenden Untersuchungsausschusses die Spielregeln auch für diesen Ausschuss zu verändern. ({8}) Die Frage muss man sich stellen, und sie sollte zumindest in den Beratungen ein Punkt der Abwägung sein. Lassen Sie mich zum Abschluss etwas zur Entstehung des parlamentarischen Untersuchungsrechtes in Deutschland sagen. Die am 18. Mai 1848 zusammengetretene verfassungsgebende Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche hat am 29. Mai 1848 in ihrer Geschäftsordnung das parlamentarische Untersuchungsrecht in nur einem einzigen Paragraphen verankert. ({9}) Auf dieser Grundlage wurde bereits am 6. Oktober 1848 ein Untersuchungsausschuss eingesetzt. Man kann also auch gerade angesichts der Tatsache, dass man vom schlanken Staat spricht - Herr Kollege Stadler, die F.D.P. spricht immer von dem schlanken Staat -, vielleicht mit weniger Gesetzen ganz gut zurechtkommen. Ich will aber ausdrücklich für meine Fraktion erklären, dass wir uns dem Beratungsverfahren überhaupt nicht in den Weg stellen wollen. ({10}) Wir sind ausdrücklich dafür, dass diese beiden Gesetzentwürfe überwiesen werden. Sie können ganz sicher sein, dass wir als CDU/CSU-Fraktion uns an den Beratungen sehr konstruktiv beteiligen werden. Wir werden dann sehen, ob wir zu einer gemeinsamen Auffassung in diesem Bereich kommen. Wir sind jedenfalls - das gilt für die CDU/CSU immer - zu konstruktiven Gesprächen und zur konstruktiven Mitarbeit bereit. Herzlichen Dank. Andreas Schmidt ({11}) ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einem Zitat des Kollegen Bachmaier anfangen. Er sprach davon, dass es Aufgabe dieses Ausschusses, für den wir jetzt die gesetzliche Grundlage schaffen, ist, „lästig“ zu werden. Ich denke, es ist eine der wesentlichen Aufgaben von Untersuchungsausschüssen, für die jeweiligen Regierungen lästig zu werden; denn viele Regierungen - das ist zwar nicht richtig; es ist aber der Fall - finden eine eingehende Kontrolle durch das Parlament durchaus lästig. Das heißt, wir müssen Regeln schaffen, die es uns und natürlich der Opposition ermöglichen - Untersuchungsausschüsse sind ja in der Vergangenheit im Wesentlichen auch Instrumente der Opposition gewesen und werden es auch bleiben -, der jeweiligen Regierung lästig zu werden. Herr Kollege Schmidt, ich verstehe nun gar nicht, dass Sie als ein Vertreter der Opposition irgendetwas dagegen haben können, dass wir Ihnen jetzt auch für die Arbeit dieses Untersuchungsausschusses, über den alle Welt redet, zusätzliche Rechte geben. Sie können ja darüber streiten, ob es genug Rechte sind. Über diesen Punkt können wir uns in den Ausschüssen unterhalten. Aber dass Sie etwas dagegen haben, dass wir jetzt eine gesetzliche Grundlage schaffen, mit der wir Ihnen zusätzliche Rechte zu den schon bestehenden Rechten aufgrund der IPA-Regeln geben, ist für mich nur schwer nachvollziehbar. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Wochen und Monaten Diskussionen über Befugnisse von Untersuchungsausschüssen in einer Intensität gehabt, wie das seit Jahrzehnten nicht der Fall gewesen ist. Darf ein Untersuchungsausschuss beispielsweise einen Zeugen zwingen? Wenn ja, wie? Wer hat das zu bestimmen und wie weit kann das gehen? Wer in welcher Reihenfolge darf sein Fragerecht ausüben? Eine ganz wesentliche Frage, Herr Kollege Schmidt, über die wir uns im nächsten Obleutegespräch und in den nächsten Sitzungen des Untersuchungsausschusses verständigen und abstimmen müssen, ist die Frage: In welcher Reihenfolge werden Zeugen gehört? In den IPA-Regeln findet sich dazu nichts. Müssen Sie als Oppositionfraktion nicht ein wesentliches Interesse daran haben - ich hätte an Ihrer Stelle ein Interesse daran -, den einen oder anderen Zeugen vor Ablauf von einem oder zwei Jahren zu hören? Auf all diese Fragen soll das Gesetz, das wir jetzt vorlegen, Auskunft geben. Es ist richtig, dass wir diesem Untersuchungsausschuss, über den wir alle reden, der für dieses Land eine große Bedeutung hat und auf den sich viele Hoffnungen richten, nun vernünftige gesetzliche Grundregeln geben. Dabei ist eine zentrale Frage, welche Art von Beweisaufnahme ein Untersuchungsausschuss durchführen kann. Wichtigstes Mittel der Beweisaufnahme ist in allen Verfahren - in Gerichtsverfahren wie in Verfahren vor Untersuchungsausschüssen - das Recht, Zeugen zu hören. Es war schon immer klar, dass Zeugen vor dem Untersuchungsausschuss erscheinen müssen. Sie müssen aber auch wahrheitsgemäß und vollständig aussagen. Um dieses auf die gegenwärtige Situation zu übertragen: Der Abgeordnete Dr. Helmut Kohl ist verpflichtet natürlich auch heute schon -, vor einem solchen Untersuchungsausschuss vollständig und umfassend auszusagen. Wenn er das nicht tut, stellt sich die Frage: Was machen wir in diesem Fall? Dafür soll es eine Regel geben, die wir festlegen wollen und die besagt, dass wir einen solchen Zeugen - und zwar jeden Zeugen; - alle Zeugen sind gleich - auch mit den im Strafprozess üblichen Mitteln zu Aussagen veranlassen können, es sei denn, es gibt ein Aussage- oder ein Zeugnisverweigerungsrecht. Es gibt natürlich die Mittel des Zwangsgeldes und der Beugehaft. Die Frage aber ist: Wer verhängt dies? Entscheidet darüber der Ausschuss? Wir wollen eine vernünftige gesetzliche Neuregelung, die mit der von Ihnen vorgeschlagenen Regelung ähnlich oder identisch ist. Demnach soll dies - nicht mehr vom Richter am Amtsgericht Bonn bzw. vom Richter am Amtsgericht BerlinMoabit - das ist hier gleich um die Ecke - entschieden werden, sondern vom Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof. Sollte dieser Richter möglicherweise eine problematische Entscheidung fällen, wird es ein Rechtsmittel dagegen geben. Der Bundesgerichtshof, in dieser Frage das höchste deutsche Gericht, hätte also über einen die gesamte Öffentlichkeit interessierenden Sachverhalt zu entscheiden. Eine weitere Frage, die uns unmittelbar beschäftigt, ist: In welcher Reihenfolge sollen die Zeugen gehört werden? Wird der Zeuge Kohl, wie von der CDU in der Öffentlichkeit verlangt, im Januar, Februar oder März 2000 oder aber erst im Jahr 2001 oder 2002 gehört? Dies zu entscheiden, ist ganz wesentlich - nicht nur für die Öffentlichkeit, sondern für alle, die an der Wahrheitsfindung interessiert sind. Wir haben eine Regelung vorgeschlagen, die Ihnen sehr entgegenkäme. Danach sollen, wenn sich der Ausschuss nicht einigt, die Regeln der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages gelten. Das heißt - das können Sie in der Kommentierung nachlesen -: Auch Sie als Oppositionsfraktionen haben die Möglichkeit, darauf zu bestehen, dass die von Ihnen benannten Zeugen gemäß der Geschäftsordnung in angemessener Reihenfolge gehört werden. Das ist ein Recht, das wir in der Vergangenheit als Oppositionsmitglieder in den Untersuchungsausschüssen sehr gerne gehabt hätten. Sie sollten uns auf die Schulter klopfen und sagen: Prima, dass sowohl die SPD als auch Bündnis 90/Die Grünen nicht vergessen haben, welche Probleme sie in der Vergangenheit hatten, und sich nicht auf ihren Koalitionssesseln ausruhen, sondern eine Regelung schaffen wollen, die gerecht und für OppositionsfraktioAndreas Schmidt ({0}) nen akzeptabel ist und die notwendigen Grundlagen schafft. ({1}) - Wir denken an die Zukunft der F.D.P., solange es sie noch gibt. Wir denken auch an die Interessen der CDU, die immer vor sich herträgt, eine rückhaltlose, umfassende Aufklärung auch dieser Affäre zu erreichen. Wenn wir dann den Zeugen vor dem Untersuchungsausschuss haben, muss entschieden werden, ob er ein Auskunfts- oder Zeugnisverweigerungsrecht hat. Ganz Deutschland redet darüber. Was kann man also dagegen haben, wenn wir eine gesetzliche Regelung schaffen wollen, wie, in welcher Form und von wem das entschieden wird? Ich denke daher, die CDU wäre gut beraten, sich unseren Anträgen anzuschließen, den Gesetzentwurf wohlwollend mit uns zu beraten und ihm so, wie wir ihn vorgelegt haben, zuzustimmen. Herr Kollege Schmidt, Sie können doch nicht immer sagen, darüber habe die Rechtsprechung in der Zwischenzeit entschieden. Zu Recht macht das Bundesverfassungsgericht dem Deutschen Bundestag immer wieder den Vorwurf, dass er nicht in der Lage sei, seine Arbeit zu leisten, sich nämlich über die gesetzlichen Grundlagen politisch auseinander zu setzen und dann zu einer Regelung zu kommen, und die eigentliche politische Tätigkeit, nämlich die Entscheidungen, dem Bundesverfassungsgericht aufdrückt. So ist es in der Vergangenheit auch gewesen, als es darum ging, welche Akten wer zur Verfügung zu stellen hat. Wir wollen regeln, dass es grundsätzlich die Verpflichtung der Bundesbehörden, Staatsanwaltschaften und Gerichte ist - das steht sogar im Grundgesetz -, Akten zur Verfügung zu stellen. Wir wollen auch regeln, wie es ist, wenn die Bundesregierung oder ein einzelnes Ministerium die Akten nicht zur Verfügung stellt. Das ist kein theoretischer Fall, sondern war in der Vergangenheit mehrfach ein großes Problem, über das sich der Deutsche Bundestag und die Öffentlichkeit intensiv auseinander gesetzt und mit dem sich auch die Gerichte befasst haben. Jetzt soll eine Regelung getroffen werden, nach der grundsätzlich eine Verpflichtung besteht, es sei denn, der jeweilige Kernbereich des aktuellen politischen Handelns der Bundesregierung ist betroffen. Diese Formel ist einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entnommen. Auch dies ist ein trauriges Anzeichen dafür, dass wieder das Gericht entscheiden musste und nicht der Deutsche Bundestag in seiner Souveränität entschieden hat. Für den Fall, dass wir uns darüber im Ausschuss nicht einig werden, was sicher auch in Zukunft in wichtigen zentralen Fragen der Fall sein wird, oder dass sich die Regierung weigert, haben wir ein Gremium geschaffen, das darüber entscheidet. Wir haben eine klare Regelung, dass das Bundesverfassungsgericht in einem solchen Streit das einzig richtige Verfassungsorgan ist, eine so wichtige Frage zu entscheiden, wenn die Legislative in die Rechte der Exekutive, möglicherweise in den Geschäftsbereich der Exekutive, eingreift. Das ist eine durchaus richtige und vernünftige Regelung, die uns vielleicht lange Auseinandersetzungen erspart, weil wir nach diesem Gesetz eine schnelle Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes herbeiführen können. Lassen Sie mich den letzten Punkt nennen. Wir haben eine grundsätzliche Herausgabepflicht aller Stellen und der Untersuchungsausschuss hat die Möglichkeit zu beschlagnahmen- zum Beispiel bei Thyssen, um bei einem aktuellen Fall zu bleiben -, Akten aus anderen Archiven herbeizuziehen oder sogar diese durch Beschlagnahmeanordnungen dem Untersuchungsausschuss vorlegen zu lassen. Der Untersuchungsausschuss soll das entscheiden, aber ausführen und letztlich entscheiden soll das wieder ein Richter, nämlich der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof. Das ist eine durchaus faire Entscheidung. Gerade die PDS, die gestern noch Probleme in dieser Hinsicht hatte, wird ein großes Interesse daran haben müssen, dass hier Rechte geschaffen werden, um auch bei Privaten, nicht nur bei Behörden, an Akten herankommen zu können, um sich die notwendigen Beweismittel beschaffen zu können, so wie es heute bei Staatsanwaltschaften und Gerichten der Fall ist. Ein Untersuchungsausschuss soll in seinen rechtlichen Möglichkeiten nicht schlechter gestellt werden als zum Beispiel ein Amtsgericht in Moabit oder anderswo. Ich denke, das ist ein umfassendes, ein richtiges, ein gutes Gesetz, das von der Opposition mitgetragen werden sollte, weil wir das eingelöst haben, was wir früher als Opposition zugesagt, versprochen und auf den Weg gebracht haben. Wir lassen wieder einmal unsere früheren Versprechungen als Opposition nicht rechts oder links liegen, nur weil wir jetzt eine Regierungskoalition bilden. Lassen Sie uns das Gesetz für die nächsten Legislaturperioden des Deutschen Bundestages erlassen und das Gesetz praktizieren. Dann kann man hin und wieder überprüfen, ob sich die eine oder andere Regelung bewährt hat oder ob nachgebessert werden muss. Ich glaube, mit der Überweisung in die Ausschüsse sind wir auf dem richtigen Wege. Ich hoffe, dass wir in wenigen Wochen dieses Gesetz in zweiter und dritter Lesung verabschieden, damit der 1. Untersuchungsausschuss des 14. Deutschen Bundestages sehr bald nach diesen Regeln vorgehen kann. Danke. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile jetzt der Kollegin Dr. Evelyn Kenzler von der PDS-Fraktion das Wort.

