Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Die Beratung des gestern mit der Zusatzpunktliste
aufgesetzten Antrags der Fraktion der F.D.P. zur Erweiterung des Untersuchungsauftrages des 1. Untersuchungsausschusses ist für eine der folgenden Plenarsitzungen vorgesehen. Er soll daher von der heutigen Tagesordnung abgesetzt werden.
Der in der 59. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene Entwurf eines Altenpflegegesetzes der
Bundesregierung auf Drucksache 14/1578 soll nachträglich auch dem Rechtsausschuss überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch die Wehrbeauftragte
Jahresbericht 1998 ({1})
- Drucksachen 14/500, 14/1807 Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Göllner
Ich erteile der Wehrbeauftragten, Frau Marienfeld,
das Wort.
Claire Marienfeld, Wehrbeauftragte des Deutschen
Bundestages: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Die Bundeswehr steht mit
ihrem Engagement in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo vor der größten Einsatzherausforderung ihrer Geschichte. Die Beanspruchung von Mensch und Material
ist erheblich, und zwar nicht nur an den Einsatzstandorten, sondern auch an den Heimatstandorten. Die personellen und materiellen Lücken können oftmals nur durch
eine hoch entwickelte Form von militärischer Improvisationskunst geschlossen werden. Immer öfter können
die Lücken aber gar nicht mehr geschlossen werden.
Soldaten in so genannten Mangelverwendungen wie
zum Beispiel die Angehörigen des Sanitätsdienstes oder
der Fernmeldetruppe müssen damit rechnen, mehrmals
in einen Auslandseinsatz kommandiert zu werden.
Nun ist es zwar richtig und entspricht auch meinen
Beobachtungen, dass die dienstliche Motivation der Soldatinnen und Soldaten im Einsatzland außerordentlich
hoch ist. Wenn aber angesichts einer regelmäßigen
Kontingentdauer von sechs Monaten trotz der verdienstvollen Arbeit von Familienbetreuungszentren das private
Umfeld, die Ehen und die Familien der Soldaten in einer
Weise beansprucht werden, dass Entfremdungen und
Krisen entstehen, dann kann der Preis für den gezeigten
Einsatzwillen zu hoch werden. Motivations- und in der
Folge Leistungseinbrüche werden so häufiger.
Der Dienst in der Bundeswehr wird unter den gegebenen Verhältnissen nicht mehr als hinreichend attraktiv
angesehen. Gerade erst sind entsprechende Zahlen über
die Nachwuchslage veröffentlicht worden. Nehmen wir
diese Zahlen und das von ihnen ausgehende Signal ernst.
Die Herausforderung der Bundeswehr vor dem Hintergrund der gewachsenen internationalen Verantwortung
der Bundesrepublik Deutschland und die sich daraus ergebende besondere Fürsorgepflicht des Dienstherrn für
seine Soldaten müssen gerade auch in diesem Hause auf
Verständnis treffen.
Mit dem Gesichtspunkt der Fürsorge des Dienstherrn
für seine Soldaten berühre ich einen Kernbereich der inneren Führung. Nun gibt es in dieser Hinsicht viele
Gemeinsamkeiten mit dem Bundesminister der Verteidigung. Gleichwohl habe ich Veranlassung, die konsequente Umsetzung solcher gemeinsamen Grundüberzeugungen bei der Lösung der einzelnen Problemstellungen einzufordern. Wenn ich beispielsweise in meinem letzten Jahresbericht unter der Überschrift „Kleine
Mängel, großer Ärger“ auf flächendeckend auftretende
Schwierigkeiten wegen fehlender Ersatzteile und
Kleinmaterialien hingewiesen habe, dann erwarte ich
auch Aufklärung darüber, inwieweit hier fehlende Mittel
oder organisatorische Mängel und Nachlässigkeiten ursächlich sind, die letztlich durch angemessene dienstaufsichtliche und planerische Maßnahmen zukünftig verhindert werden können.
Der Minister hat in seinen Zielgruppengesprächen
Anfang des vergangenen Jahres eine Entbürokratisierung und Modernisierung gerade des Beschaffungswesens angekündigt. Meine Wahrnehmung ist, dass die
Soldaten sehr auf die Erschließung der Effizienzreserven
in diesem Bereich hoffen. So wird mit großer Aufmerksamkeit beobachtet werden, ob und welche praktischen
Konsequenzen die vertragliche Vereinbarung zwischen
dem Bundesminister der Verteidigung und namhaften
Firmen der deutschen Wirtschaft haben wird.
Schwierigkeiten gibt es auch in der sanitätsdienstlichen Versorgung in den Heimatstandorten. Auf dem Papier gibt es zwar eine recht zufrieden stellende Nachwuchs- und Stellenbesetzungslage bei den Sanitätsoffizieren und auch beim Sanitätsassistenzpersonal. In der
Realität sieht dies aber anders aus. Einsatz- und lehrgangsbedingte bzw. auch mutterschaftsbedingte Ausfälle
sind an der Tagesordnung. Im Jahr 1998 lag beispielsweise die durchschnittliche Tagesantrittsstärke bei Sanitätsoffizieren knapp über 50 Prozent. Ständiger Arztwechsel und überbeanspruchte Militärärzte, die dem einzelnen Patienten einfach nicht mehr gerecht werden
können, machen die sanitätsdienstliche Versorgung der
Soldaten zu einem Dauerthema. Im Interesse der Menschen, die hier Arbeit und Aufgabe finden, bitte ich um
schnelle Verbesserung und Planungssicherheit.
Mit Bezug auf einen weiteren Einzelpunkt möchte ich
das Thema Infrastruktur aufgreifen. Das Bundesministerium der Verteidigung hat meine Anmerkungen dahin
gehend kommentiert, dass die angespannte Haushaltslage die Beseitigung selbst gravierender Mängel in angemessenen Zeiträumen nicht zulasse. Ich möchte hier wie
auch im Bereich der Überalterung von ausbildungs- und
einsatzwichtigem Gerät mit aller Deutlichkeit darauf
hinweisen, dass wir es hier mit einer seit vielen Jahren
anhaltenden Entwicklung zu tun haben. In den Jahren
unmittelbar nach der Wiedervereinigung war es richtig,
die Kasernenanlagen in den neuen Bundesländern zu restaurieren, um das passende Wort zu verwenden. Jetzt
droht in den alten Bundesländern vielfach ebenfalls der
Verfall der Liegenschaften. Unter ökonomischen Gesichtspunkten ist hierbei zu bedenken, dass unterlassene
Erhaltungsinvestitionen eine Bugwelle von in der Folgezeit notwendig werdenden teureren Baumaßnahmen
nach sich ziehen.
({2})
Mein Punkt ist aber vor allen Dingen: Die Soldaten haben einen Anspruch auf menschenwürdige Truppenunterkünfte sowie hygienische Verhältnisse in Truppenküchen und Sanitätseinrichtungen.
Ich möchte zu einem ganz anderen Thema kommen,
bei dem sich im zurückliegenden Jahr eine ausgesprochen positive Entwicklung vollzogen hat. Bei der Präsentation meines Jahresberichts im März 1999 habe ich
darauf hingewiesen, dass 1998 in der Truppe zwar die
Zahl der bestätigten Vorkommnisse mit rechtsextremistischen Hintergrund zugenommen habe, dass diese
Entwicklung jedoch vor dem Hintergrund einer gewachsenen Sensibilisierung und Meldebereitschaft nicht als
Besorgnis erregend zu werten sei. Durch die Erkenntnisse des Jahres 1999 fühle ich mich in dieser Einschätzung
bestätigt; denn es konnte ein deutlicher Rückgang der
Zahl der einschlägigen Vorkommnisse verzeichnet werden. Wir werden es fast mit einer Halbierung zu tun haben. Angesichts dessen möchte ich der militärischen
Führung für die eingeleiteten Maßnahmen zur Verbesserung der politisch-historischen Bildung, zur Intensivierung der Dienstaufsicht und schließlich auch zu einer
konsequenten Ahndung rechtsradikaler Vorfälle ausdrücklich danken.
({3})
Vorgesetzte auf allen Ebenen haben daran teil, dass die
Maßnahmen so positiv gegriffen haben.
Abschließend möchte ich noch eine Wahrnehmung
vermitteln, die sich an knapp 200 Tagen bei Truppenbesuchen in 1998 und 1999 immer wieder bestätigt hat. Ich
möchte diese Wahrnehmung mit einer Bitte verbinden.
Die Wahrnehmung ist: Soldaten sind bereit, vieles leise
zu ertragen. Sie sind Staatsdiener im besten Sinne des
Wortes. Sie leben seit Jahren mit Veränderungen - auch
tief greifenden Veränderungen - ihrer beruflichen und
privaten Lebensplanung, zum Teil auch mit herben persönlichen Enttäuschungen. Die Truppe wird sich bemühen, auch im Jahre 2000 alle Erwartungen zu erfüllen.
Leiden wird sie nur, wenn der Virus der Planungsunsicherheit und der Gerüchte und Befürchtungen weiter
grassiert. Meine Bitte ist, höchste Priorität auf Klarheit
und Wahrheit zu legen.
({4})
Die Änderungen in Struktur und Ausstattung der
Bundeswehr zu definieren, ist die verantwortungsvolle
Aufgabe des Bundesministers. Natürlich ist der Inhalt
der politischen Entscheidung das Wichtigste. Aber es
kommt hinzu: Es ist auch die Form der Vermittlung in
die Truppe hinein, die Möglichkeit des VerstehenKönnens aus der Sicht der Soldaten.
Ende April endet meine Amtszeit. Ich habe mich entschieden, nicht erneut für dieses Amt zu kandidieren.
Ich spreche also heute zum letzten Mal vor Ihnen. Ich
möchte die Gelegenheit nutzen, den Mitgliedern des
Verteidigungsausschusses und insbesondere den beiden
Ministern, dem alten und dem neuen Minister, für die
vertrauensvolle Zusammenarbeit in den letzten fünf Jahren herzlich zu danken.
Meine persönliche Bilanz ist - bei allen Schatten, die
naturgemäß mit dieser Aufgabe verbunden sind - uneingeschränkt positiv. Ich danke Ihnen, meine Damen und
Herren, dass Sie mir dieses schöne und interessante Amt
übertragen haben.
Herzlichen Dank.
({5})
Wehrbeauftragte Claire Marienfeld
Frau Marienfeld, ich
darf Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
im Namen des ganzen Hauses ein herzliches Dankeschön für Ihre Arbeit sagen.
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Uwe Göllner,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Wir diskutieren heute den Bericht der
Wehrbeauftragten für das Jahr 1998. Wir haben eben
gehört: Es wird der letzte Bericht sein, der unter der
Verantwortung der ersten Frau, die dieses schwere und
schöne Amt ausgeübt hat, abgegeben worden ist. Ich
darf im Namen meiner Fraktion - ich vermute aber,
auch im Namen aller Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen - der Frau Wehrbeauftragten für die
fünfjährige Arbeit, die sie geleistet hat, danken. Frau
Marienfeld, ich habe Ihre Arbeit drei Jahre begleitet. Es
war eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Sie war es in
jeder Situation - unabhängig von der Parteizugehörigkeit -, was in diesem Parlament selten geworden ist, was
uns Kolleginnen und Kollegen im Sicherheitsbereich
aber auszeichnet. Herzlichen Dank, Frau Marienfeld!
({0})
Meine Damen und Herren, die Institution des Wehrbeauftragten ist im letzten Jahr 40 Jahre alt geworden.
Sie ist eine Einrichtung des Parlaments und hat ganz wesentlich dazu beigetragen, dass die Bundeswehr in der
deutschen Gesellschaft großes Ansehen genießt. Dieses
Ansehen reicht weit über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hinaus. Hätten nicht vor etwas mehr
als 40 Jahren Rainer Barzel, Helmut Schmidt, Erich
Mende und andere diese Institution, wie sie in Art. 45 b
des Grundgesetzes beschrieben ist, geschaffen, so
müssten wir sie heute erfinden.
Ich setze diese lobenden Worte an den Anfang meiner
Ausführungen, weil die positiven Grundansätze in der
Diskussion um den Bericht der Wehrbeauftragten, der
meist als Mängelbericht diskutiert wird, naturgemäß in
den Hintergrund treten. Bei all diesen Mängeln, über die
wir in der Debatte zu diesem Bericht reden werden, darf
eines nicht vergessen werden: In der Einrichtung Bundeswehr arbeiten 340 000 Soldaten und nahezu 150 000
Zivilbeschäftigte. Wenn man diese Zahlen in Verhältnis
zu den im Bericht erwähnten Mängeln setzt, dann kann
man feststellen: Die Bundeswehr ist auch im Berichtsjahr 1998 ihrem positiven Ruf in der Bundesrepublik
Deutschland durchaus gerecht geworden.
({1})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der
F.D.P., Sie haben, als Sie noch in der Regierung waren,
die Einsetzung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuss abgelehnt. Dies war aus meiner
Sicht ein Fehler; denn die Bundeswehr hat die mit diesem Untersuchungsausschuss verbundenen Chancen voll
genutzt. Unter der umsichtigen Leitung der Kollegen
Rossmanith und Heistermann hat der Untersuchungsausschuss die Bundeswehr von dem Verdacht befreit, es
gäbe in ihr rechtsradikale Netzwerke. Nach den Beobachtungen der Wehrbeauftragten geht die Bundeswehr
heute mit der Traditionspflege weit bewusster und ausgewogener um als je zuvor.
({2})
Die Zahl der vermeintlichen und tatsächlichen Vorfälle mit rechtsextremistischem Hintergrund hat sich im
Berichtsjahr nicht verringert; die Frau Wehrbeauftragte
hat vorhin darauf hingewiesen. Aber es ist zu berücksichtigen, dass dies Ausfluss der höheren Sensibilisierung und Meldebereitschaft innerhalb der Bundeswehr
ist. Ich denke, wir müssen das als Ergebnis der von der
Bundeswehr vorgenommenen Abwehrmaßnahmen werten. Grund, sich zurückzulehnen, ist dies dennoch nicht.
Ich habe schon vor zwei Jahren in der Diskussion um
den Bericht der Wehrbeauftragten darauf hingewiesen,
dass die Bundeswehr in puncto Rechtsradikalismus eben
kein Spiegel der Gesellschaft sein darf. Sie muss in diesem Bereich besser sein als der Durchschnitt der Gesellschaft.
Der politischen Bildung gebührt daher unsere hohe
Aufmerksamkeit. Gerade vor dem Hintergrund der Einsätze im Ausland macht dies großen Sinn. Im Berichtsjahr waren 7500 Männer und Frauen der Bundeswehr im
Ausland stationiert. Die Art und Weise, wie sie ihren
Dienst dort verrichtet haben, hat das Ansehen der Bundeswehr und damit der Bundesrepublik Deutschland im
Ausland, insbesondere bei unseren Verbündeten, sehr
gestärkt. Dafür gilt es Dank zu sagen.
({3})
In diesen Dank müssen wir auch all jene Soldaten einschließen, die die dadurch im Inland aufgerissenen Lükken klaglos geschlossen haben.
({4})
Über den positiven Gesamteindruck dürfen wir aber
nicht die negativen Kleinigkeiten, auf die die Frau
Wehrbeauftragte hingewiesen hat, vergessen, die den
Alltag der Soldaten oft unnötig belasten. Die Frau
Wehrbeauftragte oder ihr Nachfolger bzw. ihre Nachfolgerin muss deshalb mit dem Verteidigungsministerium
auch künftig im ständigen Dialog bleiben.
Meine Damen und Herren, auf den hohen Stellenwert
der politischen Bildung in der Bundeswehr habe ich
hingewiesen. Es ist erschreckend, wie wenig junge Soldaten politische und historische Zusammenhänge erkennen und vor allen Dingen bewerten können. Die Defizite
bei den Kenntnissen über unsere Werte und Normen
sind oft beachtlich. Dabei erfordert gerade das Bild des
Staatsbürgers in Uniform einen Soldaten, der den eigenen Auftrag und den Auftrag der Bundeswehr in politische Zusammenhänge einordnen kann.
Die Bundeswehr kann gesellschaftliche Versäumnisse
naturgemäß nicht nachholen, aber sie kann sie mildern.
Wenn die Frau Wehrbeauftragte im Jahresbericht 1998
zum wiederholten Male feststellen muss, dass die politische Bildung nicht zweitrangig werden darf, dann zeigt
uns dies, dass wir in diesem Bereich noch besser werden
müssen. Junge Menschen können durch Vorbilder geprägt werden. Von daher kommt es stark auf das Verhalten ihrer Vorgesetzten an.
Unser Kollege Gerd Höfer wird seit geraumer Zeit
nicht müde, darauf hinzuweisen, dass der Rechtspflege
wegen ihrer Bedeutung ein eigener Titel im Einzelplan
14 gebührt. Mir scheint, der Bericht der Wehrbeauftragten bestätigt den Kollegen Höfer. Wenn ich die Signale aus dem Hause recht verstehe, so wird seinem Begehren im nächsten Haushaltsjahr auch entsprochen
werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo immer junge
Menschen in so großer Zahl zusammenkommen, ist das
Thema Drogenmissbrauch erfahrungsgemäß relevant.
Die Zahl der gemeldeten Fälle ist konstant, Gott sei
Dank leicht rückläufig. Aber jeder Einzelfall ist einer zu
viel. Wenn man den missbräuchlichen Umgang mit Alkohol hinzunimmt, so erkennt man schnell, dass auch
ältere Soldaten davor nicht gefeit sind. Dem Bericht sind
- zugegebenermaßen - Einzelfälle zu entnehmen, die erschrecken. Wer mit Menschen, Waffen und Munition
umgeht, der hat in jeder Situation einen klaren Kopf zu
behalten. Raum für Toleranz, so stellt die Wehrbeauftragte fest, ist hier nicht gegeben. Dieser Feststellung können wir uns alle nachdrücklich anschließen.
Auch hier gilt das vorhin Gesagte: Vorbildliches Verhalten der Vorgesetzten kann hilfreich sein.
Der Bericht stellt fest, dass in der Bundeswehr professionell und mit angemessener Härte ausgebildet wird.
Er hält aber auch fest, dass dabei seitens der Vorgesetzten, welche die grundlegenden Werte unserer Rechtsordnung eigentlich schützen sollen, gelegentlich Grenzen überschritten werden. Die Gewährleistung der Menschenrechte ist Teil der Zweckbestimmung unserer
Streitkräfte und somit Grundlage ihrer Legitimation.
Beim Überschreiten dieser Grenzen liegen immer Verstöße gegen bestehende Vorschriften zugrunde. Dies
lässt auf deutliche Defizite in der Ausbildung schließen,
die beseitigt werden müssen. Bisweilen deutet es auch
auf Defizite bei der Auswahl hin.
Meine Damen und Herren, die Auslandseinsätze der
Bundeswehr haben die Militärseelsorge mehr in den
Mittelpunkt gerückt, als dies in den zurückliegenden
Jahren der Fall war. Die Evangelische und die Katholische Arbeitsgemeinschaft für Soldatenbetreuung, die
Familienbetreuungszentren und die Militärseelsorge
leisten gemeinsam einen unschätzbaren Dienst auch gerade an den Angehörigen der Soldaten, die im Ausland
eingesetzt sind. Aber auch junge Soldaten selbst, ob
gläubige Christen oder nicht, stellen sehr viel häufiger
als früher die Frage nach dem Sinn. Die Militärpfarrer
beider Konfessionen hören zu und beraten und stellen
nie die Frage nach der Religionszugehörigkeit. Ihr
Dienst ist sicher belastender geworden. Deshalb gilt allen, die in diesem Bereich arbeiten, unser herzlicher
Dank.
({5})
Das Ost-West-Verhältnis wird immer noch durch die
86,5-Prozent-Regel belastet. Ich kenne die Zwänge des
Beamtenrechts und ich kenne die Nöte der Länderfinanzminister. Aber im Interesse des Friedens in der
Bundeswehr müssen wir bald zu einer Lösung kommen.
({6})
Ich schließe mich dem wiederholten Appell der Frau
Wehrbeauftragten an, besonders junge Soldatenfamilien
zu unterstützen, die freiwillig von Ost nach West oder
umgekehrt umziehen, denn sie leisten einen wichtigen
Beitrag zur Überwindung von Vorurteilen auf beiden
Seiten.
({7})
Der Bundesminister der Verteidigung hat eine Kommission eingesetzt, die unter der Leitung des früheren
Bundespräsidenten von Weizsäcker über die Zukunft der
Bundeswehr berät. Auch dies ist gegen den Widerstand
der heutigen Opposition geschehen. Wir wissen aus den
Diskussionen des vergangenen Jahres, dass es besser
gewesen wäre, wenn die Kommission sehr viel früher
eingesetzt worden wäre. Ich persönlich habe immer
wieder der Versuchung widerstanden, mich in die Arbeit
dieser Kommission einbringen zu wollen. Ich denke, wir
alle sollten bis Mai abwarten können. Das käme auch
der Forderung der Wehrbeauftragten entgegen, die in
diesem Prozess einen möglichst breiten Konsens
wünscht. Wie immer sich das politische Klima in dieser
Republik bis Mai entwickeln wird, wir Abgeordnete im
Sicherheitsbereich tragen eine besondere Verantwortung, wenn es um den Konsens in diesem Politikfeld
geht. Ich denke, wir sollten uns gemeinsam darum bemühen.
Danke schön.
({8})
Ich erteile dem Kollegen Werner Siemann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Sehr
verehrte Frau Wehrbeauftragte! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Wehrbeauftragte, ich darf Ihnen namens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Ihre fünfjährige Tätigkeit außerordentlich danken. Sie haben mit
Augenmaß und mit Einfühlungsvermögen Ihre Aufgaben wahrgenommen und sich durch diese Tätigkeit in
den fünf Jahren große Anerkennung bei allen Beteiligten, insbesondere bei den Soldaten erworben. Dafür
danke ich Ihnen noch einmal ausdrücklich.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, am
16. März 1999 wurde der Jahresbericht 1998 der Wehrbeauftragten, den wir heute diskutieren, dem Parlament
vorgelegt. Zu diesem Zeitpunkt konnten wir nicht ahnen,
welche Ereignisse uns acht Tage danach in Atem halten
würden. Am 24. März 1999 begannen die Luftschläge
gegen Jugoslawien. Während des ersten Kampfeinsatzes der Bundeswehr nach Beendigung des Zweiten
Weltkrieges haben sich unsere Soldaten in hervorragender Weise bewährt. Nach Einstellung der Luftoperation
haben sie eine herausragende Rolle bei der Sicherung
des Friedens übernommen. Zurzeit befinden sich 8056
Angehörige der Bundeswehr auf dem Balkan im Auslandseinsatz. Nach Abschluss des letzten Kontingentwechsels haben dann 63 000 deutsche Soldaten dort ihren Dienst verrichtet.
Der Kosovo-Konflikt führt uns zweierlei eindrucksvoll vor Augen: zum einen, dass die Bundeswehr über
professionelle und engagierte Soldaten verfügt, die mit
Geschick und Einfühlungsvermögen den gefährlichen
Auftrag ausführten. Zum anderen verdeutlichte er den
Europäern im Allgemeinen und uns Deutschen im Besonderen sehr auffällig und gleichsam dramatisch die
Probleme innerhalb der NATO. Ohne das amerikanische
Engagement hätte der Kosovo-Konflikt, wie er sich zuerst darstellte, nicht zu einem erfolgreichen Ende geführt
werden können.
Vor dem Hintergrund der massiven Kürzungen im
Wehretat durch das Sparpaket des Finanzministers muss
befürchtet werden, dass Deutschland zukünftig nicht
mehr imstande ist, solche Einsätze durchzuführen bzw.
die Einsätze so durchzuführen, wie wir es jetzt können.
Durch den verabschiedeten Verteidigungshaushalt wird
sich der Gesamtzustand der Streitkräfte meines Erachtens auf dramatische Art und Weise verschlechtern. Das
führt dazu, dass sich viele der im Bericht der Wehrbeauftragten thematisierten Kritikpunkte und Mängel weiter verschärfen werden. Nachfolgend möchte ich auf einige Punkte des Berichts eingehen, die meines Erachtens
von besonderer Relevanz sind.
Äußerst problematisch wirken sich die Baumaßnahmen in den neuen Bundesländern auf die Bundeswehrliegenschaften im Westen aus. Die erforderliche Renovierung ehemaliger Liegenschaften der NVA führte
oftmals dazu, dass keine Haushaltsmittel für notwendige
Renovierungen, etwa im Unterkunfts- und Kantinenbereich, in den alten Bundesländern vorhanden waren.
Dies hatte zur Folge, dass Kantinen geschlossen werden
mussten und in Küchen unzureichende hygienische Verhältnisse vorherrschen.
Bei allem Verständnis für eine meines Erachtens auch
zwingende finanzielle Bevorzugung der Bundeswehrliegenschaften in den neuen Bundesländern kann es nicht
länger angehen, dass die Standorte in den alten Ländern
in einem unvertretbaren Ausmaß darunter zu leiden haben.
({1})
Leider haben auch die Hinweise der Wehrbeauftragten
in der Vergangenheit nicht geholfen, das Problem zu
lösen.
Auch die von der Wehrbeauftragten bemängelte fehlende Zivilcourage und Eigenverantwortung und die ihr
oft begegnete Sprachlosigkeit geben Anlass zur Sorge.
Wir müssen in der Bundeswehr Strukturen schaffen, in
denen der Soldat im Einklang mit der Befehlsstruktur
die Möglichkeit hat, Kritik und Alternativvorschläge zu
äußern.
Ein weiterer Kritikpunkt der Wehrbeauftragten ist die
unterschiedliche Behandlung einzelner Dienstgradgruppen, insbesondere die zurückhaltendere Ahndung von
Dienstvergehen dienstgradhöherer Soldaten. Entgegen
der Einschätzung des Ministeriums sind die im Bericht
dargestellten Fälle nicht von singulärer, sondern von repräsentativer Natur.
Besondere Sorge - auch dies soll angesprochen werden - bereitet der Anstieg der Zahl von Kriegsdienstverweigerungen. Auch wenn die Wehrpflichtigen von
einer faktischen Wahlfreiheit zwischen Wehr- und Zivildienst ausgehen, was der vor zwei Tagen im Verteidigungsausschuss behandelte Jahresbericht der Jugendoffiziere wieder bestätigte, so darf dieser Eindruck nicht
auch noch gestützt werden. Die Wehrpflicht ist der persönliche Ausdruck der Mitverantwortung des Bürgers
für das Leben in Frieden und Freiheit.
({2})
Der Zivildienst ist keine Alternative zum Wehrdienst, er
ist die zu begründende Ausnahme. Dies ist keine politische Bewertung, sondern entspricht der durch Gerichte
aller Instanzen bestätigten Rechtslage.
Im Berichtszeitraum 1998 erreichte die Zahl der
Kriegsdienstverweigerungen einen neuen Negativrekord
von etwa mehr als 172 000. Für das zurückliegende Jahr
wird sogar noch eine Steigerung erwartet. Voraussichtlich haben 1999 knapp 174 000 junge Männer den
Dienst an der Waffe verweigert. Diese bedenkliche
Entwicklung darf jedoch nur partiell verwundern. Die
unausgewogenen Kürzungen im Verteidigungshaushalt
wirken sich eben auch auf die Wehrpflicht aus, was
wiederum zu Verunsicherungen bei den Jugendlichen
führt. Darüber hinaus kommen bei den Jugendlichen
auch Zweifel an der Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr
im Ganzen auf. Auch die Forderung von Bündnis 90/Die
Grünen nach Abschaffung der Wehrpflicht trägt weder
zu ihrer Stärkung noch zur Abnahme der Kriegsdienstverweigererzahlen bei.
({3})
Mit der rigiden Kürzungspolitik höhlt die Regierung
zudem die Bundeswehr aus, schwächt dadurch das
transatlantische Bündnis und setzt die Verlässlichkeit
Deutschlands als NATO-Partner aufs Spiel.
Obwohl der Kosovo-Konflikt doch sehr deutlich die
erheblichen technologischen Defizite der Bundeswehr
gezeigt hat, wird nicht nur der Wehretat, sondern auch
dessen investiver Anteil abgesenkt. Deutschland wird
seiner außenpolitischen Rolle damit nicht mehr gerecht.
Auch die europäische Handlungsfähigkeit wird infrage
gestellt, wenn Deutschland als Wirtschaftsnation Nummer eins in Europa nicht bereit ist, einen adäquaten Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung bereitzustellen. Es
ist deshalb unzureichend, wenn der Regierungschef vor
den Kommandeuren der Bundeswehr ein funktionales
Sicherheitsverständnis anmahnt und den Vergleich der
Verteidigungsetats der NATO-Mitgliedstaaten als zu
kurz greifend ablehnt. Es ist unzureichend, in diesem
Zusammenhang auf Leistungen der Vergangenheit zu
verweisen. Diese Leistungen können nicht mit denen
verrechnet werden, die wir heute zu erbringen haben.
Zurzeit ist Deutschland nur bedingt europafähig. Eine
Fortführung des Kurses setzt unsere Rolle als gestaltender Akteur internationaler Politik aufs Spiel.
Auch durch den Umbau und die Modernisierung der
Streitkräfte werden, wenigstens kurzfristig, keine zusätzlichen Mittel verfügbar sein, da jede Reorganisation
zumindest einer Anschubfinanzierung bedarf. Damit
steht für mich fest: In dem gegenwärtig vorgegebenen
Finanzplan der Bundesregierung ist für eine Modernisierung unserer Bundeswehr kein Raum.
Die von Bundesminister Scharping angekündigten
Einsparungen stellen zwar einen ersten Schritt in die
richtige Richtung dar, aber bei der Restrukturierung und
Modernisierung der Bundeswehr geht es stärker um die
Investition von Milliarden, die nur sehr bedingt durch
Rationalisierungsmaßnahmen im Bereich der Bundeswehr zu erwirtschaften sind.
Was wir benötigen, ist schlichtweg eine Erhöhung
des Wehretats. Die rhetorisch-verbale Aufrüstungsakrobatik von Bundeskanzler Schröder steht der finanziellen Abrüstung im Verteidigungsetat diametral entgegen. So verwundert es wirklich keinen von uns, wenn
Verteidigungsminister Scharping eingestehen muss, dass
der Bundeswehr elementare Fähigkeiten fehlen, um einen wirkungsvollen und international angemessenen
Beitrag zur kollektiven Verteidigung im Bündnis sowie
zu Einsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung und der
Konfliktverhütung zu leisten. Angesichts der drastischen
Kürzungen im Verteidigungshaushalt kommt Minister
Scharping zu dem Schluss: „Auftrag, Umfang, Ausrüstung und Mittel sind aus der Balance geraten.“
Allerdings zieht die Bundesregierung daraus nicht die
notwendigen Konsequenzen. Stattdessen soll der Verteidigungshaushalt in den nächsten vier Jahren 18,6 Milliarden DM verlieren. Dies ist gleichbedeutend mit dem
finanziellen Super-GAU der Bundeswehr.
({4})
Eine Erhöhung des Wehretats sowie die Umstrukturierung der Streitkräfte sind unausweichlich. Das sehen
auch wir. Diese Umstrukturierung darf jedoch nicht unter finanziellen Gesichtspunkten betrachtet werden. Zuerst muss definiert werden, welche Aufgaben die Bundeswehr zukünftig erfüllen soll. Wir benötigen eine Armee, die so strukturiert und ausgestattet ist, dass sie
nicht nur humanitäre Aufgaben und Verteidigungsoperationen wahrnehmen, sondern auch verzugslos Krisen
bewältigen kann. Daher muss die Bundeswehr von einer
ausbildungsorientierten auf eine einsatzorientierte Armee umgestellt werden.
Die Beibehaltung der Wehrpflicht und damit die
Aufwuchsfähigkeit stellen den spezifischen Beitrag
Deutschlands als strategischen Rückhalt der potenziellen
Bündnisverteidigung dar. Auch unsere europäischen
Verbündeten fordern von uns einen stärkeren Beitrag,
wenn die europäische Verteidigungsidentität kein Geschöpf von Absichtserklärungen sein soll.
Zu bedauern ist vor diesem Hintergrund der unangemessene Umgang mit dem Bericht der Wehrbeauftragten. Die Stellungnahme des Verteidigungsministeriums
muss leider als sehr oberflächlich bezeichnet werden.
Die von der Wehrbeauftragten thematisierten Probleme
werden bagatellisiert und als Einzelfälle abqualifiziert.
Dies ist jedoch unzutreffend. Nicht Einzelfälle wurden
durch die Wehrbeauftragte aufgegriffen, sondern es
wurde lediglich die Spitze des Eisbergs skizziert. Es
stellt eine unzulässige Verharmlosung der Probleme und
Mängel der Bundeswehr dar, wenn diese als „Einzelfälle“ und „Ausnahmen“ deklariert werden. Bei den im
Wehrbeauftragtenbericht angeführten Beispielen handelt
es sich eben nicht um die unzulässige Verallgemeinerung von Einzelfällen, sondern um exemplarische Veranschaulichungen. Der Bericht des Verteidigungsministeriums ist jedoch von der stereotypen Behauptung gekennzeichnet, dass es sich bei den Beanstandungen um
„individuelles Fehlverhalten“ und um „Einzelfälle“ handeln würde.
Es kann nicht die Aufgabe einer Stellungnahme sein, die
Kritikpunkte in allgemeiner Form lapidar zu wiederholen. Vielmehr verpflichtet ein verantwortungsvoller
Umgang mit dem Bericht dazu, die Kritikpunkte aufzugreifen und Lösungsansätze aufzuzeigen. Diesem
wünschenswerten Prinzip wird leider nicht gefolgt.
Die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages hat
in den vergangenen Jahren immer wieder auf Probleme
und Defizite in der Truppe hingewiesen. Ihrem Engagement ist es zu verdanken, dass in der Vergangenheit
vor möglichen Fehlentwicklungen gewarnt wurde.
Durch ihre Berichte erhält das gesamte Parlament ein
Bild über die Lage der Bundeswehrsoldaten. - Frau
Wehrbeauftragte, Ihnen und Ihren Mitarbeitern gebührt
nochmals Dank für die Erstellung dieses Berichts.
Der Einsatz der Bundeswehr auf dem Balkan hat uns
gelehrt, dass Friedenserhaltung gleich bedeutend mit
Friedenserzwingung sein kann. Nur eine funktionsfähige
Armee wird in der Lage sein, solche gefährlichen und
komplexen Einsätze zu meistern. Auch vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung des Amtes eines Wehrbeauftragten zukünftig noch zunehmen.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Marienfeld! Mit erheblicher Verzögerung
({0})
debattiert heute das Plenum den Jahresbericht 1998 der
Wehrbeauftragten. Im vorigen Jahr dominierten der Kosovo-Einsatz, die Entwicklung des Einzelplan 14 und
die Modernisierung der Bundeswehr unsere Debatte.
({1})
Wir müssen aufpassen, dass die Fragen der inneren Verfasstheit der Bundeswehr und der inneren Führung darüber nicht zu kurz kommen.
Frau Marienfeld, Ihr Bericht ist wieder von sehr genauer Beobachtungsgabe geprägt und ist deshalb sehr
hilfreich sowie unverzichtbar für die Beurteilung der inneren Lage der Bundeswehr. Dafür hat Ihnen auch die
Fraktion der Bündnisgrünen sehr eindringlich und herzlich zu danken.
({2})
Angesichts der durch diesen Bericht ermöglichten Blicke hinter die Kulissen und in den Alltag der Bundeswehr denke ich, dass solche Berichte auch über andere
Institutionen sehr interessant und wünschenswert sein
könnten.
Nun zu einzelnen Punkten des Berichts. Im Bereich
Vorgesetztenverhalten und Verhalten in Hierarchien
zeigt sich Ihre genaue Beobachtung. Unter der Überschrift „Zivilcourage“ heißt es, dass Sie vermehrt hörten,
„dass das Nichterreichen eines Ziels als Versagen angesehen“ werde, was häufig zu einer gewissen Sprachlosigkeit führe. Beim Führungsverhalten von Vorgesetzten
gebe es vielfach eine Mentalität der Absicherung, der
Anpassung und Routine. Zitat: „Nicht selten stufen Soldaten ... Vorgesetzte als ‚karriereambitioniert‘ ein“ - mit
entsprechenden Folgen im Hinblick auf die Ehrlichkeit
der Meldung von Klarstand, Einsatzbereitschaft usw.
Die Wehrbeauftragte konstatiert ein „zu häufiges Jobdenken“, „das auf fehlende Vorbilder bei den Vorgesetzten, Fehler in der Auswahl, aber auch auf eine vordergründige Werbung für die Streitkräfte hinweist“.
All das sind Sachverhalte, wie sie auch in der Zivilgesellschaft in Unternehmen und Behörden anzutreffen
sind. Es ist positiv, dass sich die Wehrbeauftragte damit
eben nicht zufrieden gibt, sondern gerade und immer
wieder die Vorbildfunktion der Vorgesetzten einklagt. Der Abschied des früheren Ministers und seines der Zivilcourage nicht förderlichen Führungsstils hat offenkundig einige Erleichterung verschafft.
({3})
Zum Punkt Rechtsextremismus und fremdenfeindliche Vorfälle sowie Untersuchungsausschuss: Wir erinnern uns noch deutlich an die künstliche Aufregung
bei den damaligen Koalitionsfraktionen über die Konstituierung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuss. Rückblickend ist dem Urteil der
Wehrbeauftragten zuzustimmen, dass der Untersuchungsausschuss zur Versachlichung der Debatte beigetragen hat, dass es eine gestiegene Sensibilität bei Vorgesetzten und eine Fülle schneller Gegenmaßnahmen
gegeben hat. Insofern hatte der Untersuchungsausschuss
einen zweifachen Nutzen.
Richtig ist, dass Rechtsextremismus bzw. fremdenfeindliche Einstellungen ihre Wurzeln in der Gesellschaft haben. Offen ist aber weiterhin die damals von
uns aufgeworfene Frage, ob solche Einstellungen überproportional über junge Wehrpflichtige in die Bundeswehr hineinwirken und wie der Ausbildungsbetrieb, die
politische Bildung und der militärische Alltag, wie Auslandseinsätze und Multinationalität, auf solche Einstellungen zurückwirken. Offen ist, ob vor entsprechendem
Verhalten nur „abgeschreckt“ wird oder ob es tatsächlich Einstellungsänderungen gibt. Hierüber wären weiterhin empirische Untersuchungen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr sehr sinnvoll.
