Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/20/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich einigen Kollegen nachträglich zum Geburtstag gratulieren. Der Kollege Eckhardt Barthel ({0}) feierte am 17. Dezember, der Kollege Albrecht Papenroth am 30. Dezember 1999 und der Kollege Franz Müntefering am 16. Januar 2000 jeweils den 60. Geburtstag. Ich spreche Ihnen im Namen des Hauses die besten Glückwünsche aus. ({1}) Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat mitgeteilt, dass die Kollegin Claudia Roth ({2}) auf ihre ordentliche Mitgliedschaft in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates verzichtet hat. Als Nachfolger wird der Kollege Christian Sterzing vorgeschlagen, der bisher stellvertretendes Mitglied war, und als neues stellvertretendes Mitglied der Kollege Dr. Helmut Lippelt. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit sind der Kollege Sterzing als ordentliches und der Kollege Lippelt als stellvertretendes Mitglied in die Parlamentarische Versammlung des Europarates gewählt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste vorliegenden Zusatzpunke erweitert werden: 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Haltung der Bundesregierung zu Verwendung und Verfassungsmäßigkeit der Benzin- und Stromsteuererhöhungen zum 1. Januar 2000 sowie den beschlossenen weiteren Steuererhöhungsstufen ({3}) 2. Vereinbarte Debatte zu aktuellen Problemen bei der Parteienfinanzierungspraxis 3. Überweisung im vereinfachten Verfahren: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Wehrsoldgesetzes ({4}) - Drucksache 14/2498 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({5}) Innenausschuss 4. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Haltung der Bundesregierung zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes 5. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({7}), Gunnar Uldall, Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Initiative gegen die Auswirkungen der asiatischen Finanzkrise und des internationalen Subventionswettlaufs auf die deutsche und europäische Werftindustrie - Drucksachen 14/400, 14/2538 Berichterstattung: Abgeordnete Margareta Wolf ({8}) 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten René Röspel, Heino Wiese, Dr. Wolfgang Wodarg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Hans-Josef Fell, Steffi Lemke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: BiosicherheitsProtokoll erfolgreich abschließen - Drucksache 14/2520 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Eva Bulling-Schröter, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Gesetzliche Verpflichtung zum Bau der Transrapid-Strecke Berlin-Hamburg aufheben - Drucksache 14/2524 8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Burchardt, Monika Griefahn, Heinz Schmitt ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Angelika Beer, Matthias Berninger, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gründung einer Stiftung zur Friedens- und Konfliktforschung - Drucksache 14/2519 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Lensing, Eckart von Klaeden, Dr. Andreas Schockenhoff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Vorbereitung auf neue Herausforderungen an Deutschlands Sicherheitspolitik - Stärkung der Friedens- und Konfliktforschung als Teil der politikberatenden Forschung - Drucksache 14/2521 10. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Rechts der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages ({10}) - Drucksache 14/2518 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({11}) Innenausschuss Rechtsausschuss 11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max Stadler, Hildebrecht Braun ({12}), Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Erweiterung des Untersuchungsauftrages des 1. Untersuchungsausschusses der 14. Wahlperiode - Drucksache 14/2527 Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Außerdem weise ich darauf hin, dass die zweite und dritte Beratung des Arbeitsgerichtsbeschleunigungsgesetzes bei den OhneDebatte-Punkten aufgerufen, Tagesordnungspunkt 8, Abschaffung der Arbeitserlaubnispflicht, abgesetzt und der für Freitag vorgesehene Tagesordnungspunkt 16, Harmonisierung der gastgewerblichen Mehrwertsteuersätze in der Europäischen Union, bereits heute nach der Beratung über die Förderung der Friedens- und Konfliktforschung aufgerufen werden soll. Die Beratung der Vorlagen unter Tagesordnungspunkt 15, die das Untersuchungsausschussgesetz betreffen, soll am Freitag im Anschluss an die Beratung des Jahresberichts der Wehrbeauftragten erfolgen. Des Weiteren mache ich auf geänderte Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Bei den in der 79. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesenen nachfolgenden Anträgen soll die Federführung wie folgt geändert werden: Antrag der Abgeordneten Carsten Hübner, Heidi Lippmann, Fred Gebhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Einstellung des Bundeswehreinsatzes in Osttimor - Drucksache 14/2264 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({13}) Verteidigungsausschuss ({14}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Antrag der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Hildebrecht Braun ({15}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Deutsche Beteiligung an Interfet beenden - Drucksache 14/2378 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({16}) Verteidigungsausschuss ({17}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Der in der 79. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Finanzausschuss zur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Abgeordneten Walter Hirche, Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Zukunftsfähige Energiepolitik für den Standort Deutschland Drucksache 14/2364 überwiesen: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({18}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Die in der 79. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Unterrichtung soll zusätzlich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur Mitberatung überwiesen werden. Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht zur Härteklausel nach § 4 Abs. 4 des Stromeinspeisungsgesetzes - Drucksache 14/2371 überwiesen: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({19}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Vereinbarte Debatte zu aktuellen Problemen bei der Parteienfinanzierungspraxis Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Peter Struck, SPD-Fraktion.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir erleben gegenwärtig einen der größten politischen Skandale seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949. Dies ist aber - das möchte ich ausdrücklich betonen - keine Staatskrise. Staatsanwaltschaften und Gerichte ermitteln und prüfen die Vorgänge. Die Medien nehmen ihre Kontrollfunktion hervorragend wahr. Die Institutionen unserer Verfassungsordnung sind voll handlungsfähig. Die Bundesregierung führt das Land sicher und ruhig. ({0}) Der Deutsche Bundestag ist in seiner Mehrheit selbstverständlich politisch handlungsfähig. ({1}) Was wir erleben, ist eine schwere Krise der CDU, ausgelöst durch Machenschaften, Gesetzesverstöße und Praktiken, die immer noch nicht vollständig aufgedeckt und aufgeklärt sind. Im Gegenteil: Täglich, nein, nahezu stündlich erreichen uns neue Meldungen, die die Krise der Christdemokraten verstärken. Bei wie vielen Millionen Schwarzgeld sind wir jetzt angelangt? Was bedeutet es, wenn der CDU-Vorsitzende in seiner Fraktion von Geldwäsche spricht? Diesen Begriff kennen wir nur im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität. ({2}) Herr Kollege Schäuble, Sie haben öffentlich angekündigt, dass Sie sich dafür entschuldigen wollen, im Parlament die Unwahrheit gesagt zu haben. Sie haben in diesem Hause verschwiegen, von dem Waffenhändler Schreiber 100 000 DM bekommen zu haben. Überlegen Präsident Wolfgang Thierse Sie genau, Herr Kollege Schäuble - bei allem Respekt vor der von Ihnen zu erwartenden Erklärung -, ob Sie sich hier und heute nicht noch für weitere Unwahrheiten zu entschuldigen haben. Niemand darf die Schwere und die Folgen dieses politischen Skandals unterschätzen. Jeder sollte zur Kenntnis nehmen, dass wir in einem Staat leben, in dem solche Machenschaften auf Dauer nicht verheimlicht oder vertuscht werden können. ({3}) Die Aufklärung der Hintergründe und Zusammenhänge ist Aufgabe der Ermittlungsbehörden und natürlich auch der CDU selbst. Die Ahndung der begangenen Gesetzesverstöße ist Sache der Gerichte. Wir, der Deutsche Bundestag, haben einen Untersuchungsausschuss eingesetzt, der diese CDU-Parteispendenaffäre aufklären wird. Ich bin ganz sicher, dass dadurch das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die unabhängige Aufklärungsarbeit wieder hergestellt wird. Deutschland darf und wird nicht zu einer kohlschen „Bimbes-Republik“ verkommen. ({4}) Wir verfolgen diesen politischen Skandal wie die meisten Bürgerinnen und Bürger mit größter Empörung und Fassungslosigkeit, aber auch mit Bestürzung, weil das bis jetzt bekannt gewordene Ausmaß die schlimmsten Befürchtungen weit übertrifft. Als Vorsitzender der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion empfinde ich keine Schadenfreude. ({5}) Niemand kann und darf sich darüber freuen, dass die größte Oppositionspartei im Deutschen Bundestag politisch und moralisch diskreditiert ist und ihre politische Handlungsfähigkeit eingebüßt hat. ({6}) Der Verfall und der Niedergang der CDU als der bis heute großen konservativen politischen Kraft in Deutschland geht jeden überzeugten Demokraten etwas an. Nein, Schadenfreude ist die falsche Empfindung. Ich bin in Sorge darüber, dass die Stabilität des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland von der CDU mutwillig in Gefahr gebracht wird. Ich bin wütend darüber, dass dies aus äußerst niedrigen Beweggründen geschah. ({7}) Wir müssen verhindern, dass das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik und in die Gesetzestreue von Politikern weiteren Schaden nimmt. Der ehemalige Regierungschef eines der größten demokratischen Länder dieser Welt hat jahrzehntelang Gesetze übertreten und die Verfassung missachtet. Immer noch schätzt er sein persönliches Ehrenwort höher ein als das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, immerhin der freiheitlichsten Verfassung, die jemals auf deutschem Boden Gültigkeit besaß. ({8}) In der gestrigen Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ war zu lesen: Mit welchen Typen sich das System Kohl eingelassen hat, zeigen die dummdreisten Äußerungen des Waffenhändlers Schreiber, in denen er in Ganovenmanier ankündigt, Schäuble und Co. hochgehen zu lassen. Weiter heißt es in der „Süddeutschen Zeitung“: Wenn von diesem Schlag die Freunde sind, die Helmut Kohl bis zum heutigen Tage schützen will - dann wendet man sich mit Grausen. Herr Dr. Kohl - den ich heute hier gerne persönlich angesprochen hätte -, nennen Sie Ross und Reiter! Erweisen Sie Ihrem Land einen letzten Dienst und waschen Sie es von dem Verdacht frei, dubiose Dunkelmänner hätten jahrelang maßgeblichen Einfluss auf die deutsche Politik genommen! ({9}) Ich spreche Sie, Herr Dr. Kohl, auch persönlich an, weil ich weiß, dass Sie diese Debatte - wenn auch nicht in diesem Plenarsaal - an anderer Stelle verfolgen. Packen Sie sich selbst bei Ihrer Ehre als ehemaliger Bundeskanzler, Staatsmann und Demokrat! Vergegenwärtigen Sie sich den verheerenden Flurschaden, den Sie auch gegenüber unseren europäischen Freunden angerichtet haben! Ich lese Ihnen, Herr Dr. Kohl, gleich vor, wie dies in den Nachbarländern kommentiert wird. Aber hören Sie sich erst einmal an - wo auch immer Sie diese Debatte nun verfolgen -, mit welcher Dreistigkeit Sie Ihre Aufklärungsbereitschaft gegenüber mir, gegenüber dem Parlament angekündigt und diese Aufklärungsbereitschaft gegenüber Ihren eigenen Leuten verweigert haben. Lassen Sie mich noch einmal in Erinnerung rufen, mit welcher Frechheit Sie diesem Parlament Verzögerungstaktik vorgeworfen haben. Ich zitiere Sie, Herr Dr. Kohl, aus der Sitzung vom 24. November 1999. Sie haben sich an mich von der Stelle, an der Sie immer sitzen, in einer Zwischenfrage bei meiner Rede gewandt. Sie haben gesagt: Herr Abgeordneter, ich fordere Sie als Vorsitzenden der SPD-Fraktion hiermit auf, dazu beizutragen, dass der von Ihnen geforderte Untersuchungsausschuss unverzüglich eingesetzt wird, seine Arbeit noch vor Weihnachten beginnt und mir die Chance gibt ... Ihre Fragen zu beantworten. Herr Dr. Kohl, Sie haben hier vor der deutschen Öffentlichkeit versucht, sich als Saubermann darzustellen, und trotzdem haben Sie jede Aufklärung behindert. ({10}) Ich kann Ihnen sagen, welchen Eindruck das erweckt. Gestern habe ich zum 10. Todestag von Herbert Wehner in Dresden geredet. Ich habe einen Zeitungsartikel zitiert, in dem es 1990 über diesen großen Sozialdemokraten hieß: „Er wollte die Macht, aber nicht um jeden Preis.“ Ich befürchte inzwischen, eine Würdigung über Dr. Kohl müsste die Überschrift haben: „Er wollte die Macht um jeden Preis.“ ({11}) Das internationale Echo über diese CDU-Affäre ist verheerend. „Deutschland läuft Gefahr, zu einer hinkenden Demokratie zu werden, ohne echte Opposition“, so das Urteil von „La Republicca“ in Rom. Die „Financial Times“ aus London kommentiert: „Der Skandal bedeutet einen Rückschlag für die ansonsten gesunde deutsche Demokratie.“ Eine weniger bekannte, dunklere Seite deutscher Politik sei enthüllt worden. Die Pariser „Libération“ schreibt: „Für Deutschland geht es um das Fundament, das 1945 gelegt worden ist, um die NaziDiktatur zu vergessen. Der Mythos einer Modelldemokratie ist zerbrochen.“ Das konservative „Svenska Dagbladet“ urteilt kurz und knapp: „Gegen den Mammon kommt die Moral zu kurz, selbst in einer Partei, die sich christlich nennt.“ Ich habe Respekt und Achtung vor den einfachen Mitgliedern der CDU, ({12}) die als unsere politischen Wettbewerber und Konkurrenten mit uns im demokratischen Wettbewerb stehen. ({13}) Ich wiederhole diesen Satz: Ich habe Respekt und Achtung vor den einfachen Mitgliedern der CDU, die als unsere politischen Wettbewerber und Konkurrenten mit uns im demokratischen Wettbewerb stehen. ({14}) Sie haben jetzt das Bewusstsein, von ihrer Parteiführung getäuscht und jahrelang in die Irre geführt worden zu sein. Ich habe gestern die Ausführungen von Herrn Kohl bei einer Veranstaltung in Hamburg verfolgt. ({15}) Dort hat er sich selbst eine Ehrenerklärung gegeben und erneut sein sogenanntes Ehrenwort bemüht. Dieses Ehrenwort kann nicht über die Verfassung gesetzt werden. ({16}) Herr Kohl hat einen Amtseid gemäß Art. 64 und Art. 56 des Grundgesetzes geleistet. Er lautet: Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe. Zu den Gesetzen, die er wahren und verteidigen musste, gehört auch Art. 21 des Grundgesetzes, in dem es über die Parteien heißt: Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben. Gegen diesen Verfassungsartikel hat Herr Dr. Kohl im Zusammenhang mit seinem Eid verstoßen. ({17}) Er hat die Verfassung verletzt. ({18}) Daran kann auch ein so genanntes Ehrenwort überhaupt nichts ändern. ({19}) Ein Ehrenwort, wem auch immer es gegeben sein mag, kann niemals die Verpflichtung, sich an die Verfassung zu halten, brechen - niemals, meine Damen und Herren! ({20}) Ich kann verstehen, wie sich die Kolleginnen und Kollegen aus der CDU-Fraktion fühlen, die politische Sacharbeit wollen, sich stattdessen aber nur noch Fragen nach Machenschaften, Rechtsverstößen und Skandalen ausgesetzt sehen. In der „FAZ“ hieß es vorgestern, am 18. Januar: Was sich dagegen jetzt abzeichnet, ist eine Jahre dauernde, womöglich jahrzehntelang praktizierte systematische und bewusste Verletzung von Verfassung, Recht und Gesetz. Ich frage die CDU: Wie viele Landesgeschäftsstellen müssen denn noch wie in Hessen von der Staatsanwaltschaft durchsucht werden, bis Sie endlich mit der ganzen Wahrheit herausrücken? Bleiben wir in Hessen. Wer so wie in diesem Land einen schmutzigen Wahlkampf mit schmutzigem Geld geführt hat ({21}) und so an die Macht gekommen ist, ({22}) der hat die Legitimation verloren, die Regierung zu stellen. Widerwärtigkeiten und Schamlosigkeiten sind jedoch auch hier noch steigerbar. Da wird in Hessen die Lüge in die Welt gesetzt, dass mit Erbschaften von jüdischen Mitbürgern ein Wahlkampf finanziert worden sei. Damit wird in Teilen Antisemitismus wieder hoffähig gemacht. ({23}) Ich selbst habe nicht geglaubt, dass eine so ungeheuerliche Behauptung und Lüge von deutschen Demokraten in Kenntnis unserer Geschichte überhaupt möglich ist. ({24}) Eine einfache Entschuldigung genügt da nicht. Die hessische CDU und auch die Bundes-CDU haben die Würde und das Ansehen des Landes Hessen und der Bundesrepublik Deutschland beschmutzt. Wenn der Begriff Würde bei Ihnen noch etwas mehr Wert besitzt als ein Konjunktiv, dann müssen Sie, meine Damen und Herren, den Weg zu Neuwahlen in Hessen frei machen. ({25}) Dies gilt dann auch für die hessische F.D.P. Wenn Ihre Partei in Nibelungentreue zur hessischen CDU den Weg zu Neuwahlen blockiert, machen Sie sich mitschuldig. ({26}) Wer in einer Regierung sitzt, Herr Kollege Gerhardt, die jede moralische Legitimation verloren hat, ist kein Biedermann. ({27}) Distanzieren Sie sich! Bleiben Sie nicht im Boot! Handeln Sie allein schon, Herr Kollege Gerhardt, um des Gedenkens an Ihr ehemaliges Vorstandsmitglied und den ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis willen! ({28}) Die Sache ist noch längst nicht ausgestanden. Kollege Schäuble selbst hat neue Enthüllungen angekündigt. Es wird also noch einiges auf uns zukommen. Der Skandal wird das Land, so fürchte ich, noch lange belasten. Dabei ist für die Menschen bereits das Maß des Erträglichen überschritten. Wir müssen unsere ganze Kraft und Anstrengung jetzt darauf richten, jede weitere Gefährdung der Stabilität unseres politischen Systems zu vermeiden. Die Glaubwürdigkeit der Politik und das Vertrauen der Menschen in die Politik müssen nach und nach wieder hergestellt werden. Dabei werden die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen nicht auf eine erneuerte CDU warten. Diese Zeit haben wir nicht; das Land muss und wird ordentlich regiert werden. ({29}) Am 5. November des letzen Jahres hat sich der ehemalige Schatzmeister der CDU, Walther Leisler Kiep, den Behörden gestellt und die erste Millionenübergabe im Koffer auf einem Schweizer Parkplatz gestanden. Seitdem reißen die Enthüllungen nicht ab. Herr Schäuble hat in dieser Woche wissen lassen, dass das Ende noch nicht erreicht ist. Kohl, Schäuble, Kiep, Kanther, Baumeister, Prinz Wittgenstein, ein flüchtiger Staatssekretär - das ist noch nicht alles. ({30}) Merkwürdige Geldgeschäfte und Finanztransfers auf Bundesebene, in Hessen, in Rheinland-Pfalz, in Schleswig-Holstein, in Mecklenburg-Vorpommern - wir wissen nicht, wo überall noch -, drei Generalsekretäre Rühe, Hintze und Merkel -, die von nichts gewusst haben, wie sie sagen - eine merkwürdige Partei! Klar ist aber: Es war nicht allein der Bundeskanzler und Parteivorsitzende, der sich nicht nach Recht und Gesetz gerichtet hat; es war ein System, in das viele einbezogen waren. Dies alles wird zu klären sein. Es wird nicht ausreichen, über einzelne Beteiligte zu befinden. Die CDU hat dieses System Kohl zugelassen. Sie hat zugelassen, dass Regeln der innerparteilichen Demokratie durch die Regeln einer Günstlingswirtschaft außer Kraft gesetzt werden konnten. ({31}) Sie hat zugelassen, dass die Lebendigkeit einer demokratischen Volkspartei unter der finanziellen Macht und der politischen Wucht eines Patriarchen erstickt wurde. Die CDU muss die Ernsthaftigkeit ihres Aufklärungswillens erst noch beweisen. Ein überzeugender Neuanfang ist Ihnen noch nicht gelungen. Dies müssen Sie selbst regeln. Ich hoffe, dass Sie die Kraft dazu noch entwickeln werden. Es muss sein. Der politische Totalschaden der CDU darf nicht zur Beschädigung unserer politischen Kultur in den Augen der Bürger und zur Schädigung unseres Ansehens in der Welt führen. ({32})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Schäuble, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist eine ungewöhnlich schwierige Stunde für einen Vorsitzenden der CDU Deutschlands und einen Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Die Debatte ist auf der einen Seite zu früh, um zum Sachverhalt abschließende Auskünfte zu geben und Feststellungen zu machen. Eines der Probleme, mit dem wir seit Wochen zu tun haben, ist ja, dass wir von Woche zu Woche neue Erfahrungen machen und Erkenntnisse gewinnen müssen, von denen wir selber mehr entsetzt und betroffen sind als irgendjemand sonst. Gleichwohl ist die Debatte auch zu diesem Zeitpunkt notwendig - deswegen habe ich ihr auch gleich zugestimmt -, weil sie mir Gelegenheit bietet, mich heute und in diesem Stadium des Verfahrens für die CDU Deutschlands dafür zu entschuldigen, dass in unserer Verantwortung ganz offensichtlich gegen Gesetze verstoßen worden ist und dass wir Vertrauen in die Integrität demokratischer Parteien und Institutionen beschädigt haben. Ich füge auch gleich hinzu: Heute haben wir alle miteinander vielleicht das Gefühl, dass sich dieses Thema gar nicht so sehr zum Streit zwischen den Parteien eignet. Ich sage dies, obwohl ich finde, Herr Kollege Struck, dass Sie ein bisschen viel Unterschiedliches zusammengerührt haben. Die Versuchung liegt wohl so nahe, dass man ihr nur schwer widerstehen kann. ({0}) Als wir vor ein paar Wochen, Anfang Dezember, darüber diskutiert haben, war die Atmosphäre in diesem Hause sehr viel lebhafter. Dabei ist mir passiert - dafür möchte ich mich entschuldigen, Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen -, dass ich auf Zurufe aus den Reihen der Regierungskoalition nicht so reagiert habe, wie ich hätte reagieren müssen. Ich bedauere das und entschuldige mich dafür. Wenn es Ihnen so ernst ist, wie es der Kollege Struck eben gesagt hat und wie es uns ist, möchte ich dafür werben, dass wir die Dinge ein wenig nach den Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und ein wenig nach den Regeln von Wahrheit, Klarheit und Fairness sauber voneinander trennen. ({1}) Das wird wohl nicht zu viel verlangt sein. Deswegen sage ich noch einmal in aller Klarheit: Ich lege zunächst einmal Wert auf die Feststellung - sie ist bis zu dieser Minute von niemandem in Frage gestellt worden -, dass in der Zeit, in der ich Vorsitzender der CDU Deutschlands bin, Angela Merkel Generalsekretärin und Matthias Wissmann Schatzmeister sind - das ist seit dem 7. November 1998 der Fall -, auch nicht der geringste Anlass für die Annahme besteht, dass wir uns in unserer eigenen Verantwortung nicht an jede gesetzliche Bestimmung gehalten haben. ({2}) - Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass die Ernsthaftigkeit Ihrer Sorge umso überzeugender ist, je weniger schwer Sie es mir machen, zu sagen, was zu sagen ohnedies schwer genug ist. Seit dem 2. Dezember, als wir das diskutiert haben, was wir damals erfahren haben, haben wir Schritt für Schritt Erkenntnisse bekommen, die uns - ich sage noch einmal - mehr betroffen und entsetzt haben als irgendjemand sonst. Darüber kann es keinen Zweifel geben. Ich habe nach jener Debatte, die Sie gerade zitiert haben und die ich, wie Sie wissen, im Krankenhaus verfolgt habe, das Einvernehmen mit meinem Amtsvorgänger hergestellt, dass wir alle Unterlagen aus vergangenen Zeiten von der Wirtschaftsprüfergesellschaft anfordern und bekommen. Wir haben sie ja von der Staatsanwaltschaft nach den Bestimmungen der Prozessordnung nicht bekommen. Als ich am Freitag jener Woche die ersten Unterlagen gesehen habe, habe ich unverzüglich reagiert. Ich habe gesehen, dass dieses System mit den vielen Konten ein System war, von dem keiner gewusst hat außer denen, die genannt worden sind. Ich kenne jedenfalls niemanden, der davon gewusst hat. Ich sage auch: Diejenigen, die davon gewusst haben, haben ja auch gesagt, sie hätten alles darauf angelegt - so ist ein solches System -, dass andere davon keine Kenntnis hatten. ({3}) Das letzte Konto dieser Art ist ja auch geschlossen worden, um die neue Parteiführung nicht zu unterrichten. Wir haben uns an die Aufklärung gemacht, so gut und so energisch, wie es irgend geht. ({4}) Wir sind damit noch nicht am Ende. Wir haben Wirtschaftsprüfer beauftragt und ihnen alle Informationen zur Verfügung gestellt. Ich habe zu keinem Zeitpunkt irgendetwas zurückgehalten. Diese Wirtschaftsprüfer werden uns heute oder morgen ihren Bericht für die Jahre 1993 bis 1998 vorlegen. Das sind die sechs Jahre, die im Parteiengesetz als Frist für die Aufbewahrung von Belegen vorgesehen ist. Die Unterlagen sind unvollständig; die Antworten haben wir nicht vollständig bekommen. ({5}) - Jetzt will ich eine zweite Sache sagen, weil Sie diesen Zwischenruf machen. Diese CDU Deutschlands, übrigens auch diese Bundesrepublik Deutschland, ist in einem erheblichen Maße durch die Leistungen von Helmut Kohl geprägt. Wenn wir über Verhältnismäßigkeit reden, dann sage ich Ihnen auch: Bei allen Verstößen, die Thema dieser Debatte sind, die weiter aufgeklärt werden müssen und die möglicherweise abschließend festgestellt werden, wird das nichts an dem geschichtlichen Werk ändern, das unter der Führung von Helmut Kohl für dieses Land erreicht worden ist. ({6}) Aber wenn Sie vor diesem Hintergrund, der ja völlig unstrittig ist - ich habe ja gesagt: auch diese meine Partei, deren Vorsitzender ich bin, ist davon noch mehr geprägt -, einen Moment die Fähigkeit haben, mitzudenken ({7}) - Entschuldigung, lassen Sie mich diesen Satz beenden - ({8}) was uns bewegt. Herr Präsident, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, die Stunde ist wirklich ernst, und Sie werden mich nicht davon abbringen, dem Ernst dieser Stunde Rechnung zu tragen, wie immer Sie sich verhalten. Ich kann das verstehen, aber ich sage Ihnen: Schadenfreude und Häme sind schlechte Ratgeber. Das wird Ihnen nicht viel nutzen. ({9}) Deswegen möchte ich Ihnen in aller Ruhe erklären, was der Bundesvorstand meiner Partei vorgestern nach intensiven Debatten beschlossen hat. Es steht ja in den Zeitungen hinreichend beschrieben, wie der Ablauf der Dinge gewesen ist. ({10}) - Doch, es ist schon klar. Ich sage Ihnen vorweg, wie die Sache gewesen ist, auch daraus brauche ich keinen Hehl zu machen. Wenn die Wahrheit so wichtig ist und sie ist wichtiger, als wir es vielleicht vor ein paar Wochen noch begriffen haben -, dann sage ich auch dieses: Ich bin über das Wochenende zu der Überzeugung gelangt, dass ich vielleicht am besten helfen kann, dass ich meiner Partei, meiner Gemeinschaft, auch in ihrer Funktion für unsere Demokratie, die Kollege Struck gerade beschrieben hat, den besten Dienst tun kann - weil ich ja nun mit der engste Mitstreiter in den 16 Jahren der Kanzlerschaft von Helmut Kohl gewesen bin -, indem ich sage: Ich möchte zurücktreten. Das war der Entschluss, mit dem ich am Montag hierher gekommen bin. Warum soll ich darüber nicht reden? Ich habe gesagt: Jeder muss sich seiner Verantwortung in dieser Lage stellen. Wichtiger ist das, was unsere politische Gemeinschaft für diese Demokratie und für dieses Land zu leisten hat. Das ist meine Priorität, von der ich mich leiten lasse und die ich mir von niemandem in Frage stellen lasse. Deswegen habe ich diese Entscheidung getroffen. Ich habe mich zunächst einmal umstimmen lassen, dass ich über diese Frage mit meinen Freunden in der engsten Führung der Partei, im Präsidium der CDU, diskutiere. Aber ich bin nicht ins Präsidium gegangen, um zu sagen: Wenn ihr wollt, dass ich zurücktrete, dann trete ich zurück. Ich habe gesagt: Ich will zurücktreten; aber lasst uns darüber reden, was der beste Weg ist. Zuvor habe ich ein Gespräch mit Helmut Kohl geführt; auch dies will ich sagen. Ich habe ihm gesagt: Ich glaube, dass, jedenfalls nach dem Eindruck, der in breiten Kreisen der Bevölkerung entstanden ist, gerade auch durch die neue Dimension, die der Schock der hessischen Erfahrungen ausgelöst hat, bis zu dem entsetzlichen Punkt, für den sich die hessische CDU genauso wie die CDU Deutschlands entschuldigt hat, dass jüdische Mitbürger ohne jede Verantwortung hier in eine schiefe Debatte und in Gerüchte hineingezogen worden sind angesichts dieser neuen Dimension mehr geleistet werden muss, auch von Helmut Kohl, um den eingetretenen und noch drohenden Schaden von unserem Land abzuwenden, mit der Fähigkeit unserer Partei, diesen Dienst für das Land zu leisten. Darüber habe ich mit ihm geredet, so offen wie man nur reden kann. Und ich habe ihm auch gesagt: Wenn er diesen Schritt - ich kann ihn ja nicht zwingen - nicht leistet, dann werde ich den Weg gehen, wie ich es vorgesehen habe. Das habe ich ihm gesagt. Das hat ihn auch nicht bewogen, das hat auch nichts geändert. Dann bin ich in die Sitzung gegangen und dann hat das Präsidium der CDU Deutschlands gesagt: So geht das nicht, dann treten wir alle zurück, nicht einer allein. Du hast einen Fehler gemacht - das habe ich, ich habe mich auch entschuldigt -, aber du hast nicht gegen Gesetze verstoßen, du hast unser Vertrauen, du wirst gebraucht. Ich wollte dem Satz, von dem Sie vorhin gemeint haben, Sie müssten sich über ihn empören, hinzufügen: Wenn Sie bedenken, was es für die CDU angesichts dieser Prägung heißt, dass wir eine Entscheidung getroffen haben, die dazu führen musste, dass wir keinen Ehrenvorsitz mehr haben, dann sollten Sie nicht bestreiten, dass wir uns der Ernsthaftigkeit der Lage, in der wir sind und in der wir diese Debatte in ihrer vollen Dramatik verstanden haben, stellen. Das ist der Punkt. Ich sage Ihnen: Das tun wir. Darauf können sich die Menschen, unsere Mitglieder, unsere Anhänger, verlassen. ({11}) - Das ist sehr schwierig. Ich sage Ihnen, warum es so schwierig ist. Es ist aus zwei Gründen schwierig. Es ist aus dem einen Grund schwierig, weil uns diejenigen, die Informationen haben, diese Informationen nicht zur Verfügung stellen. ({12}) - Verehrter Herr Kollege, jetzt verstoße ich gegen meinen Vorsatz, mich heute durch keinen Zwischenruf von Ihnen zu irgendetwas verleiten zu lassen, schon gar nicht zu einem Fehler. Aber einen Fehler werde ich trotzdem nicht machen. Sobald wir den Bericht der WirtschaftsDr. Wolfgang Schäuble prüfer haben, werden wir darüber beraten. Wir haben am Sonntagabend eine Präsidiumssitzung. Am Montag trifft sich der Bundesvorstand. Ich habe am 2. Dezember 1999 hier gesagt, dass wir den Wirtschaftsprüferbericht abwarten wollen. So sieht es das Parteiengesetz vor. Wir haben damals gehofft, dass wir ihn im Dezember bekommen werden. Dies hat länger gedauert. Wir haben dem Bundestagspräsidenten zum Ende des letzten Jahres einen Bericht vorgelegt und auch veröffentlicht. Dieser hat uns Kritik eingebracht; das ist auch verständlich. Nach den hessischen Ereignissen wird die Frage gestellt, ob er vollständig gewesen ist. Das ist das Problem: Wenn man vollständig aufklären und im Zuge der Aufklärung nicht neue Zweifel säen will, braucht man gelegentlich Zeit. Wenn diejenigen, die das Wissen haben, dies nicht oder zu spät zur Verfügung stellen, ist der Prozess so schwierig, wie er ist. Das ist der eine Grund. Der zweite Grund ist, dass ständig alles immer wieder zusammengerührt wird und so zu völlig unverhältnismäßigen und überzogenen Verdächtigungen führt. ({13}) - Hören Sie bitte einen Moment zu, damit Sie sehen, dass es für jeden wahnsinnig schwierig ist, das, was er weiß, zur Verfügung zu stellen. Ich bin der Einzige in der CDU Deutschlands auf Bundesebene, der substanzielle Beiträge zur Erklärung der Herkunft von einigen der Mittel leisten konnte. Ich habe die Debatten ja erlebt. Glauben Sie nicht, dass diese Debatten anderen Mut machen. Das Zweite ist, dass alles zusammengerührt wird. Es findet zum Beispiel in der Öffentlichkeit folgender Prozess statt - das konnte man gerade bei der Rede des Kollegen Struck feststellen -: Auf der einen Seite wird jeder, der in früheren Jahren oder Jahrzehnten mit diesem Herrn Schreiber zusammengetroffen ist - auch wenn er damals nicht wusste, was heute in der Öffentlichkeit bekannt zu sein scheint -, hineingerührt. Sie haben es selber gesagt: Mit solchen Leuten! ({14}) Auf der anderen Seite wird demselben Menschen heute, wo viel mehr über ihn bekannt ist, jeden Tag im öffentlich-rechtlichen Fernsehen in Live-Übertragungen erlaubt, dass er seine Diffamierungsmethode, mit ständig wechselnden Aussagen andere Leute in den Sumpf zu ziehen, fortsetzt. Er hat in einer Woche viermal das Gegenteil von dem gesagt, was er am Vortage gesagt hat. Beides zusammen geht nicht. ({15}) - Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich beschreibe nur, warum es so unendlich schwierig und so qualvoll ist. Deswegen sage ich Ihnen - und ich sage es der Öffentlichkeit und der Bevölkerung -: Wir werden alles, was in unserer Kräften steht, tun, damit so vollständig, wie es irgend möglich ist, Klarheit geschaffen wird. Es wird alles, was wir tun können, getan, damit Verstöße, wenn sie stattgefunden haben, benannt werden. Dann werden wir die Konsequenzen dafür tragen müssen und wir tragen sie auch. Es gibt übrigens zwei Arten von Konsequenzen für Verstöße, die in der Verantwortung einer Partei begangen worden sind. Die eine Konsequenz ist, dass man politisch dafür die Verantwortung tragen muss. Das ist bitter und das spüren wir schon. Damit tragen wir schon eine ganze Menge von Konsequenzen für Verstöße, auch wenn sie noch nicht abschließend festgestellt sind. Der zweite Punkt werden die finanziellen Konsequenzen sein, die das Parteiengesetz vorsieht und über die dann gesprochen und gegebenenfalls auch gestritten werden muss. Auch das werden wir tragen. Dann werden wir etwas Drittes tun. Das eine haben wir schon getan. Seit ich als Parteivorsitzender mit meinen Freunden Verantwortung für die Partei trage, sind solche Verstöße nicht vorgekommen. Aber wir werden auf der Grundlage der Erfahrungen, die wir jeden Tag oder jedenfalls jede Woche neu machen, auch sehr intensiv darüber nachdenken und reden, wie wir für die Zukunft ausschließen können, dass sich Derartiges wiederholen kann. Deswegen sage ich auch: Ich bin sehr dankbar, dass sich der frühere Bundespräsident Professor Herzog, der frühere Bundesbankpräsident Professor Tietmeyer und der frühere Verfassungsrichter Professor Kirchhof auf meine Bitte hin spontan bereit erklärt haben, der CDU Deutschlands beratend zur Verfügung zu stehen, wenn es darum geht, auf der Grundlage der durch die Wirtschaftsprüfer festzustellenden Sachverhalte und Probleme Ratschläge zu geben, wie wir für die Zukunft Wiederholungen oder Vergleichbares ausschließen können. ({16}) - Ich höre den Zwischenruf: „Einfach Gesetze beachten.“ Das ist wahr, aber ich sage Ihnen: Es wird damit sein Bewenden nicht haben. Ich sage Ihnen zwei Beispiele, zwei Themen, über die dann auch geredet werden muss. Wir werden uns über Umgehungsmöglichkeiten miteinander zu unterhalten haben. Uns ist vorgeworfen worden - für diesen Vorwurf gibt es keinen Anhaltspunkt, aber natürlich werden entsprechende Fragen gestellt; auch da versuchen wir, versucht Joachim Hörster, so aufzuklären, wie es irgend möglich ist, auch in die Vergangenheit -, dass wir Mittel, die in der Fraktion durch Beiträge der CDUMitglieder der CDU/CSU-Fraktion angesammelt worden sind, der Partei zur Verfügung gestellt haben. Das war die Diskussion über den Jahreswechsel hinweg. ({17}) - Hören Sie einen Moment zu. Es ist auf den Sinn der gesetzlichen Regelungen hingewiesen worden, dass gemeinnützige Organisationen, die selber steuerbegünstigt Spenden annehmen können, Parteien keine Mittel zur Verfügung stellen dürfen, weil dadurch eine Umgehungsmöglichkeit geschaffen würde. Jetzt sage ich Ihnen: Wenn das so ist, muss natürlich über die Frage von Umgehungsmöglichkeiten gesprochen werden. Wenn der Deutsche Gewerkschaftsbund im Jahr 1998 nach eigenen Angaben mit Eigeninitiativen bis zu 10 Millionen DM für den Wahlkampf der Sozialdemokraten ausgegeben hat, ist dies eine Umgehung. ({18}) Weil Sie sich dagegen wehren, sage ich einen zweiten Punkt, und zwar zu Ihrem Parteivorsitzenden Schröder: ({19}) Am Tag vor der Landtagswahl in Niedersachsen im Jahre 1998 ist in großen Zeitungen von einem anonymen Auftraggeber für einen geschätzten Betrag von, glaube ich, 800 000 DM eine Anzeige mit seinem Bild und dem Text geschaltet worden: „Ein Niedersachse muss Kanzler werden.“ Das war Wahlkampf für die Sozialdemokraten. Korrekt hätte dieser Anonymus der SPD eine Spende in der Höhe der Anzeigenkosten machen müssen. ({20}) - Ich verstehe Ihre Erregung schon. ({21}) Sie steht in einem für jedermann offensichtlichen Widerspruch zu der angeblichen Betroffenheit über die Schwierigkeiten der CDU Deutschlands. ({22}) Nein, wenn wir darüber reden, dass für die Zukunft aus den Erfahrungen gelernt werden muss, müssen wir auch Umgehungsmöglichkeiten bedenken und ausschließen. ({23}) Jeder Mensch in unserem Lande, der diese Debatte verfolgt, wird nicht bezweifeln und nicht bestreiten können, dass ich in allem Ernst sage: Es gibt in der Verantwortung der CDU schwerwiegende Verstöße, für die wir die Verantwortung tragen, für die ich mich entschuldigt habe, die wir abschließend mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, aufklären werden, die uns zu einem schmerzlichen Prozess gebracht haben, der dazu geführt hat, dass wir keinen Ehrenvorsitzenden mehr haben, ({24}) von denen ich Ihnen sage, dass es in meiner Amtszeit für entsprechende Verstöße keinen Anhaltspunkt gibt, und für die ich Ihnen zusage, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um nicht nur aufzuklären, sondern auch für die Zukunft auszuschließen, dass es Wiederholungen gibt. ({25})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Verehrter Kollege Schäuble, darf ich Sie darauf hinweisen, dass Sie Ihre Redezeit schon deutlich überschritten haben. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich bitte um Entschuldigung. Geben Sie mir noch zwei Minuten Redezeit; wenn nicht, breche ich auch an dieser Stelle ab. Ich habe ein bisschen Redezeit verschenkt, indem ich immer, wenn Unruhe war, gar nicht geredet habe, weil ich angesichts des Ernstes der Lage in großer Ruhe sprechen wollte. ({0}) Ich habe mich für die Verstöße, die in der Verantwortung der CDU begangen worden sind, entschuldigt und zugesagt, dass wir alles tun werden, dass sich so etwas nicht wiederholen wird. Aber ich sage Ihnen auch - das war ebenso meine Entscheidung; ich habe Ihnen von meinen persönlichen Erfahrungen dieser Woche so offen berichtet, wie man es vielleicht gar nicht tun sollte -: Ich und meine Freunde leisten diesen Dienst, weil wir wissen und wollen, dass diese Christlich-Demokratische Union auch in der Zukunft als große, zur Mitte hin integrierende Volkspartei ihren Dienst für diese unsere Demokratie und unser Land leisten wird. Sie können sich darauf verlassen, dass wir das tun werden. Wir werden nicht zulassen, dass der politische Wettbewerb in unserem Lande um den richtigen Weg und die bessere Politik auf längere Zeit ausgesetzt wird. Das sind die Schwierigkeiten, in denen wir im Moment stecken. Ich kann verstehen, dass Sie diese Schwierigkeiten gerne noch ein bisschen länger haben wollen. ({1}) Einverstanden. - Ich sage Ihnen zu: Wir tun alles, was in unseren Möglichkeiten liegt. Wir werden uns, wenn wir dies geklärt haben, mit allem Selbstbewusstsein weiterhin dem Dienst für unser Land stellen, der in dem Wettbewerb der Parteien und Politiken über den besseren Weg für die Zukunft unseres Landes besteht. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen.