Dr. Evelyn Kenzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003159, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Spendenskandal der CDU wird nicht die letzte Affäre sein, die die Einsetzung eines solchen Arbeitsgremiums wie des Untersuchungsausschusses notwendig macht. Eine fundierte Rechtsgrundlage für die Tätigkeit solcher Ausschüsse auf Bundesebene ist deshalb längst überfällig. Es ist einfach schlimm, dass es der Bundestag nach so vielen Jahren immer noch nicht fertig gebracht hat, ein Ausführungsgesetz zu Art. 44 GG zu beschließen. Der wievielte Anlauf ist das eigentlich? Wenn ich mich nicht verzählt habe, ist es bereits der siebte. Deshalb blieb uns auch für diesen Untersuchungsausschuss nichts weiter übrig, als auf die so genannten IPA-Regeln aus dem Jahre 1969 zurückzugreifen. Aus diesem Grunde bin ich sehr für die Verabschiedung eines solchen Gesetzes. Zweifel überfallen mich jedoch angesichts des Zeitpunktes. Genau in dem Augenblick, in dem der Parteispendenausschuss nach 30 Jahre alten Verfahrensregeln ohne Gesetzeskraft seine Arbeit aufnimmt, liegen Entwürfe der Koalitionsparteien und der F.D.P. auf dem Tisch. ({0}) - Gute Vorsicht ist manchmal angebracht. - Wäre es nicht besser, nach Beendigung der Arbeit des derzeitigen Spendenausschusses gewissermaßen in Anwendung der gemachten Erfahrungen ein solches Gesetz zu formulieren? Denn eines scheint mir schon jetzt klar zu sein. So wie sich die Spendenaffäre der CDU von Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde zuspitzt und immer erschreckendere, ja tragische Ausmaße annimmt, wird der Ausschuss einer Reihe neuer verfahrensrechtlicher Erkenntnisse bringen. Wichtig ist, dass Untersuchungsausschüsse kleine arbeitsfähige Gremien bleiben, in denen der Minderheitenschutz einen besonderen Stellenwert hat. Das Minderheitenquorum von einem Viertel wurde bekanntlich eingeführt, um den Oppositionsparteien auch gegen die parlamentarische Mehrheit die Einsetzung eines Ausschusses und dann die Erhebung von Beweisen zu ermöglichen. Auch die beiden vorliegenden Entwürfe enthalten wiederum diese Minderheitenregel. Beweise sind danach dann zu erheben, wenn sie von einem Viertel der Mitglieder des Untersuchungsausschusses beantragt sind, es sei denn, sie sind unzulässig oder unerreichbar. Ich halte diese Regelung jedoch für problematisch. Sie bedeutet, dass kleinere Parteien, das heißt: neben der PDS auch die F.D.P. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, mit weniger als einem Viertel der Ausschussmitglieder grundsätzlich auf das Wohlwollen größerer Parteien angewiesen sind, die ihren Anträgen beitreten müssen. Hierdurch entstehen parteipolitische Abhängigkeiten. Daran ändert auch nichts, dass solche Anträge danach im Ausschuss zur Abstimmung gestellt werden. Auch hier ist dann nicht zu erwarten, dass sich noch die notwendige Stimmenmehrheit findet. Meine ersten Erfahrungen in der gestrigen Arbeitssitzung sind leider ein schlagender Beweis dafür. Alle Beweisanträge meiner Fraktion wurden durch die Bank abgelehnt, nachdem sich, für mich leider erwartungsgemäß, keine andere Partei bereit gefunden hat, zumindest einigen unserer Anträge beizutreten. Darunter waren auch Anträge, die mit den gleich danach angenommenen Anträgen der Koalitionsfraktionen inhaltlich übereinstimmen. ({1}) Das ist mit Sachargumenten nicht mehr zu erklären und bedeutet im Ergebnis, dass ich zwar für meine Fraktion Anträge stellen kann, diese jedoch von vornherein keine Realisierungschance haben, einfach weil sie das Etikett „PDS“ tragen. Eine Sachprüfung findet gar nicht erst statt. Damit wird meine Fraktion insoweit von einem eigenständigen Beitrag zum Untersuchungsauftrag ausgeschlossen. Davor schützt uns auch das Minderheitenquorum nicht. Nebenbei gesagt, das kann auch jederzeit andere kleine Parteien treffen. Niemand sollte sich hier zu sicher sein. Hiergegen kann auch nicht das Argument des parlamentarischen Parteienproporzes ins Feld geführt werden. Gerade wegen der besonderen Funktion von Untersuchungsausschüssen wurde dieser Proporzgrundsatz bewusst auf diesen Fall nicht angewandt und die Minderheitenregelung eingeführt. Um eine parteipolitische Instrumentalisierung zu verhindern und eine nur an sachlichen Gesichtspunkten ausgerichtete Aufklärungsarbeit zu ermöglichen, sollte der Schritt meines Erachtens konsequent bis zum Ende getan werden. Parteiendiskriminierung hilft nicht, die Ausschussarbeit voranzubringen. Ich plädiere deshalb bei der Beschlussfassung über die Beweiserhebung für den Wegfall der Ein-Viertel-Regelung. Stattdessen sollten Beweise dann erhoben werden, wenn sie von einer Fraktion beantragt werden und nicht unzulässig oder unerreichbar sind. Ich werde mich für eine entsprechende parlamentarische Initiative in meiner Fraktion einsetzen. Danke schön. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Dirk Manzewski, SPD-Fraktion, das Wort.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung über zwei Gesetzentwürfe, die ein gemeinsames Ziel haben, und zwar eine Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse haben in den letzten Jahren leider Konjunktur. Untersuchungsausschüsse wie zum Beispiel derjenige zur Flick-Spendenaffäre haben die politische Landschaft dabei nachhaltig geprägt. Tatsächlich verändert haben sie diese, wie die jüngste Vergangenheit und der aktuelle Untersuchungsausschuss zeigen, offenbar aber nicht immer. Der aktuelle Untersuchungsausschuss zeigt aber auch, wie wichtig Untersuchungsausschüsse gerade als wirkungsvollste Möglichkeit der demokratischen Kontrolle des Parlaments für dessen zentrale Aufgabe sind. UnabDr. Evelyn Kenzler hängig von Regierung, Behörden und Gerichten kann das Parlament hierdurch selbstständig mit hoheitlichen Mitteln eine Angelegenheit prüfen, die es in Erfüllung seines demokratischen Auftrags für aufklärungsbedürftig hält. Aufklärung mit Augenmaß, Seriosität und auch ein wenig Respekt sind dabei gefragt, denn, wie kürzlich eine Berliner Zeitung zutreffend schrieb: Nur ein demokratisches System hat die Kraft, seine Schwächen und Verfehlungen aufzuklären und die zur Verantwortung zu ziehen, die gegen die demokratischen Grundsätze verstoßen haben. Dieses Recht, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird derzeit allein auf der Grundlage von Art. 44 GG in Verbindung mit der Strafprozessordnung sowie der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages und dessen besonderen Geschäftsordnungsvorschriften wahrgenommen. Einige meinen nun, dass deshalb kein Untersuchungsausschussgesetz notwendig sei. Ich - ich glaube, ich spreche damit für die Mehrheit hier im Haus sehe das jedoch völlig anders. So eindeutig nämlich die bestehenden Regelungsinhalte und Zwecke auf den ersten Blick erscheinen, so zahlreich sind auch die Probleme, die hierdurch in der Praxis entstehen. Der Grund liegt einfach darin, dass Art. 44 GG das parlamentarische Untersuchungsrecht nur in groben Zügen regelt und sich gegenüber den Einzelheiten der Einsetzung und des Verfahrens der Untersuchungsausschüsse sehr zurückhält. Hinzu kommt, dass Art. 44 Abs. 2 des Grundgesetzes offen lässt, welche Strafprozessregelungen mit welchem Inhalt im Untersuchungsverfahren sinngemäß gelten sollen. Problematisch ist auch, dass sich parlamentarische und strafprozessuale Untersuchungen so grundlegend unterscheiden, dass nicht deutlich ist, was unter einer sinngemäßen Anwendung, wie es in Art. 44 Abs. 2 des Grundgesetzes zur Strafprozessordnung heißt, genau zu verstehen ist. ({0}) Zudem haben zum Beispiel die besonderen Geschäftsordnungsvorschriften keine verbindliche Wirkung, sondern müssen für jedes Untersuchungsverfahren erst gesondert beschlossen werden. Das zeigt, dass in diesem Zusammenhang eine große Rechtsunsicherheit herrscht, die es abzubauen gilt. Die Anzahl der offenen Probleme hat sich in den vergangenen Jahren dabei eher vergrößert als verkleinert. Durch die Fülle juristischer Fragestellungen und den zunehmenden Rückgriff auf die Rechtsprechung zu Untersuchungsverfahren wird nicht nur die Arbeitskraft jedes Ausschusses in erheblichem Umfang gebunden. Insbesondere die Ausweitung der Untersuchungen auf nichtstaatliche Bereiche und die zunehmende Einbindung privater Unternehmer oder Bürger führt immer wieder zu neuen Problemstellungen und wirft immer wieder die Frage auf, wo eigentlich die Grenzen der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse liegen. Gerade wenn es um die Rechte und Pflichten von parlamentsexternen Dritten geht, geht es eigentlich weniger um politische, sondern mehr um rechtliche Fragen. Diese haben aber im Streitfall die Gerichte zu entscheiden, was Untersuchungsverfahren durchaus blockieren kann. Mehrfach ist deshalb in der Vergangenheit versucht worden, das Recht der Untersuchungsausschüsse durch ein eigenes Gesetz zu regeln. - Die Kollegen haben das im Grunde genommen alle schon angesprochen. - Entsprechende Ansätze in den vergangenen Legislaturperioden blieben leider erfolglos. Die Schwierigkeiten sind vor allem darin zu sehen, dass ein Untersuchungsverfahren zu viele Interessen berührt, die einander oft diametral entgegenstehen. Hinzu kommt der Interessenstreit über die Kompetenzen der Untersuchungsausschüsse und die Ausgestaltung des Verfahrens. Da gerade in Untersuchungsausschüssen das Spannungsverhältnis zwischen der die Regierung tragenden Parlamentsmehrheit und der Opposition, die als Minderheit einen Untersuchungsausschuss beantragen kann, besonders deutlich zum Ausdruck kommt, sind Streitigkeiten über die Rechte und Pflichten des Untersuchungsausschusses, seiner Mitglieder und Organe unausweichlich. Auch wenn die Minderheitenrechte in der Vergangenheit durch die Rechtsprechung gesichert gewesen sind, kann es einfach nicht sein, dass die Ausgestaltung eines verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechts des Parlaments hiervon in der jetzigen Form abhängig ist. Nicht unbedenklich ist zudem die Rechtsunsicherheit, die in vielen Bereichen bei unterschiedlichen Auffassungen von Rechtsprechung und Literatur entstehen kann. Dem kann eigentlich nur durch eine gesetzliche Regelung abgeholfen werden. Insoweit begrüße ich die Intention beider Gesetzentwürfe, Herr Stadler. Mit dem Gesetzentwurf der Regierungskoalition wollen wir die Untersuchungsausschussverfahren des Deutschen Bundestages auf eine rechtsstaatlich sichere Basis stellen und - das ist wichtig - die Effizienz des parlamentarischen Untersuchungsrechts stärken. Gleiches beabsichtigt der Entwurf der F.D.P. Die Grundlage hierfür sollen jeweils die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze sowie die sich bereits bewährten praktizierten Regelungen der besonderen Geschäftsordnungsvorschriften, die sich bereits bewährt haben, bilden. Das ist nur sachgerecht und folgerichtig. Ziel ist es, die allgemein anerkannten Begrenzungen des Untersuchungsrechts des Bundestages in einem Gesetzentwurf festzuschreiben. Ferner sollen die Grundregeln der Zusammensetzung, des Vorsitzes, der Einberufung und der Beschlussfähigkeit des Untersuchungsausschusses bestimmt werden. Die Rechte der Minderheiten beabsichtigen wir nach Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts zu schützen. Auskunftspflichtigen Personen werden wir den rechtsstaatlich gebotenen Schutz sichern. Geheimschutz und Amtsverschwiegenheit werden ebenso geregelt wie die Zuständigkeit der Gerichte für die Verhängung etwaiger Zwangsmittel. Der Kollege Ströbele hat das zutreffend angesprochen. Beide Gesetzentwürfe haben sich im Wesentlichen hieran orientiert. Inwieweit dem einen oder anderen Gesetzentwurf nun hinsichtlich Einzelheiten der Vorzug zu geben ist, werden die fachlichen Diskussionen in der nächsten Zeit zeigen. Ich freue mich jedenfalls, dass offenbar ein längst überfälliger Schritt in die richtige Richtung getan worden ist und in Kürze ein Gesetz die Arbeit von Untersuchungsausschüssen wesentlich erleichtern wird. Ich danke Ihnen. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/2363 und 14/2365 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage auf Drucksache 14/2363 zusätzlich an den Innenausschuss überwiesen werden soll. Die Vorlage auf Drucksache 14/2518 soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 14/2363 überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 1998 und Stellungnahme der Bundesregierung - Drucksachen 14/438, 14/829 Nr. 1, 14/1349 Berichterstattung: Abgeordnete Bodo Seidenthal Dr. Gerhard Friedrich ({1}) Cornelia Pieper Angela Marquardt Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Da die als erste vorgesehene Rednerin noch nicht hier ist, erteile ich das Wort dem Kollegen Erich Maaß, CDU/CSU-Fraktion.

Erich Maaß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001402, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich stehe der Frau Ministerin gerne zur Seite und beginne mit der Aussprache über den vorliegenden Bericht. Wir haben heute über die technologische Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1998 zu sprechen. Zwischenzeitlich liegt uns ebenfalls der Bericht für 1999 vor. Ich glaube, es besteht Einvernehmen darüber, dass ich hier keinen Statusbericht abgebe, sondern versuche, anhand dieser beiden Berichte aufzuzeigen, wie eine künftige technologische und forschungspolitische Entwicklung auszusehen hat. Wir sind uns in der Bewertung der Fakten, so glaube ich, interfraktionell einig. Die positiven Seiten des vorliegenden Berichtes zeigen uns, dass es in der Bevölkerung einen sehr hohen Bildungsstand gibt und dass wir im Innovationsprozess hoch qualifizierte Arbeitskräfte mit Schlüsselqualifikationen haben. Wir haben eine exzellente Grundlagenforschung, zunehmend beachtete Ergebnisse der Wissenschaft sowie eine hoch differenzierte Forschungslandschaft und eine forschungsintensive Wirtschaft. - Das sind die positiven Seiten. Es gibt jedoch auch negative Seiten. Diese sollten uns zum Handeln Anlass geben. So haben wir beispielsweise, um den Wandel und den Sprung in die Wissensgesellschaft erfolgreich zu gestalten, einen erheblichen Reformbedarf. Diesen müssen wir einfordern und wir müssen die entsprechenden Weichenstellungen vornehmen. International gesehen zeigt sich deutlich, dass es im wissensintensiven Dienstleistungsbereich bei uns innovative Schwächen gibt. Wir müssen weiter feststellen, dass sich gerade im naturwissenschaftlichen Bereich ein erster Nachwuchsmangel abzeichnet. Meiner Meinung nach wird in dem vorliegenden Bericht etwas zu defensiv argumentiert, wenn formuliert wird, dass wir zu langsam auf die technologischen Herausforderungen reagieren. Lieber wäre mir, wenn wir offensiv argumentieren würden, wenn wir formulieren würden, dass wir agieren wollen - die Bereitschaft, agieren zu wollen, müsste mehr zum Ausdruck kommen und dass wir den notwendigen Strukturwandel mit hoher Flexibilität in Angriff nehmen wollen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aus diesem Bericht ein kurzes Zitat anführen: Zur Stärkung des FuE-Potenzials bei Wirtschaft und Staat muss das Verhältnis zwischen Grundlagenforschung, angewandter Forschung und Marktanwendung durchlässiger gestaltet werden. Dies ist ein Dauerprozess, der uns schon seit mehreren Jahren beschäftigt. Wir mahnen - egal, wer gerade regiert - schon seit langem die Reform des öffentlichen Dienstrechtes an. - Das sind die positiven und die negativen Seiten. Jetzt müssten wir eigentlich dazu übergehen, die Frage, wie wir in den nächsten Jahren strategisch weiterarbeiten wollen, zu beantworten. Ich freue mich natürlich, dass in der letzten Legislaturperiode unter der Regierung von CDU/CSU und F.D.P. auf diesem Gebiet gute Voraussetzungen geschaffen worden sind. Wenn ich zum Beispiel an das Thema Biotechnologie denke, stelle ich mit Genugtuung fest, dass Frau Bulmahn auf diesen erfolgreichen Ergebnissen weiter aufbauen kann. Ebenso wurden in anderen Bereichen positive Weichenstellungen übernommen. Wir stellen darüber hinaus fest, dass neue Akzente gesetzt worden sind. Auf diese möchte ich kurz eingehen; denn sie vermitteln nicht das, was ich mir unter einer zukunftsorientierten Forschungs- und TechnologieDirk Manzewski politik vorstelle. Ich halte es für einen misslichen Umstand - ich begrüße die Frau Ministerin und hoffe, dass sie damit einverstanden ist, dass ich vor ihr reden darf -, dass es zu einer Ressorttrennung gekommen ist, dass also mittlerweile wesentliche Elemente der Forschungsund Technologiepolitik im Wirtschaftsministerium und die übrigen Bereiche bei der Forschungsministerin angesiedelt worden sind. ({0}) Ich hätte nichts dagegen, wenn dafür eine koordinierende Hand vorhanden wäre. Aber das ist leider nicht der Fall. Im Verlauf des letzten Jahres war zu erkennen, dass hier zwei Ressorts nebeneinanderher arbeiten. Sie reden zwar mit einer Sprache, aber mit zwei Zungen. Ich stelle fest: Am 11. Januar dieses Jahres ging der Bundesminister für Wirtschaft an die Öffentlichkeit und präsentierte seinen Bericht. Am 17. Januar ging Frau Bulmahn an die Öffentlichkeit und präsentierte ihren Bericht. Wenn ich mir beide Berichte anschaue, so stelle ich fest: Hier fehlen die Klammer, das Zusammenführen und das einheitliche Argumentieren nach außen. Meine Damen und Herren, wer vor diesem Hintergrund von einer R- und D-Politik aus einem Guss spricht, dem muss ich leider sagen: Das ist nicht der Fall. Was hat das für Konsequenzen? Durch diese Teilung können in diesen beiden Bereichen natürlich Ressortegoismen fröhliche Urständ feiern. Das halte ich für eine missliche Situation. Hier mahne ich nur einmal etwas an, was in den vergangenen Jahren immer Konsens war. Wir haben ja auch unter der alten Regierung das Problem gehabt, dass sich Ressortegoismen ausgeprägt hatten. Deshalb haben wir gesagt, es muss gebündelt und zusammengefasst werden. Deshalb wurde, auch mit Ihrer Unterstützung, der Technologierat beim Bundeskanzler eingerichtet. Im Technologierat beim Bundeskanzler haben wir Wissenschaft, Wirtschaft, Forschung und Gewerkschaften zusammengeführt. Wir haben gesagt: Liebe Leute, lasst uns eine Bestandsaufnahme machen. Lasst uns bitte überlegen, wo wir hinmarschieren wollen, wo die Zukunftsfelder sind, auf die wir uns verstärkt ausrichten müssen, die uns dann auch die Möglichkeit geben, künftig mit einem entsprechenden Wirtschaftswachstum das zurückzuholen, was wir vorweg in Wissenschaft und Forschung investiert haben. Das war eine gute Sache. Um diese leidigen Ressortegoismen auszuschalten, mahne ich hier an, dass wir auf ein derartiges Instrument hinarbeiten. Ein weiterer Punkt, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wenn ich mir den Bericht von Frau Bulmahn angucke, so