Zur politischen Bildung und Soldatenbeteiligung:
Das sind offensichtlich Dauerprobleme im Bundeswehralltag. Die sehr schwierigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von politischer Bildung sind uns bekannt.
Der gegenwärtige CDU-Spendenskandal steigert die
Vorbehalte gegenüber der Politik insgesamt noch einmal
enorm. Diese Vorbehalte können durch eine noch so
gute politische Bildung nicht aufgefangen werden.
Trotzdem bleiben auch selbstverursachte Defizite in
der Truppe, die weiterhin bearbeitet werden müssen.
Unverständlich und nicht entschuldbar ist, dass die im
Soldatengesetz vorgeschriebene Ausbildung von Vertrauenspersonen bald nach ihrer Wahl nur in Ausnahmefällen stattfindet, wie die Wehrbeauftragte feststellt.
Zuletzt zur Stellung der Bundeswehr in der Gesellschaft und ihrer Integration: Im Vergleich zu vielen anderen Armeen in demokratischen Staaten ist die Bundeswehr gut in die Gesellschaft integriert. Der gerade im
Verteidigungsausschuss besprochene Bericht der Jugendoffiziere macht aber deutlich, dass diese Integration
in Wirklichkeit nur eine Teilintegration in die Gesellschaft ist, denn der Austausch mit den gesellschaftlichen
Bereichen, die - das sage ich jetzt an unsere Adresse eher den Koalitionsparteien oder auch dem grünen Bereich nahe stehen, ist deutlich unterentwickelt. Hier haben wir und haben unsere Jugendorganisationen, die
Gewerkschaften und die Friedensorganisationen einen
deutlichen Nachholbedarf.
Mit dem Kosovo-Einsatz verdreifachte sich ungefähr
die Zahl der Soldaten im Auslandseinsatz. In Anbetracht
der wahrscheinlich bevorstehenden weiteren Reduzierung der Bundeswehr und der wahrscheinlichen
Schrumpfung der Wehrpflicht wird die künftige Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft ein Thema,
mit dem wir uns in Zukunft intensiver und auch fantasievoller werden beschäftigen müssen.
Ich danke Ihnen, Frau Marienfeld, noch einmal für
Ihre ausgezeichnete Arbeit in den letzten vier Jahren.
({4})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hildebrecht Braun, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe
Frau Marienfeld! Die heutige Debatte sollte ja eigentlich
die parlamentarischen Beratungen des letzten Jahres und
damit des letzten Jahrhunderts beschließen. Sie ist auch
jetzt an der Nahtstelle des letzten Jahrhunderts zu diesem neuen Jahrhundert angesiedelt, und deswegen erlaube ich mir heute nicht nur über den Bericht der
Wehrbeauftragten zu sprechen, sondern auch einige
Ausführungen zur Institution der Wehrbeauftragten
zu machen. Wir haben nämlich allen Anlass, den Ahnherren und Ahndamen, die im Jahre 1957 diese Epoche
machende Institution in unsere Verfassung gebracht haben, unseren Dank und unsere Anerkennung auszusprechen. Wohl kein anderes Land hat eine vergleichbare
Einrichtung zur Wahrung der Rechte des einzelnen Soldaten, zugleich auch zur parlamentarischen Kontrolle
des Militärs, wie Deutschland. Natürlich hat ja auch kein
anderes Land, zumindest kaum eines, ähnlich fatale Erfahrungen mit Militarismus und Totalitarismus, mit einer Entrechtung der Menschen durch das Militär, aber
auch im Militär selbst.
Die Einrichtung des Wehrbeauftragten ist fürwahr ein
Glanzlicht demokratischer Kultur in unserem Lande.
({0})
Es kommt nicht von ungefähr, dass sich diese Einrichtung zu einem Exportartikel der Bundesrepublik
Deutschland entwickelt hat. Ich erinnere nur an unsere
Gespräche mit ukrainischen Generälen vor etwa zwei
Monaten, die an vielen Dingen in der Bundeswehr Interesse hatten, die aber mit größtem Interesse zur Kenntnis
genommen haben, welche Einrichtung wir hier für die
Soldaten und für das Militär insgesamt im Auftrag des
Parlamentes haben. Sie sagten, das würden sie sehr gerne auch in der Ukraine einführen. - Dies ist nur ein Beispiel unter vielen.
Wenn der Deutsche Bundestag und der Bundesrat den
Wehrbeauftragten sogar in der Verfassung verankert und
damit der Beliebigkeit der jeweiligen Mehrheit entzogen
haben, so hat dies nicht nur mit dem Versuch eines Beitrages zur Bewältigung einer höchst problematischen
Vergangenheit im eigenen Land zu tun. Zugleich wurde
ein großer Schritt für die Zukunft von Staatsbürgern in
Uniform gewagt, die im Bewusstsein ihrer eigenen individuellen Menschenwürde Verantwortung für unseren
Staat, für unsere Bürger und für die westliche Wertegemeinschaft übernehmen.
({1})
Der Wehrbeauftragte ist nur dem Parlament verantwortlich. Er hat eine herausragende Stellung sowohl gegenüber der Truppe in ihrer Vielfalt als auch gegenüber
allen sonstigen Einrichtungen des Staates, die für das
Wohl des Soldaten, insbesondere des einzelnen Soldaten, von Bedeutung sind.
Dank und Anerkennung gebührt den verschiedenen
Inhabern dieses Amtes, die mit großem Engagement und
großer Sachkenntnis sowie mit Einfühlungsvermögen in
die verschiedenartigen Situationen von Untergebenen
und Vorgesetzten in der Bundeswehr gehandelt haben.
Sie haben positive Entwicklungen ermutigt und begünstigt, negative Erscheinungen in der Bundeswehr gebrandmarkt und damit Änderungen angestoßen.
Kein einziger dieser früheren Wehrbeauftragten erwies sich im Nachhinein als ungeeignet, und auch Sie,
liebe Frau Marienfeld, haben sich in die Reihe dieser
hervorragenden Wehrbeauftragten nahtlos und erfolgreich eingereiht.
({2})
Sie erleben nicht nur bei den Politikern aller Parteien,
von denen Sie beauftragt wurden, Anerkennung, sondern insbesondere auch bei den Menschen in den Streitkräften, die Ihnen vertrauen. Deshalb will ich Ihnen sowie Ihren hoch qualifizierten und motivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ebenfalls unseren nachdrücklichen Dank und unsere Anerkennung aussprechen.
({3})
Eine unabhängige Institution, die bewusst von einer
Zivilperson geführt wird, die Zugang zu allen Unterlagen der Bundeswehr hat und im Verteidigungsausschuss
regelmäßig anwesend ist, ist der Schlüssel zum Abbau
der Angst von Soldaten, zur Verhinderung von Übergriffen und zu modernen Streitkräften in einer modernen
Gesellschaft.
Der vorliegende Bericht könnte in seinem Aufbau, in
seiner Verständlichkeit und Klarheit, aber auch in seinem sensiblen Umgang mit verschiedensten Problemstellungen insgesamt als Vorbild für das Berichtswesen
im öffentlichen Bereich gelten.
Der Jahresbericht als Entscheidungshilfe für den
Bundestag, als Frühwarnsystem bei sich abzeichnenden
Negativentwicklungen, als Situationsbericht für alle
Beteiligten, natürlich auch die Presse, ist fürwahr ein
wichtiges Dokument.
Die Bundeswehr ist nicht besser als die Gesamtgesellschaft. Es ist nicht hilfreich, unerfüllbare Erwartungen an die Bundeswehr zu stellen. Wir sollten festhalten:
Die „Schule der Nation“ ist die Schule, nicht die Bundeswehr.
({4})
Was im Elternhaus versäumt wird, was im Kindergarten
und in der Schule nicht gelernt wird, was an Fehlhaltungen nicht zuletzt durch Tausende von Fernsehsendungen, in denen der Gewalttätige Erfolg hat, in der
Seele der jungen Menschen entstanden ist, kann nicht in
dem kurzen Zeitraum der Wehrpflicht korrigiert werden. Sie kennen den in der Politik oft zitierten Satz:
Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Sachverstand. Dieser Satz ist genauso falsch wie seine leicht
mögliche Abwandlung: Wem der Staat eine Uniform
verpasst, dem gibt er auch Reife und einen guten Charakter.
Zweifellos kann das Leben in der Bundeswehr während des Grundwehrdienstes zu vielen Erkenntnissen
führen, die für die persönliche Entwicklung eines jungen
Menschen hilfreich sind, weil er erlebt, dass jeder in der
Gruppe auf den anderen angewiesen ist, weil er oft in
Vorgesetzten Vorbilder findet, weil bis zum Beginn des
Wehrdienstes erlebte soziale Barrieren im Wehrdienst
überwunden werden, weil mancher erstmals im Leben
Verantwortung für andere übernimmt und weil er nicht
nur Rechte, sondern auch Pflichten kennen lernt. Das
Leben in der Bundeswehr kann für den jungen Menschen hilfreich sein, weil er gefordert und gefördert
wird, weil er in vielfältiger Weise die Chance hat, sich
zu bewähren und zu zeigen, dass er ein Kerl ist, auf den
Verlass ist.
All diese Punkte sind wichtig und auch bei der immer
wieder aufflackernden Diskussion über eine eventuelle
Abschaffung der Wehrpflicht von Bedeutung. Ich betone
noch einmal: Die Bundeswehr findet junge Männer vor,
sie kann sie nicht formen. Ob die Bundeswehr allerdings
ihre Chance, in positiver Weise auf die Entwicklung
junger Männer einzuwirken, in vollem Umfang nützt,
muss auch nach diesem Bericht bezweifelt werden. Hier
ist wohl noch viel zu tun. Ein dauernder Optimierungsprozess, speziell in Fragen der Pädagogik oder - militärisch gesprochen - der Menschenführung ist sicherlich
veranlasst. Ich denke speziell an die Staatsbürgerkunde,
die nach wie vor alles andere als optimal ist.
Die Bundeswehr hat sich in den letzten zwei Jahren
gravierend verändert. Sie wissen, frühere Generationen
von deutschen Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg
konnten sich kaum vorstellen, dass deutsche Soldaten jemals wieder in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt würden. Dies hat sich spätestens nach dem Kosovo-Einsatz grundlegend geändert. Jeder Soldat weiß
mittlerweile, dass er im Zweifel auch für andere Menschen, für deren Lebensrecht und für deren Menschenwürde unter Kriegsbedingungen einstehen muss.
Ziel unserer Bemühungen muss sein, jungen Menschen nahe zu bringen, dass sie stolz auf die Bundeswehr und auf ihre persönliche Leistung in der Bundeswehr sein können. Die Leistungen der Bundeswehr im
ehemaligen Jugoslawien, aber auch bei der Bewältigung
des Oder-Hochwassers haben zu einer nie gekannten
Anerkennung und Wertschätzung der Soldaten in der
Gesellschaft geführt. Das ist eine großartige Entwicklung, die sich auch im Bericht der Wehrbeauftragten widerspiegelt.
Ich möchte aber auf zwei Punkte gesondert zu sprechen kommen, die mir wichtig sind. Der Anstieg der
Vorkommnisse mit Drogen zwingt uns alle zu allergrößter Vorsicht. Es geht um den Schutz unserer Soldaten vor negativen, äußerst gefährlichen Einflüssen, denen sie allein oft nicht gewachsen sind. Wer das Drogenproblem verniedlicht und den Gebrauch von Drogen
als Ausdruck von Freiheit versteht, hat immer noch nicht
verstanden, worum es bei dem Kampf gegen Drogen
und ihren Missbrauch geht. Menschenwürde kann nicht
nur durch Handlungen ungeeigneter Vorgesetzter verletzt werden. Menschenwürde wird ganz besonders
durch diejenigen verletzt, die es dulden oder nicht genügend dagegen unternehmen, dass junge Menschen mit
diesem Teufelszeug Drogen ruiniert werden.
({5})
Ich danke der Führung der Bundeswehr, aber auch
den Vorgesetzten auf der untersten Ebene, die rassistischen und nationalistischen Ausschreitungen konsequent
und mit Härte entgegentreten. Auch durch derartiges
Einschreiten lernen junge Menschen, was gut ist und
was böse ist, was recht ist und was unrecht ist.
Ich möchte allerdings auch ein klares Wort zu einem
Missstand sagen, der nicht den einzelnen Vorgesetzten
in der Bundeswehr angelastet werden muss, sondern der
politischen Führung der Bundeswehr selbst. Nach wie
vor werden in der Bundeswehr homosexuelle Soldaten
diskriminiert - und das mit dem Segen des Verteidigungsministers.
({6})
Herr Scharping, das ist ein unerträglicher Zustand, dessen Verteidigung Ihnen nicht neue Stimmen in der so
genannten Neuen Mitte bringen wird, sondern in den ultrarechten Kreisen der Gesellschaft, mit denen Sie sonst
nichts zu tun haben wollen.
({7})
Wer Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung
die Befähigung zum Vorgesetzten abspricht, so gerade
erst wieder in der Antwort auf eine parlamentarischen
Anfrage, die nicht deshalb falsch ist, weil sie von der
PDS kommt, der weckt seinerseits nachhaltige Zweifel
daran, dass er in vollem Umfang verstanden hätte, was
Demokratie und Menschenwürde bedeuten.
({8})
Erst vorgestern haben Sie, Herr Scharping, erklärt,
dass Sie nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes nahezu alle Bereiche der Bundeswehr für Frauen
öffnen wollen. Es wird daher nicht mehr die Ausnahme,
sondern die Regel sein, dass Männer Vorgesetzte von
Frauen und Frauen Vorgesetze von Männern auch in der
Bundeswehr sein werden. Es kann doch wohl nicht sein,
dass wir bei heterosexuellen Vorgesetzten annehmen, sie
würden ihre vorgesetzte Stellung nicht missbrauchen,
um sexuelle Vorteile bei Untergebenen zu erhaschen,
({9})
während bei homosexuellen Vorgesetzten Derartiges
unterstellt wird. Für eine solche Unterstellung gibt es
keine faktischen Hintergründe. Sie sind nicht zu rechtfertigen.
({10})
Hildebrecht Braun ({11})
Ich kann nur darum bitten, liebe Kolleginnen und
Kollegen in der Koalition, dass Sie dazu beitragen, dass
diese Fehlhaltung der Führung des Verteidigungsministeriums ein für alle Mal beendet wird.
({12})
Es kann nicht sein, dass dieses Land mit seiner politischen Führung nach wie vor Diskriminierung von Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung unterstützt.
({13})
Ich muss zum Schluss kommen und möchte nochmals
mit Nachdruck den Personen, die mit Ihnen, Frau Marienfeld, diesen Bericht erarbeiten, die aber auch die tagtägliche Arbeit für unsere Soldaten und für den Bundestag leisten, ganz herzlich danken.
({14})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Winfried Wolf, PDS-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Werte Frau
Wehrbeauftragte Marienfeld! Um mich mit der Materie
vertraut zu machen, habe ich nicht nur den Bericht der
Wehrbeauftragten aufmerksam studiert. Ich las auch die
Debatte, die es zum selben Thema am 24. Juni 1998 gab,
nach. Damals sagte der Abgeordnetenkollege Gerhard
Zwerenz:
Die PDS kann sich ein Deutschland ohne Armee
durchaus vorstellen.
Das Protokoll vermerkt hier den Zwischenruf der Kollegin Brigitte Baumeister von der CDU/CSU:
Und wir uns eines ohne PDS!
Nun blieb die PDS nicht nur in Deutschland, sondern
auch gestärkt im Parlament bestehen. Es gibt heute
ernsthafte in- und ausländische Kommentatoren, die sich
ein Deutschland ohne CDU vorstellen können. Die ehemalige Schatzmeisterin der CDU, Frau Baumeister,
dürfte sogar besser wissen, wo all das noch enden kann.
Zum Bericht der Wehrbeauftragten. Trotz der genannten Vorbehalte und möglichen Vorurteile finde ich
Ihren Bericht, Frau Claire Marienfeld, bemerkenswert
aufschlussreich. Sie bemühen sich auf eine eminente Art
und Weise nicht nur um die Wehrpflichtigen, sondern
auch darum, in der Bundeswehr Vorfälle und Strukturen
zurückzudrängen, die die Menschenwürde verletzen.
Ich möchte Ihnen, wie dies vor zwei Jahren auch mein
Kollege Zwerenz tat, dafür meine Anerkennung aussprechen. Nach dem Lob von allen anderen Parteien ist
dies, glaube ich, kein Todeskuss, wenn es von der PDS
kommt.
({0})
Ich zolle Ihnen Anerkennung dafür, dass Sie beispielhaft die vielen Fälle von Machtmissbrauch, Verletzungen der Menschenwürde und Schinderei aufzeigen, und
Respekt davor, wie Sie betonen, dass
insbesondere bei jungen Soldaten … die Unkenntnis über politische und geschichtliche Zusammenhänge oft erschreckend groß
ist. Ich stimme Ihrer Feststellung im Abschnitt „Rechtsextremistische und fremdenfeindliche Vorfälle in der
Bundeswehr“ zu, es könne bei diesem Thema „keine
Entwarnung“ geben.
Der Bericht zeichnet aus meiner Sicht - hier werden
Sie, Frau Marienfeld, mir natürlich nicht zustimmen
können - in seiner Detailfülle ein Bild, wie ich mir die
Bundeswehr durchaus vorstellte, nämlich das Bild einer
klassischen Armee, die Menschen systematisch verformt, verbiegt und verkrüppelt, eben weil es eine Armee ist.
({1})
Wir alle wissen um die Bundeswehrvideos, die auch
Folterszenen als „Übung“ enthielten. Wenn man dies als
Exzessen abtut, dann antworte ich: Ich finde eine Reihe
der im Wehrbeauftragtenbericht wiedergegebenen Beispiele aus dem Alltag wichtiger, weil sie symptomatisch
zu sein scheinen. Ich möchte dem Kollegen Siemann der dies nicht schön finden wird - darin zustimmen, dass
diese Beispiele nur die Spitze des Eisbergs sind.
Nehmen wir nur ein Beispiel. Der Bericht hält folgenden Vorfall fest:
Ein Oberfeldwebel befahl als Militärkraftfahrlehrer
einem Fahrschüler aus Erziehungsgründen, ein
übersehenes Verkehrszeichen mit einem Stück Papier zu putzen. Der Obergefreite kletterte dabei an
dem wackelnden Schilderpfahl hoch und begann
unter den Augen von Passanten mit dieser symbolischen Reinigung.
Vertreter der Bundeswehr und manche hier im Plenarsaal dürften Derartiges als normal betrachten, obwohl
dieser Vorgang nach Intervention zum Schluss geahndet
wurde. Es zeichnet diesen Bericht aus, dass dies unter
der Überschrift „Verletzung der Menschenwürde“ festgehalten wurde.
Der Bericht endet am 31. Dezember 1998. Im Bericht
ist bereits von den „neuen Aufgaben der Bundeswehr“
die Rede. Dort heißt es:
Die sittliche und geistige Grundorientierung des
Dienstes als Soldat muss unverändert bleiben.
Im Abschnitt „Politische Bildung“ wird darauf verwiesen, dass nach § 33 Soldaten staatsbürgerlichen und völkerrechtlichen Unterricht erhalten. Die Wehrbeauftragte
klagt dabei ein:
Der Soldat der Bundeswehr als Staatsbürger in Uniform soll sich jedoch von dem Befehlsempfänger
unterscheiden, der gedankenlos und ohne Bewertung allem folgt, was ihm vorgegeben wird.
Hildebrecht Braun ({2})
Nun diskutierten wir, wie die meisten schon gesagt
haben, diesen Bericht nach einer entscheidenden Zäsur,
die im Bericht noch nicht vermerkt werden konnte.
Erstmals seit 1945 war eine deutsche Armee wieder an
einem Krieg beteiligt. Die Beteiligung der Bundeswehr
an einem Krieg erfolgte wie 1914 und 1939 unter Bruch
des Völkerrechts und unter Bruch der Aussagen in den
Programmen von SPD und Grünen und ihrer Wahlversprechen. Ich betone trotz aller massiven Unterschiede,
die es zwischen diesen Kriegen gibt: Auch der NATOKrieg gegen Jugoslawien war ein Krieg unter offenem
Bruch des Völkerrechts.
({3})
Zu fragen ist: Inwieweit unterschied sich diese Bundeswehr vom - Zitat - „Befehlsempfänger, der gedankenlos
und ohne Bewertung allem folgt, was ihm vorgegeben
wird“? In Tschetschenien werden wir nächste Woche
vor der russischen Botschaft gegen diesen Krieg demonstrieren.
({4})
Zumindest bis dahin galt die UN-Charta als Teil von
Recht und Ordnung, die zu verteidigen die Bundeswehr
mit aufgerufen war.
Uns liegt jetzt der Fall eines Bürgers vor, der in dieser Situation zu Zivilcourage und zu Befehlsverweigerung, also zur Einhaltung des grundgesetzlichen Gebots
„kein Angriffskrieg“ und zur Respektierung des Völkerrechts bzw. der UN-Charta, aufrief und dafür vor Gericht stand. Tobias Pflüger von der Informationsstelle
Militarisierung in Tübingen wurde in erster Instanz verurteilt. Auch das scheint dem Tenor zu folgen: Gewünscht ist der Befehlsempfänger. Andere Richter - so
hier in Berlin - entschieden in vergleichbaren Fällen
nicht so. Es handelt sich unter anderem um eine Person,
die von dem Kollegen Ströbele verteidigt wurde.
Die Grünen sollten sich im Übrigen in dieser Debatte
erneut bewusst machen, wie sie sich im vergangenen
Jahr bis zur Unkenntlichkeit veränderten. In der bereits
zitierten Rede von Gerhard Zwerenz vor zwei Jahren
sagte dieser:
Der militärische Sieg über Hitler wurde nur deshalb
notwendig, weil es in Deutschland am Anfang zu
wenig pazifistischen Widerstand gegeben hat ... Es
muss Pazifisten geben. Ein Land, das keine Pazifisten hat, ist ein armseliges Land.
({5})
Hier vermerkt das Protokoll:
Beifall bei der PDS sowie des Abg. Winfried
Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]
Werte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zum Schluss auf ein Thema verweisen, das im Bericht
der Wehrbeauftragten im Kapitel „Traditionspflege“
auftaucht. Am 27. Januar vor einem Jahr, als der Befreiung von Auschwitz gedacht wurde, wurde der neue
Staatsminister für Kultur Naumann von einer Fernsehstation zu seiner Meinung nach denjenigen Kasernen
gefragt, die weiterhin die Namen von Nazigenerälen tragen. Naumann antwortete:
Das ändern wir jetzt. Das schwöre ich Ihnen: In
zwei Jahren finden Sie keine mehr.
({6})
In wenigen Tagen, am 27. Januar 2000, gedenken wir
erneut der Befreiung von Auschwitz. In diesem Plenarsaal wird Elie Wiesel reden. Das gereicht unserem Haus
zur Ehre. Doch gerade an einem solchen Tag müssen
wir uns vergegenwärtigen: Diese deutsche Armee bildet
ihre Soldaten in Kasernen aus, die bis zum heutigen Tage in mindestens einem Dutzend von Fällen nach Nazigenerälen, nach Naziluftkriegs-„Helden“, nach erklärten
Antisemiten und nach einem Kolonialkriegsgeneral und
Kapp-Putschisten benannt wurden.
Wir mögen mit unserer Forderung nach Abschaffung
der Wehrpflicht, nach massiver Reduktion der Armee
und letztlich nach Abschaffung der Bundeswehr vielleicht allein stehen, obwohl dies ein Zurück zum ursprünglichen Grundgesetz ist. Doch das Nein zu dieser
Art krimineller Traditionspflege sollte alle Demokraten
in diesem Haus einen.
Danke schön.
({7})
Ich erteile der Kollegin Ilse Schumann, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Sehr verehrte Frau Wehrbeauftragte! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auch wenn es sich jährlich wiederholt: Die
Debatte über den Bericht der Wehrbeauftragten ist mehr
als parlamentarische Routine oder sogar eine Pflichtübung; denn unsere Bundeswehr ist ein Parlamentsheer.
Wir, die Parlamentarier, entscheiden über die bewaffnete staatliche Macht und wir müssen sie kontrollieren.
Unser Hilfsorgan ist die Institution der Wehrbeauftragten - eine Einrichtung, deren hohes Ansehen weit über
die Grenzen Deutschlands hinausreicht.
({0})
Es ist nicht nur das Amt, dem ich meinen Respekt
zollen möchte; vielmehr möchte ich ganz ausdrücklich
der Frau Wehrbeauftragten Marienfeld und ihren Mitarbeitern für ihre engagierte, glücklicherweise manchmal
auch unkonventionelle Arbeit im Interesse unserer Soldaten danken.
({1})
Als erste Frau in diesem hohen Amt haben Sie, liebe
Frau Marienfeld, Beispielhaftes geleistet. Ich habe mit
Respekt, aber auch mit Bedauern gehört, dass Sie nicht
noch einmal für das Amt der Wehrbeauftragten kandidieren. So wie Sie es geführt haben, kann man das Bedauern verstehen. Sie waren überparteilich und immer
objektiv - im Interesse unserer Soldaten.
({2})
Der vorliegende Jahresbericht 1998 vermittelt ein
umfassendes Bild über den inneren Zustand der Bundeswehr. Er lenkt die Aufmerksamkeit des Parlaments
ebenso auf die Sorgen und Anliegen des einzelnen Soldaten wie auf den inneren, den technischen, aber auch
den politischen Zustand des Gesamtsystems Bundeswehr.
Ich kann in diesem kurzen Beitrag nicht alle Punkte
des umfassenden Jahresberichtes würdigen. Deshalb habe ich mir einige Schwerpunkte herausgegriffen. Da ist
einmal die Stellung der Streitkräfte im politischen Koordinatensystem des Landes: Die Bundeswehr gehört weder einer Partei noch der Regierung. Ich sagte es bereits:
Die Bundeswehr ist ein Parlamentsheer. Soldaten sind
Bürger in Uniform. Die Grundrechte der Soldaten - ihre
Würde - werden geachtet. Die Grundsätze der inneren
Führung, ein von Sozialdemokraten eingeführtes Prinzip, werden eingehalten. Die Frau Wehrbeauftragte, als
Kontrollorgan, aber auch als Petitionsinstanz, schenkt
der Einhaltung dieser Prinzipien große Beachtung. Und
man kann sagen, dass sich Stimmung und Klima in der
Bundeswehr seit der Amtsübernahme des Bundesministers der Verteidigung Rudolf Scharping bedeutend verbessert haben.
({3})
Die Verantwortung, die die Vorgesetzten mit der
Ausbildung insbesondere der jungen Wehrpflichtigen
übernehmen, ist groß. Aber es ist auch eine schöne Aufgabe, der sie sich - auch das weist der Bericht aus - gern
und erfolgreich stellen. Ich kann an dieser Stelle ja ruhig
einmal einflechten, dass meine beiden Söhne, die ihre
Wehrpflicht in der NVA absolviert haben, da ganz andere Erfahrungen machen mussten. Mit Blick auf Herrn
Wolf von der PDS weise ich für die Bundeswehr den
Begriff „verkrüppelt“ entschieden zurück. Nach den mir
bekannten Erfahrungen trifft er eher auf die NVA zu.
({4})
Damit bin ich bei der Armee der Einheit. Es ist
wirklich eine Erfolgsstory, wie aus zwei deutschen Armeen, die sich jahrzehntelang feindlich gegenüberstanden, beginnend mit dem Datum des Oktober 1990 eine
gemeinsame deutsche Streitkraft wurde, deren Auftrag
nun mittlerweile - über Landes- und Bündnisverteidigung hinaus - auch humanitäre und Katastrophenhilfe,
Überwachung von Rüstungskontrollabkommen, Aufbauhilfe für demokratische Streitkräfte in anderen Ländern und die Teilnahme an UNO-Missionen beinhaltet.
Die Bundeswehr hat mit der Integration der Soldaten der
ehemaligen NVA wirklich Beeindruckendes geleistet.
Ich wiederhole mich gern: Hier ist ein Stück deutscher
Einheit wirklich gelungen.
({5})
Ich muss Ihren Beifall ein bisschen relativieren und
ein paar Wermutstropfen in den Freudenbecher gießen.
Es kann nämlich niemand von den ostdeutschen Soldaten - ich übrigens auch nicht - begreifen, dass wir, die
Parlamentarier, es dulden, dass es im zehnten Jahr der
Armee der Einheit immer noch zwei Besoldungsklassen
gibt ({6})
100 Prozent im Westen, 86,5 Prozent im Osten -, ein
Umstand, der nach dem Bericht der Wehrbeauftragten in
der Bundeswehr sowohl bei den Betroffenen wie auch
bei deren „100-Prozent-Kameraden“ auf Unverständnis
stößt.
({7})
Der jetzige Generalinspekteur der Bundeswehr, General von Kirchbach, schilderte beim Neujahrsempfang
1996 der Landesregierung von Sachsen-Anhalt das
Schicksal zweier junger Männer, die gemeinsam aufgewachsen sind, gemeinsam ihre Ausbildung gemacht haben, an verschiedenen Standorten zum Soldaten auf Zeit
berufen worden sind und nun bei gleichem Dienst in
gleichen Einheiten mit unterschiedlicher Besoldung
nach Hause gehen. Das kann man, glaube ich, niemandem mehr plausibel erklären.
({8})
- Wir werden, Herr Kollege Braun, an diesem Problem
gemeinsam arbeiten. Ich hoffe eigentlich sehr, dass sich
etwas bewegen wird.
Gerade dieser Tage - das wollte ich noch sagen - hat
mich ein Brief des Vorsitzenden des Landesverbandes
Ost des Bundeswehr-Verbandes erreicht, in dem auch
diese schreiende Ungerechtigkeit beklagt wird. Er weist
darin zu Recht auf den skurrilen, gar nicht so seltenen
Umstand hin, dass Vorgesetzte Ost manchmal weniger
verdienen als von ihnen geführte Soldaten West. So frage ich mich ernsthaft - und gebe diese Frage an Sie, liebe Kollegen, weiter -, welcher Bürger der alten Bundesländer das beinahe zehn Jahre lang klaglos ertragen
hätte.
Natürlich weiß ich, dass insbesondere unter Beachtung desolater Staatsfinanzen, die wir Sozialdemokraten
nicht zu verantworten haben, der ganz große Sprung so
bald nicht möglich sein wird. Aber lassen Sie uns alle
gemeinsam darangehen, in kleinen Schritten - mit einem
festen Zeitplan - diese für ostdeutsche Soldaten demütigenden Einkommensunterschiede abzubauen.
({9})
Das Hauptargument gegen ein solches Vorgehen ist
schon seit Jahren ein angeblich zu erwartendes Veto finanzschwacher ostdeutscher Länder. Ich sehe hier Hoffnung grünen. Die Ministerpräsidenten Stolpe, Brandenburg, und Höppner, Sachsen-Anhalt, haben sich im
SPD-Forum „Ostdeutschland“ für den Gedanken einer
schrittweisen Erhöhung der Gehälter über mehrere Jahre
hinweg stark gemacht.
Soldaten haben eine Folgepflicht und wir als Parlament haben ihnen gegenüber eine ganz besondere Fürsorgepflicht. Denn wir schicken sie notfalls ins Kosovo
oder nach Osttimor. Wir dürfen diese Armee nicht in
zwei Klassen spalten.
({10})
Das Parlament muss hier handeln, aus eigener Autorität,
und wir sollten nicht warten, bis uns möglicherweise ein
Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Herstellung
des verfassungsgemäßen Gleichheitsgrundsatzes zwingt.
An dieser meiner Überzeugung ändert auch das gestrige
Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes nichts.
Ich sehe, dass meine Redezeit bald abläuft.
Richtig beobachtet.
({0})
Ich wollte zum Schluss noch
kurz zu einem Teilaspekt kommen,
({0})
der die Fachpolitiker und die Bundeswehr, aber auch die
interessierte Öffentlichkeit beschäftigt: Das ist das Urteil
des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg, nach
dem sich die Bundeswehr nun auch für Frauen unter
Waffen öffnen muss. Es wird dazu sicher ausführliche
Debatten hier im Hohen Haus geben.
({1})
Ich möchte nur anmerken, dass nach dem Bericht der
Wehrbeauftragten die Erfahrungen mit Frauen in unseren Sanitätseinheiten und in den Musikkorps gut sind.
Ich denke, Frauen werden auch auf anderen Dienstposten ihren Mann stehen.
Ich wünsche mir eine parteiübergreifende, offene, faire und erfolgsorientierte Diskussion, wie ich sie
manchmal leider hier im Hohen Hause schmerzlich
vermisse.
Liebe Kollegin, Sie
müssen jetzt aber wirklich zum Schluss kommen.
Ja, das ist wirklich der letzte
Satz. - Der sachliche, objektive Bericht der Frau Wehrbeauftragten, der frei von parteipolitischer Polemik ist,
könnte uns dabei Vorbild sein.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Anita Schäfer, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Frau Wehrbeauftragte! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Wesentliche am Bericht der
Wehrbeauftragten ist der Einblick in die Bedingungen,
unter denen die Soldaten ihren wichtigen und wertvollen
Dienst für unsere Demokratie und damit für unsere gesamte Gesellschaft leisten. Ich möchte dabei die Verdienste unserer Soldaten der UN-Kontingente nicht
unterschlagen, im Gegenteil: Sie leisten unter schwierigen Bedingungen hervorragende Arbeit, wofür ich an
dieser Stelle ausdrücklich danken möchte.
({0})
Es geht mir heute vielmehr um alle Soldaten der
Bundeswehr, von denen die UN-Kontingente lediglich
einen kleinen Teil ausmachen. Leider ist der alltägliche
Dienst hier in den Kasernen den Medien selten eine
Meldung wert. Dabei darf aber nicht übersehen werden,
dass auch unsere Soldaten im Inland durch die Auslandseinsätze erhebliche Mehrbelastungen zu bewältigen
haben, Mehrbelastungen, für die oftmals nur die im
Ausland eingesetzten Soldaten den Dank bekommen,
Mehrbelastungen, die aber, wenn sie zur Normalität
werden, die Motivation und damit auch die Einsatzfähigkeit der Truppe beeinträchtigen.
Doch nicht nur andauernde Überbelastungen, auch
die Rahmenbedingungen, unter denen die Soldaten ihren
Dienst leisten müssen, sind schlechte Voraussetzungen
für motivierte Soldaten. Dabei sind es nicht nur die kleinen Mängel, die zu größerem Ärger führen. Viel gravierender sind die offenen Fragen um die Zukunft der Bundeswehr. Sie verunsichern viele Soldaten. Hier sind klare Entscheidungen nötig, zu denen diese Koalition jedoch nicht imstande ist.
({1})
- Wir warten ab.
Dieser Bericht ist nun schon fast ein Jahr alt. Ich sage
nur: ein verlorenes Jahr für die Bundeswehr. Planungssicherheit zu gewährleisten, Herr Verteidigungsminister,
ist auch Teil der Fürsorgepflicht, der Sie - das muss ich
hier schon sagen - bisher geschickt ausgewichen sind.
Denn weder der jetzige Verteidigungshaushalt noch die
weiteren geplanten signalisieren unseren Soldaten gesicherte Zukunftsperspektiven. Wenn die stiefmütterliche
Art und Weise, mit der die Koalition die Bundeswehr
und damit unsere Soldaten behandelt, schon von unseren
Bündnispartnern gerügt wird, dann scheinen wir mit unseren Forderungen nach einer Aufstockung des Verteidigungshaushaltes so falsch ja gar nicht zu liegen.
Konkrete Argumente für einen erhöhten Etat sind
nicht nur dem Bericht zu entnehmen. Hier geht es nicht
allein um überalterte Reifen oder fehlende Kleinteile,
sondern um klare Technologie- und Ausrüstungsdefizite, die im Übrigen auch während des Einsatzes im Kosovo ganz deutlich zutage getreten sind.
Erst kürzlich sind mir bei einem Besuch von Fernmeldeeinheiten die drastischen Rückstände aufgezeigt
worden, die wir schon heute gegenüber den Streitkräften
anderer Bündnispartner haben - und das in einem Bereich, der nicht nur für Koordination und Kooperation
mit unseren Partnern grundlegend ist. Vor allem bei der
Krisenfrüherkennung kann dies fatale Folgen haben.
Wenn sich das Parlament vorbehält, über Einsätze der
Bundeswehr zu entscheiden, dann muss die Parlamentsmehrheit auch die Bereitschaft aufbringen, die
notwendigen Mittel für die entsprechende Ausrüstung
zur Verfügung zu stellen.
({2})
Bleibt die Koalition bei ihrer halbherzigen Anpassung
unserer Armee an die veränderten Anforderungen,
dann - da bin ich mir sicher - werden die zukünftigen
Berichte der oder des Wehrbeauftragten ein desolates
Bild der Bundeswehr aufzeigen.
Um die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr zu sichern, müssen aber auch die vorhandenen Mittel effizienter eingesetzt werden.
({3})
In diesem Zusammenhang muss sicherlich manches
neu überdacht werden. Nur einer von vielen solchen
Punkten ist das Kasinowesen in den Kasernen. Wenn
schon bei den militärischen Notwendigkeiten gespart
wird, dann ist es nicht mehr einzusehen, warum die Kasinos jährlich mit einem mehrstelligen Millionenbetrag
subventioniert werden. Die Privatisierung der Heimbetriebe seit 1995 kann hier als gutes Vorbild dienen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende Bericht belegt auch, dass es begründeten Anlass gibt, über
grundsätzliche Fragestellungen bezüglich des Dienstes
von Frauen in der Bundeswehr zu sprechen. Zur Frage
des Dienstes von Frauen an der Waffe hat Frau Marienfeld hervorgehoben, dass weder die weiblichen Soldaten
noch ihre männlichen Kollegen mit der jetzigen Situation einverstanden sind. Vor allem die Einteilung zum
Wachdienst ist immer wieder Anlass für Unmut. Dass
sich in dieser Frage bisher noch nichts bewegt hat, ist
leider bezeichnend für den Stellenwert, den die Koalition den Problemen unserer Bundeswehr beimisst. Ich
schließe mich daher ausdrücklich der Forderung der
Wehrbeauftragten an, dass die auch jetzt noch gültige
Praxis, Frauen vom Wachdienst auszuschließen, nun einer zufrieden stellenden Lösung zugeführt werden muss.