Rezzo Schlauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002777, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Der Preis des Schweigens“ ist der Titel des Buches, in dem Herr von Brauchitsch seine Sicht der Flick-Affäre im Rückblick schildert. Wenn nur die CDU, bezogen auf den Parteispendenskandal damals wie heute, den Preis bezahlen müsste, würden wir hier eine kontroverse parteipolitische Debatte führen und könnten dann zur sachpolitischen Tagesordnung übergehen. Damals und sehr viel mehr heute erlebten bzw. erleben wir aber einen rapiden Schwund des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in die gesamte Politik, in uns Politiker aller Parteien und leider auch in unsere Demokratie, der maßgeblich verursacht wird durch Ihr Verhalten, meine Damen und Herren von der CDU. ({0}) Ich bin mir sicher, dass uns die Dimension dieser Erosion und deren Konsequenzen für die Parteiendemokratie, für Staat und Gesellschaft erst in Ansätzen und noch lange nicht im Gesamtausmaß bewusst sind. Vor uns liegt derzeit die vorläufige Endmoräne tiefer politischer Verwerfungen - ausgehend, Herr Schäuble, vom Jahre 1954, dem Gründungsjahr der so genannten Staatsbürgerlichen Vereinigung, einer frühen, getarnten Geldwaschanlage zur illegalen Parteienfinanzierung. Seitdem gibt es, unbeeindruckt von damaligen Strafurteilen gegen Amts- und Mandatsträger, unbeirrt von den eindeutigen Ergebnissen des FlickUntersuchungsausschusses, ignorant gegenüber einem daraus folgenden neuen Parteiengesetz, nahtlos eine illegale Parteienfinanzierungspraxis bei der CDU in einem solchen Ausmaß, das einen tagtäglich Staunen macht. ({1}) Es gibt allerdings einen Unterschied: Im Vergleich zu früheren Zeiten wurden nicht eigenständige Tarnorganisationen, sondern wurde - wie nach vorläufiger Beurteilung der Wirtschaftsprüfer zu lesen ist - die Partei CDU selbst in Teilen als Geldwaschanlage benutzt. In Anbetracht des noch nicht zu ermessenden gesamtpolitischen Schadens, den die CDU zuvor verdeckt, ab Oktober 1999 öffentlich angerichtet hat und tagtäglich von neuem anrichtet, finde ich es nicht nachvollziehbar - Herr Schäuble, auch wenn Sie dies heute wiederholt angekündigt haben -, wie die verantwortlichen, wie die führenden Amts- und Mandatsträger der CDU zumindest bis heute - von Ausnahmen abgesehen - mit der Wahrheit umgegangen sind. ({2}) Vielleicht wird das ja anders, Herr Kollege Schäuble. Aber bis heute habe ich den Eindruck: Verdrängen, Schönreden, Abwiegeln und Abschieben der Verantwortung an die Wirtschaftsprüfer oder an eine Royal Commission, das war bislang Ihre Devise. Statt von sich aus, also aus freien Stücken, aktiv zu werden, haben Sie die Karten nur dann auf den Tisch gelegt, wenn sich von innen oder außen erpresserische Situationen entwickelt haben, wenn vonseiten der Medien die Veröffentlichung neuer Tatsachen drohte. Rückhaltlose Aufklärung, das war das, was von Ihnen in den letzten Wochen immer wieder angekündigt wurde. Ich habe zumindest bis heute den Eindruck gehabt viele empfinden das ähnlich wie ich so -: Sie klären nicht auf, sondern Sie werden aufgeklärt, und zwar Tag für Tag. ({3}) Nach Art. 21 des Grundgesetzes, unserer Verfassung, müssen Parteien über die Herkunft ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft abgeben. Es berührt mich wenig, wenn Herrn Kohl das Schicksal seiner Partei offensichtlich egal ist. Dass einem Altbundeskanzler aber offensichtlich Recht, Gesetz und die Verfassung egal sind und dass er sich dafür auch noch, wie gestern, Herr Kollege Schäuble, in Hamburg geschehen, öffentlich beklatschen lässt, ist ein nicht hinzunehmender, ist ein unglaublicher Vorgang. ({4}) Ich halte das, was der geschätzte ehemalige Kollege Eylmann sagt, für völlig richtig: Kohl soll endlich aufhören, irgendwelche ominösen Ehrenworte über den Rechtsstaat zu stellen. Was bitte schön ist ehrenvoll an einer Zusage, die man unter Bruch der Verfassung einhält? ({5}) Das hat mit Ehre nichts, aber auch gar nichts zu tun, mit der Verhöhnung des Rechtsstaats jedoch viel. Herr Schäuble, neben der Größe der Leistung ist die Katastrophe mindestens genauso groß. ({6}) Der letzte erfolglose Versuch der CDU-Führungsgremien, Helmut Kohl zur Aussage zu bewegen, hat erneut aufgezeigt, dass eine Aufklärung dieses Skandals nur von außen erfolgen kann. Es wird mehr und mehr deutlich, dass das System Kohl die CDU noch immer in den Fängen hat, weil es zum System der Partei geworden ist. Der vorläufig abgeschlossene innerparteiliche Machtkampf sowie viele Aussagen von Führungskräften in den letzten Wochen legen nahe, Herr Kollege Schäuble - ich muss Ihnen das so sagen -, dass viele von Ihnen erst wieder lernen müssen, was richtig und was falsch ist. ({7}) Der Fall Manfred Kanther ist besonders krass. Der ehemalige Verfassungsminister unter Helmut Kohl, der Protagonist von law and order hat zwei Gesichter: Sich selbst billigt er die fortgesetzte Begehung politischer Geldwäsche zu, während er gleichzeitig „null Toleranz“ gegenüber jedem noch so kleinen Ladendieb, gegenüber jedem noch so kranken Drogenabhängigen durchsetzen will. ({8}) Er ist nicht Opfer einer Treibjagd, wie er meint, er ist Täter. ({9}) Opfer des Systems Kohl sind in erster Linie die vielen Mitglieder, die in ehrenamtlichen Aktivitäten an der Basis, in den Kommunen oder wo auch immer politische Arbeit leisten. Ich habe es im „Focus“ gelesen, Herr Schäuble: Auch Sie und Herr Koch sind keine Opfer. Sie sind Teil und Teilhaber des Systems Kohl und damit in vollem Umfang für das, was geschehen ist, verantwortlich. ({10}) Herr Kollege Schäuble, ich setze mich mit Ihrem Argument „Wir haben nichts gewusst“ auseinander. All die Führungspersonen im unmittelbaren Umfeld von Helmut Kohl - das sind die Herren Rüttgers und Rühe und es ist auch, so Leid es mir tut, Frau Merkel - können sich aus dieser politischen Verantwortung nicht mit dem Argument herausreden, sie hätten nichts gewusst. Selbst unterstellt, das würde stimmen, hätten Sie doch über Jahre hinweg die Möglichkeit gehabt, in das System Kohl einzugreifen. Wie es funktionierte, das wussten Sie und wir aus hundertfachen Veröffentlichungen schon lange. Sie haben es vorgezogen, nichts zu hören und nichts zu sehen. Sie haben es nicht wissen wollen. Sie haben gekuscht und sich weggeduckt. Sie haben schlichtweg kein Jota Zivilcourage aufgebracht, um das System Kohl auch nur leise in Frage zu stellen, ({11}) geschweige denn es nachhaltig zur Diskussion zu stellen. Im Magnetfeld der Macht von und um Helmut Kohl ist Ihr demokratischer Kompass völlig außer Kontrolle geraten. ({12}) Außer Heiner Geißler gab es niemanden, der die notwendige Zivilcourage aufgebracht hat, innerparteiliche Transparenz und die entsprechende Machtbalance einzufordern. Das war das eigentliche Versagen. ({13}) Noch einmal zu Hessen. Kein Landesverband der CDU steckt so stark im illegalen Sumpf wie die CDU von Koch und Kanther in Hessen. ({14}) Es ist bereits jetzt unbestreitbar, dass der Ausgang der hessischen Landtagswahl vor einem Jahr durch die Verwendung von illegalen Millionenbeträgen verfälscht wurde. Es ist deshalb das mindeste Gebot von Demokratie, in Hessen unter fairen Bedingungen neu anzufangen und Neuwahlen durchzuführen. ({15}) Herr Koch überschätzt sich. Die demokratische Kultur in Hessen kann nicht er, sondern können nur die Wählerinnen und Wähler wieder herstellen. ({16}) Gleichwohl hat die Krise der CDU aber auch gezeigt, dass die Demokratie wehrhaft ist und niemand sich egal in welchem Amt er ist, wie lange er im Amt ist oder welcher Mittel er sich bedient - dauerhaft den Staat zur Beute machen kann. ({17}) Auch wenn die Selbstreinigungskräfte einer Partei bisher versagt haben: Die Stabilität unserer Demokratie und ihrer Institutionen zeigt sich auch in der Krise. Die Staatsanwaltschaften in Augsburg, in Frankfurt, in Bonn, in Genf oder wo auch immer ermitteln; der Untersuchungsausschuss nimmt seine Arbeit auf. Das wird der erste Schritt sein - das wird ein langsamer Prozess sein -, Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Ich glaube, wir alle haben diesbezüglich in Zukunft noch viel zu tun. Ich bedanke mich. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, F.D.P.-Fraktion.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die CDU, die hier im Parlament vertreten ist, steht - das weiß sie selbst - in einer der schwierigsten Phasen seit ihrer Gründung. Ihr Ansehen leidet dramatisch unter dem Vorgang mit den Parteispenden. Sie unternimmt Aufklärungsanstrengungen, aber das ständige Hin und Her und neu hinzukommende Sachverhalte wie der abenteuerliche in Hessen haben bisher von einem Dilemma ins andere geführt. Die Bewertung der F.D.P. ist völlig deckungsgleich mit der Bewertung vieler Bürgerinnen und Bürger. ({0}) Ich sage das auch hier; wir halten damit nicht zurück, auch nicht gegenüber einem langjährigen Koalitionspartner. Wir benennen die Wunden, die die CDU ja selbst kennt. Aber eins füge ich hinzu: Wir sollten uns hüten, in diese Wunden parteipolitisches Salz zu streuen. Denn in dieser Situation geht es auch um die politische Struktur der Bundesrepublik Deutschland und um die Repräsentanz von Grundströmungen, die es in der Geschichte gegeben hat. ({1}) Ich sage das deshalb, weil der Vorgang doch tiefer geht. Parteipolitische Gewinner wird es schlecht geben und hinter den Umfragedaten leuchten viel größere Probleme auf. Die ohnehin in Deutschland verbreitete Neigung, Politik für ein schmutziges Geschäft zu halten und die Politikerbeschimpfung geradezu als verfassungsmäßigen Auftrag zu empfinden, wird doch nur bestärkt. Aber ich will auch feststellen - so weit, Herr Kollege Struck, stimmen wir überein -: Dieses Land und dieser Rechtsstaat verfügen über alle Instrumente, um solche Sachverhalte aufzuklären: eine wache Öffentlichkeit, eine unabhängige Medienlandschaft, parlamentarische Untersuchungsausschüsse, staatsanwaltschaftliche Ermittlungen, unabhängige Gerichte. Wir können, wenn wir es wollen, Vertrauen wieder herstellen. Auch die anderen Parteien, ebenfalls die Freie Demokratische Partei, haben ein Interesse daran, dass es der CDU gelingt, ihre Probleme zu bewältigen. Das gilt weit über die enge parteipolitische Situation hinaus. Ich sage das sehr bewusst, weil meine Freunde und ich Situationen in der Bundesrepublik Deutschland erlebt haben, in denen sich andere bei viel nichtigeren Anlässen darangemacht haben, Grundströmungen auszuradieren. Können Sie sich, Herr Kollege Struck, daran erinnern, dass Helmut Schmidt 1982 in den hessischen Wahlkampf zog und zum Beispiel in Wetzlar die F.D.P. „wegharken“ wollte? Welches Bewusstsein stand denn damals dahinter? War es die Überzeugung, dass es eine Vielfalt politischer Grundströmungen geben müsse? ({2}) Ich erinnere mich auch noch daran, dass Kurt Georg Kiesinger 1969 in den Wahlkampf zog und, weil die F.D.P. nicht mehr sein Partner war, meinte, man könne sie nun beseitigen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen in welcher Partei Sie auch immer sein mögen -, es macht keinen Sinn, nur weil man sich im Dissens mit einer Partei befindet, zu meinen, sie müsse aus dem politischen Leben der Bundesrepublik Deutschland entfernt werden. Das muss hier grundsätzlich gesagt werden. ({3}) Es wäre deshalb gut, wenn wir in dieser Debatte auch die Grundstruktur der Bundesrepublik Deutschland erörtern würden. ({4}) Aus den Reihen der Sozialdemokraten höre ich in den letzten Tagen, wir sollten die Regierungskoalition in Hessen verlassen. ({5}) Ich möchte Ihnen mitteilen, dass wir das nicht tun werden. ({6}) Die hessische F.D.P. hat sich einen klaren Regierungsauftrag erkämpft und dabei ihren Wahlkampf fair finanziert. Sie hat ihre Politik zur Debatte gestellt und sie hat ein Mandat. ({7}) Der hessische Ministerpräsident Koch weiß sehr genau, dass es auf seine Glaubwürdigkeit und Entschiedenheit bei der Aufklärung von Vorgängen innerhalb der hessischen CDU ankommt. Jede Zusammenarbeit hat eine notwendige Vertrauensbasis. Ich habe keinen Anlass anzunehmen, dass sich Ministerpräsident Koch über diese Vertrauensbasis im Unklaren ist. Den Ratgebern aus der SPD und Ihrem Vorwurf "Biedermann“, Herr Kollege Struck, muss ich entgegnen, dass es in anderen Bundesländern Vorgänge gibt, bei denen ich den Eindruck habe, dass die Aufklärungsbereitschaft von Vertretern Ihrer Partei bei viel geringeren Vorgängen nicht ernsthaft im Verhältnis zur Haltung und Bereitschaft des hessischen Ministerpräsidenten Koch steht, Sachverhalte aufzuklären. ({8}) - Nein, ich will die Vorgänge nicht vergleichen. Derjenige aber, der behauptet, man dürfe Vorgänge in einem anderen Bundesland noch nicht einmal eine Affäre nennen, und mich im gleichen Atemzug auffordert, meine Freunde in Hessen zu veranlassen, eine Koalition zu verlassen, in der man sich um Aufklärung bemüht, ist für uns kein moralisch bedeutsamer Ratgeber. ({9}) Der Untersuchungsausschuss beginnt in dieser Woche seine Arbeit. Wir müssen dafür sorgen, dass die Abgeordneten dieses Ausschusses in Distanz zu der politischen Gemeinschaft, der sie selbst angehören, arbeiten können. Für die Atmosphäre des Ausschusses ist es sehr wichtig, dass sie eine innere Unabhängigkeit besitzen. ({10}) Aber der Untersuchungsausschuss braucht auch nach all den Vorgängen genau das, was meine Fraktion, die Freien Demokraten, schon zu Beginn beantragt hat: eine Verbreiterung seines Untersuchungsauftrages. ({11}) Das ist ein Sachverhalt, den die SPD und die Grünen sowie die PDS mit entscheiden müssen. Die PDS hatte es damals schon, Herr Kollege Gysi, völlig zu Recht mit entschieden. Wer nichts zu verbergen hat, kann auch den Untersuchungsauftrag verbreitern. ({12}) Deshalb ist es wichtig, dass sich der Untersuchungsausschuss darüber klar wird. Kleine politische Münze, nach dem Motto „Nur die einen hätten und die anderen nicht“, glaubt niemand in der deutschen Öffentlichkeit. ({13}) Deshalb sollte der Untersuchungsausschuss diese Aufgabe auch wahrnehmen. Wir wollen als Freie Demokraten einen Beitrag zur Aufklärung leisten und werden das im Ausschuss tun. Neben den Aufträgen des Untersuchungsausschusses muss man zu Beginn des Jahres 2000 sagen: Es gibt auch noch politische Probleme, deren Lösung sich der Bundestag zuwenden muss. Wir haben eine Beschäftigungsschwäche, wir haben eine Krise unserer sozialen Sicherungssysteme, wir haben noch keinen Durchbruch bei der Steuerreform und wir haben eine völlig stecken gebliebene Bildungspolitik. Wir müssen diese Sachverhalte aufklären, aber auch politikfähig sein. Dies ist keine Staatskrise, sondern eine Vertrauenskrise, die wir zu überwinden haben. ({14}) Meine Partei findet Rot-Grün nicht schon deshalb besser, weil die CDU gegenwärtig schwächelt. Rot-Grün ist eine Veranstaltung aus dem letzten Jahrhundert im neuen Jahrtausend. ({15}) Es gibt überhaupt keinen Durchbruch auf dem Arbeitsmarkt, es gibt keinen Impulse in der Bildungspolitik, es gibt keine Entlastung des Mittelstandes ({16}) und es gibt keinen Spielraum für die Unternehmen. Sie regulieren und bürokratisieren das Gesundheitswesen. Was macht denn Frau Bulmahn mit der BAföG-Reform und der Verdoppelung des Bildungsetats? ({17}) Nein, auch die Opposition muss präsent sein. Sie bekommen uns nicht klein. Die Freie Demokratische Partei tritt für Ziele ein, die Rot-Grün entgegenstehen. Wir bieten den Bürgerinnen und Bürgern eine klare Opposition an. Wer anders denkt als Sie, kann uns wählen, zuallererst in Schleswig-Holstein und dann in NordrheinWestfalen. ({18}) Das ist für uns ein wichtiges Jahr. Das, worüber jetzt viele schreiben und was viele wünschen, nämlich eine moderne, liberale und bürgerliche Partei mit freiheitlicher Haltung, gibt es. Sie gibt es, sie wird von mir repräsentiert und kann in Deutschland gewählt werden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({19})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Gregor Gysi, PDS-Fraktion.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Ende der Bonner Republik wurde nicht, wie oft beschrieben, durch den Umzug von Bundestag und Bundesregierung von Bonn nach Berlin eingeleitet. Die Krise der CDU und damit auch der parlamentarischen, das heißt der Parteiendemokratie bedeutet das Ende der Bonner Republik. Es handelt sich um das Ende eines Systems, das nicht allein von Helmut Kohl geprägt wurde, sondern das es offensichtlich auch schon vor ihm gab. Im Kern geht es um die Verquickung von Politik und Geld ({0}) - ich werde dazu etwas sagen -, das heißt um Abhängigkeit oder - noch brutaler ausgedrückt - den Verdacht der Käuflichkeit von Politik. Und es geht um die Methoden, die sich im Kalten Krieg herausgebildet haben. Es ist kein Zufall, dass diese Krise eingeleitet wurde über die Kenntnis einer Spende eines Waffenhändlers. Rüstungsexport, das ist Politik und Geschäft zugleich. Jeder, der Waffen exportiert, weiß, dass er letztlich in irgendeiner Form Krieg exportiert. Die meisten Staaten wollen die modernsten Waffen besitzen und sie wollen zugleich, dass andere Staaten nicht wissen, welche Waffen sie besitzen. Deshalb vollzieht sich das alles geheimnisvoll. Und deshalb auch so viele Schmiergelder und Provisionen in diesem Zusammenhang. Wir haben es heute damit zu tun, dass gerade bei Rüstungsgeschäften mehr für Provision und Schmiergeld bezahlt wird als für das Rüstungsgut selbst. Deshalb sollten wir eine wichtige Schlussfolgerung ziehen, die auch friedenspolitisch von großer Bedeutung wäre und zugleich solche Machenschaften einschränken könnte, nämlich hier das Verbot von Rüstungsverboten feststellen. ({1}) Aber das fragliche Verhältnis von Politik und Geschäft gibt es ja nicht nur in der Rüstungsbranche. Leuna und Minol zeigen: Auch die Herstellung der deutschen Einheit war nicht nur Politik, sie war auch Geschäft, von beiden Seiten. Offensichtlich sind auch dort Provisionen und Schmiergelder gezahlt worden - an wen auch immer; das werden die Ermittlungen hoffentlich noch ergeben. Es scheint mir auch kein Zufall zu sein, dass die jetzt aufgefundenen ungeklärten 9 Millionen DM bei der CDU gerade seit 1989 angelegt worden sind. Natürlich wird bisher entschieden bestritten, dass politische Entscheidungen in irgendeiner Weise käuflich gewesen seien. Aber wo ist die Grenze, meine Damen und Herren von der CDU, zwischen Dankbarkeit und Bestechlichkeit? Aus dem kleinen Teppichhändler Schreiber wurde ein millionenschwerer Waffenhändler. Wie konnte es dazu kommen? Welche Beziehungen hatte er über Jahre zu Franz Josef Strauß? Hat nicht erst der eine den anderen groß gemacht, sodass sich der andere dankbar erweisen musste? Sie, Herr Schäuble, haben Herrn Schreiber hier als dubiose Figur dargestellt. Aber er ist immer noch Mitglied der CSU. Darüber lohnt es sich doch einmal nachzudenken. ({2}) Wenn ein Ehepaar über 3 Millionen DM spendet, nachdem gerade der Zuschlag für den Verkauf der Eisenbahnerwohnungen ergangen ist, dann zeigt das eben die Verquickung von Politik und Geschäft. In einer Geldwirtschaft gibt es auch einfache Tatsachen. Zu diesen gehören: Wer mal 1 Millionen DM, mal 100 000 DM, mal 50 000 DM zahlt, der macht das nur, wenn er sich davon etwas verspricht. Und wer das Geld annimmt, der gibt in der Regel auch irgendetwas dafür. Selbst wenn das nicht in einem direkten Sinne geschieht, so entstehen doch in jedem Fall Abhängigkeiten, die Herr Schreiber „politische Landschaftspflege“ nennt. Das Problem, Herr Schäuble, besteht für mich nicht darin, ob Sie die Verbuchung der 100 000 DM kontrolliert haben. Das verstehen ich: Wenn Sie sie abgegeben haben an die Schatzmeisterin, ist das für Sie zunächst einmal irgendwie erledigt. Das Problem für mich ist die Annahme selbst. ({3}) Dabei gibt es doch Sorgfaltspflichten. Der Gesetzgeber verlangt von Banken, die - im Unterschied zu Politikerinnen und Politikern - nun wirklich zuständig sind für die Annahme von Geld, dass bei Bargeld ab 20 000 DM eine hohe Sorgfaltspflicht an den Tag gelegt werden muss dahin gehend, festzustellen: Wer ist eigentlich der Einzahler und kann das Geld aus kriminellen Handlungen stammen, könnte also Geldwäsche vorliegen? Wo war Ihre Wahrnehmung der Sorgfaltspflicht bei der Annahme der Spende? Sie hätten sich doch zumindest eine plausible Erklärung dahin gehend geben lassen müssen, dass es sich nicht um eine illegale Spende handelt, sie also nicht von Dritten kommt, sie nicht aus dem Ausland stammt, sie nicht mit politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen verbunden ist oder gar im Zusammenhang mit Straftaten steht. Da haben Sie nichts gefragt. Haben Sie Herrn Schreiber gefragt: Weshalb zahlen Sie bar? Weshalb konnte er das Geld nicht überweisen? Darauf fehlen mir bisher die Antworten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lengsfeld? ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich möchte das im Zusammenhang vortragen. ({0}) Montesquieu kam darauf, dass es für eine Demokratie wichtig ist, die Gewalten zwischen Parlament, Regierung und Justiz zu teilen. Jetzt steht aber die Aufgabe an, die Abhängigkeit zwischen Politik und Wirtschaft aufzuheben. Das wird sehr schwierig sein, weil es zunächst Aufklärung, dann strukturelle, personelle und gesetzgeberische Veränderungen voraussetzt. Im Grunde genommen erleben wir gegenwärtig noch eine weitere Zäsur. Sie wissen, dass der militante Antikommunismus für die alte Bundesrepublik identitätsstiftend war. Deshalb ist es nur logisch, dass Herr Kohl bei seiner Erklärung im ZDF darauf kommt, seinen Verfassungs- und Gesetzesbruch mit dem Kampf gegen die PDS zu begründen. Auch er hat nicht gemerkt, dass die Zeit des Kalten Krieges vorbei ist, ganz abgesehen davon, dass Datum und Motiv nicht zusammenpassen wollen und dass selbst dann, wenn man Spenden annimmt, um die PDS besonders wirksam bekämpfen zu können, dies nicht ausschließt, dass man die Spenden deklariert. Das ist nicht logisch. Aber es ist ganz logisch, dass er dieses Argument in der Hoffnung wählt, dann würde auch der Bruch von Grundgesetz und Bundesrecht toleriert werden. Ganz ähnlich ist, glaube ich, Herr Kanther ideologisch geprägt. Für den sind wahrscheinlich schon SPD und Grüne so etwas Ähnliches wie die fünfte Kolonne aus Moskau. Dabei geht er davon aus: Im Kampf gegen diese ist jedes Mittel recht.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Gysi, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Dieses „Der Zweck heiligt die Mittel“ - lassen Sie mich das noch sagen, Herr Präsident - ist etwas, was im Kalten Krieg entstanden ist. Dazu gehören die ganze Geheimniskrämerei, die Kungelei. Deshalb glaube ich, dass viele Politiker aus der Generation, die im Kalten Krieg das Denken gelernt hat, heute nicht mehr geeignet sind, den Kalten Krieg zu überwinden. Ich habe seit Mitte des letzten Jahres gefordert: Diese Generation muss in Ost und West abtreten. Sie wird es nicht packen. Wir sollten das den Jüngeren überlassen. Konsequenzen müssen wir, wie ich finde, beim Rüstungsexport ziehen genauso wie bei der Aufklärung, beim Wechsel der Politikergeneration und bei der Neufassung des Parteiengesetzes, in dem es klare Regelungen geben müsste. Ich finde, Spenden durch juristische Personen sollten ausgeschlossen werden und solche durch natürliche Personen in ihrer Höhe pro Jahr begrenzt werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Gysi, Sie haben Ihre Redezeit sehr deutlich überschritten.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Die strafrechtliche Verantwortlichkeit müsste klar geregelt werden. Dann hätten wir Konsequenzen gezeigt. Die Demokratie muss dazu in der Lage sein. Das ist ihre Stärke gegenüber Diktaturen: Sie kann aufklären und sie kann Schlussfolgerungen ziehen. Beweisen wir jetzt diese Stärke! ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention der Kollegin Lengsfeld, CDU/CSU-Fraktion.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich, wie der Vorsitzende der PDS-Fraktion seine hehren politischen Maßstäbe in diesem Haus ausbreitet und andere Parteien auffordert, sich nach diesen politischen Maßstäben zu verhalten. Ich erinnere daran, dass in der letzten Legislaturperiode, als wir in einem Untersuchungsausschuss nach den mutmaßlichen 26 Milliarden DM verschobenen SEDGeldern recherchiert haben, derselbe Vorsitzende der PDS-Fraktion dem Untersuchungsausschuss sein Wissen nicht zur Verfügung gestellt hat ({0}) und dass es sich bei der PDS um eine Partei handelt, deren eigener Vorsitzender bei dubiosesten GmbHGründungen aus diesen alten SED-Geldern selbst mit 14,6 Millionen DM profitiert hat. ({1}) Ich hätte Herrn Gysi gefragt, wie er diese hehren Anforderungen, die er hier ausbreitet, mit dem eigenen Verhalten, dem Verhalten seines Parteivorsitzenden und dem Verhalten vieler Parteimitglieder der PDS in Übereinstimmung bringen kann. Ich hätte gefragt, ob er es nicht für angebracht hält, die Maßstäbe, die er hier an die CDU - berechtigterweise - anlegt, auch in seiner eigenen Partei durchzusetzen und mit der gleichen Verve, die er hier entwickelt hat, die Aufklärung in der PDS voranzutreiben, was die verschwundenen 26 Milliarden DM der SED betrifft. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Gysi, Sie haben die Gelegenheit zu einer kurzen Antwort.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Lengsfeld, ich stelle zunächst fest, dass die Interpretation meiner Rede durch Sie dafür spricht, dass Sie sie nicht verstanden haben; sonst hätten Sie sich den politischen Inhalt erschlossen. Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass gleiche Anforderungen an alle gestellt werden. Ich muss nur Ihre Behauptung zurückweisen, dass Herr Bisky - Sie haben den Vorsitzenden der PDS angesprochen - 14 Millionen DM für sich - Sie haben gesagt: „zum eigenen Vorteil“ - verwendet hätte. ({0}) - Nein, sie meinte Herrn Bisky, als Sie von der Medien GmbH sprach. Diesen Vorgang kenne ich. Das stimmt doch? - Ja, offenbar. Es ist alles aufgeklärt worden. Das Geld ist zur Treuhandanstalt geflossen. Bisky selbst hat davon nie eine Mark für sich in Anspruch genommen. Er hat das Geld treuhänderisch verwaltet. Das war auch rechtlich sauber. Dennoch war dies auch in einer Umbruchzeit nicht gerechtfertigt. Wir haben alles aufgelöst. Das wissen Sie. Das ist vor Jahren alles geklärt worden. Wenn die jetzige Affäre genauso gut geklärt werden würde, wäre ich sehr zufrieden. Sie dürfen nur nicht eine Umbruchzeit mit völlig fremden Situationen ({1}) mit einer langwierigen Entwicklung in einer so genannten Heimatgesellschaft verwechseln, die dadurch geprägt ist, dass man an der Regierung ist und die Macht innehat. Lassen Sie mich noch eines sagen: Der damalige Hauptstreitpunkt war die Forderung: Wer das Altvermögen übernimmt, muss auch die Altverpflichtungen übernehmen. Darauf haben wir uns durch Verzicht und einen entsprechenden Vergleich mit der Treuhandanstalt verständigt. Dies alles können Sie nicht leugnen. Deshalb sind die Vergleiche völlig unangebracht und unzulässig. Sie können im Rahmen Ihrer Kurzintervention auch nicht aus 26 Millionen DM plötzlich 26 Milliarden DM machen. Das sind gewaltige Unterschiede. Sie wissen auch, dass diesbezüglich Ermittlungen laufen, aber nicht gegen Mitglieder der PDS, sondern gegen andere. Sie werden noch Überraschungen erleben, wo welche Millionen verblieben sind. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Ludwig Stiegler, SPD-Fraktion.