stelle ich fest: Wir haben uns immer um Geld gestritten. Jetzt wollen wir uns nicht weiter streiten, ob es ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger sein darf. Aber wenn ich sehe, dass Geld allein der Schlüssel zum Erfolg sein soll, dann beschleicht mich schon ein bisschen Unwohlsein. Ich gewinne hier den Eindruck, dass nun so verfahren werden soll: Jetzt haben wir Geld und machen Programme und diese helfen uns aus dem Tal heraus. - Das ist leider nicht der Fall. Wir haben schon in der letzten Legislaturperiode versuchen müssen, das ökonomische Prinzip mit weniger Geld zum Tragen zu bringen. Wir mussten uns fragen: Wie können wir tatsächlich ein Optimum an Erfolg erzielen? BioRegio, das nur als Beispiel, ist hervorragend gelaufen. Im Übrigen: Wenn ich mir den Haushalt - Drucksache 14/1400 Seite 56 - und hier die Ausgaben des Bundes für Bildung, Wissenschaft und Forschung angucke und die Jahre 1999 und 2000 vergleiche, so stelle ich fest, dass wir dort keine steigenden, sondern eher sinkende Raten haben. Das muss man bitte einmal zur Kenntnis nehmen. Meine Damen und Herren, Programme sind eine wunderschöne Sache. Ich stelle fest: Wir haben 800 Programme des Staates, Bund und Länder zusammen genommen, für den Bereich der Wirtschaft. Allein was die Projektverwaltung angeht, haben wir 2 500 Mitarbeiter in der zivilen Forschungsförderung des Bundes. Das ist eine Sache, die wir immer fraktionsübergreifend kritisiert haben. Meine Damen und Herren, im Jahre 1999 gab es acht neue Programme. Wir bekommen wunderschöne Hochglanzbroschüren präsentiert, alles prima und hervorragend. Leider ist der Bundeswirtschaftsminister nicht da, dennoch: Wenn er in dieser Legislaturperiode so weiter macht, wird er in die Geschichte der 14. Legislaturperiode als der Broschürenminister eingehen. Meine Damen und Herren, so etwas sollten wir uns künftig nicht erlauben, wenn wir Folgendes wissen: dass diese überbordende Bürokratie bei Gebern und Nehmern zirka 20 Prozent der Mittel für Förderverwaltung bindet. Wir haben zu wenig Geld, als dass wir hier weiter Nebenkriegsschauplätze finanzieren könnten. Meine Damen und Herren, ich darf daran erinnern, dass wir der Biotechnologie mit knappem Geld zum Durchbruch verholfen haben. Das können die Sozialdemokraten auch! Ich bin nun schon lange genug im Geschäft und rufe ins Gedächnis, dass 1981 die damalige SPD-Regierung im Einvernehmen mit der CDU das Programm „Anwendung der Mikroelektronik“, aufgelegt hat, mit dem wir mit wenig Geld eine wahnsinnige Breitenwirkung erzielt haben. Meine Damen und Herren, besinnen Sie sich auf diese Vorzüge, die Sie schon vor fast 20 Jahren entwickelt haben. Leider ist davon heute kaum noch etwas festzustellen.Wir haben die Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes durchgeführt; wir haben die Liberalisierung des Energiemarktes durchgeführt.Und wo, meine Damen und Herren, sind die Ansätze der jetzigen rotgrünen Regierung auf diesem Sektor? Übrigens: Diese Liberalisierungen haben Wettbewerb und ein Zurückdrängen des Staates gebracht. Sie haben dazu geführt, dass der Bürger seinen Profit daraus zieht. Und was ist im letzten Jahr passiert? Die Rahmenbedingungen haben sich weiterhin verschlechtert. Scheinselbstständigkeit, 630-DM-Gesetz und ein kompliziertes Steuersystem, sprich Ökosteuer, haben zur Verschlechterung der Rahmenbedingungen beigetragen. Am Rande möchte ich noch kurz erwähnen: Im Haushaltssanierungsgesetz, das Rot-Grün letztes Jahr beschlossen hat, sind die Patentgebühren um 15 Prozent angehoben worden. All dies sind nur Kleinigkeiten; aber Erich Maaß ({1}) damit werden doch immer mehr Bürokratie, immer mehr Staat und immer mehr Reglementierung geschaffen, statt den gegenteiligen Weg einzuschlagen und mehr Freiheit zu schaffen. ({2}) Lassen Sie mich zum Schluss noch auf folgenden Punkt eingehen. Wir haben nichts gegen Strukturveränderungen. Wir wollen diese unterstützen und sind bereit, auch unbequeme Wege zu gehen. Nur darf man solche Strukturveränderungen nicht durchführen wie der Elefant im Porzellanladen. Ich gehe hier auf die Themen GMD und Fraunhofer-Gesellschaft ein. Sie wissen ganz genau, dass wir die Wissenschaftsklientel schon seit Jahren auffordern, sich einer Evaluierung zu stellen. Wir sagen ihnen: Ihr müsst bereit sein, euch permanent in Frage zu stellen. Mittlerweile sind sie dazu bereit und machen es. Sie wissen, welches Problem es war, im Bereich der Grundlagenforschung die Bereitschaft zu erzeugen, marktwirtschaftliche Akzente zu übernehmen. Mittlerweile hat der Wissenschaftsrat evaluiert und die Gutachten liegen vor. Um diese Tatsache schert sich jedoch niemand von der Bundesregierung. Es wird einfach ein System zerschlagen und gesagt, man wolle eine neue Struktur bilden. Die Konsequenz - und damit das Problem - wird sichtbar: In der „Computer Zeitung“ vom 23. Dezember kann man lesen: „Forschungsfusion wird im neuen Jahr zur Kanzlersache“. Sie machen eine Angelegenheit zur Kanzlersache, nachdem das Porzellan kaputt ist. Hier zeigt sich klar, dass sich zwei Fronten gegenüberstehen: Frau Bulmahn und der Wirtschaftsstaatssekretär Tacke. Notwendig wären ein Zusammenführen und Zusammen-Agieren und nicht ein Gegeneinander-Arbeiten. Meine Redezeit geht langsam zu Ende. ({3}) - Warten wir ab, mein lieber Bodo Seidenthal. Wir sind nicht schlechter geworden, ich glaube, wir sind relativ gut geblieben. Doch die anderen Länder sind besser geworden. Wenn wir die Voraussetzungen schaffen wollen, um im Bereich Forschungs- und Wirtschaftspolitik Leistungsfähigkeit in das nächste Jahrtausend zu bringen, müssen wir wirklich beherzigen: weniger Staat, weniger Dirigismus und mehr Freiräume im privaten Bereich. Erdrückt nicht die Mittelständler, sondern verschafft ihnen die Möglichkeit, sich zu entwickeln! Wenn wir das beherzigen, bin ich nicht traurig und habe ich keine Sorge, dass wir einen guten Weg gehen werden. Herzlichen Dank. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Meine Damen und Herren, ich erläutere Ihnen jetzt einmal den gegenwärtigen Stand der Rednerfolge, weil das für die künftigen Redner wichtig ist. Frau Ministerin Bulmahn ist bereit, jetzt das Wort zu nehmen. Trifft dies zu, Frau Ministerin? - Wunderbar. Dann erhält das Wort die Kollegin Ulrike Flach. Anschließend kommt der Kollege Hans-Josef Fell, den ich herzlich begrüße. Als Nächstes folgen die Kollegen Kutzmutz, Seidenthal und Schmidt. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist so abgesprochen. Dann hat jetzt die Frau Ministerin Bulmahn das Wort. Bitte sehr.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Fast auf den Tag genau vor einem Jahr habe ich den Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit für das Jahr 1998 vorgestellt. Dieser Bericht - ich finde, das ist wichtig - hat sehr viele interessante und engagierte Diskussionen ausgelöst, die in ihrem Umfang weit über das hinaus gingen, was an Diskussion bei uns im Hause stattgefunden hat. Inzwischen liegt der neue Bericht vor, den ich vor einigen Tagen der Öffentlichkeit vorgestellt habe. Die zentrale Botschaft des Berichts von 1998 war: Bildung entscheidet über unsere Zukunft. Die zentrale Botschaft des Berichts von 1999 lautet: Investitionen in Bildung und Forschung sind die entscheidenden Triebkräfte für wirtschaftliches Wachstum und neue Arbeitsplätze. Dieser Bericht zeigt sehr deutlich, dass Länder, die vermehrt in Forschung und Entwicklung investieren, damit den Grundstein für ein höheres Wachstum und neue Arbeitsplätze legen. Andere Länder, die weniger in Forschung und Entwicklung investiert haben und zögerlicher sind, befinden sich dagegen am unteren Ende der Wachstumshierarchie. Dieser Zusammenhang ist immens wichtig und muss gerade von uns immer wieder herausgestellt werden. Finnland zum Beispiel hat diesen Zusammenhang sehr frühzeitig deutlich erkannt und liegt inzwischen in Europa bei der Forschungs- und Entwicklungsintensität an der Spitze. Dasselbe gilt für den Bereich des Wirtschaftswachstums. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, haben diesen Zusammenhang jahrelang ignoriert oder nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Herr Maaß, ich stimme Ihnen zu, dass Geld nicht alles ist. Das ist auch meine persönliche Überzeugung, wie Sie seit langem wissen. Geld und Strukturreformen gehören zusammen; man braucht beides, wenn man tatsächlich Erfolge erzielen will. Man darf nicht - wie Sie das leider getan haben - die Mittel für Forschung und Entwicklung immer weiter herunterfahren; denn das hat zur Folge, dass Investitionen in die wichtigen Bereiche Forschung und Entwicklung nicht stattfinden. Das ist in den 90er-Jahren leider geschehen. Wir haben in den 90er-Jahren erheblich an Forschungs- und Entwicklungsintensität sowie an Wirtschaftswachtstum verloren. Das kann man einfach nicht leugnen. Deshalb war es an der Zeit, dass diese Politik korrigiert wurde. Die Bundesregierung hat mit dem Haushaltsjahr 1999 die Mittel für Forschung und Entwicklung erheblich aufgestockt und die notwendigen Strukturreformen in Angriff genommen. Wir haben im letzten Jahr also beides gemacht und werden das auch fortsetzen. Erich Maaß ({0}) ({1}) Wenn wir im beginnenden Jahrzehnt beim Wachstum der Wirtschaft und bei der Anzahl der Arbeitsplätze wieder einen der vorderen Plätze unter den OSZE-Ländern belegen wollen, dann muss uns die Trendwende in Forschung und Entwicklung durch die Erhöhung von Investitionen und durch die notwendigen Strukturreformen gelingen. Wir tragen vonseiten der Bundesregierung mit erheblichen öffentlichen Mitteln unseren Teil dazu bei. Die Wirtschaft muss diesen Ball jetzt auffangen. Die Zeichen dafür stehen gut. Das zeigt der Bericht deutlich, der einerseits ermutigt, anderererseits aber deutlich mahnt. Wir stellen für die Jahre 1998 und 1999 fest das zeigen die Zahlen -, dass die Wirtschaft wieder einen größeren Teil ihres Umsatzes und ihrer Gewinne in Forschung und Entwicklung investiert. Das muss fortgesetzt werden. Es wäre verheerend, wenn die Wirtschaft ihre Anstrengungen jetzt verringerte oder plafondierte und nicht weiter verstärken würde. Wir haben kurz vor Weihnachten unser Konzept für die Unternehmensteuerreform 2000 vorgelegt. Mit diesem Konzept vergrößern wir den finanziellen Spielraum der Unternehmen erheblich. Der Bericht lobt dieses Konzept ausdrücklich, er macht aber auch klar und deutlich, dass es jetzt Sache der Wirtschft ist, diesen größeren finanziellen Spielraum für verstärkte Anstrengungen in Forschung und Entwicklung zu nutzen und in diesen Bereich mehr Mittel zu investieren. Deshalb appelliere ich ganz eindringlich an die Wirtschaft, diesen Spielraum für mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung zu nutzen. ({2}) Der Bericht sagt klar: Deutschland ist Technologieführer in Europa - bei Patenten, bei Innovationen und bei Weltmarktanteilen forschungsintensiver Güter. Alle wichtigen Indikatoren machen deutlich, dass wir in Europa ganz vorne dabei sind. Doch die Wissenschaftler weisen zu Recht darauf hin, dass wir an einem Scheideweg stehen; denn die gleichen Indikatoren, die Deutschland heute eine Spitzenposition bescheinigen, zeigen, dass sich in den 90er-Jahren die internationalen Gewichte insgesamt verschoben haben: in Richtung kleinere europäische Länder, in Richtung USA und in Richtung Asien. Es war deshalb höchste Zeit, dass neuer Wind in die Bildungs- und Forschungspolitik kommt, nicht nur durch zusätzliche Mittel, sondern vor allen Dingen durch dringend notwendige strukturelle Reformen. Diese strukturellen Reformen müssen das deutsche Innovationssystem insgesamt leistungsfähiger machen. Wir haben - davon bin ich überzeugt, ich hoffe, Sie stimmen mir zu - eine hervorragende Forschungs- und Wissenschaftsinfrastruktur, nutzen aber das Leistungspotenzial, das dort vorhanden ist, nicht optimal. Deshalb gehen unsere Reformvorhaben, die wir gestartet haben, in die Richtung, dieses Potenzial stärker zum Ertrag zu bringen und stärker zu nutzen. Die strukturellen Reformen müssen deshalb zu mehr Effizienz und zu mehr Flexibilität an unseren Hochschulen und Forschungseinrichtungen führen, sie müssen mit Instrumenten wie einer stärkeren Programmsteuerung und Budgetierung zu einer klaren Prioritätensetzung und Profilbildung führen. Deshalb setzen wir, setzt diese Bundesregierung auf eine Politik, die Wachstumsspielräume nutzt und neue technologische Entwicklungen engagiert aufgreift. Unsere Politik zur Verbesserung der technologischen Leistungsfähigkeit beruht auf drei Säulen. Der Bericht bescheinigt der Bundesregierung ausdrücklich, dass wir mit unseren Schritten zur Modernisierung und Weiterentwicklung der beruflichen Bildung und den Strukturreformen in der Hochschulpolitik, die wir begonnen haben, auf dem richtigen Weg sind: zum Beispiel mit einer veränderten Nachwuchswissenschaftlerförderung, zum Beispiel mit der Modernisierung des Dienstrechtes, zum Beispiel mit der Modernisierung und Reform des BAföG, um auch das Potenzial an leistungsfähigen Menschen zu nutzen, zum Beispiel mit der Setzung des Schwerpunkts in der Forschungspolitik auf Biotechnologie sowie auf Informations- und Kommunikationstechnologien. Mit dem Aufwuchs der Mittel für Bildung und Forschung stärken wir nachhaltig die Wissensbasis und damit auch die Leistungsfähigkeit des Standortes Deutschland. Man kann es auch kurz so sagen: Bildung und Forschung sind der Standortfaktor Nummer eins in Deutschland. ({3}) Mit unserer Steuerpolitik erhöhen wir die privatwirtschaftlichen Spielräume für zusätzliches Engagement in Forschung, Entwicklung und Innovation. Die Wirtschaft ist aufgerufen, diese Spielräume engagiert für mehr Forschung und Entwicklung zu nutzen. Mit den niedrigen Steuersätzen machen wir zudem Deutschland als Standort für Investitionen in Forschung und Entwicklung weltweit erheblich interessanter. ({4}) Herr Maaß, für diese Bundesregierung ist eines klarwir halten uns auch daran -: Innovationspolitik kann man nicht erfolgreich betreiben, wenn man sie allein als Ressortaufgabe versteht. Gerade deshalb haben wir Forschungs-, Bildungs-, Steuer- und Wirtschaftspolitik aufeinander abgestimmt und mit unseren Vorschlägen zur Steuerreform genauso wie mit unseren Vorschlägen zur Bildungs- und Forschungspolitik eine kohärente Innovationsstrategie entwickelt und auch vorgelegt. Wir werden mit den strukturellen Reformen in Bildung und Forschung die Flexibilität weiter stärken, Leistungsanreize setzen und damit die gesamte Leistungskraft des deutschen Innovationssystems verbessern. Im Rahmen der Bündnisarbeitsgruppe „Aus- und Weiterbildung“ entwickeln wir die duale Berufsausbildung und die berufliche Weiterbildung fort, damit Berufsbilder und individuelle Kompetenz der Arbeitnehmer den sich ständig wandelnden Anforderungen der Wissensgesellschaft genügen werden; denn gerade der „Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 1998“ besagt eindeutig: Unsere Zukunft hängt von qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ab, und zwar sowohl von denjenigen, die eine berufliche Ausbildung erhalten haben, als auch von denjenigen, die eine wissenschaftliche Ausbildung erhalten haben. Die Biotechnologie hat eine immer größere Bedeutung für die chemische und pharmazeutische Industrie. Die wissenschaftlichen Grundlagen Deutschlands bezüglich der Biotechnologie sind gut. Aber die wirtschaftliche Nutzung von Forschungsergebnissen muss deutlich an Breite und auch an Geschwindigkeit gewinnen. Die Bundesregierung hat dieses Problem in Angriff genommen. Mit dem neuen Bio-Regio-Wettbewerb „Bioprofile“ und dem Wettbewerb für Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler „Biofuture“ nutzen wir das Potenzial der Biotechnologie für wirtschaftliches Wachstum und für mehr Arbeitsplätze. Dazu gehört auch, dass wir in diesem Jahr neben den Strukturprogrammen, mit denen die wirtschaftliche Anwendung von Forschungsergebnissen gefördert werden soll, auch die finanziellen Anstrengungen für diesen Forschungsbereich, der zurzeit auf eine solche Unterstützung angewiesen ist, verstärkt haben. Wir haben die Mittel für diesen Förderbereich um 10,8 Prozent erhöht. Mit dem Aktionsprogramm der Bundesregierung „Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ sind die Weichen richtig gestellt worden. Wir haben gestern im Deutschen Bundestag ausführlich über die Programme und Rahmengesetze diskutiert. Es ist doch völlig klar, dass besonders die Informations- und Kommunikationstechnologie eine Schlüsselrolle spielt. Gerade im Aktionsprogramm haben wir über alle Ressortzuständigkeiten hinweg festgestellt, dass sich die Anwendung von IuKTechnologien in den kommenden Jahren beschleunigen wird. Dabei, Herr Maaß, spielt die Zusammenführung der GMD und der Fraunhofer-Gesellschaft eine wichtige Rolle. Die „Computer-Zeitung“ muss falsch informiert gewesen sein, als sie im Dezember letzten Jahres den vorhin zitierten Artikel veröffentlicht hat. Die Zusammenführung läuft. Es gibt immer Probleme, wenn man seit Jahren tradierte Organisationszusammenhänge verändert. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Ich finde, dass dieses Beispiel auch etwas Positives zeigt: Die jahrzehntelang aufgestellte Behauptung - ich habe das seit zehn oder zwölf Jahren mitverfolgt -, unser Forschungssystem sei so starr, dass man gar nichts mehr verändern könne, ist einfach falsch. Vielmehr sind Veränderungen möglich; allerdings muss man die Courage haben, die Probleme anzupacken. Jeder weiß, dass das nicht ganz einfach ist. Ich sage ganz klar: Ich habe die Courage gehabt. Mir jedenfalls war von Anfang an klar, dass dieser Prozess nicht ohne Probleme vonstatten geht. Aber die Fusion klappt und sie wird es auch weiterhin. Die Beteiligten sowohl die GMD wie auch die Fraunhofer-Gesellschaft - sind festen Willens, diese Zusammenführung zum Erfolg zu bringen. Dies ist nötig und richtig. Das wird schon daran erkennbar, dass die Evaluierung, auf die Sie, Herr Maaß, sich bezogen haben, sehr deutlich zum Ausdruck bringt, dass wir bisher nicht das kritische Potenzial an Größe für eine wirklich offensive Nutzung der Forschungskapazitäten in diesem Bereich hatten. Gerade das besagt der Evaluierungsbericht und daraus habe ich die Konsequenzen gezogen. Mit der Zusammenführung von GMD und FhG habe ich genau dieses kritische Potenzial an Größe geschaffen. Es wird einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass wir in Forschung und Entwicklung wirklich deutlich besser werden. Es wird aber auch dazu beitragen, dass wir die wirtschaftliche Anwendung der Forschungsergebnisse erheblich verbreitern können. Wir haben in diesem Aktionsprogramm noch eine weitere, meiner Meinung nach ganz wichtige Entscheidung getroffen. Wir haben mit den Sozialpartnern verabredet, dass wir das Ausbildungsangebot in den IuKBerufen deutlich verbessern werden. Die Situation ist absurd. Es gibt in der informations- und kommunikationstechnischen Industrie einen Fachkräftemangel. Auf der anderen Seite herrscht in den Ausbildungsberufen ein Mangel an Ausbildungsplätzen. Wir haben miteinander verabredet, dass wir die Anzahl der Ausbildungsberufe in drei Jahren verdreifachen werden. Das Jahr 1999 hat gezeigt, dass wir dieses Ziel schon im ersten Schritt übertroffen haben. ({5}) Wir haben deutliche Erfolge zu verzeichnen. Es ist ein positives, hervorragendes Ergebnis. Über Instrumente wie Budgetierung, leistungsorientierte Bezahlung, eine stärkere Programmsteuerung, Stärkung des Wettbewerbs an den Helmholtz-Zentren und eine regelmäßige Evaluation wollen wir mehr Effizienz und Zielgerichtetheit im deutschen Wissenschaftssystem verwirklichen. Mit der Modernisierung des Dienstrechtes wollen wir die Leistungsanreize in Lehre und Forschung stärken und den Transfer von Köpfen in die Wirtschaft erleichtern. Der Bericht bestätigt, dass ohne den Anschub durch eine öffentliche Forschungsförderung die Entwicklung eines boomenden Beteiligungskapitalmarktes und die erfreuliche Gründungsdynamik im Bereich der Spitzentechnologie so nicht möglich gewesen wären. Mein Kollege Bundesminister Müller sorgt im Rahmen seiner Zuständigkeit für Kontinuität und Fokussierung der erfolgreichen Bundesprogramme. Mit dem Programm „Existenzgründer aus Hochschulen“ schaffen wir die Voraussetzung für eine Verbesserung der Gründungsinfrastruktur an unseren Hochschulen und für eine Qualifizierung zur unternehmerischen Selbstständigkeit. Das heißt, wir arbeiten koordiniert zusammen. Dies werden wir auch in Zukunft tun. Ich will noch kurz einen Punkt nennen. Mir ist es wichtig - auch das zeigt dieser Bericht -, dass wir die Zusammenarbeit gerade zwischen kleinen bzw. mittleren Unternehmen und Hochschulen verstärken. Der Bericht macht deutlich, dass dies einer der Schlüssel ist. Deshalb habe ich der Verbundforschung ein größeres Gewicht gegeben. Ich werde mit der Veränderung des Dienstrechtes auch die zurzeit für die Mobilität zwischen Hochschule und Wirtschaft bestehenden Hemmnisse aus dem Weg räumen. Der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit hält uns den Spiegel vor. Die Analysen und Bewertungen des Berichts tragen zu einem besseren Verständnis des Innovationsgeschehens in Deutschland bei. Er weist auf die Schwächen hin, zeigt aber zugleich auch Wege für eine erfolgreiche Innovationspolitik auf und er bestärkt uns in den vielen von mir genannten Punkten. Der Bericht bestätigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Die rot-grüne Bundesregierung, meine Herren und Damen, wird diese Wege auch zukünftig zielgerichtet weitergehen. Vielen Dank. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Flach, F.D.P.-Fraktion.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt immer wieder Berichte hier im Plenum, bei denen man sich deutlich die Sinnfrage stellt. Der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands gehört ganz definitiv nicht dazu. Er ist ein ausgezeichnetes, detailliertes, analytisch sehr gutes Papier mit einer Fülle von Hinweisen für uns politische Handelnde. ({0}) Ich möchte mich ausdrücklich bei den Autoren bedanken. Mit diesem Bericht können wir als Parlamentarier eine Menge anfangen. Der Bericht behandelt einen Zeitraum, in dem noch die CDU/CSU-F.D.P.-Regierung im Bund regierte. Aber da Forschung und Bildung zu einem erheblichen Anteil Ländersache sind, fließen auch die Politiken der verschiedenen Länderkoalitionen in das Ergebnis ein. Es macht deshalb keinen Sinn, die Ergebnisse nur einer politischen Couleur anzulasten. Wir alle tragen Verantwortung für eine Bildungs-, Forschungs- und Technologiepolitik, die Zukunftschancen eröffnet, Arbeitsplätze schafft und sichert und unseren Lebensstandard erhöht ({1}) sowie - das sage ich als Umweltpolitikerin - zu einem nachhaltigen Umweltschutz beiträgt. Insgesamt stellen wir fest, dass Deutschland in vielen Bereichen der Forschung und Technologie Spitzenpositionen einnimmt - allerdings nicht in allen: In einigen sind wir „fast follower“; aber auch das kann eine erfolgreiche Strategie sein. Ich will mich auf einige Bereiche konzentrieren, die wir Liberale für besonders wichtig halten und bei denen wir Korrekturen der Bundesregierung einfordern. Die Forschungsausgaben sind gestiegen. Aber dieser Anstieg reicht nicht aus, Frau Bulmahn, um auf Dauer eine Spitzenstellung zu behaupten. Vor allem kleine Volkswirtschaften - da stimme ich Ihnen zu - wie Schweden oder die Niederlande holen sehr stark auf. Hier ist die deutsche Wirtschaft gefordert. Besonders hinzuweisen ist auf die unterschiedliche Struktur der deutschen Forschungsausgaben - vielleicht sollten sich das auch die Grünen zu Herzen nehmen -: Fast 25 Prozent kommen nach wie vor aus der Automobilindustrie, wohingegen die chemische Industrie und die Pharmaforschung deutlich an Boden verloren haben. Die Wirtschaftszweige der Spitzentechnik liegen an vorderster Front der Wachstumshierarchie. Auf europäischer Ebene sind wir in vielen Bereichen führend und auf dem Weltmarkt haben wir immerhin einen Welthandelsanteil von 11,5 Prozent bei der Spitzentechnik. Allerdings - ich zitiere -: Die leichte Positionsverbesserung in der Spitzentechnologie ist vor allem dem Aufschwung der Telekommunikationsbranche im Rahmen der Deregulierung in diesem Bereich zu verdanken. Frau Bulmahn, Sie werden Verständnis haben, dass wir Liberalen so etwas mit großer Genugtuung sehen. Denn schließlich waren wir diejenigen, die dafür viele, viele Prügel in diesem Hause eingesteckt haben. Bildung ist die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. Der Bedarf an gut ausgebildeten Arbeitskräften steigt. Sie haben zu Recht gesagt: Im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik und bei den Ingenieurberufen gibt es deutliche Engpässe. Ich füge hinzu: Die deutsche Industrie hat hier in der Vergangenheit falsch reagiert und hat falsche Signale gesetzt. Dagegen werden die Chancen Geringerqualifizierter am Arbeitsmarkt immer schlechter. 13 Prozent der Erwerbstätigen sind in Deutschland in forschungsintensiven Industrien tätig. Das ist mehr als doppelt so viel wie in den USA und doppelt so viel wie in Frankreich. Hier haben wir eine Spitzenreiterfunktion, die wir halten sollten. Nichtsdestoweniger: Trotz kurzfristiger Erfolge schätzt der Bericht mittelfristig das FuE-Niveau der deutschen Industrie nach wie vor als zu niedrig sein. Sie haben unsere Unterstützung, wenn es darum geht, dort mehr einzufordern. An den Schulen und den Universitäten wird über die künftige internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und der Arbeitsplätze entschieden. Der Bericht lässt die Alarmlampen in diesem Punkt aufleuchten. Zitat: Zwar ist die Leistungsfähigkeit von Hochschulen und Forschungsinstituten als hoch einzustufen. Doch zum einem zeigt sich hier ein entschiedener Reformstau, zum anderen beruht die aktuelle Leistungsfähigkeit auf in der Vergangenheit getätigten Investitionen. Aktuell wird zu wenig in Bildung investiert. Nicht die Haushälter - das sagen wir auch der jetzigen Regierung sehr deutlich -, sondern die Bildungspolitiker bestimmen über die Zukunft unserer Kinder. Ähnliches gilt für das immer wieder aktuelle Thema der Hochbegabtenförderung. Auch hier möchte ich Ihnen ein Zitat nicht vorenthalten: Deutschland ist bekannt für seine solide Breitenausbildung auf hohem Niveau. Sie ist ein wesentliches Element des deutschen Innovationssystems und muss unbedingt beibehalten werden. Demgegenüber hat die Förderung von Leistungseliten in der öffentlichen Meinung oft noch einen negativen Beigeschmack. Dieser muss abgebaut werden. ({2}) Ich will die Sozialdemokraten sehr deutlich daran erinnern, wie heftig sie in der vergangenen Legislaturperiode auf die F.D.P. eingeschlagen haben, wenn das Wort „Elitenförderung“ fiel. Ich hoffe, dass der vorliegende Bericht zu einem Bewusstseinswandel beiträgt. ({3}) Er macht aber auch deutlich, dass das Gründungspotenzial von Hochschulabsolventen in vielen Feldern noch weitgehend brachliegt. Hier geht es nicht so sehr um finanzielle Unterstützung, sondern um eine Entrümpelung der Genehmigungsverfahren. Eine Studie der Deutschen Ausgleichsbank besagt deutlich, dass knapp 40 Prozent der Existenzgründer derzeit zwischen drei und fünf behördliche Genehmigungen brauchen. Bei jedem sechsten Unternehmen wird der Betriebsstart durch behördliche Verfahren verzögert. Hier sind wir alle gemeinsam gefordert. Das gilt selbstverständlich auch, wenn es um glaubwürdige Bekenntnisse der Politik zur Technikakzeptanz geht. ({4}) In diesem Zusammenhang möchte ich sehr deutlich auf die pharmazeutische Industrie und die Gentechnik hinweisen. Ein glaubwürdiges Bekenntnis zu innovativen Technologien haben wir eben wieder von Ihnen, Frau Bulmahn, gehört. Aber wir finden das leider nur bei sehr wenigen Mitgliedern Ihrer Fraktion und schon gar nicht beim Koalitionspartner. Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Fördermittel für die Biotechnologie in Ihrem Hause um 10,7 Prozent angehoben worden sind. Aber bitte sorgen Sie auch dafür, dass diese Zukunftstechnologien die entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen erhalten und nicht immer wieder grünen Heckenschützen zum Opfer fallen. ({5}) Ich erinnere dabei nur an die elende Freisetzungsrichtlinie oder an den gestrigen Antrag zur Biodiversität. Ähnliches gilt für die Nukleartechnologie und selbstverständlich auch für die Luft- und Raumfahrt. Dort waren wir bislang Systemführer. Ich stelle fest, dass Sie aus großen Teilen dieser Bereiche nur allzu gerne wieder aussteigen wollen. Vielleicht erinnern Sie sich dabei auch an die Delphi-Studie, die gerade für den Bereich der Nukleartechnologie sehr deutlich und klar feststellt, dass die Zukunft in dezentralen nuklearen Wärme- und Elektrizitätserzeugungsanlagen liegt. Es ist ein großer Fehler, aus der Forschung in diesem Bereich so ohne weiteres und mit Schwung auszusteigen. Auch bei der Luft- und Raumfahrt stehen immer weniger Mittel zur Verfügung. Gerade als Umweltpolitikerin lege ich Wert darauf, dass dort wesentlich mehr getan wird. Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen. Der Bericht ist gut, aber er könnte noch besser werden. Es wäre hilfreich, wenn in den Folgeberichten ein stärkerer Akzent auf die Entwicklung der technologischen Leistungsfähigkeit der neuen Länder gelegt würde. Ich glaube, so mancher Westdeutsche würde über die beeindruckende Entwicklung der Spitzentechnologie in den neuen Ländern mit den Ohren wackeln. Ich danke Ihnen. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die von Frau Bulmahn genannte Kernaussage des Berichtes zur technologischen Leistungsfähigkeit teilt die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen voll. Investitionen in Bildung und Forschung sind zentrale Elemente staatlichen Handelns. Die rot-grüne Bundesregierung hat sich im Gegensatz zur vorherigen diese Aussage zu Eigen gemacht. Im Januar 1996 versuchte der damalige Forschungsmittelkürzungsminister Rüttgers die Öffentlichkeit mit der Hiobsbotschaft zu schockieren, die technologische Innovationsfähigkeit am Standort Deutschland sei am Ende. Mit dieser Interpretation des damaligen Berichtes erwies Rüttgers dem Forschungsstandort Deutschland einen Bärendienst. Es ist inzwischen allseits anerkannt: Wissen hat in einem Hochlohnland wie Deutschland eine maßgebliche Bedeutung für die Zukunft. Doch durch die wiederholten Kürzungen im Etat des ehemaligen Forschungsministers Rüttgers geriet die bundesdeutsche Forschungslandschaft im internationalen Wettbewerb immer mehr ins Hintertreffen und rangierte bezüglich der Forschungsausgaben nur noch auf Platz neun der entsprechenden OECD-Liste. Doch dem damaligen Forschungsminister fehlten nicht nur die Mittel, sondern auch die geeigneten Ziele. Statt Visionen für die Zukunft zu entwickeln, beschränkte sich Rüttgers auf die technokratische Verwaltung des Mangels. Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat sich deshalb vor der letzten Bundestagswahl für eine Aufstockung des Etats für Forschung und Bildung in einer Größenordnung von 2 Milliarden DM ausgesprochen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir dieses Wahlversprechen bald umgesetzt haben werden. Trotz der erreichten und geplanten Korrekturen mache ich mir große Sorgen um die viel zu niedrige Zahl von Ingenieurstudenten. Die Zeit eilt, um die bildungspolitischen Verwerfungen des einstigen Zukunftsministers auszugleichen. Geld alleine wird aber nicht genügen. Gleichzeitig muss kreativ gehandelt werden, um die Studenten über verschiedenste Anreize wieder für das Ingenieurstudium zu interessieren. Es wird Sie nicht überraschen, dass Forschungsvorhaben in der Solarenergie mehr junge Leute begeistern als in der Kernenergie. Die Mehrzahl der jungen Leute will verantwortlich Probleme lösen, statt nur einem technokratischen Spieltrieb à la Transrapid nachzugehen. ({0}) - Es ist immer die Frage, welcher Technologie gegenüber man freundlich ist. Ich führe das noch aus. ({1}) Solange die Frage im Raum steht, welchen Sinn es macht, eine Technologie weiterzuentwickeln und im Zweifel sogar noch Schuld an womöglich schlimmen Technikfolgen zu haben, ({2}) werden viele verantwortungsbewusste junge Menschen einen anderen Weg einschlagen. Wir müssen uns ernsthaft fragen, ob die Studenten in den letzten Jahren mit der Geringschätzung des Ingenieurstudiums gegen eine indifferent technokratische Forschungs- und Wirtschaftspolitik gestimmt haben. Mit den richtigen Zielen und Mitteln wird es uns gelingen, sie zurückzuholen. Ich zweifle daran, dass der vorliegende Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit, der noch von Rüttgers in Auftrag gegeben wurde, hier hilfreich sein wird. Beim Lesen der Überschrift fällt mir schon ein grundsätzliches Defizit auf. Es wird nach dem schwammigen Begriff der Leistungsfähigkeit gefragt. Viel wichtiger wäre es doch, meine Damen und Herren, nach der Problemlösungsfähigkeit zu fragen. Was nützt die beste Leistung, wenn sie nicht gebraucht wird und überflüssig ist wie Tamagotchis? ({3}) Zudem fällt auf, dass hier rein technokratisch gedacht wird, so, als ob es keine Innovationen außerhalb der Technologie gäbe. Nicht allein technische, sondern vor allem auch soziale Innovationen helfen, das Beschäftigungsproblem zu lösen. Im Bericht wird somit folgerichtig beklagt, dass sich Wirtschaftswachstum und Arbeitsmarkt weitgehend entkoppelt haben. Wenn es nicht gelingt - auch durch soziale Innovationen -, neue Arbeitsplätze zu schaffen, wird die Arbeitslosigkeit unter globalen Gesichtspunkten noch steigen. Bündnis 90/Die Grünen bejahen eindeutig technologische Entwicklungen und Innovationen. Technik ist aber nicht per se gut oder schlecht für eine Gesellschaft. ({4}) Wir nehmen daher eine ablehnende Haltung gegenüber Risikotechnologien wie der Atomkraft ein, die unbeherrschbare Probleme schaffen. Stattdessen sollte in einem gesellschaftlichen Konsensprozess ein Langfristprogramm für zukunftsfähige Technologieentwicklung aufgelegt werden. Technische Entwicklungen müssen im Hinblick auf die Verbesserung der Lebensqualität und des Nutzens für Mensch und Gesellschaft fortlaufend überprüft werden. Wir wollen eine differenzierte Beurteilung von Technologien und bewusste Entscheidungen für zukunftsfähige Techniklinien wie zum Beispiel schadstoffarme, sanfte Chemie oder moderne Schienenverkehrstechnik oder Zukunftstechnologien wie erneuerbare Energien. Folglich ist für Bündnis 90/Die Grünen Innovation allein nicht der Inbegriff technischer Neuerungen, sondern ein umfassender Prozess, der erstens davon ausgeht, dass sich soziale, ökonomische, institutionelle und ökologische Innovationen wechselseitig bedingen, und zweitens Umweltverträglichkeit und soziale Gerechtigkeit als zentrale Maßstäbe hat und zukunftsfähige Entwicklungen in allen Politikbereichen in Gang setzt. Wir setzen daher auf eine moderne Technologiepolitik, die klar vorausschauend auf das Ziel der Nachhaltigkeit ausgerichtet ist. Heute zeigen sich in der Bundesrepublik Deutschland teilweise die typischen Probleme eines alten Industrielandes. Die Situation der Umwelt verschlechtert sich in wichtigen Teilbereichen. Die Umweltbelastungen haben zum Beispiel bei den Klimagasen im Laufe der Jahrzehnte ein derartiges Ausmaß angenommen, dass die Gefahr besteht, kritische Grenzen zu überschreiten. Die von der Vorgängerregierung betriebene Umweltpolitik des „end of pipe“ ist sichtbar an ihre Grenzen gestoßen. Mehr noch: Die Umweltpolitik unter CDU/CSU und F.D.P. wurde immer mutloser. Dies geschah, obwohl die OECD zu Recht festgestellt hat, dass die Fähigkeit eines Staates zu moderner Umweltpolitik ein wichtiger Indikator für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes ist. Nur wer die Herausforderung der Nachhaltigkeit aktiv aufgreift und nach innovativen Lösungen sucht, wird die Zukunft bewältigen können. Umweltschutz wirkt als Modernisierungsmotor. Lassen Sie mich aus dem Bericht zitieren, der der heutigen Debatte zu Grunde liegt: Auf dem Markt für Umweltschutzgüter und dienstleistungen zeigen sich deutlich die Spuren der schwachen „Umweltkonjunktur“. Der Staat nimmt über die Gestaltung der Rahmenbedingungen maßgeblich Einfluss auf die Qualität der Nachfrage nach Technologien. Mit nachlassenden Innovationsanreizen gewinnen Imitatoren die Oberhand. Deutschland sollte doch gerade in Bereichen, in denen es seine spezifischen Stärken - Kombination neuester wissenschaftlicher und technologischer Entwicklungen mit traditionellen Stärken - ausspielen kann, keinen Platz im Mittelfeld, sondern an der Spitze und Technologieführerschaft anstreben. Auf scheinbar „sicheren“ Märkten würde sonst Terrain abgegeben. Dies bedeutet jedoch, dass Anreize für einen Umweltschutz über den „Stand der Technik“ hinaus zu setzen sind. Die Unternehmen müssen die Chance haben, ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und Märkte erschließen zu können. Was sollte ich dem noch hinzufügen? Nur, dass der Regierungswechsel höchste Eisenbahn war und dass die zehnjährige Denkpause, die sich Herr Rühe für den Umweltschutz genehmigen will, Deutschland von der Weltspitze in der Umwelttechnik weit nach hinten befördern würde. ({5}) Diese Wahlkampfdrohung des Wahlkämpfers Rühe würde laut dem vorliegenden Bericht, der ja auch auf Rüttgers zurückgeht, herbe Rückschläge für die technologische Entwicklung in Deutschland zur Folge haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen in der Union, Sie müssen sich in Ihren Politikzielen schon einig werden. Apropos Rüttgers: ({6}) Da fällt mir wiederum ein, dass unter diesem vergangenen Zukunftsminister in den letzten Jahren eine Mode aufgekommen ist, die unserem Land mittel- bis langfristig schaden könnte. Diese Mode heißt industrienahe Forschung. Je industrienäher die Forschung ist, desto schneller wird die Umsetzung in Produkte und die Schaffung von Arbeitsplätzen erwartet. Das ist an sich in Ordnung. Aber ob das der richtige staatliche Schwerpunkt ist, wage ich zu bezweifeln; denn der Staat sollte sich vor allem da engagieren, wo der Markt wichtige Funktionen nicht erfüllen kann. Das ist nun einmal die Vorlaufforschung und nicht die anwendungsnahe Forschung. Im anwendungsnahen Bereich hat die Industrie ein Interesse, das oft groß genug ist, um selbst aktiv zu werden. Die Vorlaufforschung ist häufig noch zu weit vom Markt entfernt, als dass es sich für Unternehmen lohnte, hier selbst aktiv zu werden. Wenn sich aber die Förderpolitik vermehrt in Richtung Marktnähe verschiebt, heißt dies, dass wir vor allem die Ideen der Vergangenheit umsetzen. Damit laufen wir Gefahr, dass unseren anbindungsorientierten Forschern in einigen Jahren die Ideen ausgehen werden. Zum Abschluss komme ich zu einem weiteren wichtigen Bereich, in dem der sich selbst überlassene Markt häufig versagt. Dies geschieht dort, wo zum Beispiel ökologisch sinnvolle Innovationen nicht in den Markt gelangen, weil sie in zu geringer Stückzahl nachgefragt werden. Hohe Kosten führen zu einer niedrigen Nachfrage. Dem Staat steht eine ganze Reihe von Instrumenten zur Verfügung, um die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen. Davon haben wir einige in der Pipeline und andere bereits angewandt. Ein wichtiges Beispiel dafür ist die laufende Novellierung des Stromeinspeisungsgesetzes. Sie wird exakt die Lücke in der Kette Grundlagenforschung, Anwendungsforschung, Markteinführung und Marktdurchdringung für alle erneuerbaren Energien schließen. Das Credo liberalkonservativer Politik wie der Wirtschaftsverbände, das A und O der Innovationspolitik sei die Deregulierung, ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich: Erst die richtigen Rahmensetzungen führen zu den zukunftsfähigen Innovationen. Die rot-grüne Bundesregierung hat hierfür die ersten Weichen richtig gestellt. Sie legt damit die Grundlagen für eine nachhaltige Entwicklung auch in der Technologie. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Rolf Kutzmutz, PDS-Fraktion.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es vorab zu sagen: Im vorliegenden Bericht werden viele vermeintliche und tatsächliche Defizite ausführlich analysiert. Es gibt eine Reihe von Anregungen für die politische Arbeit. Ich stimme Frau Kollegin Flach zu, dass mit diesem Bericht natürlich auch vielfältige politische Aufarbeitungen erfolgen können und müssen, um Deutschland in der Technologieentwicklung weiter voranzubringen. Ich glaube, diese Aufgabe eint uns. Dass die neuen Bundesländer nur auf drei Seiten explizit vorkommen, ist für mich allerdings kein Beweis dafür, dass sich die technologische Landschaft schon so dem Westen angeglichen hätte, dass es eines besonderen Ausweises nicht bedürfte. ({0}) Ob sich das mit dem zum Jahresbeginn vorgelegten technologiepolitischen Programm ändert, bleibt abzuwarten. Darin sind aus meiner Sicht zwar die Förderschwerpunkte der letzten Haushalte zusammengefasst; aber die kritische Auseinandersetzung mit der bisherigen Ausrichtung der Politik ist nicht geleistet worden. In Bezug auf Reformen bei der Technologieförderung sieht die PDS-Fraktion vier Schwerpunkte. Ich will kurz darauf eingehen: Erstens geht es um eine strategische Neuausrichtung der Forschungs- und Technologiepolitik des Bundes zum Abbau und zur künftigen Vermeidung ökologischer und gesundheitlicher Belastungen sowie zum Abbau regionaler und globaler Disparitäten. Dem wird das Programm nur in Ansätzen gerecht. Während beispielsweise Forschungsmittel für regenerative Energien und ihre Markteinführung nur zögerlich aufgestockt wurden, stiegen entgegen einstiger Absichten der Bundesforschungsministerin Frau Bulmahn die Mittel für die Weltraumforschung sogar auf mehr als 1 Milliarde DM. Zweitens verlangt die PDS eine Umverteilung der Forschungsmittel zwischen Bund, Ländern und Regionen sowie die Ausrichtung der Förderkriterien zugunsten einer umweltschonenden Nutzung der natürlichen Ressourcen in Produktion und Konsumtion. Zwar orientieren die drei Technologielinien Innovation, Forschungskooperation und technologische Beratung als Kern des technologiepolitischen Programms auf den Mittelstand. Die Kritik aber, dass ein zu großer Teil der Forschungs- und Entwicklungsmittel an Großkonzerne geht, bleibt dennoch bestehen. Laut Subventionsbericht 1999 lag der Anteil der Technologie- und Innovationsförderung des Bundes für 2000 bei 1,7 Prozent, wobei den kleinen und mittelständischen Unternehmen immer noch der geringere Teil zufließt. Von einer Reformierung der Umverteilung von Forschungsmitteln kann daher kaum die Rede sein. Auch eine Neuausrichtung von Förderkriterien, wie sie zum Beispiel der Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung empfiehlt, scheint sich mehr in den Überschriften von Programmen als in der Anlage wirksamer Kriterien widerzuspiegeln. Drittens vermisse ich im technologiepolitischen Programm einen Umbau der Forschungsförderung und eine Neustrukturierung der Forschungseinrichtungen. Zwar wurden den Großforschungseinrichtungen veränderte strukturelle Entwicklungen angetragen. Aber sie erhielten im Vergleich mit kleineren Forschungseinrichtungen weiterhin den Löwenanteil der Mittel, sogar noch mit hohen Steigerungsraten. Die Bildung von Forschungsvereinigungen in Ostdeutschland bleibt schwierig; denn eine institutionelle Grundförderung lässt weiter auf sich warten. Viertens. In der letzten Wahlperiode hat die sozialdemokratische Fraktion hoch und heilig versprochen, dass sie die Forschungs-, Innovations- und Technologiepolitik arbeits- und sozialpolitisch neu ausrichten wird. ({1}) Ihre Aktivitäten beim BAföG, also bei der langfristigen Sicherung der Lebensverhältnisse der Auszubildenden und Studierenden, lassen aber auch nach der gestrigen Aktuellen Stunde daran zweifeln. ({2}) Frau Ministerin Bulmahn hat die anstehende Modernisierung des Bildungswesens angekündigt. Aber eine substanzielle Neuausrichtung der Bildungspolitik ist nicht in Sicht. Stattdessen fordert der Bundeswirtschaftsminister immer schärfer, dass Hochschulen ihre Mittel noch stärker auf die spezifischen Bedürfnisse der Unternehmen ausrichten sollen. Wenn die Schlussfolgerung daraus aber wäre, dass die Forschungsmittel für Gemeinwohlzwecke und Wissenschaften, die Orientierungswissen für die gesamte Gesellschaft, für Alltag und Lebensqualität hervorbringen, noch weiter „eingedampft“ werden, dann wäre diese Schlussfolgerung fatal. Im Übrigen lässt die Orientierung der Bundesregierung auf den Ausbau des Niedriglohnbereichs im „Bündnis für Arbeit“ eher daran zweifeln, dass es um eine seriöse Durchsetzung von Innovationen für Arbeitsplätze, um mehr kulturelle Lebensqualität oder die Beseitigung der geschlechtsspezifischen Benachteiligungen in der Arbeitswelt geht. Die im Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit benannten Defizite in Bezug auf Beschleunigung von Innovationen in der Bildungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungspolitik und die „größten Probleme wegen zu geringer Investitionen“ werden durch die Bundesregierung - bisher jedenfalls nicht glaubwürdig aufgehoben. ({3}) Ein abschließender Satz, liebe Kolleginnen und Kollegen. Frau Ministerin Bulmahn hat bei der Vorstellung des vorliegenden Berichtes gesagt: Wir werden auch in den kommenden Jahren - im Gegensatz zur Vorgängerregierung - die Mittel für Bildung und Forschung kräftig erhöhen. - Das ist zu begrüßen; das ist keine Frage. Allerdings muss man auch sagen, dass diese Mittel immer unter dem Damoklesschwert von Minderausgaben und von Haushaltssperren im Forschungs- und Bildungssowie im Wirtschaftsbereich stehen. Wir sollten ein gemeinsames Interesse daran haben, dass dieses Damoklesschwert nicht zum Fallen kommt. Danke schön. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Bodo Seidenthal, SPD-Fraktion, das Wort.

Bodo Seidenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002151, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion sieht sich ebenso wie die Bundesministerin Edelgard Bulmahn durch die Ergebnisse der Untersuchung darin bestätigt, die eingeschlagene Bildungs-, Forschungs- und Innovationspolitik weiter zu verfolgen. ({0}) Wir teilen die grundsätzlich positive Einschätzung der Innovationsfähigkeit Deutschlands, sehen aber auch den hohen Bedarf an Reformen, die für eine erfolgreiche Gestaltung des Wandels zur Wissensgesellschaft erforderlich sind. Dabei ist Grundlage unseres Regierungsmandats eine abgestimmte Politik zur Schaffung von Arbeit, zur Sicherung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit im internationalen Wettbewerb, zur nachhaltigen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft und zur Erneuerung sozialer Gerechtigkeit. Neues Denken und neue Konzepte sind notwendig; denn der Übergang von der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts zur Informations- und Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts bedeutet einen weit reichenden technologischen und gesellschaftlichen Wandel. Er führt zu teilweise dramatischen Veränderungen in nahezu allen Bereichen unseres Lebens. ({1}) Wir alle wissen: Wissen erneuert und vermehrt sich immer schneller und ist dank neuer Informations- und Kommunikationstechnologien global verfügbar. Das alte Prinzip lebenslanger Ausübung eines einmal gelernten Berufes ist überholt. Neue Technologien, neue Arbeitsorganisationen und ein wachsender Dienstleistungssektor verlangen höhere und neue Qualifikationen, Flexibilität und Mobilität. Zunehmende Migration und Mobilität, europäische Einigung und Internationalisierung setzen das Verständnis für andere Kulturen und das Sprechen anderer Sprachen voraus. Die fortgeschrittene Gefährdung unserer Grundlagen erfordert einen konsequenten Wechsel zu nachhaltiger Entwicklung, die wirtschaftliche, ökologische und soziale Verantwortung verbindet. Eine Gesellschaft, die vor den globalen Herausforderungen nicht kapitulieren will, die sich den Zwängen von außen nicht nur passiv anpassen will, sondern auch künftig in Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit leben und die Zukunft mit gestalten will, braucht Innovationen. Die Ministerin hat darauf hingewiesen, als sie die Versäumnisse der alten Bundesregierung dargestellt hat - und ich unterstreiche es wie der Kollege Fell -: Deshalb war der Regierungswechsel notwendig. ({2}) Leider ist Erich Maaß nicht mehr da. Aber wo Sie, Frau Kollegin Flach, Ihre Weisheiten zur Luft- und Raumfahrt hernehmen, ist mir unverständlich. Ich möchte Sie bitten, dies so schnell wie möglich nachzuarbeiten. Es war nämlich die alte Bundesregierung, die gerade auf diesem Sektor massiv gekürzt hat. Man kann dieser Ministerin nicht vorwerfen, dass sie im Bereich Luft- und Raumfahrt nichts gemacht habe. Ich erinnere Sie nur an die ESA-Konferenz im letzten Frühjahr. Dort hat die Frau Ministerin Ergebnisse erzielt, die nicht voraussehbar waren. Dafür möchte ich ihr heute von dieser Stelle aus noch einmal danken. ({3}) Ihre Ausführungen zur Biotechnologie kann ich ebenfalls nicht verstehen. Es war der jetzige Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen als Vorsitzender der Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie“, durch den wir erst dafür sensibel geworden sind. Sie sind noch immer hörig und wollen nur Chancen nutzen. Wir dagegen haben den Diskurs in der Gesellschaft vernünftig vorangebracht. Wir stehen für Chancen und Risiken. ({4}) - Frau Kollegin Flach, Sie sagen, das sei das Letzte. Ich möchte Sie bitten, sich einmal die Statistik anzusehen, die ich in der Hand habe. Danach stand die Bundesrepublik Deutschland in den 90er-Jahren unter den OECDStaaten an drittletzter Stelle. Ich kann nicht verstehen, woher Sie Ihre Erfolgsbilanz nehmen. Sie können sich auch noch eine zweite Statistik angucken. ({5}) - Ich habe keinen anderen Bericht. - Sehen Sie sich einmal die Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nach der Wissenschaftsintensität an! Auch diese Statistik sagt etwas anderes aus. Da Sie meinen, ich hätte einen anderen Bericht: Es handelt sich um eine Statistik über sozialversicherungspflichtig Beschäftigte des Statistischen Bundesamtes. Ich möchte im Folgenden auf einige wenige Kernaussagen des Berichtes näher eingehen. Dort heißt es erstens: Bildung und Ausbildung lohnen sich doppelt. Mehr Bildung bedeutet mehr Einkommen und mehr Beschäftigungssicherheit. Es kann kein Zufall sein, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass die Länder, die in technologischer und wirtschaftlicher Hinsicht die größten Fortschritte gemacht haben, gleichzeitig auch mehr in Bildung investiert haben. Die SPD hat am Montag der Öffentlichkeit das Memorandum „Bildung entscheidet über unsere Zukunft. Für eine neue Bildungsinitiative“ vorgestellt, mit der wir die Herausforderungen an die Bildungsinstitutionen und Bildungsinhalte bewältigen werden. Bildungspolitik steht vor einer doppelten Aufgabe: Es geht darum, das Wissen und die Kompetenzen zu vermitteln, die morgen über den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt entscheiden. Gleichzeitig muss eine soziale Ausgrenzung angesichts steigender und neuer Qualifikationsanforderungen verhindert werden. Zweitens. Der Strukturwandel zum forschungsintensiven Sektor hin schreitet voran. Neue Arbeitsplätze werden vor allem im Bereich der wissensintensiven Dienstleistungen geschaffen. Seit der Rezession 1993 haben die Industriezweige der höherwertigen Technik und der Spitzentechnik einen besonders dynamischen Zuwachs erlebt. Diese Produktionsausweitung dürfte sich in diesem Jahr wiederholen, wenngleich der Bericht aussagt, dass das auf niedrigerem Niveau der Fall ist. Wachstumsträger ist meine Vorredner haben es gesagt - die Kfz-Industrie, die gleichzeitig Zulieferer aus anderen Industriezweigen einbindet. Laut Studie beschleunigt das Innovationsgeschehen auch den sektoralen Strukturwandel. Unternehmen aus den forschungsintensiven Branchen realisieren deutlich mehr Innovationen und haben es damit leichter, am Markt zu bestehen. Dies gilt vor allen Dingen für Firmen aus den modernen wachsenden Dienstleistungsbranchen, die eine vergleichsweise hohe Innovationsaktivität aufweisen. Nachdenklich stimmt mich jedoch, dass trotz der vergleichsweise hohen Produktionszuwächse im forschungsintensiven Sektor die Beschäftigung dort lange Zeit rückläufig war. Seit gut einem Jahr werden hier per saldo neue Arbeitsplätze geschaffen. Dies ist jedoch nicht als Trendwende zu interpretieren. Erfreulich dagegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, war die Beschäftigungsentwicklung bei den unternehmensnahen Dienstleistungen, während die wissensintensiven Dienstleistungen, so wie es im Bericht steht, insgesamt durch den Beschäftigungsabbau bei Post und Bahn zwischen 1996 und 1998 nur leicht zulegen konnten. Deutschland hat die Chance, mit neuen Technologien neue Beschäftigungspotenziale zu erschließen. Diese Chance gilt es nun beherzt wahrzunehmen. Diese Entwicklungen, sehr geehrte Frau Ministerin, sollten aus Ihrem Hause zukünftig verstärkt begleitet werden. Ich möchte Sie deshalb bitten, ein tragfähiges Konzept zu initiieren, das auf zirka fünf Jahre angelegt ist und von den gesellschaftlichen Gruppen getragen wird. Als Vorbild könnten die Aktivitäten im Rahmen von „Arbeitsgestaltung“ und „Produktion 2000“ dienen. Wir brauchen eine an Innovation und Beschäftigung orientierte Dienstleistungsinitiative, die die Forderungen der Wirtschaft, des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Wissenschaft aufgreift. ({6}) Dritter Punkt. Deutsche Unternehmen besitzen in Europa zwar die Technologieführerschaft; trotzdem haben sie in den letzten Jahren verloren, und andere Länder haben aufgeholt. Fest steht, dass bei den Patentintensitäten Deutschland inzwischen von Schweden überrundet worden ist. Auch das ist ein Ergebnis dieser Studie. Hat Deutschland zu Beginn der 80er-Jahre innerhalb der OECD noch die relativ größten Ressourcen in Forschung und Entwicklung investiert, liegen inzwischen gleich sechs Länder in ihrer FuE-Intensität vor uns. Da sich der Bericht mit dem Jahre 1998 beschäftigt, wissen Sie auch, wer dafür zuständig ist. ({7}) Dabei sind es gerade solche Länder, die sich in den vergangenen Jahren verstärkt den modernen Informationsund Kommunikationstechniken zugewandt haben. Sie investieren deutlich mehr in Forschung und Entwicklung und realisieren dadurch auch deutlich höhere Wachstumsraten. Darum bin ich froh, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir nun einen Kanzler haben, der bei Datenautobahnen nicht gleich an Fernstraßen denkt. ({8}) Traurige Realität ist aber, dass Deutschland auch beim Anteil am Welthandel mit forschungsintensiven Gütern innerhalb der letzten zehn Jahre rund drei Prozentpunkte eingebüßt hat. Es gilt, meine sehr verehrten Damen und Herren, das Umfeld für Tüftler und Erfinder weiter zu verbessern. Denn einen guten Einfall patentieren zu lassen, ist eine Sache, daran zu verdienen, die andere. Beides ist gar nicht so einfach. Sehr geehrte Frau Ministerin, auch hier möchte ich Sie bitten, dass wir gemeinsam, wie wir es in der Vergangenheit auch schon getan haben, über die Formalitäten hinsichtlich der Patentanmeldung, der Patenterteilung und der Schutzgebühren nachdenken und eine bessere Lösung anstreben. ({9}) Die Ergebnisse der Studie machen deutlich, dass mehr Geld für Bildung und Forschung notwendig war, um die technologische Leistungsfähigkeit zu sichern. Dies hat die neue Bundesregierung mit dem Haushalt 1999 getan und sie wird es auch in den Folgejahren fortsetzen. Doch, wie die Ministerin gesagt hat, Geld ist nicht alles. Wir brauchen auch die von ihr vorgestellten strukturellen Reformen und einen effizienteren Mitteleinsatz. Wir müssen zugleich aber auch dafür sorgen, dass die Marktpotenziale aussichtsreicher neuer technologischer Entwicklungen schneller und besser erschlossen werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, mehr Flexibilität, mehr Wettbewerb, stärkere Leistungsorientierung, Chancengleichheit und Nachhaltigkeit

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit.