Aber das darf nur ein erster Schritt sein. Einsatzbereitschaft und Effizienz der weiblichen Soldaten im dienstlichen Alltag sind durchaus mit den Leistungen ihrer
männlichen Kameraden vergleichbar.
({4})
Ich bin sicher nicht die Einzige, die sich vorstellen
kann, dass das auch in anderen Einheiten als dem Sanitätsdienst möglich sein wird.
({5})
Ein vermehrter Einsatz von Frauen in der Bundeswehr kann dabei aber nicht gleich bedeutend mit einer
Abschaffung der Wehrpflicht sein, auch wenn die Grünen das gerne hätten.
({6})
Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes haben sich
sehr bewusst, gerade auch aus den vielfältigen und leidvollen Erfahrungen der deutschen Geschichte heraus, für
die Wehrpflicht entschieden. Sie ist sichtbarer Ausdruck der Bürgerverantwortung in unserer Demokratie.
Damit ist sie zu einem unverzichtbaren Bestandteil zur
Vermittlung der Wertvorstellungen unserer freiheitlichen humanen Gesellschaft geworden.
Die Wehrpflicht ist aber auch eine unverzichtbare
Grundlage für eine wirksame Sicherheitsvorsorge. Auch
unsere Bündnisverpflichtungen, die von der gesamten
Koalition unter Führung des grünen Außenministers Fischer eingegangen wurden, setzen eine angemessene
Aufwuchsfähigkeit der Bundeswehr voraus.
An diesen Grundlagen unseres Staatswesens und unserer Gesellschaft können auch wirtschaftliche und berufliche Begehrlichkeiten nichts ändern, selbst wenn sie
vom Europäischen Gerichtshof abgesegnet werden.
Der Europäische Gerichtshof hat zwar mit seiner Entscheidung in einen innerstaatlichen Kompetenzbereich
eingegriffen, er hat zugleich aber auch Anlass und
Grund gegeben, den Wehrdienst durch eine flexible
Ausgestaltung auch weiterhin attraktiv zu gestalten. Für
Gespräche hierüber sind wir jederzeit bereit. Doch vor
den Karren der Abschaffung staatsbürgerlicher Pflichten
lässt sich die CDU/CSU nicht spannen.
Die besondere Bedeutung der Wehrpflicht vor allem
für das innere Gefüge der Bundeswehr wird dabei seit
Jahren durch die Berichte der Wehrbeauftragten belegt.
Auch das sollte in der Koalition, vor allem beim Juniorpartner, etwas mehr Berücksichtigung finden.
Sehr verehrte Frau Wehrbeauftragte Marienfeld, ich
danke Ihnen sehr für Ihre offene und ehrliche Berichterstattung. Gerade Ihr Engagement als Anwältin der Soldaten ist für uns alle ein wertvoller Beitrag zur Zukunftssicherung unserer Bundeswehr. Schade, dass Sie
nicht mehr zur Verfügung stehen!
Herzlichen Dank.
({7})
Ich erteile dem Kollegen Georg Pfannenstein, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Sehr
geehrte Frau Wehrbeauftragte! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! In dieser Debatte hat die Opposition
natürlich einiges pflichtgemäß beanstandet. Alles, was
mit der materiellen Lage zusammenhängt, wurde kritisch angemerkt. Wir sehen uns allerdings nicht in der
Lage, die schlechte Kassenlage so schnell zu verbessern.
Sie haben uns ja die leeren Kassen hinterlassen; das ist
ein schlimmes Erbe.
({0})
Nun beklagen Sie bitterlich die Auswirkungen. Eigentlich hätten wir von Ihnen etwas anderes erwartet; denn
es ist ja bekannt, dass Sie ein Händchen für den Umgang
mit Geld haben. Aber hier scheint das nicht der Fall zu
sein.
Ich möchte zu den eher immateriellen, zu den ideellen
Fragen kommen, die für die Bundeswehr erheblich sind.
Ein zentraler Begriff ist für mich dabei die Zivilcourage. Während der Amtszeit von Herrn Rühe hat sich im
BMVg und in der Bundeswehr eine besondere Form der
Angst entwickelt. Soldaten haben aus Furcht vor dienstlichen Nachteilen oder Repression durch Vorgesetzte
geschwiegen. So manche Vorgesetzte haben aus Furcht
vor einem Karriereknick einen nicht vorhandenen Klarstand gemeldet oder notwendige Maßnahmen unterlassen.
({1})
Angst ist immer der ärgste Feind von konstruktiver
Kritik und von Eigeninitiative. Diese sind aber auch in
einer Struktur nötig, die eigentlich auf Befehl und Gehorsam basiert; ohne Kritik und Eigeninitiative kann ein
Apparat von der Größe einer Armee nicht gut funktionieren.
({2})
Ohne Kritik und Eigeninitiative - da wären wir wieder
bei der materiellen Seite - kann ein Apparat auch sein
Rationalisierungspotenzial nicht ausschöpfen.
({3})
Angst ist auch der Feind der Demokratie. Die Soldaten der Bundeswehr sind Staatsbürger in Uniform; sie
sind ein Teil unserer Gesellschaft. Fehlt Zivilcourage in
dieser Gesellschaft, kann sie keine couragierten Soldaten
hervorbringen. Geht den Soldaten die Zivilcourage gar
während ihrer Bundeswehrzeit verloren, tragen sie diese
Haltung auch ins bürgerliche Leben zurück. Die Kritikfähigkeit des Gemeinwesens leidet; das sollten wir gemeinsam verhindern.
({4})
Die Wehrbeauftragte hat in ihrem Bericht eine deutliche „Forderung nach mehr Mut“ ausgesprochen. Soldaten werden dann kritischer und mutiger sein, wenn sie
durch ihre Vorgesetzten dazu ermuntert werden. Ein
kritischer Geist muss also durch alle Hierarchien bis an
die Spitze erlaubt sein. Das war unter der alten Regierung nicht der Fall. Mit der Stabübergabe im Oktober
vorletzten Jahres hat sich das Klima im BMVg und in
der Truppe spürbar verbessert.
({5})
- Doch. - Die Angststarre hat sich gelöst, eine größere
Offenheit hat sich etabliert.
({6})
Kritisches und damit innovatives Denken ist nunmehr
erwünscht, verehrter Herr Kollege.
Der Bericht der Wehrbeauftragten umfasst nur den
Zeitraum bis Anfang 1999. Insofern konnte sich die
neue Offenheit in dem Bericht noch nicht niederschlagen. Ich bin mir sicher, dass im nächsten Bericht diese
neue Offenheit deutlich werden wird.
({7})
- Nicht „Offenbarung“; tut mir Leid, Herr Kollege.
Bis in die 80er-Jahre war für die Bundeswehr, wie
das geflügelte Wort damals hieß, der Frieden der Ernstfall. Heute sind Auslandseinsätze gleichsam zu einem
gefährlichen Alltag geworden, bei dem militärische
Auseinandersetzungen und menschliches Leiden zu einer unmittelbaren persönlichen Erfahrung werden können. Das stellt neue Anforderungen an die innere Führung, an die Vermittlung von Werten. Die Erweiterung
des Aufgabenspektrums verändert damit auch das
Selbstverständnis des Soldaten, der sich - zunehmend
im internationalen Kontext - immer mehr als Schützer
und Helfer versteht und verstehen muss. Internationalität
und Toleranz müssen daher zum Markenzeichen des
Soldaten werden.
Auch andere Entwicklungen machen dies nötig: Mit
einem neuen Staatsbürgerschaftsrecht werden zunehmend junge Menschen in die Bundeswehr eintreten, die
einer anderen Kultur entstammen und vielleicht auch eine andere Religion als ihre Kameraden haben, deren
Familien bereits seit Generationen Deutsche sind. Ohne
jede Frage wird sich das soldatische Image grundlegend
ändern, wenn Frauen nun stärker - und zu Recht - in die
Bundeswehr drängen.
Gerade die zunehmende Einbindung in bi- und multinationale Verbände, die beginnende Europäisierung der
Sicherheits- und Verteidigungspolitik haben Rückwirkungen auf das soldatische Selbstverständnis und auf die
Werte, die durch die Vorgesetzten vermittelt werden
müssen. Sicher: Die Landesverteidigung bleibt ein wesentlicher Zweck der Bundeswehr. Die Identifizierung
mit dem Mutterland ist von daher richtig und wichtig.
Aber sie reicht nicht mehr. Deutschland ist in EU, WEU
und NATO Partner der europäischen Staaten und der
USA. Auf dem Helsinki-Gipfel der EU wurde sogar
über den Kern einer europäischen Armee gesprochen.
Für die Sozialdemokraten ist diese partnerschaftliche Idee entscheidend und nicht eine Idee von Führung,
die nur in nationalen Kategorien denkt. Es ist Aufgabe
militärischer Vorgesetzter, diese europäische Verankerung zu transportieren. Insofern möchte ich das weiterführen, was der Inspekteur des Heeres in seiner Leadership-Weisung im Sommer letzten Jahres formuliert
hat. Es heißt da im Zusammenhang mit der Bindung des
soldatischen Gehorsams an ethische Maßstäbe:
Dieser Maßstab muss durch die emotionale Bindung an unser Land, das heißt an die Nation als
Schicksalsgemeinschaft, ergänzt werden, und in
diesem Sinne versteht sich der Soldat als Patriot.
Eine solche Formulierung kann leicht missverstanden
werden und kann falsche Assoziationen wecken.
Wenn es für Sozialdemokraten eine „Schicksalsgemeinschaft“ gibt, dann ist das eine Gemeinschaft der
Demokraten; dann bildet Europa diese Gemeinschaft.
Dieses Europa darf nicht im Sinne einer militärisch bewehrten „Festung Europa“ verstanden werden.
Für den einzelnen Soldaten heißt das, dass wir keine
Rambos und keine Haudegen und schon gar keine Nationalchauvinisten brauchen.
({8})
Wir brauchen besonnenes, gut geschultes und international teamfähiges Bundeswehr-Personal, das hoch
motiviert ist. Genau darin liegt auch die eigentliche
Stärke der Bundeswehr.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch kurz auf
einen anderen Punkt eingehen. Die Wehrbeauftragte hat
in ihrem Bericht auch auf die Motivationslücken und
Frustrationen hingewiesen, die in der Truppe dadurch
entstehen, dass die Beförderungsmöglichkeiten begrenzt sind. Wir alle wissen, dass dies noch eine Erblast
des Vereinigungsprozesses von NVA und Bundeswehr
ist. Außerdem stand die Verkleinerung der Bundeswehr
an. Teilweise ist es aber auch das Ergebnis der Personalpolitik der früheren Bundesregierung.
Trotz des engen finanziellen Spielraums haben wir im
Haushalt 2000 begonnen, die Personalstruktur durch die
Schaffung zusätzlicher Beförderungsmöglichkeiten zu
verbessern. Sie betreffen 900 Stellen im Bereich A 9
und A 9 + Z sowie weitere Stellen im Bereich des
Truppendienstes bis A 15.
Herr Kollege, Sie
müssen leider die Aufzählung beenden. Ihre Redezeit ist
deutlich überschritten.
({0})
Selbstverständlich,
Herr Präsident. - Wir haben auf jeden Fall den erfolgreichen Versuch unternommen, den Beförderungsstau in
der Bundeswehr aufzulösen. Wir konnten ihn angesichts
der kurzen Zeit natürlich noch nicht beseitigen. Ich denke aber, wir haben dazu beigetragen, dass wir auf einem
guten Weg sind.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Nun hat der Kollege
Kurt Rossmanith von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen!
Verehrte Frau Wehrbeauftragte, liebe Claire Marienfeld!
Selbstverständlich möchte auch ich mich dem Dank anschließen, den alle Fraktionen dieses Hohen Hauses Ihnen - ich unterstreiche: zu Recht - gezollt haben. Ich
denke dabei besonders, Frau Wehrbeauftragte, an Ihre
sehr beruhigende und versachlichende Arbeit im Zusammenhang mit dem Thema Rechtsradikalismus in
der Bundeswehr.
Sicherlich, Herr Kollege Göllner, haben wir - ich als
Vorsitzender dieses Untersuchungsausschusses, der am
14. Januar 1998 eingesetzt wurde, und meine Fraktion damals hinsichtlich der Art und Weise Sorge gehabt, wie
über die festgestellten Einzelfälle in der Öffentlichkeit
diskutiert wurde. Die Sorge war, dass dies zu einer unerträglichen Belastung für das innere Gefüge der Truppe
werden würde.
({0})
Ich war aber im Nachhinein froh über diesen Ausschuss und auch dankbar - das haben wir damals schon
zum Ausdruck gebracht -; denn es hat sich gezeigt, dass
die Bundeswehr, was diese Frage betrifft - Herr Göllner,
Sie sind in besonderer Weise darauf eingegangen -, jetzt
sogar besser dasteht als der Durchschnitt der Bevölkerung. Dies darf aber für uns, die wir als Parlament eine
Verpflichtung gegenüber der Bundeswehr haben, kein
Ruhekissen sein. Es muss weiter unser Bestreben sein,
der Truppe in diesem Bereich Hilfe angedeihen zu lassen.
Die gleiche versachlichende Arbeit hat die Frau
Wehrbeauftragte beim Thema Tradition gezeigt, einem
Thema, bei dem viele gerne - wir haben es heute wieder
erlebt - ein ideologisches Spiel betreiben. Ich glaube,
dass man Tradition nicht ideologisch verordnen kann;
sie wächst eben. Der ehemalige Bundespräsident Roman
Herzog sagte an einem Holocaust-Gedenktag:
Wenn ein Volk versucht, in und mit seiner Geschichte zu leben, dann ist es gut beraten, in und
mit seiner ganzen Geschichte zu leben und nicht
nur mit ihren guten und erfreulichen Teilen.
Der Wille zur Auseinandersetzung mit der eigenen
Geschichte ist Voraussetzung dafür, Tradition wachsen
zu lassen und zu pflegen. Für die deutsche Militärgeschichte heißt das, dass sich eine unkritische Rechtfertigung und Heroisierung verbietet, genauso aber eine
Kollektivverurteilung ohne jede Differenzierung. Jede
ideologisch betriebene Auseinandersetzung mit der Geschichte ist zum Scheitern verurteilt, wie das klägliche
Schicksal der Wehrmachtsausstellung zeigt.
Umso mehr begrüße ich es, dass die Bundeswehr
noch zu unserer Regierungszeit in unaufgeregter Art und
Weise Maßnahmen ergriffen hat, um die Verunsicherung im Traditionsbereich zu beenden. Ich begrüße ausdrücklich die vom Bundesministerium der
Verteidigung erlassenen Richtlinien zur Unterstützung
der politisch-historischen Bildung durch militärische
Exponate. Ich sehe darin eine wichtige Orientierungshilfe für die verantwortlichen Vorgesetzten, wie sie bei der
durchaus wünschenswerten Darstellung von Militärgeschichte vorgehen können. Dazu gehört auch, dass die
Bundeswehr den Kontakt zu Vereinen und Gemeinschaften, die sich mit der Bundeswehr und ihrer Geschichte befassen, nicht abreißen lässt, sondern weiterhin konstruktiv pflegt.
Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt eingehen,
nämlich auf den Bereich, den die Frau Wehrbeauftragte
in ihrem Jahresbericht 1998, über den wir heute diskutieren, herausgestellt hat und den einige Kolleginnen
und Kollegen schon angesprochen haben! Es geht um
die Belastungen, die für unsere Soldaten und deren
Familien aus den vielen Änderungen erwachsen sind
oder erwachsen, die wir der Bundeswehr in ihrer Struktur und in ihrem Auftrag im letzten Jahrzehnt haben zumuten müssen.
Bei aller Flexibilität, die man dem Soldatenberuf zu
Recht abverlangen muss, steht dem die berechtige Forderung nach Sozialverträglichkeit gegenüber. Es gibt für
mich eine Grenze für die Verunsicherung, die den Familien unserer Soldaten vernünftigerweise zugemutet
werden kann. Der Rückhalt unserer Soldaten, den sie in
ihren Familien und in den Gemeinden, in denen die Familien beheimatet sind, erfahren, ist ein nicht zu vernachlässigender Faktor für die Einsatzfähigkeit unserer
Soldaten.
({1})
Ich will sicherlich nicht einer Weinerlichkeit das
Wort reden. Unsere Soldaten sind belastbar; das haben
sie bewiesen. Aber wir müssen die Grenzen im Auge
behalten. Insofern ist das schon seit über zwölf Monaten
andauernde Reformgespräch von Rot-Grün, ohne dass
zwischenzeitlich irgendwelche konkreten Entscheidungen getroffen wurden, eine Belastung für die Soldaten,
insbesondere für ihre Familien.
Der Bundesminister der Verteidigung versucht - das
erkenne ich auch an -, diese Aufregung in Grenzen zu
halten. Doch die jetzige Regierung hat mit ihrem offenkundigen Widerspruch zwischen ihren Versprechungen
gegenüber der NATO und der Westeuropäischen Union
und den finanzpolitischen Fakten, die sie geschaffen hat,
nicht nur das Vertrauen in die deutsche Sicherheitspolitik nach außen beschädigt, sondern auch die innere
Skepsis genährt.
Die Regierung wird noch beweisen müssen, ob sich
hinter ihren großen Reformankündigungen für die Bundeswehr eine radikale Schlankheitskur auf dem Rücken
unserer Soldatenfamilien und zulasten des Gewichts
Deutschlands verbirgt oder ob die Regierung wirklich
bereit ist, die notwendigen Investitionen bereitzustellen,
um unsere Streitkräfte für all die Aufgaben zu rüsten, zu
denen sie sich international verpflichtet hat.
({2})
Strukturveränderungen in den Streitkräften waren in
der Vergangenheit notwendig und werden natürlich auch
weiterhin notwendig sein. Aber dennoch verweise ich
mit großem Ernst auf die Sorge der Frau Wehrbeauftragten. Die Ungewissheit für die Angehörigen der
Streitkräfte und der Familien muss so schnell wie möglich beendet werden. Die Soldaten und ihre Familien hören immer von neuen Aufgaben. Sie spüren natürlich
auch ganz konkret die Folgen davon. Die Verlängerung
der Auslandseinsätze der Bundeswehrsoldaten auf sechs
Monate geht, wie ich meine, an die Grenze der Belastung heran.
({3})
Wir können, meine sehr verehrten Damen und Herren, gemeinsam mit unseren Soldaten stolz feststellen,
dass die Bundeswehr mit ihren Kriseneinsätzen sehr erfolgreich ist. Doch der Einsatz von Streitkräften im Krisenmanagement ist letztendlich nur verantwortbar, wenn
er auch in eine funktionierende Außenpolitik eingebettet
ist, die die Dauer der Einsätze begrenzbar hält.
Militärische Kriseneinsätze schaffen Zeit für politische
Lösungen. Sie sind aber sicherlich kein Ersatz dafür.
Wir können es uns nicht leisten, durch teure Dauerstationierung im Ausland Konfliktsituationen regelrecht
einzufrieren, ohne mit Nachdruck außenpolitische Lösungen voranzutreiben.
({4})
Welche Struktur wir unseren Streitkräften auch immer geben werden, wir werden sie überfordern, wenn
wir die Dauer von Kriseneinsätzen nicht überschaubar
und den Einsatzradius nicht begrenzt halten. Um es einmal so zu sagen: Je weiter eine Krisenregion von uns
entfernt ist - das Beispiel Osttimor springt hierbei ins
Auge -, umso präziser müssen die deutschen und europäischen Interessen in diesem Zusammenhang definiert
werden. Streitkräfteeinsatz ohne funktionierende Außenpolitik hält keine Bundeswehrstruktur aus und muss
auf Dauer unsere Soldaten demotivieren.
({5})
Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz auf die am
Mittwoch vorgestellte Neufassung der politischen
Grundsätze der Bundesregierung für den Export von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern eingehen.
({6})
Die Frau Wehrbeauftragte hat auch angesprochen, dass
die Wehrtechnik und Ausrüstung unserer Soldaten natürlich eine wichtige Voraussetzung sind, auch für eine
moderne Armee. Deshalb heute in aller Kürze nur so
viel zu diesem Thema: Die zukünftigen Herausforderungen an die Bundeswehr sind meines Erachtens nur
mit modernen technischen Fähigkeiten zu erfüllen. Dies
ist nur mit einer effizienten wehrtechnischen Industrie in
Deutschland und in Europa zu realisieren.
Nach den massiven Strukturanpassungen der deutschen
Wehrindustrie im letzten Jahrzehnt - wir wissen alle,
dass wir, wenn ich es am Arbeitskräftepotenzial festmache, von rund 280 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in diesem Industriebereich jetzt bei etwa 80 000
Mitarbeitern angelangt sind - müssen wir alle mit dafür
Sorge tragen, dass wir nicht wichtige technologische
Kapazitäten verlieren und weiteren Arbeitsplatzabbau
auch in diesem Industriebereich unterstützen.
Ich glaube, dass damit auch unsere Kooperationsfähigkeit im europäischen Rahmen gefährdet wäre. Dies
können und dürfen wir so nicht fortschreiten lassen. Dagegen müssen wir alle gemeinsam etwas tun. Deshalb
hoffe ich auch, dass die Richtlinien entsprechend ausgelegt werden und dass sie insgesamt im europäischen
Rahmen angeglichen werden.
Frau Wehrbeauftragte, Sie haben gesagt, dass Sie
nicht wieder für dieses Amt kandidieren werden. Deshalb nochmals zum Abschluss meinen Dank und Ihnen
persönlich weiterhin alles Gute. Sie haben in diesem
Amt sicherlich viel Ärger, aber auch viel Freude erlebt.
Diese Freude wünsche ich Ihnen auch weiterhin. Viel
Glück, Gesundheit und vor allem Gottes Segen!
({7})
Ich erteile der Kollegin Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Marienfeld, Sie haben in Ihrem Bericht, aber
auch in der Praxis mit dem Untersuchungsausschuss
„Bundeswehr und Rechtsextremismus“ viel mit Tradition zu tun gehabt. Ich möchte hier jetzt eine ganz andere
Tradition ansprechen. Ich glaube, Sie haben im positiven
Sinn die Tradition der Wehrbeauftragten - ich möchte
hier auch Willi Berkhan erwähnen - fortgesetzt und in
die Praxis umgesetzt. Auch ich möchte Ihnen persönlich,
aber auch für meine Fraktion für Ihr Engagement und
für die gute Zusammenarbeit mit dem Parlament danken,
({0})
auch wenn ich mit Bedauern feststellen muss, dass man
an dieser Stelle immer den Kopf verrenken muss, um die
Wehrbeauftragte persönlich ansprechen zu können.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir hatten im
Berichtszeitraum den Untersuchungsausschuss „Rechtsextremismus in der Bundeswehr“. Ich glaube, auch der
Bericht der Wehrbeauftragten macht deutlich, dass es
richtig war, dass wir ihn eingesetzt haben. Es ist das Ergebnis, das letztlich von fast allen getragen wurde, bis
auf wenige Ausnahmen auch von der Opposition und
der damaligen Regierung, dass es keinen Generalverdacht bezüglich des Rechtsextremismus in der Bundeswehr gibt,
({1})
dass es Defizite in der inneren Führung, in der Traditionspflege gibt
({2})
und dass vor allen Dinge durch die Diskussionen, auch
die öffentlichen und parlamentarischen Diskussionen
über dieses Problem eine Sensibilität in der Truppe entstanden ist, die zu einer deutlichen Verbesserung und einem demokratischen Verständnis beigetragen hat. Ich
glaube, dass es richtig ist, dies noch einmal zu unterstreichen.
({3})
Frau Marienfeld, Sie hören zu einer Zeit auf, die, wie
ich glaube, ganz besonders spannend wird, sicherlich
auch für die nächste Wehrbeauftragte oder den nächsten
Wehrbeauftragten. Wir stehen in diesem Jahr vor einer
Zäsur. Wir stehen vor der Umstrukturierung der Bundeswehr. Ganz sicherlich werden sowohl die Kommission „Zukunft der Bundeswehr“ als auch der Verteidigungsminister versuchen, das, was Sie an Mängeln aufzeigen - auch in dem nächsten Bericht über das vergangene Jahr, den wir noch von Ihnen bekommen werden -,
an Defiziten feststellen, zu berücksichtigen, um zu verhindern, dass strukturelle oder auch Führungsmängel innerhalb der Bundeswehr durch eine Veränderung der
Bundeswehrstruktur verstärkt werden. Das wird eine
Aufgabe sein, die wir als Parlament auch sehr engagiert
begleiten werden.
({4})
Sie haben das Stichwort „oberflächliche Werbung für
Wehrpflichtige“ erwähnt. Ich bin überzeugt, da hat sich
einiges geändert. Aber auch das ist ein ganz wichtiger
Punkt, wenn wir in die Zukunft schauen. Da möchte ich
nicht nur die Anforderungen an die Bundeswehr, an eine
präventive Außen- und Sicherheitspolitik im Rahmen
der aktuellen Auslandseinsätze, aber auch der möglichen
zukünftigen Einsätze zur Friedenswahrung und Friedensstabilisierung nennen, sondern natürlich wird auch
die Frage der Frauen in der Bundeswehr - ich erwähne
das EuGH-Urteil - zu einer massiven Veränderung führen. Die Führung der Bundeswehr, die Soldaten, aber
auch die Frauen stehen vor einer Herausforderung, die
heute nur in ihrem Rahmen zu sehen ist. Umso wichtiger
wird es sein, dann auch die innere Führung zu stärken,
die Menschenführung und die Gleichberechtigung zu
stärken sowie das, was unter Volker Rühe manifestiert
worden ist, nämlich das Diskussionsverbot, die Angst,
Mängel zu benennen, zu beseitigen. Wir werden in Zukunft noch viel mehr darauf angewiesen sein, dass die
Truppe diesen Prozess aktiv begleitet, damit wir die Zukunft der Bundeswehr gestalten können.
Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen. Ich glaube, dass das EuGH-Urteil nicht nur eine Zäsur für die
Bundeswehr bedeutet, sondern auch für die Rolle der
Frauen in der Gesellschaft insgesamt.
({5})
Wir wollen die öffentliche, die gesellschaftliche Debatte. Sie wissen, dass wir für die Abschaffung der
Wehrpflicht und die Stärkung der Freiwilligkeit in dieser
Gesellschaft eintreten. - Ich weiß, dass Ihnen das noch
immer nicht gefällt, Herr Nolting, aber dann hätten Sie
sich als Redner melden sollen, statt jetzt dazwischenzurufen.
Wir werden versuchen, alle Diskriminierungen in der
Bundeswehr - da gebe ich Ihnen Recht, Herr Braun - zu
beseitigen. Das betrifft natürlich auch die Frage der
Gleichstellung der Rechte von Homosexuellen in der
Bundeswehr.
Diese Aufgabe liegt noch vor uns, aber ich bin guten
Mutes, dass wir sie in Kürze positiv bewältigen.
Herr Rossmanith, was Sie zu den Rüstungsexportrichtlinien gesagt haben, zeigt Ihr Unverständnis. Ihre Aussage war, wir hätten keine aktive Außenpolitik.
({6})
Diese Bundesregierung hat unter Außenminister Fischer
die Außenpolitik in einem neuen Rahmen der präventiven Außen- und Sicherheitspolitik formuliert. Die Rüstungsexportrichtlinien sind ein Gewinn für die Sicherheitspolitik,
({7})
weil sie zum ersten Mal die Frage der Menschenrechte
im Empfängerland und die Frage des Endverbleibes regeln. Das heißt, wir tragen zur Sicherheit in der eigenen
Region, aber auch zur Sicherheit in Spannungsregionen
bei. Das hat Ihre Regierung 16 Jahre nicht geschafft.
Das ist ein Garant dafür, dass wir die Gefahr reduzieren,
dass die Soldaten bei Auseinandersetzungen durch illegal weiterexportierte Waffen gefährdet werden. Auch
das ist Sicherheits- und Außenpolitik, die Sie innerhalb
der nächsten drei Jahre vielleicht noch besser verstehen
lernen.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort
dem Bundesminister der Verteidigung, Rudolf
Scharping.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich Ihnen, Frau Marienfeld, sehr herzlich
für die geleistete Arbeit als Wehrbeauftragte danken.
Den Stimmen aus dem Deutschen Bundestag schließe
ich mich voller Überzeugung an. Ich schließe in diesen
Dank auch Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein.
Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr haben Ihnen vertraut. Das wird auch in den verbleibenden Monaten Ihrer Amtszeit so sein. Ich hoffe sehr, dass wir, unbeschadet Ihrer Entscheidung, so wie in der Vergangenheit gut und vertrauensvoll zusammenarbeiten werden.
Die Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages
handeln, wie der Name sagt, im Auftrag des Parlaments.
Sie haben eine sehr klar beschriebene Aufgabe, nämlich
sich um die sozialen und die dienstlichen Belange der
Soldaten, die Wahrung ihrer Rechte, die Einhaltung der
gesetzlichen Vorschriften usw. zu kümmern. Dass in bestimmten Situationen eine gewisse Versuchung besteht,
das Thema gewissermaßen ad infinitum, in globale Dimensionen auszuweiten, kann ich nachvollziehen. Auch
ich werde ihr nicht vollständig widerstehen.
Aber zunächst einmal möchte ich etwas zum Amt der
bzw. des Wehrbeauftragten und zu dem Bericht sagen,
der sich ja auf das Jahr 1998 bezieht. Es ist ganz interessant, zu sehen, wie einige Mitglieder des Parlamentes
das dringende Bedürfnis haben, bloß nicht über das Jahr
1998,
({0})
sondern lieber im Stile des Verdachtes und der Vermutung über die Zukunft zu reden. Auf diese Weise erzeugen sie genau das, was sie hinterher beklagen.
({1})
Die Wehrbeauftragten handeln, wie gesagt, im Auftrag des Parlamentes. Naturgemäß muss ein solcher Jahresbericht wie ein Mängelbericht angelegt sein. Er muss
Missstände ansprechen, aber auch gute Leistungen würdigen. Er soll ausdrücklich Fehlentwicklungen aufzeigen, aber auch Impulse für Verbesserungen geben. Diesem Anspruch wird, soweit ich mir dieses Urteil erlauben darf, der Jahresbericht 1998 der Wehrbeauftragten
in besonderer Weise gerecht. Er ist ausgewogen, er ist
konstruktiv und er ist hilfreich für die weitere Arbeit.
({2})
Deshalb wäre es ganz gut, wenn dieser sehr fundierte
Bericht nicht zum Anlass genommen würde, die eine
oder andere Sache, die mit den Realitäten gar nichts zu
tun hat, mit der Notorik des Ignoranten in die Welt zu
setzen.
({3})
Ich möchte Ihnen das an zwei Beispielen deutlich
machen: Einige von Ihnen haben davon gesprochen, die
Quote der Kriegsdienstverweigerer steige dramatisch.
Seit Jahren - dies trifft auch für die Jahre 1998 und 1999
zu; ich habe die entsprechenden Zahlen vorliegen verweigern allerdings konstant zwischen 34 und
35 Prozent der tauglich gemusterten jungen Männer den
Wehrdienst. Wenn sich Jahrgangsstärken verändern,
dann führt dieser Prozentsatz zu anderen absoluten
Zahlen. Das ist völlig klar. Das betrifft die Grundrechenarten. Deshalb ist es wichtig zu wissen: Die Quote
ist konstant.
Anstatt bundeswehrkritische, zweifelnde Fragen zu
stellen, sollten wir in einem Punkt stolz auf die jungen
Männer in Deutschland sein: 65 Prozent der jungen
Männer entscheiden sich freiwillig für die Bundeswehr.
Das ist ein gutes Zeugnis für die Bundeswehr und für
den Dienst, der dort für unser Land geleistet wird.
({4})
- Herr Breuer, ich habe mich auf Herrn Siemann bezogen. Sie hätten Ihrem Kollegen aufmerksam zuhören
sollen.
({5})
Auch auf den Nachwuchs wurde verwiesen. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen die entsprechenden Zahlen für 1998 und 1999 nennen, damit Sie diese
beiden Jahre einmal vergleichen können: Bezogen auf
die Nachwuchsgewinnung sind 1998 83 Prozent der angebotenen Stellen besetzt worden. 1999 waren es
82 Prozent. Ein dramatischer Rückgang! Im Bereich der
Statuswechsler, also bei denen, die innerhalb der Bundeswehr in einen neuen Status wechseln, den Einsatz bei
der Bundeswehr zu ihrem Beruf machen, wurden 1998
80,7 Prozent der angebotenen Stellen besetzt. 1999 sind
es 90 Prozent gewesen.
Wie können Sie angesichts dessen davon sprechen,
dass die Nachwuchsgewinnung gefährdet sei! Eine gewisse Orientierung an den Realitäten und keine völlige
Ignoranz gegenüber dem, was Sie bei der Bundeswehr
getan haben, das wäre auch für zukünftige Debatten hilfreich.
({6})
Ich weiß, diese Orientierung an den Realitäten wird eher
im privaten Gespräch erreichbar sein als in öffentlichen
Diskussionen. So ist das Leben. Trotzdem, sonderlich
viel hilft es nicht.
Ein demokratischer Staat braucht Streitkräfte, in denen der Soldat als Staatsbürger in Uniform betrachtet
wird und die Werte unserer Verfassung im täglichen
Dienst erlebt. Auch darüber wacht das Amt des Wehrbeauftragten. Das hat Frau Marienfeld mit Blick auf die
sozialen und familiären Belange in einer, wie ich finde,
sehr ausgeprägten und guten Weise getan. Diese Erfahrung entscheidet darüber, ob das Wort vom Staatsbürger
in Uniform nur ein schönes Etikett oder auch eine erfahrene Realität ist, die nicht am Kasernentor endet, genauso wenig wie dort Demokratie und Grundrechte zu enden haben. Dahinter steckt die Überzeugung: Nur wer
diese Erfahrung im Alltag macht, wird seine Aufgaben
für Frieden und Freiheit überzeugt wahrnehmen.
Deshalb muss - das sage ich an das gesamte Parlament gerichtet - mit Blick auf die Zukunft der Dienst in
den Streitkräften attraktiv bleiben. Das hat etwas mit
Perspektiven zu tun. Das hat etwas mit sozialen Belastungen zu tun. Das hat auch etwas mit Bezahlung usw.
zu tun. Gerade eine Demokratie kann nicht daran interessiert sein, dass in den Sicherheitsberufen - sei es beim
Grenzschutz, bei der Polizei oder in der Bundeswehr wegen mangelnder Attraktivität so etwas wie eine negative Auslese stattfindet. Denn damit kreieren wir Probleme, die wir unbedingt vermeiden sollten.
({7})
Auch in diesem Sinne sind die Wehrbeauftragten
Anwälte der Soldaten.
Sie haben sich immer um die Lösung sozialer Probleme
und die Verbesserung des Arbeitsplatzes Bundeswehr
bemüht, dadurch Vertrauen und Ansehen bei den Soldatinnen und Soldaten erworben, auf Unzulänglichkeiten
aufmerksam gemacht, sich schützend vor die Bundeswehr gestellt, wenn Sie dies für erforderlich hielten. Das
gilt auch für den Bericht 1998.
Er schenkt auch den Soldatinnen und Soldaten im
Einsatz großes Augenmerk. Die Erfahrungen, die wir
insbesondere in Bosnien und im Kosovo machen, sind in
vielerlei Hinsicht wertvoll und sie zeigen, welch kostbaren Schatz auch die Konzeption der inneren Führung für
die Streitkräfte darstellt und für das demokratische Eingebettet-Sein der Streitkräfte in eine freiheitliche Demokratie.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Braun?
Aber gern.
Herr Minister Scharping, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen,
dass die Berufe im Bereich der Sicherheit, und zwar alle,
durch eine ausreichende, attraktive Bezahlung in ihrem
Bestand gesichert werden müssen. Stimmen Sie mir zu,
dass die finanziellen Möglichkeiten, insbesondere die
Aufstiegsmöglichkeiten im Bereich der Bundeswehr bei
Unterführern deutlich schlechter sind als bei der Polizei?
Ja, das ist erstens richtig. Zweitens hat der Kollege Pfannenstein, wenn ich es recht erinnere, darauf aufmerksam gemacht, dass wir erste Maßnahmen dagegen
getroffen haben. Drittens will ich Ihnen ankündigen,
dass wir weitere Maßnahmen treffen werden im Zusammenhang mit der Neukonzeption der Bundeswehr.
Und viertens will ich Ihnen sagen, dass es ja kein Wunder ist, wenn ich mir betrachte, wie sich die Haushaltszahlen in den 90er-Jahren entwickelt haben. Sie haben
Recht mit der Feststellung, wir müssten diese Attraktivität erhalten und in bestimmten Bereichen auch erhöhen. Das Einzige, was mich etwas verblüfft, ist: Sie sagen das als Mitglied einer früheren Koalition, die zum
Beispiel durch die Veränderung von Erschwerniszulagen
und anderem genau diese Attraktivität, wenn man sie
einmal finanziell, einkommensmäßig betrachtet, in einem erheblichen Umfang in Gefahr gebracht hat. Das ist
einfach eine Tatsache.
({0})
Wenn ich auf den Gedanken der internationalen
Einsätze zurückkommen darf: Diese zeigen uns, dass
bei dem Konzept der inneren Führung, übrigens auch
mit Blick auf die Ausbildung, ein Stillstand nicht eintreten darf. Ein Offizier oder ein Unteroffizier muss in
der Lage sein, die konkreten politischen Bedingungen
des Einsatzlandes zu beurteilen. Er braucht politische
Bildung, Urteilsvermögen, diplomatisches Fingerspitzengefühl und Charakterstärke. Das sind die Voraussetzungen, um zwischen Parteien zu vermitteln, die sich
zuvor noch erbittert bekämpft haben.
Diese Empathie, die Wolf Graf Baudissin als Element
kooperativer Sicherheitspolitik verstanden hat - sehr
interessant, denn es liegt ja schon mehrere Jahrzehnte
zurück -, darf auf keinen Fall mit Sympathie verwechselt werden. Soweit es um militärische Beiträge zur
Friedenssicherung oder zur Vermittlung geht, braucht
man einen eigenen festen Standpunkt in den Werten unserer Verfassung, einen Standpunkt, der Menschen politisch überzeugt. Wenn ich mit Kollegen, Außenministern wie Verteidigungsministern, anderer Länder hier
oder in deren Heimat spreche, dann bestätigen sie alle
uneingeschränkt, was auch mein Eindruck von vielen
Besuchen in Bosnien wie im Kosovo ist: Die Angehörigen der Streitkräfte werden den Anforderungen im
Auslandseinsatz in einer herausragenden Weise gerecht.