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man die Rede des Kollegen Schäuble gehört hat, hat man am Ende den Eindruck gewonnen, alle müssten Mitleid mit ihm haben, weil er die traurige Vergangenheit der CDU aufarbeiten muss. Er hat eine Indemnitätsdebatte begonnen, indem er versucht hat, die ganze Sache herunterzuspielen. Am Ende werden wir es sein, die sich entschuldigen müssen. Er hat sich natürlich gesagt - typisch Schäuble -: Angriff ist die beste Verteidigung! Ich halte es wirklich für eine Sauerei, eine Kampagne für Arbeit und soziale Gerechtigkeit als Wahlkampfhilfe für die heutigen Regierungsparteien darzustellen. ({0}) Sollen wir denn jede Demonstration des Bauernverbandes, des Beamtenbundes sowie die Broschüren des Instituts für Wirtschaft und der Arbeitgeber auch noch Ihrem Konto anrechnen? Wenn wir das tun, dann kommen Sie überhaupt nicht mehr auf die Beine. ({1}) Es ist unglaublich, wenn Sie behaupten, dass die Arbeit der Verbände auf die Weise genutzt wird, nur um den Balken vor Ihrem Auge mit vermeintlichen Splittern bezüglich anderer Sachverhalte zuzudecken. Das wird Ihnen trotz aller Rabulistik nicht gelingen. ({2}) Wir werden uns im Zusammenhang mit der jetzigen Debatte auch noch über etwas anderes unterhalten müssen. Herr Schäuble hat sich für die Missetaten der Union entschuldigt. Das ist in Ordnung. Aber damit ist die Sache noch nicht erledigt. Sie haben nicht angesprochen, welche Bedeutung das Verhalten der Union für ihr Verhältnis zu ihren Mitwettbewerbern hat. Art. 21 des Grundgesetzes soll durch die Forderung nach Offenlegung der Mittel der Parteien ein faires politisches Verfahren und Wettbewerbsgleichheit zwischen den politischen Gegnern gewährleisten. Aber Sie haben seit Gründung der „Staatsbürgerlichen Vereinigung" im Jahr 1954 in Wahrheit einen verdeckten Kampf gegen Ihre politischen Gegner geführt. ({3}) Sie haben illegale und unlautere Mittel eingesetzt. Sie haben uns und andere wie Feinde behandelt, die man mit verdeckten Mitteln bekämpfen muss. Dies müssen Sie in Ordnung bringen. Sie müssen sich endlich in den demokratischen Prozess der Freien und Gleichen in der Bundesrepublik Deutschland einfügen. Dies muss die Union lernen. ({4}) Es ist bitter für uns. Viele Kolleginnen und Kollegen fühlen sich persönlich angegriffen. Führen wir uns Folgendes vor Augen: Im Haushalt, den die CDU bei der Bundestagswahl 1990 hatte, ist die Herkunft von 30 Millionen DM noch immer ungeklärt. Wir wissen, wie die Wahl ausgegangen ist. Die Wahl von 1994, die auch durch Schwarzgelder beeinflusst war, ist ganz knapp ausgegangen. Wer soll noch an Legitimität glauben, wenn Sie wie weiland Bismarck und andere mit unlauteren finanziellen Mitteln arbeiten? Dies muss ein Ende haben. ({5}) Herr Schäuble, deshalb ist auch eine politische Entschuldigung bei Ihren Wettbewerbern, bei allen anderen Kolleginnen und Kollegen angemessen; denn Sie wollten unser Recht auf politische Mitbestimmung jederzeit durch Einsatz des Geldes, das Sie aus schwarzen Quellen bekommen haben, verhindern. Das ist das eigentliche staatspolitische Thema, mit dem wir uns auseinander zu setzen haben. Die Macht, die in Hessen errungen worden ist, ist illegitim. Herr Gerhardt, Sie sind Teilhaber einer illegitimen Macht. ({6}) Sie sind ein Abstauber und das wird Ihnen die Öffentlichkeit nicht durchgehen lassen. Die F.D.P. kann nicht immer sozusagen wie ein Parasit von dem Schaden der anderen leben; vielmehr müssen Sie sich Ihrer Verantwortung stellen. ({7}) Wenn Sie in Hessen eine illegitim erworbene Macht weiterhin stützten, dann verstoßen Sie gegen den Geist des Grundgesetzes. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Stiegler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie meinen.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, das gibt Ihnen ja auch die Chance, sich wieder etwas zu beruhigen. Sie erinnern sich sicherlich an die Pfeiffer-Affäre in Schleswig-Holstein. Später hat sich herausgestellt, dass Ihr damaliger Kandidat Engholm - später war er auch Bundesvorsitzender - gelogen hat. Es war so, dass die F.D.P. nach der Wahl knapp aus dem Landtag fiel, weil die SPD die Wahrheit verschwiegen hatte. ({0})

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist Ihre Parteilegende.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Haben Sie eigentlich damals Neuwahlen gefordert, als sich herausstellte, dass Herr Engholm gelogen hatte und die F.D.P. aus dem Landtag gefallen war? ({0})

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Koppelin, Sie wollen Ihre eigene Legende stricken. ({0}) Ich stelle nur fest: Sie haben einen Partner, der durch Schwarzgeld an die Macht gekommen ist. Sie haben Teilhabe an dieser Macht. Sie wollen davon nicht lassen. Sie verstoßen gegen den Geist und gegen den Buchstaben der demokratischen Ordnung dieses Landes. ({1}) - Verstiegen haben sich ganz andere. Wenn ich mir vorstelle, dass die Herren Kohl und Kanther hier ihre heiligen Eide geschworen haben, dass sie „So wahr mir Gott helfe.“, gesagt haben, dass sie andere, die ohne diesen Zusatz geschworen haben, verleumdet haben, ({2}) wenn ich mir vorstelle, dass Sie hier am Feiertag heilige Eide geschworen haben und dass Sie im Alltag der Teufel geritten hat, dann kann ich nur sagen: Damit müssen wir uns auseinander setzen. Der Eid eines Kanzlers oder eines Bundesministers ist nicht von ungefähr. Herr Schäuble, Herr Kohl soll sagen: Ich würde mich selber der Bestechlichkeit beschuldigen, also schweige ich. Herr Kohl soll sich aber nicht hinter einem Ehrenwort bei gleichzeitigem Bruch der Verfassung verstecken. ({3}) Holen Sie ihn heraus! Sie waren doch sein engster Kompagnon und Sie haben doch in dem ganzen System mitgemacht. Der ganze CDU-Vorstand, diese Heldenvereinigung, besteht einerseits aus denjenigen, die Proskynese geübt haben nach dem Motto: „Hier liegt vor deiner Majestät im Staub die Christenschar.“, während der andere Teil der Union gesagt hat: Ich weiß zwar, was läuft, aber ich will es nicht so genau wissen, weil mir das Ergebnis gerade recht ist. Das ist die eigentliche Ursache. Da kann ich auch Herrn Geißler nicht sonderlich loben; denn er ist zu der Zeit, als er noch an der Macht war, nicht vorgetreten; vielmehr hat er nachgetreten in der Zeit, als er nicht mehr an der Macht war. ({4}) Ein Vorbild für Mannhaftigkeit ist er wahrhaftig nicht. Herr Schäuble, wenn hier von Aufklärung die Rede ist, dann denken Sie mit Blick auf die Zukunft auch an den Philosophen der Aufklärung Immanuel Kant und sagen Sie Ihren Vorständen: Sapere aude - sie sollen selber wagen, gescheit zu sein. Sie sollen damit aufhören, gegen den demokratischen Geist des Grundgesetzes zu verstoßen, indem sie byzantinische Verhältnisse in der Union aufrechterhalten. Sie haben über Jahre hinweg das System Kohl möglich gemacht. Das ist die ganze Geschichte. Sie kommen aus Ihrer Verantwortung nicht heraus, das heißt, Sie haben zu arbeiten und nicht auf Mitleid zu pochen. Kehren Sie zurück zur verfassungsmäßigen Ordnung, zum fairen Umgang mit Ihren politischen Wettbewerbern ({5}) und zu sauberen Verhältnissen! Das ist Ihr Auftrag. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Stiegler, ich möchte noch eine Bitte äußern: Wir sollten auch im Eifer des Gefechts belastete Ausdrücke nicht verwenden. „Parasit“ ist in Deutschland ein sehr belasteter Ausdruck. ({0}) Ich schließe die Aussprache und rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) zu dem Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt - Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung“ Konzept Nachhaltigkeit Vom Leitbild zur Umsetzung - Drucksachen 13/11200, 14/1470 Berichterstattung: Abgeordnete Marion Caspers-Merk Bernward Müller ({2}) Birgit Homburger Eva-Maria Bulling-Schröter Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Marion Caspers-Merk. Ich bitte, Platz zu nehmen, damit die Rednerin mit ihren Ausführungen beginnen kann.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser sehr tagespoliti7438 schen Debatte fällt es schwer, zu politischen Themen zurückzukehren, die sich mit langfristigen Fragen befassen. Ich glaube aber, dass es notwendig ist, heute in einer großen Debatte über das Thema Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit zu diskutieren, weil sonst der Eindruck entstehen könnte, die Parteien kümmerten sich nur noch um ihr Geld und nicht mehr um die Zukunft unserer Kinder. Diesem Eindruck wollen wir mit dieser Debatte entgegentreten. ({0}) Wir haben bei dieser Debatte einige Dinge miteinander zu bereden. Es geht darum, wie es weitergehen soll, wie wir gemeinsam ein Konzept für nachhaltige Entwicklung erarbeiten können und wie die Ergebnisse der parlamentarischen Enquete-Kommission der letzten Legislaturperiode in diese Arbeiten integriert werden können. Enquete-Kommissionen sind in aller Regel runde Tische im Parlament, die ein großes Maß an Fleißarbeit in Form von Berichten abliefern. Hierbei gibt es zwei Möglichkeiten, wie man mit diesen umgeht. Die eine Möglichkeit ist, dass sie wohl geordnet auf Bücherborden stehen und Staub ansetzen. Die andere Möglichkeit ist, diese Empfehlungen ernst zu nehmen und in politisches Handeln umzusetzen. Die neue Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen haben sich für die zweite Möglichkeit entschieden. Wir wollen, dass die Empfehlungen der Enquete-Kommission umgesetzt werden. Im federführenden Ausschuss haben wir dazu einen Entschließungsantrag vorgelegt. Wir wollen, dass drei Dinge in der Bundesrepublik Deutschland in Angriff genommen werden. Erstens wollen wir, dass in einem breiten Dialogprozess eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie erarbeitet wird. Zweitens wollen wir Nachhaltigkeit in sämtlichen Regierungsbereichen verankert wissen. Drittens wollen wir sicherstellen, dass die guten Vorarbeiten, die zum Beispiel in den Kommunen und den Ländern der Bundesrepublik Deutschland bei der Aufstellung der lokalen Agenden geleistet wurden, aufgegriffen werden, sodass ein Prozess der nachhaltigen Entwicklung entsteht. Wir haben dafür schon ein gutes Stück an Vorarbeit geleistet. Zum einen ist es gelungen, im Umweltausschuss einen parteiübergreifenden Konsens darüber herzustellen, dass diese Nachhaltigkeitsstrategie erarbeitet und ein „Rat für nachhaltige Entwicklung“ gegründet wird. Außerdem haben wir die Bundesregierung aufgefordert, entsprechende Schritte einzuleiten und dies umzusetzen. Erste Ergebnisse können auch schon vorgewiesen werden. So hat beispielsweise innerhalb der Bundesregierung schon eine Staatssekretärsrunde getagt, die ein Stück weit unsere Forderung übernimmt, in Form eines „greencabinet“ dafür zu sorgen, dass Nachhaltigkeit kein isoliertes Umweltthema bleibt, sondern konkret in alle Fachbereiche integriert wird. Ich bin sehr froh, dass gerade bei einem zentralen Thema dieses Enqueteberichts, nämlich dem Thema Flächenverbrauch, schon erste praktische Umsetzungsschritte vorhanden sind. Das neue Konzept der Bundesregierung zur Wohnungsbauförderung weist bereits eine Änderung der politischen Perspektive auf: Die neue Bundesregierung versucht das umzusetzen, was die Enquete-Kommission erarbeitet hat, und will von der einseitigen Förderung des Neubaus weg - und zur Förderung im Bestand hinkommen. Auch das neu vorgelegte Mietrecht orientiert sich ein Stück weit an Nachhaltigkeit. Es setzt einen Teil der von uns entwickelten Ideen um, die besagen, dass man im Mietwohnungsbau dafür sorgen muss, dass Verlässlichkeit und Kontinuität für die Mieter herrschen und zugleich ein Impuls für ökologisches und flächensparendes Bauen gegeben wird. ({1}) Noch immer werden in der Bundesrepublik Deutschland täglich 120 Hektar Fläche verbraucht. Als Leitbild wollen wir die Stadt der kurzen Wege. Erforderlich ist eine Reduktion des Flächenverbrauchs. Dort müssen zentrale Aspekte einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie ansetzen. In diesem Zusammenhang muss auch der Klimaschutz nach vorne gebracht werden, wobei zu beachten ist, dass die industriell hervorgerufenen CO2Belastungen sinken, während die durch Mobilität, Raumheizung und Stromverbrauch hervorgerufenen Belastungen steigen. Wollen wir also das Klimaschutzziel erreichen, müssen wir eine andere Form von Mobilität auch dazu brauchen wir die Bürgerinnen und Bürger sowie die Stadt der kurzen Wege und flächensparendes Bauen erreichen. Der neue „Rat der Zukunft“ - ich würde ihn lieber so als „Rat für nachhaltige Entwicklung“ nennen - muss sich um diese zentralen Fragen kümmern. ({2}) Darüber hinaus haben wir weitere Teile des Enqueteberichts umgesetzt. Sie sind Teil der Koalitionsvereinbarung geworden. Noch nie ist es gelungen, Forderungen so zeitnah umzusetzen. Die Vorgänger-EnqueteKommission zum Thema „Schutz der Erdatmosphäre“ viele Kolleginnen und Kollegen, die hier im Raum sitzen, haben sich um diese Kommission verdient gemacht - hat das Klimaschutzziel erarbeitet. Aber wie lange hat es gedauert, bis es verlässlich in politisches Handeln umgesetzt wurde? Wie lange hat es gedauert, bis es überhaupt die Chance gab, eine strittige zentrale Forderung, nämlich den Ausstieg aus der Atomenergie, anzugehen? Auch hier sind wir mit dem Regierungswechsel ein gutes Stück weitergekommen. Unsere Anliegen müssen der Ausstieg aus der Atomenergie und die Erreichung des Klimaschutzzieles sein. Letzteres ist nur im Dialog mit den Ländern und Kommunen zu erreichen. ({3}) Die Bundesregierung hat mit dem Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit einen neuen institutionellen Rahmen geschaffen, bei dem Maßnahmen verabredet, aber auch Strategien zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit im Konsens mit wichtigen gesellschaftlichen Gruppen erarbeitet werden. Das Bündnis ist langfristig angelegt und verfolgt mit einer straffen Tagesordnung und mit Arbeitsgruppen ganz konkrete Projekte. Genau das Gleiche muss für den Zukunftsrat gelten. Er muss auf der einen Seite die Nachhaltigkeitsstrategie beraten, auf der anderen Seite aber auch konkret durchführbare Projekte vorschlagen, damit am Ende des Prozesses nicht ein neues Buch steht, sondern die Tatsache, dass wir uns in Deutschland in Richtung Nachhaltigkeit bewegt haben. Gerade wenn das Thema Wettbewerbsfähigkeit mit all seinen Facetten Gegenstand von Verhandlungen im „Bündnis für Arbeit“ wird, benötigt die Bundesrepublik Deutschland einen längerfristigen Orientierungsrahmen. Hier muss Nachhaltigkeit als ganzheitliches, ressortübergreifendes Leitbild zum Tragen kommen. Dieser Orientierungsrahmen ist nötig, weil die Wettbewerbsfähigkeit, die wir erlangen wollen, auch zukunftsfähig sein muss. Beide Facetten gehören zusammen. Der Dialog, wie wir Deutschland im 21. Jahrhundert nach vorne bringen, hat also eigentlich zwei Standbeine. Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Nur wer auf dem Berg steht, kann ins Tal sehen.“ Es ist also wichtig, dass dieser Rat Visionen entwickelt. Es ist aber auch wichtig, dass diese Visionen umsetzbar sind. Deswegen ist eine parlamentarische Begleitung notwendig. Parallel dazu müssen in dem gebildeten Ausschuss, im „green cabinet“, einzelne Maßnahmen angegangen werden. Hier, so glaube ich, sind wir auf einem guten Weg. Ich möchte mich nochmals bei allen Kolleginnen und Kollegen für die damalige Arbeit in der EnqueteKommission bedanken. Ich möchte mich auch bei den Kolleginnen und Kollegen des Umweltausschusses dafür bedanken, dass es gelungen ist, ein Zeichen für einen Konsens in Richtung Zukunftsfähigkeit zu setzen. Denn wir haben die Welt nicht geerbt, sondern nur von unseren Kindern geliehen. Es muss gelingen, eine Politikänderung herbeizuführen, sodass bei uns Zukunftsfähigkeit zum neuen Leitbild der Bundesrepublik Deutschland wird. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Christa Reichard, CDU/CSU-Fraktion.