Bodo Seidenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002151, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- ich komme gleich zum Schluss - das werden die zentralen Grundsätze der Politik der Bundesregierung unter Gerhard Schröder in den nächsten Jahren sein. Dies gilt insbesondere für die Handlungsfelder der Bildungs- und Forschungspolitik. Damit sind wir auf einem richtigen Weg. Wir haben die Trendwende eingeleitet und werden auch in den kommenden Jahren dafür sorgen, dass der Innovationsstandort seine Chance nutzen kann. Denn wie heißt es so schön: Wer aufgehört hat, besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Joachim Schmidt.

Dr. - Ing. Joachim Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Forschung und Entwicklung bestimmen die Zukunft unseres Landes in entscheidender Weise. Forschungspolitik hat die Aufgabe, angemessene Rahmenbedingungen für Forschung und Entwicklung zu setzen und in der Fürsorge für die Zukunft des Landes Leitlinien vorzugeben und Schwerpunkte zu benennen und zu fördern, die vor allem mittel- und langfristig Weg und Richtung auf diesen Gebieten weisen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf welche Forschungsfelder wir uns in Deutschland unbedingt konzentrieren müssen, wenn wir mit den wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen der Welt mithalten und unseren hohen Lebensstandard auch für die Zukunft sichern wollen. Ich möchte Sie über diesbezügliche Ergebnisse informieren, die unter Anwendung eines so genannten Zielbewertungsverfahrens entstanden sind. Zielbewertungsverfahren beruhen auf der Schätzung der relativen Werte von Zielen und Eigenschaften. Ihnen liegt die subjektive Beurteilung nach bestimmten Kriterien zugrunde. Auf diese Weise können quantitative Beziehungen festgestellt und Rangfolgen ermittelt werden. Im vorliegenden Falle wurden sowohl wirtschaftliche Zielkriterien als auch Kriterien zur Erhaltung der Lebensgrundlagen zur Bewertung herangezogen. Im Einzelnen betraf dies zum Beispiel: Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen, Wirtschaftswachstum und Produktivitätssteigerung, Erhaltung und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit - das sind die wirtschaftlichen Kriterien - sowie Gesundheit, Umweltschutz und Energiesicherung als Kriterien für die Lebensgrundlagen. Diesen Kriterien wurden so genannte relative Wichtigkeiten zugeordnet, nach denen die einzelnen Forschungsrichtungen mit einer Werteskala von 0 bis 1 bewertet werden. Über einen einfachen mathematischen Algorithmus erhält man dann so genannte Erwartungswerte, aus denen sich eine Rangfolge ergibt, die hier Auskunft geben soll über die Bedeutung der entsprechenden Forschungsfelder für die wissenschaftliche und wirtschaftliche Zukunft Deutschlands. Der Vorteil dieser Vorgehensweise liegt vor allen Dingen darin, dass Erkenntnisse gewonnen werden, die auf einem objektivierten, wissenschaftlich unumstrittenen Verfahren aus dem Operations Research beruhen. Auf der Grundlage der beschriebenen Kriterien ergibt sich folgende Rangfolge, auf die sich die deutsche Forschungspolitik besonders konzentrieren sollte. Erstens: Informations- und Kommunikationstechnik. Hier sind wir nicht auseinander. Zweitens: Biotechnologie und Lebenswissenschaften. Hier gab es von Ihrer Seite, Frau Bulmahn, in der Vergangenheit mitunter durchaus zurückhaltendere Bewertungen und Kommentare. Drittens: Verkehrs- und Mobilitätsforschung. Viertens: Ökologie und Umwelttechnik. Fünftens: Energieforschung. Sechstens: Materialforschung, hier vor allen Dingen die Entwicklung neuer Werkstoffe. Siebtens: Forschungen zur Rohstoffsicherung. Das betrifft Primär- und Sekundärrohstoffe. Die Positionen eins und zwei repräsentieren vor allem Gebiete der Spitzentechnik, auf denen Deutschland unzweifelhaft Nachholbedarf hat. In dieser Rangfolge tritt die Raumfahrt bewusst nicht auf, weil ich aus forschungssystematischen Gründen die Raumfahrt in diesem Zusammenhang in erster Linie als eine wissenschaftliche Methode auffasse und nicht als eine eigene Querschnittswissenschaft. In all den von mir aufgeführten Forschungsfeldern kann und muss die Raumfahrt aber als Methode eine wichtige Rolle spielen. Besonders interessant sind aus meiner Sicht die Ergebnisse im Hinblick auf die Energieforschung. Denn dabei ist herausgekommen, dass die erneuerbaren Energien, die Kernenergie und die fossilen Energieträger für Deutschland im Großen und Ganzen gleich wichtig sind. Das heißt nicht, dass sie auch die gleiche staatliche Förderung erfahren müssen. Im Gegenteil: Forschungen zur Kernenergie, insbesondere Sicherheitsforschung und Forschungen zur Bewältigung der Entsorgungsproblematik, sowie Forschungen zur optimalen Anwendung fossiler Energieträger müssen eindeutig von den betreffenden Unternehmen betrieben werden. Die erneuerbaren Energien bedürfen weitaus stärkerer staatlicher Förderung. Aber eines ist deutlich geworden: Der von der Koalition vor allem aus ideologischen Gründen betriebene Ausstieg aus der Kernenergie ist weder wirtschaftlich noch ökologisch, noch, wie sich gezeigt hat, forschungspolitisch begründbar und sinnvoll. Er ist einfach falsch. ({0}) Die vorgestellten Forschungsschwerpunkte sind im Großen und Ganzen unstrittig. Ob ein anderer bei Anwendung des von mir vorgestellten Verfahrens zu genau derselben Rangfolge kommen muss, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, welchen Forschungsfeldern aus Verantwortung für die Zukunft unseres Landes unsere ungeteilte forschungspolitische Aufmerksamkeit gelten muss. Zu dieser Diskussion sollte angeregt werden. Die Ergebnisse sind prinzipieller Natur. Sie sollten sowohl für den öffentlich geförderten wie für den privatwirtschaftlich betriebenen Forschungssektor gelten. Wenn wir auf diesen Gebieten Spitzenstellungen behalten oder erwerben wollen, dann ist es aber unbedingt notwendig, dass Wissenschaft und Wirtschaft stärker miteinander kooperieren, als es bisher der Fall ist. In der Verbesserung dieser Kooperation liegen unsere eigentlichen Reserven, wobei aufseiten der Wirtschaft vor allem die kleinen und mittelständischen Unternehmen unbedingt eine weitaus größere Berücksichtigung finden müssen. Es ist unsere forschungspolitische Aufgabe, diese Kooperation ständig anzumahnen, anzuregen und auch materiell zu fördern. Aber damit allein ist es nicht getan. Die Politik kann, wie im Jahresbericht 1998 ausgeführt, Zeichen setzen, die in der Wirtschaft und Wissenschaft angenommen werden und das öffentliche Meinungsbild prägen. Forschung und Bildung müssen einen erheblich größeren gesellschaftspolitischen Stellenwert erhalten. In Deutschland muss ein Klima entstehen, in dem Neuerungen auch und vor allem nach ihren Chancen und nicht nur nach ihren Risiken beurteilt werden. ({1}) Damit rede ich nicht einer unkritischen Technikgläubigkeit das Wort. Aber es gilt ohne alle Abstriche: Unsere internationale Stellung und Autorität auf allen Forschungsgebieten hängt vor allem davon ab, welche Rolle Forschung und Entwicklung im eigenen Land im gesamtgesellschaftlichen Leben spielen. Wir brauchen eine offene und bejahende Atmosphäre für Forschung und Entwicklung. Eine häufig beobachtete defensive und ständig einseitig Gefahren heraufbeschwörende Stimmung hilft uns nicht. Ich glaube, dass die neuen Bundesländer in dieser Hinsicht den alten voraus sind, und ich habe dies nicht zu beklagen. Deshalb lassen Sie mich zum Schluss noch einige Bemerkungen im Rahmen unseres heutigen Themas zur Situation im Osten machen. Zuerst stelle ich fest, dass die neuen Bundesländer im Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({2}) Deutschlands 1998 bedauerlicherweise unter der Rubrik „Sonderbetrachtungen“ am Ende relativ oberflächlich abgehandelt werden. Dass die neuen Bundesländer in der Stellungnahme der neuen Bundesregierung zum genannten Bericht nicht mit einem Wort erwähnt werden, ist allerdings schlechthin schlimm. ({3}) Sieht so die Chefsache Ost aus? Der Osten braucht nicht populistische Ankündigungen, sondern eine ernst zu nehmende, an der Realität orientierte glaubwürdige Beschäftigung mit seinen Problemen und mit seiner Zukunft. ({4}) Da die Regierung dies im vorliegenden Fall versäumt hat oder nicht für nötig hielt, will ich es jetzt abschließend kurz nachholen. ({5}) Die grundsätzlichen Ausführungen zu den Forschungsschwerpunkten gelten selbstverständlich für Ost und West in Deutschland in gleicher Weise. ({6}) Die neuen Bundesländer haben aber einige wichtige spezifische Probleme. Da ist zuerst die erhebliche Verstärkung der Kooperation zwischen der kleinen und mittelständischen Wirtschaft und der übrigen Forschungslandschaft zu nennen, um zum einen den eigenen Wertschöpfungsbeitrag dieser Forschungslandschaft zu erhöhen und zum anderen die Wettbewerbschancen der kleinen und mittelständischen Betriebe auf nationalen und internationalen Märkten zu verbessern. Von der Bereitschaft zu dieser Kooperation sollte auch die entsprechende staatliche Förderung abhängen. Dazu gehört auch eine weitere intensive Förderung von technologieorientierten Existenzgründungen unter besonderer Berücksichtigung des Dienstleistungssektors. ({7}) Wir brauchen schließlich weiterhin die gezielte Unterstützung der externen Industrieforschung, des wichtigsten Zweiges der wirtschaftsnahen Forschung in den neuen Bundesländern. Der Anteil der Industrieforschung an der Forschungsförderung, insbesondere an der neu bereitgestellten Forschungsmilliarde, muss erhöht werden, wobei eine stärkere Koppelung der öffentlichen FuE-Fördermittel an die produktiven Bereiche der Industrie notwendig ist. Generell gilt, dass in den neuen Bundesländern Kontinuität in der Forschungsförderung besonders dringend erforderlich ist, um den Forschungseinrichtungen und der Wirtschaft Planungssicherheit zu geben. Es besteht für uns kein Zweifel, dass es auch nach Auslaufen des derzeitigen Solidarpaktes nach dem Jahre 2004 eine weitere Unterstützung und Förderung der ostdeutschen Forschungslandschaft geben muss. ({8}) Dabei ist zu beachten, dass die neuen Strukturen der ostdeutschen Industrieforschung keine Sondererscheinung, sondern ein neues, zukunftsträchtiges Modell der Forschungslandschaft in Deutschland darstellen. Sie müssen als gleichberechtigter Teil der Industrieforschung für ganz Deutschland anerkannt und akzeptiert werden. Über die Modalitäten ab 2004 muss in dieser Legislaturperiode entschieden werden. Auf jeden Fall sollten nach diesem Zeitpunkt die Fördermaßnahmen für die ostdeutsche Industrieforschung gebündelt werden. Wir werden diese Thematik in Abstimmung mit unseren Ländern noch in diesem Jahr auf die Tagesordnung setzen. Denn für uns gilt nach wie vor, dass die Erhaltung und die Entwicklung der Forschungslandschaft in den neuen Bundesländern auch für die Zukunft eine zentrale Aufgabe deutscher Forschungspolitik bleiben muss. ({9}) Vielen Dank. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Bericht der Bundesregierung zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 1998. Der Ausschuss empfiehlt, den Bericht auf Drucksache 14/438 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses einhellig angenommen worden. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Christine Ostrowski, Dr. Christa Luft, Gerhard Jüttemann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Altschuldenhilfe-Gesetzes ({0}) - Drucksache 14/568 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2}) - Drucksache 14/2317 Berichterstattung: Abgeordneter: Norbert Otto ({3}) Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({4}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Kein Widerspruch? - Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Christine Ostrowski.

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Wohnungspolitik zeigen sich die Folgen politischer Weichenstellungen erst Jahre später. Sind die einmal vorgenommenen Weichenstellungen falsch und kommt es zu negativen Folgen, dann sind diese nur schwer oder kaum rückgängig zu machen. Das Altschuldenhilfe-Gesetz ist ein Musterbeispiel falscher politischer Weichenstellungen. ({0}) Voraus ging die politische Entscheidung, Schulden der Planwirtschaft zu Schulden der Marktwirtschaft zu machen. Aus virtuellen wurde reelle Schulden. Das Gesetz wurde in totaler Verkennung der realen Lage beschlossen, zum Beispiel unter der Illusion, dass alle Mieter ihre Wohnung kaufen würden und kaufen könnten, unter einer Falscheinschätzung der Bevölkerungsbewegungen, obwohl schon damals klar war, dass die Industriezentren und Arbeitsplätze nicht zu halten sind, dass die Bevölkerung der Arbeit hinterherwandern wird und dass ein dauerhafter Wohnungsleerstand entstehen wird, sowie unter der Falscheinschätzung der Entwicklung der Restitutionen und anderer Dinge. Ich muss feststellen: Die Einzigen, die die Lage auf den Punkt real betrachtet haben, waren wir in unserer Fraktion. ({1}) - Herr Dr. Kansy, hätten Sie damals auf uns gehört und wären Sie unseren Argumenten gefolgt, stünden Sie heute nicht vor diesem Scherbenhaufen. ({2}) Es ist ja so: Weil ein undurchdachtes Gesetz beschlossen worden ist, stehen wir heute vor einem Scherbenhaufen. Ihr Ziel, 100 Prozent aller zwangszuprivatisierenden Wohnungen an Mieter zu veräußern, ist eben nicht erreicht worden. Nur ein Drittel der Wohnungen wurde von Mietern gekauft. Zwei Drittel gingen an Zwischenerwerber, die diese Wohnungen zu Dumpingpreisen erworben haben, die sich durch Steuergeschenke eine goldene Nase verdienen konnten - ich denke an die daraus folgenden Mindereinnahmen des Bundes: zweistellige Milliardenbeträge jedes Jahr - und die im Übrigen bis heute die 40 Prozent des Bestandes, den sie erworben haben, nicht an Mieter weiterveräußert haben. Darüber schweigen alle. Teure Steuergeschenke wurden auch an solche Zwischenerwerber gemacht, die unseriös sind, allen voran Aubis, die von zwei CDU-Politikern gegründet wurde und zu Katastrophen in Cottbus, Görlitz, Leipzig, Zittau usw. führte. Zu den Scherbenhaufen zählt auch die akute finanzielle Notlage von Wohnungsunternehmen, insbesondere kleineren in strukturschwachen Regionen, ebenfalls wegen des Altschuldenhilfe-Gesetzes mit seinen finanziellen Belastungen. Fazit ist: Nichts, aber auch gar nichts vom eigentlichen Ziel ist am Ende erreicht worden. Da hilft es auch nicht, das Loblied von der Entwicklung der Investitionsfähigkeit durch dieses Gesetz zu singen. Meine Damen und Herren, hätte die Politik uns damals die Schulden gestrichen, wären ostdeutsche Wohnungsunternehmen ohne Schulden in die deutsche Einheit gegangen. Das hätte ihre Investitionsfähigkeit gestärkt! ({3}) Die Forderungen nach einem Schlussstrich sind unüberhörbar geworden - zu Recht. Die Frage ist, was man unter einem Schlussstrich versteht. Manche verstehen darunter, den Termin einfach vorzuziehen, aber alle Sanktionen bleiben erhalten. Wir nicht! Wir sagen bei einem Schlussstrich: wenn schon, denn schon. Dann wollen wir das Gesetz aufheben. Aufheben heißt nun wiederum, dass man dann schon der Logik des Gesetzes folgen muss. Die Logik hieß: Anerkenntnisse der Schulden, Kreditverträge schließen, und erst dann erfolgen die Teilentlastung und die Zwangsprivatisierung. Also beantragen wir Aufhebung der Schuldanerkenntnisse und der Kreditverträge. Sie werden unwirksam, weitere Verpflichtungen zur Kredittilgung und Zinszahlung entfallen, und die abgeführten Erlöse werden in die Unternehmen zurückgeführt. Ich kenne Ihre Argument schon, Herr Danckert; ich denke, Sie werden mir nachher sagen, wenn wir das durchführen würden, würden natürlich dem Bund Milliarden an Schulden erwachsen. Das ist völlig klar. Aber meine Damen und Herren von der CDU/CSU, das ist eben die Konsequenz aus einem undurchdachten Gesetz. Wer ein Gesetz macht und nicht gleichzeitig auch die Variante seines Scheiterns mitbedenkt, wer sich nicht bemüht, grundsätzlich möglichst nur solche Gesetze zu machen, die nach menschlichem Ermessen im Leben nicht scheitern, der handelt als Politiker unverantwortlich, ({4}) und der muss sich auch mit den Folgen auseinander setzen und kann sie auf gar keinen Fall jenen anlasten, die sie klar benennen, wie wir zum Beispiel. Er darf sie auf gar keinen Fall jenen, wie den Wohnungsunternehmen, die darunter zu leiden haben, anlasten. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein Wort zu der Verteilung der Rollen sagen. Die CDU/CSU hat sich fünf Jahre lang mit Händen und Füßen gegen eine wirkliche und grundsätzliche Novelle zum Altschuldenhilfe-Gesetz gewehrt. Sie haben das Gesetz so hochgelobt, bis zuletzt, und erst jetzt, wo Sie in der Opposition sind, kommen Sie plötzlich mit einem Antrag zu einer Novelle. Die SPD hat fünf Jahre lang das Gesetz kritisiert, dass es nur so raucht. Sie würden heute Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer noch rote Ohren kriegen, wenn ich Ihnen Ihre Originalsätze vorlesen würde, aber Sie haben es bis heute nicht fertig gebracht, eine Novelle auf den Tisch zu legen. Dazu muss ich zum Abschluss wiederum sagen: Es tut mir wirklich Leid, aber die einzigen, die konsequent bei ihrer Position geblieben sind und die unermüdlich, seit das Altschuldenhilfe-Gesetz existiert, an diesem Gesetz gearbeitet haben und Vorschläge gemacht haben, das sind wir. Da wir schon wissen, dass Sie diesen Antrag ablehnen werden - wir wissen das ja, denn wir sind ja bei allen Visionen auch Realisten -, haben wir schon einen Zweiten, der das Altschuldenhilfe-Gesetz in weiteren Teilpunkten ändern wird. Danke schön. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Danckert.