Sie verdienen jede Anerkennung und jede Unterstützung
dafür.
({1})
Das gilt übrigens auch für die Situation bei uns zu
Hause, wohl wissend um die schwierigen Bedingungen,
die manchmal entstehen, um die Notwendigkeit der
Unterstützung der Familien. Deshalb sind ja im Jahr
1999 erste Entscheidungen getroffen worden. Ich nenne
als Beispiel die Aufstockung der KRK-Verbände, den
Abbau des Beförderungsstaus, der etwas mit der sozialen Lage und der planerischen Sicherheit zu tun hat, und
vieles andere, was ich jetzt aus Gründen mangelnder
Zeit nicht aufzählen kann.
Das Hauptproblem und die Wurzel der Schwierigkeiten ist, dass die Bundeswehr seit Jahren von der
Substanz zehrt. Das hat negative Auswirkungen auf die
Streitkräfte und es hat negative Auswirkungen auf die
Motivation des einzelnen Soldaten. Darüber hinwegzureden würde eine Verfälschung der Realität bedeuten.
Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass in den Jahren 1999 und 2000 gegenüber 1997 und 1998 -, nur um
einmal zwei Jahre miteinander zu vergleichen -, diese
Koalition für die Streitkräfte einschließlich der internationalen Einsätze 1,9 Milliarden DM mehr aufwendet als
im vergleichbaren Zeitraum vorher, selbst wenn man berücksichtigt, dass in den Jahren 1999 und 2000 diese
Koalition für die Beseitigung von Ausrüstungsmängeln
2,5 Milliarden DM mehr aufwendet als im gleichen Zeitraum die vorherige Koalition, ändert das an den tatsächlichen Schwierigkeiten und an der notwendigen Anstrengung für die Zukunft nichts.
({2})
Dafür braucht man, bevor man über Einzelheiten redet,
klare Leitlinien, planerische und soziale Sicherheit,
Wirtschaftlichkeit und Effizienz innerhalb der Bundeswehr und muss im Übrigen Beiträge für ein zukunftsfähiges Deutschland leisten.
Um die „Beiträge für ein zukunfstfähiges Deutschland“ kurz zu erläutern: Wir haben die Zahl der zivilberuflichen Ausbildungsmöglichkeiten in der Bundeswehr verbessert. Die Zahl der Ausbildungsplätze in ganz
traditionellen zivilen Ausbildungsberufen ist in der
Bundeswehr um 15 Prozent erhöht worden. Ich bin entschlossen, dies, wenn irgend möglich aufrecht zu erhalten. Ebenso sinnvoll und gut ist es, dass wir aus den
Mitteln des Verteidigungshaushalts für die zivilberufliche - ich betone ausdrücklich: zivilberufliche Ausbildung - über 2 Milliarden DM aufwenden und damit der
größte Investor im Bereich der Ausbildung junger Leute
in der Bundesrepublik Deutschland sind.
({3})
Dies gereicht unserem Land zur Ehre und ist für die Attraktivität der Bundeswehr von entscheidender Bedeutung.
Wirtschaftlichkeit und Effizienz erhöhen:Ich weiß,
dass einige sich gedacht haben, der Verteidigungsminister macht dazu einmal einen attraktiven Spruch. Aber
was steckt dahinter? Wir haben im Juli mit 14 großen
Industrieunternehmen einen Vertrag über Ausbildung,
Fortbildung und Weiterbildung abgeschlossen. Einige
haben sich gefragt: Was wird dabei wohl herauskommen? Andere haben gefragt: Wieso ist der Mittelstand
nicht beteiligt? Ich will heute dem Deutschen Bundestag
sagen, dass sich mittlerweile über 300 Firmen in
Deutschland, vom Handwerksmeister bis zum weltweit
tätigen Industrieunternehmen, an diesen Anstrengungen
der Bundeswehr zur Lösung von Ausbildungsproblemen
und zur Verbesserung der zivilberuflichen Perspektiven
der Soldatinnen und Soldaten beteiligen. Dies ist ein
enormer Fortschritt.
({4})
Wir haben mit den Gewerkschaften und Verbänden
des öffentlichen Dienstes im Dezember eine Rahmenvereinbarung über die Modernisierung der Verwaltung abgeschlossen sowie mit einer Handwerkskammer
ein Pilotprojekt über Ausbildungsmöglichkeiten für Soldaten mit Gesellenbrief initiiert. Diese Maßnahmen treffen auf eine enorm große Resonanz. Dem zuständigen
Staatssekretär liegen mittlerweile Schreiben von zirka
30 weiteren Unternehmen vor, die sich an diesem Rahmenvertrag beteiligen wollen, um Wirtschaftlichkeit und
Effizienz zu erhöhen.
Warum sage ich Ihnen das? Wenn Sie hier schon über
Entscheidungen für die Zukunft reden, muss ich Sie fragen: Was haben denn meine Vorgänger, was hat denn
die Koalition vor uns jemals getan, um auf diese Weise
zu einer Kooperation mit der Wirtschaft in Fragen der
Ausbildung, der Fortbildung und der Weiterbildung, der
Beschaffungsvorgänge, der Betriebsabläufe, der Logistik usw. zu kommen? Was haben Sie denn getan?
({5})
Wenn aus Ihren Reihen beklagt wird, wir hätten zum
Beispiel im Bereich der Fernmeldemittel einige Schwierigkeiten, so stimmt das. Es macht auch einem Verteidigungsminister wahrlich kein Vergnügen, in einer Einheit
der Bundeswehr festzustellen, dass für die Abwicklung
des Lufttransports eigentlich 75 PCs erforderlich sind.
Da die Bundeswehr hier nur über 25 PCs verfügt, erlaubt die Bundeswehr die dienstliche Nutzung privater
PCs, sodass die Soldaten die fehlenden Geräte selbst
mitbringen. Ich könnte viele solche Beispiele aufzählen.
Ich wundere mich nur, dass dies aus den Reihen der
heutigen Opposition beklagt wird. Sie müssen mich ja
nicht dafür loben, dass ich begonnen habe, diese Missstände abzubauen.
({6})
Das wäre von der Opposition zu viel verlangt. Sie
müssten jedoch der Korrektheit halber wenigstens sagen: Wir haben in den letzten Jahren auf der Seite der
Ausrüstung der Bundeswehr leider schwere Fehler gemacht.
({7})
Die von mir genannten Vereinbarungen stehen. Hinzu
kommt, was ich für die Conditio sine qua non halte,
nämlich die planerische und soziale Sicherheit.
Das größte Kapital der Bundeswehr - das habe ich
bis im Parlament mehrmals gesagt - sind ihre Angehörigen, ihr Leistungswille, ihre Fähigkeiten und ihre Bereitschaft zur Verantwortung. Der größte Mangel liegt
auf der Seite der Ausrüstung. Das muss berücksichtigen,
wer an die Neuausrichtung der Bundeswehr geht.
Die Bundeswehr der Zukunft muss sich durch ausgeprägte schnelle und hohe Fähigkeit zu reagieren auszeichnen. Sie muss - auch in Einsätzen - flexibel sein.
Sie muss modern ausgerüstet sein. Sie bedarf einer straffen Führungsorganisation. Sie muss ganz unterschiedlichen Ausbildungserfordernissen genauso gerecht werden, wie sie Aufwuchsfähigkeit unter dieses tragfähige
Dach bringen muss. Die Bundeswehr der Zukunft wird
für Männer und Frauen ein attraktiver Arbeitsplatz sein,
und zwar in allen Laufbahnen. Wer die EU-Richtlinie
und das Urteil des Europäischen Gerichtshofs ernst
nimmt, der wird sehen, dass es einen jedenfalls aus dem
Geschlecht abgeleiteten Grund nicht gibt, jemanden von
einer bestimmten Laufbahn, von einer bestimmten Verwendung auszuschließen. Das halte ich auch für richtig.
({8})
In all diesen Bereichen muss - damit komme ich, gewissermaßen den großen Bogen schlagend, auf die Arbeit der Frau Wehrbeauftragten und ihr geschätztes Engagement zurück - unser Ziel sein: frühzeitig einbeziehen, Menschen mitnehmen, ihre Kreativität nutzen, ihre
Fantasie anregen, zur Diskussion, zum Denken und zu
Mitverantwortung ermutigen. Das ist in meinen Augen
zeitgemäßes Führungsverständnis.
Deshalb gab es im Jahr 1999 weit über zehn Tagungen. An eine Tagung mit Soldaten, deren Eltern aus dem
Ausland kommen, erinnere ich mich sehr gut: Ich saß
mit 70 Wehrpflichtigen - ich betone: Wehrpflichtigen zusammen, deren Eltern aus weit über 20 Nationen, aus
Japan über Vietnam bis Costa Rica, aus den USA über
Polen bis nach Usbekistan und aus vielen Ländern mehr.
Die Bundeswehr vollbringt diese Integrationsleistung
mit aller Ruhe, sehr konsequent und manchmal viel besser als solche, die immer davon reden und über sie in
anderen Bereichen klagen.
({9})
Diese Tagungen haben mir gezeigt, dass man sehr
viel mobilisieren kann. Ich müsste Sie eigentlich fragen:
Wann hat es so etwas zum letzten Mal gegeben? Der
letzte Verteidigungsminister, der sich auf diese Weise
um die Bundeswehr bemüht hat - ich will jetzt nicht
meine 70 Truppenbesuche in einem Jahr ansprechen -,
war Helmut Schmidt. Es weiß doch jeder, dass es meinem Vorgänger eher lästig war, wenn Soldaten gedacht
haben. Wenn ihm Ergebnisse nicht gepasst haben, dann
haben es die Soldaten auch zu spüren bekommen. Dazu
könnte ich Beispiele nenne, aber das würde den zeitlichen Rahmen sprengen.
Herr Präsident
({10})
- Entschuldigung -, Frau Präsidentin, ich komme zum
Schluss. Ich will Ihnen ausdrücklich ankündigen: Ich
werde auch in diesem Jahr, im Zeitraum vom 1. Februar
bis Ende April, mit allen Vorgesetzten, vom Kompaniefeldwebel bis zum Divisionskommandeur, reden. Dafür
werde ich mir in diesen zweieinhalb Monaten zehn Tage
Zeit nehmen.
({11})
Ich werde in ganz Deutschland mit allen Präsidien, mit
allen Hauptgeschäftsführern der Industrie- und Handelskammern und der Handwerkskammern über die Möglichkeiten der Zusammenarbeit von der Ausbildung bis
hin zum wirtschaftlichen Betrieb der Bundeswehr reden.
Ich lege großen Wert darauf, dass sich die gesamte
Bundeswehr, und alle die Soldatinnen und Soldaten wie
der zivile Teil der Bundeswehr, an der Stabilität, an der
Sicherheit und an der Gewährleistung der Freiheit unseres Landes Interessierten und dafür Engagierten an diesem breiten Dialog über die Bundeswehr der Zukunft
beteiligt. In diesem Dialog muss für die Soldatinnen und
Soldaten sowie für die zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr eines sichtbar werden: Planerische und soziale Sicherheit, Wirtschaftlichkeit und Effizienz zum Zwecke
einer modernen Ausbildung und gute Beiträge für die
Zukunft eines modernen Deutschlands gehören zusammen - übrigens nicht nur in der Bundeswehr.
({12})
Ich freue mich, meine Damen und Herren, dass der Wechsel auf dem Präsidentenstuhl so geräuschlos vor sich geht, dass sich der
Redner nicht gestört fühlt. Da Herr Scharping ein Frauenfreund ist, habe ich das richtig eingeschätzt.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir stimmen über die Beschlussempfehlung des Ver-
teidungsausschusses zum Jahresbericht 1998 der Wehr-
beauftragten - Drucksache 14/500 - auf Drucksache
14/1807 ab. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Die Beschlussempfeh-
lung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b so-
wie Zusatzpunkt 10 auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr Wolfgang Gerhardt, Jörg van Essen, Rainer
Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages ({1})
- Drucksache 14/2363 Überweisungsvorschlag:
A. f. Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Wolfgang Gerhardt, Hildebrecht Braun ({3}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.
Änderung der Anlagen 1 und 3 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
- Drucksache 14/2365 Überweisungsvorschlag:
A. f. Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({4})
Rechtsausschuss
ZP 10 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Rechts
der Untersuchungsausschüsse des Deutschen
Bundestages ({5})
- Drucksache 14/2518 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Max Stadler, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Es könnte einem fast
schwindelig werden, wenn man an die Geschwindigkeit
denkt, mit welcher tagtäglich immer wieder neue brisante und nahezu unglaubliche Vorgänge bekannt werden, mit denen sich der Parteispenden-Untersuchungsausschuss befassen muss. Deshalb sollte sich der Ausschuss wenigstens im Verfahrensrecht auf sicherem Boden bewegen.
({0})
Juristen, zumal deutsche, streben bekanntlich nach
Perfektion. Es ist sehr erstaunlich, dass das Parlament
ausgerechnet für die Tätigkeit eines eigenen Gremiums,
eben der Untersuchungsausschüsse, bisher keine eigenständige gesetzliche Regelung zustande gebracht hat.
Diese Lücke will die F.D.P. mit ihrem Entwurf vom 15.
Dezember 1999 schließen, gerade auch im Hinblick auf
eine erfolgreiche Arbeit des Parteispenden-Untersuchungsausschusses.
({1})
Bisher gab es so genannte IPA-Regeln, die aber zu
Rechtsunsicherheit geführt haben. Häufig wurde deshalb
das Bundesverfassungsgericht als Schiedsrichter angerufen. Das ist kein sehr günstiger Zustand. Es stärkt die
Fähigkeit der Untersuchungsausschüsse zur Aufklärung,
wenn wir klare gesetzliche Vorgaben schaffen. Alle früheren Versuche sind leider gescheitert. Am nächsten
kam man dem Ziel am Ende der 11. Legislaturperiode,
als es im Geschäftsordnungsausschuss einen fraktionsübergreifenden Beschluss über ein einheitliches Verfahrensrecht gab. Auch dieser Entwurf hat jedoch wegen
des Endes der Legislaturperiode das rettende Ufer,
sprich: das Bundesgesetzblatt nicht mehr erreicht. Aber
auf die damalige Initiative kann man jetzt zurückgreifen.
Dies tut die F.D.P. - wir wollen uns hier nicht mit fremden Federn schmücken - mit der Vorlage eines überarbeiteten Entwurfs.
Uns ist bewusst, dass es bei scheinbaren Formalien in
Wahrheit oft um politisch bedeutsame Regelungen geht.
Ich nenne nur eine in Untersuchungsausschüssen immer
wieder umstrittene Verfahrensmodalität: Die Reihenfolge von Zeugenvernehmungen hat natürlich hochpolitische Hintergründe.
Verfahrensrecht ist immer konkretisiertes Verfassungsrecht. Im Verfahrensrecht werden wesentliche
Elemente des Rechtsstaatsprinzips verwirklicht. Es muss
klar und eindeutig sein und muss die Arbeit eines Ausschusses berechenbar machen. Das Verfahrensrecht
sollte keinen Platz für Willkür lassen, sondern Streitigkeiten über prozessuale Fragen vorbeugen. „Legitimation durch Verfahren“ hat das bekanntlich Niklas Luhmann in einem seiner Hauptwerke genannt.
Vor allem aber muss in einem solchen Verfahrensgesetz, gerade weil es um ein parlamentarisches Gremium
geht, das demokratische Grundprinzip der Mehrheitsentscheidung in sinnvoller Weise mit einem weiteren
Grundgedanken der Verfassung harmonisiert werden,
nämlich dem Minderheitenschutz. Die Verfahrensordnung darf kein Hebel für die Mehrheit sein, einer Minderheit die Chance zur Aufklärung des Untersuchungsgegenstands zu nehmen oder auch nur zu erschweren.
({2})
Wir meinen, dass der F.D.P.-Entwurf diesen hohen Anforderungen schon sehr nahe kommt. Aber selbstverständlich sind wir im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens offen für weitere Verbesserungen.
In den letzten Tagen, Herr Bachmaier, ist öffentlich
darüber diskutiert worden, ob es künftig gestattet werden soll, über Sitzungen des Untersuchungsausschusses
live im Fernsehen zu berichten. Das ist bisher weder in
unserem noch im Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen
vorgesehen. Wir haben uns an das alte Dichterwort erinnert, dass dann die Szene leicht zum Tribunal werden
kann. Auf der anderen Seite geht es eben nicht um ein
Gerichtsverfahren - schon gar nicht um ein normales -;
vielmehr ist ein Untersuchungsausschuss natürlich eine
politische Veranstaltung mit einem hohen Informationsinteresse der Bürgerinnen und Bürger. Ich könnte
mir daher vorstellen, dass wir uns im Ausschuss auf eine
Öffnungsklausel, zumindest was die Fernsehberichterstattung angeht, einigen werden.
In den Ausschussberatungen sollten wir auch prüfen,
ob der Minderheitenschutz bezüglich des Untersuchungsgegenstandes noch einer weiteren Klarstellung
bedarf. Wir sind der Meinung, dass, wenn 25 Prozent
der Abgeordneten des Parlaments einen Untersuchungsausschuss beantragen können, folglich 25 Prozent auch
das Quorum dafür sein sollten, einen Untersuchungsgegenstand nachträglich zu erweitern.
({3})
Dies ist aber gerade von den Regierungsfraktionen im
Parteispenden-Untersuchungsausschuss in Zweifel gezogen worden, weil sie nicht wollten, dass der Ausschuss auch die Möglichkeit hat, das Verhalten der damaligen Oppositionsparteien zu untersuchen. Wenn dieser Zweifel aufrechterhalten wird, dann sollten wir im
Sinne des Minderheitenschutzes eine Klarstellung ins
Gesetz aufnehmen.
({4})
Schließlich führen für mich die Erfahrungen aus der
gestrigen Sitzung des Parteispenden-Untersuchungsausschusses noch zu einer weiteren Frage. Im Parlament
werden oft seltsame Rituale gepflegt, die der Nichtpolitiker schwer nachvollziehen kann. Zum Beispiel haben
wir gestern erlebt, dass allgemeines Einverständnis darüber besteht, den früheren Bundeskanzler Helmut Kohl
im Untersuchungsausschuss als Zeugen zu vernehmen.
Gleichwohl haben SPD und Grüne dem entsprechenden
Beweisantrag der CDU/CSU nicht zugestimmt.
({5})
Umgekehrt besteht allgemeine Einigkeit, dass selbstverständlich Dr. Wolfgang Schäuble im Untersuchungsausschuss als Zeuge zu vernehmen ist. Einem entsprechenden Antrag von SPD und Grünen hat aber seltsamerweise die Unionsfraktion nicht zugestimmt.
({6})
Ich erwähne dies deshalb, weil solche eigentümlichen
Rituale den Verdacht nahe legen, dass prinzipiell Anträgen anderer Fraktionen nicht zugestimmt wird, obwohl
es von der Sache her notwendig wäre. Das kann das
Beweisantragsrecht gerade von kleinen Fraktionen tangieren, sodass ich im Ausschuss zur Debatte stellen
werde, ob man den Minderheitenschutz beim Beweisantragsrecht gegenüber unserem eigenen Entwurf noch
mehr verbessern muss.
({7})
SPD und Grüne haben mit einem eigenen Gesetzentwurf vom 18. Januar 2000 nachgezogen.
({8})
- Herr Bachmaier, ich weiß, dass Sie jahrelang daran
gearbeitet haben. Das ist verdienstvoll. ({9})
Die Lektüre zeigt allerdings, dass man Unterschiede
zwischen diesem und unserem Entwurf mit der Lupe suchen muss, weil beide Entwürfe auf den Vorarbeiten aus
der 11. Legislaturperiode beruhen. Es gibt genau fünf
Detailpunkte, in denen Unterschiede vorliegen. Darüber
können wir im Ausschuss gerne reden.
Aber Ihre Redezeit
lässt das nicht mehr zu, Herr Kollege.
Ich mache am Schluss nur
darauf aufmerksam, dass in der Eile Fehler unterlaufen
sind, etwa die Bezugnahme auf das Strafgesetzbuch von
1987, obwohl es eine Neufassung von 1998 gibt. Ein
anderer Fehler ist ein Änderungsantrag zu einer Vorschrift aus dem StGB, die mittlerweile längst geändert
worden ist. Solche peinlichen Verfahrensfehler, solche
inhaltlichen Versehen müssen wir im Ausschuss korrigieren.
Noch besser wäre es, wenn Sie unseren Entwurf als
Grundlage für die Beratungen nehmen. Am besten wäre
es, wenn wir diese unendliche Geschichte am Ende mit
einem einmütigen Beschluss zu einem Erfolg führen.
({0})
Jetzt hat der Kollege
Hermann Bachmaier, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Im vergangenen Jahr haben
wir das 50-jährige Jubiläum des Deutschen Bundestages
begangen. Bei diesem Ereignis wurden die unbestrittenen Verdienste des Bundestages um die Festigung der
Demokratie in der Bundesrepublik als dem zentralen
Organ der deutschen Demokratie deutlich und mit Recht
unterstrichen. Dennoch gibt es auch Anlass zu einem
etwas kritischeren Rückblick.
So ist es eine zentrale Aufgabe des Parlaments, für
eine wirksame Kontrolle der Regierung bzw. der zentralen Machtapparate unseres Landes zu sorgen und
Transparenz in der Republik herzustellen.
({0})
Auf diesem Gebiet sind Verbesserungen wünschenswert.
Neben vielfältigen Kontrollbefugnissen wie Anfragen, aktuellen Debatten und Auskunftspflichten der Regierung gegenüber dem Parlament sind insbesondere
Untersuchungsausschüsse das zentrale Kontrollinstrument des Bundestages, um Missstände aufzuklären und
Verbesserungen auf den Weg zu bringen. Schon ein
Viertel der Mitglieder des Bundestages hat nach Art. 44
des Grundgesetzes Anspruch auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Auf die Beweiserhebungen finden nach dem Grundgesetz die Vorschriften über den
Strafprozess sinngemäße Anwendung.
Das sind gute Grundsätze. Was dies aber im Einzelnen bedeutet, darüber kann man sich trefflich streiten:
Inwieweit muss die Regierung Akten herausgeben?
Welche Akten müssen Private herausgeben? Welche
Fragen darf man bei Vernehmungen stellen? Welche
Gerichte sind für Zwangsmaßnahmen zuständig? Ich
könnte die Liste fortsetzen. Das ist nur ein Auszug aus
einer Fülle von Fragen, die sich in der Praxis stellen und
immer wieder zu Behinderungen bei der Untersuchungsausschussarbeit geführt haben.
Der Bundestag und die Untersuchungsausschüsse haben sich über alle diese Fragen heftig gestritten - sehr
oft, sehr lange, häufig vor den Gerichten. Bis heute ist es
dem Bundestag aber nicht gelungen, diesem seinem
schärfsten Kontrollinstrument auch eine angemessene
Rechtsgrundlage zu geben und sich auf ein Untersuchungsausschussgesetz zu verständigen. Die Notwendigkeit hierfür ist weitgehend unbestritten. Viele Versuche
und Initiativen einzelner Fraktionen und auch interfraktionelle Bemühungen in den zurückliegenden Legislaturperioden sind an den jeweils herrschenden
Mehrheiten gescheitert. Die Folge ist, dass sich Abfolge
und Durchführung wichtiger Beweiserhebungen und vor
allem auch Zeugenvernehmungen in Untersuchungsausschüssen in einer schwer durchschaubaren rechtlichen
Grauzone bewegen und deshalb zügige Sachaufklärung
häufig auf der Strecke bleibt.
Denjenigen, die kein ausgeprägtes Interesse an einer
schnellen und gründlichen Aufklärung haben, konnte es
deshalb immer wieder gelingen, Beweisaufnahmen zu
verschleppen und bisweilen sogar ganz zu verhindern.
Herr Stadler, an diesen Aktionen war Ihre Fraktion häufig sehr lebhaft beteiligt.
({1})
So konnte - um jetzt ein Beispiel zu nennen, an dem
Sie kräftig mitgewirkt haben - im so genannten Plutonium-Untersuchungsausschuss die damalige Mehrheit aus
CDU, CSU und F.D.P. über eineinhalb Jahre hinweg
verhindern, dass der zentrale Zeuge Schmidbauer von
der Opposition vernommen werden konnte. Der in diesem Untersuchungsausschuss auch nicht gerade unwichtige Zeuge Dr. Kohl konnte gar erst nach einem
Rechtsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht - fast
zwei Jahre nach Einsetzung des Untersuchungsausschusses - erstmals als Zeuge gehört werden. Auch
daran waren Sie nicht unbeteiligt.
({2})
Die Aufklärung des Parlamentes wird durch einen
derartig manipulativen Umgang mit der so genannten
Verfahrensmehrheit häufig zu einer reinen Farce. Gelitten hat das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Funktionstüchtigkeit parlamentarischer Kontrolle. Um die
Kontrollkompetenz des Parlaments zu stärken, muss das
Recht der Untersuchungsausschüsse auf der Basis der
verfassungsrechtlichen Vorgaben so ausgestaltet werden, dass die Ermittlungsinstrumentarien, wie Aktenbeiziehung, Auskunftsrechte und Zeugenvernehmungen,
zügig eingesetzt werden können,
({3})
sodass auch die parlamentarischen Untersuchungsverfahren nicht endlos in die Länge gezogen werden können.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und
die Grünen haben uns während der Oppositionszeit nach
vielen leidvollen Erfahrungen mit Untersuchungsausschüssen fest vorgenommen, dann, wenn wir dazu
die Mehrheit haben, endlich ein solches Untersuchungsausschussgesetz einzubringen und auch zu beschließen.
Auf der Grundlage der ausgereiften Entwürfe aus den
Jahren 1990/91, die federführend von den damaligen
Abgeordneten Konrad Porzner, Horst Eylmann und
Detlef Kleinert, um nur einige frühere Kollegen zu nennen, erarbeitet wurden, haben wir den heute in erster Lesung zu beratenden Koalitionsentwurf entwickelt. Dieser
Gesetzentwurf führt auch das schwierige Verhältnis von
Mehrheit und Minderheit in einem Untersuchungsausschuss einer gerechten Lösung zu, sodass die oft unerträglichen Kleinkriege und Scharmützel, die die ohnehin
schwierige Aufklärungsarbeit in Untersuchungsausschüssen bisher erschwert haben, endlich der Vergangenheit angehören werden.
Dabei haben wir als Mehrheitsfraktion mit einer soliden Regierungsmehrheit nicht vergessen, was wir bei
einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie
der Opposition schuldig sind. Wir wissen natürlich
auch, dass die Regierungsmehrheiten in der Vergangenheit mit dem bestehenden diffusen Rechtszustand und
einer weit gehend der Mehrheit überlassenen Gestaltung
des Untersuchungsausschussverfahrens recht gut gelebt
haben. Gelitten hat aber die verfassungsrechtlich festgelegte Kontrollkompetenz des Bundestages. Die Koalitionsfraktionen sind deshalb souverän genug, ein Untersuchungsausschussgesetz auf den Weg zu bringen, das
sich nicht einseitig und ausschließlich an den Belangen
der Mehrheit, sondern auch an den Notwendigkeiten einer funktionierenden parlamentarischen Kontrolle orientiert. Kalkulierbare Rahmenbedingungen für Untersuchungsausschüsse, bei denen die berechtigten Belange
der Opposition hinreichend berücksichtigt sind, stärken
aber nicht nur die Kontrollkompetenz des Parlaments,
sondern führen auch zu überschaubaren Abläufen, woran letztlich auch Regierungen und Mehrheitsfraktionen
ein elementares Interesse haben, zumindest haben sollten.
({4})
Gerade auch die Ereignisse dieser Tage führen uns
deutlich vor Augen: Wo Macht ist, muss kontrolliert
werden,
({5})
muss wirksam und zügig kontrolliert werden. Kontrolle
ist eine notwendige, bisweilen zeitaufwendige und nicht
immer angenehme Aufgabe. Damit sie funktioniert, bedarf es einerseits unerschrockener Parlamentarierinnen
und Parlamentarier, die nicht davor zurückschrecken,
auch lästig zu werden. Damit Kontrolle funktionieren
kann, bedarf es aber auch Rahmenbedingungen, die eine
wirksame Kontrolle ermöglichen. Daran fehlt es bis zum
heutigen Tag.
Wir finden es ja recht erfreulich, dass auch die F.D.P.
in der Opposition ihre Liebe zu einem Untersuchungsausschussgesetz wieder entdeckt hat. Leider haben Sie,
meine Damen und Herren von der F.D.P., sich in den
vergangenen zehn Jahren, als Sie doch einen erheblichen Einfluss auf die Parlamentsmehrheit hatten, um
das Untersuchungsausschussrecht überhaupt nicht gekümmert, sondern fleißig mit den Wölfen der Mehrheit
geheult.
({6})
Es ist kein Geheimnis, dass die beiden vorliegenden Entwürfe von den gleichen Eltern stammen - Herr Heinrich,
sparen Sie sich Ihre wegelagernden Bemerkungen! -,
({7})
nämlich von den leider damals knapp gescheiterten
Entwürfen aus den Jahren 1990/91.
Schade ist allerdings, dass sich die CDU/CSUFraktion bis zum heutigen Tage gegenüber diesem Anliegen völlig gleichgültig verhält und keine Gelegenheit
auslässt, lieber Kollege Schmidt, ihr absolutes Desinteresse an dieser parlamentsrechtlichen Notwendigkeit zu
bekunden.
Die beiden Gesetzentwürfe unterscheiden sich auch
in nicht ganz unwichtigen Detailfragen, wie der Regelung für die Änderung des Untersuchungsauftrages Herr Stadler hat mit Recht darauf hingewiesen -, die
nach unserer Auffassung nicht ohne Zustimmung der
Antragsteller erfolgen sollte, den Rechten einzelner Abgeordneter im Untersuchungsausschuss - darüber werden wir gründlich reden müssen -, den notwendigen
Zwangsmitteln bei rechtswidrigem Verhalten von Zeugen, oder bei Vorenthaltung von Beweismitteln. Es gibt
da noch andere nicht ganz zu vernachlässigende Fragen
wie die Beschleunigung der Beweisaufnahme, an der
uns sehr liegt.
Ich empfehle auch Behutsamkeit bei der Erörterung
der Frage, inwieweit Zeugenvernehmungen vom Fernsehen aufgezeichnet werden können. Da berühren wir
einen heiklen und neuralgischen Punkt im Konflikt zwischen gründlicher Beweisaufnahme, Persönlichkeitsschutz und öffentlicher Berichterstattung. Ich glaube,
wir werden eine vernünftige Lösung bekommen, die
sich an den drei Erfordernissen orientiert. Sie haben
dankenswerterweise darauf auch schon hingewiesen.
Da die vorliegenden Gesetzentwürfe auf gründlichen
Vorarbeiten engagierter Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus früheren Legislaturperioden und einschlägigen Erfahrungen in Untersuchungsausschüssen unter
Berücksichtigung der vielfältigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung beruhen, sollten wir die Beratungen zügig aufnehmen, um möglichst bald die Arbeit in
Untersuchungsausschüssen auf eine solide rechtliche
Grundlage zu stellen.
Wir gehen davon aus, dass das jetzt zu beratende und
möglichst bald zu verabschiedende Untersuchungsausschussgesetz auch noch auf die laufende Arbeit des erst
kürzlich eingesetzten Untersuchungsausschusses Anwendung finden sollte, auch wenn dieser Untersuchungsausschuss von seiner Konstellation her nicht der
typischen Ausgangslage von Untersuchungsausschüssen
in der Vergangenheit entspricht. Denn hier ist man in
der komfortablen Lage, dass die Mehrheit von heute die
Missstände der Mehrheit von gestern wirksam aufklären
kann.
({8})
Davon werden wir zügig Gebrauch machen und auch
dazu sind Sie herzlich eingeladen. Uns liegt also daran,
dass wir schnell zu Potte kommen.
Wir laden ausdrücklich auch die CDU/CSU-Fraktion
zur Mitarbeit ein, Herr Schmidt. Schließlich soll das seit
Bestehen des Bundestages, also seit 50 Jahren überfällige Untersuchungsausschussgesetz zur Rechts- und Arbeitsgrundlage für alle Fraktionen des Bundestages in
Untersuchungsausschüssen werden. Deshalb gilt die
Einladung selbstverständlich für alle Fraktionen. Ich
hielte es aber für dringend notwendig, dass die größte
Oppositionsfraktion ihre bisherige Enthaltsamkeit bei
diesem Thema aufgibt und dem schärfsten Kontrollinstrument des Parlaments das gibt, was es dringend
benötigt, um bisweilen unerträgliche Scharmützel und
Schauspiele vor der Öffentlichkeit zu vermeiden. Diese
leisten dem Ansehen des Parlaments keinen guten
Dienst.
({9})
Meine Damen und Herren, wir sind fest entschlossen,
den vielfältigen Vorberatungen und mehrfachen Versuchen zur Schaffung einer soliden Rechtsgrundlage für
Untersuchungsausschüsse jetzt endlich Taten folgen zu
lassen.
Gestatten Sie mir noch eine kleine Bemerkung zur
Zeitabfolge der Einbringung Ihres Gesetzentwurfs, Herr
Stadler. Ich habe mir das einmal genau angeschaut und
sage das jetzt doch, nachdem Sie eine diesbezügliche
Bemerkung gemacht haben. Eigentlich wollte ich das
nicht, es steht auch nicht in meinem Manuskript. Anfang
Dezember wurde in der „Zeit“, in der „Frankfurter
Rundschau“ und in anderen Zeitungen darüber berichtet,
dass die Koalitionsfraktionen fest entschlossen sind, auf
der Basis der früheren Entwürfe ein Untersuchungsausschussgesetz einzubringen. Sie hatten nichts Wichtigeres zu tun - die Eile merkt man diesem Gesetzentwurf
an vielen Stellen an -,
({10})
in den Schrank zu greifen, den Staub abzustreifen und
das, was in der Zeit bis 1990 unter sicherlich kompetenter Mitwirkung zum Beispiel Ihres Kollegen Detlef
Kleinert geschaffen worden ist, schleunigst wiederzubeleben. Das fällt Ihnen aber erst in der Opposition ein.
Das ist das Verräterische. Wir bringen es als Mehrheitsfraktion ein, weil wir wissen, was wir dem Parlament
schuldig sind.
({11})
Sie machen es aus einem gewissen Oppositionsopportunismus heraus.
({12})
Dennoch freue ich mich auf kompetente Mitarbeit.
Sie können damit einiges wieder gutmachen, was Sie
zum Beispiel im Plutonium-Untersuchungsausschuss an
Aufklärung versäumt haben.
({13})
Herzlichen Dank.
({14})
Das war zeitlich eine
Punktlandung, Herr Kollege. Ich erwähne das als gutes
Beispiel besonders.
Das Wort hat nun der Kollege Andreas Schmidt,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Herr Kollege Bachmaier, Sie haben ja gerade noch einmal auf den Plutonium-Untersuchungsausschuss rekurriert. Wir beide haben daran ja noch gute Erinnerungen, auch wenn wir viel gestritten haben. Insbesondere
haben wir sehr über die Reihenfolge der Zeugenvernehmungen gestritten; dazu hat es auch ein Verfahren gegeben.
({0})
Sie haben aber vergessen, dass Sie mit Ihrem Eilantrag
in Karlsruhe sang- und klanglos gescheitert sind.
({1})
Auch dieses gehört zur Wahrheit und sollte hier noch
einmal erwähnt werden.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die heute
von der F.D.P., aber auch von den Regierungsfraktionen
vorgelegten Entwürfe eines Untersuchungsausschussgesetzes entsprechen - dies ist gerade schon angemerkt
worden - ganz wesentlich der Beschlussempfehlung und
dem Bericht des 1. Ausschusses vom 20. September
1990. Auf den jetzt vorgelegten Text - auch darauf will
ich hinweisen - hatten sich die Abgeordneten der
CDU/CSU, F.D.P. und SPD gegen Ende der 11. Legislaturperiode geeinigt. Die damalige Koalition von
CDU/CSU und F.D.P. hatte den Gesetzentwurf bereits
gebilligt. Allerdings hatte sich die SPD dann gegen diesen Entwurf ausgesprochen, Herr Kollege Bachmaier.
CDU/CSU und F.D.P. waren der Meinung, man sollte
ein Untersuchungsausschussgesetz nicht gegen den
Willen der stärksten Oppositionsfraktion beschließen.
Selbstverständlich sind wir auch heute der Auffassung,
dass ein Untersuchungsausschussgesetz nur mit Zustimmung der größten Oppositionsfraktion verabschiedet werden sollte.
({3})
Das parlamentarische Untersuchungsrecht nach Art. 44
ist nicht rechtlich-theoretisch, sondern politischpraktisch ein wesentliches Instrument der Opposition.
Über viele Legislaturperioden hinweg ist immer wieder
der Versuch unternommen worden, ein Untersuchungsausschussgesetz zu erarbeiten. Der Geschäftsordnungsausschuss, aber auch Untersuchungsausschüsse haben
immer wieder einmal auf das Fehlen eines solchen Gesetzes hingewiesen. Gleichzeitig hat aber auch eine rege
Untersuchungsausschusstätigkeit ohne Untersuchungsausschussgesetz stattgefunden. Ich weise darauf hin,
dass derzeit der neu eingesetzte 33. Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages seine Arbeit aufgenommen hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie wir den
Berichten der Untersuchungsausschüsse entnehmen
können, haben diese ihre Aufgabe mit dem vorhandenen
Instrumentarium eigentlich immer erfüllen können.
({4})
In aller Regel bestand eine weitgehende Einigkeit zwischen allen Fraktionen hinsichtlich der Sachverhaltsaufklärung. Die in den Medien so gerne herausgestellten
Differenzen bezogen sich meistens auf die Bewertung
des festgestellten Sachverhaltes. Wenn Untersuchungsausschüsse nach Meinung der jeweiligen Opposition
nicht das erreicht haben, was sie vielleicht hätten erreichen sollen, dann lag es nach meiner Einschätzung eher
am Zeitablauf als am Fehlen eines Untersuchungsausschussgesetzes. Wir müssen also ganz ernsthaft und
ganz offen - dazu sind wir bereit- die Frage stellen, ob
ein Untersuchungsausschussgesetz wirklich erforderlich
ist.