Christa Reichard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002757, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Weltweit offizieller Beginn der Bemühungen um eine wirklich nachhaltige Entwicklung, eingebracht in alle Politikbereiche, war die Konferenz der Vereinten Nationen in Rio im Jahre 1992. Über 170 Staaten haben sich damals an dieser Zusammenkunft beteiligt. Das dabei verabschiedete Aktionsprogramm für das 21. Jahrhundert wurde unter dem leider immer noch erklärungsbedürftigen Titel „Agenda 21“ bekannt. Sieben Jahre sind seit dieser Konferenz für Umwelt und Entwicklung vergangen. Eine Frage drängt sich manchmal angesichts aktueller weltweiter Umweltbilanzen auf: Müssen wir von sieben verschenkten Jahren sprechen? Der Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“, den wir hier und heute abschließend beraten, wurde bereits zum Ende der 13. Legislaturperiode vorgelegt. Dieser Bericht stellt einen der nationalen Beiträge Deutschlands im weltweiten Agenda-Prozess dar. Die Bundesrepublik und die alte Bundesregierung haben zahlreiche weitere Beiträge geleistet, auf die ich bereits in meiner Rede in der vergangenen Debatte zum Bericht hingewiesen habe. Eine Würdigung des Berichts der Enquete-Kommission stand im Mittelpunkt meines ersten Debattenbeitrags. Heute möchte ich stärker die Frage nach der Umsetzung der Empfehlungen in den Mittelpunkt meiner Überlegungen stellen, wie das vor mir meine Kollegin Caspers-Merk schon versucht hat. Meine Sichtweise ist etwas anders. Mehr als ein Jahr ist seit der Vorlage des Berichts vergangen. Dieses wie auch in zahlreichen anderen Bereichen verlorene Jahr zeigt uns wieder, welchen Stellenwert die rot-grüne Bundesregierung einer nachhaltigen Entwicklung wirklich beimisst. Wo sind die Forderungen geblieben, die Vertreter von SPD und Grünen zu zahlreichen Minderheitenvoten veranlassten? Werden sie mittlerweile als Makulatur betrachtet? Besonders die Grünen halten sich bemerkenswert zurück. Der Berliner Politologe Arnulf Baring äußerte kürzlich in einer Diskussion die Vermutung, dass der Bundeskanzler statt der Stilllegung eines Atomkraftwerks auch den Bau von fünf neuen genehmigen könnte; seinen Koalitionspartner würde er dennoch nicht los. ({0}) Die im vergangenen Jahr von Bundesumweltminister Trittin zu Fall gebrachte Altautorücknahmeverordnung ist ein beredtes Beispiel für die Missachtung der Grundsätze der Nachhaltigkeit durch diese Bundesregierung. „Konzept Nachhaltigkeit - Vom Leitbild zur Umsetzung“, so lautet der Titel des Abschlussberichts. Dabei sind wir uns weitgehend einig gewesen. Was glauben Sie, welche der im Kommissionsbericht enthaltenen Empfehlungen an die Bundesregierung mittlerweile wirklich umgesetzt wurden? Ich habe den Eindruck, Frau Caspers-Merk, dass Sie Ihre Wünsche schon für die Umsetzung halten. ({1}) Wo bleibt der „Rat für nachhaltige Entwicklung“? Über Ankündigungen sind Sie bisher nicht hinausgekommen. ({2}) Und welche Gremien sind stattdessen abgeschafft worden? Die Enquete-Kommission fordert die Straffung des bestehenden Institutionengeflechtes, verbunden mit neuen Aufgabenstellungen. Bei einer Bestandsaufnahme bereits 1984 fanden sich schon 528 Beratungs- und Kommissionsgremien der Bundesregierung mit über 7000 Mitgliedern. Seither sind es eine Reihe mehr geworden, und die Anzahl der Berichte ist unüberschaubar. Wo bleibt die geforderte nationale Nachhaltigkeitsstrategie, die Umwelt, Wirtschaft und Soziales integriert? - Fehlanzeige. Wo bleiben die konkreten Änderungen des Mietrechts, die nicht nur Mieter, sondern auch Vermieter an den Einsparungen nach Sanierungsmaßnahmen beteiligen? - Fehlanzeige! ({3}) Welche Forderungen aus dem Abschnitt „Bauen und Wohnen“ haben im vergangenen Jahr wirklich Eingang in die Politik der Bundesregierung gefunden? - Fehlanzeige! Meine Damen und Herren von SPD und Grünen, fragen Sie doch einmal die Regierung, was aus der geforderten Anpassung des bestehenden wohnungspolitischen Instrumentariums und der Städtebauförderung geworden ist. Meinen Sie etwa, dass eine Reduzierung der Mittel für den Städtebau gerade in den neuen Ländern dazu beiträgt, städtische Strukturen gegen das zunehmende Wachstum in die Fläche zu stärken? Was ist im untersuchten Beispielfeld der Versauerung von Böden geschehen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, Sie ahnen die Antwort. In rot-grünen-Minderheitsvoten war ein Nachhaltigkeitstest für Instrumente gegen Bodenversauerung gefordert worden. Wo bleiben die weiteren dringend erforderlichen Maßnahmen zur geplanten CO2Reduktion, die auch einen Beitrag gegen eine weitere Bodenversauerung bringen würden? Stattdessen werden Kräfte investiert, um die klimafreundliche Atomenergie durch klimabelastende oder landschaftszerstörende Energieerzeugungsarten zu ersetzen. ({4}) Wo bleiben die Maßnahmen mit dem Ziel der Verringerung der Umwandlungsrate von unbebauten Flächen in Siedlungs- und Verkehrsflächen auf zehn Prozent der Rate für die Jahre 1993 bis 1995? Wo bleibt der lang diskutierte Gebäudepass, wo die geforderte Änderung der Honorarordnung für Architekten? - Fehlanzeige, Fehlanzeige, Fehlanzeige! ({5}) Besonders bedenklich stimmt mich, dass die Notwendigkeit der weltweiten Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Nachhaltigkeit von dieser Bundesregierung offensichtlich nicht ausreichend erkannt wird. Im Zuge einer an dieser Stelle falschen Sparsamkeit werden die Beiträge Deutschlands zu internationalen Organisationen ebenso gekürzt wie die Entwicklungshilfe. In einer Reihe von Entwicklungsländern werden sogar Botschaften geschlossen. Gerade hier verschenken wir weit reichende Chancen, globale Politik im Sinne der Nachhaltigkeit voranzutreiben. Was geschieht innenpolitisch? Die so genannte ökologische Steuerreform der rot-grünen Koalition hat mit ökologischen Zielen ja nichts zu tun, meine Damen und Herren! Herausgekommen ist eine Rentenstabilisierungssteuer unter einem Öko-Mäntelchen. ({6}) Die Enquete-Komission hat in ihrem Bericht an vielen Stellen darauf hinweisen müssen - da war sie ehrlich -, dass die vorgeschlagenen Instrumente noch nicht bewertet werden konnten, ({7}) dass Daten fehlen und damit die Zielstellung des Einsetzungsbeschlusses der Kommission nur teilweise erreicht werden konnte. Deshalb darf der Bericht aber noch lange nicht zu den Akten gelegt werden! Meine Damen und Herren, ich denke, es würde sich lohnen, einige der begonnenen Untersuchungen weiterzuführen, wie dies damals auch als Minderheitsvotum an die Bundesregierung immer wieder gefordert wurde. Nehmen Sie sich selbst beim Wort, meine Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen! Fordern Sie mit uns gemeinsam von der Bundesregierung ein, dass nicht nur in Worthülsen und mit wolkigen Ankündigungen gesprochen wird, sondern in der politischen Praxis Nachhaltigkeit wirklich zur Chefsache wird! Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Begriff „Nachhaltigkeit“ ist das so eine Sache. Während er im politischen Raum denen, die damit zu tun haben, ein Überdrussbegriff ist, weil er oft im Überdruss und im Übermaß verwendet wird, ist er in der Gesellschaft ein Begriff, mit dem viele gar nichts anfangen können. Ich finde auch, dass die Bedeutung, die im politischen Raum dem Entwicklungskonzept oft zugeschrieben wird, im krassen Verhältnis zu dem steht, was tatsächlich geschieht. Die Aufmerksamkeit - das konnten wir heute Morgen wieder sehen - ist immer am Aktuellen, am Spektakulären orientiert, selten am Langfristigen und Nachhaltigen. Was heißt „nachhaltig“? Ich will dies zu Beginn meiner Rede deutlich machen, weil man immer wieder danach gefragt wird, wenn man sich in die Debatte einmischt. Bei den 150 oder 180 Definitionen, die es gibt mögliche oder unmögliche -, ist die, die ganz am Anfang stand und bereits 1987 im Bericht der Brundtland-Kommission erwähnt wurde, zutreffend. Diese lautet: Nachhaltig ist eine Entwicklung dann, wenn es der jetzigen Generation gelingt, ihre Bedürfnisse in jeder Hinsicht sozial, kulturell, wirtschaftlich so zu befriedigen, dass künftige Generationen nicht in ihren Zukunftschancen gemindert sind. Dies ist eine sehr einfache Definition. Man könnte auch sagen, das ist das Prinzip der Generationenverantwortung, der Wahrnehmung der Verantwortung gegenüber künftigen Generationen. Insofern ist das ein zutiefst ethisches Prinzip, aber es ist noch lange keine Politik. Es ist nur ein normativer Orientierungsrahmen, an dem man sich entlanghangelt. In der Gesellschaft ist die Debatte noch nicht weit fortgeschritten. Viele, auch junge Leute, fragen sich: „Was heißt es? Was meint ihr damit?“ Einige meiner Kollegen sagen immer wieder: „Lass dir endlich ein besseres Wort einfallen!“ Wenn du kein besseres Wort für Nachhaltigkeit hast, wird es dir nie gelingen, Menschen dafür zu interessieren und zu begeistern.“ Ich sage Ihnen: „Ich glaube nicht, dass es an dem Wort liegt.“ Das Wort ist zugegebenermaßen sperrig, es ist außerdem mehrdeutig, es gibt nachhaltige Spendenskandale, nachhaltige Wirkungen auf die Demokratie, aber das bedeutet etwas anderes. Es ist aber auch ein Wort, das zur Erklärung herausfordert. Wenn Menchen das nicht verstehen, ist es kein Sprachproblem, sondern es ist auch ein Problem der Gesellschaft, dass die Entwicklung in der Praxis so wenig nachhaltig ist, dass man Nachhaltigkeit gewissermassen nicht alltäglich lernen und erfahren kann. Nachhaltigkeit ist also kein Begriffsproblem, sondern es ist unsere Schwierigkeit, sie zu realisieren und umzusetzen. Es war eine Grundeinsicht der EnqueteKommission, zu sagen, dass wir endlich eine Strategie, einen Weg, wohin wir wollen, Formen, Maßnahmen und Schritte festlegen müssen. Damit bin ich bei einem zentralen Element des Antrages des Umweltausschusses. Wir haben gesagt, es genügt nicht länger, wenn wir eine nachhaltige Entwicklung wollen, da und dort eine Maßnahme durchzuführen. Wir brauchen ein Gesamtkonzept, so wie es in Rio alle Staaten versprochen haben, wie es übrigens zahlreiche europäische Länder bereits erarbeitet haben, schöne Broschüren erstellt haben, die in die Gesellschaft hineingewirkt haben. Das wollen wir in der Bundesrepublik gemeinsam erarbeiten. Was verstehen wir unter einer Strategie? Wir müssen langfristige Ziele formulieren, was in 10, 20, 30 Jahren sein soll, was wir erreichen wollen, welchen Qualitätsstandard wir im Sozialen, Ökologischen, Wirtschaftlichen haben wollen. Wir brauchen dann aber auch Maßnahmen, Schritte, die dazwischenliegen, gewissermaßen die Beschreibung des Weges und der Geschwindigkeit, wie wir zu unseren Visionen kommen, damit diese nicht Utopie bleiben, sondern realisiert werden. Dazu müssen wir relevante Handlungsfelder erarbeiten, das heißt klären, was uns wichtig ist, wo wir vor allen Dingen ansetzen müssen, damit wir zu einer nachhaltigen Entwicklung kommen. Sicherlich wird man nicht überall gleichzeitig arbeiten, aber ich will doch deutlich machen, dass es ein ganzes Spektrum, einen ganzen Themenkreis von notwendigen Aufgaben gibt, die wir im Rahmen einer solchen Nachhaltigkeitsstrategie erarbeiten müssen. Nehmen wir den Bereich Wirtschaft und Konsum. Wir müssen die Frage beantworten, wie wir Produktionsweisen und Produkte zukünftig so entwickeln, dass wir unsere Bedürfnisse befriedigen können, aber auf Dauer diesem Planeten nicht schaden, auch dann nicht, wenn alle anderen sie übernehmen, sei es das Autofahren, sei es bei anderen Konsummitteln, die wir gerade im Norden im Überfluss haben. Wir müssen also auch über Lebensstile, Lebensformen und Konsumstile nachdenken. Wir müssen zweifellos den Bereich der Landwirtschaft angehen. Wir können nicht auf Dauer ein System erhalten, das nur funktioniert, weil wir zum Beispiel Flächen in einem ganz anderen Kontinent benutzen, um unsere eigenen Bedürfnisse bei der Nahrungsmittelversorgung überhaupt befriedigen zu können. Wir können uns nicht auf Dauer so ernähren, dass es zu Lasten anderer geht oder ungesund ist. Wir können auch im Bereich des Bauens und Wohnens nicht auf Dauer so weitermachen. Dort muss man die Frage beantworten: Wie können wir, und zwar in der breiten Gesellschaft und nicht nur bei wenigen Elitegruppen, ein Wohnungs- und Siedlungsbedürfnis, ein Lebensbedürfnis befriedigen, ohne permanent immer weitere Flächen zu verbrauchen und damit Natur und Landschaft zu zerstören? Wir müssen im Bereich der Energie und des Klimaschutzes neue Wege einschlagen. Deswegen haben wir auch beschlossen, eine Klimaschutzstrategie zu erarbeiten. Ich glaube, gerade wer in Süddeutschland wohnt oder auch beobachtet hat, was in Frankreich in den letzten Tagen des alten Jahrhunderts geschehen ist, hat deutliche Zeichen sehen können, dass es höchste Zeit zur Umkehr, höchste Zeit für eine nachhaltige Entwicklung ist. Ich glaube, wir müssen auch weit mehr im Bereich Bildung tun und aufklärend in die Gesellschaft hineinwirken. Ich würde mir wünschen, dass die Nachhaltigkeitsdebatte eine Gesellschaftsdebatte wird und dass am Ende dieses Prozesses oder in einigen Jahren tatsächlich jeder und jede in der Gesellschaft, jedes Kind sagen kann: „Ich weiß, was nachhaltig ist, und ich weiß, dass dies und jenes nicht nachhaltig ist. So können und dürfen wir nicht weiterleben.“ Das müssen wir schaffen. Wenn uns das nicht gelingt, ist diese Debatte eine akademische geblieben und hat politisch und gesellschaftlich nichts verändert. ({0}) Ich will an zwei Themenfeldern ausführen, wie eine solche Strategie aussehen muss. Beispiel eins: Mobilität. Ich stelle mir vor, dass wir uns im Rahmen dieser Strategie, vielleicht unter dem Motto „Deutschland bewegt sich umweltverträglich und natürlich“, überlegen, in welchen Bereichen wir einerseits Beweglichkeit erhalten und Mobilität sichern können - das ist ein wichtiges Anliegen dieser Gesellschaft, auch ökonomisch geWinfried Hermann sehen wichtig -, aber das nicht zu Lasten der Natur zu tun, auch nicht zu Lasten zukünftiger Generationen. Dies könnte zum Beispiel bedeuten, dass man sagt: Wir wollen in fünf oder zehn Jahren den Anteil des Fußgängerverkehrs, des Radverkehrs in den Städten etwa verdoppeln. Das wäre ein großer Schritt nach vorne und würde klar machen, dass wir bereit und in der Lage sind, dort, wo wir es können, auch auf das Autofahren zu verzichten, weil wir wissen, dass das eine mehr zu Lasten künftiger Generationen geht als das andere. Wir müssen neue Konzepte der Mobilität entwickeln, auch zwischen öffentlichen und privaten Verkehrsmitteln. Ich spreche gerne von einem halböffentlichen Verkehr im Sinne des Carsharing, des gemeinsamen Nutzens von individuellen Fahrzeugen. Das könnte beispielsweise in zehn Jahren dazu führen, dass wir die Zahl unserer Fahrten in diesem Bereich halbieren, weil man mehr zu zweit oder zu dritt fährt als bisher. Wir müssen auch einmal darüber nachdenken, welche Instrumente der Nachhaltigkeit nicht nützen, gerade im Bereich der Mobilität. Eine Kilometerpauschale im Steuerrecht, die quasi das Vielfahren beim Autofahren steuerlich belohnt, kann nicht nachhaltig sein. (Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] ({1}) Wir brauchen also Konzepte wie zum Beispiel die Entfernungspauschale. Die Entfernungspauschale wird im Rahmen dieser Strategie mit Sicherheit erarbeitet werden und ins Gespräch gebracht werden. ({2}) Wie kann man also erreichen, dass man das entfernte Wohnen vom Arbeitsplatz und das Vielfahren nicht auch noch steuerlich fördert? Das sind alles Aufgaben, die man im Rahmen der Nachhaltigkeit bearbeiten muss. Zum Bereich Arbeitsplätze: Auch hier geht es darum, dass man in Feldern umdenkt, die man bisher eher unter ökologischen Gesichtspunkten gesehen hat. Mobilität und Autofahren hat man als Transportproblem angesehen, aber es ist natürlich auch ein Arbeitsplatzproblem. Lange Zeit hat man geglaubt, man könne daran nichts ändern, weil man die deutsche Automobilindustrie für die Schlüsselindustrie mit wahnsinnig vielen Arbeitsplätzen gehalten hat. Inzwischen weiß man, dass es in der Automobilproduktion einschließlich Zulieferer nur noch etwa 700 000 Arbeitsplätze gibt. Gleichzeitig haben wir etwa 700 000 Arbeitsplätze im Bereich des öffentlichen Verkehrs. Das ist im Bewusstsein der Menschen nicht angekommen. Kein Mensch spricht vom öffentlichen Verkehr als Bereich, in dem Arbeitsplätze geschaffen werden können. Aber wir müssen im Rahmen einer solchen Strategie natürlich auch ausloten, welche Konzepte Arbeitsplätze schaffen und wo Arbeitsplätze gefährdet sind. ({3}) Ich meine, die Arbeitsplätze der Automobilindustrie sind dann gefährdet, wenn die Automobilindustrie es nicht schafft, zukunftsfähige Mobilitätskonzepte zu entwickeln. Man wird auf Dauer nicht mit dem Verkauf von teuren, schnellen, viel Sprit fressenden Autos Zukunft gewinnen können. Das geht nicht mehr lange gut. Die Automobilindustrie kann nur überleben, wenn sie Konzepte entwickelt, die auf Dauer in allen Regionen dieses Planeten tragfähig sind, das heißt Schaffung von Mobilitätskonzepten für die Verbindung von öffentlichen und privaten Verkehrsmitteln. Der nächste Bereich, den ich erwähnen möchte: Ich glaube, eine Entwicklung, die sich nicht auch der Verantwortung bewusst ist, die darin liegt, dass wir im Verhältnis zu den Ländern und Menschen im anderen Teil der Welt viel tun können, ist nicht nachhaltig. Ich schlage vor, dass die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen ihrer Nachhaltigkeitsstrategie einen Schwerpunkt auf die Entwicklung von ökologischen und ökonomischen Partnerschaften und Patenschaften mit Ländern in der Dritten Welt legt. Es wäre aus meiner Sicht angemessen und angebracht, Südafrika als besonderes Projekt zu nehmen. Hier hat noch die alte Regierung einen Vertrag über eine Umweltpartnerschaft geschlossen. Dieser kann mit Leben erfüllt werden. Sie können dabei mitarbeiten; es war auch Ihr Impuls. Wir könnten an diesem Beispiel zeigen, dass unser Interesse, soziale und demokratische Entwicklungsprozesse in Afrika zu stützen, in Verbindung zu bringen ist mit ökonomischen Impulsen und ökonomischen Möglichkeiten, auch für uns, sowie gleichzeitig mit einer ökologischen Verantwortung, die wir übernehmen, weil wir natürlich in vielen Bereichen technisch etwas zu bieten haben. Es geht gar nicht so sehr um Kapital, sondern mehr um die Fähigkeiten, die wir etwa im Bereich der Wasserwirtschaft, der Versorgung mit und Entsorgung von Wasser, oder im Bereich der Elektrizität, der Photovoltaik und der Solartechnologie zu bieten haben. Hier hätten wir viele Möglichkeiten, etwas anzubieten und deutlich zu machen, wie wir uns öko-faire Entwicklungspartnerschaft vorstellen. Südafrika könnte ein Beispielland dafür sein. Ich komme zum Schluss. Im Rahmen einer solchen Debatte und Rede kann man nur kurz anreißen, wohin die Reise gehen soll. Es muss uns gelingen, im Rahmen dieser Nachhaltigkeitsstrategie zu zeigen, dass wir auch einen neuen politischen Stil pflegen wollen. Frau Reichard, Sie haben Ihre Rede in dem Duktus gehalten: „Sie müssen, Sie müssen, Sie müssen“. Diese Haltung ist nicht ohne weiteres verantwortlich. Sie sagen: „Sie müssen tun“. Aber nachhaltige Entwicklung meint: Jeder muss an seinem Platz seine Verantwortung wahrnehmen. Das heißt, auch Sie müssen Ihren Beitrag zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie leisten, auch Sie müssen klarmachen, wo Sie Ihren Impuls setzen, Sie müssen Ihre Konzepte vorstellen. Sie müssen klarmachen, wie Sie in Ihren Bereichen etwas erreichen wollen. Das gilt übrigens ebenso für alle anderen, für die Gewerkschaften genauso wie für die Unternehmerverbände, für die Kommunen genauso wie für die Länder und die Bundesregierung. Sie haben in einem Punkt Recht, Frau Reichard. Wir haben mit dem Antrag und dem Versprechen, eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie zu entwickeln, einen Zukunftsrat einzurichten, einen neuen Stil in das Kabinett einzuführen, der vernetzt und integrativ ist, einen hohen Anspruch formuliert, dankenswerterweise mit Ihrer Hilfe. Wir haben jetzt auch zu zeigen, dass wir in der Lage sind, das umzusetzen. Wir werden in den nächsten Wochen sowohl diesen Zukunftsrat berufen als auch mit der Erarbeitung der Strategie beginnen. Ich verspreche Ihnen: Wir werden im Jahre 2002, zehn Jahre nach der Konferenz von Rio, nicht mit leeren Händen dastehen, sondern wir werden eine Strategie präsentieren, an deren Umsetzung Sie mitwirken können. Vielen Dank. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort der Kollegin Birgit Homburger für die F.D.P.-Fraktion.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ hat in der letzten Legislaturperiode wichtige Bausteine für die nationale Nachhaltigkeitsstrategie erarbeitet. Zur Erarbeitung und Umsetzung dieser Strategie hat sie für die Einsetzung eines Rats für nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung beim Bundeskanzleramt plädiert. Im letzten Sommer haben wir uns dann im Umweltausschuss damit auseinander gesetzt, wie die Empfehlungen der Enquete-Kommission umgesetzt werden können. Das Ergebnis war ein einstimmiger Beschluss, mit dem die Bundesregierung unter anderem aufgefordert wurde, noch im Jahre 1999 einen Rat für nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung mit Querschnittsaufgaben einzusetzen. Dies - das muss ich hier feststellen - ist Ihnen nicht gelungen. ({0}) Bis heute hat es die Bundesregierung nicht geschafft, ein fertiges Konzept für die Einsetzung dieses Rates vorzulegen. Ich hatte das heute eigentlich erwartet. Zwar hatte sich der Umweltausschuss auf Antrag unserer Fraktion im Dezember letzten Jahres noch einmal mit diesem Thema beschäftigt, aber trotz Ihrer vollmundigen Ankündigungen fiel der Bericht der Staatssekretärin eher dürftig aus. Sie haben uns weder Antworten auf die Frage gegeben, aus wie vielen Mitgliedern der Rat konkret bestehen soll, noch beantwortet, welche gesellschaftlichen Gruppen berücksichtigt werden sollen, noch beantwortet, wo er organisatorisch eingegliedert werden soll. Ihrerseits ist sogar noch jetzt umstritten, wo die Geschäftsstelle anzusiedeln ist. Noch nicht einmal darüber haben Sie sich einigen können. ({1}) Namen von Persönlichkeiten, die diesen Rat bilden sollen, werden zwar in der Gerüchteküche heiß gehandelt, aber offiziell erhalten wir von Ihnen darüber keine Auskunft. Angesichts dessen verwundert es mich natürlich nicht, dass von einer Straffung des Beratungswesens, die auf unsere Initiative hin beschlossen worden ist, überhaupt nicht mehr die Rede ist. Die F.D.P. erwartet, dass die Bundesregierung jetzt endlich zu Ergebnissen kommt und dem Parlament Vorschläge unterbreitet. ({2}) Der einstimmige Beschluss des Ausschusses dokumentiert ja, dass wir in diesem Haus eine fraktionsübergreifende Unterstützung für eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie haben. Deshalb ist mir völlig unverständlich, warum die Bundesregierung immer noch kein Konzept zuwege gebracht hat. Noch unverständlicher ist mir, dass das Parlament nicht in die Überlegungen der Bundesregierung eingeweiht wird, obwohl der Ausschuss einstimmig beschlossen hat, „dass der gesamte Prozess in allen Phasen eine intensive parlamentarische Begleitung, Beteiligung und Beachtung erfahren soll“. ({3}) Meine Damen und Herren von der Koalition, ich erwarte für den Fall, dass wir heute wieder einen einstimmigen Beschluss fassen - davon gehe ich aus -, dass Sie Ihre Beschlüsse ernst nehmen und dass Sie das gesamte Parlament in die weiteren Entscheidungen einbeziehen. Ich fordere Sie an dieser Stelle auf, bei der Besetzung des Rats darauf zu achten, dass er sowohl eine breite Themenpalette abdeckt als auch ein weit gefasstes Meinungsspektrum repräsentiert. Nur so ist nämlich das Ziel erreichbar, eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen zu erarbeiten, die am Ende auf breite Akzeptanz stößt. ({4}) Das Leitbild einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung kann und darf im Übrigen nicht von einzelnen Gruppen vorgegeben werden; das sollte man, so denke ich, an dieser Stelle deutlich feststellen. Vor allen Dingen darf - Herr Hermann sollte an dieser Stelle besser zuhören - der Nachhaltigkeitsrat kein ideologisches Kampforgan werden. ({5}) Er muss nämlich sowohl ökologische und ökonomische als auch soziale Fragen behandeln. Der Rat für eine nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung ist nicht nur als ein bloßes Diskussionsforum anzusehen. Vielmehr muss er durch eine intensive Zusammenarbeit mit bereits bestehenden Gremien eine Frühwarnfunktion übernehmen. Dabei gilt es, rechtzeitig die Konsequenzen eingeschlagener Entwicklungspfade aufzuzeigen. Das ist eine der Aufgaben dieses Rates. Die zuständige Parlamentarische Staatssekretärin hat uns im Umweltausschuss erklärt, dass sie für Vorschläge zur Benennung von Mitgliedern offen sei. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir werden Sie beim Wort nehmen, wenn denn die Struktur dieses Rates endlich feststeht. Unabhängig von einzelnen Persönlichkeiten gibt es allerdings in Deutschland eine Organisation, die seit vielen Jahren die Diskussion über eine nachhaltige Entwicklung begleitet, eine Organisation, in der sich die ganze Palette gesellschaftlicher Gruppierungen, und zwar von den Unternehmen bis hin zu den Gewerkschaften, von den Umwelt- bis hin zu den Wirtschaftsverbänden und übrigens auch alle politischen Gruppierungen, wieder findet: Das ist die Arbeitsgemeinschaft für Umweltfragen. ({6}) Ich bin der Meinung, sie muss bei der Erarbeitung der Nachhaltigkeitsstrategie eine besondere Berücksichtigung finden. ({7}) Ich warne davor, Ziele von oben vorzugeben, wie es in der Enquete-Kommission von Teilen der SPD und den Grünen geplant wurde. Eine solche Vorgehensweise wäre nicht nachhaltig, sondern kurzsichtig und darüber hinaus innovationsfeindlich. Für die F.D.P. steht fest: Zur Erreichung des Ziels einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung müssen die Chancen des technologischen Fortschritts genutzt werden. Nachhaltige Entwicklung ohne Innovationen ist aus unserer Sicht nicht realisierbar. ({8}) Ebenso illusorisch ist eine Zielerreichung ohne die Nutzung der marktwirtschaftlichen Dynamik. Ich hoffe, Sie haben das inzwischen begriffen. ({9}) Ich erinnere mich nämlich noch genau daran, als Teile der Koalition in der Diskussion in der EnqueteKommission äußerten, dass es am besten sei, wenn es gar keine Innovationen gäbe. ({10}) Meine Damen und Herren insbesondere von den Grünen, dies war angesichts der Erarbeitung einer Nachhaltigkeitsstrategie und der hohen Arbeitslosigkeit eine makabere Forderung. Nachhaltige Entwicklung setzt einen tief greifenden Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft voraus. Nachhaltigkeit bedeutet nämlich, dass Umwelt, Wirtschaft und Soziales gleichrangige Säulen einer nachhaltigen Entwicklung sind. Jede dieser Säulen ist von tragender Bedeutung für das Gesamtgebäude. In diesem Sinne ist es vorrangige Aufgabe, nicht nur Umweltpolitik, sondern auch alle anderen Politikbereiche unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten zu beleuchten. Auch die Wirtschafts- und die Sozialpolitik müssen auf Dauer nachhaltig zukunftsverträglich sein. ({11}) Daher ist mit Blick auf die Integration von ökologischen, ökonomischen und sozialen Fragestellungen auf dem Weg zu einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung auch die Überprüfung der bisherigen Entscheidungsstrukturen bei Staat, Wirtschaft und gesellschaftlichen Organisationen von Bedeutung. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen das ist heute schon gesagt worden -, dass die Einrichtung des Nachhaltigkeitsrats aus Sicht der F.D.P. mit der Straffung des Beratungswesens durch die Bundesregierung, das heißt der Abschaffung anderer Beratungsgremien oder deren Zusammenlegung einhergehen muss. ({12}) Die F.D.P. hat sich in der Enquete-Kommission von Anfang an massiv dafür eingesetzt, dass die notwendigen Umstrukturierungen nicht zu einer weiteren Aufblähung des Beratungswesens und zur 250. Institution für arbeitslose Wissenschaftler führen. Wir wollen vielmehr, dass eine Straffung und Zusammenführung vorgenommen wird, dass sich eine neue Konzeption daraus entwickelt. Wir freuen uns, dass sich zum Schluss unsere Meinung aus guten Gründen in der EnqueteKommission durchgesetzt hat. Ich fordere die Bundesregierung daher auf, bei der Vorlage des Konzepts auch diesen Aspekt zu berücksichtigen. Herr Minister Trittin, es geht nicht nur um Aufstocken, sondern auch um Abspecken. Es muss nicht nur draufgesattelt, sondern auch neu geordnet werden. Dies ist es, was geboten ist. ({13}) Sie rühmen sich, beim Thema Nachhaltigkeit gute Arbeit geleistet zu haben. Ich bin da anderer Meinung; denn Nachhaltigkeit ist nicht ein neues Wort dafür, alte ökologische Steckenpferde wieder aus der Mottenkiste zu holen. Vor allem die Grünen haben die Nachhaltigkeitsdebatte in der Vergangenheit immer auf ökologische Themen beschränkt. Ich möchte an einigen Beispielen exemplarisch darstellen, welchen Bärendienst Sie damit der Nachhaltigkeit bislang erwiesen haben. Als Beispiel bestens geeignet ist die so genannte Ökosteuer. Mit ihr haben Sie gleich alle drei Säulen, nämlich Ökonomie, Ökologie und Soziales, mit Füßen getreten. ({14}) Die so genannte Ökosteuer weist ökologische Brüche auf und hat bestehende Strukturen, wie beispielsweise die Selbstverpflichtung der Industrie, überhaupt nicht berücksichtigt. Selbstverpflichtungen sind aber ein Instrument von Nachhaltigkeitsstrategien und müssen ernst genommen werden. Die Erarbeitung einer Nachhaltigkeitsstrategie daran zeigt sich Ihr Denken - lebt von der Vielfalt der Ideen. Nur dadurch können wir eine gewisse Kreativität freisetzen, die in einem Wettbewerb verschiedener Lösungen zu effizienten Vorschlägen führt. Das ist es, was organisiert werden muss. ({15}) Eine Nachhaltigkeitsstrategie funktioniert erst durch Einsicht und Engagement aller beteiligten Gruppen. Sie basiert auf dem Prinzip der Selbstorganisation, ({16}) also der gezielten Nutzung der systemimmanenten Entwicklungsdynamik von Natur, Gesellschaft und Wirtschaft. In einer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaft wie der der Bundesrepublik Deutschland muss es zu einer engen Zusammenarbeit zwischen den Akteuren der Politik und zu Eigeninitiativen der Betroffenen kommen. Der Kollege Hermann hat vorhin in seinen Ausführungen gesagt, jeder müsse Verantwortung an seinem Platz wahrnehmen. Jawohl, Herr Kollege Hermann, nehmen Sie Ihre Verantwortung endlich wahr! ({17}) Im Übrigen: Mit der so genannten Ökosteuer haben Sie in einem für die nachhaltige Entwicklung wichtigen Bereich, nämlich dem Verkehrssektor, mit der Belastung des ÖPNV und der Bahn die Politik in die falsche Richtung gelenkt. ({18}) Dies und auch die Verteuerung der regenerativen Energien durch die so genannte Ökosteuer bei gleichzeitiger Freistellung der Kohle zeigen sehr deutlich, dass es Ihnen nicht um Nachhaltigkeitsaspekte, sondern um reines Abkassieren geht. ({19}) Eine Fokussierung auf die Ökosteuer als Steuer auf Energie ist ökologischer wie ökonomischer Unsinn. Das ist auch schon im Bericht des Umweltbundesamtes „Nachhaltiges Deutschland“ festgehalten und es wird davor gewarnt. Der Bericht fordert nämlich, dass für eine nachhaltige Politik zu einer Steuer auf Energie mindestens gleichberechtigt ein ökologischer Subventionsum- und -abbau und die Senkung der bestehenden Abgaben hinzutreten müssen. Genau das war und bleibt die Forderung der F.D.P. ({20}) Ihre unsinnigen und unlogischen Maßnahmen, Herr Trittin, stoßen bei den Bürgerinnen und Bürgern auf Unverständnis und natürlich auf berechtigten Widerstand. ({21}) Damit schaden Sie der Akzeptanz der Umweltpolitik ebenso wie dem Gedanken der Nachhaltigkeit. ({22}) Man muss die Menschen auf dem Weg zur Nachhaltigkeit mitnehmen und dafür braucht man verständliche, unbürokratische und einleuchtende Regelungen. ({23}) Eine Politik - das müssen Sie sich schon anhören -, die die Ökologie nur als Deckmäntelchen für ein reines Abkassieren verwendet, wird dem nicht gerecht und ist zudem unsozial. ({24}) Auch die von Ihnen geführte Debatte zum Ausstieg aus der Kernenergie wird natürlich dem Nachhaltigkeitsgedanken in keiner Weise gerecht. ({25}) Sie diskutieren nämlich unter vermeintlich ökologischen Vorzeichen nur den Ausstieg. Soziale Komponenten wie die damit zusammenhängenden Arbeitsplatzfragen werden von Ihnen nicht einmal angesprochen ({26}) und eine nachhaltige Behandlung des Themas würde im Übrigen auch ein klares Energie- und Entsorgungskonzept beinhalten. Sie haben Großes angekündigt - Herr Hermann eben wieder -, aber bisher überall Fehlanzeige. ({27}) Eine Nachhaltigkeitsstrategie ohne Aussagen zur Energiepolitik wäre absolut wertlos ({28}) und deswegen fordern wir Sie heute noch einmal auf: Legen Sie endlich Ihre Konzepte vor ({29}) und kündigen Sie nicht ständig nur an, dass Sie irgendwann einmal irgendetwas machen. Sie werden sonst so lange brauchen, bis Sie überhaupt nicht mehr an der Regierung sind. ({30}) Diese Beispiele zeigen deutlich die Defizite und Versäumnisse Ihrer Politik in puncto Nachhaltigkeit. Es ist ein Beweis dafür, wie wichtig ein gemäß einem breiten Meinungsspektrum besetzter Nachhaltigkeitsrat ist, der Sie dann bei der Erarbeitung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie unterstützen kann. Wir fordern die Bundesregierung auf: Hören Sie endlich auf, sich in Verfahrensfragen zu verheddern! Legen Sie ein Konzept vor, das dann diskutiert und beschlossen werden kann, damit die konkrete Arbeit endlich anfangen kann! Lassen Sie den großen Worten endlich einmal Taten folgen! Vielen Dank. ({31})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht nun die Kollegin Eva Bulling-Schröter.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass heute über den Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ aus der letzten Wahlperiode debattiert wird, dies aus zweierlei Gründen: Zum einen umfasst das Thema nichts Geringeres als die zentrale Aufgabenstellung für dieses Jahrhundert. Die nächsten Jahrzehnte werden entscheiden, ob es in den nächsten Jahrtausenden eine lebenswerte Zukunft für die Menschheit geben wird oder nicht. Zum anderen gibt uns die Debatte Gelegenheit, einmal darüber nachzudenken, wofür und wie das Instrument EnqueteKommissionen des Bundestages genutzt wird. Das ist auch angesichts der Vielzahl solcher Kommissionen in dieser Wahlperiode angezeigt. Die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ hatte den Auftrag, Umweltziele für eine nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung zu erarbeiten, die notwendigen ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen einer solchen Entwicklung zu bestimmen, die Notwendigkeit gesellschaftlicher und technischer Innovationen zu überprüfen und Maßnahmen zur Umsetzung einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung zu finden. Man habe die Nachhaltigkeit endlich vom „Niveau der Sprechblase“ heruntergeholt, so fasste Frau CaspersMerk im letzten Jahr das Ergebnis zusammen. Ich denke, dies entspricht nicht ganz der Realität. Denn es gab schon vorher vielfältige Untersuchungen, die eine ziemlich präzise Beschreibung des Zustandes der natürlichen Umwelt ablieferten sowie Umweltziele formulierten. Ich nenne für die Bundesrepublik nur „Zukunftsfähiges Deutschland“. Es gibt darüber hinaus auch vielfältige Literatur darüber, worin die Ursachen der Nichtnachhaltigkeit, insbesondere der Industrieländer, zu suchen sind, und zwar vor allem aus sozialökonomischer und nicht nur aus institutioneller, technischer oder rechtlicher Sicht. Notwendig wäre hier also eine Präzisierung und Weiterentwicklung all dieser Ansätze gewesen. Davon ausgehend hätten Anforderungen an die Politik gestellt werden müssen, die sicher streitbar und spannend gewesen wären, sofern sie die Ebene der Novellierung dieser oder jener Verordnung oder der Installierung dieses oder jenes Expertengremiums verlassen hätten. Doch wer will das wirklich? Wer fragt nach den Gewinninteressen von Automobilbranche und Mineralölindustrie? Wer fragt nach dem Zusammenhang von Gewinnen der Nahrungsund Düngemittelmultis und deren begrenzten Interessen an einer ökologischen Landwirtschaft? ({0}) So ist es kein Zufall, dass die von der damaligen Koalition dominierte Kommission im Bereich der Bodenversauerung lediglich neue Grenzwerte für Schwefeldioxid, Stickoxide und Ammoniak empfahl, und dies lediglich in dem Maße, wie sie wirtschaftlich darstellbar waren. Dies alles geschah, obwohl klar war, welche Rolle beispielsweise der Verkehr, die Landwirtschaft oder die Zementindustrie bei der Versauerung unserer Böden spielen. Den Minderheitenvoten blieb es vorbehalten, auch auf Tempolimits, Benzinpreisverteuerung oder den Ausbau der ökologischen Landwirtschaft zu drängen. ({1}) Ähnliches gilt für den Bereich Bauen und Wohnen. Das von der Kommission postulierte Ziel, den zusätzlichen Flächenverbrauch von 120 Hektar pro Jahr künftig auf ein Zehntel zu reduzieren, ist, obwohl augenscheinlich immer noch nicht nachhaltig, angesichts der traurigen Realität erst einmal als ehrgeizig zu bezeichnen. Wer jedoch wie die Mehrheit der EnqueteKommission die Lösung lediglich im ressourcenschonenden Bauen und in der Flächensteuer sieht, greift unserer Meinung nach zu kurz. Warum fliehen die Menschen aus den Städten und zersiedeln die Landschaft? Wie ist das zu stoppen? Warum sind Kommunen von Unternehmen erpressbar und weisen immer wieder zusätzliches Bauland aus? Wer verdient an jedem Kubikmeter Beton, der auf Wiese oder Acker geschüttet wird? Über welche Wege formuliert die Lobby der Baulöwen einen Teil der Gesetzgebung? Ich erinnere nur an die Novellierung des BauROG oder an das zahnlose Bodenschutzgesetz! Sagen Sie jetzt nicht, dies wäre kommunistische Propaganda; denn die aktuellen Spenden- und Flugaffären sprechen zu diesem Thema Bände. ({2}) Zusammenfassend ist zum Bericht zu sagen: Es ist eine Menge Papier voll geschrieben worden, von dem sicherlich das meiste klug und interessant zu lesen ist. Es finden sich in ihm und mehr noch in den Studien der Kommission eine Fülle von Anregungen. Doch angesichts der Ansprüche, die an die immerhin dreijährige Kommissionsarbeit gestellt wurden, erscheint das Ergebnis in Form des Abschlussberichts eher kläglich. Die verwertbaren Standpunkte liegen wiederum bei der Zustandsbeschreibung. Zwar wurden jeweils auch Umwelthandlungsziele erarbeitet, doch verharren diese meist beim Ruf nach rechtlichen und technischen Neuerungen, und auch das nur in bescheidendem Maße. Der Zusammenhang zwischen ökologischen, ökonomischen und sozialen Faktoren wurde schon in der Analyse auf das Verhältnis von angeblicher Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsplätzen und ökologischer Verträglichkeit reduziert. Damit ist kein großer Wurf zu machen. Es wird herumgedoktert, ohne denen weh zu tun, die Hauptverursacher von Umweltzerstörung, Abhängigkeit und Unterentwicklung sind: ({3}) die großen nationalen und internationalen Unternehmen, deren Manager nicht nach der Erfüllung von Umweltplänen, sondern nach der Wertsteigerung der Unternehmen bezahlt werden, wenn ich richtig informiert bin. Vielleicht lag das auch daran, dass ein Klima herrschte, in dem es unmöglich war, auch die Enfants terribles der Nachhaltigkeitsdiskussion nach Bonn zu bitten. Das betraf zum Beispiel die Buko, die Bundeskoordination entwicklungspolitischer Gruppen, die sich seit Jahren kritisch mit dem Nachhaltigkeitsdiskurs befasst und deren Einladung die PDS angeregt hatte. Die Buko aber wurde für Ärger gar nicht gebraucht. Die damalige schwarz-gelbe Mehrheit hat sich nämlich nicht gescheut, im November 1997 den ganzen Arbeitsstand der Kommission mit einem völlig neuen Entwurf des Abschlussberichts handstreichmäßig über den Haufen zu werfen. Wenn es zu kritisch wird, werden eben Mehrheiten benutzt, obwohl solche Machtkämpfe eigentlich zugunsten einer Konsenssuche aus EnqueteKommissionen herausgehalten werden sollten. Die gemeinsame Erarbeitung von Empfehlungen durch Wissenschaft und Politik für den Bundestag, in dem dann natürlich wieder andere Regeln gelten, soll ja ihr Auftrag sein. Dazu gibt es Enquete-Kommissionen, die jahrelang um Ergebnisse ringen. Sonst könnten wir ja gleich im Plenum über Wahrheiten abstimmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun hätte ja der mit viel Zeit und Geld erarbeitete Enquete-Bericht auch noch so revolutionär daherkommen können. Die Umsetzung seiner Empfehlungen steht auf einem anderen Blatt - oder in anderen Blättern, beispielsweise in den Gesetzesvorlagen der Bundesregierung. Rot-Grün - damals wenigstens zu Teilen hinter dem Minderheitsvotum stehend - hätte jetzt die Macht, einige der Ergebnisse umzusetzen. Doch wo bleibt das allgemeine Tempolimit? Was ist mit der Flächensteuer? Oder nehmen wir den Energiesektor: Klimaschutz ist eines der zentralen Themen der Nachhaltigkeitsdebatte. Insgesamt bin ich aber ein wenig skeptisch, ob die Zukunft einen durchgreifenden Wandel in der Energiepolitik bringen wird - trotz der Novelle des Stromeinspeisungsgesetzes, die hoffentlich bald kommt, trotz oder auch wegen der irrwitzigen Konstruktion der Ökosteuer. Herr Minister Müller sprach in seiner Rede vom 16. Dezember davon, dass im Jahre 2005 infolge der Strompreissenkungen Einsparungen in Höhe von 15 bis 20 Milliarden DM zu erwarten sind. Dies läge weit über den Förderprogrammen, die sich in der Summe auf etwa 4 Milliarden DM belaufen würden. Nun stellt sich mir die Frage: Ist dies aus Sicht des Klimaschutzes und in Anbetracht des Zeitfensters, das uns für ein dramatisches Umsteuern zur Verfügung steht, wirklich positiv zu bewerten? Wenn der Umweltverbrauch im Energiesektor augenscheinlich immer billiger wird, welche Chance haben dann langfristig betriebswirtschaftlich teurere regenerative Energien? Sind wir auf der richtigen Schiene? Sind die Weichen wirklich richtig gestellt? Es scheint also auch Rahmenbedingungen zu geben wie beispielsweise die Liberalisierung und die Globalisierung -, die nicht einfach nur hingenommen werden können, wie es Rot-Grün, erst recht CDU/CSU und F.D.P. tun und wie es auch die Enquete-Kommission getan hat. Diese Rahmenbedingungen sind bewusst gesetzt worden und eben nicht vom Himmel gefallen. Sie sind von den Verwertungsinteressen des Kapitals diktiert und nicht eine Folge der technischen Entwicklung. ({4}) Sie laufen vielfach einer tatsächlich nachhaltigen Entwicklung diametral entgegen. Wer das nicht begreift oder begreifen will, ist weltfremd. Genauso weltfremd scheinen mir übrigens gegenwärtig die Übungen zur Einsetzung einer EnqueteKommission „Zukunft der Energieversorgung“. Die Koalition fightet seit Wochen nachhaltig mit Herrn Grill darum, wer zur ersten Sitzung einladen darf. Da bisher kein Federstrich von den Anregungen der PDS in die zwei Entwürfe des Einsetzungsbeschlusses aufgenommen wurde und wir aufgrund „nachhaltig demokratischer Spielregeln“ auch nicht im Kopf des Einsetzungsbeschlusses auftauchen dürfen - so ist es zumindest bei den anderen Enquete-Kommissionen -, könnte mir das eigentlich egal sein. Es ist bloß ein bisschen irritierend, sofern man daraus Schlüsse für den weiteren Verlauf der Arbeit zieht. Denn auch diese Kommission könnte bei eher dünnen Ergebnissen wieder eine Menge Zeit und Geld kosten - und zwar nachhaltig. Danke. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort dem Kollegen Michael Müller für die SPD-Fraktion.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dem Buch - leider nicht in dem schönen Film - „Forrest Gump“, in dem es um einen so genannten hochgebildeten Idioten geht, gibt es eine wunderschöne Szene. Als Forrest Gump in einer Universität Studenten vorgeführt wird, sagt Professor Mills: Meine Damen und Herren, schauen Sie sich ihn an! Forrest Gump ist Mann, der mathematische Formeln in Perfektion aufschreiben kann, aber nichts von MaEva Bulling-Schröter thematik versteht. Forrest Gump kann wunderbar Klavier spielen, aber er hat überhaupt keine Ahnung von Musik. Dieses Beispiel aus dem Buch „Forrest Gump“ ist in einer gewissen Weise ein Sinnbild für die Situation, in die unsere Gesellschaft zunehmend hineingerät. Wir werden immer perfekter in Teilbereichen; aber ob das Ganze noch stimmt, wird immer fraglicher. Das ist der eigentliche Kern der Debatte über Nachhaltigkeit. ({0}) Es geht um die Frage, ob das innere Gleichgewicht unserer Gesellschaft, ob die Mechanismen unserer Entwicklung noch mit dem, was wir heute über Zukunftsgefahren wissen, in Einklang stehen. Das ist der eigentliche Punkt: Es geht darum, wieder eine Gesamtlogik zu schaffen. Wir wissen, dass die Grundmechanismen jeder modernen Industriegesellschaft, auf permanente Erweiterung der Internationalisierung, auf permanente Beschleunigung, auf eine fortgesetzte Auflösung vorgegebener Ordnungen und auf immer größere Arbeitsteilung ausgerichtet sind. Eine Demokratie, eine soziale Gesellschaft, kann aber nur funktionieren, wenn diese Mechanismen immer wieder von neuem mit der Fortentwicklung des Ganzen in Einklang gebracht werden. Ich sehe das Entscheidende der Nachhaltigkeit darin, dass man eben nicht eine Teilantwort gibt, sondern versucht, Teilantworten wieder in ein Gesamtbild einzuordnen, um so die Gesamtentwicklung stimmig zu machen. Es ist ein genereller politischer Entwurf, nicht ein fachpolitischer für Detailbereiche und Detailantworten. Das ist der eigentliche Kern, und das ist unsere Chance. ({1}) Deshalb ist es natürlich ein Problem, - das Thema Nachhaltigkeit das ist auch in dieser Diskussion geschehen -, auf die Themen Ökologie und Entwicklungspolitik zu reduzieren. Die Grundidee der Nachhaltigkeit ist zwar sehr stark von diesen beiden Polen geprägt worden, nämlich einerseits von der Frage der Umweltzerstörung - ich denke insbesondere an die Diskussion der 70er-Jahre in den Vereinten Nationen aufgrund der Berichte über die Grenzen des Wachstums, - und andererseits auch aus der Angst der Entwicklungsländer heraus, dass der Unterschied zwischen Nord und Süd immer größer wird und durch eine restriktive Umweltpolitik weiter wächst. Deshalb muß man neue Wege gehen. Aus diesen Gründen ist der Kern der Nachhaltigkeitsdiskussion die Frage, wie unsere Gesellschaft zukunftsfähig organisiert wird. Dies ist eine zutiefst kulturelle Herausforderung und eben nicht nur eine neue technische Antwort bei dem Versuch, das Bestehende so zu lassen und nur irgendetwas Nachhaltiges draufzupfropfen. Dies wäre der falsche Ansatz. ({2}) Heute kommen zwei große Herausforderungen zusammen. Eine davon ist die Globalisierung, die von uns neue Antworten in der Form verlangt, dass von neuem soziale Stabilität erzeugt wird, die in der Vergangenheit vor allem über den Sozialstaat nationalstaatlich organisiert wurde. Wir erleben, dass die Globalisierung dazu führt, dass die bisherigen Gesellschaftsverträge beispielsweise zwischen Kapital und Arbeit, die an eine feste räumliche Ordnung gebunden waren, aufgelöst werden. Jetzt müssen wir uns fragen: Wie bekommt man von neuem Stabilität, Demokratie und gesellschaftlichen Interessenausgleich hin? Die Nachhaltigkeit versucht, eine Antwort zu geben: Einzelentscheidungen müssen sich sozial- und umweltverträglich in das Ganze einfinden. Das ist deshalb ein sehr wichtiger Ansatz, weil er Vielfalt und Kreativität geradezu fördert - im Gegensatz zu der vorherrschenden Globalisierung, die alles eher auf einfache und kommerzielle Antworten vereinheitlicht. Der zweite wichtige Punkt ist: Es ist eine Illusion, zu glauben, wir könnten auf absehbare Zeit eine globale Weltregierung errichten, die von oben anordnet, wie wir uns ökologisch, sozial oder wie auch immer zu verhalten hätten. Die Nachhaltigkeitsidee ist umgekehrt die Herrausforderung, in jedem Land, in jeder Stadt, in jeder Region unterschiedliche Antworten zu geben, aber sich dabei an der Gesamtidee zu orientieren. So etwas existiert bereits: In England gibt es „Going to green“, den New Deal „Transportation“. In den Niederlanden gibt es das grüne Poldermodell. In Schweden wird über die Politik für zwei Generationen geredet. In den USA gibt es den Bericht an Präsident Clinton „Nachhaltiges Amerika“. In Frankreich wird die Leitidee: „Wie sieht ein tragfähiges Frankreich aus? “ diskutiert. Insofern tragen auch wir hier etwas zu einer weltweiten Diskussion bei, in der wir unsere spezifischen Antworten zur Nachhaltigkeit geben, aber gleichzeitig der globalen Verantwortung gerecht werden. Das ist ein guter Ansatz. Das ist richtig verstandene Globalisierung, nämlich Weltinnenpolitik. ({3}) Wenn man diese Kurskorrektur vornehmen will, dann muss man natürlich auch Wahrheiten aussprechen, beispielsweise über die ökologischen Gefahren. Aber man muss auch den Mut zu neuen Antworten, auch zu unbequemen Antworten haben. Ich möchte deshalb ein paar Sätze zu dem Thema ökologische Steuerreform und zu den Preisschüben sagen, die stattgefunden haben. Dabei möchte ich nicht darauf eingehen, welche Konzepte einer ökologischen Steuerreform die heutigen Oppositionsfraktionen in der Vergangenheit entwickelt haben und wer sie gestoppt hat. Dies erscheint ja heute in einem ganz anderen Licht. ({4}) Für viel wichtiger halte ich in diesem Zusammenhang eine andere Frage: Im Sommer vergangenen Jahres lag der Preis für Super bleifrei bei 1,58 DM. Darauf wurden 6 Pfennig Ökosteuer und 1 Pfennig Mehrwertsteuer aufgeschlagen. Dadurch hätte der Preis bei rund 1,65 DM Michael Müller ({5}) liegen müssen. Tatsächlich ist er auf knapp 2 DM gestiegen. Nun sagen viele: Diese Entwicklung ist das Ergebnis der Preispolitik der Ölkonzerne. Ich möchte nicht verschweigen, dass da etwas dran ist. Natürlich haben sie die Gunst der Stunde genutzt. Aber dies als einzige Erklärung anzuführen, wäre zu wenig. Heute findet erneut - das hat viel mit dem Thema der Nachhaltigkeit zu tun - eine Veränderung der weltweiten Energie- und vor allem der Erdölmärkte statt. Das Nordseeöl wird sehr viel schneller ausgebeutet als erwartet. Wir sind wieder sehr viel stärker vom Erdöl aus der Golfregion abhängig. Diese Abhängigkeit liegt inzwischen wieder über 50 Prozent. Viele Länder dieser Region sind hoch verschuldet. Sie bekommen jetzt den Hebel für die Preisgestaltung wieder viel stärker in die Hand. Zudem werden heute zunehmend die politischen und ökonomischen Kosten der Ausbeutung neuer Erdölund Gasreserven am Kaspischen Meer und in der Kaukasus-Region in Rechnung gestellt. Daraus ergeben sich gewagte Risiken, wenn wir nicht heute stärker mit Energieeinsparungen, mit rationeller Nutzung der vorhandenen Energien und mit der Nutzung von Solarenergie umsteuern. Anderenfalls ist diese Entwicklung mit weltpolitischen Konflikten verbunden, die wir schon beispielsweise in Tschetschenien und bei der neuen Rolle der Türkei erleben. Nachhaltigkeit hängt also auch mit der Frage zusammen, ob wir eine friedliche Weltzukunft haben. ({6}) Es ist deshalb absolut unsinnig, die Erdölpreise populistisch zu behandeln; vielmehr muss man die damit zusammenhängenden Fragen auflisten, um eine verantwortungsvolle Politik zu betreiben. Wir müssen in der Energiepolitik umsteuern. Das ist unsere Verantwortung als Industriestaat. Dazu gehört auch die Ökosteuer. Hier kann und darf man nicht kneifen. ({7}) Ein zweiter wichtiger Punkt ist der Klimaschutz. Wir haben sehr begrüßt, dass der Bundeskanzler auf der UNKonferenz in Bonn ein Klimaschutzprogramm angekündigt hat. Wir werden das massiv unterstützen. Wir wünschen uns den Mut, dass die Bundesrepublik für sich und für Europa ein gutes Beispiel dafür gibt, wie Umweltverträglichkeit und ökonomische Leistungsfähigkeit miteinander verbunden werden können. Ich möchte einen dritten Punkt nennen. Für mich gehört zur Nachhaltigkeit zentral die Verbindung von Arbeit und Umwelt. Ich halte es für richtig, in das „Bündnis für Arbeit“ auch die Fragen der ökologischen Modernisierung aufzunehmen, gerade um die Innovations- und Modernisierungsfähigkeit des Landes zu verbessern. ({8}) All dies sind Einzelelemente der Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit ist nie ein starres Konzept, sondern eine Leitidee und ein Ziel. Sie ist aus meiner Sicht ein neues Fortschrittsmodell, das die Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte, nämlich die ökologischen Grenzen des Wachstums beachtet, aber gleichzeitig die Errungenschaft des letzten Jahrhunderts, nämlich die soziale Demokratie, bewahrt und fortentwickelt. Dieses neue Fortschrittsmodell möchten wir ins Zentrum unserer Politik stellen. Deshalb suchen wir den breiten gesellschaftlichen Dialog. Wir sehen hierin einen Schwerpunkt dieser Regierung für die Reformfähigkeit unseres Landes. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Paul Laufs.