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Ostrowski, Sie haben völlig Recht: In meiner Erwiderung muss ich deutlich machen, dass der Scherbenhaufen, über den Sie hier geredet haben, auch sehr viel mit dem zu tun hat, was in der Vergangenheit, vor allem der Vorvergangenheit der DDRGeschichte, durch Sie mitverantwortet worden ist. Das ist gar keine Frage. ({0}) Bei dieser Ausgangslage kann man sich natürlich Gedanken darüber machen, wie man alles handhabt, wie man mit einem Federstrich alle Schulden streicht und dann von vorne anfängt. Aber die Situation ist leider eine andere. Hier, in diesem Hohen Hause, das heißt in Bonn, ist darüber beraten worden, wie man das Problem insgesamt löst. Ich muss sagen, ich bin schon sehr verwundert, wenn Sie an dieser Stelle ignorieren, dass noch am 22. Dezember 1999 das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsauffassung zu diesen Verträgen mitgeteilt hat, indem es in einem Nichtannahmebeschluss eine Verfassungsbeschwerde einer Berliner Wohnungsbaugenossenschaft zurückgewiesen hat. Man kann dazu unterschiedlicher Meinung sein, und ich will gar nicht verhehlen, dass ich das auch nicht als das Gelbe vom Ei ansehe, aber wir stehen ja nun einmal auf dem Boden eines Rechtsstaates und müssen zur Kenntnis nehmen, was dieses Parlament beschließt und was das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen zu dieser Problematik gesagt hat. Das ist die Ausgangslage. Nun sagen Sie: Wir haben das immer gesagt; wir wollten immer, dass es zu einer sozusagen generell anderen Regelung kommt. Sie schlagen heute eine solche vor. Das ist, vorsichtig formuliert, ein „Geniestreich“, den Sie hier versuchen. ({1}) - Es ist aber kein Geniestreich in der Weise, wie Sie es meinen. Ich sehe es ganz anders. Wenn Sie in Ihrem Gesetzentwurf davon sprechen, dass die Schuldanerkenntnisse und die Kreditverträge aufgehoben werden sollen, gewissermaßen auf Null geführt werden sollen, beinhaltet das eine verfassungsrechtliche Problematik, die Sie offensichtlich überhaupt nicht bedacht haben. Wenn Sie weiter fordern, dass ein Verzicht auf Kredittilgung und Zinszahlung erfolgen solle, dann bedeutet das nicht nur den Eingriff in Tausende von bestehenden Verträgen, mit all den sich daraus ergebenden Konsequenzen, sondern auch - das haben Sie selber angedeutet - ein Volumen zwischen 25 und 27 Milliarden DM, was von der öffentlichen Hand, sozusagen über unseren Haushalt, geregelt werden müsste. Es sind ganz naive Wunschvorstellungen, die Sie umsetzen wollen. Damit kann man höchstens ein nicht informiertes Publikum erfreuen und behaupten: Wir haben etwas für euch getan. Die Realität sieht doch ganz anders aus. Mit Ihrem Entwurf können Sie überhaut nichts anfangen. ({2}) Nun sage ich Ihnen: Wir sehen natürlich auch die Notwendigkeit, dass hier etwas getan werden muss. Ich bin sehr dankbar, dass der zuständige Bundesminister heute in einer Pressemeldung mitgeteilt hat, dass die Novelle auf den Weg gebracht worden ist. Es kommt nun zu einer Abstimmung mit den Ländern und den Verbänden sowie zu einer Diskussion in diesem Hause. Ich denke, dass dies im März der Fall sein wird, sodass wir dann eine Basis haben werden, auf der wir wirklich sachgerecht argumentieren können. Ich sage an dieser Stelle auch meine persönliche Meinung: Ich denke, dass es notwendig wird, in einer solchen Novelle einen vorgezogenen Schlussbescheid zum 31. Dezember zu erreichen. Ich sehe aber schon jetzt die Probleme, die auftauchen werden: Die Frage des Vertreten-Müssens oder Nicht-vertreten-Müssens wird eine endlose Debatte auslösen. Ich behalte mir einmal vor, dass wir in unseren Gremien auch darüber noch reden werden; denn es kann meines Erachtens nicht sinnvoll sein, dass wir den Schlussbescheid vorziehen und dann eine Debatte darüber anfangen, was sozusagen an Privatisierungsmöglichkeiten gegeben war. Darüber werden wir uns verständigen müssen. Ich denke, hier muss Klarheit geschaffen werden. Ich meine auch, dass sich die anstehenden negativen Restitutionsverfahren nicht noch weiter auf die Privatisierungspflicht auswirken dürfen. Auch hier muss ein Schlussstrich gezogen werden. Ob das ohne weiteres gelingt, da verschiedene Interessen mitwirken, werden wir sehen. Ich persönlich will mich dafür einsetzen, weil ich wie Sie die Lage vor Ort kenne und weiß, wie desolat die Situation ist. Wir haben in einigen Städten einen Bevölkerungsrückgang von bis zu 20 Prozent. Wir haben eine hohe Arbeitslosigkeit von mehr als 20 Prozent. Wir haben - ein Beispiel - in einer Wohnungsbaugenossenschaft in Luckenwalde, der Kreisstadt in meinem Wahlkreis, einen Leerstand von 36 Prozent. Dass dies fatale und katastrophale Situationen sind, die Auswirkungen auf die Betriebs- und sonstigen Finanzierungskosten haben, ist keine Frage. Hier muss etwas getan werden. Wir müssen sehen, dass wir die Situation in den Griff bekommen; denn sie hat unmittelbare Auswirkungen nicht nur auf den Wohnungsmarkt, sondern auch auf den Arbeitsmarkt. Diese Regierung hat sich das Ziel gesteckt, auch an dieser Stelle deutliche Zeichen zu setzen. Es ist in meinen Augen ein Teilaspekt des Aufbaus Ost - Herr Staatssekretär, ich sage das ganz offen -, dieses Problem mit zu lösen. Es darf aber nicht so gelöst werden, dass wir sozusagen ganz von vorne anfangen, sondern wir müssen sachgerecht und behutsam an den Stellen arbeiten, an denen es dieses Altschuldenhilfe-Gesetz im Rahmen einer Novellierung möglich macht. Ich denke, ich habe meine Redezeit eingehalten. Frau Christine Lucyga wird das ergänzen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Dafür sind wir gerade am Freitagmittag besonders dankbar. Jetzt hat der Kollege Kansy das Wort.

Dr. - Ing. Dietmar Kansy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Ostrowski, Ihre Schlussbemerkung war sehr schön. In Wirklichkeit aber haben Sie seitens der PDS Ihren Gesetzentwurf nicht ernst genommen, sonst hätten Sie nicht drei Monate später einen Änderungsantrag eingebracht, der statt dieser Luftnummer wenigstens im Bereich des Diskutierbaren gewesen ist. Stattdessen diskutieren wir heute diesen lächerlichen Entwurf. Dieser Entwurf schlägt vor - das wurde gerade gesagt -, die Existenz von Altschulden ex tunc abzuschaffen, damit das Altschuldenhilfe-Gesetz quasi aufzuheben und von Unternehmen bereits getätigte Zahlungen zurückzuerstatten. Die Kosten, die die PDS fälschlicherweise mit 1,2 Milliarden DM beziffert, sind auch eine solche Luftnummer. Was verschwiegen wird - von Ihnen sowieso -, ist, dass rund 30 Milliarden DM an Schulden bereits vorab gestrichen wurden, dass die Kreditwirtschaft aber noch immer auf rund 25 Milliarden DM Schulden sitzen bliebe, die von der Wohnungswirtschaft bereits anerkannt wurden, und auf den darauf zu zahlenden Zinsen. Dennoch bin ich sehr dankbar, dass wir - wenn auch am Freitagmittag - über das Thema „Altschulden“ sprechen; denn dieses Thema hat tatsächlich allerhöchste Priorität. Warum? Der Deutsche Bundestag hat 1996 das Altschuldenhilfe-Gesetz geändert und hat - daran werden Sie sich alle erinnern - die so genannte Abflachung der Erlösabführungsstaffel vorgenommen, was die Fortsetzung der Mieterprivatisierung ermöglicht hat. Diese ist zugegebenermaßen in einem wesentlich geringeren Umfang bei dem tatsächlichen Mieter angekommen als bei dem Zwischenerwerber. Die Wohnungswirtschaft wurde aber um die Hälfte ihrer Altschulden entlastet, die Eigentumsquote wurde sichtbar gesteigert, von den 340 000 Wohnungen, die privatisiert werden sollten, waren bereits 1998 mehr als zwei Drittel veräußert. In den letzten Jahren hat sich dramatisch etwas geändert; die positive Bilanz darf uns - bei allen Schwächen - den Blick dafür nicht verstellen: Die zögerliche Wirtschaftsentwicklung, erhebliche Neubautätigkeit und ein spürbarer Bevölkerungsrückgang haben dazu geführt, dass manche Wohnungsunternehmen, und zwar insbesondere in strukturschwachen Regionen, einen erheblichen Wohnungsleerstand zu verzeichnen haben; er ist eben zu Recht angesprochen worden. Ich möchte die Zahlen nicht wiederholen; sie sind zwar unterschiedlich, liegen aber in derselben Dimension. In derselben Dimension liegen ebenfalls die Mietverluste, die den Unternehmen durch diese Situation entstehen. Viele der Unternehmen haben deswegen, völlig anders als vor sechs Jahren absehbar, große Schwierigkeiten, auf der einen Seite ihre Altschulden zu bedienen ohne auf der anderen Seite auf dringend notwendige Investitions- und Modernisierungsmaßnahmen zu verzichten. Die Hauptstoßrichtung muss sein, nicht die alten Grundsatzdebatten zu führen, sondern den Unternehmen mit einem hohen strukturellen Leerstand sowie mit besonderen Belastungen, zum Beispiel aus negativen Restitutionsfällen, dadurch zu helfen - da brauchen wir uns nichts vorzumachen -, dass ihnen eine weitere Teilentlastung von den Altschulden gewährt wird. Sonst funktioniert das nicht. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat im Übrigen im letzten Jahr einen Antrag im Deutschen Bundestag eingebracht, der eine schnelle Novellierung des Altschuldenhilfe-Gesetzes fordert. Ich darf kurz einmal daran erinnern, was die Eckpunkte sind: Vorziehen des Schlusstermins für die Erfüllung der Privatisierungsauflage auf den 31. Dezember 2000, Einführung einer Freikaufsregelung für Unternehmen, die ihre Privatisierungsverpflichtung in von ihnen zu vertretender Art und Weise zum Stichtag am 31. Dezember 2000 nicht erfüllt haben, und - jetzt komme ich wieder darauf zurück weitere Teilentlastung für Wohnungsunternehmen mit großen, strukturell bedingten Problemen. Wie viele unserer Kollegen, die sich insbesondere der Wohnungspolitik nicht nur in Ost-, sondern auch in Westdeutschland verpflichtet fühlen, habe ich in den letzten Monaten in vielen Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften in den neuen Ländern mit den Betroffenen vor Ort gesprochen. Das ist - bei allem Respekt vor den Verbänden - manchmal eindrucksvoller, als „nur“ mit den Verbänden zu sprechen. Man erkennt die Situation vor Ort, spürt den massiven Druck und erkennt die Notwendigkeit, eineinviertel Jahre nach der Ankündigung durch die Koalitionsfraktionen schnell etwas zu machen. Nehmen wir zum Beispiel die Dessauer Wohnungsgesellschaft. Sie besitzt rund 16 000 Wohnungen. Davon sind 2 500 restitutionsbehaftet. Noch vor wenigen Jahren ist man davon ausgegangen, dass mehr als 90 Prozent der Restitutionsfälle positiv, also zugunsten des früheren Eigentümers, entschieden werden und die Wohnung im Normalfall auch zurückgenommen wird. Dies hat sich innerhalb weniger Jahre völlig verändert. Zwar werden „Sahnestücke“ nach wie vor privat zurückgenommen, aber ein ganz großer Teil der Wohnungen verbleibt plötzlich bei den Wohnungsgesellschaften. Wenn wie in Dessau nur noch 3 Prozent der Restitutionsfälle positiv entschieden werden, dann kommen dadurch automatisch neue Millionenforderungen auf die Gesellschaft zu, obwohl sie in den vergangenen Jahren bereits Millionen gesetzestreu abgeführt hat. ({0}) Die Ungewissheit - deswegen gibt es die Diskussion um das Vorziehen des Gesetzes - erfordert noch zusätzliche Rückstellungen. Wenn die Unternehmen diese nicht vornehmen, dann fordert spätestens der Wirtschaftsprüfer solche Rückstellungen von ihnen ein. Diese Situation führt im Fall Dessau dazu, dass das beabsichtigte Investitionsvolumen von rund 40 Millionen DM für dieses Jahr auf 20 Millionen DM sinkt. Der Rest der Mittel wird für die Rückstellungen oder für Negativrestitutionen benötigt. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir schon in der letzten Legislaturperiode Hilfsstrategien diskutiert und über den Lenkungsausschuss bzw. die Kreditanstalt für Wiederaufbau teilweise realisiert haben, allerdings - wie jeder weiß - unterhalb der gesetzlichen Ebene. In der letzten Legislaturperiode gab es eine weitestgehend einmütige Empfehlung des Fachausschusses, des damaligen Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Es ist zu begrüßen, Herr Staatssekretär Großmann, dass auch die neue Bundesregierung eine flexible Vorgehensweise unterstützt hat und im März 1999 Beschlüsse über weitere Erleichterungen für Wohnungsunternehmen im Lenkungsausschuss herbeigeführt hat. Dennoch erscheint nunmehr eine schnelle Weiterentwicklung des Altschuldenhilfe-Gesetzes unumgänglich. Seit mehr als einem Jahr wird diskutiert, versprochen und werden Lösungen zwischen Bund und Ländern gesucht. Es gibt Koalitionsankündigungen und Regierungserklärungen zu diesem Thema. Ich bin dankbar, dass die Bundesregierung offensichtlich jetzt bereit ist auch wenn es fast eineinhalb Jahre gedauert hat - zu handeln. Es ist auch allerhöchste Zeit. Eine wesentliche Verbesserung der Planungs- und Rechtssicherheit für die Unternehmen - auf den ersten Punkt unseres Antrags hatte ich schon verwiesen - kann durch ein Vorziehen des derzeit durch das AHG auf den 31. Dezember 2003 festgelegten Schlusstermins erreicht werden. Die Wohnungsunternehmen - auch hier stimme ich Ihnen, Herr Kollege Danckert, zu - benötigen schnellstmöglich entweder die Bestätigung der Erfüllung ihrer Privatisierungspflicht oder die Anerkennung des Nicht-Vertreten-Müssens. Dies wird zugegebenermaßen noch manche Detaildiskussion erfordern. Als jemand, der viele Jahre wohnungsbaupolitischer Sprecher einer Regierungsfraktion war, weiß ich, dass das Herzblut der Wohnungs- und Baupolitiker und des Bauministers nicht in jedem Fall ausreicht, um das des Finanzministers und der Haushaltspolitiker in diesem Hause in Wallung zu versetzen. ({1}) - Ich würde mich freuen, wenn es so wäre, Frau Kollegin. ({2}) - Ich möchte Ihren Zwischenruf als Zwischenfrage werten, Frau Präsidentin. Wir können darüber gerne diskutieren. Wenn Sie das Wohngeld meinen, muss ich Sie darauf hinweisen, dass Sie nicht ohne die Zustimmung des Bundesrats und des Vermittlungsausschusses geschafft hätten. Sonst hätten Sie zwar 1,4 Milliarden DM mehr Wohngeld kassiert. Aber zwischendurch hätten Sie bei den Gemeinden 2,5 Milliarden DM abkassiert. Die Wohnungsunternehmen benötigen also schnellstmöglich entweder die Bestätigung oder die Anerkennung des Nicht-Vertreten-Müssens. Wir sind der Auffassung, dass auch Unternehmen, die ihre Privatisierungspflicht nicht erfüllt haben, der Hilfe bedürfen. Ihnen sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, sich durch eine Zahlung an den Erblastentilgungsfonds in der Höhe der gesetzlich geregelten Erlösabführung bei Erfüllung der Privatisierungsauflage von der Privatisierungsverpflichtung freizukaufen, um der Rückzahlung des gewährten Teilentlastungsbetrages zu entgehen. Ich wiederhole: Es muss insbesondere Unternehmen in Gebieten mit hohem strukturellem Leerstand sowie besonderen Belastungen durch negative Restitutionsfälle schnell und wirksam dadurch geholfen werden, dass ihnen eine weitere Teilentlastung für die Altschulden gewährt wird. Dies ist die im Antrag der CDU/CSUBundestagsfraktion formulierte Position. Sie ist seriös und machbar - im Gegensatz zu der finanzpolitisch nicht zu verantwortenden Forderung der PDS nach Ziehung eines Schlussstrichs unter das AltschuldenhilfeGesetz. Vielen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Ostrowski, ich halte es für verwirrend, dass Sie am 17. März 1999 einen Gesetzentwurf eingebracht haben, um dann am 9. Juni 1999, also noch nicht einmal ein Vierteljahr später, einen Änderungsantrag zum Altschuldenhilfe-Gesetz vorzulegen. Ich erwarte von Ihnen schon, dass Sie Ihre eigenen Anträge so ernst nehmen, dass sich letztlich nicht herausstellt, dass es Schaufensteranträge sind, die nur für die öffentliche Meinung und für Ihre Wähler gedacht sind. Anträge sollten hier ernsthaft erörtert werden. Alle meine Vorredner haben schon mehr oder weniger deutlich dargestellt und wir haben es bereits im Ausschuss diskutiert: Der Gesetzentwurf ist in dieser Form einfach nicht diskutabel und nicht verhandelbar, zum einen weil er eine im Jahre 2000 wirklich nicht mehr machbare Rückabwicklung erfordert und zum anderen weil wir das ganze Kreditvolumen, das dahinter steckt, nicht aufbringen können. Von daher tut es mir Leid. Dies zu sagen ist mir deswegen besonders wichtig, weil ich die Politik, die Sie so gerne pflegen, nämlich Teilen der Bevölkerung im Osten immer wieder das Gefühl zu geben, man könnte sie vor den Realitäten, die sich in den letzten zehn Jahren entwickelt haben, abschirmen, für politisch äußerst fragwürdig halte. Ich werbe bei Ihnen ernsthaft dafür, das nicht weiter zum politischen Prinzip zu erheben. Sie und Ihre Wähler sollten sich mit den Realitäten auseinander setzen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ostrowski?