In der Vergangenheit war das Hauptklagelied der
Opposition, dass die Termingestaltung im Ausschuss
nicht ganz ihren Wünschen entsprochen habe - Kollege
Bachmaier, ich komme auf Ihr Thema zurück -, wobei
der Prozentsatz der Uneinigkeit, bezogen auf alle erfolgten Terminierungen, eigentlich immer äußerst gering
war. Aber Streit dieser Art gibt es natürlich in allen parlamentarischen Gremien. Nach meiner Auffassung ist
dies immer ein Streit im so genannten Innenverhältnis,
nicht im Außenverhältnis.
Also stellen wir uns doch die Frage, ob es auf Grund
der jetzigen Regelung bei Untersuchungsausschüssen
Probleme im Außenverhältnis gegeben hat. Nach meiner
Auffassung hat es auch hier keine wesentlichen Probleme gegeben. Gerichtliche Auseinandersetzungen etwa
mit Zeugen oder im Hinblick auf Beweismaterialien sind
nicht einfach; aber es wird sie - unabhängig von der
Existenz eines Untersuchungsausschussgesetzes - immer geben.
({5})
Dass es im Einzelfall Streit darüber gibt - den gibt es
auch jetzt bereits wieder -, was noch zum Untersuchungsauftrag gehört und was nicht, würde nach meiner
Einschätzung auch durch ein Untersuchungsausschussgesetz nicht vermieden werden.
Fragen wir einmal danach, wo es in den vergangenen
Jahren handfesten Streit zwischen Opposition und Regierungskoalition gegeben hat, meine Damen und Herren: Zu Zeiten des Flick-Ausschusses ging es um die
Frage, ob durch das gesetzlich geregelte Steuergeheimnis geschützte Akten der Exekutive einem Untersuchungsausschuss auf dessen Verlangen vorzulegen sind.
Darüber entbrannte damals ein großer Streit. Die Frage
ist vom Bundesverfassungsgericht positiv entschieden
worden mit der Maßgabe, im Bereich des Untersuchungsausschusses für den Schutz des Steuergeheimnisses zu sorgen. Auch dieser Rechtsstreit ist durch
Rechtsprechung geklärt worden.
({6})
Auf Betreiben der SPD sind beim Bundesverfassungsgericht aus Anlass von zwei Untersuchungsausschüssen der beiden vergangenen Legislaturperioden
Verfahren anhängig. Zum einen handelt es sich um einen Streit mit der damaligen Bundesregierung über die
Herausgabe von Protokollen des Verwaltungsrates der
Treuhandanstalt. Zum anderen ging es um die Frage Kollege Bachmaier hat es vorhin angesprochen -, ob die
Mehrheit im Untersuchungsausschuss durchsetzen
durfte, dass bei einem bestimmten Stand des Verfahrens
ein Zwischenbericht erstellt wird, um Klarheit zu gewinnen, was noch geklärt werden muss. Diese beiden
beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren
wären ganz sicher auch bei Existenz eines Untersuchungsausschussgesetzes nicht vermieden worden.
Nach meinem Kenntnisstand, meine Damen und Herren, ist beim Bundesverfassungsgericht auch immer
noch ein Verfahren aus Schleswig-Holstein anhängig,
das sich mit dem Status Betroffener und Zeugen vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss beschäftigt.
Bereits aufgrund dieser Verfahren drängt sich auf zu
sagen, dass dies vielleicht nicht die Zeit für eine Gesetzgebung im parlamentarischen Untersuchungsausschussrecht ist.
Es gibt nach meiner Auffassung aber noch einen anderen Punkt, der mich skeptisch sein lässt, jetzt ein Untersuchungsausschussgesetz zu beschließen: Derzeit hat
der möglicherweise bedeutendste Untersuchungsausschuss der letzten Jahre seine Arbeit begonnen. Ich habe
Zweifel - diese sind sicherlich nicht ganz unberechtigt -, ob es gut wäre, während dieser Arbeit sozusagen
die Spielregeln für diesen Ausschuss zu ändern.
({7})
- Ich habe ja gesagt, dass man sich diese Frage stellen
und zumindest einmal abwägen muss, ob es sinnvoll ist,
während eines laufenden Untersuchungsausschusses die
Spielregeln auch für diesen Ausschuss zu verändern.
({8})
Die Frage muss man sich stellen, und sie sollte zumindest in den Beratungen ein Punkt der Abwägung sein.
Lassen Sie mich zum Abschluss etwas zur Entstehung des parlamentarischen Untersuchungsrechtes in
Deutschland sagen. Die am 18. Mai 1848 zusammengetretene verfassungsgebende Nationalversammlung in der
Frankfurter Paulskirche hat am 29. Mai 1848 in ihrer
Geschäftsordnung das parlamentarische Untersuchungsrecht in nur einem einzigen Paragraphen verankert.
({9})
Auf dieser Grundlage wurde bereits am 6. Oktober 1848
ein Untersuchungsausschuss eingesetzt. Man kann also
auch gerade angesichts der Tatsache, dass man vom
schlanken Staat spricht - Herr Kollege Stadler, die
F.D.P. spricht immer von dem schlanken Staat -, vielleicht mit weniger Gesetzen ganz gut zurechtkommen.
Ich will aber ausdrücklich für meine Fraktion erklären, dass wir uns dem Beratungsverfahren überhaupt
nicht in den Weg stellen wollen.
({10})
Wir sind ausdrücklich dafür, dass diese beiden Gesetzentwürfe überwiesen werden. Sie können ganz sicher
sein, dass wir als CDU/CSU-Fraktion uns an den Beratungen sehr konstruktiv beteiligen werden. Wir werden
dann sehen, ob wir zu einer gemeinsamen Auffassung in
diesem Bereich kommen. Wir sind jedenfalls - das gilt
für die CDU/CSU immer - zu konstruktiven Gesprächen
und zur konstruktiven Mitarbeit bereit.
Herzlichen Dank.
Andreas Schmidt ({11})
({12})
Jetzt hat das Wort
Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte mit einem Zitat des Kollegen
Bachmaier anfangen. Er sprach davon, dass es Aufgabe
dieses Ausschusses, für den wir jetzt die gesetzliche
Grundlage schaffen, ist, „lästig“ zu werden. Ich denke,
es ist eine der wesentlichen Aufgaben von Untersuchungsausschüssen, für die jeweiligen Regierungen
lästig zu werden; denn viele Regierungen - das ist zwar
nicht richtig; es ist aber der Fall - finden eine eingehende Kontrolle durch das Parlament durchaus lästig.
Das heißt, wir müssen Regeln schaffen, die es uns
und natürlich der Opposition ermöglichen - Untersuchungsausschüsse sind ja in der Vergangenheit im Wesentlichen auch Instrumente der Opposition gewesen
und werden es auch bleiben -, der jeweiligen Regierung
lästig zu werden.
Herr Kollege Schmidt, ich verstehe nun gar nicht,
dass Sie als ein Vertreter der Opposition irgendetwas
dagegen haben können, dass wir Ihnen jetzt auch für die
Arbeit dieses Untersuchungsausschusses, über den alle
Welt redet, zusätzliche Rechte geben. Sie können ja darüber streiten, ob es genug Rechte sind. Über diesen
Punkt können wir uns in den Ausschüssen unterhalten.
Aber dass Sie etwas dagegen haben, dass wir jetzt eine
gesetzliche Grundlage schaffen, mit der wir Ihnen zusätzliche Rechte zu den schon bestehenden Rechten aufgrund der IPA-Regeln geben, ist für mich nur schwer
nachvollziehbar.
Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland in den
letzten Wochen und Monaten Diskussionen über Befugnisse von Untersuchungsausschüssen in einer Intensität
gehabt, wie das seit Jahrzehnten nicht der Fall gewesen
ist. Darf ein Untersuchungsausschuss beispielsweise einen Zeugen zwingen? Wenn ja, wie? Wer hat das zu bestimmen und wie weit kann das gehen? Wer in welcher
Reihenfolge darf sein Fragerecht ausüben? Eine ganz
wesentliche Frage, Herr Kollege Schmidt, über die wir
uns im nächsten Obleutegespräch und in den nächsten
Sitzungen des Untersuchungsausschusses verständigen
und abstimmen müssen, ist die Frage: In welcher Reihenfolge werden Zeugen gehört? In den IPA-Regeln
findet sich dazu nichts. Müssen Sie als Oppositionfraktion nicht ein wesentliches Interesse daran haben - ich
hätte an Ihrer Stelle ein Interesse daran -, den einen oder
anderen Zeugen vor Ablauf von einem oder zwei Jahren
zu hören?
Auf all diese Fragen soll das Gesetz, das wir jetzt
vorlegen, Auskunft geben. Es ist richtig, dass wir diesem
Untersuchungsausschuss, über den wir alle reden, der
für dieses Land eine große Bedeutung hat und auf den
sich viele Hoffnungen richten, nun vernünftige gesetzliche Grundregeln geben.
Dabei ist eine zentrale Frage, welche Art von Beweisaufnahme ein Untersuchungsausschuss durchführen kann. Wichtigstes Mittel der Beweisaufnahme ist in
allen Verfahren - in Gerichtsverfahren wie in Verfahren
vor Untersuchungsausschüssen - das Recht, Zeugen zu
hören. Es war schon immer klar, dass Zeugen vor dem
Untersuchungsausschuss erscheinen müssen. Sie müssen
aber auch wahrheitsgemäß und vollständig aussagen.
Um dieses auf die gegenwärtige Situation zu übertragen: Der Abgeordnete Dr. Helmut Kohl ist verpflichtet natürlich auch heute schon -, vor einem solchen Untersuchungsausschuss vollständig und umfassend auszusagen. Wenn er das nicht tut, stellt sich die Frage: Was
machen wir in diesem Fall? Dafür soll es eine Regel geben, die wir festlegen wollen und die besagt, dass wir
einen solchen Zeugen - und zwar jeden Zeugen; - alle
Zeugen sind gleich - auch mit den im Strafprozess üblichen Mitteln zu Aussagen veranlassen können, es sei
denn, es gibt ein Aussage- oder ein Zeugnisverweigerungsrecht.
Es gibt natürlich die Mittel des Zwangsgeldes und der
Beugehaft. Die Frage aber ist: Wer verhängt dies? Entscheidet darüber der Ausschuss? Wir wollen eine vernünftige gesetzliche Neuregelung, die mit der von Ihnen
vorgeschlagenen Regelung ähnlich oder identisch ist.
Demnach soll dies - nicht mehr vom Richter am Amtsgericht Bonn bzw. vom Richter am Amtsgericht BerlinMoabit - das ist hier gleich um die Ecke - entschieden
werden, sondern vom Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof. Sollte dieser Richter möglicherweise eine problematische Entscheidung fällen, wird es ein Rechtsmittel dagegen geben. Der Bundesgerichtshof, in dieser
Frage das höchste deutsche Gericht, hätte also über einen die gesamte Öffentlichkeit interessierenden Sachverhalt zu entscheiden.
Eine weitere Frage, die uns unmittelbar beschäftigt,
ist: In welcher Reihenfolge sollen die Zeugen gehört
werden? Wird der Zeuge Kohl, wie von der CDU in der
Öffentlichkeit verlangt, im Januar, Februar oder März
2000 oder aber erst im Jahr 2001 oder 2002 gehört? Dies
zu entscheiden, ist ganz wesentlich - nicht nur für die
Öffentlichkeit, sondern für alle, die an der Wahrheitsfindung interessiert sind.
Wir haben eine Regelung vorgeschlagen, die Ihnen
sehr entgegenkäme. Danach sollen, wenn sich der Ausschuss nicht einigt, die Regeln der Geschäftsordnung
des Deutschen Bundestages gelten. Das heißt - das
können Sie in der Kommentierung nachlesen -: Auch
Sie als Oppositionsfraktionen haben die Möglichkeit,
darauf zu bestehen, dass die von Ihnen benannten Zeugen gemäß der Geschäftsordnung in angemessener Reihenfolge gehört werden. Das ist ein Recht, das wir in der
Vergangenheit als Oppositionsmitglieder in den Untersuchungsausschüssen sehr gerne gehabt hätten.
Sie sollten uns auf die Schulter klopfen und sagen:
Prima, dass sowohl die SPD als auch Bündnis 90/Die
Grünen nicht vergessen haben, welche Probleme sie in
der Vergangenheit hatten, und sich nicht auf ihren Koalitionssesseln ausruhen, sondern eine Regelung
schaffen wollen, die gerecht und für OppositionsfraktioAndreas Schmidt ({0})
nen akzeptabel ist und die notwendigen Grundlagen
schafft.
({1})
- Wir denken an die Zukunft der F.D.P., solange es sie
noch gibt. Wir denken auch an die Interessen der CDU,
die immer vor sich herträgt, eine rückhaltlose, umfassende Aufklärung auch dieser Affäre zu erreichen.
Wenn wir dann den Zeugen vor dem Untersuchungsausschuss haben, muss entschieden werden, ob er ein
Auskunfts- oder Zeugnisverweigerungsrecht hat.
Ganz Deutschland redet darüber. Was kann man also
dagegen haben, wenn wir eine gesetzliche Regelung
schaffen wollen, wie, in welcher Form und von wem das
entschieden wird? Ich denke daher, die CDU wäre gut
beraten, sich unseren Anträgen anzuschließen, den Gesetzentwurf wohlwollend mit uns zu beraten und ihm so,
wie wir ihn vorgelegt haben, zuzustimmen.
Herr Kollege Schmidt, Sie können doch nicht immer
sagen, darüber habe die Rechtsprechung in der Zwischenzeit entschieden. Zu Recht macht das Bundesverfassungsgericht dem Deutschen Bundestag immer wieder den Vorwurf, dass er nicht in der Lage sei, seine Arbeit zu leisten, sich nämlich über die gesetzlichen
Grundlagen politisch auseinander zu setzen und dann zu
einer Regelung zu kommen, und die eigentliche politische Tätigkeit, nämlich die Entscheidungen, dem Bundesverfassungsgericht aufdrückt.
So ist es in der Vergangenheit auch gewesen, als es
darum ging, welche Akten wer zur Verfügung zu stellen
hat. Wir wollen regeln, dass es grundsätzlich die Verpflichtung der Bundesbehörden, Staatsanwaltschaften
und Gerichte ist - das steht sogar im Grundgesetz -,
Akten zur Verfügung zu stellen. Wir wollen auch regeln,
wie es ist, wenn die Bundesregierung oder ein einzelnes
Ministerium die Akten nicht zur Verfügung stellt. Das
ist kein theoretischer Fall, sondern war in der Vergangenheit mehrfach ein großes Problem, über das sich der
Deutsche Bundestag und die Öffentlichkeit intensiv auseinander gesetzt und mit dem sich auch die Gerichte befasst haben.
Jetzt soll eine Regelung getroffen werden, nach der
grundsätzlich eine Verpflichtung besteht, es sei denn,
der jeweilige Kernbereich des aktuellen politischen
Handelns der Bundesregierung ist betroffen. Diese Formel ist einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entnommen. Auch dies ist ein trauriges Anzeichen
dafür, dass wieder das Gericht entscheiden musste und
nicht der Deutsche Bundestag in seiner Souveränität entschieden hat.
Für den Fall, dass wir uns darüber im Ausschuss nicht
einig werden, was sicher auch in Zukunft in wichtigen
zentralen Fragen der Fall sein wird, oder dass sich die
Regierung weigert, haben wir ein Gremium geschaffen,
das darüber entscheidet. Wir haben eine klare Regelung,
dass das Bundesverfassungsgericht in einem solchen
Streit das einzig richtige Verfassungsorgan ist, eine so
wichtige Frage zu entscheiden, wenn die Legislative in
die Rechte der Exekutive, möglicherweise in den Geschäftsbereich der Exekutive, eingreift. Das ist eine
durchaus richtige und vernünftige Regelung, die uns
vielleicht lange Auseinandersetzungen erspart, weil wir
nach diesem Gesetz eine schnelle Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes herbeiführen können.
Lassen Sie mich den letzten Punkt nennen. Wir haben
eine grundsätzliche Herausgabepflicht aller Stellen und
der Untersuchungsausschuss hat die Möglichkeit zu beschlagnahmen- zum Beispiel bei Thyssen, um bei einem
aktuellen Fall zu bleiben -, Akten aus anderen Archiven
herbeizuziehen oder sogar diese durch Beschlagnahmeanordnungen dem Untersuchungsausschuss vorlegen
zu lassen. Der Untersuchungsausschuss soll das entscheiden, aber ausführen und letztlich entscheiden soll
das wieder ein Richter, nämlich der Ermittlungsrichter
beim Bundesgerichtshof. Das ist eine durchaus faire
Entscheidung. Gerade die PDS, die gestern noch Probleme in dieser Hinsicht hatte, wird ein großes Interesse
daran haben müssen, dass hier Rechte geschaffen werden, um auch bei Privaten, nicht nur bei Behörden, an
Akten herankommen zu können, um sich die notwendigen Beweismittel beschaffen zu können, so wie es heute
bei Staatsanwaltschaften und Gerichten der Fall ist. Ein
Untersuchungsausschuss soll in seinen rechtlichen
Möglichkeiten nicht schlechter gestellt werden als zum
Beispiel ein Amtsgericht in Moabit oder anderswo.
Ich denke, das ist ein umfassendes, ein richtiges, ein
gutes Gesetz, das von der Opposition mitgetragen werden sollte, weil wir das eingelöst haben, was wir früher
als Opposition zugesagt, versprochen und auf den Weg
gebracht haben. Wir lassen wieder einmal unsere früheren Versprechungen als Opposition nicht rechts oder
links liegen, nur weil wir jetzt eine Regierungskoalition
bilden.
Lassen Sie uns das Gesetz für die nächsten Legislaturperioden des Deutschen Bundestages erlassen und das
Gesetz praktizieren. Dann kann man hin und wieder
überprüfen, ob sich die eine oder andere Regelung bewährt hat oder ob nachgebessert werden muss.
Ich glaube, mit der Überweisung in die Ausschüsse
sind wir auf dem richtigen Wege. Ich hoffe, dass wir in
wenigen Wochen dieses Gesetz in zweiter und dritter
Lesung verabschieden, damit der 1. Untersuchungsausschuss des 14. Deutschen Bundestages sehr bald nach
diesen Regeln vorgehen kann.
Danke.
({2})
Ich erteile jetzt der
Kollegin Dr. Evelyn Kenzler von der PDS-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Spendenskandal der
CDU wird nicht die letzte Affäre sein, die die Einsetzung eines solchen Arbeitsgremiums wie des Untersuchungsausschusses notwendig macht. Eine fundierte
Rechtsgrundlage für die Tätigkeit solcher Ausschüsse
auf Bundesebene ist deshalb längst überfällig.
Es ist einfach schlimm, dass es der Bundestag nach so
vielen Jahren immer noch nicht fertig gebracht hat, ein
Ausführungsgesetz zu Art. 44 GG zu beschließen. Der
wievielte Anlauf ist das eigentlich? Wenn ich mich nicht
verzählt habe, ist es bereits der siebte. Deshalb blieb uns
auch für diesen Untersuchungsausschuss nichts weiter
übrig, als auf die so genannten IPA-Regeln aus dem
Jahre 1969 zurückzugreifen. Aus diesem Grunde bin ich
sehr für die Verabschiedung eines solchen Gesetzes.
Zweifel überfallen mich jedoch angesichts des Zeitpunktes. Genau in dem Augenblick, in dem der Parteispendenausschuss nach 30 Jahre alten Verfahrensregeln
ohne Gesetzeskraft seine Arbeit aufnimmt, liegen Entwürfe der Koalitionsparteien und der F.D.P. auf dem
Tisch.
({0})
- Gute Vorsicht ist manchmal angebracht. - Wäre es
nicht besser, nach Beendigung der Arbeit des derzeitigen Spendenausschusses gewissermaßen in Anwendung
der gemachten Erfahrungen ein solches Gesetz zu formulieren? Denn eines scheint mir schon jetzt klar zu
sein. So wie sich die Spendenaffäre der CDU von Tag
zu Tag, ja von Stunde zu Stunde zuspitzt und immer erschreckendere, ja tragische Ausmaße annimmt, wird der
Ausschuss einer Reihe neuer verfahrensrechtlicher Erkenntnisse bringen.
Wichtig ist, dass Untersuchungsausschüsse kleine arbeitsfähige Gremien bleiben, in denen der Minderheitenschutz einen besonderen Stellenwert hat.
Das Minderheitenquorum von einem Viertel wurde
bekanntlich eingeführt, um den Oppositionsparteien
auch gegen die parlamentarische Mehrheit die Einsetzung eines Ausschusses und dann die Erhebung von
Beweisen zu ermöglichen. Auch die beiden vorliegenden Entwürfe enthalten wiederum diese Minderheitenregel. Beweise sind danach dann zu erheben, wenn sie von
einem Viertel der Mitglieder des Untersuchungsausschusses beantragt sind, es sei denn, sie sind unzulässig
oder unerreichbar.
Ich halte diese Regelung jedoch für problematisch.
Sie bedeutet, dass kleinere Parteien, das heißt: neben der
PDS auch die F.D.P. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
mit weniger als einem Viertel der Ausschussmitglieder
grundsätzlich auf das Wohlwollen größerer Parteien angewiesen sind, die ihren Anträgen beitreten müssen.
Hierdurch entstehen parteipolitische Abhängigkeiten.
Daran ändert auch nichts, dass solche Anträge danach
im Ausschuss zur Abstimmung gestellt werden. Auch
hier ist dann nicht zu erwarten, dass sich noch die notwendige Stimmenmehrheit findet.
Meine ersten Erfahrungen in der gestrigen Arbeitssitzung sind leider ein schlagender Beweis dafür. Alle Beweisanträge meiner Fraktion wurden durch die Bank abgelehnt, nachdem sich, für mich leider erwartungsgemäß, keine andere Partei bereit gefunden hat, zumindest
einigen unserer Anträge beizutreten. Darunter waren
auch Anträge, die mit den gleich danach angenommenen
Anträgen der Koalitionsfraktionen inhaltlich übereinstimmen.
({1})
Das ist mit Sachargumenten nicht mehr zu erklären und
bedeutet im Ergebnis, dass ich zwar für meine Fraktion
Anträge stellen kann, diese jedoch von vornherein keine
Realisierungschance haben, einfach weil sie das Etikett
„PDS“ tragen. Eine Sachprüfung findet gar nicht erst
statt.
Damit wird meine Fraktion insoweit von einem eigenständigen Beitrag zum Untersuchungsauftrag ausgeschlossen. Davor schützt uns auch das Minderheitenquorum nicht. Nebenbei gesagt, das kann auch jederzeit andere kleine Parteien treffen. Niemand sollte sich hier zu
sicher sein. Hiergegen kann auch nicht das Argument
des parlamentarischen Parteienproporzes ins Feld geführt werden. Gerade wegen der besonderen Funktion
von Untersuchungsausschüssen wurde dieser Proporzgrundsatz bewusst auf diesen Fall nicht angewandt und
die Minderheitenregelung eingeführt.
Um eine parteipolitische Instrumentalisierung zu verhindern und eine nur an sachlichen Gesichtspunkten
ausgerichtete Aufklärungsarbeit zu ermöglichen, sollte
der Schritt meines Erachtens konsequent bis zum Ende
getan werden. Parteiendiskriminierung hilft nicht, die
Ausschussarbeit voranzubringen. Ich plädiere deshalb
bei der Beschlussfassung über die Beweiserhebung für
den Wegfall der Ein-Viertel-Regelung. Stattdessen sollten Beweise dann erhoben werden, wenn sie von einer
Fraktion beantragt werden und nicht unzulässig oder unerreichbar sind. Ich werde mich für eine entsprechende
parlamentarische Initiative in meiner Fraktion einsetzen.
Danke schön.
({2})
Jetzt hat der Kollege
Dirk Manzewski, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung über
zwei Gesetzentwürfe, die ein gemeinsames Ziel haben,
und zwar eine Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse haben in den letzten Jahren leider Konjunktur. Untersuchungsausschüsse wie
zum Beispiel derjenige zur Flick-Spendenaffäre haben
die politische Landschaft dabei nachhaltig geprägt. Tatsächlich verändert haben sie diese, wie die jüngste Vergangenheit und der aktuelle Untersuchungsausschuss
zeigen, offenbar aber nicht immer.
Der aktuelle Untersuchungsausschuss zeigt aber auch,
wie wichtig Untersuchungsausschüsse gerade als wirkungsvollste Möglichkeit der demokratischen Kontrolle
des Parlaments für dessen zentrale Aufgabe sind. UnabDr. Evelyn Kenzler
hängig von Regierung, Behörden und Gerichten kann
das Parlament hierdurch selbstständig mit hoheitlichen
Mitteln eine Angelegenheit prüfen, die es in Erfüllung
seines demokratischen Auftrags für aufklärungsbedürftig hält. Aufklärung mit Augenmaß, Seriosität und auch
ein wenig Respekt sind dabei gefragt, denn, wie kürzlich
eine Berliner Zeitung zutreffend schrieb:
Nur ein demokratisches System hat die Kraft, seine
Schwächen und Verfehlungen aufzuklären und die
zur Verantwortung zu ziehen, die gegen die demokratischen Grundsätze verstoßen haben.
Dieses Recht, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird
derzeit allein auf der Grundlage von Art. 44 GG in Verbindung mit der Strafprozessordnung sowie der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages und dessen
besonderen Geschäftsordnungsvorschriften wahrgenommen. Einige meinen nun, dass deshalb kein Untersuchungsausschussgesetz notwendig sei. Ich - ich glaube, ich spreche damit für die Mehrheit hier im Haus sehe das jedoch völlig anders.
So eindeutig nämlich die bestehenden Regelungsinhalte und Zwecke auf den ersten Blick erscheinen, so
zahlreich sind auch die Probleme, die hierdurch in der
Praxis entstehen. Der Grund liegt einfach darin, dass
Art. 44 GG das parlamentarische Untersuchungsrecht
nur in groben Zügen regelt und sich gegenüber den Einzelheiten der Einsetzung und des Verfahrens der Untersuchungsausschüsse sehr zurückhält.
Hinzu kommt, dass Art. 44 Abs. 2 des Grundgesetzes
offen lässt, welche Strafprozessregelungen mit welchem
Inhalt im Untersuchungsverfahren sinngemäß gelten
sollen.
Problematisch ist auch, dass sich parlamentarische
und strafprozessuale Untersuchungen so grundlegend
unterscheiden, dass nicht deutlich ist, was unter einer
sinngemäßen Anwendung, wie es in Art. 44 Abs. 2 des
Grundgesetzes zur Strafprozessordnung heißt, genau zu
verstehen ist.
({0})
Zudem haben zum Beispiel die besonderen Geschäftsordnungsvorschriften keine verbindliche Wirkung, sondern müssen für jedes Untersuchungsverfahren erst gesondert beschlossen werden.
Das zeigt, dass in diesem Zusammenhang eine große
Rechtsunsicherheit herrscht, die es abzubauen gilt. Die
Anzahl der offenen Probleme hat sich in den vergangenen Jahren dabei eher vergrößert als verkleinert. Durch
die Fülle juristischer Fragestellungen und den zunehmenden Rückgriff auf die Rechtsprechung zu Untersuchungsverfahren wird nicht nur die Arbeitskraft jedes
Ausschusses in erheblichem Umfang gebunden. Insbesondere die Ausweitung der Untersuchungen auf nichtstaatliche Bereiche und die zunehmende Einbindung
privater Unternehmer oder Bürger führt immer wieder
zu neuen Problemstellungen und wirft immer wieder die
Frage auf, wo eigentlich die Grenzen der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse liegen. Gerade
wenn es um die Rechte und Pflichten von parlamentsexternen Dritten geht, geht es eigentlich weniger
um politische, sondern mehr um rechtliche Fragen. Diese haben aber im Streitfall die Gerichte zu entscheiden,
was Untersuchungsverfahren durchaus blockieren kann.
Mehrfach ist deshalb in der Vergangenheit versucht
worden, das Recht der Untersuchungsausschüsse
durch ein eigenes Gesetz zu regeln. - Die Kollegen haben das im Grunde genommen alle schon angesprochen.
- Entsprechende Ansätze in den vergangenen Legislaturperioden blieben leider erfolglos.
Die Schwierigkeiten sind vor allem darin zu sehen,
dass ein Untersuchungsverfahren zu viele Interessen berührt, die einander oft diametral entgegenstehen. Hinzu
kommt der Interessenstreit über die Kompetenzen der
Untersuchungsausschüsse und die Ausgestaltung des
Verfahrens. Da gerade in Untersuchungsausschüssen das
Spannungsverhältnis zwischen der die Regierung tragenden Parlamentsmehrheit und der Opposition, die als
Minderheit einen Untersuchungsausschuss beantragen
kann, besonders deutlich zum Ausdruck kommt, sind
Streitigkeiten über die Rechte und Pflichten des Untersuchungsausschusses, seiner Mitglieder und Organe unausweichlich.
Auch wenn die Minderheitenrechte in der Vergangenheit durch die Rechtsprechung gesichert gewesen
sind, kann es einfach nicht sein, dass die Ausgestaltung
eines verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechts des
Parlaments hiervon in der jetzigen Form abhängig ist.
Nicht unbedenklich ist zudem die Rechtsunsicherheit,
die in vielen Bereichen bei unterschiedlichen Auffassungen von Rechtsprechung und Literatur entstehen
kann.
Dem kann eigentlich nur durch eine gesetzliche Regelung abgeholfen werden. Insoweit begrüße ich die Intention beider Gesetzentwürfe, Herr Stadler. Mit dem
Gesetzentwurf der Regierungskoalition wollen wir die
Untersuchungsausschussverfahren des Deutschen Bundestages auf eine rechtsstaatlich sichere Basis stellen
und - das ist wichtig - die Effizienz des parlamentarischen Untersuchungsrechts stärken. Gleiches beabsichtigt der Entwurf der F.D.P. Die Grundlage hierfür
sollen jeweils die von der Rechtsprechung entwickelten
Grundsätze sowie die sich bereits bewährten praktizierten Regelungen der besonderen Geschäftsordnungsvorschriften, die sich bereits bewährt haben, bilden. Das ist
nur sachgerecht und folgerichtig.
Ziel ist es, die allgemein anerkannten Begrenzungen
des Untersuchungsrechts des Bundestages in einem Gesetzentwurf festzuschreiben. Ferner sollen die Grundregeln der Zusammensetzung, des Vorsitzes, der Einberufung und der Beschlussfähigkeit des Untersuchungsausschusses bestimmt werden. Die Rechte der
Minderheiten beabsichtigen wir nach Maßgabe des
Bundesverfassungsgerichts zu schützen. Auskunftspflichtigen Personen werden wir den rechtsstaatlich gebotenen Schutz sichern. Geheimschutz und Amtsverschwiegenheit werden ebenso geregelt wie die Zuständigkeit der Gerichte für die Verhängung etwaiger
Zwangsmittel. Der Kollege Ströbele hat das zutreffend
angesprochen.
Beide Gesetzentwürfe haben sich im Wesentlichen
hieran orientiert. Inwieweit dem einen oder anderen Gesetzentwurf nun hinsichtlich Einzelheiten der Vorzug zu
geben ist, werden die fachlichen Diskussionen in der
nächsten Zeit zeigen. Ich freue mich jedenfalls, dass offenbar ein längst überfälliger Schritt in die richtige
Richtung getan worden ist und in Kürze ein Gesetz die
Arbeit von Untersuchungsausschüssen wesentlich erleichtern wird.
Ich danke Ihnen.
({1})
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/2363 und 14/2365 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen,
wobei die Vorlage auf Drucksache 14/2363 zusätzlich
an den Innenausschuss überwiesen werden soll. Die
Vorlage auf Drucksache 14/2518 soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 14/2363 überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 1998 und
Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksachen 14/438, 14/829 Nr. 1, 14/1349 Berichterstattung:
Abgeordnete Bodo Seidenthal
Dr. Gerhard Friedrich ({1})
Cornelia Pieper
Angela Marquardt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Da die als erste vorgesehene Rednerin noch nicht hier
ist, erteile ich das Wort dem Kollegen Erich Maaß,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich stehe der Frau Ministerin gerne zur Seite und beginne mit der Aussprache über den vorliegenden Bericht. Wir haben heute über die technologische Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1998
zu sprechen. Zwischenzeitlich liegt uns ebenfalls der
Bericht für 1999 vor. Ich glaube, es besteht Einvernehmen darüber, dass ich hier keinen Statusbericht abgebe,
sondern versuche, anhand dieser beiden Berichte aufzuzeigen, wie eine künftige technologische und forschungspolitische Entwicklung auszusehen hat.
Wir sind uns in der Bewertung der Fakten, so glaube
ich, interfraktionell einig. Die positiven Seiten des vorliegenden Berichtes zeigen uns, dass es in der Bevölkerung einen sehr hohen Bildungsstand gibt und dass wir
im Innovationsprozess hoch qualifizierte Arbeitskräfte
mit Schlüsselqualifikationen haben. Wir haben eine exzellente Grundlagenforschung, zunehmend beachtete
Ergebnisse der Wissenschaft sowie eine hoch differenzierte Forschungslandschaft und eine forschungsintensive Wirtschaft. - Das sind die positiven Seiten.
Es gibt jedoch auch negative Seiten. Diese sollten uns
zum Handeln Anlass geben. So haben wir beispielsweise, um den Wandel und den Sprung in die Wissensgesellschaft erfolgreich zu gestalten, einen erheblichen Reformbedarf. Diesen müssen wir einfordern und wir
müssen die entsprechenden Weichenstellungen vornehmen. International gesehen zeigt sich deutlich, dass es
im wissensintensiven Dienstleistungsbereich bei uns innovative Schwächen gibt. Wir müssen weiter feststellen,
dass sich gerade im naturwissenschaftlichen Bereich ein
erster Nachwuchsmangel abzeichnet.
Meiner Meinung nach wird in dem vorliegenden Bericht etwas zu defensiv argumentiert, wenn formuliert
wird, dass wir zu langsam auf die technologischen Herausforderungen reagieren. Lieber wäre mir, wenn wir
offensiv argumentieren würden, wenn wir formulieren
würden, dass wir agieren wollen - die Bereitschaft, agieren zu wollen, müsste mehr zum Ausdruck kommen und dass wir den notwendigen Strukturwandel mit hoher
Flexibilität in Angriff nehmen wollen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich aus diesem Bericht ein kurzes Zitat anführen:
Zur Stärkung des FuE-Potenzials bei Wirtschaft
und Staat muss das Verhältnis zwischen Grundlagenforschung, angewandter Forschung und
Marktanwendung durchlässiger gestaltet werden.
Dies ist ein Dauerprozess, der uns schon seit mehreren
Jahren beschäftigt. Wir mahnen - egal, wer gerade regiert - schon seit langem die Reform des öffentlichen
Dienstrechtes an. - Das sind die positiven und die negativen Seiten.
Jetzt müssten wir eigentlich dazu übergehen, die Frage, wie wir in den nächsten Jahren strategisch weiterarbeiten wollen, zu beantworten. Ich freue mich natürlich,
dass in der letzten Legislaturperiode unter der Regierung
von CDU/CSU und F.D.P. auf diesem Gebiet gute Voraussetzungen geschaffen worden sind. Wenn ich zum
Beispiel an das Thema Biotechnologie denke, stelle ich
mit Genugtuung fest, dass Frau Bulmahn auf diesen erfolgreichen Ergebnissen weiter aufbauen kann. Ebenso
wurden in anderen Bereichen positive Weichenstellungen übernommen.
Wir stellen darüber hinaus fest, dass neue Akzente
gesetzt worden sind. Auf diese möchte ich kurz eingehen; denn sie vermitteln nicht das, was ich mir unter einer zukunftsorientierten Forschungs- und TechnologieDirk Manzewski
politik vorstelle. Ich halte es für einen misslichen Umstand - ich begrüße die Frau Ministerin und hoffe, dass
sie damit einverstanden ist, dass ich vor ihr reden darf -,
dass es zu einer Ressorttrennung gekommen ist, dass
also mittlerweile wesentliche Elemente der Forschungsund Technologiepolitik im Wirtschaftsministerium und
die übrigen Bereiche bei der Forschungsministerin angesiedelt worden sind.
({0})
Ich hätte nichts dagegen, wenn dafür eine koordinierende Hand vorhanden wäre. Aber das ist leider nicht der
Fall. Im Verlauf des letzten Jahres war zu erkennen, dass
hier zwei Ressorts nebeneinanderher arbeiten. Sie reden
zwar mit einer Sprache, aber mit zwei Zungen. Ich stelle
fest: Am 11. Januar dieses Jahres ging der Bundesminister für Wirtschaft an die Öffentlichkeit und präsentierte
seinen Bericht. Am 17. Januar ging Frau Bulmahn an die
Öffentlichkeit und präsentierte ihren Bericht. Wenn ich
mir beide Berichte anschaue, so stelle ich fest: Hier
fehlen die Klammer, das Zusammenführen und das einheitliche Argumentieren nach außen. Meine Damen und
Herren, wer vor diesem Hintergrund von einer R- und
D-Politik aus einem Guss spricht, dem muss ich leider
sagen: Das ist nicht der Fall.
Was hat das für Konsequenzen? Durch diese Teilung
können in diesen beiden Bereichen natürlich Ressortegoismen fröhliche Urständ feiern. Das halte ich für
eine missliche Situation. Hier mahne ich nur einmal etwas an, was in den vergangenen Jahren immer Konsens
war. Wir haben ja auch unter der alten Regierung das
Problem gehabt, dass sich Ressortegoismen ausgeprägt
hatten. Deshalb haben wir gesagt, es muss gebündelt
und zusammengefasst werden. Deshalb wurde, auch mit
Ihrer Unterstützung, der Technologierat beim Bundeskanzler eingerichtet. Im Technologierat beim Bundeskanzler haben wir Wissenschaft, Wirtschaft, Forschung
und Gewerkschaften zusammengeführt. Wir haben gesagt: Liebe Leute, lasst uns eine Bestandsaufnahme machen. Lasst uns bitte überlegen, wo wir hinmarschieren
wollen, wo die Zukunftsfelder sind, auf die wir uns verstärkt ausrichten müssen, die uns dann auch die Möglichkeit geben, künftig mit einem entsprechenden Wirtschaftswachstum das zurückzuholen, was wir vorweg in
Wissenschaft und Forschung investiert haben.
Das war eine gute Sache. Um diese leidigen Ressortegoismen auszuschalten, mahne ich hier an, dass wir auf
ein derartiges Instrument hinarbeiten.