Prof. Dr. Paul Laufs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Künftige Generationen sollen in eine Welt hineinwachsen können, die ihnen die gleichen guten Lebens- und Entwicklungschancen bietet, die auch die gegenwärtige Generation vorgefunden hat. Es geht also um eine dauerhaft gerechte Güter- und Lastenverteilung auf dieser Erde. Es geht um die langfristige Verantwortung der heute lebenden Menschen für zukunftsfähige Wirtschafts- und Verbrauchsstrukturen. Kollege Hermann hat beklagt, dass der Begriff „Nachhaltigkeit“ sehr unbestimmt ist. Das ist richtig. Ich bevorzuge deshalb in Diskussionen gerne den Begriff der Zukunftsfähigkeit, der nicht erläutert werden muss. Die Erfolge der bisherigen, seit Jahrzehnten intensiv vorangetriebenen Umweltpolitik in Deutschland sind erfreulich und ermutigend, aber sie reichen nicht aus. Wir sind von der Vision einer nachhaltig umweltverträglichen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft noch weit entfernt. Die Politik ist in der Pflicht, alle betroffenen Akteure, Staat und Wirtschaft, gesellschaftliche Gruppen und Endverbraucher, für nachhaltige Verhaltensweisen zu motivieren und sie zu leiten. Selbstverständlich ist die Verantwortung jedes Bürgers angesprochen; aber die Politik hat eine Führungsaufgabe, die sie auf Bundesebene durch die Regierung gegenwärtig nicht wahrnimmt. Über das Leitbild der Nachhaltigkeit gibt es keinen Streit. Wir alle haben es uns zu Eigen gemacht. Probleme gibt es bei der Umsetzung in praktisches Handeln. „Nachhaltigkeit muss zur Chefsache werden und im Mittelpunkt der Bemühungen des Staates stehen“, hat die Vorsitzende, Frau Kollegin Caspers-Merk, in ihrem Vorwort zum Abschlussbericht der Enquete-Kommission formuliert. Wir fragen uns heute: Wie hat die Bundesregierung das erste Jahr ihrer Regierungszeit genutzt, um Nachhaltigkeitsprozesse anzuschieben, konkrete Ziele zu setzen und die Akteure dafür zu gewinnen? Ist Nachhaltigkeit wirklich zur Chefsache geworden? Wir nehmen gerne zur Kenntnis, dass eine Runde von Staatssekretären, wie wir hier gehört haben, einmal Fragen eines Nachhaltigkeitsrates beraten hat. War das alles? Frau Kollegin Caspers-Merk konnte auch in dieser Michael Müller ({0}) Debatte nur wieder aufzählen, was noch alles geschehen muss. Konkrete Projekte müssen erst noch vorgeschlagen werden. Auch Kollege Hermann sprach hier von künftigen Strategien, die erst entwickelt werden müssen. Die etwas abgehobenen - ich bitte um Verzeihung, Herr Kollege Müller - philosophischen Betrachtungen, die Sie hier vorgetragen haben, helfen uns bei der praktischen Umsetzung des Konzepts Nachhaltigkeit ebenfalls herzlich wenig weiter. Dass er wie Minister Trittin und viele andere jetzt beklagt, dass die Benzinpreise stärker gestiegen sind, als nach Erhebung der Ökosteuer zu erwarten war, verstehe ich nicht so recht. Sie wollten doch hohe Ölpreise! Oder wollten Sie wirklich nur abkassieren? ({1}) Wir sehen vor allem, dass sich die rot-grüne Bundesregierung mit dem Atomausstieg und mit der Ökosteuer befasst hat, also mit zwei Projekten, die einer nachhaltigen Entwicklung nicht dienen. Zur so genannten Ökosteuer haben die Kolleginnen Reichard und Homburger schon gesagt, was dazu gesagt werden muss. Zur Frage der nachhaltigen Energiebereitstellung, also auch zur Frage des Atomausstiegs, gibt es in diesem Haus einen tief greifenden Dissens. Dazu möchte ich nur einen Hinweis geben. Der Club of Rome hat bekanntlich seine frühere Ablehnung der weiteren Kernenergienutzung inzwischen revidiert und spricht davon, dass wir angesichts des schwerwiegenden Risikos einer Klimaänderung auf unserem Planeten, die ein verstärkter Einsatz fossiler Brennstoffe mit sich bringen könne, die technischen, wirtschaftlichen und sicherheitsrelevanten Vorbedingungen für ein großes Comeback der Kernenergie schaffen müssten. ({2}) Solange wir erneuerbare Energien nicht in ausreichender Menge wirtschaftlich verfügbar hätten, sei die Kernenergie die einzige Lösung, die eine nachhaltige Entwicklung ermögliche. ({3}) Diese neue Einschätzung des Club of Rome findet weltweit immer mehr befürwortende Stimmen. Das Dialogangebot zur einer Neubewertung der Kernenergie, das von 560 deutschen Wissenschaftlern im September vergangenen Jahres der Bundesregierung gemacht worden ist, wurde von Ihnen ausgeschlagen. Dies ist ein Armutszeugnis und das Eingeständnis, sich ideologisch verrannt zu haben, ({4}) was übrigens der jüngeren Generation - täuschen Sie sich nicht, diskutieren Sie draußen mit den jungen Leuten - zunehmend unbegreiflich und befremdlich erscheint. ({5}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen anderen wichtigen Aspekt betrachten: Nachhaltigkeit bedeutet nicht nur die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie, sondern umfasst auch soziale Aspekte. Es geht um die Menschen mit all ihren Belangen. Die von der Konferenz in Rio 1992 verabschiedete Agenda 21 hat deshalb einen besonderen Schwerpunkt auf die lokalen Entwicklungen gesetzt. Der Lokale-Agenda-21Prozess hat bereits viele Städte und Gemeinden erfasst. Es gibt aber zahlreiche Regionen, in ländlichen Räumen gelegene Landkreise sowie mittelgroße und viele kleine Gemeinden, die noch nicht mit einbezogen sind. Hier geht es ganz direkt um die praktische Umsetzung des Leitbildes von der Nachhaltigkeit. Wir sollten alles tun, um diesen Prozess zu fördern. Erfolgreiche Projekte der Lokalen Agenda 21 finden wir vor allem im Bereich von Energie- und Rohstoffeinsparungen und Klimaschutz. Hier bietet es sich an, das Ökoaudit-System verstärkt anzuwenden und auf Liegenschaften der öffentlichen Verwaltung auszudehnen. Es wird vorgeschlagen, Ämter, Krankenhäuser, Schulzentren usw. möglichst im Konvoi einem Ökoaudit zu unterziehen, um Verfahrenskosten zu sparen. In meinem Wahlkreis Waiblingen sind schon vor zwei Jahren mit großem Erfolg das erste Landratsamt und das erste Kreiskrankenhaus in der Europäischen Union im Rahmen des Ökoaudit-Systems zertifiziert worden. Die bisher angelaufenen und durchgeführten Projekte der Lokalen Agenda 21 haben ganz überwiegend Umweltprobleme behandelt, während die gleichfalls und gleich bedeutend zu betrachtenden Aspekte der Wirtschaft und des Sozialen eine eher untergeordnete Bedeutung gehabt haben. Im Rahmen der Lokalen Agenda 21 bieten sich beispielsweise auch Projekte an, die die öffentliche Sicherheit und kommunale Kriminalprävention berücksichtigen oder ein zukunftsfähiges Konsumverhalten in der Gemeinde zum Gegenstand haben. Hier stehen wir vor der zentralen Aufgabe, Menschen zu bürgerschaftlichem und umweltschonendem Verhalten zu motivieren und zu erziehen. Nachhaltigkeit bedeutet, dass wir unsere Lebens- und Arbeitsumwelt im sozialen Konsens umgestalten und neue Verhaltensmuster einüben. Bei der getrennten Sammlung zur Wiederverwertung von häuslichen Abfällen ist dies zum Beispiel schon weitgehend gelungen. Kollege Hermann hat hier den Bereich der Mobilität angesprochen. Wir teilen bei weitem nicht alle Ihre Vorschläge, Kollege Hermann. ({6}) Dass wir aber im Rahmen der Umsetzung des Nachhaltigkeitskonzeptes hier eine große Aufgabe haben, ist uns allen klar. Bei der kulturellen Umweltbildung müssen künftig neue Leitbilder für nachhaltiges Wirtschaften, soziales Verhalten und individuelle Lebensstile im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung und der Bemühungen um eine nachhaltig umweltverträgliche Industriegesellschaft stehen. Große Aufmerksamkeit ist dem Thema Schule und Kinder zu widmen. Durch frühzeitige Naturkontakte soll Freude an der Natur geweckt und umweltverantwortliches Handeln eingeübt werden. UmweltbilDr. Paul Laufs dung muss allerdings mehr leisten als nur die Vermittlung von ökologischem Grundlagenwissen. Es müssen Zusammenhänge in einer Weise bewusst gemacht werden, die emotional sensibilisiert und motiviert. Erst dann führen Verhaltensvorschläge zu einem tatsächlich nachhaltigen Verhalten. Bund, Länder und private Bildungsträger können mithelfen, innovative Projekte dafür aufzulegen. Meine Damen und Herren, als Fazit stelle ich fest: Das erste rot-grüne Regierungsjahr war für das Konzept Nachhaltigkeit ein verlorenes Jahr. ({7}) Wir bedauern das und würden uns freuen, wenn sich die Bundesregierung im zweiten Jahr dieser Wahlperiode diesen wichtigen Fragen engagiert und kreativ zuwendete. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich alle meine Vorrednerinnen und Vorredner haben sich für die Entwicklung einer Nachhaltigkeitsstrategie ausgesprochen. Ich freue mich, dass auch das Konsens geworden ist, was gelegentlich im Ausschuss noch einmal Wellen schlug und als Dissens aufkam, nämlich die Aussage, zur Entwicklung einer Nachhaltigkeitsstrategie sei es in den Industrieländern wie der Bundesrepublik Deutschland notwendig, Veränderungen in der Wirtschafts- und Konsumweise der Gesellschaft zu erreichen. Nachhaltigkeit ist eben keine Frage einer reinen Umweltpolitik, sondern Gegenstand sehr vieler Politikbereiche von der Landwirtschaft über Entwicklungszusammenarbeit, Verkehr und Wirtschaft bis hin zur sozialen Gerechtigkeit. Wir werden im Jahr 2002, zehn Jahre nach der Konferenz von Rio, Bilanz zu ziehen haben. Dann werden sich die Fragen stellen, ob die Bundesrepublik Deutschland im Sinne des Ziels der nachhaltigen Entwicklung national hinreichend umgesteuert hat, ob sie auch international ihren Beitrag zu einer nachhaltigen Produktions- und Konsumweise geleistet hat und ob die Entwicklungschancen für alle Länder, also auch für diejenigen Länder, die noch in Entwicklung sind, sowie für künftige Generationen fairer geworden sind. Dies ergibt sich ja aus der Erkenntnis, dass wir - Frau Caspers-Merk hat das unter Bezugnahme auf ein grünes Wahlplakat angesprochen - die Erde von unseren Kindern nur geborgt haben. An diesen Fragen muss sich jede Nachhaltigkeitsstrategie ausrichten. Darum werden die Zukunftsvorsorge und die globale Dimension im Mittelpunkt einer solchen Strategie stehen. Gleichzeitig bietet eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie die Chance für eine ökologische Modernisierung unserer Gesellschaft. Das hat zwei Voraussetzungen: Erstens muss Umweltschutz zu einer Querschnittsaufgabe in allen Politikbereichen werden; Umweltschutz kann nicht isoliert dastehen. Wenn wir hie-rüber Konsens haben wollen, müssen wir zweitens vermitteln, dass Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung nicht Verzicht und Selbstbeschränkung bedeuten, sondern Chancen für neue zukunftsfähige Techniken, Verfahren und Dienstleistungen und im Übrigen auch für neue Beschäftigung eröffnen. Als erste Arbeitsprogramme für eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie haben wir uns zweierlei vorgenommen: zum einen die Frage der Energiewende und des Klimaschutzes zu behandeln, zum anderen das Thema „umweltgerechte Mobilität“ anzupacken. Wir haben im Sinne der Entwicklung dieser Nachhaltigkeitsstrategie bereits eine Reihe von Weichen gestellt. Das umfasst dann auch Gebiete, die auf den ersten Blick vielleicht nicht im Mittelpunkt dieser Debatte stehen, beispielsweise eine nachhaltige Finanzpolitik. Wenn wir unseren Kindern und Enkeln keinen unbegrenzt wachsenden Berg von Schulden hinterlassen wollen, dann muss es hier ein Umsteuern geben. Das kann erreicht werden mit den Einsparungen von 30 Milliarden DM, mit der großen Einkommensteuerreform, mit der wir mittlere und untere Einkommen bis zum Jahr 2002 um 45 Milliarden DM entlasten werden, mit der Besserstellung für Familien. An diesen Punkten wird erfahrbar, was Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik heißt. ({0}) Sicherlich gehört zur Nachhaltigkeit auch die ökologische Steuerreform. Wir halten es für vernünftig - es liegt auch im Interesse dieser Gesellschaft und insbesondere im Interesse der Menschen, die sich außerhalb des Arbeitsprozesses befinden, weil sie arbeitslos sind -, die Kosten für den Faktor Arbeit zu senken und im Gegenzug die Kosten für den Verbrauch von Energie und Rohstoffen schrittweise zu erhöhen. ({1}) Dieser richtige Grundgedanke wird in ganz Europa übernommen. Gestern haben die Franzosen Entsprechendes erklärt. ({2}) Nur in Deutschland sagt die Opposition: Wir wissen als Einzige, wo der Weg lang geht. Wir lassen uns diesen richtigen Gedanken, dass es vernünftig ist, Arbeit billiger zu machen und Rohstoffe und Energie zu verteuern - das ist gerade im Interesse von Beschäftigung in diesem Lande wichtig - ,nicht mit dem Hinweis kaputtreden, das sei eine reine Rentenstabilisierungssteuer. Ich würde Ihre Argumente gegen die Ökosteuer sehr viel ernster nehmen, wenn nicht mittlerweile Herr Teufel und Herr Brüderle Seit an Seit sagen würden: Ökologisch würde diese ökologische Steuerreform, wenn wir die Einnahmen dazu benutzen könnten, Straßenbau zu betreiben. - Das würde aber Flächenverbrauch durch Zubetonieren bedeuten. ({3}) Das ist Ihre Vorstellung von einer Ökosteuer. Herr Döring und Herr Teufel haben einen entsprechenden Antrag im Bundesrat eingebracht. Das ist keine nachhaltige Politik, sondern das glatte Gegenteil. Es handelt sich um eine Politik, die zur Umweltzerstörung führt und die auch verkehrspolitisch dumm ist. ({4}) Die Energiewende ist für uns für den Schutz der Erdatmosphäre von entscheidender Bedeutung. Wir wissen, dass die Entwicklung immer alarmierendere Folgen hat. Es geht nicht nur um Hurrikans fernab. Auch die hier gemessenen Sturmstärken - gerade in Süddeutschland -, die wir sonst nur von der Küste kennen, und die Neujahrsstürme in Frankreich haben in ganz Europa darauf aufmerksam gemacht, dass wir darauf zusteuern, dass das uns vor diesen Stürmen schützende kalte Hoch in Zentraleuropa aufgrund der Erwärmung eine immer kleinere Ausdehnung hat. Es ist also notwendig, umzusteuern. Es geht darum, den besonders stark wachsenden Ausstoß von CO2 im Verkehr und in privaten Haushalten drastisch zu senken. Hierzu gehören Maßnahmen wie die neue Energiesparverordnung. Hierzu gehört selbstverständlich auch der Versuch, andere Verkehrsträger zu fördern. Hierzu gehört weiterhin die schrittweise Verteuerung durch eine kalkulierbare Anhebung der Mineralölsteuer. Wir brauchen aber auch andere Techniken. Energiesparende und Ressourcen sparende Techniken, Kreislaufführung von Stoffen und eine integrierte Produktpolitik bilden deshalb einen Handlungsschwerpunkt unserer Umweltpolitik. Frau Reichard, ich höre immer gerne Äußerungen über die Altautorichtlinie. Nur sollten Sie bei Ihren Reden im Parlament eines berücksichtigen: Die Geschichte ist im Juni weitergegangen. Im September hat der Rat der Europäischen Gemeinschaft beschlossen, dass es eine Rücknahmeregelung gibt. Fahrzeuge, die ab dem Jahr 2001 auf den Markt kommen, sind sowieso zurückzunehmen. Ab dem Jahr 2006 sind sämtliche Fahrzeuge zurückzunehmen, übrigens nicht ausschließlich auf Kosten der Hersteller, aber mit einem signifikanten Anteil für die Hersteller. Das war exakt der Beschluss, den der deutsche Umweltminister im März dem Europäischen Rat vorgeschlagen hat und der an der Bockbeinigkeit der damaligen Kommission gescheitert ist. Bevor Sie sich weiter aus dem Fenster hängen, rate ich Ihnen dringend, Ihren Parteifreund Florenz anzurufen, der genau diesen Grundgedanken der Rücknahme durch sein Agieren im Europäischen Parlament aufnimmt. Sparen Sie sich also Ihre Häme! Nutzen Sie die Energie, die Sie in dieser Frage aufbringen, um einen Dialog mit dem zuständigen Berichterstatter der Europäischen Volkspartei zu führen! Das könnte einer vernünftigen Lösung diesen, die sowohl die Interessen der Automobilindustrie, vor allen Dingen der besonders betroffenen deutschen Automobilindustrie, wie auch den Grundgedanken der Kreislaufwirtschaft zu einem vernünftigen Kompromiss zusammenführt. Das könnte hier wirklich hilfreich sein. ({5}) Ressourcenschonung, höhere Energie- und Flächeneffizienz, der vorsorgliche Umgang mit natürlichen Lebensgrundlagen - all dies muss zu einem selbstverständlichem Anspruch für unser Leben und Wirtschaften werden. Eine Nachhaltigkeitsstrategie lebt von der Integration in andere Politikbereiche wie unter anderem Energie, Wirtschaft und Landwirtschaft; in all diesen Bereichen brauchen wir eine Zusammenführung. Deswegen heißt nachhaltige Politik: Dies ist eine gesamtpolitische Aufgabe für die gesamte Regierung. Deshalb werden wir einen ständigen Staatssekretärsausschuss einrichten, der die Erarbeitung und die Umsetzung einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie steuern wird. Dabei ist, weil Nachhaltigkeit keine Veranstaltung darstellt, die der Staat alleine betreiben kann, natürlich die Einbeziehung der Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Wir brauchen ein eigenverantwortliches Handeln aller Akteure. Die Bundesregierung will deswegen einen Rat für nachhaltige Entwicklung einrichten. Dieser soll nicht die hundertfünfzigste oder fünfhundertste Kommission von Wissenschaftlern sein - da sind wir uns, glaube ich, alle miteinander einig -, sondern er soll zusammengesetzt sein aus einer möglichst kleinen Zahl von Einzelpersönlichkeiten mit hoher öffentlicher Reputation, die den Prozess der Umsetzung in die Gesellschaft hinein begleiten sollen. Er soll die Ansprüche und Forderungen der Gesellschaft an die Politik formulieren, aber auch die gesellschaftlichen Kräfte mobilisieren, damit das Nachhaltigkeitskonzept aktiv umgesetzt werden kann. Die Kommunikation des Grundsatzes der Nachhaltigkeit bildet ein ganz zentrales Element dieser Strategie. Wenn Sie in diesem Zusammenhang die Straffung des Beratungswesens bei der Bundesregierung anmahnen, dann freue ich mich darüber. Bei diesem Bundesumweltminister rennen Sie damit offene Türen ein, wenngleich wir im Vergleich zu anderen Ressorts hier vielleicht nicht so herausgefordert sind, weil wir nicht so viele Beratungsgremien haben. Aber: Wie verträgt sich diese Ihre Forderung heute mit Ihrem lauten - entschuldigen Sie das Wort - Geschrei, als wir die Arbeit der Reaktor-Sicherheitskommission und der Strahlenschutzkommission auf eine vernünftige Grundlage gestellt haben - ({6}) also den Wirrwarr dieser Unterkommissionen beseitigt haben - als wir die über 100 Mitglieder endlich wieder zu einem handlungsfähigen Organ zusammengeführt haben? Sie müssen sich entscheiden, Herr Laufs, was Sie wollen: Wollen Sie, dass wir das Beratungswesen neu organisieren und straffen - dann haben Sie heute Recht und mich auf Ihrer Seite -, oder wollen Sie Besitzstände Ihrer alten, ideologisch verbohrten Anhänger in der Atomindustrie wahren? Da müssen Sie sich entscheiden. ({7}) Ich kann Ihnen zum Schluss eines versprechen: Wir werden versuchen, auch die Arbeit des WBGU so zu organisieren, dass es nicht nur eine klare Arbeitsteilung mit dem SRU gibt, sondern er von seiner Größe her auch arbeitsfähig ist. Da gibt es inzwischen mit dem WBGU in seiner jetzigen Zusammensetzung Einigkeit. Ein letzter Gedanke: Ich glaube, wir können dies nicht nur als eine Veranstaltung des Bundes betreiben. Vielmehr stehen wir vor der Aufgabe, wenn wir die Gesellschaft einbeziehen wollen, das vielfältige Engagement von Städten und Gemeinden, von Menschen in unseren Landkreisen, in den kleinen und großen Städten zusammenzufassen. Das heißt, der Prozess der Lokalen Agenda 21 muss verstärkt gefördert werden. Dies ist einer der wesentlichen Beiträge, die das Bundesumweltministerium gerade bei der Unterstützung dieser Initiative, bei der Entwicklung einer - wie es so schön heißt nationalen Nachhaltigkeitsstrategie leistet, die natürlich vor Ort anfangen muss. Hier gilt der grüne Slogan: Global denken - vor Ort handeln! ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Klaus Lippold.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister Trittin, gerade der letzte Satz ist der falscheste Satz, den Sie gesagt haben. Vielleicht denken Sie global - was ich nicht glaube -, jedenfalls handeln Sie nicht lokal. Das ist doch der Punkt! Die Ökosteuerdebatte wie die Kernenergiediskussion dienen der Ablenkung davon, dass Sie Nachhaltigkeit im Naturschutzbereich - ein zentraler Punkt - bislang nicht zustande gebracht haben. Diese zentrale Aufgabe der Umweltschutzpolitik ist vernachlässigt worden. In Sachen CO2-Minderung, in der Frage der Klimakatastrophe sind Sie doch ein „Ankündigungsminister“. Sie vollziehen noch nicht einmal das, was die Vorgängerregierung vorbereitet hat. Ich sage ganz deutlich: Das Einzige, was Sie sagen, ist: Demnächst soll etwas kommen - ähnlich wie beim Naturschutz. Sie erreichen keine Verbindung, keine Vernetzung der Naturschutzsysteme. Das, was Sie angekündigt haben, fällt unter den Tisch. Ich rufe in Erinnerung, was Ihr Kollege Loske Mitte letzten Jahres an Kritik vorgebracht hat. Da muss man ganz deutlich sagen, dass Sie versagt haben, dass Ihre Konzentration auf die Ökosteuer genau das Falsche war. Er hat in Ihre Fraktion den Gedanken eingebracht, dass dieser falsche Weg korrigiert werden müsse. Dann ist er davon ein wenig abgelenkt worden, aber dies war das Eingeständnis eigenen Verschuldens. Machen wir uns doch nichts vor: In Ihrem Haus liegen die Gutachten, in denen die von Ihnen beauftragten Gutachter feststellen, dass Ihre ökologische Steuerreform keine Umweltlenkungswirkung hat. In Ihrem Haus liegen die Gutachten, in denen festgestellt wird, dass sie nicht sozial ist. Ich will Ihnen nochmals in Erinnerung rufen: Bei einem ständig fließenden Verkehr gibt es weniger Emissionen, als wenn Sie den Verkehr zum Stocken bringen. Damit wir uns richtig verstehen: Die Aussagen, dass Sie die Bahn belasten und damit ökologisch genau kontraproduktiv sind, kommen nicht von uns, sondern von der Bahn. Dies macht deutlich, dass Ihre Politik in dem Punkt gescheitert ist. Sie haben nicht die Erhöhung der Attraktivität der Bahn erreicht, sondern schlicht und einfach die Attraktivität der Bahn vermindert. Das heißt: Von dem, was Sie gesagt haben, stimmt nichts. Dort, wo Sie etwas hätten tun sollen, haben Sie im Sinne Ihrer Schlussaussage bislang nichts vorgelegt. Ihre Kollegen haben Ihnen das - unter Beteiligung der Länderumweltminister - bestätigt. Sie sollten daher in sich gehen und nicht versuchen, mit forschen Sprüchen von Ihrem Versagen abzulenken. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Antwort bekommt Bundesminister Trittin das Wort.