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lassen Sie mich noch kurz den Gedanken zu Ende bringen. Danach würde ich sie gerne beantworten. Wir selbst haben uns Anfang und Mitte der 90erJahre sehr wohl mit Vehemenz gegen das Altschuldenhilfe-Gesetz engagiert. Dazu stehe ich. Aber bereits in der letzten Legislaturperiode waren wir in einer Situation, in der eine Rückabwicklung nicht mehr möglich war. Das gilt heute umso mehr. Bitte schön.

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, Sie haben uns fehlenden Realismus vorgeworfen. Können Sie sich vielleicht erinnern, dass es hier bei Einbringung unseres Gesetzentwurfes eine Debatte gab, in der alle Fraktionen - Sie, Herr Dr. Kansy und andere; Sie können es im Protokoll nachlesen einheitlich gesagt haben, sie würden den Gesetzentwurf gar nicht weiterverfolgen und sie würden ihn ablehnen? ({0}) Das heißt, wir wussten schon bei der Einbringung, wie Sie sich verhalten werden. Können Sie sich daran erinnern?

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich kann mich sehr wohl daran erinnern. Die Frage ist nur, welche Konsequenzen Sie daraus nicht gezogen haben. Insofern bleibte ich bei der Bitte, die ich schon eben ausgesprochen habe: Stoßen Sie mit Anträgen und Gesetzentwürfen in einen realistischen politischen Raum! Dass das für Ihren Gesetzentwurf vom 17. März 1999 nicht galt, haben Sie gewusst. Wir haben auch in der letzten Legislaturperiode mit Ihrem Vorgänger - nicht mit Ihnen persönlich - intensiv darum gerungen. Von daher bleibt es bei meiner Aussage. Ich möchte gerne etwas zu dem sagen, was in der Praxis stattfindet. Ich möchte ein bisschen in Richtung der Argumentationen des Kollegen Kansy und Ihres Antrags gehen. Zum einen muss ich ganz deutlich sagen: Herr Kansy, dass die Erkenntnis, wir hätten beim Altschuldenhilfe-Gesetz Änderungsbedarf, 1999 bei Ihnen gewachsen ist, finde ich sehr gut. Wenn ich daran denke, welch intensive Diskussionen wir zwischen 1994 und 1998 hatten, dann wünsche ich mir, Sie hätten daraus eher Lehren gezogen. ({0}) Alle anderen Fraktionen haben intensiv um das Ganze gerungen. Ich erinnere mich noch an die denkwürdige Ausschusssitzung in Görlitz, wo Ihnen alle Experten gesagt haben, wie dringend in diesem Punkt der Handlungsbedarf ist. ({1}) - Seien Sie einmal ein bisschen cool. Als Erstes hat die neue Regierung das gemacht, was schon vorher längst nötig war: Sie hat sich sofort untergesetzlich um die Befreiung für diejenigen Gesellschaften bemüht - ({2}) - Ja, das hat aber erst diese Regierung in Angriff genommen. Es war überhaupt das Einzige, zu dem Sie bereit waren. Wir haben es - im Wege der berühmten 40Prozent-Formel - sofort umgesetzt: Wenn Leerstand, Bevölkerungsrückgang und Arbeitslosigkeit zusammenkommen, können Wohnungsunternehmen von der Privatisierungspflicht befreit werden. Auf dieser Grundlage sind inzwischen die Hälfte der Unternehmen befreit worden. 1 000 Wohnungsunternehmen haben davon Gebrauch gemacht. Das ist ein ganz wichtiger Befreiungsschlag gewesen, der jetzt den Druck genommen hat. Denn wir alle wissen, dass in Sachen Privatisierung momentan nichts Wesentliches läuft. Ein weiterer Punkt betrifft das, was jetzt im Referentenentwurf in der Abstimmung mit den Ländern ist. Dazu wird es im März einen Kabinettsbeschluss geben, über den wir im April beraten können - auch mit einer Anhörung, die Sie sich so gerne für einen separaten CDU-Antrag wünschen. Ich glaube aber, wir können das in der Anhörung gemeinsam erörtern, zusammen mit den wichtigen Zielen, auf die sich jetzt die Länder und die Bundesregierung verständigt haben und die wir als Koalitionsfraktion - und, nach Ihrem Antrag zu urteilen, teilweise auch Sie - engagiert mittragen: nämlich dass eine Teilentlastung bereits zum 31. Dezember 2000 möglich wird statt erst Ende 2003 und dass schon zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit einer Ablöse für all die Gesellschaften besteht, die ihre Privatisierungspflicht noch nicht erfüllt haben und sich nicht nach dieser untergesetzlichen Regelung befreien lassen können. Als Letztes sollten wir einen Schlussstrich unter die Schuldenprobleme im Zusammenhang mit den negativen Restitutionen ziehen. Das sind drei sehr wichtige Punkte, die wir um Ostern herum beraten und dann sehr schnell zum Abschluss bringen werden. Von daher sind wir einen Schritt weiter. Aber lassen Sie mich noch eines zu Ihrer Erwartung sagen - der Sie in Ihrem Antrag Ausdruck geben -, die Leerstandsprobleme im Osten mit der Altschuldenhilfe so verknüpfen zu können, dass wir uns daran erwürgen. ({3}) - Doch, so ist Ihr Antrag formuliert. Das halte ich für gefährlich. So kommen wir bei diesem Problem, das wir alle lösen wollen, nicht einen Schritt voran, sondern satteln neue Probleme auf. Ich bitte darum, dass wir die Leerstandsproblematik separat diskutieren. Ihre Fraktion sollte zur Kenntnis nehmen, dass Sie historisch Verantwortung für diesen Leerstand tragen, insbesondere durch die hohen Sonderabschreibungen und die Forcierung des Neubaus, der faktisch in Konkurrenz zu den Wohnungsbeständen tritt, ({4}) sowohl in den Innenstädten als auch in den Großsiedlungen. Das wird Gegenstand der nächsten Diskussionsrunde sein. Unser Engagement wird da sehr groß sein. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Herr Kollege Guttmacher das Wort.

Dr. Karlheinz Guttmacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Altschuldenhilfe-Gesetz sieht in seinem § 5 vor, dass die Kommunen bzw. Wohnungsunternehmen, die einen Antrag auf Teilentlastung der Altschulden stellen, sich gleichzeitig verpflichten, 15 Prozent ihrer Wohnungen mit 15 Prozent der Gesamtwohnfläche - mieternah zu privatisieren. Von den Verkaufserlösen dieser Privatisierung muss ein gewisser Prozentsatz an den Erblastentilgungsfonds abgeführt werden. Über den Erfolg der Privatisierung entscheidet die Kreditanstalt für Wiederaufbau durch einen Schlussbescheid am Ende der Privatisierungspflicht. Derzeit ist der Termin auf das Jahr 2003 festgelegt. Noch im Februar - und nicht erst 1999, Frau Eichstädt-Bohlig - hat der Bundestag in einer Entschließung auch den so genannten schwierigen Fällen Rechnung getragen und die Bundesregierung aufgefordert, im Lenkungsausschuss darauf hinzuwirken, dass vor allem kleinere Wohnungsunternehmen und -genossenschaften auf Antrag eine vorgezogene Bestätigung erhalten können, wonach sie die absehbare Nichterfüllung der Privatisierungsauflage nicht vertreten müssen. Eine Anerkennung des Nicht-vertreten-Müssens der Privatisierungsauflage sollte dabei nach Auffassung der F.D.P. unter weitaus moderateren Gesichtspunkten erfolgen und nicht nur bei einer Bewertung durch Kumulierung von Arbeitslosigkeit, Leerstand und Bevölkerungsrückgang, wie vom Lenkungsausschuss vorgeschlagen, geschehen. ({0}) Es ist zu berücksichtigen, dass es bereits heute bei Kommunen und Genossenschaften zu Härtefällen kommt, da nicht selten 15 Prozent des Wohnungsbestandes privatisiert sind, jedoch die damit einhergehenden 15 Prozent der Gesamtwohnfläche bei weitem noch nicht erreicht wurden. Ebenso müssen die Reduzierung von strukturellem Leerstand im Rahmen von Ordnungsmaßnahmen zur Beseitigung städtebaulicher Missstände wie Rückbau von altschuldenbelasteten Blockund Plattenbauten sowie Maßnahmen zur Wohnumfeldverbesserung Berücksichtigung finden. ({1}) Der Rückbau sollte sowohl mit Städtebaufördermitteln als auch durch Befreiung von den Altschulden für die Wohnfläche des abgerissenen Objektes unterstützt werden. Sofern es sich herausstellt, dass eine Nichterfüllung der Privatisierung im Einzelfall doch zu vertreten ist, sollte nach Auffassung der F.D.P. den Betroffenen der ursprüngliche Entlastungsbescheid erhalten bleiben, aber als Gegenleistung sollte von den Begünstigten eine gesetzlich festzulegende Abführung an den Erblastentilgungsfonds getätigt werden. Andererseits sollten diejenigen Kommunen und Wohnungsgesellschaften, die die Privatisierungsauflage bereits vollständig erfüllt haben, für Übererlösquoten belohnt werden. In den vorgezogenen Schlussbescheiden der KfW muss zweifelsfrei festgestellt werden, dass alle erbrachten Auflagen nach dem AHG erfüllt sind und weitere Änderungen, zum Beispiel Restitutionsobjekte, nicht mehr berücksichtigt werden. Meine Fraktion ist für den Schlusstermin 31. Dezember 2000 für die Abführung von Erlösen aus § 5 des AHG. Meine Damen und Herren der PDS, die Tatsache, dass die PDS bereits einen moderateren Antrag zur Novellierung des AHG vorgelegt hat, zeigt den ganzen Ernst Ihres heute vorgelegten Gesetzesentwurfs. Wir werden Ihren Antrag ablehnen. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Lucyga.

Dr. Christine Lucyga (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Problem, über das wir heute reden, ist ernst genug - umso bedauerlicher, dass das zu dieser späten Stunde vor fast leerem Plenum auf der Grundlage eines Antrags geschieht, der nicht einmal von den Antragstellern selbst ernst genommen wird. Das ist mehr als bedauerlich. Dass Sie einen Änderungsantrag nachgeschoben haben, bevor das Thema überhaupt abschließend behandelt worden ist, wurde ja ausgeführt. Ich denke aber, dieser Antrag würde kaum eine taugliche Lösung darstellen. Man kann nach zehn Jahren eine Rückabwicklung, so wie Sie es wollen, nicht einfach auf den Weg bringen. Das schafft neue Disparitäten und Ungerechtigkeiten; das kann nicht unser Ziel sein. Wenn wir auf die Chronologie der Altschuldenhilfegesetzgebung zurückschauen, dann stellen wir ja fest, dass es am Anfang ein langes Liegen-lassen und dadurch eine Verschärfung des Problems und danach eine fehler- und lückenhafte Initialgesetzgebung gegeben hat, durch die die Wohnungsunternehmen geradezu erpresst worden sind. Die 30 Milliarden DM, von denen Sie, Herr Kansy, gesprochen haben, dienen zu einem großen Teil der Tilgung jener Schulden, die durch Ihr Liegen lassen überhaupt erst entstanden sind, und sind Aufwendungen für die Zinsen und Zinseszinsen. Verdient haben daran die Banken; genützt hat es nicht dem Aufbau Ost. ({0}) Die Probleme, die wir heute noch haben, hat im Grunde genommen die bis 1998 regierende Koalition zu verantworten. Was Sie in dieser Richtung hier abgeliefert haben, Herr Kansy, war ein Meisterstück an Verdrängung. Eine späte Einsicht ist besser als gar keine. Sie haben aber lange Zeit gehabt, sich mit unseren Warnungen und unseren Überlegungen vertraut zu machen. Denn wir sind es ja, die jetzt die Suppe auslöffeln müssen, die Sie uns eingebrockt haben. Ich finde, das ist schon ein starkes Stück, das Sie hier geliefert haben. ({1}) Was wir jetzt machen müssen, ist, einen weit vorangeschrittenen und so leider nicht mehr total umkehrbaren Prozess letztendlich noch in die richtige Richtung zu lenken und dabei Ungerechtigkeiten und Härten, so gut es geht, zu korrigieren. Es ist unsere erklärte Absicht, diese Fehler zu beseitigen. ({2}) Wenn wir heute den Antrag der PDS, der ja auch in den Ausschüssen unisono abgelehnt worden ist, ablehnen, bedeutet das nicht, dass das Thema damit beendet wäre, im Gegenteil: Wir haben uns ja der Problematik unmittelbar nach Übernahme der Regierungsverantwortung angenommen und untergesetzlich mit dem Beschluss des Lenkungsausschusses vom März 1998 zirka 1 000 Wohnungsunternehmen sofort entlastet, die nachweisen konnten, dass ihnen eine Privatisierung nicht zumutbar war. Wir haben dabei nicht aus den Augen verloren, dass mit einer abschließenden Gesetzgebung für die Wohnungswirtschaft endlich Klarheit und verlässliche Bedingungen geschaffen werden müssen. Sicherlich steht außer Zweifel - da gebe ich auch Ihnen, Frau Eichstädt-Bohlig, Recht -: Die aktuellen Schwierigkeiten der Wohnungswirtschaft in Ostdeutschland sind als Gesamtkomplex zu sehen. Es hat eine Reihe von falsch angelegten Maßnahmen gegeben. So muss die weitere Entlastung der Wohnungsunternehmen durch ein Maßnahmenbündel gesichert werden. Dazu gehören weitere Wohnumfeldverbesserungen sowie weitere Sanierungs-, Modernisierungsund Instandsetzungsmaßnahmen in gemeinsamer Verantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden. Ein einschlägiger Entwurf des AltschuldenhilfeÄnderungsgesetzes befindet sich in der Ressortabstimmung - Sie haben es gehört - und steht unmittelbar vor der Kabinettsreife. Bereits in der nächsten Sitzungswoche wird dazu nochmals der Lenkungsausschuss tagen; diese Tagung wird mit einer Expertenanhörung verbunden sein. Ich verstehe also Ihre Aufregung nicht. Sie wissen, was auf dem Tisch des Hauses liegt. Auch insofern haben Sie den Zeitpunkt für die Erörterung dieses Themas im Plenum eher unglücklich gewählt. Eine abschließende Debatte steht ins Haus; die Fortsetzung werden wir in der nächsten Woche erleben. Da wir davon ausgehen können, dass die PDS ohnehin nicht an die Annahme ihres Gesetzentwurfs geglaubt hat, wollen wir ihr in diesem Punkt Recht geben: Wir lehnen den Entwurf ab und werden stattdessen eine praktikable Lösung vorlegen. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf zur Aufhebung des Altschuldenhilfe-Gesetzes auf Drucksache 14/568. Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/2317, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der PDS abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des übrigen Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wir sind am Schluss unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 26. Januar 2000, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.