Ein weiterer Punkt, meine sehr verehrten Damen und
Herren: Wenn ich mir den Bericht von Frau Bulmahn
angucke, so stelle ich fest: Wir haben uns immer um
Geld gestritten. Jetzt wollen wir uns nicht weiter streiten, ob es ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger
sein darf. Aber wenn ich sehe, dass Geld allein der
Schlüssel zum Erfolg sein soll, dann beschleicht mich
schon ein bisschen Unwohlsein. Ich gewinne hier den
Eindruck, dass nun so verfahren werden soll: Jetzt haben
wir Geld und machen Programme und diese helfen uns
aus dem Tal heraus. - Das ist leider nicht der Fall. Wir
haben schon in der letzten Legislaturperiode versuchen
müssen, das ökonomische Prinzip mit weniger Geld zum
Tragen zu bringen. Wir mussten uns fragen: Wie können
wir tatsächlich ein Optimum an Erfolg erzielen? BioRegio, das nur als Beispiel, ist hervorragend gelaufen.
Im Übrigen: Wenn ich mir den Haushalt - Drucksache 14/1400 Seite 56 - und hier die Ausgaben des
Bundes für Bildung, Wissenschaft und Forschung angucke und die Jahre 1999 und 2000 vergleiche, so stelle
ich fest, dass wir dort keine steigenden, sondern eher
sinkende Raten haben. Das muss man bitte einmal zur
Kenntnis nehmen.
Meine Damen und Herren, Programme sind eine
wunderschöne Sache. Ich stelle fest: Wir haben 800
Programme des Staates, Bund und Länder zusammen
genommen, für den Bereich der Wirtschaft. Allein was
die Projektverwaltung angeht, haben wir
2 500 Mitarbeiter in der zivilen Forschungsförderung
des Bundes. Das ist eine Sache, die wir immer fraktionsübergreifend kritisiert haben. Meine Damen und Herren, im Jahre 1999 gab es acht neue Programme. Wir
bekommen wunderschöne Hochglanzbroschüren präsentiert, alles prima und hervorragend. Leider ist der
Bundeswirtschaftsminister nicht da, dennoch: Wenn er
in dieser Legislaturperiode so weiter macht, wird er in
die Geschichte der 14. Legislaturperiode als der Broschürenminister eingehen.
Meine Damen und Herren, so etwas sollten wir uns
künftig nicht erlauben, wenn wir Folgendes wissen: dass
diese überbordende Bürokratie bei Gebern und Nehmern
zirka 20 Prozent der Mittel für Förderverwaltung bindet.
Wir haben zu wenig Geld, als dass wir hier weiter Nebenkriegsschauplätze finanzieren könnten.
Meine Damen und Herren, ich darf daran erinnern,
dass wir der Biotechnologie mit knappem Geld zum
Durchbruch verholfen haben. Das können die Sozialdemokraten auch! Ich bin nun schon lange genug im Geschäft und rufe ins Gedächnis, dass 1981 die damalige
SPD-Regierung im Einvernehmen mit der CDU das
Programm „Anwendung der Mikroelektronik“, aufgelegt
hat, mit dem wir mit wenig Geld eine wahnsinnige
Breitenwirkung erzielt haben. Meine Damen und Herren, besinnen Sie sich auf diese Vorzüge, die Sie schon
vor fast 20 Jahren entwickelt haben.
Leider ist davon heute kaum noch etwas festzustellen.Wir haben die Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes durchgeführt; wir haben die Liberalisierung des Energiemarktes durchgeführt.Und wo, meine
Damen und Herren, sind die Ansätze der jetzigen rotgrünen Regierung auf diesem Sektor? Übrigens: Diese
Liberalisierungen haben Wettbewerb und ein Zurückdrängen des Staates gebracht. Sie haben dazu geführt,
dass der Bürger seinen Profit daraus zieht. Und was ist
im letzten Jahr passiert? Die Rahmenbedingungen haben
sich weiterhin verschlechtert. Scheinselbstständigkeit,
630-DM-Gesetz und ein kompliziertes Steuersystem,
sprich Ökosteuer, haben zur Verschlechterung der Rahmenbedingungen beigetragen.
Am Rande möchte ich noch kurz erwähnen: Im
Haushaltssanierungsgesetz, das Rot-Grün letztes Jahr
beschlossen hat, sind die Patentgebühren um 15 Prozent
angehoben worden. All dies sind nur Kleinigkeiten; aber
Erich Maaß ({1})
damit werden doch immer mehr Bürokratie, immer mehr
Staat und immer mehr Reglementierung geschaffen, statt
den gegenteiligen Weg einzuschlagen und mehr Freiheit
zu schaffen.
({2})
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf folgenden
Punkt eingehen. Wir haben nichts gegen Strukturveränderungen. Wir wollen diese unterstützen und sind bereit, auch unbequeme Wege zu gehen. Nur darf man solche Strukturveränderungen nicht durchführen wie der
Elefant im Porzellanladen. Ich gehe hier auf die Themen
GMD und Fraunhofer-Gesellschaft ein. Sie wissen ganz
genau, dass wir die Wissenschaftsklientel schon seit Jahren auffordern, sich einer Evaluierung zu stellen. Wir
sagen ihnen: Ihr müsst bereit sein, euch permanent in
Frage zu stellen. Mittlerweile sind sie dazu bereit und
machen es.
Sie wissen, welches Problem es war, im Bereich der
Grundlagenforschung die Bereitschaft zu erzeugen,
marktwirtschaftliche Akzente zu übernehmen. Mittlerweile hat der Wissenschaftsrat evaluiert und die Gutachten liegen vor. Um diese Tatsache schert sich jedoch
niemand von der Bundesregierung. Es wird einfach ein
System zerschlagen und gesagt, man wolle eine neue
Struktur bilden. Die Konsequenz - und damit das Problem - wird sichtbar: In der „Computer Zeitung“ vom
23. Dezember kann man lesen: „Forschungsfusion wird
im neuen Jahr zur Kanzlersache“. Sie machen eine Angelegenheit zur Kanzlersache, nachdem das Porzellan
kaputt ist. Hier zeigt sich klar, dass sich zwei Fronten
gegenüberstehen: Frau Bulmahn und der Wirtschaftsstaatssekretär Tacke. Notwendig wären ein Zusammenführen und Zusammen-Agieren und nicht ein Gegeneinander-Arbeiten.
Meine Redezeit geht langsam zu Ende.
({3})
- Warten wir ab, mein lieber Bodo Seidenthal.
Wir sind nicht schlechter geworden, ich glaube, wir
sind relativ gut geblieben. Doch die anderen Länder sind
besser geworden. Wenn wir die Voraussetzungen schaffen wollen, um im Bereich Forschungs- und Wirtschaftspolitik Leistungsfähigkeit in das nächste Jahrtausend zu bringen, müssen wir wirklich beherzigen: weniger Staat, weniger Dirigismus und mehr Freiräume im
privaten Bereich. Erdrückt nicht die Mittelständler, sondern verschafft ihnen die Möglichkeit, sich zu entwickeln! Wenn wir das beherzigen, bin ich nicht traurig
und habe ich keine Sorge, dass wir einen guten Weg gehen werden.
Herzlichen Dank.
({4})
Meine Damen und
Herren, ich erläutere Ihnen jetzt einmal den gegenwärtigen Stand der Rednerfolge, weil das für die künftigen
Redner wichtig ist. Frau Ministerin Bulmahn ist bereit,
jetzt das Wort zu nehmen. Trifft dies zu, Frau Ministerin? - Wunderbar.
Dann erhält das Wort die Kollegin Ulrike Flach. Anschließend kommt der Kollege Hans-Josef Fell, den ich
herzlich begrüße. Als Nächstes folgen die Kollegen
Kutzmutz, Seidenthal und Schmidt. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist so abgesprochen.
Dann hat jetzt die Frau Ministerin Bulmahn das Wort.
Bitte sehr.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Fast auf den Tag genau vor einem Jahr habe ich den Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit für das Jahr 1998 vorgestellt.
Dieser Bericht - ich finde, das ist wichtig - hat sehr
viele interessante und engagierte Diskussionen ausgelöst, die in ihrem Umfang weit über das hinaus gingen,
was an Diskussion bei uns im Hause stattgefunden hat.
Inzwischen liegt der neue Bericht vor, den ich vor einigen Tagen der Öffentlichkeit vorgestellt habe.
Die zentrale Botschaft des Berichts von 1998 war:
Bildung entscheidet über unsere Zukunft. Die zentrale
Botschaft des Berichts von 1999 lautet: Investitionen in
Bildung und Forschung sind die entscheidenden Triebkräfte für wirtschaftliches Wachstum und neue Arbeitsplätze. Dieser Bericht zeigt sehr deutlich, dass Länder,
die vermehrt in Forschung und Entwicklung investieren, damit den Grundstein für ein höheres Wachstum
und neue Arbeitsplätze legen. Andere Länder, die weniger in Forschung und Entwicklung investiert haben und
zögerlicher sind, befinden sich dagegen am unteren Ende der Wachstumshierarchie.
Dieser Zusammenhang ist immens wichtig und muss
gerade von uns immer wieder herausgestellt werden.
Finnland zum Beispiel hat diesen Zusammenhang sehr
frühzeitig deutlich erkannt und liegt inzwischen in Europa bei der Forschungs- und Entwicklungsintensität an
der Spitze. Dasselbe gilt für den Bereich des Wirtschaftswachstums.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
haben diesen Zusammenhang jahrelang ignoriert oder
nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Herr Maaß, ich
stimme Ihnen zu, dass Geld nicht alles ist. Das ist auch
meine persönliche Überzeugung, wie Sie seit langem
wissen. Geld und Strukturreformen gehören zusammen; man braucht beides, wenn man tatsächlich Erfolge
erzielen will. Man darf nicht - wie Sie das leider getan
haben - die Mittel für Forschung und Entwicklung immer weiter herunterfahren; denn das hat zur Folge, dass
Investitionen in die wichtigen Bereiche Forschung und
Entwicklung nicht stattfinden. Das ist in den 90er-Jahren
leider geschehen. Wir haben in den 90er-Jahren erheblich an Forschungs- und Entwicklungsintensität sowie an Wirtschaftswachtstum verloren. Das kann man
einfach nicht leugnen.
Deshalb war es an der Zeit, dass diese Politik korrigiert wurde. Die Bundesregierung hat mit dem Haushaltsjahr 1999 die Mittel für Forschung und Entwicklung erheblich aufgestockt und die notwendigen
Strukturreformen in Angriff genommen. Wir haben im
letzten Jahr also beides gemacht und werden das auch
fortsetzen.
Erich Maaß ({0})
({1})
Wenn wir im beginnenden Jahrzehnt beim Wachstum
der Wirtschaft und bei der Anzahl der Arbeitsplätze
wieder einen der vorderen Plätze unter den OSZE-Ländern belegen wollen, dann muss uns die Trendwende in
Forschung und Entwicklung durch die Erhöhung von
Investitionen und durch die notwendigen Strukturreformen gelingen. Wir tragen vonseiten der Bundesregierung mit erheblichen öffentlichen Mitteln unseren Teil
dazu bei.
Die Wirtschaft muss diesen Ball jetzt auffangen. Die
Zeichen dafür stehen gut. Das zeigt der Bericht deutlich,
der einerseits ermutigt, anderererseits aber deutlich
mahnt. Wir stellen für die Jahre 1998 und 1999 fest das zeigen die Zahlen -, dass die Wirtschaft wieder einen größeren Teil ihres Umsatzes und ihrer Gewinne in
Forschung und Entwicklung investiert. Das muss fortgesetzt werden. Es wäre verheerend, wenn die Wirtschaft
ihre Anstrengungen jetzt verringerte oder plafondierte
und nicht weiter verstärken würde.
Wir haben kurz vor Weihnachten unser Konzept für
die Unternehmensteuerreform 2000 vorgelegt. Mit
diesem Konzept vergrößern wir den finanziellen Spielraum der Unternehmen erheblich. Der Bericht lobt dieses Konzept ausdrücklich, er macht aber auch klar und
deutlich, dass es jetzt Sache der Wirtschft ist, diesen
größeren finanziellen Spielraum für verstärkte Anstrengungen in Forschung und Entwicklung zu nutzen
und in diesen Bereich mehr Mittel zu investieren. Deshalb appelliere ich ganz eindringlich an die Wirtschaft,
diesen Spielraum für mehr Investitionen in Forschung
und Entwicklung zu nutzen.
({2})
Der Bericht sagt klar: Deutschland ist Technologieführer in Europa - bei Patenten, bei Innovationen und
bei Weltmarktanteilen forschungsintensiver Güter. Alle
wichtigen Indikatoren machen deutlich, dass wir in Europa ganz vorne dabei sind. Doch die Wissenschaftler
weisen zu Recht darauf hin, dass wir an einem Scheideweg stehen; denn die gleichen Indikatoren, die
Deutschland heute eine Spitzenposition bescheinigen,
zeigen, dass sich in den 90er-Jahren die internationalen
Gewichte insgesamt verschoben haben: in Richtung
kleinere europäische Länder, in Richtung USA und in
Richtung Asien.
Es war deshalb höchste Zeit, dass neuer Wind in die
Bildungs- und Forschungspolitik kommt, nicht nur
durch zusätzliche Mittel, sondern vor allen Dingen
durch dringend notwendige strukturelle Reformen. Diese strukturellen Reformen müssen das deutsche Innovationssystem insgesamt leistungsfähiger machen. Wir haben - davon bin ich überzeugt, ich hoffe, Sie stimmen
mir zu - eine hervorragende Forschungs- und Wissenschaftsinfrastruktur, nutzen aber das Leistungspotenzial,
das dort vorhanden ist, nicht optimal. Deshalb gehen unsere Reformvorhaben, die wir gestartet haben, in die
Richtung, dieses Potenzial stärker zum Ertrag zu bringen
und stärker zu nutzen. Die strukturellen Reformen müssen deshalb zu mehr Effizienz und zu mehr Flexibilität
an unseren Hochschulen und Forschungseinrichtungen
führen, sie müssen mit Instrumenten wie einer stärkeren
Programmsteuerung und Budgetierung zu einer klaren
Prioritätensetzung und Profilbildung führen. Deshalb
setzen wir, setzt diese Bundesregierung auf eine Politik,
die Wachstumsspielräume nutzt und neue technologische Entwicklungen engagiert aufgreift.
Unsere Politik zur Verbesserung der technologischen Leistungsfähigkeit beruht auf drei Säulen. Der
Bericht bescheinigt der Bundesregierung ausdrücklich,
dass wir mit unseren Schritten zur Modernisierung und
Weiterentwicklung der beruflichen Bildung und den
Strukturreformen in der Hochschulpolitik, die wir begonnen haben, auf dem richtigen Weg sind: zum Beispiel mit einer veränderten Nachwuchswissenschaftlerförderung, zum Beispiel mit der Modernisierung des Dienstrechtes, zum Beispiel mit der Modernisierung und Reform des BAföG, um auch das Potenzial
an leistungsfähigen Menschen zu nutzen, zum Beispiel
mit der Setzung des Schwerpunkts in der Forschungspolitik auf Biotechnologie sowie auf Informations- und
Kommunikationstechnologien.
Mit dem Aufwuchs der Mittel für Bildung und Forschung stärken wir nachhaltig die Wissensbasis und damit auch die Leistungsfähigkeit des Standortes
Deutschland. Man kann es auch kurz so sagen: Bildung
und Forschung sind der Standortfaktor Nummer eins in
Deutschland.
({3})
Mit unserer Steuerpolitik erhöhen wir die privatwirtschaftlichen Spielräume für zusätzliches Engagement in
Forschung, Entwicklung und Innovation. Die Wirtschaft
ist aufgerufen, diese Spielräume engagiert für mehr Forschung und Entwicklung zu nutzen. Mit den niedrigen
Steuersätzen machen wir zudem Deutschland als Standort für Investitionen in Forschung und Entwicklung
weltweit erheblich interessanter.
({4})
Herr Maaß, für diese Bundesregierung ist eines klarwir halten uns auch daran -: Innovationspolitik kann
man nicht erfolgreich betreiben, wenn man sie allein als
Ressortaufgabe versteht. Gerade deshalb haben wir Forschungs-, Bildungs-, Steuer- und Wirtschaftspolitik aufeinander abgestimmt und mit unseren Vorschlägen zur
Steuerreform genauso wie mit unseren Vorschlägen zur
Bildungs- und Forschungspolitik eine kohärente Innovationsstrategie entwickelt und auch vorgelegt. Wir
werden mit den strukturellen Reformen in Bildung und
Forschung die Flexibilität weiter stärken, Leistungsanreize setzen und damit die gesamte Leistungskraft des
deutschen Innovationssystems verbessern.
Im Rahmen der Bündnisarbeitsgruppe „Aus- und
Weiterbildung“ entwickeln wir die duale Berufsausbildung und die berufliche Weiterbildung fort, damit Berufsbilder und individuelle Kompetenz der Arbeitnehmer den sich ständig wandelnden Anforderungen der
Wissensgesellschaft genügen werden; denn gerade der
„Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit
Deutschlands 1998“ besagt eindeutig: Unsere Zukunft
hängt von qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ab, und zwar sowohl von denjenigen, die
eine berufliche Ausbildung erhalten haben, als auch von
denjenigen, die eine wissenschaftliche Ausbildung erhalten haben.
Die Biotechnologie hat eine immer größere Bedeutung für die chemische und pharmazeutische Industrie.
Die wissenschaftlichen Grundlagen Deutschlands bezüglich der Biotechnologie sind gut. Aber die wirtschaftliche Nutzung von Forschungsergebnissen muss
deutlich an Breite und auch an Geschwindigkeit gewinnen. Die Bundesregierung hat dieses Problem in Angriff
genommen. Mit dem neuen Bio-Regio-Wettbewerb
„Bioprofile“ und dem Wettbewerb für Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler „Biofuture“ nutzen wir das Potenzial der Biotechnologie für
wirtschaftliches Wachstum und für mehr Arbeitsplätze.
Dazu gehört auch, dass wir in diesem Jahr neben den
Strukturprogrammen, mit denen die wirtschaftliche Anwendung von Forschungsergebnissen gefördert werden
soll, auch die finanziellen Anstrengungen für diesen
Forschungsbereich, der zurzeit auf eine solche Unterstützung angewiesen ist, verstärkt haben. Wir haben die
Mittel für diesen Förderbereich um 10,8 Prozent erhöht.
Mit dem Aktionsprogramm der Bundesregierung „Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ sind die Weichen richtig
gestellt worden. Wir haben gestern im Deutschen Bundestag ausführlich über die Programme und Rahmengesetze diskutiert. Es ist doch völlig klar, dass besonders
die Informations- und Kommunikationstechnologie
eine Schlüsselrolle spielt. Gerade im Aktionsprogramm
haben wir über alle Ressortzuständigkeiten hinweg festgestellt, dass sich die Anwendung von IuKTechnologien in den kommenden Jahren beschleunigen
wird. Dabei, Herr Maaß, spielt die Zusammenführung
der GMD und der Fraunhofer-Gesellschaft eine wichtige
Rolle. Die „Computer-Zeitung“ muss falsch informiert
gewesen sein, als sie im Dezember letzten Jahres den
vorhin zitierten Artikel veröffentlicht hat. Die Zusammenführung läuft. Es gibt immer Probleme, wenn man
seit Jahren tradierte Organisationszusammenhänge verändert. Das wissen Sie genauso gut wie ich.
Ich finde, dass dieses Beispiel auch etwas Positives
zeigt: Die jahrzehntelang aufgestellte Behauptung - ich
habe das seit zehn oder zwölf Jahren mitverfolgt -, unser Forschungssystem sei so starr, dass man gar nichts
mehr verändern könne, ist einfach falsch. Vielmehr sind
Veränderungen möglich; allerdings muss man die Courage haben, die Probleme anzupacken. Jeder weiß, dass
das nicht ganz einfach ist.
Ich sage ganz klar: Ich habe die Courage gehabt. Mir
jedenfalls war von Anfang an klar, dass dieser Prozess
nicht ohne Probleme vonstatten geht. Aber die Fusion
klappt und sie wird es auch weiterhin. Die Beteiligten sowohl die GMD wie auch die Fraunhofer-Gesellschaft - sind festen Willens, diese Zusammenführung
zum Erfolg zu bringen. Dies ist nötig und richtig. Das
wird schon daran erkennbar, dass die Evaluierung, auf
die Sie, Herr Maaß, sich bezogen haben, sehr deutlich
zum Ausdruck bringt, dass wir bisher nicht das kritische
Potenzial an Größe für eine wirklich offensive Nutzung
der Forschungskapazitäten in diesem Bereich hatten.
Gerade das besagt der Evaluierungsbericht und daraus
habe ich die Konsequenzen gezogen. Mit der Zusammenführung von GMD und FhG habe ich genau dieses kritische Potenzial an Größe geschaffen. Es wird einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass wir in
Forschung und Entwicklung wirklich deutlich besser
werden. Es wird aber auch dazu beitragen, dass wir die
wirtschaftliche Anwendung der Forschungsergebnisse
erheblich verbreitern können.
Wir haben in diesem Aktionsprogramm noch eine
weitere, meiner Meinung nach ganz wichtige Entscheidung getroffen. Wir haben mit den Sozialpartnern verabredet, dass wir das Ausbildungsangebot in den IuKBerufen deutlich verbessern werden. Die Situation ist
absurd. Es gibt in der informations- und kommunikationstechnischen Industrie einen Fachkräftemangel. Auf
der anderen Seite herrscht in den Ausbildungsberufen
ein Mangel an Ausbildungsplätzen. Wir haben miteinander verabredet, dass wir die Anzahl der Ausbildungsberufe in drei Jahren verdreifachen werden. Das Jahr
1999 hat gezeigt, dass wir dieses Ziel schon im ersten
Schritt übertroffen haben.
({5})
Wir haben deutliche Erfolge zu verzeichnen. Es ist ein
positives, hervorragendes Ergebnis.
Über Instrumente wie Budgetierung, leistungsorientierte Bezahlung, eine stärkere Programmsteuerung,
Stärkung des Wettbewerbs an den Helmholtz-Zentren
und eine regelmäßige Evaluation wollen wir mehr Effizienz und Zielgerichtetheit im deutschen Wissenschaftssystem verwirklichen. Mit der Modernisierung des
Dienstrechtes wollen wir die Leistungsanreize in Lehre
und Forschung stärken und den Transfer von Köpfen in
die Wirtschaft erleichtern.
Der Bericht bestätigt, dass ohne den Anschub durch
eine öffentliche Forschungsförderung die Entwicklung
eines boomenden Beteiligungskapitalmarktes und die erfreuliche Gründungsdynamik im Bereich der Spitzentechnologie so nicht möglich gewesen wären. Mein
Kollege Bundesminister Müller sorgt im Rahmen seiner
Zuständigkeit für Kontinuität und Fokussierung der erfolgreichen Bundesprogramme. Mit dem Programm
„Existenzgründer aus Hochschulen“ schaffen wir die
Voraussetzung für eine Verbesserung der Gründungsinfrastruktur an unseren Hochschulen und für eine Qualifizierung zur unternehmerischen Selbstständigkeit. Das
heißt, wir arbeiten koordiniert zusammen. Dies werden
wir auch in Zukunft tun.
Ich will noch kurz einen Punkt nennen. Mir ist es
wichtig - auch das zeigt dieser Bericht -, dass wir die
Zusammenarbeit gerade zwischen kleinen bzw. mittleren Unternehmen und Hochschulen verstärken. Der Bericht macht deutlich, dass dies einer der Schlüssel ist.
Deshalb habe ich der Verbundforschung ein größeres
Gewicht gegeben. Ich werde mit der Veränderung des
Dienstrechtes auch die zurzeit für die Mobilität zwischen Hochschule und Wirtschaft bestehenden Hemmnisse aus dem Weg räumen.
Der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit
hält uns den Spiegel vor. Die Analysen und Bewertungen des Berichts tragen zu einem besseren Verständnis
des Innovationsgeschehens in Deutschland bei. Er weist
auf die Schwächen hin, zeigt aber zugleich auch Wege
für eine erfolgreiche Innovationspolitik auf und er bestärkt uns in den vielen von mir genannten Punkten. Der
Bericht bestätigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg
sind. Die rot-grüne Bundesregierung, meine Herren und
Damen, wird diese Wege auch zukünftig zielgerichtet
weitergehen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun
die Kollegin Ulrike Flach, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt immer wieder Berichte hier im
Plenum, bei denen man sich deutlich die Sinnfrage stellt.
Der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit
Deutschlands gehört ganz definitiv nicht dazu. Er ist ein
ausgezeichnetes, detailliertes, analytisch sehr gutes Papier mit einer Fülle von Hinweisen für uns politische
Handelnde.
({0})
Ich möchte mich ausdrücklich bei den Autoren bedanken. Mit diesem Bericht können wir als Parlamentarier
eine Menge anfangen.
Der Bericht behandelt einen Zeitraum, in dem noch
die CDU/CSU-F.D.P.-Regierung im Bund regierte.
Aber da Forschung und Bildung zu einem erheblichen
Anteil Ländersache sind, fließen auch die Politiken der
verschiedenen Länderkoalitionen in das Ergebnis ein. Es
macht deshalb keinen Sinn, die Ergebnisse nur einer politischen Couleur anzulasten. Wir alle tragen Verantwortung für eine Bildungs-, Forschungs- und Technologiepolitik, die Zukunftschancen eröffnet, Arbeitsplätze
schafft und sichert und unseren Lebensstandard erhöht
({1})
sowie - das sage ich als Umweltpolitikerin - zu einem
nachhaltigen Umweltschutz beiträgt.
Insgesamt stellen wir fest, dass Deutschland in vielen
Bereichen der Forschung und Technologie Spitzenpositionen einnimmt - allerdings nicht in allen: In einigen
sind wir „fast follower“; aber auch das kann eine erfolgreiche Strategie sein. Ich will mich auf einige Bereiche
konzentrieren, die wir Liberale für besonders wichtig
halten und bei denen wir Korrekturen der Bundesregierung einfordern.
Die Forschungsausgaben sind gestiegen. Aber dieser Anstieg reicht nicht aus, Frau Bulmahn, um auf Dauer eine Spitzenstellung zu behaupten. Vor allem kleine
Volkswirtschaften - da stimme ich Ihnen zu - wie
Schweden oder die Niederlande holen sehr stark auf.
Hier ist die deutsche Wirtschaft gefordert. Besonders
hinzuweisen ist auf die unterschiedliche Struktur der
deutschen Forschungsausgaben - vielleicht sollten sich
das auch die Grünen zu Herzen nehmen -: Fast
25 Prozent kommen nach wie vor aus der Automobilindustrie, wohingegen die chemische Industrie und die
Pharmaforschung deutlich an Boden verloren haben.
Die Wirtschaftszweige der Spitzentechnik liegen an
vorderster Front der Wachstumshierarchie. Auf europäischer Ebene sind wir in vielen Bereichen führend und
auf dem Weltmarkt haben wir immerhin einen Welthandelsanteil von 11,5 Prozent bei der Spitzentechnik. Allerdings - ich zitiere -:
Die leichte Positionsverbesserung in der Spitzentechnologie ist vor allem dem Aufschwung der Telekommunikationsbranche im Rahmen der Deregulierung in diesem Bereich zu verdanken.
Frau Bulmahn, Sie werden Verständnis haben, dass wir
Liberalen so etwas mit großer Genugtuung sehen. Denn
schließlich waren wir diejenigen, die dafür viele, viele
Prügel in diesem Hause eingesteckt haben.
Bildung ist die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. Der Bedarf an gut ausgebildeten Arbeitskräften
steigt. Sie haben zu Recht gesagt: Im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik und bei den Ingenieurberufen gibt es deutliche Engpässe. Ich füge hinzu: Die deutsche Industrie hat hier in der Vergangenheit
falsch reagiert und hat falsche Signale gesetzt. Dagegen
werden die Chancen Geringerqualifizierter am Arbeitsmarkt immer schlechter.
13 Prozent der Erwerbstätigen sind in Deutschland in
forschungsintensiven Industrien tätig. Das ist mehr als
doppelt so viel wie in den USA und doppelt so viel wie
in Frankreich. Hier haben wir eine Spitzenreiterfunktion,
die wir halten sollten. Nichtsdestoweniger: Trotz kurzfristiger Erfolge schätzt der Bericht mittelfristig das
FuE-Niveau der deutschen Industrie nach wie vor als zu
niedrig sein. Sie haben unsere Unterstützung, wenn es
darum geht, dort mehr einzufordern.
An den Schulen und den Universitäten wird über die
künftige internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und der Arbeitsplätze entschieden. Der
Bericht lässt die Alarmlampen in diesem Punkt aufleuchten. Zitat:
Zwar ist die Leistungsfähigkeit von Hochschulen
und Forschungsinstituten als hoch einzustufen.
Doch zum einem zeigt sich hier ein entschiedener
Reformstau, zum anderen beruht die aktuelle Leistungsfähigkeit auf in der Vergangenheit getätigten
Investitionen.
Aktuell wird zu wenig in Bildung investiert. Nicht die
Haushälter - das sagen wir auch der jetzigen Regierung
sehr deutlich -, sondern die Bildungspolitiker bestimmen über die Zukunft unserer Kinder.
Ähnliches gilt für das immer wieder aktuelle Thema
der Hochbegabtenförderung. Auch hier möchte ich Ihnen ein Zitat nicht vorenthalten:
Deutschland ist bekannt für seine solide Breitenausbildung auf hohem Niveau. Sie ist ein wesentliches Element des deutschen Innovationssystems
und muss unbedingt beibehalten werden. Demgegenüber hat die Förderung von Leistungseliten in
der öffentlichen Meinung oft noch einen negativen
Beigeschmack. Dieser muss abgebaut werden.
({2})
Ich will die Sozialdemokraten sehr deutlich daran
erinnern, wie heftig sie in der vergangenen Legislaturperiode auf die F.D.P. eingeschlagen haben, wenn das
Wort „Elitenförderung“ fiel. Ich hoffe, dass der vorliegende Bericht zu einem Bewusstseinswandel beiträgt.
({3})
Er macht aber auch deutlich, dass das Gründungspotenzial von Hochschulabsolventen in vielen Feldern
noch weitgehend brachliegt. Hier geht es nicht so sehr
um finanzielle Unterstützung, sondern um eine Entrümpelung der Genehmigungsverfahren. Eine Studie der
Deutschen Ausgleichsbank besagt deutlich, dass knapp
40 Prozent der Existenzgründer derzeit zwischen drei
und fünf behördliche Genehmigungen brauchen. Bei jedem sechsten Unternehmen wird der Betriebsstart durch
behördliche Verfahren verzögert. Hier sind wir alle gemeinsam gefordert. Das gilt selbstverständlich auch,
wenn es um glaubwürdige Bekenntnisse der Politik zur
Technikakzeptanz geht.
({4})
In diesem Zusammenhang möchte ich sehr deutlich auf
die pharmazeutische Industrie und die Gentechnik hinweisen.
Ein glaubwürdiges Bekenntnis zu innovativen Technologien haben wir eben wieder von Ihnen, Frau
Bulmahn, gehört. Aber wir finden das leider nur bei sehr
wenigen Mitgliedern Ihrer Fraktion und schon gar nicht
beim Koalitionspartner. Ich begrüße es ausdrücklich,
dass die Fördermittel für die Biotechnologie in Ihrem
Hause um 10,7 Prozent angehoben worden sind. Aber
bitte sorgen Sie auch dafür, dass diese Zukunftstechnologien die entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen erhalten und nicht immer wieder grünen
Heckenschützen zum Opfer fallen.
({5})
Ich erinnere dabei nur an die elende Freisetzungsrichtlinie oder an den gestrigen Antrag zur Biodiversität.
Ähnliches gilt für die Nukleartechnologie und
selbstverständlich auch für die Luft- und Raumfahrt.
Dort waren wir bislang Systemführer. Ich stelle fest,
dass Sie aus großen Teilen dieser Bereiche nur allzu
gerne wieder aussteigen wollen. Vielleicht erinnern Sie
sich dabei auch an die Delphi-Studie, die gerade für den
Bereich der Nukleartechnologie sehr deutlich und klar
feststellt, dass die Zukunft in dezentralen nuklearen
Wärme- und Elektrizitätserzeugungsanlagen liegt. Es ist
ein großer Fehler, aus der Forschung in diesem Bereich
so ohne weiteres und mit Schwung auszusteigen.
Auch bei der Luft- und Raumfahrt stehen immer weniger Mittel zur Verfügung. Gerade als Umweltpolitikerin lege ich Wert darauf, dass dort wesentlich mehr getan wird.
Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen.
Der Bericht ist gut, aber er könnte noch besser werden.
Es wäre hilfreich, wenn in den Folgeberichten ein stärkerer Akzent auf die Entwicklung der technologischen
Leistungsfähigkeit der neuen Länder gelegt würde. Ich
glaube, so mancher Westdeutsche würde über die beeindruckende Entwicklung der Spitzentechnologie in den
neuen Ländern mit den Ohren wackeln.
Ich danke Ihnen.
({6})
Jetzt hat der Kollege
Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die von Frau Bulmahn genannte Kernaussage des
Berichtes zur technologischen Leistungsfähigkeit teilt
die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen voll. Investitionen in Bildung und Forschung sind zentrale Elemente
staatlichen Handelns. Die rot-grüne Bundesregierung hat
sich im Gegensatz zur vorherigen diese Aussage zu Eigen gemacht.
Im Januar 1996 versuchte der damalige Forschungsmittelkürzungsminister Rüttgers die Öffentlichkeit mit
der Hiobsbotschaft zu schockieren, die technologische
Innovationsfähigkeit am Standort Deutschland sei am
Ende. Mit dieser Interpretation des damaligen Berichtes
erwies Rüttgers dem Forschungsstandort Deutschland
einen Bärendienst. Es ist inzwischen allseits anerkannt:
Wissen hat in einem Hochlohnland wie Deutschland eine maßgebliche Bedeutung für die Zukunft. Doch durch
die wiederholten Kürzungen im Etat des ehemaligen
Forschungsministers Rüttgers geriet die bundesdeutsche
Forschungslandschaft im internationalen Wettbewerb
immer mehr ins Hintertreffen und rangierte bezüglich
der Forschungsausgaben nur noch auf Platz neun der
entsprechenden OECD-Liste.
Doch dem damaligen Forschungsminister fehlten
nicht nur die Mittel, sondern auch die geeigneten Ziele.
Statt Visionen für die Zukunft zu entwickeln, beschränkte sich Rüttgers auf die technokratische Verwaltung des Mangels. Die Fraktion von Bündnis 90/Die
Grünen hat sich deshalb vor der letzten Bundestagswahl
für eine Aufstockung des Etats für Forschung und Bildung in einer Größenordnung von 2 Milliarden DM ausgesprochen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir dieses
Wahlversprechen bald umgesetzt haben werden.
Trotz der erreichten und geplanten Korrekturen mache ich mir große Sorgen um die viel zu niedrige Zahl
von Ingenieurstudenten. Die Zeit eilt, um die bildungspolitischen Verwerfungen des einstigen Zukunftsministers auszugleichen. Geld alleine wird aber nicht
genügen. Gleichzeitig muss kreativ gehandelt werden,
um die Studenten über verschiedenste Anreize wieder
für das Ingenieurstudium zu interessieren.
Es wird Sie nicht überraschen, dass Forschungsvorhaben in der Solarenergie mehr junge Leute begeistern als
in der Kernenergie. Die Mehrzahl der jungen Leute will
verantwortlich Probleme lösen, statt nur einem technokratischen Spieltrieb à la Transrapid nachzugehen.
({0})
- Es ist immer die Frage, welcher Technologie gegenüber man freundlich ist. Ich führe das noch aus.
({1})
Solange die Frage im Raum steht, welchen Sinn es
macht, eine Technologie weiterzuentwickeln und im
Zweifel sogar noch Schuld an womöglich schlimmen
Technikfolgen zu haben,
({2})
werden viele verantwortungsbewusste junge Menschen
einen anderen Weg einschlagen. Wir müssen uns ernsthaft fragen, ob die Studenten in den letzten Jahren mit
der Geringschätzung des Ingenieurstudiums gegen eine
indifferent technokratische Forschungs- und Wirtschaftspolitik gestimmt haben. Mit den richtigen Zielen
und Mitteln wird es uns gelingen, sie zurückzuholen.
Ich zweifle daran, dass der vorliegende Bericht zur
technologischen Leistungsfähigkeit, der noch von Rüttgers in Auftrag gegeben wurde, hier hilfreich sein wird.
Beim Lesen der Überschrift fällt mir schon ein grundsätzliches Defizit auf. Es wird nach dem schwammigen
Begriff der Leistungsfähigkeit gefragt. Viel wichtiger
wäre es doch, meine Damen und Herren, nach der Problemlösungsfähigkeit zu fragen. Was nützt die beste Leistung, wenn sie nicht gebraucht wird und überflüssig ist
wie Tamagotchis?
({3})
Zudem fällt auf, dass hier rein technokratisch gedacht
wird, so, als ob es keine Innovationen außerhalb der
Technologie gäbe. Nicht allein technische, sondern vor
allem auch soziale Innovationen helfen, das Beschäftigungsproblem zu lösen. Im Bericht wird somit folgerichtig beklagt, dass sich Wirtschaftswachstum und Arbeitsmarkt weitgehend entkoppelt haben. Wenn es nicht
gelingt - auch durch soziale Innovationen -, neue Arbeitsplätze zu schaffen, wird die Arbeitslosigkeit unter
globalen Gesichtspunkten noch steigen.
Bündnis 90/Die Grünen bejahen eindeutig technologische Entwicklungen und Innovationen. Technik ist
aber nicht per se gut oder schlecht für eine Gesellschaft.
({4})
Wir nehmen daher eine ablehnende Haltung gegenüber
Risikotechnologien wie der Atomkraft ein, die unbeherrschbare Probleme schaffen. Stattdessen sollte in einem gesellschaftlichen Konsensprozess ein Langfristprogramm für zukunftsfähige Technologieentwicklung aufgelegt werden. Technische Entwicklungen müssen im Hinblick auf die Verbesserung der Lebensqualität
und des Nutzens für Mensch und Gesellschaft fortlaufend überprüft werden. Wir wollen eine differenzierte
Beurteilung von Technologien und bewusste Entscheidungen für zukunftsfähige Techniklinien wie zum Beispiel schadstoffarme, sanfte Chemie oder moderne
Schienenverkehrstechnik oder Zukunftstechnologien wie
erneuerbare Energien.