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Lippold, wenn der Rat für ein zukunftsfähiges Deutschland eine pädagogische Aufgabe hätte, dann hätten Sie mit Ihrer Rede den Beweis dafür geliefert, dass er offensichtlich viel zu tun hat. Das fängt schon beim kleinen ABC an: Wer glaubt, Verkehr durch den Neubau von Straßen zum Fließen zu bringen, befindet sich in der verkehrspolitischen Debatte irgendwo zwischen den Jahren 1975 und 1982. ({0}) Selbst von ehemaligen VW-Managern wie Herrn Goeudevehrt ist erkannt worden, dass mit Straßenbau, mit Straßenwegebau dieses Problem nicht zu lösen ist. Aber vielleicht würde es der pädagogischen Nachhilfe gar nicht bedürfen; denn ich glaube, dass Sie in Wirklichkeit klüger sind, als Sie sich hier dargestellt haben. Denn Sie wissen sehr wohl, dass wir im Rahmen der ökologischen Steuerreform die Bahn nur mit dem halben Ökosteuersatz belegt haben. Wir sind uns aber einig, dass es im Bereich der Deutschen Bahn noch Einsparreserven und Möglichkeiten zur Steigerung der Energieeffizienz gibt. Wir haben beides getan: Wir haben der Bahn den Impetus zur Erneuerung gegeben, für mehr Effizienz zu sorgen. Gleichzeitig haben wir den öffentlichen Schienenverkehr gegenüber dem Autoverkehr besser gestellt. So wird Umweltpolitik praktische Politik. Am allermeisten freue ich mich bei Ihnen immer darüber, wenn sich die Union für den Naturschutz stark macht. Ich muss gar nicht lange darauf verweisen, was wir zum Beispiel bei der Sicherstellung ostdeutscher Naturschutzgebiete, die Sie alle an Junker - oder weiß der Teufel, an wen - verscherbeln wollten, erreicht haben. Ich muss mich gar nicht lange darüber auslassen, wie zum Beispiel die Landesregierungen von BadenWürttemberg und Bayern mit der Ausweisung von Schutzgebieten umgehen. Ich brauche nur auf die aktuellen Auseinandersetzungen im Wahlkampf in Schleswig-Holstein zu verweisen. ({1}) Wer nach den Äußerungen von Herrn Rühe zum Nationalpark als Christdemokrat noch meint, dieser Regierung irgendwelche Versäumnisse beim Naturschutz vorwerfen zu können, hat offensichtlich den alten Titel „Häuptling Gespaltene Zunge“ verdient. Denn man kann in einem Wahlkampf nicht offensiv dafür mobilisieren, zehn Jahre Ökopause zu machen, und hier so tun, als sei man als Ökologe in der CDU dann noch in der richtigen Partei, Herr Lippold. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPDFraktion spricht nun die Kollegin Ulla Burchardt.

Ulla Burchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000306, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu Beginn eines neuen Jahres, insbesondere zu Beginn eines neuen Jahrtausends - auch Sie werden das vielfach erlebt haben -, fragen die Menschen: Was bringt mir, was bringt uns die Zukunft? Ich denke, die einzig ehrliche Antwort darauf kann nur sein, dass man sagt: Nichts ist sicher. - Das hat nichts mit Fatalismus, mit Schicksalsgläubigkeit zu tun, sondern ich glaube, das ist die einzig mögliche Antwort, in bester aufklärerischer Tradition. Die Zukunft, wird das Ergebnis dessen sein, was wir heute entscheiden, so wie das, war wir an Problemen, aber auch an Erreichtem in der Gegenwart haben, eine Folge dessen ist, was in der Vergangenheit einmal entschieden worden ist. Das macht eines ganz deutlich: Zukunft ist gestaltbar. Das bringt aber auch eine große Verantwortung für all diejenigen mit sich, die von den Bürgerinnen und Bürgern dafür gewählt worden sind, dass sie die Verantwortung für ihre Zukunftsgestaltung wahrnehmen. Ob die Menschen in unserem Land und in der einen Welt eine gute Zukunft haben werden, wird ganz entscheidend davon abhängen, ob es uns gelingt, die Probleme, die Krisen, die wir aus dem letzten Jahrhundert übernommen haben, zu bewältigen und vor allen Dingen aus den Fehlern zu lernen, die dazu geführt haben. Wenn wir uns die Bilanz des letzten Jahrhunderts ansehen, dann muss man sagen: Sie ist durchaus ambivalent. Mit einem gewissen Stolz kann man sagen, dass Freiheit, Wohlstand und soziale Sicherung die Errungenschaften in den hoch entwickelten Teilen der Welt sind. Mit dem Stabilitätspakt für Südosteuropa und der geplanten Erweiterung der EU haben wir auch eine berechtigte Aussicht darauf, dass es in Europa im neuen Jahrhundert keinen Krieg mehr geben wird. Doch wenn wir uns den anderen Teil der Welt ansehen, ist es noch immer so, wie Martin Luther King es vor Jahrzehnten einmal formuliert hat: Die reichen Länder feiern eine gewaltige Party auf Kosten der armen. Diese befinden sich deshalb in einer Abwärtsspirale aus Armut, Unterernährung, Ungleichverteilung und Umweltzerstörung. Wir wissen, dass dies inzwischen die Hauptursachen für gewaltsame Auseinandersetzungen und Kriege sind, die holen uns an der einen oder anderen Stelle auch ein. Dass die negativen globalen Trends ungebrochen sind, hat vor wenigen Tagen der neueste Bericht des World watch Institute belegt. Er zeigt in aller Deutlichkeit, wie trügerisch hier im westlichen, im reicheren Teil der Welt Wohlstand und Sicherheit sind. Die Schattenseiten der Globalisierung sind auch in diesem Lande spürbar. Deswegen lassen Sie mich unterm Strich feststellen, dass - Wahrheiten auszusprechen hilft ja auch, aus vergangenen Fehlern zu lernen - man wirklich endlich zur Kenntnis nehmen muss, dass der alte Fortschrittsglaube der westlichen Welt und das darauf basierende Wachstums- und Wohlstandsmodell keine Perspektive zur Lösung zukünftiger Fragen oder zur Lösung der vergangenen bieten werden. Sie bieten auch hier bei uns keine Lösung zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und zur Gestaltung des strukturellen Wandels. ({0}) Aber auch gerade in Zeiten des Wandels, die für die Menschen immer Zeiten von Verunsicherung sind - ich glaube, dass muss man ganz ernst nehmen -, brauchen die Menschen, braucht die gesamte Gesellschaft eine gemeinsame Perspektive zur Gestaltung der gemeinsamen Zukunft. Diese Perspektive bietet das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung. Welche Facetten es ausmacht, ist vom Kollegen Hermann hier im Detail dargestellt worden. Wie jedes Leitbild ist auch dieses hinreichend unkonkret. - Das ist das Typische an Leitbildern. - Seine produktive Kraft, sein produktives Potenzial wird es dann entfalten, wenn es als zu lösende Aufgabe angesehen wird, wenn sich alle gesellschaftlichen Kräfte, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen darauf konzentrieren und sagen: Das ist eine Herausforderung, der ich mich stelle; ich schaue, was ich mit meinen Ideen, meinem Know-how, meinem Kapital, meinem Engagement machen kann, um meinen Beitrag zur Bewältigung der Aufgabe zu leisten - und der Lösungsmöglichkeiten sind viele. Ein neues Leitbild hat eine zweite Funktion - wir kennen das von Leitbildern, die unsere Gesellschaft in der Vergangenheit geprägt haben -: Es kann dazu führen, dass traditionelle Denkmuster aufgebrochen werden, die die Suche nach neuen Lösungen bislang verhindert haben, und dass überkommene Verhaltensweisen überprüft werden. - Wenn ich mir die Debatte heute anschaue, muss ich sagen: Ich hatte immer die Hoffnung, dass man damit auch alte, sinnentleerte Rituale über Bord wirft. Aber es dauert vielleicht noch ein bisschen, bis die Nachhaltigkeit auch hier angekommen ist. Ein neues Leitbild heißt vor allen Dingen: Entscheidungen müssen anders getroffen werden als in der Vergangenheit. Denn wenn die alten Entscheidungen zu falschen Ergebnissen geführt haben, muss man schauen, wie neue getroffen werden können. Es ist unstreitig, dass wir am Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft stehen. Ich glaube, wir können nicht mehr sagen, dass Deutschland nur eine Industriegesellschaft ist. Diese Phase haben wir schon ein ganzes Stück weit hinter uns gelassen. Das ist aber eine hervorragende Voraussetzung, denn nachhaltige Entwicklung, die große neue Herausforderung braucht neues Wissen für neue Produkte, für neue Verfahren, für neue Technologien, für neue Dienstleistungen, aber eben auch neue Einstellungen, Verhaltensmuster und Konsumgewohnheiten genauso wie neue Planungs- und Entscheidungsverfahren sowie neue Partizipationsmodelle. ({1}) Damit wird eines ganz deutlich, nämlich dass der eigentliche Schlüssel für Nachhaltigkeit oder Zukunftsfähigkeit - der Begriff gefällt mir besser - Innovation heißt, und zwar in einem sehr umfassenden Sinne. Gefragt sind natürlich technologische Innovationen. Und ich darf, Frau Kollegin Homburger, an dieser Stelle daran erinnern, dass es meine Fraktion war, die darauf gedrängt hat, das Thema Innovation, auch technologische Innovation, in der Kommissionsarbeit als einen Schwerpunkt zu behandeln. Das haben wir zum Teil gegen Widerstände aus Ihren Reihen gemacht; einige von Ihnen hätten lieber eine längere Grundsatzdebatte gehabt, als sich beispielsweise mit solchen Fragen zu beschäftigen. Manchmal sollte man die Menschen aufklären, bevor ein Mythos über die Kommissionsarbeit verbreitet wird. ({2}) - Ich habe mit dem Kollegen von Gleich gerade an dieser Stelle ausgesprochen gut zusammengearbeitet. Dass wir als Beispiel das Thema Informationstechnik gewählt haben und heute Nachmittag einen Antrag zur nachhaltigen Strategie im Bereich der Informationstechnik auf den Tisch legen, ist das Ergebnis von rot-grüner Zusammenarbeit in der Enquete-Kommission. Dieses Thema haben wir gegen Widerstände aus Ihren Reihen durchgesetzt. ({3}) Sie haben mich dazu gebracht, auch über diesen Punkt an dieser Stelle einmal die Wahrheit auszusprechen. Aber nicht nur technologische, sondern auch soziale und institutionelle Innovation ist wichtig. Innovation heißt jedoch, dass man neues Wissen auch anwendet. Das hat eine ganz entscheidende Voraussetzung: dass man lernfähig ist, damit man Dinge wirklich anders machen kann, als man sie in der Vergangenheit betrieben hat. Nachhaltigkeit und Innovationsfähigkeit sind zwei Seiten einer Medaille. Lernfähigkeit ist das Bindeglied. Sie wird von der gesamten Gesellschaft erwartet, aber auch von jedem Einzelnen, egal, an welcher Stelle er steht und Verantwortung trägt. Ressourcenschonung und Umweltschutz nicht mehr als Hemmnis, sondern als Chance für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, soziale Stabilität und Schaffung von Arbeitsplätzen zu begreifen, das ist der Kern der neuen Lernfähigkeit, die gefragt ist. ({4}) Wenn wir uns im Lande umschauen, stellen wir fest, dass viele Menschen viel gelernt haben und nun anpacken. Die Unternehmer, gerade die kleinen und mittelständischen, begreifen in zunehmender Zahl, dass Ökologie Langfristökonomie ist. In Städten und Gemeinden arbeiten viele engagierte Menschen an der Lokalen Agenda. In Schulen, Kirchengemeinden, Vereinen, Initiativen und Gewerkschaften sind ganz engagierte Menschen dabei, zu schauen, wie sie eine Facette der Problemlösung zustande bringen können. Sie warten darauf, und das seit vielen Jahren - das haben wir auch in der Enquete-Kommission immer wieder erfahren müssen -, dass „die da oben“, also die, welche in Bonn regieren und im Parlament sitzen, endlich etwas von der Lernfähigkeit und Entscheidungsfähigkeit im neuen Sinne an den Tag legen. Dazu kann ich Ihnen sagen: Wir in der rot-grünen Koalition, in der Bundesregierung folgen der Devise Erich Kästners: „Es gibt nichts Gutes außer: Man tut es.“ Wir reden nicht nur von Nachhaltigkeit und Innovationsfähigkeit, sondern wir gehen diese Grundsätze alltäglich ganz praktisch an. ({5}) Sie haben vorhin gefragt, wo die Bundesregierung überhaupt etwas tut. Darauf will ich Ihnen antworten: Eine erste Neuerung ist ja schon, dass man nicht nur über Dinge redet und sie verspricht, sondern dass man seine Versprechen auch hält. Das kannten die Menschen in der Vergangenheit nicht unbedingt. Die Koalitionsfraktionen haben ihre Arbeitsstrukturen geschaffen, und die Bundesregierung hat natürlich mit der Umsetzung der Empfehlungen der EnqueteKommission begonnen. Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie ist in Angriff genommen worden; Herr Minister Trittin hat sich soeben dazu geäußert. Dazu will ich Ihnen sagen: Selbstverständlich gehört ein Stück weit dazu, dass wir das, was im Bericht der EnqueteKommission steht, noch präzisieren müssen. Denn auch das dort Niedergeschriebene ist hinreichend unkonkret. Wir müssen sehen, wie wir die Empfehlungen so zuschneiden können, dass die Umsetzung den Anforderungen entspricht. Die Umsetzung der Empfehlungen ist Chefsache geworden. Das ist etwas wirklich Neues; diese Forderung ist erfüllt. Die Staatssekretärsrunde ist schon erwähnt worden. Damit wird deutlich, dass die Umsetzung wirklich als Querschnittsaufgabe organisiert wird. Die Fachministerien werden in die Pflicht genommen. Dabei muss der Grundsatz gelten: so viel Ressortverantwortung wie möglich, so viel Koordination wie nötig. An vielen anderen Stellen hat die Bundesregierung in den vergangenen Monaten entscheidende Weichenstellungen im Hinblick auf eine Strategie der Zukunftsfähigkeit vorgenommen. Frau Kollegin Reinhardt, das letzte Jahr war kein verlorenes Jahr. Wir sanieren die Staatsfinanzen und die Systeme der sozialen Sicherung in Solidarität mit den kommenden Generationen. Dies ist eine ganz entscheidende Forderung des Leitbildes Nachhaltigkeit. In unserer Steuerpolitik bilden sich die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit ab: Sie fördert soziale Gerechtigkeit, sie fördert die ökologische Modernisierung und sie fördert die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. Sie ist also eine nachhaltige Steuerpolitik par excellence. Sie sollten einfach einmal anerkennen, dass wir an dieser Stelle unsere Hausaufgaben gemacht haben. ({6}) Die Energieversorgung wird Schritt für Schritt zukunftsfähig gemacht. Das, was den Charme der Nachhaltigkeitsstrategie ausmacht, das planvolle Handeln mit klaren Zielen, Schritten, Maßnahmen und der Benennung von Verantwortlichkeiten, diese neue Qualität von Regierungsarbeit können Sie auch an anderen Stellen feststellen. Sie ist Merkmal beispielsweise unserer Beschäftigungspolitik - das können Sie erkennen, wenn Sie sich die beschäftigungspolitischen Leitlinien ansehen -, genauso sehr aber auch Merkmal unserer Gleichstellungspolitik. Ich bin sehr froh, dass hier heute auch das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vertreten ist. Ich möchte Sie auf Folgendes hinweisen: Sie werden heute Nachmittag anlässlich der Debatte zur Informationstechnik merken, dass wir bei unserem Aktionsprogramm Informationstechnik auch die Nachhaltigkeit berücksichtigt haben, also eine nachhaltige Informationsstrategie verfolgen. Wenn Sie sich genauer ansehen, welche Eckpunkte die Justizministerin im Hinblick auf ein neues Mietrecht vorgelegt hat, dann werden Sie feststellen, dass das Mietrecht im nachhaltigen Sinne sozial und ökologisch gestaltet wird, weil das Erfordernis der Energieeinsparung berücksichtigt worden ist.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit weit überschritten. Ich möchte Sie bitten, zum Schluss zu kommen.

Ulla Burchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000306, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist das Neue, was wir umsetzen. Wenn ich sage, Sie sollten die alten Rituale aufgeben, dann gehört dazu auch, heute nicht die Benzinpreise der 70er-Jahre zu propagieren. Das ist ein Handeln nach dem Prinzip „Rückwärts in die Vergangenheit“. Das hat mit Nachhaltigkeit nichts zu tun. Streiten Sie lieber mit uns über die großen Schritte, darüber, wie wir die gesamte Gesellschaft neu organisieren können. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Georg Girisch.