Folglich ist für Bündnis 90/Die Grünen Innovation
allein nicht der Inbegriff technischer Neuerungen, sondern ein umfassender Prozess, der erstens davon ausgeht, dass sich soziale, ökonomische, institutionelle und
ökologische Innovationen wechselseitig bedingen, und
zweitens Umweltverträglichkeit und soziale Gerechtigkeit als zentrale Maßstäbe hat und zukunftsfähige
Entwicklungen in allen Politikbereichen in Gang setzt.
Wir setzen daher auf eine moderne Technologiepolitik,
die klar vorausschauend auf das Ziel der Nachhaltigkeit
ausgerichtet ist. Heute zeigen sich in der Bundesrepublik
Deutschland teilweise die typischen Probleme eines alten Industrielandes. Die Situation der Umwelt verschlechtert sich in wichtigen Teilbereichen. Die Umweltbelastungen haben zum Beispiel bei den Klimagasen im Laufe der Jahrzehnte ein derartiges Ausmaß angenommen, dass die Gefahr besteht, kritische Grenzen
zu überschreiten.
Die von der Vorgängerregierung betriebene Umweltpolitik des „end of pipe“ ist sichtbar an ihre Grenzen gestoßen. Mehr noch: Die Umweltpolitik unter CDU/CSU
und F.D.P. wurde immer mutloser. Dies geschah, obwohl die OECD zu Recht festgestellt hat, dass die Fähigkeit eines Staates zu moderner Umweltpolitik ein
wichtiger Indikator für die Wettbewerbsfähigkeit eines
Landes ist. Nur wer die Herausforderung der Nachhaltigkeit aktiv aufgreift und nach innovativen Lösungen
sucht, wird die Zukunft bewältigen können.
Umweltschutz wirkt als Modernisierungsmotor.
Lassen Sie mich aus dem Bericht zitieren, der der
heutigen Debatte zu Grunde liegt:
Auf dem Markt für Umweltschutzgüter und dienstleistungen zeigen sich deutlich die Spuren der
schwachen „Umweltkonjunktur“. Der Staat nimmt
über die Gestaltung der Rahmenbedingungen maßgeblich Einfluss auf die Qualität der Nachfrage
nach Technologien. Mit nachlassenden Innovationsanreizen gewinnen Imitatoren die Oberhand.
Deutschland sollte doch gerade in Bereichen, in denen es seine spezifischen Stärken - Kombination
neuester wissenschaftlicher und technologischer
Entwicklungen mit traditionellen Stärken - ausspielen kann, keinen Platz im Mittelfeld, sondern an der
Spitze und Technologieführerschaft anstreben. Auf
scheinbar „sicheren“ Märkten würde sonst Terrain
abgegeben. Dies bedeutet jedoch, dass Anreize für
einen Umweltschutz über den „Stand der Technik“
hinaus zu setzen sind. Die Unternehmen müssen die
Chance haben, ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und Märkte erschließen zu können.
Was sollte ich dem noch hinzufügen? Nur, dass der
Regierungswechsel höchste Eisenbahn war und dass die
zehnjährige Denkpause, die sich Herr Rühe für den
Umweltschutz genehmigen will, Deutschland von der
Weltspitze in der Umwelttechnik weit nach hinten befördern würde.
({5})
Diese Wahlkampfdrohung des Wahlkämpfers Rühe
würde laut dem vorliegenden Bericht, der ja auch auf
Rüttgers zurückgeht, herbe Rückschläge für die technologische Entwicklung in Deutschland zur Folge haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen in der Union, Sie müssen sich in Ihren Politikzielen schon einig werden.
Apropos Rüttgers:
({6})
Da fällt mir wiederum ein, dass unter diesem vergangenen Zukunftsminister in den letzten Jahren eine Mode
aufgekommen ist, die unserem Land mittel- bis langfristig schaden könnte. Diese Mode heißt industrienahe
Forschung. Je industrienäher die Forschung ist, desto
schneller wird die Umsetzung in Produkte und die
Schaffung von Arbeitsplätzen erwartet. Das ist an sich in
Ordnung. Aber ob das der richtige staatliche Schwerpunkt ist, wage ich zu bezweifeln; denn der Staat sollte
sich vor allem da engagieren, wo der Markt wichtige
Funktionen nicht erfüllen kann. Das ist nun einmal die
Vorlaufforschung und nicht die anwendungsnahe Forschung. Im anwendungsnahen Bereich hat die Industrie
ein Interesse, das oft groß genug ist, um selbst aktiv zu
werden. Die Vorlaufforschung ist häufig noch zu weit
vom Markt entfernt, als dass es sich für Unternehmen
lohnte, hier selbst aktiv zu werden.
Wenn sich aber die Förderpolitik vermehrt in Richtung Marktnähe verschiebt, heißt dies, dass wir vor allem die Ideen der Vergangenheit umsetzen. Damit laufen wir Gefahr, dass unseren anbindungsorientierten
Forschern in einigen Jahren die Ideen ausgehen werden.
Zum Abschluss komme ich zu einem weiteren wichtigen Bereich, in dem der sich selbst überlassene Markt
häufig versagt. Dies geschieht dort, wo zum Beispiel
ökologisch sinnvolle Innovationen nicht in den Markt
gelangen, weil sie in zu geringer Stückzahl nachgefragt
werden. Hohe Kosten führen zu einer niedrigen Nachfrage. Dem Staat steht eine ganze Reihe von Instrumenten zur Verfügung, um die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen. Davon haben wir einige in der Pipeline
und andere bereits angewandt. Ein wichtiges Beispiel
dafür ist die laufende Novellierung des Stromeinspeisungsgesetzes. Sie wird exakt die Lücke in der Kette
Grundlagenforschung, Anwendungsforschung, Markteinführung und Marktdurchdringung für alle erneuerbaren Energien schließen.
Das Credo liberalkonservativer Politik wie der Wirtschaftsverbände, das A und O der Innovationspolitik sei
die Deregulierung, ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich: Erst die richtigen Rahmensetzungen führen zu
den zukunftsfähigen Innovationen. Die rot-grüne Bundesregierung hat hierfür die ersten Weichen richtig gestellt. Sie legt damit die Grundlagen für eine nachhaltige
Entwicklung auch in der Technologie.
({7})
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Rolf Kutzmutz, PDS-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es vorab zu sagen: Im vorliegenden Bericht werden viele vermeintliche und tatsächliche Defizite ausführlich analysiert. Es
gibt eine Reihe von Anregungen für die politische Arbeit. Ich stimme Frau Kollegin Flach zu, dass mit diesem Bericht natürlich auch vielfältige politische Aufarbeitungen erfolgen können und müssen, um Deutschland
in der Technologieentwicklung weiter voranzubringen.
Ich glaube, diese Aufgabe eint uns.
Dass die neuen Bundesländer nur auf drei Seiten explizit vorkommen, ist für mich allerdings kein Beweis
dafür, dass sich die technologische Landschaft schon so
dem Westen angeglichen hätte, dass es eines besonderen
Ausweises nicht bedürfte.
({0})
Ob sich das mit dem zum Jahresbeginn vorgelegten
technologiepolitischen Programm ändert, bleibt abzuwarten. Darin sind aus meiner Sicht zwar die Förderschwerpunkte der letzten Haushalte zusammengefasst;
aber die kritische Auseinandersetzung mit der bisherigen
Ausrichtung der Politik ist nicht geleistet worden. In Bezug auf Reformen bei der Technologieförderung sieht
die PDS-Fraktion vier Schwerpunkte. Ich will kurz darauf eingehen:
Erstens geht es um eine strategische Neuausrichtung
der Forschungs- und Technologiepolitik des Bundes
zum Abbau und zur künftigen Vermeidung ökologischer
und gesundheitlicher Belastungen sowie zum Abbau regionaler und globaler Disparitäten. Dem wird das Programm nur in Ansätzen gerecht. Während beispielsweise
Forschungsmittel für regenerative Energien und ihre
Markteinführung nur zögerlich aufgestockt wurden,
stiegen entgegen einstiger Absichten der Bundesforschungsministerin Frau Bulmahn die Mittel für die
Weltraumforschung sogar auf mehr als 1 Milliarde DM.
Zweitens verlangt die PDS eine Umverteilung der
Forschungsmittel zwischen Bund, Ländern und Regionen sowie die Ausrichtung der Förderkriterien zugunsten einer umweltschonenden Nutzung der natürlichen
Ressourcen in Produktion und Konsumtion. Zwar orientieren die drei Technologielinien Innovation, Forschungskooperation und technologische Beratung als
Kern des technologiepolitischen Programms auf den
Mittelstand. Die Kritik aber, dass ein zu großer Teil der
Forschungs- und Entwicklungsmittel an Großkonzerne
geht, bleibt dennoch bestehen. Laut Subventionsbericht
1999 lag der Anteil der Technologie- und Innovationsförderung des Bundes für 2000 bei 1,7 Prozent, wobei
den kleinen und mittelständischen Unternehmen immer
noch der geringere Teil zufließt. Von einer Reformierung der Umverteilung von Forschungsmitteln kann daher kaum die Rede sein. Auch eine Neuausrichtung von
Förderkriterien, wie sie zum Beispiel der Bericht des
Büros für Technikfolgenabschätzung empfiehlt, scheint
sich mehr in den Überschriften von Programmen als in
der Anlage wirksamer Kriterien widerzuspiegeln.
Drittens vermisse ich im technologiepolitischen Programm einen Umbau der Forschungsförderung und eine
Neustrukturierung der Forschungseinrichtungen. Zwar
wurden den Großforschungseinrichtungen veränderte
strukturelle Entwicklungen angetragen. Aber sie
erhielten im Vergleich mit kleineren Forschungseinrichtungen weiterhin den Löwenanteil der Mittel, sogar
noch mit hohen Steigerungsraten. Die Bildung von Forschungsvereinigungen in Ostdeutschland bleibt schwierig; denn eine institutionelle Grundförderung lässt weiter
auf sich warten.
Viertens. In der letzten Wahlperiode hat die sozialdemokratische Fraktion hoch und heilig versprochen,
dass sie die Forschungs-, Innovations- und Technologiepolitik arbeits- und sozialpolitisch neu ausrichten wird.
({1})
Ihre Aktivitäten beim BAföG, also bei der langfristigen
Sicherung der Lebensverhältnisse der Auszubildenden
und Studierenden, lassen aber auch nach der gestrigen
Aktuellen Stunde daran zweifeln.
({2})
Frau Ministerin Bulmahn hat die anstehende Modernisierung des Bildungswesens angekündigt. Aber eine
substanzielle Neuausrichtung der Bildungspolitik ist
nicht in Sicht. Stattdessen fordert der Bundeswirtschaftsminister immer schärfer, dass Hochschulen ihre Mittel
noch stärker auf die spezifischen Bedürfnisse der Unternehmen ausrichten sollen. Wenn die Schlussfolgerung
daraus aber wäre, dass die Forschungsmittel für Gemeinwohlzwecke und Wissenschaften, die Orientierungswissen für die gesamte Gesellschaft, für Alltag und
Lebensqualität hervorbringen, noch weiter „eingedampft“ werden, dann wäre diese Schlussfolgerung fatal.
Im Übrigen lässt die Orientierung der Bundesregierung auf den Ausbau des Niedriglohnbereichs im
„Bündnis für Arbeit“ eher daran zweifeln, dass es um
eine seriöse Durchsetzung von Innovationen für Arbeitsplätze, um mehr kulturelle Lebensqualität oder die
Beseitigung der geschlechtsspezifischen Benachteiligungen in der Arbeitswelt geht. Die im Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit benannten Defizite in
Bezug auf Beschleunigung von Innovationen in der Bildungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungspolitik und die
„größten Probleme wegen zu geringer Investitionen“
werden durch die Bundesregierung - bisher jedenfalls nicht glaubwürdig aufgehoben.
({3})
Ein abschließender Satz, liebe Kolleginnen und Kollegen. Frau Ministerin Bulmahn hat bei der Vorstellung
des vorliegenden Berichtes gesagt: Wir werden auch in
den kommenden Jahren - im Gegensatz zur Vorgängerregierung - die Mittel für Bildung und Forschung kräftig
erhöhen. - Das ist zu begrüßen; das ist keine Frage. Allerdings muss man auch sagen, dass diese Mittel immer
unter dem Damoklesschwert von Minderausgaben und
von Haushaltssperren im Forschungs- und Bildungssowie im Wirtschaftsbereich stehen. Wir sollten ein gemeinsames Interesse daran haben, dass dieses Damoklesschwert nicht zum Fallen kommt.
Danke schön.
({4})
Jetzt hat der Kollege
Bodo Seidenthal, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion sieht sich
ebenso wie die Bundesministerin Edelgard Bulmahn
durch die Ergebnisse der Untersuchung darin bestätigt,
die eingeschlagene Bildungs-, Forschungs- und Innovationspolitik weiter zu verfolgen.
({0})
Wir teilen die grundsätzlich positive Einschätzung der
Innovationsfähigkeit Deutschlands, sehen aber auch den
hohen Bedarf an Reformen, die für eine erfolgreiche Gestaltung des Wandels zur Wissensgesellschaft erforderlich sind. Dabei ist Grundlage unseres Regierungsmandats eine abgestimmte Politik zur Schaffung von Arbeit, zur Sicherung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit im internationalen Wettbewerb, zur
nachhaltigen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft und zur Erneuerung sozialer Gerechtigkeit.
Neues Denken und neue Konzepte sind notwendig;
denn der Übergang von der Industriegesellschaft des
20. Jahrhunderts zur Informations- und Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts bedeutet einen
weit reichenden technologischen und gesellschaftlichen
Wandel. Er führt zu teilweise dramatischen Veränderungen in nahezu allen Bereichen unseres Lebens.
({1})
Wir alle wissen: Wissen erneuert und vermehrt sich
immer schneller und ist dank neuer Informations- und
Kommunikationstechnologien global verfügbar. Das alte
Prinzip lebenslanger Ausübung eines einmal gelernten
Berufes ist überholt. Neue Technologien, neue Arbeitsorganisationen und ein wachsender Dienstleistungssektor verlangen höhere und neue Qualifikationen, Flexibilität und Mobilität. Zunehmende Migration und Mobilität, europäische Einigung und Internationalisierung
setzen das Verständnis für andere Kulturen und das
Sprechen anderer Sprachen voraus. Die fortgeschrittene
Gefährdung unserer Grundlagen erfordert einen konsequenten Wechsel zu nachhaltiger Entwicklung, die wirtschaftliche, ökologische und soziale Verantwortung verbindet.
Eine Gesellschaft, die vor den globalen Herausforderungen nicht kapitulieren will, die sich den Zwängen
von außen nicht nur passiv anpassen will, sondern auch
künftig in Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit leben
und die Zukunft mit gestalten will, braucht Innovationen. Die Ministerin hat darauf hingewiesen, als sie die
Versäumnisse der alten Bundesregierung dargestellt hat
- und ich unterstreiche es wie der Kollege Fell -: Deshalb war der Regierungswechsel notwendig.
({2})
Leider ist Erich Maaß nicht mehr da. Aber wo Sie,
Frau Kollegin Flach, Ihre Weisheiten zur Luft- und
Raumfahrt hernehmen, ist mir unverständlich. Ich
möchte Sie bitten, dies so schnell wie möglich nachzuarbeiten. Es war nämlich die alte Bundesregierung, die
gerade auf diesem Sektor massiv gekürzt hat. Man kann
dieser Ministerin nicht vorwerfen, dass sie im Bereich
Luft- und Raumfahrt nichts gemacht habe. Ich erinnere
Sie nur an die ESA-Konferenz im letzten Frühjahr. Dort
hat die Frau Ministerin Ergebnisse erzielt, die nicht voraussehbar waren. Dafür möchte ich ihr heute von dieser
Stelle aus noch einmal danken.
({3})
Ihre Ausführungen zur Biotechnologie kann ich
ebenfalls nicht verstehen. Es war der jetzige Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen als Vorsitzender der
Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie“, durch den wir erst dafür sensibel geworden sind. Sie sind noch immer hörig und wollen nur
Chancen nutzen. Wir dagegen haben den Diskurs in der
Gesellschaft vernünftig vorangebracht. Wir stehen für
Chancen und Risiken.
({4})
- Frau Kollegin Flach, Sie sagen, das sei das Letzte. Ich
möchte Sie bitten, sich einmal die Statistik anzusehen,
die ich in der Hand habe. Danach stand die Bundesrepublik Deutschland in den 90er-Jahren unter den OECDStaaten an drittletzter Stelle. Ich kann nicht verstehen,
woher Sie Ihre Erfolgsbilanz nehmen.
Sie können sich auch noch eine zweite Statistik angucken.
({5})
- Ich habe keinen anderen Bericht. - Sehen Sie sich
einmal die Entwicklung der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten nach der Wissenschaftsintensität an! Auch
diese Statistik sagt etwas anderes aus.
Da Sie meinen, ich hätte einen anderen Bericht: Es
handelt sich um eine Statistik über sozialversicherungspflichtig Beschäftigte des Statistischen Bundesamtes.
Ich möchte im Folgenden auf einige wenige Kernaussagen des Berichtes näher eingehen. Dort heißt es erstens:
Bildung und Ausbildung lohnen sich doppelt. Mehr
Bildung bedeutet mehr Einkommen und mehr Beschäftigungssicherheit.
Es kann kein Zufall sein, meine sehr geehrten Damen
und Herren, dass die Länder, die in technologischer und
wirtschaftlicher Hinsicht die größten Fortschritte gemacht haben, gleichzeitig auch mehr in Bildung investiert haben. Die SPD hat am Montag der Öffentlichkeit
das Memorandum „Bildung entscheidet über unsere Zukunft. Für eine neue Bildungsinitiative“ vorgestellt, mit
der wir die Herausforderungen an die Bildungsinstitutionen und Bildungsinhalte bewältigen werden.
Bildungspolitik steht vor einer doppelten Aufgabe: Es
geht darum, das Wissen und die Kompetenzen zu vermitteln, die morgen über den gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Fortschritt entscheiden. Gleichzeitig
muss eine soziale Ausgrenzung angesichts steigender
und neuer Qualifikationsanforderungen verhindert werden.
Zweitens. Der Strukturwandel zum forschungsintensiven Sektor hin schreitet voran. Neue Arbeitsplätze
werden vor allem im Bereich der wissensintensiven
Dienstleistungen geschaffen.
Seit der Rezession 1993 haben die Industriezweige
der höherwertigen Technik und der Spitzentechnik einen besonders dynamischen Zuwachs erlebt. Diese Produktionsausweitung dürfte sich in diesem Jahr wiederholen, wenngleich der Bericht aussagt, dass das auf
niedrigerem Niveau der Fall ist. Wachstumsträger ist meine Vorredner haben es gesagt - die Kfz-Industrie,
die gleichzeitig Zulieferer aus anderen Industriezweigen
einbindet.
Laut Studie beschleunigt das Innovationsgeschehen
auch den sektoralen Strukturwandel. Unternehmen aus
den forschungsintensiven Branchen realisieren deutlich
mehr Innovationen und haben es damit leichter, am
Markt zu bestehen. Dies gilt vor allen Dingen für Firmen aus den modernen wachsenden Dienstleistungsbranchen, die eine vergleichsweise hohe Innovationsaktivität aufweisen.
Nachdenklich stimmt mich jedoch, dass trotz der vergleichsweise hohen Produktionszuwächse im forschungsintensiven Sektor die Beschäftigung dort lange
Zeit rückläufig war. Seit gut einem Jahr werden hier per
saldo neue Arbeitsplätze geschaffen. Dies ist jedoch
nicht als Trendwende zu interpretieren.
Erfreulich dagegen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
war die Beschäftigungsentwicklung bei den unternehmensnahen Dienstleistungen, während die wissensintensiven Dienstleistungen, so wie es im Bericht steht,
insgesamt durch den Beschäftigungsabbau bei Post
und Bahn zwischen 1996 und 1998 nur leicht zulegen
konnten. Deutschland hat die Chance, mit neuen Technologien neue Beschäftigungspotenziale zu erschließen.
Diese Chance gilt es nun beherzt wahrzunehmen.
Diese Entwicklungen, sehr geehrte Frau Ministerin,
sollten aus Ihrem Hause zukünftig verstärkt begleitet
werden. Ich möchte Sie deshalb bitten, ein tragfähiges
Konzept zu initiieren, das auf zirka fünf Jahre angelegt
ist und von den gesellschaftlichen Gruppen getragen
wird. Als Vorbild könnten die Aktivitäten im Rahmen
von „Arbeitsgestaltung“ und „Produktion 2000“ dienen.
Wir brauchen eine an Innovation und Beschäftigung orientierte Dienstleistungsinitiative, die die Forderungen
der Wirtschaft, des Deutschen Gewerkschaftsbundes
und der Wissenschaft aufgreift.
({6})
Dritter Punkt. Deutsche Unternehmen besitzen in Europa zwar die Technologieführerschaft; trotzdem haben
sie in den letzten Jahren verloren, und andere Länder
haben aufgeholt. Fest steht, dass bei den Patentintensitäten Deutschland inzwischen von Schweden überrundet
worden ist. Auch das ist ein Ergebnis dieser Studie. Hat
Deutschland zu Beginn der 80er-Jahre innerhalb der
OECD noch die relativ größten Ressourcen in Forschung und Entwicklung investiert, liegen inzwischen
gleich sechs Länder in ihrer FuE-Intensität vor uns. Da
sich der Bericht mit dem Jahre 1998 beschäftigt, wissen
Sie auch, wer dafür zuständig ist.
({7})
Dabei sind es gerade solche Länder, die sich in den vergangenen Jahren verstärkt den modernen Informationsund Kommunikationstechniken zugewandt haben. Sie
investieren deutlich mehr in Forschung und Entwicklung
und realisieren dadurch auch deutlich höhere Wachstumsraten. Darum bin ich froh, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dass wir nun einen Kanzler haben, der bei
Datenautobahnen nicht gleich an Fernstraßen denkt.
({8})
Traurige Realität ist aber, dass Deutschland auch
beim Anteil am Welthandel mit forschungsintensiven
Gütern innerhalb der letzten zehn Jahre rund drei Prozentpunkte eingebüßt hat. Es gilt, meine sehr verehrten
Damen und Herren, das Umfeld für Tüftler und Erfinder
weiter zu verbessern. Denn einen guten Einfall patentieren zu lassen, ist eine Sache, daran zu verdienen, die andere. Beides ist gar nicht so einfach.
Sehr geehrte Frau Ministerin, auch hier möchte ich
Sie bitten, dass wir gemeinsam, wie wir es in der Vergangenheit auch schon getan haben, über die Formalitäten hinsichtlich der Patentanmeldung, der Patenterteilung und der Schutzgebühren nachdenken und eine bessere Lösung anstreben.
({9})
Die Ergebnisse der Studie machen deutlich, dass
mehr Geld für Bildung und Forschung notwendig war,
um die technologische Leistungsfähigkeit zu sichern.
Dies hat die neue Bundesregierung mit dem Haushalt
1999 getan und sie wird es auch in den Folgejahren fortsetzen. Doch, wie die Ministerin gesagt hat, Geld ist
nicht alles. Wir brauchen auch die von ihr vorgestellten
strukturellen Reformen und einen effizienteren Mitteleinsatz. Wir müssen zugleich aber auch dafür sorgen,
dass die Marktpotenziale aussichtsreicher neuer technologischer Entwicklungen schneller und besser erschlossen werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mehr Flexibilität, mehr Wettbewerb, stärkere Leistungsorientierung, Chancengleichheit und Nachhaltigkeit
Herr Kollege,
denken Sie bitte an die Zeit.
- ich komme gleich zum
Schluss - das werden die zentralen Grundsätze der Politik der Bundesregierung unter Gerhard Schröder in den
nächsten Jahren sein. Dies gilt insbesondere für die
Handlungsfelder der Bildungs- und Forschungspolitik.
Damit sind wir auf einem richtigen Weg.
Wir haben die Trendwende eingeleitet und werden
auch in den kommenden Jahren dafür sorgen, dass der
Innovationsstandort seine Chance nutzen kann. Denn
wie heißt es so schön: Wer aufgehört hat, besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Herr Abgeordnete Joachim Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Forschung und Entwicklung bestimmen die Zukunft unseres
Landes in entscheidender Weise. Forschungspolitik hat
die Aufgabe, angemessene Rahmenbedingungen für
Forschung und Entwicklung zu setzen und in der Fürsorge für die Zukunft des Landes Leitlinien vorzugeben
und Schwerpunkte zu benennen und zu fördern, die vor
allem mittel- und langfristig Weg und Richtung auf diesen Gebieten weisen.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf welche
Forschungsfelder wir uns in Deutschland unbedingt
konzentrieren müssen, wenn wir mit den wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen der Welt
mithalten und unseren hohen Lebensstandard auch für
die Zukunft sichern wollen. Ich möchte Sie über diesbezügliche Ergebnisse informieren, die unter Anwendung
eines so genannten Zielbewertungsverfahrens entstanden
sind.
Zielbewertungsverfahren beruhen auf der Schätzung der relativen Werte von Zielen und Eigenschaften.
Ihnen liegt die subjektive Beurteilung nach bestimmten
Kriterien zugrunde. Auf diese Weise können quantitative Beziehungen festgestellt und Rangfolgen ermittelt
werden. Im vorliegenden Falle wurden sowohl wirtschaftliche Zielkriterien als auch Kriterien zur Erhaltung
der Lebensgrundlagen zur Bewertung herangezogen. Im
Einzelnen betraf dies zum Beispiel: Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen, Wirtschaftswachstum und
Produktivitätssteigerung, Erhaltung und Stärkung der
Wettbewerbsfähigkeit - das sind die wirtschaftlichen
Kriterien - sowie Gesundheit, Umweltschutz und Energiesicherung als Kriterien für die Lebensgrundlagen.
Diesen Kriterien wurden so genannte relative Wichtigkeiten zugeordnet, nach denen die einzelnen Forschungsrichtungen mit einer Werteskala von 0 bis 1 bewertet werden. Über einen einfachen mathematischen
Algorithmus erhält man dann so genannte Erwartungswerte, aus denen sich eine Rangfolge ergibt, die hier
Auskunft geben soll über die Bedeutung der entsprechenden Forschungsfelder für die wissenschaftliche und
wirtschaftliche Zukunft Deutschlands. Der Vorteil dieser
Vorgehensweise liegt vor allen Dingen darin, dass Erkenntnisse gewonnen werden, die auf einem objektivierten, wissenschaftlich unumstrittenen Verfahren aus
dem Operations Research beruhen.
Auf der Grundlage der beschriebenen Kriterien ergibt
sich folgende Rangfolge, auf die sich die deutsche Forschungspolitik besonders konzentrieren sollte. Erstens:
Informations- und Kommunikationstechnik. Hier sind
wir nicht auseinander. Zweitens: Biotechnologie und
Lebenswissenschaften. Hier gab es von Ihrer Seite, Frau
Bulmahn, in der Vergangenheit mitunter durchaus zurückhaltendere Bewertungen und Kommentare. Drittens:
Verkehrs- und Mobilitätsforschung. Viertens: Ökologie
und Umwelttechnik. Fünftens: Energieforschung. Sechstens: Materialforschung, hier vor allen Dingen die Entwicklung neuer Werkstoffe. Siebtens: Forschungen zur
Rohstoffsicherung. Das betrifft Primär- und Sekundärrohstoffe.
Die Positionen eins und zwei repräsentieren vor allem
Gebiete der Spitzentechnik, auf denen Deutschland unzweifelhaft Nachholbedarf hat.
In dieser Rangfolge tritt die Raumfahrt bewusst
nicht auf, weil ich aus forschungssystematischen Gründen die Raumfahrt in diesem Zusammenhang in erster
Linie als eine wissenschaftliche Methode auffasse und
nicht als eine eigene Querschnittswissenschaft. In all
den von mir aufgeführten Forschungsfeldern kann und
muss die Raumfahrt aber als Methode eine wichtige
Rolle spielen.
Besonders interessant sind aus meiner Sicht die Ergebnisse im Hinblick auf die Energieforschung. Denn
dabei ist herausgekommen, dass die erneuerbaren Energien, die Kernenergie und die fossilen Energieträger für
Deutschland im Großen und Ganzen gleich wichtig sind.
Das heißt nicht, dass sie auch die gleiche staatliche Förderung erfahren müssen. Im Gegenteil: Forschungen zur
Kernenergie, insbesondere Sicherheitsforschung und
Forschungen zur Bewältigung der Entsorgungsproblematik, sowie Forschungen zur optimalen Anwendung
fossiler Energieträger müssen eindeutig von den betreffenden Unternehmen betrieben werden. Die erneuerbaren Energien bedürfen weitaus stärkerer staatlicher Förderung. Aber eines ist deutlich geworden: Der von der
Koalition vor allem aus ideologischen Gründen betriebene Ausstieg aus der Kernenergie ist weder wirtschaftlich noch ökologisch, noch, wie sich gezeigt hat, forschungspolitisch begründbar und sinnvoll. Er ist einfach
falsch.
({0})
Die vorgestellten Forschungsschwerpunkte sind im
Großen und Ganzen unstrittig. Ob ein anderer bei Anwendung des von mir vorgestellten Verfahrens zu genau
derselben Rangfolge kommen muss, ist nicht so wichtig.
Entscheidend ist, welchen Forschungsfeldern aus Verantwortung für die Zukunft unseres Landes unsere ungeteilte forschungspolitische Aufmerksamkeit gelten
muss. Zu dieser Diskussion sollte angeregt werden.
Die Ergebnisse sind prinzipieller Natur. Sie sollten
sowohl für den öffentlich geförderten wie für den privatwirtschaftlich betriebenen Forschungssektor gelten.
Wenn wir auf diesen Gebieten Spitzenstellungen behalten oder erwerben wollen, dann ist es aber unbedingt
notwendig, dass Wissenschaft und Wirtschaft stärker
miteinander kooperieren, als es bisher der Fall ist. In der
Verbesserung dieser Kooperation liegen unsere eigentlichen Reserven, wobei aufseiten der Wirtschaft vor allem
die kleinen und mittelständischen Unternehmen unbedingt eine weitaus größere Berücksichtigung finden
müssen.
Es ist unsere forschungspolitische Aufgabe, diese
Kooperation ständig anzumahnen, anzuregen und auch
materiell zu fördern. Aber damit allein ist es nicht getan.
Die Politik kann, wie im Jahresbericht 1998 ausgeführt,
Zeichen setzen, die in der Wirtschaft und Wissenschaft angenommen werden und das öffentliche
Meinungsbild prägen.
Forschung und Bildung müssen einen erheblich größeren gesellschaftspolitischen Stellenwert erhalten. In
Deutschland muss ein Klima entstehen, in dem Neuerungen auch und vor allem nach ihren Chancen und
nicht nur nach ihren Risiken beurteilt werden.
({1})
Damit rede ich nicht einer unkritischen Technikgläubigkeit das Wort. Aber es gilt ohne alle Abstriche:
Unsere internationale Stellung und Autorität auf allen
Forschungsgebieten hängt vor allem davon ab, welche
Rolle Forschung und Entwicklung im eigenen Land im
gesamtgesellschaftlichen Leben spielen. Wir brauchen
eine offene und bejahende Atmosphäre für Forschung
und Entwicklung. Eine häufig beobachtete defensive
und ständig einseitig Gefahren heraufbeschwörende
Stimmung hilft uns nicht. Ich glaube, dass die neuen
Bundesländer in dieser Hinsicht den alten voraus sind,
und ich habe dies nicht zu beklagen.
Deshalb lassen Sie mich zum Schluss noch einige
Bemerkungen im Rahmen unseres heutigen Themas zur
Situation im Osten machen.
Zuerst stelle ich fest, dass die neuen Bundesländer
im Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit
Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({2})
Deutschlands 1998 bedauerlicherweise unter der Rubrik
„Sonderbetrachtungen“ am Ende relativ oberflächlich
abgehandelt werden. Dass die neuen Bundesländer in
der Stellungnahme der neuen Bundesregierung zum genannten Bericht nicht mit einem Wort erwähnt werden,
ist allerdings schlechthin schlimm.
({3})
Sieht so die Chefsache Ost aus? Der Osten braucht nicht
populistische Ankündigungen, sondern eine ernst zu
nehmende, an der Realität orientierte glaubwürdige Beschäftigung mit seinen Problemen und mit seiner Zukunft.
({4})
Da die Regierung dies im vorliegenden Fall versäumt
hat oder nicht für nötig hielt, will ich es jetzt abschließend kurz nachholen.
({5})
Die grundsätzlichen Ausführungen zu den Forschungsschwerpunkten gelten selbstverständlich für Ost
und West in Deutschland in gleicher Weise.
({6})
Die neuen Bundesländer haben aber einige wichtige
spezifische Probleme. Da ist zuerst die erhebliche Verstärkung der Kooperation zwischen der kleinen und
mittelständischen Wirtschaft und der übrigen Forschungslandschaft zu nennen, um zum einen den eigenen Wertschöpfungsbeitrag dieser Forschungslandschaft
zu erhöhen und zum anderen die Wettbewerbschancen
der kleinen und mittelständischen Betriebe auf nationalen und internationalen Märkten zu verbessern. Von der
Bereitschaft zu dieser Kooperation sollte auch die entsprechende staatliche Förderung abhängen. Dazu gehört
auch eine weitere intensive Förderung von technologieorientierten Existenzgründungen unter besonderer Berücksichtigung des Dienstleistungssektors.
({7})
Wir brauchen schließlich weiterhin die gezielte Unterstützung der externen Industrieforschung, des
wichtigsten Zweiges der wirtschaftsnahen Forschung in
den neuen Bundesländern. Der Anteil der Industrieforschung an der Forschungsförderung, insbesondere an der
neu bereitgestellten Forschungsmilliarde, muss erhöht
werden, wobei eine stärkere Koppelung der öffentlichen
FuE-Fördermittel an die produktiven Bereiche der Industrie notwendig ist.
Generell gilt, dass in den neuen Bundesländern Kontinuität in der Forschungsförderung besonders dringend
erforderlich ist, um den Forschungseinrichtungen und
der Wirtschaft Planungssicherheit zu geben. Es besteht
für uns kein Zweifel, dass es auch nach Auslaufen des
derzeitigen Solidarpaktes nach dem Jahre 2004 eine
weitere Unterstützung und Förderung der ostdeutschen
Forschungslandschaft geben muss.
({8})
Dabei ist zu beachten, dass die neuen Strukturen der
ostdeutschen Industrieforschung keine Sondererscheinung, sondern ein neues, zukunftsträchtiges Modell der
Forschungslandschaft in Deutschland darstellen. Sie
müssen als gleichberechtigter Teil der Industrieforschung für ganz Deutschland anerkannt und akzeptiert
werden.
Über die Modalitäten ab 2004 muss in dieser Legislaturperiode entschieden werden. Auf jeden Fall sollten
nach diesem Zeitpunkt die Fördermaßnahmen für die
ostdeutsche Industrieforschung gebündelt werden. Wir
werden diese Thematik in Abstimmung mit unseren
Ländern noch in diesem Jahr auf die Tagesordnung setzen. Denn für uns gilt nach wie vor, dass die Erhaltung
und die Entwicklung der Forschungslandschaft in den
neuen Bundesländern auch für die Zukunft eine zentrale
Aufgabe deutscher Forschungspolitik bleiben muss.
({9})
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe
damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Bericht
der Bundesregierung zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 1998. Der Ausschuss empfiehlt,
den Bericht auf Drucksache 14/438 zur Kenntnis zu
nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses einhellig angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Christine Ostrowski, Dr. Christa Luft,
Gerhard Jüttemann, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Altschuldenhilfe-Gesetzes
({0})
- Drucksache 14/568 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({2})
- Drucksache 14/2317 Berichterstattung:
Abgeordneter: Norbert Otto ({3})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({4})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Kein Widerspruch? - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Christine Ostrowski.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Wohnungspolitik zeigen
sich die Folgen politischer Weichenstellungen erst Jahre
später. Sind die einmal vorgenommenen Weichenstellungen falsch und kommt es zu negativen Folgen, dann
sind diese nur schwer oder kaum rückgängig zu machen.
Das Altschuldenhilfe-Gesetz ist ein Musterbeispiel
falscher politischer Weichenstellungen.
({0})
Voraus ging die politische Entscheidung, Schulden der
Planwirtschaft zu Schulden der Marktwirtschaft zu machen. Aus virtuellen wurde reelle Schulden. Das Gesetz
wurde in totaler Verkennung der realen Lage beschlossen, zum Beispiel unter der Illusion, dass alle Mieter ihre Wohnung kaufen würden und kaufen könnten, unter
einer Falscheinschätzung der Bevölkerungsbewegungen,
obwohl schon damals klar war, dass die Industriezentren
und Arbeitsplätze nicht zu halten sind, dass die Bevölkerung der Arbeit hinterherwandern wird und dass ein
dauerhafter Wohnungsleerstand entstehen wird, sowie
unter der Falscheinschätzung der Entwicklung der Restitutionen und anderer Dinge.
Ich muss feststellen: Die Einzigen, die die Lage auf
den Punkt real betrachtet haben, waren wir in unserer
Fraktion.
({1})
- Herr Dr. Kansy, hätten Sie damals auf uns gehört und
wären Sie unseren Argumenten gefolgt, stünden Sie
heute nicht vor diesem Scherbenhaufen.
({2})
Es ist ja so: Weil ein undurchdachtes Gesetz beschlossen worden ist, stehen wir heute vor einem Scherbenhaufen. Ihr Ziel, 100 Prozent aller zwangszuprivatisierenden Wohnungen an Mieter zu veräußern, ist eben
nicht erreicht worden. Nur ein Drittel der Wohnungen
wurde von Mietern gekauft. Zwei Drittel gingen an Zwischenerwerber, die diese Wohnungen zu Dumpingpreisen erworben haben, die sich durch Steuergeschenke
eine goldene Nase verdienen konnten - ich denke an die
daraus folgenden Mindereinnahmen des Bundes: zweistellige Milliardenbeträge jedes Jahr - und die im Übrigen bis heute die 40 Prozent des Bestandes, den sie erworben haben, nicht an Mieter weiterveräußert haben.
Darüber schweigen alle.