Georg Girisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der vergangenen Legislaturperiode wurde die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ eingerichtet. Der jetzt vorliegende Abschlussbericht umfasst 250 Seiten. Hierzu möchte ich Ihnen einige, mir persönlich wichtig erscheinende Gesichtspunkte aufzeigen. Der zentrale Begriff des Berichtes ist Nachhaltigkeit. Mit dieser Übersetzung des englischen Vertragstextes der Konferenz von Rio von 1992 griff man auf einen Begriff aus der Forstwirtschaft des 19. Jahrhunderts zurück: Der Einschlag aus einem Waldstück sollte nicht höher sein als der nachwachsende Bestand. Heute bedeutet Nachhaltigkeit neue Formen der Entwicklung, wobei diese dauerhaft sowohl ökologisch als auch ökonomisch und sozial verträglich sein soll. Nachhaltige Entwicklung heißt, den Bedürfnissen der heutigen Generation zu genügen, ohne die Möglichkeit künftiger Generationen zu behindern, ihren eigenen Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Griffig formuliert bedeutet dies: Wir müssen unseren Kindern und Enkelkindern ihre Lebens- und Zukunftschancen sichern. Der Blick über den Tellerrand hinaus ist heute notwendiger denn je. Die Maxime allen Handelns muss sein, heute die Weichen für morgen richtig zu stellen. Die Arbeit der Enquete-Kommission war deshalb richtig und wichtig. Sie hat nämlich nicht nur den Begriff der Nachhaltigkeit ausgeleuchtet, sondern auch mehrere Themen ausführlich behandelt, von denen alle Menschen betroffen sind: erstens die Versauerung von Böden, zweitens den Bereich Bauen und Wohnen, drittens die Informations- und Kommunikationstechniken. Dabei ist sie zu folgenden Empfehlungen gekommen - wobei betont werden muss, dass keine besserwisserische Bevormundung der Menschen erfolgen soll, sondern das Prinzip der Subsidiarität gelten muss - ({0}) Erstens. Ziel ist die dauerhafte Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Bodens. Bebauung und Versiegelung sollen vermieden, die ökologisch orientierte Landwirtschaft soll gefördert werden. Dies kann zum Beispiel konkret durch die Festlegung eines Verhältnisses von Tierbestandsobergrenzen zur Fläche erfolgen, das einen Raubbau an der Natur ausschließt. Zweitens. Angestrebt wird die Stadt der kurzen Wege. Es soll lieber saniert als neu gebaut werden. Auch soll mit Energiekennzahlen beim Hausbau ökologisches Bauen gefördert werden. Langfristiges Ziel ist der Ausgleich zwischen Wohnbedürfnis und Material- und Flächenverbrauch. Drittens. Im Rahmen der technischen Entwicklung werden einerseits die Minimierung des Energieverbrauchs und die Verringerung von Elektronikschrott angestrebt. Andererseits muss verantwortlich mit dem Faktor Mensch umgegangen werden. So können der Fachkräftemangel durch neue Aus- und Weiterbildungsangebote behoben und der freie Zugang zu Informations- und Kommunikationsquellen effizienter gemacht werden. Wie schon erwähnt, dürfen Umweltziele nicht unabhängig von ihren sozialen und wirtschaftlichen Folgen formuliert werden. Unsere technologische Leistungsfähigkeit ist auch für den Umweltschutz Voraussetzung. Ökologie, Ökonomie und Soziales müssen im Kontext behandelt werden. ({1}) Wird dies versäumt, besteht die Gefahr, dass langfristige Umweltinvestitionen kleine und mittlere Betriebe überfordern. Schon das Stabilitätsgesetz von 1967 kennt das für die Nachhaltigkeit so bedeutende Ressort übergreifende Zusammenspiel der Kräfte. Bereits 1997 forderte deswegen die Deutsche Bundesbank: Die Haushaltskonsolidierung muss verstärkt werden. Dies gilt unter dem Blickwinkel der Nachhaltigkeit auch für die Systeme unserer sozialen Sicherung. Zur Koordinierung der Bemühungen auf diesem Gebiet schlägt der Umweltausschuss einstimmig vor, einen Rat für nachhaltige Entwicklung einzurichten. Er würde von sich aus tätig werden und über die Legislaturperiode hinaus im Amt bleiben. Hervorheben möchte ich, dass dabei - neben einer Bestandsaufnahme - nicht verordnet, sondern angeregt werden soll. Nachhaltigkeit ist ein fortwährender Lernprozess, der nicht befohlen werden kann. Ein Diktat von oben wäre unweigerlich zum Scheitern verurteilt und entspricht auch nicht unserem Politikverständnis. Wichtiger als gesetzgeberischer Aktionismus ist die Übereinstimmung mit unserem System der sozialen Markwirtschaft. Daher ist die Schaffung einer entsprechenden beratenden Institution notwendig. ({2}) Dem Staat bleibt es vorbehalten, Prozesse zur Mobilisierung von Verantwortung in Gang zu setzen: mit dem Ordnungsrecht, dem Abgabenrecht oder der Einbeziehung und Bewertung von Umweltmanagement. Ich glaube, Bayern hat hier eine Vorreiterrolle übernommen, wie der Umweltpakt Bayern beweist. Dort ist das Ziel ein verstärkter Umweltschutz auf der Basis von Freiwilligkeit, Eigenverantwortung und Kooperation. Dabei handelt es sich um eine vertragsähnliche Vereinbarung auf Gegenseitigkeit, in der sich Wirtschaft, Staat, Verbände und Organisationen zu freiwilligen zusätzlichen Leistungen für den Umweltschutz verpflichten. ({3}) Der Pakt umfasst Finanzhilfen bei der Altlastensanierung, Umweltberatung, aber auch Deregulierung, Verringerung der staatlichen Kontrolldichte, und ein nachgewiesenes funktionsfähiges Umweltmanagement. Nach dieser kurzen, beispielhaften Darstellung komme ich zum Schluss. Durch den Bund sollten Länder und Kommunen mit ihren kommunalen Agenden 21 eingebunden werden. Auch bei diesem Prozess hat die CSU in Bayern schon gute Vorarbeiten geleistet, indem die Staatsregierung als erste Landesregierung regionale Agenden geschaffen hat. Ich glaube, die Menschen müssen ein altes bäuerliches Prinzip, nämlich das Prinzip „Bebauen und bewahren“, neu entdecken. ({4}) Wenn damals für dieses nachhaltige Wirtschaften die praktische Zukunftsvorsorge für Kinder und Enkel der Grund war, so sehen wir uns heute auch für die gesamte Weltbevölkerung in der Verpflichtung. Ökonomie, Ökologie und soziale Verantwortung stehen nicht unweigerlich im Widerspruch, sondern können in Gleichklang gebracht werden. Hier ist der Staat gefordert, einen brauchbaren Rahmen zu schaffen. Vermieden werden sollten aber zunehmende Regulierungen. Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird die Arbeitsgruppe der CDU/CSU im Umweltausschuss die Annahme der Beschlussvorlage in der vorliegenden Form vorschlagen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Girisch, das war Ihre erste Rede im Parlament. Ich darf Ihnen dazu im Namen des Hauses gratulieren. ({0}) Nunmehr gebe ich das Wort dem Kollegen Reinhold Hemker für die SPD-Fraktion.

Dr. Reinhold Hemker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002670, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich habe am 5. November letzten Jahres im Rahmen der Aussprache zur Regierungserklärung anlässlich der 5. Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention Vizepräsidentin Bläss in diesem Hause symbolisch einen Solarrechner und ein kleines Paket Kaffee aus biologisch-organischem Anbau übergeben. Dieser Kaffee wird im Rahmen des fairen Handels vermarktet. Das „Transfair“-Siegel zeigt, dass Grundsätze der Nachhaltigkeit berücksichtigt werden, und zwar global. Auf die Gestaltungsaufgabe Globalisierung verweist der heute hier diskutierte Bericht sehr nachdrücklich. Nur wenn man das Nachhaltigkeitsprinzip als Querschnittsaufgabe weltweit für alle Bereiche von der Produktion bis zur Vermarktung für den praktischen Vollzug im Alltag begreift, kann das, was nun schon seit Jahren immer wieder gefordert wird, Schritt für Schritt erreicht werden. ({0}) Beispiele für engagiertes Handeln gibt es genug. Ich nenne nur das zivilgesellschaftliche Engagement in der Wirtschaft. Ich stelle fest: Weltweit sind immer mehr Menschen darum bemüht, sich bei der Produktion von Nahrungsmitteln, zum Beispiel beim Kaffee, und in der Nutzung der erneuerbaren Energien, wie zum Beispiel der Solartechnik, zu engagieren. Diese Menschen erwarten von uns als den politisch Verantwortlichen Glaubwürdigkeit auch und gerade in diesem Sinne. Es vergeht bei mir in der praktischen Beratungsarbeit, die ich für verschiedene Nichtregierungsorganisationen weltweit wahrnehme, kein Gespräch mit Partnern aus Afrika, Asien oder Lateinamerika, in dem die Vereinbarungen der Rio-Konferenz und der danach durchgeführten Weltkonferenzen im Hinblick auf die langfristige Tragfähigkeit der Projekte der Entwicklungszusammenarbeit keine Rolle spielen würden. Dabei hatte und hat auch die Frage der Welternährung nach wie vor eine herausragende Bedeutung. Ich stelle in diesem Zusammenhang fest: Flächen für eine Erweiterung des Anbaus von Nahrungs- und Futtermitteln stehen nur sehr begrenzt zur Verfügung. Ferner gehen immer mehr Flächen verloren, weil der Anbau nicht nach Grundsätzen der Nachhaltigkeit erfolgt und nach wie vor Überweidung stattfindet, die zu weiterer Erosion führt. Immer noch ist für viele, insbesondere arme Länder, der Futter- und Nahrungsmittelexport die wichtigste, wenn nicht gar einzige Einnahmequelle für Devisen. Wenn dies nicht über internationale Vereinbarungen, eine sinnvollere Politik der Entwicklungszusammenarbeit und der Agrar- und Ernährungspolitik geändert wird, werden die Armuts- und Hungerbedingungen zu weiteren Konflikten führen. Das Konfliktpotenzial wird sich vergrößern. Darum ist es wichtig und richtig, dass die Bundesregierung nun verstärkt versucht, Einfluss auf die Strukturanpassungsprogramme in den angesprochenen Gebieten dieser Welt zu nehmen. Was nutzt es, wenn immer mehr Mittel für die Exportförderung ausgegeben werden, teilweise im Zusammenhang mit einer belastenden Kreditfinanzierung, und die Eigenversorgung aus nachhaltiger Produktion und Verarbeitung zurückgeht? Ich bin immer wieder erschrocken, wenn ich sehe, wie viele Länder mit eigentlich fruchtbaren Böden Nahrungsmittel importieren bzw. importieren müssen und immer wieder aus den Überschussbeständen reicher Länder versorgt werden. Solange diejenigen in Übereinstimmung mit der FAO, der Ernährungs- und Agrarorganisation der Vereinten Nationen, hier nicht richtig investieren, die investieren können, wird dem Grundsatz der Nachhaltigkeit nicht entsprochen und auch dem Grundsatz der Kohärenz nicht. Ich verweise auf die Ergebnisse der öffentlichen Anhörung zum Thema Welternährung in der letzten Legislaturperiode sowie auf die vielfältigen Hinweise, die damals im Parlament aus Anlass des Welternährungsgipfels gegeben worden sind. Die Überlegungen zur Weltmarktorientierung unter dem Aspekt der Liberalisierung im Hinblick auf die WTO-II-Runde sind besonders nach den eindeutigen Signalen aus Seattle kritisch zu überdenken. Auch hier gibt der Bericht wichtige Hinweise für die Produktionsbedingungen von Agrarprodukten. Ich frage in diesem Zusammenhang: Wem nützt die Weltmarkterschließung bei Landwirtschaft und Ernährung? Wir wissen zum Beispiel, dass 20 Prozent der Weltbevölkerung immer mehr Konsumgüter aus immer entfernter gelegenen Gebieten erhalten. Dies hat mit nachhaltiger, schöpfungsbewahrender Entwicklung wenig zu tun, zumal für große Teile der restlichen 80 Prozent der Weltbevölkerung die Nahrungsversorgung unter den genannten Rahmenbedingungen nur unzureichend möglich ist. Genau an dieser Stelle muss die Nachhaltigkeitsstrategie ansetzen. ({1}) Außerdem muss man sich nicht wundern, wenn die Zerstörung der lebenssichernden Grundlagen der Natur weiterhin betrieben wird. Wer keinen Boden zur Verfügung hat bzw. nicht mehr zur Verfügung hat, auf dem Nahrungsmittel angebaut werden könnten, der greift auch zu den letzten Gräsern, Baumrinden und Wurzeln, aus denen eigentlich noch etwas wachsen sollte. Wer keinen Zugang zu anderen Brennstoffen hat, der versucht, das Wasser für den Maisbrei oder den Reis, oft das einzige Nahrungsmittel, mit den letzten, oft mühsam herbeigeschafften Holzstücken zum Kochen zu bringen. Für eine echte Nachhaltigkeitswende - so nenne ich es einmal - sehe ich im Augenblick noch keine wirklichen Anzeichen, zumindest was die globale Perspektive unter Einbeziehung der meisten armen Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika angeht. Die im Bericht erwähnten Nachhaltigkeitsindikatoren, wie sie die Kommission für nachhaltige Entwicklung der UNO beschreibt, werden weltweit bei der praktischen Arbeit noch zu wenig berücksichtigt. ({2}) Ich halte allerdings die Neuorientierung der Bundesregierung in diesem Bereich für richtig. Sie gibt es, auch wenn die Sprecherinnen und Sprecher der Opposition das wortreich ignoriert haben. Die Bemühungen, stärker auf die Strukturanpassungsmaßnahmen von IWF und Weltbank Einfluss zu nehmen, sind richtig; auch die deutlichen Hinweise für die WTO-II-Runde in Richtung Verbesserung der sozialen Standards sind deswegen zu begrüßen. ({3}) Ich hoffe nur, dass sich die Bundesregierung nicht doch von den falschen Propheten aus den Entwicklungsländern und ihren Kumpanen aus den Industrieländern verunsichern lässt, die sich um Standortvorteile und deren jeweilige Nutznießung Sorgen machen und sich gegen die Bemühungen um mehr Nachhaltigkeit wenden. Ich sage: Wer „sustainable development“, also eine langfristig tragfähige Entwicklung, wirklich will, muss die Umwelt- und Sozialverträglichkeit zur wesentlichen Orientierung seiner politischen Arbeit machen, und zwar weit über den Rahmen nationaler Politik hinaus, ja, sie ist Teil des Einsatzes für die elementaren Menschenrechte, und zwar weltweit. Die Systematik des Berichtes - Einteilung in ökologische, ökonomische und soziale Dimensionen - gibt wichtige Hinweise für die Vorgehensweise in diesem Bereich. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gilt, im Zusammenhang der Gespräche über „good governance“ die sehr oft autoritären Staatsführer und Machteliten aus Entwicklungsländern, die sich mit bestimmten Interessengruppen der Industrieländer verbünden und gegen das Nachhaltigkeitsprinzip wenden, auf ihre Verantwortung hinzuweisen, die seit der Rio-Konferenz immer wieder herausgestellt wurde und wird. Die Agenda 21 darauf ist hingewiesen worden - zeichnet die Handlungsperspektiven vor. Dabei gilt es, die positiven, jetzt von der Bundesregierung eingeschlagenen Wege weiter auszubauen und zu unterstützen. Ich habe zum Beispiel im April letzten Jahres in Costa Rica wahrnehmen können, welche segensreichen Folgen die Umstellung des Kaffeeanbaus in mehreren Genossenschaften auf ökologische Anbau- und Verarbeitungsverfahren hat. Der Umstellungsprozess war und ist nur möglich durch finanzielle Unterstützung im Rahmen der Nord-Süd-Solidarität und die Vermarktungshilfen durch den fairen Handel. Ich habe in diesem Zusammenhang Menschen auf einer Bananenplantage erlebt, auf der nicht mehr offen mit der Giftspritze hantiert wurde oder über die keine Sprühflugzeuge mehr flogen. Auch hier konnte ich gelebte Nord-Süd-Solidarität im Sinne der Nachhaltigkeit erfahren. Das „Transfair“-Siegel durfte in der Verpackungsabteilung aufgeklebt werden. Im Hochland dieses kleinen mittelamerikanischen Landes wurde gerade ein Windpark erweitert, bei dem die GTZ bei der Gutachtenerstellung beteiligt war und Mittel über die Kreditanstalt für Wiederaufbau bereitgestellt wurden. Dies sind drei Beispiele, die aufzeigen, dass die Maßnahmen der Bundesregierung in die richtige Richtung gehen und im Sinne der heute hier diskutieren Nachhaltigkeitsstrategie sind. Es geht also um die richtige Prioritätensetzung. Es geht aber auch um den Abbau von Vorurteilen und Vorbeurteilungen. Diejenigen, die immer wieder sagen: „Die wollen ja nicht mit Solarenergie kochen, die wollen an offenem Feuer brutzeln!“, die - jetzt meine ich die, die das sagen - verweigern im Grunde einen Dialog über die Nutzungsmöglichkeiten der verschiedenen Anwendungsformen der solaren Energie. ({4}) Sie verkürzen die mögliche Betrachtung des gesamten Komplexes der nachhaltigen Nutzung der Sonnenkraft. Hier wird dann zum Beispiel auch deutlich, welche interkulturellen Betrachtungsweisen im Diskurs gewählt werden können und müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird noch viel Fantasie und guter Wille eingesetzt werden müssen, wenn das Nachhaltigkeitsprinzip wirklich seinen Platz finden und sich behaupten soll im Kontext einer solidarischen Entwicklungszusammenarbeit und einer globalen Agrarwirtschaft, der die langfristig tragfähige Versorgung aller Menschen in allen Ländern der Welt umfassen kann. Es wird seit der Rio-Konferenz viel von Handlungsrahmen und Agenden gesprochen: Agenda 21, Agenda 2000 für die EU-Politik der nächsten Jahre, Lokale Agenda. Ich gehe mit den engagierten Entwicklungs-, Agrar- und Umweltpolitikern nicht nur meiner Fraktion davon aus, dass die verschiedenen Agenden nicht nur Handlungsrahmen bleiben, sondern auch unter das bereits von Minister Trittin genannte Motto „Global denken, lokal handeln“ gestellt werden. In einer der letzten Publikationen der DEG, der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft, heißt es: Die Eigendynamik der einzelnen Volkswirtschaften zu fördern, bedeutet für uns auch, Umwelt- und Ressourcenschutz aktiv zu beachten. In diesem Sinne arbeiten wir am Einsatz umweltschonender Technologien und Managementverfahren und beteiligen uns an der Entwicklung umweltpositiver Projektideen, um nachhaltiges Wachstum und wirtschaftlichen Erfolg in Einklang mit der Umwelt zu fördern. Diese Aussage bedeutet Auftrag und Verpflichtung nicht nur für die DEG. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe auf entsprechende Konsequenzen. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzter Redner in dieser Debatte spricht nun der Kollege Erich Fritz für die CDU/CSU-Fraktion.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als jemand, der zwei Legislaturperioden an dieser Kommission beteiligt war, freut man sich, wenn dann später sichtbar wird, dass Folgen aus dieser Arbeit in konkretes politisches Handeln übertragen werden. Deshalb begrüße ich es, dass der Umweltausschuss einstimmig Empfehlungen vorträgt, über die wir heute debattieren. Gleichzeitig fällt mir auf, dass hier überwiegend Umweltpolitiker sprechen, dass die Angelegenheit federführend im Umweltausschuss behandelt worden ist, dass sie beim Umweltminister ressortiert und er deshalb hier in der Debatte das Kabinett vertritt und nicht etwa der Bundeskanzler oder der Chef des BundeskanzleramReinhold Hemker tes. Das heißt, es wird ganz deutlich, dass die Absicht besteht, etwas zu ändern, dass aber die tatsächlichen Verhältnisse dem an vielen Stellen entgegenstehen. ({0}) Nachhaltigkeit ist ein altes Prinzip. Das ist hier deutlich geworden. Aber ich glaube, es hat neue Zukunftsperspektiven. Ich sehe das deshalb nicht so pessimistisch wie der Kollege Hermann, der sagt: Im Prinzip sind die Leute ein bisschen zu dumm oder noch nicht so weit und verstehen nicht, was damit zusammenhängt. Sie verstehen es nicht in Form einer wissenschaftlichen Debatte; aber die Notwendigkeit, so zu handeln, wie es das Prinzip Nachhaltigkeit erfordert, könnensehr viele nachvollziehen. Es sind außerdem sehr viele auf dem Weg: in der Wissenschaft, in der politischen Debatte, in den Kommunen mit der Lokalen Agenda 21 und in den Unternehmen, in vielen, gerade neuen innovativen Unternehmen mit einer ganz neuen Generation von Führungspersönlichkeiten, die schon deshalb einen ganz anderen Zugang zu diesem integrierten Denken haben, weil sie sich mit Medien befassen, die sie förmlich dazu zwingen und automatisch auf diesen Weg führen. Deshalb, denke ich, haben wir alle Voraussetzungen dafür, dass das, was die Enquete-Kommission versucht hat - wobei sie dann auch an ihre Grenzen gestoßen ist, weil es nicht möglich ist, die Integration und das Zusammendenken von Sachverhalten, die eigentlich notwendig sind, zu leisten -, tatsächlich in so kompakter Form geschehen kann. Sie war aber hilfreich. Sie hat Begriffe und Ziele definiert, die jetzt in der weiteren Diskussion zur Basis der Gespräche geworden sind. Sie hat Verständigung ermöglicht. Ich denke in diesem Zusammenhang an den Beginn der Enquete-Kommission, als wir noch vor Mauern von Leuten gestanden haben, die gar nicht mit uns sprechen wollten, weil sie den Gedanken, mit dem wir uns da beschäftigten, für ganz absurd gehalten haben. Für besonders wichtig halte ich die Tatsache, dass die rein ökologisch zentrierte Frage zu einer Frage geworden ist, in der Ökonomie, Ökologie und soziales Leben miteinander verbunden werden. Das ist die eigentliche Aufgabe, vor der wir stehen. So verstanden ist für mich Nachhaltigkeit ein erweitertes Verständnis von sozialer Marktwirtschaft, weil nämlich die Frage der sozialen Verantwortung natürlich über die jetzt Lebenden hinausgeht. Das muss eigentlich für jeden, der über die Zusammenhänge nachdenkt, klar werden, weil soziale Verantwortung auch Verantwortung für kommende Generationen und für deren Lebensverhältnisse verlangt. Das heißt also, wir müssen getrennte Aspekte zusammendenken. Dies fällt schwer, wie man weiß. Auch in dieser Debatte ist es nicht durchgängig gelungen. Wir müssen Abhängigkeiten und Folgen besser verstehen und Wirkungszusammenhänge berücksichtigen. Wir müssen vielleicht parteipolitische Antworten in dieser Diskussion weniger ernst nehmen, als wir dies bisher tun, weil nämlich viele beteiligt sind, denen völlig egal ist, von welcher Partei etwas ausgesprochen wird. Deshalb finde ich es nicht richtig, wenn in dieser Debatte alles Mögliche als nachhaltig bezeichnet wird, wenn sozusagen versucht wird, den alten Wein aus den 70er- und 80er-Jahren mit dem neuen Etikett „nachhaltig“ zu versehen und so zu tun, als sei man der Integration des Denkens schon nahe gekommen. Das Gegenteil ist häufig der Fall: Wer das so macht, der drückt sich gerade um die verdammte Verpflichtung und Mühe, die Aspekte zusammenzudenken. Einfach ist dieser Prozess nicht. ({1}) Die Interessen der natürlichen, der geistigen, der kulturellen und der materiellen Welt zusammenzuführen, verlangt Nachhaltigkeit. Sie verlangt deshalb Menschen, die frei sind. Freiheit ist die Voraussetzung dafür, sich an solchen Prozessen zu beteiligen und die nötige Verantwortung zu übernehmen. Auf der anderen Seite verlangt dieser Prozess Verantwortlichkeit, weil Freiheit personell, gesellschaftlich und durch die Natur begrenzt ist und begrenzt sein muss. Genau in diesem Spannungsfeld von Freiheit und Verantwortlichkeit bezüglich dieser Prinzipien muss sich die Diskussion über die Nachhaltigkeit bewegen. Deshalb verlangt Nachhaltigkeit besondere Sorgfalt bezüglich der Rahmenbildung und der zu entwickelnden Regeln. Die Regeln sollen möglichst im Konsens entstehen. Es wird nie einen absoluten Konsens geben. Wir haben festgestellt, dass wir auch in der Kommission an Stellen gelangt sind, wo ein Konsens nicht mehr möglich war. Zu diesem sich in der Debatte abzeichnenden Grundkonsens gehört sinnvollerweise und notwendigerweise ein Diskurs, also die streitige Auseinandersetzung über die richtigen Mittel und Wege. Wir müssen uns nicht schräg anschauen, wenn es unterschiedliche Vorstellungen gibt. Dies gehört dazu. Genau die Bereitschaft, die unterschiedlichen Vorstellungen aufzunehmen, zeichnet heute dort, wo es funktioniert, die lokalen Agenden aus: Menschen, die vorher zusammengekommen sind, um aufeinander zu schimpfen, sind plötzlich in der Lage, einander zuzuhören und nachzuspüren, ob man nicht mit unterschiedlichen Begriffen sogar das Gleiche meinen und denken kann. Nachhaltigkeit verlangt im Rahmen der Regeln, dass wir uns um Akzeptanz bemühen. Der Erfolg einer Nachhaltigkeitsstrategie hängt vom Entstehungsprozess ab. Deshalb habe ich geschluckt, Herr Kollege Hermann, als Sie vorhin sagten: Wir werden Ihnen eine Strategie präsentieren. Es zeugt von großem Selbstbewusstsein, wenn Sie sagen: Die Regierungsfraktionen werden das schon machen. Aber dies entspricht nicht dem, was wir eigentlich wollen. Wenn wir den Menschen etwas präsentieren, das sie schlucken sollen, dann werden wir die notwendige Eigenverantwortlichkeit und Mitwirkung nicht erreichen. ({2}) - Nein, ich habe Ihre Aussage gar nicht gewertet. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass ich geschluckt habe, als Sie es ausgesprochen haben. Ich hoffe, wir verstehen uns. Die zu entwickelnden Regeln werden danach bewertet werden, welche Vorteile oder Nachteile sie dem Menschen bringen. Die an diesem Prozess beteiligten Akteure werden das höchst unterschiedlich empfinden. Selbst diese Akteure werden stärker als bisher gezwungen sein, jeweils die Position des anderen mitzudenken. Dies kann nicht mehr im Zusammenwirken großer Organisationen erreicht werden, wie es jetzt im „Bündnis für Arbeit“, das nach meiner Meinung nicht sinnvoll ist, versucht wird, weil große Organisationen immer dazu tendieren, den Status quo zu verteidigen, soweit er ihnen nützt, und weil sie immer bereit sein werden, höhere gesellschaftliche Kosten für einen größeren Vorteil für ihre Mitglieder in Kauf zu nehmen. ({3}) Wir müssen anders vorgehen und eine viel breitere Basis für den Prozess finden, der deshalb auch immer schwieriger zu organisieren sein wird und der Geduld verlangt und nicht das vorschnelle Auftreten nach dem Motto: Ich habe die Antwort schon fertig. Es hat nämlich niemand - weder national noch international - eine fertige Antwort. Bei diesem Regelwerk entscheidet sich, ob wir bereit sind, die Debatte darüber zu führen, ob Kurzzeit- oder Langzeitdenken im Vordergrund steht. Wenn wir diese Debatte führen wollen, dann wird das bei vierjährigen Wahlperioden etc. nicht einfach sein. Es ist ein Anspruch an Politik und Politikgestaltung gestellt, der eine hohe Herausforderung ist. Man kann über die damit zusammenhängenden Schwierigkeiten nicht so einfach hinweggehen. Ich glaube deshalb, dass es sehr entscheidend darauf ankommt, sich im weiteren Fortgang der Debatte über Nachhaltigkeit und eine Nachhaltigkeitsstrategie in Deutschland darauf einzulassen - selbst wenn es experimentell ist -, neue Kommunikations- und Steuerungsmöglichkeiten zu erproben. Der von der Kommission vorgeschlagene Rat für nachhaltige Entwicklung bringt vielleicht ein erstes Signal, aber noch nicht die Neuorientierung und schon gar nicht die neue politische Gestaltung. Ich finde es gut, wenn man versucht, vom spezifischen zum integrierten Denken zu kommen. In Zukunft kommt es aber darauf an, dass sich politisches Handeln verändert. Deshalb müssen bestimmte Anforderungen an das Regelwerk gestellt werden. Die Zielsetzungen, die in einem solchen Nachhaltigkeitspapier formuliert werden, müssen mit neuen, aber tendenziell weniger Regeln erreichbar sein, weil eine reine Vermehrung der Regeln, um zusätzliche Effekte zu erreichen, von den Menschen nicht mehr akzeptiert wird. Das merkt man in vielen anderen Politikbereichen. Die Regeln müssen Akzeptanz finden; also müssen sie überzeugend sein und möglichst weit in die Verantwortung des jeweils Handelnden gelegt werden. Der Einzelmensch, der Verbraucher, der Mensch in seinen unterschiedlichen Rollen - Freizeit, Beruf, Wohnen etc. - und die gesellschaftlichen Organisationen müssen ernst genommen werden und sich dort wiederfinden. Je weniger kompliziert diese Regelungen sind und je mehr sie mit alternativen Handlungsmöglichkeiten ausgestattet sind, desto größer wird andererseits wieder die Akzeptanz sein. Deshalb ist es richtig, eher Leitplanken zu formulieren, als Verordnungen zu erlassen. Es ist besser, freiwillige Vereinbarungen zu treffen, als Detailregulierungen zu schaffen. Man sollte Regeln, die den Menschen Vorteile bringen, stärker berücksichtigen als solche, die Sanktionen androhen, und Selbstverpflichtungen stärker einfordern, weil sie die Konsequenz der freien wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Betätigung sind. „Übereinkunft vor Anweisung“ muss das Motto sein. Freiheit, Freiwilligkeit, aber auch die Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung müssen prägende Prinzipien der Umsetzung einer Nachhaltigkeitsstrategie sein. Deshalb wird es bei einem solchen Konzept nicht damit getan sein, alles, was einem schon mal lieb war, zusammenzuschreiben. Ich habe in diesem Zusammenhang eine Bitte: Achten Sie alle bei Ihren Anträgen und bei Ihren schriftlichen Verlautbarungen zu allen möglichen Politikfeldern doch bitte darauf, dass Sie, weil wir noch kein besseres Wort haben, den Begriff „Nachhaltigkeit“ nicht in der Weise entwerten, dass er schließlich für alles und nichts verwendet wird. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Abschlussbericht der En- quete-Kommission zum „Konzept Nachhaltigkeit - Vom Leitbild zur Umsetzung“, Drucksache 14/1470. Der Ausschuss empfiehlt unter Ziffer 1, den Abschlussbe- richt auf Drucksache 13/11200 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist einstimmig angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Ziffer 2 sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/1470 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e auf: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Martin Mayer ({0}), Ilse Aigner, Maria Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Zur Nutzung und Anwendung der neuen Me- dien in Deutschland - Chancen in der Infor- mationsgesellschaft - Drucksachen 14/1031, 14/1866 - b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Erfahrungen und Entwicklungen bei den neuen Informations- und Kommunikationsdiensten im Zusammenhang mit der Umsetzung des Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetzes ({1}) - Drucksache 14/1191 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Aktionsprogramm der Bundesregierung Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts - Drucksache 14/1776 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien d) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Otto ({4}), Dr. Wolfgang Gerhardt, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Offene Medienordnung für Deutschland verwirklichen - Drucksache 14/2362 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({5}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Burchardt, Jörg Tauss, Klaus Barthel ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Matthias Berninger, Kerstin Müller ({7}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Strategie für eine Nachhaltige Informationstechnik - Drucksache 14/2390 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({8}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Werner Müller. ({9})