Teure Steuergeschenke wurden auch an solche Zwischenerwerber gemacht, die unseriös sind, allen voran
Aubis, die von zwei CDU-Politikern gegründet wurde
und zu Katastrophen in Cottbus, Görlitz, Leipzig, Zittau
usw. führte. Zu den Scherbenhaufen zählt auch die akute
finanzielle Notlage von Wohnungsunternehmen, insbesondere kleineren in strukturschwachen Regionen, ebenfalls wegen des Altschuldenhilfe-Gesetzes mit seinen finanziellen Belastungen.
Fazit ist: Nichts, aber auch gar nichts vom eigentlichen Ziel ist am Ende erreicht worden. Da hilft es auch
nicht, das Loblied von der Entwicklung der Investitionsfähigkeit durch dieses Gesetz zu singen. Meine Damen
und Herren, hätte die Politik uns damals die Schulden
gestrichen, wären ostdeutsche Wohnungsunternehmen
ohne Schulden in die deutsche Einheit gegangen. Das
hätte ihre Investitionsfähigkeit gestärkt!
({3})
Die Forderungen nach einem Schlussstrich sind unüberhörbar geworden - zu Recht. Die Frage ist, was man
unter einem Schlussstrich versteht. Manche verstehen
darunter, den Termin einfach vorzuziehen, aber alle
Sanktionen bleiben erhalten. Wir nicht! Wir sagen bei
einem Schlussstrich: wenn schon, denn schon. Dann
wollen wir das Gesetz aufheben. Aufheben heißt nun
wiederum, dass man dann schon der Logik des Gesetzes
folgen muss. Die Logik hieß: Anerkenntnisse der Schulden, Kreditverträge schließen, und erst dann erfolgen die
Teilentlastung und die Zwangsprivatisierung.
Also beantragen wir Aufhebung der Schuldanerkenntnisse und der Kreditverträge. Sie werden unwirksam, weitere Verpflichtungen zur Kredittilgung und
Zinszahlung entfallen, und die abgeführten Erlöse werden in die Unternehmen zurückgeführt.
Ich kenne Ihre Argument schon, Herr Danckert; ich
denke, Sie werden mir nachher sagen, wenn wir das
durchführen würden, würden natürlich dem Bund Milliarden an Schulden erwachsen. Das ist völlig klar. Aber
meine Damen und Herren von der CDU/CSU, das ist
eben die Konsequenz aus einem undurchdachten Gesetz.
Wer ein Gesetz macht und nicht gleichzeitig auch die
Variante seines Scheiterns mitbedenkt, wer sich nicht
bemüht, grundsätzlich möglichst nur solche Gesetze zu
machen, die nach menschlichem Ermessen im Leben
nicht scheitern, der handelt als Politiker unverantwortlich,
({4})
und der muss sich auch mit den Folgen auseinander setzen und kann sie auf gar keinen Fall jenen anlasten, die
sie klar benennen, wie wir zum Beispiel. Er darf sie auf
gar keinen Fall jenen, wie den Wohnungsunternehmen,
die darunter zu leiden haben, anlasten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein
Wort zu der Verteilung der Rollen sagen. Die CDU/CSU
hat sich fünf Jahre lang mit Händen und Füßen gegen
eine wirkliche und grundsätzliche Novelle zum Altschuldenhilfe-Gesetz gewehrt. Sie haben das Gesetz so
hochgelobt, bis zuletzt, und erst jetzt, wo Sie in der Opposition sind, kommen Sie plötzlich mit einem Antrag
zu einer Novelle. Die SPD hat fünf Jahre lang das Gesetz kritisiert, dass es nur so raucht. Sie würden heute
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
noch rote Ohren kriegen, wenn ich Ihnen Ihre Originalsätze vorlesen würde, aber Sie haben es bis heute
nicht fertig gebracht, eine Novelle auf den Tisch zu legen. Dazu muss ich zum Abschluss wiederum sagen: Es
tut mir wirklich Leid, aber die einzigen, die konsequent
bei ihrer Position geblieben sind und die unermüdlich,
seit das Altschuldenhilfe-Gesetz existiert, an diesem Gesetz gearbeitet haben und Vorschläge gemacht haben,
das sind wir.
Da wir schon wissen, dass Sie diesen Antrag ablehnen werden - wir wissen das ja, denn wir sind ja bei allen Visionen auch Realisten -, haben wir schon einen
Zweiten, der das Altschuldenhilfe-Gesetz in weiteren
Teilpunkten ändern wird.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Danckert.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Frau Ostrowski, Sie haben völlig
Recht: In meiner Erwiderung muss ich deutlich machen,
dass der Scherbenhaufen, über den Sie hier geredet haben, auch sehr viel mit dem zu tun hat, was in der Vergangenheit, vor allem der Vorvergangenheit der DDRGeschichte, durch Sie mitverantwortet worden ist. Das
ist gar keine Frage.
({0})
Bei dieser Ausgangslage kann man sich natürlich Gedanken darüber machen, wie man alles handhabt, wie
man mit einem Federstrich alle Schulden streicht und
dann von vorne anfängt. Aber die Situation ist leider eine andere.
Hier, in diesem Hohen Hause, das heißt in Bonn, ist
darüber beraten worden, wie man das Problem insgesamt löst. Ich muss sagen, ich bin schon sehr verwundert, wenn Sie an dieser Stelle ignorieren, dass noch am
22. Dezember 1999 das Bundesverfassungsgericht seine
Rechtsauffassung zu diesen Verträgen mitgeteilt hat, indem es in einem Nichtannahmebeschluss eine Verfassungsbeschwerde einer Berliner Wohnungsbaugenossenschaft zurückgewiesen hat. Man kann dazu unterschiedlicher Meinung sein, und ich will gar nicht verhehlen, dass ich das auch nicht als das Gelbe vom Ei ansehe, aber wir stehen ja nun einmal auf dem Boden eines
Rechtsstaates und müssen zur Kenntnis nehmen, was
dieses Parlament beschließt und was das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen zu dieser Problematik gesagt hat.
Das ist die Ausgangslage.
Nun sagen Sie: Wir haben das immer gesagt; wir
wollten immer, dass es zu einer sozusagen generell anderen Regelung kommt. Sie schlagen heute eine solche
vor. Das ist, vorsichtig formuliert, ein „Geniestreich“,
den Sie hier versuchen.
({1})
- Es ist aber kein Geniestreich in der Weise, wie Sie es
meinen. Ich sehe es ganz anders.
Wenn Sie in Ihrem Gesetzentwurf davon sprechen,
dass die Schuldanerkenntnisse und die Kreditverträge
aufgehoben werden sollen, gewissermaßen auf Null geführt werden sollen, beinhaltet das eine verfassungsrechtliche Problematik, die Sie offensichtlich überhaupt
nicht bedacht haben. Wenn Sie weiter fordern, dass ein
Verzicht auf Kredittilgung und Zinszahlung erfolgen
solle, dann bedeutet das nicht nur den Eingriff in Tausende von bestehenden Verträgen, mit all den sich daraus ergebenden Konsequenzen, sondern auch - das haben Sie selber angedeutet - ein Volumen zwischen 25
und 27 Milliarden DM, was von der öffentlichen Hand,
sozusagen über unseren Haushalt, geregelt werden
müsste. Es sind ganz naive Wunschvorstellungen, die
Sie umsetzen wollen. Damit kann man höchstens ein
nicht informiertes Publikum erfreuen und behaupten:
Wir haben etwas für euch getan. Die Realität sieht doch
ganz anders aus. Mit Ihrem Entwurf können Sie überhaut nichts anfangen.
({2})
Nun sage ich Ihnen: Wir sehen natürlich auch die
Notwendigkeit, dass hier etwas getan werden muss. Ich
bin sehr dankbar, dass der zuständige Bundesminister
heute in einer Pressemeldung mitgeteilt hat, dass die
Novelle auf den Weg gebracht worden ist. Es kommt
nun zu einer Abstimmung mit den Ländern und den
Verbänden sowie zu einer Diskussion in diesem Hause.
Ich denke, dass dies im März der Fall sein wird, sodass
wir dann eine Basis haben werden, auf der wir wirklich
sachgerecht argumentieren können.
Ich sage an dieser Stelle auch meine persönliche
Meinung: Ich denke, dass es notwendig wird, in einer
solchen Novelle einen vorgezogenen Schlussbescheid
zum 31. Dezember zu erreichen. Ich sehe aber schon
jetzt die Probleme, die auftauchen werden: Die Frage
des Vertreten-Müssens oder Nicht-vertreten-Müssens
wird eine endlose Debatte auslösen. Ich behalte mir
einmal vor, dass wir in unseren Gremien auch darüber
noch reden werden; denn es kann meines Erachtens
nicht sinnvoll sein, dass wir den Schlussbescheid vorziehen und dann eine Debatte darüber anfangen, was sozusagen an Privatisierungsmöglichkeiten gegeben war.
Darüber werden wir uns verständigen müssen. Ich denke, hier muss Klarheit geschaffen werden.
Ich meine auch, dass sich die anstehenden negativen
Restitutionsverfahren nicht noch weiter auf die Privatisierungspflicht auswirken dürfen. Auch hier muss ein
Schlussstrich gezogen werden. Ob das ohne weiteres
gelingt, da verschiedene Interessen mitwirken, werden
wir sehen. Ich persönlich will mich dafür einsetzen, weil
ich wie Sie die Lage vor Ort kenne und weiß, wie desolat die Situation ist. Wir haben in einigen Städten einen
Bevölkerungsrückgang von bis zu 20 Prozent. Wir haben eine hohe Arbeitslosigkeit von mehr als 20 Prozent.
Wir haben - ein Beispiel - in einer Wohnungsbaugenossenschaft in Luckenwalde, der Kreisstadt in meinem
Wahlkreis, einen Leerstand von 36 Prozent.
Dass dies fatale und katastrophale Situationen sind,
die Auswirkungen auf die Betriebs- und sonstigen Finanzierungskosten haben, ist keine Frage. Hier muss etwas getan werden. Wir müssen sehen, dass wir die Situation in den Griff bekommen; denn sie hat unmittelbare Auswirkungen nicht nur auf den Wohnungsmarkt,
sondern auch auf den Arbeitsmarkt. Diese Regierung hat
sich das Ziel gesteckt, auch an dieser Stelle deutliche
Zeichen zu setzen. Es ist in meinen Augen ein Teilaspekt des Aufbaus Ost - Herr Staatssekretär, ich sage
das ganz offen -, dieses Problem mit zu lösen. Es darf
aber nicht so gelöst werden, dass wir sozusagen ganz
von vorne anfangen, sondern wir müssen sachgerecht
und behutsam an den Stellen arbeiten, an denen es dieses Altschuldenhilfe-Gesetz im Rahmen einer Novellierung möglich macht.
Ich denke, ich habe meine Redezeit eingehalten. Frau
Christine Lucyga wird das ergänzen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Dafür sind wir
gerade am Freitagmittag besonders dankbar.
Jetzt hat der Kollege Kansy das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau
Kollegin Ostrowski, Ihre Schlussbemerkung war sehr
schön. In Wirklichkeit aber haben Sie seitens der PDS
Ihren Gesetzentwurf nicht ernst genommen, sonst hätten
Sie nicht drei Monate später einen Änderungsantrag eingebracht, der statt dieser Luftnummer wenigstens im Bereich des Diskutierbaren gewesen ist. Stattdessen diskutieren wir heute diesen lächerlichen Entwurf.
Dieser Entwurf schlägt vor - das wurde gerade gesagt -, die Existenz von Altschulden ex tunc abzuschaffen, damit das Altschuldenhilfe-Gesetz quasi aufzuheben und von Unternehmen bereits getätigte Zahlungen
zurückzuerstatten. Die Kosten, die die PDS fälschlicherweise mit 1,2 Milliarden DM beziffert, sind auch
eine solche Luftnummer. Was verschwiegen wird - von
Ihnen sowieso -, ist, dass rund 30 Milliarden DM an
Schulden bereits vorab gestrichen wurden, dass die Kreditwirtschaft aber noch immer auf rund 25 Milliarden
DM Schulden sitzen bliebe, die von der Wohnungswirtschaft bereits anerkannt wurden, und auf den darauf zu
zahlenden Zinsen.
Dennoch bin ich sehr dankbar, dass wir - wenn auch
am Freitagmittag - über das Thema „Altschulden“
sprechen; denn dieses Thema hat tatsächlich allerhöchste Priorität. Warum? Der Deutsche Bundestag hat 1996
das Altschuldenhilfe-Gesetz geändert und hat - daran
werden Sie sich alle erinnern - die so genannte Abflachung der Erlösabführungsstaffel vorgenommen, was
die Fortsetzung der Mieterprivatisierung ermöglicht hat.
Diese ist zugegebenermaßen in einem wesentlich geringeren Umfang bei dem tatsächlichen Mieter angekommen als bei dem Zwischenerwerber. Die Wohnungswirtschaft wurde aber um die Hälfte ihrer Altschulden entlastet, die Eigentumsquote wurde sichtbar gesteigert, von
den 340 000 Wohnungen, die privatisiert werden sollten,
waren bereits 1998 mehr als zwei Drittel veräußert.
In den letzten Jahren hat sich dramatisch etwas geändert; die positive Bilanz darf uns - bei allen Schwächen - den Blick dafür nicht verstellen: Die zögerliche
Wirtschaftsentwicklung, erhebliche Neubautätigkeit und
ein spürbarer Bevölkerungsrückgang haben dazu geführt, dass manche Wohnungsunternehmen, und zwar
insbesondere in strukturschwachen Regionen, einen erheblichen Wohnungsleerstand zu verzeichnen haben;
er ist eben zu Recht angesprochen worden. Ich möchte
die Zahlen nicht wiederholen; sie sind zwar unterschiedlich, liegen aber in derselben Dimension. In derselben Dimension liegen ebenfalls die Mietverluste, die
den Unternehmen durch diese Situation entstehen. Viele
der Unternehmen haben deswegen, völlig anders als vor
sechs Jahren absehbar, große Schwierigkeiten, auf der
einen Seite ihre Altschulden zu bedienen ohne auf der
anderen Seite auf dringend notwendige Investitions- und
Modernisierungsmaßnahmen zu verzichten.
Die Hauptstoßrichtung muss sein, nicht die alten
Grundsatzdebatten zu führen, sondern den Unternehmen
mit einem hohen strukturellen Leerstand sowie mit besonderen Belastungen, zum Beispiel aus negativen Restitutionsfällen, dadurch zu helfen - da brauchen wir uns
nichts vorzumachen -, dass ihnen eine weitere Teilentlastung von den Altschulden gewährt wird. Sonst funktioniert das nicht.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat im Übrigen
im letzten Jahr einen Antrag im Deutschen Bundestag
eingebracht, der eine schnelle Novellierung des Altschuldenhilfe-Gesetzes fordert. Ich darf kurz einmal
daran erinnern, was die Eckpunkte sind: Vorziehen des
Schlusstermins für die Erfüllung der Privatisierungsauflage auf den 31. Dezember 2000, Einführung einer Freikaufsregelung für Unternehmen, die ihre Privatisierungsverpflichtung in von ihnen zu vertretender Art und
Weise zum Stichtag am 31. Dezember 2000 nicht erfüllt
haben, und - jetzt komme ich wieder darauf zurück weitere Teilentlastung für Wohnungsunternehmen mit
großen, strukturell bedingten Problemen.
Wie viele unserer Kollegen, die sich insbesondere der
Wohnungspolitik nicht nur in Ost-, sondern auch in
Westdeutschland verpflichtet fühlen, habe ich in den
letzten Monaten in vielen Wohnungsbaugesellschaften
und -genossenschaften in den neuen Ländern mit den
Betroffenen vor Ort gesprochen. Das ist - bei allem Respekt vor den Verbänden - manchmal eindrucksvoller,
als „nur“ mit den Verbänden zu sprechen. Man erkennt
die Situation vor Ort, spürt den massiven Druck und erkennt die Notwendigkeit, eineinviertel Jahre nach der
Ankündigung durch die Koalitionsfraktionen schnell etwas zu machen.
Nehmen wir zum Beispiel die Dessauer Wohnungsgesellschaft. Sie besitzt rund 16 000 Wohnungen. Davon sind 2 500 restitutionsbehaftet. Noch vor wenigen
Jahren ist man davon ausgegangen, dass mehr als
90 Prozent der Restitutionsfälle positiv, also zugunsten
des früheren Eigentümers, entschieden werden und die
Wohnung im Normalfall auch zurückgenommen wird.
Dies hat sich innerhalb weniger Jahre völlig verändert.
Zwar werden „Sahnestücke“ nach wie vor privat zurückgenommen, aber ein ganz großer Teil der Wohnungen verbleibt plötzlich bei den Wohnungsgesellschaften.
Wenn wie in Dessau nur noch 3 Prozent der Restitutionsfälle positiv entschieden werden, dann kommen dadurch automatisch neue Millionenforderungen auf die
Gesellschaft zu, obwohl sie in den vergangenen Jahren
bereits Millionen gesetzestreu abgeführt hat.
({0})
Die Ungewissheit - deswegen gibt es die Diskussion
um das Vorziehen des Gesetzes - erfordert noch zusätzliche Rückstellungen. Wenn die Unternehmen diese
nicht vornehmen, dann fordert spätestens der Wirtschaftsprüfer solche Rückstellungen von ihnen ein. Diese Situation führt im Fall Dessau dazu, dass das beabsichtigte Investitionsvolumen von rund 40 Millionen
DM für dieses Jahr auf 20 Millionen DM sinkt. Der Rest
der Mittel wird für die Rückstellungen oder für Negativrestitutionen benötigt.
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir schon in der
letzten Legislaturperiode Hilfsstrategien diskutiert und
über den Lenkungsausschuss bzw. die Kreditanstalt für
Wiederaufbau teilweise realisiert haben, allerdings - wie
jeder weiß - unterhalb der gesetzlichen Ebene. In der
letzten Legislaturperiode gab es eine weitestgehend
einmütige Empfehlung des Fachausschusses, des damaligen Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und
Städtebau.
Es ist zu begrüßen, Herr Staatssekretär Großmann,
dass auch die neue Bundesregierung eine flexible Vorgehensweise unterstützt hat und im März 1999 Beschlüsse über weitere Erleichterungen für Wohnungsunternehmen im Lenkungsausschuss herbeigeführt hat.
Dennoch erscheint nunmehr eine schnelle Weiterentwicklung des Altschuldenhilfe-Gesetzes unumgänglich.
Seit mehr als einem Jahr wird diskutiert, versprochen
und werden Lösungen zwischen Bund und Ländern gesucht. Es gibt Koalitionsankündigungen und Regierungserklärungen zu diesem Thema. Ich bin dankbar,
dass die Bundesregierung offensichtlich jetzt bereit ist auch wenn es fast eineinhalb Jahre gedauert hat - zu
handeln. Es ist auch allerhöchste Zeit.
Eine wesentliche Verbesserung der Planungs- und
Rechtssicherheit für die Unternehmen - auf den ersten
Punkt unseres Antrags hatte ich schon verwiesen - kann
durch ein Vorziehen des derzeit durch das AHG auf den
31. Dezember 2003 festgelegten Schlusstermins erreicht werden. Die Wohnungsunternehmen - auch hier
stimme ich Ihnen, Herr Kollege Danckert, zu - benötigen schnellstmöglich entweder die Bestätigung der Erfüllung ihrer Privatisierungspflicht oder die Anerkennung des Nicht-Vertreten-Müssens. Dies wird zugegebenermaßen noch manche Detaildiskussion erfordern.
Als jemand, der viele Jahre wohnungsbaupolitischer
Sprecher einer Regierungsfraktion war, weiß ich, dass
das Herzblut der Wohnungs- und Baupolitiker und des
Bauministers nicht in jedem Fall ausreicht, um das des
Finanzministers und der Haushaltspolitiker in diesem
Hause in Wallung zu versetzen.
({1})
- Ich würde mich freuen, wenn es so wäre, Frau Kollegin.
({2})
- Ich möchte Ihren Zwischenruf als Zwischenfrage
werten, Frau Präsidentin. Wir können darüber gerne diskutieren. Wenn Sie das Wohngeld meinen, muss ich Sie
darauf hinweisen, dass Sie nicht ohne die Zustimmung
des Bundesrats und des Vermittlungsausschusses geschafft hätten. Sonst hätten Sie zwar 1,4 Milliarden DM
mehr Wohngeld kassiert. Aber zwischendurch hätten Sie
bei den Gemeinden 2,5 Milliarden DM abkassiert.
Die Wohnungsunternehmen benötigen also schnellstmöglich entweder die Bestätigung oder die Anerkennung des Nicht-Vertreten-Müssens. Wir sind der Auffassung, dass auch Unternehmen, die ihre Privatisierungspflicht nicht erfüllt haben, der Hilfe bedürfen.
Ihnen sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, sich
durch eine Zahlung an den Erblastentilgungsfonds in der
Höhe der gesetzlich geregelten Erlösabführung bei Erfüllung der Privatisierungsauflage von der Privatisierungsverpflichtung freizukaufen, um der Rückzahlung
des gewährten Teilentlastungsbetrages zu entgehen.
Ich wiederhole: Es muss insbesondere Unternehmen
in Gebieten mit hohem strukturellem Leerstand sowie
besonderen Belastungen durch negative Restitutionsfälle
schnell und wirksam dadurch geholfen werden, dass ihnen eine weitere Teilentlastung für die Altschulden gewährt wird. Dies ist die im Antrag der CDU/CSUBundestagsfraktion formulierte Position. Sie ist seriös
und machbar - im Gegensatz zu der finanzpolitisch
nicht zu verantwortenden Forderung der PDS nach Ziehung eines Schlussstrichs unter das AltschuldenhilfeGesetz.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Kollegin Ostrowski, ich halte es für
verwirrend, dass Sie am 17. März 1999 einen Gesetzentwurf eingebracht haben, um dann am 9. Juni 1999,
also noch nicht einmal ein Vierteljahr später, einen Änderungsantrag zum Altschuldenhilfe-Gesetz vorzulegen.
Ich erwarte von Ihnen schon, dass Sie Ihre eigenen Anträge so ernst nehmen, dass sich letztlich nicht herausstellt, dass es Schaufensteranträge sind, die nur für die
öffentliche Meinung und für Ihre Wähler gedacht sind.
Anträge sollten hier ernsthaft erörtert werden.
Alle meine Vorredner haben schon mehr oder weniger deutlich dargestellt und wir haben es bereits im Ausschuss diskutiert: Der Gesetzentwurf ist in dieser Form
einfach nicht diskutabel und nicht verhandelbar, zum einen weil er eine im Jahre 2000 wirklich nicht mehr
machbare Rückabwicklung erfordert und zum anderen
weil wir das ganze Kreditvolumen, das dahinter steckt,
nicht aufbringen können. Von daher tut es mir Leid.
Dies zu sagen ist mir deswegen besonders wichtig,
weil ich die Politik, die Sie so gerne pflegen, nämlich
Teilen der Bevölkerung im Osten immer wieder das Gefühl zu geben, man könnte sie vor den Realitäten, die
sich in den letzten zehn Jahren entwickelt haben, abschirmen, für politisch äußerst fragwürdig halte. Ich
werbe bei Ihnen ernsthaft dafür, das nicht weiter zum
politischen Prinzip zu erheben. Sie und Ihre Wähler
sollten sich mit den Realitäten auseinander setzen.
({0})
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage der Kollegin Ostrowski?
Lassen Sie mich noch kurz den Gedanken
zu Ende bringen. Danach würde ich sie gerne beantworten.
Wir selbst haben uns Anfang und Mitte der 90erJahre sehr wohl mit Vehemenz gegen das Altschuldenhilfe-Gesetz engagiert. Dazu stehe ich. Aber bereits in
der letzten Legislaturperiode waren wir in einer Situation, in der eine Rückabwicklung nicht mehr möglich
war. Das gilt heute umso mehr.
Bitte schön.
Frau Kollegin
Eichstädt-Bohlig, Sie haben uns fehlenden Realismus
vorgeworfen. Können Sie sich vielleicht erinnern, dass
es hier bei Einbringung unseres Gesetzentwurfes eine
Debatte gab, in der alle Fraktionen - Sie, Herr Dr. Kansy und andere; Sie können es im Protokoll nachlesen einheitlich gesagt haben, sie würden den Gesetzentwurf
gar nicht weiterverfolgen und sie würden ihn ablehnen?
({0})
Das heißt, wir wussten schon bei der Einbringung, wie
Sie sich verhalten werden. Können Sie sich daran erinnern?
Ich kann mich sehr wohl daran erinnern.
Die Frage ist nur, welche Konsequenzen Sie daraus
nicht gezogen haben. Insofern bleibte ich bei der Bitte,
die ich schon eben ausgesprochen habe: Stoßen Sie mit
Anträgen und Gesetzentwürfen in einen realistischen
politischen Raum! Dass das für Ihren Gesetzentwurf
vom 17. März 1999 nicht galt, haben Sie gewusst. Wir
haben auch in der letzten Legislaturperiode mit Ihrem
Vorgänger - nicht mit Ihnen persönlich - intensiv darum
gerungen. Von daher bleibt es bei meiner Aussage.
Ich möchte gerne etwas zu dem sagen, was in der
Praxis stattfindet. Ich möchte ein bisschen in Richtung
der Argumentationen des Kollegen Kansy und Ihres
Antrags gehen. Zum einen muss ich ganz deutlich sagen:
Herr Kansy, dass die Erkenntnis, wir hätten beim Altschuldenhilfe-Gesetz Änderungsbedarf, 1999 bei Ihnen
gewachsen ist, finde ich sehr gut. Wenn ich daran denke,
welch intensive Diskussionen wir zwischen 1994 und
1998 hatten, dann wünsche ich mir, Sie hätten daraus
eher Lehren gezogen.
({0})
Alle anderen Fraktionen haben intensiv um das Ganze
gerungen. Ich erinnere mich noch an die denkwürdige
Ausschusssitzung in Görlitz, wo Ihnen alle Experten gesagt haben, wie dringend in diesem Punkt der Handlungsbedarf ist.
({1})
- Seien Sie einmal ein bisschen cool.
Als Erstes hat die neue Regierung das gemacht, was
schon vorher längst nötig war: Sie hat sich sofort untergesetzlich um die Befreiung für diejenigen Gesellschaften bemüht - ({2})
- Ja, das hat aber erst diese Regierung in Angriff genommen. Es war überhaupt das Einzige, zu dem Sie bereit waren. Wir haben es - im Wege der berühmten 40Prozent-Formel - sofort umgesetzt: Wenn Leerstand,
Bevölkerungsrückgang und Arbeitslosigkeit zusammenkommen, können Wohnungsunternehmen von der Privatisierungspflicht befreit werden. Auf dieser Grundlage
sind inzwischen die Hälfte der Unternehmen befreit
worden. 1 000 Wohnungsunternehmen haben davon Gebrauch gemacht. Das ist ein ganz wichtiger Befreiungsschlag gewesen, der jetzt den Druck genommen hat.
Denn wir alle wissen, dass in Sachen Privatisierung
momentan nichts Wesentliches läuft.
Ein weiterer Punkt betrifft das, was jetzt im Referentenentwurf in der Abstimmung mit den Ländern ist. Dazu wird es im März einen Kabinettsbeschluss geben,
über den wir im April beraten können - auch mit einer
Anhörung, die Sie sich so gerne für einen separaten
CDU-Antrag wünschen. Ich glaube aber, wir können das
in der Anhörung gemeinsam erörtern, zusammen mit
den wichtigen Zielen, auf die sich jetzt die Länder und
die Bundesregierung verständigt haben und die wir als
Koalitionsfraktion - und, nach Ihrem Antrag zu urteilen,
teilweise auch Sie - engagiert mittragen: nämlich dass
eine Teilentlastung bereits zum 31. Dezember 2000
möglich wird statt erst Ende 2003 und dass schon zu
diesem Zeitpunkt die Möglichkeit einer Ablöse für all
die Gesellschaften besteht, die ihre Privatisierungspflicht noch nicht erfüllt haben und sich nicht nach dieser untergesetzlichen Regelung befreien lassen können.
Als Letztes sollten wir einen Schlussstrich unter die
Schuldenprobleme im Zusammenhang mit den negativen Restitutionen ziehen.
Das sind drei sehr wichtige Punkte, die wir um Ostern
herum beraten und dann sehr schnell zum Abschluss
bringen werden. Von daher sind wir einen Schritt weiter.
Aber lassen Sie mich noch eines zu Ihrer Erwartung
sagen - der Sie in Ihrem Antrag Ausdruck geben -, die
Leerstandsprobleme im Osten mit der Altschuldenhilfe
so verknüpfen zu können, dass wir uns daran erwürgen.
({3})
- Doch, so ist Ihr Antrag formuliert. Das halte ich für
gefährlich. So kommen wir bei diesem Problem, das wir
alle lösen wollen, nicht einen Schritt voran, sondern
satteln neue Probleme auf.
Ich bitte darum, dass wir die Leerstandsproblematik
separat diskutieren. Ihre Fraktion sollte zur Kenntnis
nehmen, dass Sie historisch Verantwortung für diesen
Leerstand tragen, insbesondere durch die hohen Sonderabschreibungen und die Forcierung des Neubaus, der
faktisch in Konkurrenz zu den Wohnungsbeständen tritt,
({4})
sowohl in den Innenstädten als auch in den Großsiedlungen.
Das wird Gegenstand der nächsten Diskussionsrunde
sein. Unser Engagement wird da sehr groß sein.
({5})
Jetzt hat der
Herr Kollege Guttmacher das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Altschuldenhilfe-Gesetz sieht in seinem § 5 vor, dass die
Kommunen bzw. Wohnungsunternehmen, die einen
Antrag auf Teilentlastung der Altschulden stellen, sich
gleichzeitig verpflichten, 15 Prozent ihrer Wohnungen mit 15 Prozent der Gesamtwohnfläche - mieternah zu
privatisieren. Von den Verkaufserlösen dieser Privatisierung muss ein gewisser Prozentsatz an den Erblastentilgungsfonds abgeführt werden. Über den Erfolg der Privatisierung entscheidet die Kreditanstalt für Wiederaufbau durch einen Schlussbescheid am Ende der Privatisierungspflicht. Derzeit ist der Termin auf das Jahr
2003 festgelegt.
Noch im Februar - und nicht erst 1999, Frau
Eichstädt-Bohlig - hat der Bundestag in einer Entschließung auch den so genannten schwierigen Fällen Rechnung getragen und die Bundesregierung aufgefordert, im
Lenkungsausschuss darauf hinzuwirken, dass vor allem
kleinere Wohnungsunternehmen und -genossenschaften
auf Antrag eine vorgezogene Bestätigung erhalten können, wonach sie die absehbare Nichterfüllung der Privatisierungsauflage nicht vertreten müssen. Eine Anerkennung des Nicht-vertreten-Müssens der Privatisierungsauflage sollte dabei nach Auffassung der F.D.P. unter
weitaus moderateren Gesichtspunkten erfolgen und nicht
nur bei einer Bewertung durch Kumulierung von Arbeitslosigkeit, Leerstand und Bevölkerungsrückgang,
wie vom Lenkungsausschuss vorgeschlagen, geschehen.
({0})
Es ist zu berücksichtigen, dass es bereits heute bei
Kommunen und Genossenschaften zu Härtefällen
kommt, da nicht selten 15 Prozent des Wohnungsbestandes privatisiert sind, jedoch die damit einhergehenden 15 Prozent der Gesamtwohnfläche bei weitem
noch nicht erreicht wurden. Ebenso müssen die Reduzierung von strukturellem Leerstand im Rahmen von Ordnungsmaßnahmen zur Beseitigung städtebaulicher Missstände wie Rückbau von altschuldenbelasteten Blockund Plattenbauten sowie Maßnahmen zur Wohnumfeldverbesserung Berücksichtigung finden.
({1})
Der Rückbau sollte sowohl mit Städtebaufördermitteln als auch durch Befreiung von den Altschulden für
die Wohnfläche des abgerissenen Objektes unterstützt
werden. Sofern es sich herausstellt, dass eine Nichterfüllung der Privatisierung im Einzelfall doch zu vertreten ist, sollte nach Auffassung der F.D.P. den Betroffenen der ursprüngliche Entlastungsbescheid erhalten
bleiben, aber als Gegenleistung sollte von den Begünstigten eine gesetzlich festzulegende Abführung an den
Erblastentilgungsfonds getätigt werden.
Andererseits sollten diejenigen Kommunen und
Wohnungsgesellschaften, die die Privatisierungsauflage
bereits vollständig erfüllt haben, für Übererlösquoten
belohnt werden. In den vorgezogenen Schlussbescheiden der KfW muss zweifelsfrei festgestellt werden, dass
alle erbrachten Auflagen nach dem AHG erfüllt sind und
weitere Änderungen, zum Beispiel Restitutionsobjekte,
nicht mehr berücksichtigt werden.
Meine Fraktion ist für den Schlusstermin 31. Dezember 2000 für die Abführung von Erlösen aus § 5 des
AHG.
Meine Damen und Herren der PDS, die Tatsache,
dass die PDS bereits einen moderateren Antrag zur Novellierung des AHG vorgelegt hat, zeigt den ganzen
Ernst Ihres heute vorgelegten Gesetzesentwurfs. Wir
werden Ihren Antrag ablehnen.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Christine Lucyga.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Das Problem, über das wir
heute reden, ist ernst genug - umso bedauerlicher, dass
das zu dieser späten Stunde vor fast leerem Plenum auf
der Grundlage eines Antrags geschieht, der nicht einmal
von den Antragstellern selbst ernst genommen wird. Das
ist mehr als bedauerlich. Dass Sie einen Änderungsantrag nachgeschoben haben, bevor das Thema überhaupt abschließend behandelt worden ist, wurde ja ausgeführt. Ich denke aber, dieser Antrag würde kaum eine
taugliche Lösung darstellen. Man kann nach zehn Jahren
eine Rückabwicklung, so wie Sie es wollen, nicht einfach auf den Weg bringen. Das schafft neue Disparitäten
und Ungerechtigkeiten; das kann nicht unser Ziel sein.
Wenn wir auf die Chronologie der Altschuldenhilfegesetzgebung zurückschauen, dann stellen wir ja fest,
dass es am Anfang ein langes Liegen-lassen und dadurch eine Verschärfung des Problems und danach eine
fehler- und lückenhafte Initialgesetzgebung gegeben hat,
durch die die Wohnungsunternehmen geradezu erpresst
worden sind. Die 30 Milliarden DM, von denen Sie,
Herr Kansy, gesprochen haben, dienen zu einem großen
Teil der Tilgung jener Schulden, die durch Ihr Liegen
lassen überhaupt erst entstanden sind, und sind Aufwendungen für die Zinsen und Zinseszinsen. Verdient haben
daran die Banken; genützt hat es nicht dem Aufbau Ost.
({0})
Die Probleme, die wir heute noch haben, hat im
Grunde genommen die bis 1998 regierende Koalition zu
verantworten. Was Sie in dieser Richtung hier abgeliefert haben, Herr Kansy, war ein Meisterstück an Verdrängung. Eine späte Einsicht ist besser als gar keine.
Sie haben aber lange Zeit gehabt, sich mit unseren Warnungen und unseren Überlegungen vertraut zu machen.
Denn wir sind es ja, die jetzt die Suppe auslöffeln müssen, die Sie uns eingebrockt haben. Ich finde, das ist
schon ein starkes Stück, das Sie hier geliefert haben.
({1})
Was wir jetzt machen müssen, ist, einen weit vorangeschrittenen und so leider nicht mehr total umkehrbaren Prozess letztendlich noch in die richtige Richtung zu
lenken und dabei Ungerechtigkeiten und Härten, so gut
es geht, zu korrigieren. Es ist unsere erklärte Absicht,
diese Fehler zu beseitigen.
({2})
Wenn wir heute den Antrag der PDS, der ja auch in
den Ausschüssen unisono abgelehnt worden ist, ablehnen, bedeutet das nicht, dass das Thema damit beendet
wäre, im Gegenteil: Wir haben uns ja der Problematik
unmittelbar nach Übernahme der Regierungsverantwortung angenommen und untergesetzlich mit dem Beschluss des Lenkungsausschusses vom März 1998 zirka 1 000 Wohnungsunternehmen sofort entlastet, die
nachweisen konnten, dass ihnen eine Privatisierung
nicht zumutbar war. Wir haben dabei nicht aus den Augen verloren, dass mit einer abschließenden Gesetzgebung für die Wohnungswirtschaft endlich Klarheit und
verlässliche Bedingungen geschaffen werden müssen.
Sicherlich steht außer Zweifel - da gebe ich auch Ihnen, Frau Eichstädt-Bohlig, Recht -: Die aktuellen
Schwierigkeiten der Wohnungswirtschaft in Ostdeutschland sind als Gesamtkomplex zu sehen. Es hat
eine Reihe von falsch angelegten Maßnahmen gegeben.
So muss die weitere Entlastung der Wohnungsunternehmen durch ein Maßnahmenbündel gesichert
werden. Dazu gehören weitere Wohnumfeldverbesserungen sowie weitere Sanierungs-, Modernisierungsund Instandsetzungsmaßnahmen in gemeinsamer Verantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden.
Ein einschlägiger Entwurf des AltschuldenhilfeÄnderungsgesetzes befindet sich in der Ressortabstimmung - Sie haben es gehört - und steht unmittelbar vor
der Kabinettsreife. Bereits in der nächsten Sitzungswoche wird dazu nochmals der Lenkungsausschuss tagen;
diese Tagung wird mit einer Expertenanhörung verbunden sein. Ich verstehe also Ihre Aufregung nicht. Sie
wissen, was auf dem Tisch des Hauses liegt. Auch insofern haben Sie den Zeitpunkt für die Erörterung dieses
Themas im Plenum eher unglücklich gewählt. Eine abschließende Debatte steht ins Haus; die Fortsetzung
werden wir in der nächsten Woche erleben.
Da wir davon ausgehen können, dass die PDS ohnehin nicht an die Annahme ihres Gesetzentwurfs geglaubt
hat, wollen wir ihr in diesem Punkt Recht geben: Wir
lehnen den Entwurf ab und werden stattdessen eine
praktikable Lösung vorlegen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf zur Aufhebung des Altschuldenhilfe-Gesetzes
auf Drucksache 14/568. Der Ausschuss für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/2317, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse
über den Gesetzentwurf der PDS abstimmen und bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gegenstimmen! - Enthaltungen?
- Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den
Stimmen des übrigen Hauses gegen die Stimmen der
PDS abgelehnt worden.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Wir sind am Schluss unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 26. Januar 2000, 13 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.