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005310

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns in Deutschland gegenwärtig mitten im Wandel von der Industriegesellschaft zur Informations- und Wissensgesellschaft. Die neuen Informationstechnologien und Netze beeinflussen mittlerweile fast alle Bereiche des Privatlebens und nahezu die gesamte Arbeitswelt. Aus ökonomischer Sicht ist in diesem Zusammenhang wichtig zu erkennen, dass die Informations- und Kommunikationstechnologien weltweit zu den wichtigsten Impulsgebern für wirtschaftliches Wachstum und Beschäftigung zählen. Im vergangenen Jahr erzielte in Deutschland die informations- und kommunikationstechnische Industrie einen Umsatz von 205 Milliarden DM. Die Informationsindustrie beschäftigt derzeit bereits 1,7 Millionen Menschen. Schätzungen zufolge können allein im Bereich von Multimedia bis zum Jahre 2002 bis zu 370 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn die Weichen richtig gestellt werden. Im Wettbewerb der Unternehmen und der Nationen zählt nicht mehr allein die wirtschaftliche Größe. Die Internet-Werte des Neuen Marktes zeigen deutlich, dass Flexibilität und Schnelligkeit bei der Erschließung innovativer Geschäftsfelder zu den bestimmenden Faktoren werden. Vor diesem Hintergrund ist es das erklärte Ziel der Politik der Bundesregierung, Deutschland einen Spitzenplatz in der internationalen Informationsgesellschaft zu sichern. ({0}) Diesem Ziel dient das im September letzten Jahres vorgelegte Aktionsprogramm der Bundesregierung „Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Sicherung eines hohen zukunftsfähigen Beschäftigungsniveaus in der Bundesrepublik Deutschland sind die entscheidenden Herausforderungen der nächsten Jahre. ({1}) Vizepräsident Rudolf Seiters Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gehört zwingend auch, in unserem Land den Übergang von der Industriezur Informationsgesellschaft noch rascher als bisher zu meistern und damit neue Beschäftigungspotenziale zu erschließen. Für die Bundesregierung hat daher die beschleunigte Nutzung und Verbreitung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien wirtschafts-, forschungs-, technologie- und bildungspolitische Priorität. ({2}) Das Aktionsprogramm stellt deutlich die wirtschaftspolitischen Chancen für unser Land heraus, die mit dem Wandel zur Informationsgesellschaft verbunden sind. Die Verbesserung des Zugangs zu den neuen Medien und dem Internet, der weitere Ausbau der Infrastruktur und die Fortentwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen, zum Beispiel im Daten- und Verbraucherschutz sind daher wichtige Handlungsschwerpunkte des Programms. ({3}) Um Deutschland einen Spitzenplatz im digitalen Zeitalter zu sichern, haben wir das Aktionsprogramm mit konkreten Zielmarken versehen, die wir durch gemeinsame Anstrengungen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft innerhalb der nächsten fünf Jahre erreichen wollen und an denen wir uns dann auch messen lassen wollen. Folgende konkrete Ziele möchte ich hier herausstellen: Wir wollen die Anzahl der Internetanschlüsse in der Bevölkerung auf einen Wert von über 40 Prozent bis zum Jahre 2005 steigern. Dazu wollen wir unter anderem eine breit angelegte Demonstrations- und Informationskampagne „Internet für alle“ starten. Wir wollen Vertrauen und Sicherheit durch verbesserte rechtliche Rahmenbedingungen schaffen. Das Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz hat eine wichtige Grundlage für die Entwicklung von E-Commerce in Deutschland gelegt und die internationale Diskussion zu EU- und weltweiten Regelungen für die neuen Dienste maßgeblich mitbestimmt. Die moderne Ausgestaltung des Gesetzes hat auch zu einer breiten Akzeptanz neuer Medien in Deutschland geführt. Damit wurden verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen für Anbieter und Nutzer geschaffen. Wie der Ihnen im letzten Jahr vorgelegte Evaluierungsbericht zum Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz zeigt, hat sich ein grundlegender Novellierungsbedarf hierzu bisher nicht ergeben. Es wurde aber auch deutlich, dass in einzelnen Regelungsbereichen, insbesondere beim Verbraucherschutz und beim Jugendschutz, gesetzlicher Anpassungsbedarf besteht, um die Akzeptanz der neuen Dienste auf der Nutzerseite zu erhöhen und die Bedingungen für die Informationsgesellschaft in diesem Bereich zu verbessern. Hier möchten wir also neue Akzente setzen. Im Datenschutz müssen die verschiedenen Regelungen besser aufeinander abgestimmt und damit mehr Transparenz für die Anbieter geschaffen werden. ({4}) Wir wollen den Ordnungsrahmen für Information, Kommunikation und Medien mit Blick auf die Globalisierung der Märkte und die Konvergenz der einzelnen Branchen fortentwickeln. Hierzu werden wir in Gespräche mit den Ländern eintreten, um unter Wahrung der jeweiligen Kompetenzen einen zukunftsfähigen Rechtsrahmen zu erarbeiten. Die Bundesregierung will die Zahl der MultimediaUnternehmen deutlich steigern und vor allem kleinen und mittleren Unternehmen den Einstieg in den elektronischen Geschäftsverkehr erleichtern. Hierzu werden wir unter anderem die Beratung und Information von kleinen und mittleren Unternehmen durch die „Kompetenzzentren Elektronischer Geschäftsverkehr“ fortsetzen. ({5}) Ferner wollen wir Anreize für eine neue Gründerwelle, zum Beispiel mit dem „Gründerwettbewerb Multimedia“, schaffen. Die innovativen Unternehmen wollen wir mit einem jährlichen Internet-Preis auszeichnen, der erstmals auf der CeBIT 2000 vergeben wird. ({6}) Wir wollen die Verbreitung neuer Technologien durch eine intelligente Regulierungspolitik fördern. Innovationen in der Telekommunikation sollen größtmögliche Entfaltungsspielräume enthalten. Für die dritte Generation Mobilfunk, UMTS, mit der auch das drahtlose Internet möglich wird, wollen wir die Lizenzvergabe in diesem Jahr durchführen. Mit unserem Aktionsprogramm haben wir eine Grundlage geschaffen, auf der auch andere Initiativen aufbauen können. Die Diskussionen mit der Wirtschaft und den Gewerkschaften im Rahmen des „Bündnisses für Arbeit“ sowie die anlaufenden Projekte der im Juli mit maßgeblicher Unterstützung des Bundeskanzlers gestarteten Initiative „Deutschland 21 - Aufbruch in das Informationszeitalter“ sollen hier zusätzliche Impulse erhalten. Wir haben auch deutlich die Chancen herausgestellt, die mit der Anwendung der neuen Technologien in Gesellschaft und Staat für Bürgerinnen und Bürger verbunden sind. Hierzu zählen zum Beispiel innovative Anwendungen im Gesundheitswesen und in der Verkehrstelematik sowie die Verbesserung der Qualität staatlicher Dienstleistungen für Bürgerinnen und Bürger und gerade auch für Unternehmen etwa durch die elektronische Steuerverwaltung. Die Politik der Bundesregierung zielt ferner darauf ab, die Potenziale auszunutzen, die mit der Entwicklung und Einführung der neuen Technologien für eine ökologische Modernisierung verbunden sind. Hier greift das Aktionsprogramm wesentliche Vorschläge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für den verstärkten Einsatz von Multimedia für Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung auf. Die Herausforderungen der Informationsgesellschaft werden wir aber nur meistern, wenn wir mit einer modernen Bildungs- und Forschungslandschaft einen kompetenten Umgang mit den neuen Medien und der Umwandlung von Information in Wissen sicherstellen; ({7}) denn - das ist vielleicht die größte Aufgabe, die wir alle zusammen meistern müssen - es darf auf lange Sicht keine Spaltung der Gesellschaft in Menschen mit Zugang zu den neuen Informations- und Kommunikationsangeboten und in jene geben, die nicht im Netz sind. ({8}) Dazu müssen wir alle Chancen wahrnehmen, die mit der Anwendung der neuen Technologien in Gesellschaft und Staat im Sinne eines lebenslangen Lernens für Bürgerinnen und Bürger verbunden sind. Wir müssen dafür sorgen, dass die Ressource Wissen wirklich zunimmt, und unser Bildungswesen für die dynamischen Entwicklungen unserer Gesellschaft fit machen. Meine Kollegin Bulmahn hat mit dem „Forum Bildung“ hier einen guten Anfang gemacht. Die umfangreichen Initiativen und Maßnahmen zur Förderung der Nutzung der neuen Medien auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene hat die Bundesregierung auch in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion „Zur Nutzung und Anwendung der neuen Medien in Deutschland - Chancen in der Informationsgesellschaft“ nochmals ausführlich dargestellt. Mit der erfolgreichen Bewältigung des Jahr-2000Problems sind wir sicher in das 21. Jahrhundert gestartet. Lassen Sie mich an dieser Stelle allen, die bei der Bewältigung dieses Problems bzw. bei der Vorbereitung zur Bewältigung dieses Problems mitgewirkt haben, herzlich danken. ({9}) Trotz der teilweise Katastrophen voraussagenden Prognosen ist der Erfolg wegen der Vorbereitung zur Bewältigung dieses Problem, die die Bundesregierung - im Gegensatz zu der einen oder anderen laut gewordenen Kritik - still und effizient zusammen mit allen relevanten Gruppen insbesondere in der Wirtschaft und in der Verwaltung mit vorangetrieben hat, letztendlich so eingetreten, dass alle Katastrophenprognostiker eines Besseren belehrt wurden. Ausdrücklich noch einmal einen herzlichen Dank an alle, die die Vorbereitungsarbeit geleistet haben, und im Übrigen an alle, die sich in dieser Nacht in Bereitschaft gehalten haben. ({10}) Wir sind also nun im 21. Jahrhundert angekommen. Es wird das Informations- und Wissenszeitalter werden. Jetzt gilt es, die Chancen der neuen Medien in einer Innovationspartnerschaft zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft entschlossen zu nutzen. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Martin Mayer.

Dr. Martin Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001448, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Weg ins neue Jahrhundert ist der Weg in die Informationsgesellschaft. Die Stellung Deutschlands in der Welt und die Wirtschaftskraft Deutschlands werden im Wesentlichen davon abhängen, wie wir diesen Weg in Deutschland gestalten. Das wäre Anlass genug, eine Debatte im Deutschen Bundestag zu führen, die wahrlich mehr Zuhörer verdient. Der unmittelbare Anlass dieser Debatte aber sind drei Dokumente, die die Bundesregierung vorgelegt hat. Das erste Dokument ist der Evaluierungsbericht vom Juni zum Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz von 1997. Man kann die Äußerung der Bundesregierung ganz kurz folgendermaßen zusammenfassen: Die Bundesregierung prüft und sie wird weiter prüfen. - Es finden sich nur marginale Änderungsvorschläge zu diesem Gesetz, das ja die frühere Koalition auf den Weg gebracht hat. Man kann sagen, dass dies ein sehr großes Kompliment an die unionsgeführte Regierung ist, die dieses Gesetz damals gegen den teilweisen Widerstand der SPD durchgesetzt hat. ({0}) Zum zweiten Dokument. Zur Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSUFraktion kann man nur sagen: Welche Antwort! Um die entscheidenden Fragen drückt sich die Bundesregierung herum. ({1}) Ich will mich deshalb überwiegend mit dem dritten Dokument auseinandersetzen, nämlich mit dem Aktionsprogramm der Bundesregierung „Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“. ({2}) - Warten Sie ab. - In diesem Papier hat die Bundesregierung ihre Ziele und Aktionen festgelegt. Herr Bundesminister, Sie haben ja wenigstens schon eine Aussage, die ich zitieren möchte, korrigiert. In dem Aktionsprogramm steht nämlich der Satz zu lesen - ich zitiere -: Die Vision der Bundesregierung für die Zukunft ist, Deutschland in der Informationswirtschaft in eine europaweite Spitzenposition zu bringen. ({3}) Da kann ich nur sagen: Das ist der Anspruch auf die zweite Liga. Wir müssen weltweit eine Spitzenstellung einnehmen. ({4}) Bei den konkreten Zahlen wird es noch viel schlimmer. Sie haben folgende Aussage heute wiederholt - ich zitiere -: Steigerung des Anteils der Internetabonnentinnen und -abonnenten an der Gesamtbevölkerung von 9 % im Jahr 1999 auf über 40 % bis zum Jahr 2005 ... Erst in fünf Jahren will die Bundesregierung den heutigen Stand der USA, Schwedens und Finnlands erreichen. Das ist ein „Anspruch“ Deutschlands auf das Schlusslicht! So können wir doch nicht weitermachen, das muss korrigiert werden! ({5}) Bei den bescheidenen Ansprüchen der Bundesregierung ist es ja kaum verwunderlich, ({6}) dass sie in einer ganz entscheidenden Frage schweigt. Ich will dazu etwas sagen, weil dieses Thema wegen der vielen amerikanischen Ausdrücke sehr schwer zu verstehen ist. ({7}) Die Zahl der Internetanschlüsse in Deutschland könnte man sprunghaft erhöhen. Laut Statistischem Jahrbuch 1999 hat im Jahr 1998 die Hälfte aller Haushalte der durchschnittlich verdienenden Vier-Personen-Haushalte von Angestellten und Arbeitern einen PC. Alle diese Haushalte haben auch einen Telefonanschluss. Warum gehen sie nicht online? Sie gehen deshalb nicht ins Netz der Netze, weil in Deutschland immer der Telefongebührenzähler tickt, und da kann natürlich jemand, der Kinder hat, nicht sagen: „Ich lege mir einen Internetanschluss zu“, und hat nachher eine monatliche Telefonrechnung von 200 bis 300 DM. Wir haben uns ja leider daran gewöhnt, dass der Fernseher entweder eine Monatspauschale kostet oder, wie beim Privatfernsehen, kostenlos ist, aber dass beim Internetzugang ständig der Gebührenzähler Minute für Minute tickt. In den USA, in Kanada, in Australien, in Neuseeland ist das anders. ({8}) - Seit langem. ({9}) In Österreich, in Schweden und in Großbritannien beginnt sich das zu ändern. Bloß bei der Bundesregierung herrscht Schweigen. ({10}) - Es zeigt Ihre Geisteshaltung, dass Sie in dieser schnelllebigen Zeit immer zurückblicken, statt sich mit der Zukunft zu befassen. ({11}) Auch bei uns in Deutschland muss es eine bezahlbare Monatspauschale für den Internetzugang, und zwar zu einem Preis von deutlich unter 100 DM, geben. Erst dann kann ein Durchbruch gelingen. Es ist unglaublich, dass die Bundesregierung zu diesem Thema - weder Sie, Herr Müller, in Ihrer Rede heute, noch in dem Aktionsprogramm - einen einzigen Satz sagt. Wenn sich die Bundesregierung politisch endlich für eine Monatspauschale einsetzen würde, dann könnte die Regulierungsbehörde auch durchsetzen, dass der Monopolist dem Internetprovider einen entsprechenden Tarif anbieten muss. Ich sage Ihnen eines: Mit einer solchen Maßnahme würden Sie mehr erreichen als mit allen Ihren anderen Maßnahmen, die Sie genannt haben. Sie brauchten dann das Sonderprogramm für die Schulen nicht. Die Kinder und Jugendlichen hätten dann nicht nur die Möglichkeit, in der Schule im Internet zu surfen, wenn sie einmal drankommen. Vielmehr könnten sie es zu Hause tun, anstatt in den Fernseher zu glotzen. Da könnten Sie einmal aktiv werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Internet wird gegenwärtig vorrangig zur Informationsbeschaffung genutzt. Dies ändert sich zunehmend, weil der elektronische Handel in den Vordergrund rückt. Die Zahlen sind genannt worden. Der Umsatz in Deutschland wächst nach Schätzung der Bundesregierung von 2,6 Milliarden DM im vergangenen Jahr auf 94 Milliarden DM im Jahre 2002. Deshalb müssen wir alles tun, um die Rahmenbedingungen zu verbessern. Ein Schwachpunkt ist ja noch die Sicherheit der Bezahlung der Leistungen über das Netz. Dazu meine ich: Es ist angebracht, dass die Bundesregierung mit großem Nachdruck die Umsetzung der Europäischen Richtlinie für digitale Signaturen betreibt. Es gibt noch andere Rahmenbedingungen, hinsichtlich derer Rechtsbereiche an die Erfordernisse des Netzes angepasst werden müssen, wie etwa beim Datenschutz, beim Urheberrecht, beim Steuerrecht, im Zivilund Strafrecht, im Handelsrecht, im Jugendschutz und beim Schutz der Menschenwürde. Dazu haben wir von der Bundesregierung allerdings außer Ankündigungen nicht sehr viel gehört. Bei diesen Gesetzesänderungen kommt es vor allem darauf an, dass das Netzwerk der Regelungen nicht verdichtet wird, sondern es muss ausgedünnt werden. Nirgendwo im Aktionsprogramm steht der Satz, der eigentDr. Martin Mayer ({12}) lich ein entscheidender Satz ist, dass man Regelungswerke ausdünnen muss. ({13}) Im Gegenteil: Es wird ein neues Gesetz, das Arbeitnehmerdatenschutzgesetz in einer Materie vorgeschlagen, die viel leichter durch Vereinbarungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gelöst werden könnte. Das zögerliche Handeln der Bundesregierung bei der Umsetzung der Rechtsvorschriften ist schon schlimm genug, aber noch schlimmer ist die Ignoranz der Bundesregierung bei den Erfordernissen des Wandelns im Arbeits- und Sozialrecht. Immer mehr Menschen müssen im Laufe eines Arbeitslebens den Arbeitgeber, das Unternehmen, wechseln. Immer mehr Menschen wechseln in die Selbstständigkeit und wieder zurück. Da war doch die Gesetzgebung zur Scheinselbstständigkeit absolut kontraproduktiv. ({14}) Statt neuen Grenzen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern brauchen wir Brücken. Der Übergang von einer Form zur anderen muss erleichtert werden. Zwischenstufen sind gefordert. ({15}) Hier brauchen wir auch in der Sozialgesetzgebung Kreativität. Ein wesentliches Hemmnis für die Informations- und Kommunikationsdienste in Deutschland ist der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Die Bundesregierung spricht in ihrem Bericht von 75 000 fehlenden Fachkräften in diesem Sektor. ({16}) Hier genügen Absichtserklärungen, wie sie im „Bündnis für Arbeit“ gegeben werden, nicht. Hier darf nicht gekleckert, hier muss geklotzt werden. ({17}) Wenn in diesem Jahr schon zusätzliche Milliarden DM an die Bundesanstalt für Arbeit ausgegeben werden, dann müssen sie in diesem Sektor schwerpunktmäßig eingesetzt werden. Völlig unverständlich ist auch, dass die Bundesanstalt für Arbeit eine neue Dienstanweisung plant, die es Akademikern von außerhalb der EU praktisch verbietet, in der Informations- und Kommunikationsbranche in Deutschland zu arbeiten. Statt wie geplant Deutschland abzuschotten, müssen wir Deutschland für diese Triebkräfte und den Motor der Entwicklung, die neue Arbeitsplätze nach sich ziehen, öffnen. Wir müssen es so wie die USA machen, die Arbeitskräfte aus der ganzen Welt an sich ziehen. Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, diese Dienstanweisung sofort zu korrigieren. Insgesamt wirkt das Aktionsprogramm der Bundesregierung blutleer. Man gewinnt den Eindruck, dass die Bundesregierung in der Internetgemeinde nicht zu Hause ist. Herr Bundesminister Müller, wenn ich Ihre Rede gehört habe, dann frage ich mich, ob Sie wirklich schon einmal selbst im Netz gesurft haben. ({18}) Die neuen Möglichkeiten zum interaktiven Kontakt und zum direktem Dialog mit den Bürgern werden zwar im Aktionsprogramm am Rande erwähnt, aber die Bundesregierung scheint das nicht sehr zu schätzen. Wie könnte es sonst sein, dass mich Briefe aus der ganzen Republik erreichen, ({19}) - E-Mails, natürlich -, dass mich E-Mails aus der ganzen Republik erreichen, die beklagen, dass die Bundesregierung auf E-Mails keine Antwort gibt. Ja selbst in Foren im Netz, wo Fragen der Politik diskutiert werden und ({20}) die Bundesregierung um eine Stellungnahme gebeten worden ist, erfolgt nach vier Wochen, Herr Mosdorf, immer noch keine Antwort. Ich kann Ihnen das nachher geben. Sie sollten diesen Dialog tatsächlich einmal führen. Die einzige Reaktion der Regierung ist Schweigen. Mit dieser Reaktion schadet sich die Regierung selbst. ({21}) Dialog und Interaktivität sind im Vergleich zu den herkömmlichen Medien das Neue im Internet. Sie bringen eine neue Qualität in die Beziehung zwischen Politik und Bürgern. Da reicht es nicht aus, nur vom Dialog zu reden, man muss ihn auch führen, Herr Bundesminister. Ich habe in Vorbereitung zu dieser Debatte eines festgestellt: Es gibt in der Netzgemeinde viele Menschen, die sich ein enormes Fachwissen angeeignet haben und die auch gern bereit sind, dies den Politikern mitzuteilen und es weiterzugeben. All diesen begeisterte Ehrenamtlichen sage ich von dieser Stelle aus ein herzliches Wort des Dankes für ihre Arbeit und für ihren Einsatz. ({22}) Insgesamt enthält das Aktionsprogramm auch eine Reihe von Erfolg versprechenden Maßnahmen. Das ist kein Wunder. Es knüpft doch an viele Maßnahmen an, die die alte Regierung bereits auf den Weg gebracht hat. ({23}) Allerdings fehlen dem Programm der Schwung und die Leitprojekte, Dr. Martin Mayer ({24}) ({25}) die eine Aufbruchstimmung erzeugen könnten. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass es in der Bundesregierung eine unglückliche Zuständigkeitsverteilung gibt. (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU] Ich fordere daher die Bundesregierung auf, die Kräfte zu bündeln. Aber noch wichtiger ist - Herr Bury, sagen Sie es dem Herrn Bundeskanzler -: Internetpolitik muss Chefsache sein. Sie kann nicht aus der zweiten oder dritten Reihe bestimmt werden, nur von ganz oben, von der Spitze. ({26}) Auch da, meine ich, kann Berlin von München lernen. ({27})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, möchte ich Ihnen bekannt geben, dass wir auf Antrag der CDU/CSU-Fraktion von 14 Uhr bis 15 Uhr eine Sitzungsunterbrechung haben. Der Ältestenrat wird auf 15 Uhr einberufen. Nun fahren wir in der Debatte fort. Die Abgeordnete Margareta Wolf hat das Wort.

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Mayer, ich möchte kurz einige Punkte aus Ihrer Rede aufgreifen. Sie haben gesagt, das Internet müsse Chefsache sein. Das ist es bei dieser Regierung. Der Bundeswirtschaftminister hat hierzu gesprochen. ({0}) Ich darf Sie daran erinnern, dass in Ihrer Zeit erst ein Ministerium lediglich in den letzten Monaten im Internet war, und zwar das BMBFT. Ich darf Sie daran erinnern, Herr Mayer, dass der heute schon oftmals hier erwähnte Chef der ehemaligen Regierung in einer prominenten Talkshow einmal die Datenautobahn mit dem Bundesverkehrswegeplan verwechselt hat und eine halbe Stunde nicht realisiert hat, dass es um das Netz ging. ({1}) - Ich beschäftige mich mit der Zukunft. Sie sagen, das Aktionsprogramm sei blutleer. Herr Mayer, Sie sollten etwas dazu sagen, warum gerade die Produktionsumsatzzahlen bis 1998 im Bereich der neuen Technologien ganz weit hinten in Europa lagen. Seit Anfang 1999 steigen die Zahlen wieder. ({2}) Wir lagen ganz hinten, nur noch vor Schweden und Italien. Langsam steigt die Produktion wieder. Sie müssen auch etwas dazu sagen, warum die Zahl der Internet-abonnenten 1998 bei 9 Prozent lag. Inzwischen liegt sie bei über 10 Prozent. Dieser gewisse Attentismus, dem wir jetzt zu begegnen haben, ist nicht auf uns zurückzuführen. Ich weise ungern nach hinten zurück, aber wenn Sie sagen, dies sei alles blutleer, sollten Sie die Prozesse hier auch nicht ganz geschichtslos beurteilen, meine Damen und Herren. ({3}) Wir wissen alle, dass die Entwicklung der Informationstechnologien einer der Motoren, wenn nicht sogar der entscheidende Motor für die Globalisierung ist. Die Unternehmen kooperieren und konkurrieren heute weltweit. Im Netz wird die vollständige Markttransparenz zu geringen Informationskosten Realität. Der Wettbewerbsdruck unter den Unternehmen erhöht sich rasant. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, vorhin wurde auf das Thema hingewiesen, das von Ihnen gerne immer wieder bemüht wird, nämlich die Scheinselbstständigkeit und den Rückgang bei den Gründungen. Ich empfehle dringend heute einen Blick in die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, Herr Mayer. Dort steht, dass es im letzten Quartal 1999 64 000 Neugründungen im Bereich der wissensbasierten Dienstleister gegeben hat. Mit diesen Zahlen machen wir deutlich, dass wir uns zügig auf dem Weg von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft bewegen. Wir sind auf einem sehr, sehr guten Weg. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Deutschland ist heute einer der größten Märkte bei der Software, bei den Netzen, bei der Hardware und in der Unterhaltungselektronik. Entscheidend wird es in den nächsten Jahren darauf ankommen, dass Deutschland nicht nur verkauft, sondern dass in Deutschland auch vermehrt produziert wird. ({4}) Die neue Bundesregierung hat unter der Federführung des Wirtschaftsministers nach Regierungsübernahme sehr schnell und sorgfältig ein umfassendes Aktionsprogramm zur Gestaltung des Weges in die Informationsgesellschaft erarbeitet. Herr Mayer, wenn Sie sich einmal die Fachpresse anschauen, stellen Sie fest, dass dieses Programm eine sehr positive Resonanz hat. Darüber können wir glücklich sein, und zwar alle zusammen. Meine Fraktion meint, dass mit diesem Aktionsprogramm der Tatsache Rechnung getragen wurde, dass der informationstechnischen Kompetenz tatsächlich eine Schlüsselrolle bei der Wettbewerbsfähigkeit der Dr. Martin Mayer ({5}) deutschen Wirtschaft zukommt. Ziel unserer Politik ist es, die Chancen der neuen Technologien für mehr Beschäftigung, mehr Selbstständigkeit, mehr Information und mehr Partizipation und somit für ein zukunftsfähiges, ökologisches, modernes Wirtschaften zu nutzen. Wir glauben, Aufgabe des Staates ist es, den Ordnungsrahmen für die neuen Medien zu gestalten, faire Chancen für den Zugang zu diesen Medien für alle zu garantieren sowie Qualifikation und lebenslanges Lernen auch für die heute niedrig Qualifizierten zu ermöglichen, um die schon angesprochene Spaltung der Gesellschaft zu vermeiden. Für uns ist dies ein ganz zentraler Punkt bei der Gestaltung der Informationsgesellschaft. Darüber hinaus ist es Aufgabe von Politik, den Ausbau der notwendigen Infrastruktur zu gewährleisten, einen funktionierenden Wettbewerb sicherzustellen, die ökologische Zukunftsfähigkeit der Informationsgesellschaft zu erreichen und den Wettbewerb, unter anderem der Hochschulen, zu ermöglichen. Eine wichtige Voraussetzung für lebenslanges Lernen und die Kooperation zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, gerade zur Verbesserung der Chancen der Informationsgesellschaft, ist, dass wir die Rahmenbedingungen für eine Durchlässigkeit zwischen Hochschulen und Wirtschaft schaffen. Dies ist ein ganz zentraler Punkt, um die Wettbewerbsfähigkeit des Bildungsstandortes Deutschland zu verbessern und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Menschen in unserem Land die neuen Technologien als Chance begreifen und nicht als Risiko. ({6}) Wir alle wissen, dass derjenige oder diejenige, der oder die im Internet recherchiert, besser informiert ist als diejenigen, die das nicht tun. Die Person, die recherchiert, hat auch bessere Bildungschancen in unserem Land. Wir meinen, dass diese Bildungschancen nicht ausschließlich den Akademikerinnen und Akademikern vorbehalten bleiben dürfen. Eines der zentralen Ziele der Grünen und auch der Bundesregierung ist es, allen Menschen der Gesellschaft den Zugang zum Netz zu erleichtern und sie dabei zu unterstützen, es sinnvoll zu nutzen. Wir finden es gut, dass die Bundesregierung heute sagt, dass sie bis 2005 eine Nutzerquote von 40 Prozent erreichen wolle. ({7}) Ich prognostiziere, dass wir die Nutzerquote von 40 Prozent wesentlich schneller erreichen werden. Voraussetzung für die weitere Verbreitung des Internets - das wissen wir alle - ist allerdings auch die Entwicklung der Leistungsfähigkeit der Netzzugänge und, Herr Mayer, natürlich der Preise. ({8}) - Sie haben vorhin darauf hingewiesen, dass der Telefonzähler ständig tickt. Erstens hat er schon vor dem 27. September 1998 getickt und zweitens hat er damals sogar schneller getickt. Sie hätten hier einmal sagen können, warum das Glasfaserkabelnetz der Telekom noch nicht verkauft ist. Dies ist die zentrale Voraussetzung dafür, dass die Preise tatsächlich sinken können. ({9}) Sie sagen immer, wir sollten in die Zukunft schauen. Wir tun das und regeln relativ schnell, dass die Preise sinken. Damit wird die Voraussetzung dafür geschaffen, dass es einen breiteren Zugang zum Internet gibt und das Internet nicht nur ein Exklusivangebot für gut ausgebildete Leute ist. ({10}) Der Preis ist dafür eine zentrale Voraussetzung, verehrter Herr Kollege Mayer. Eine weitere Voraussetzung für die Ausbreitung des elektronischen Handels, des E-Commerce, ist allerdings auch die Sicherheit. Wir freuen uns darüber, dass das Bundeskabinett am 2. Juli 1999 beschlossen hat, dass Verschlüsselungsprodukte und -verfahren in Deutschland künftig ohne Beschränkung hergestellt, vermarktet und genutzt werden können. ({11}) Herr Mayer, das hätte schon viel früher geregelt werden können. Wir begrüßen es ausdrücklich, dass die Bundesregierung aktiv die Verbreitung kryptographischer Verfahren unterstützt. ({12}) Ein Nebeneffekt der technologischen Entwicklung ist - darauf möchte ich in diesem Kontext hinweisen -, dass das eine oder andere nationale Gesetz durch die Unabhängigkeit des Raumes im Netz perspektivisch obsolet wird. Dies betrifft meiner Meinung nach aufgrund der Existenz von E-Commerce das Rabattgesetz. ({13}) Das Netz bietet aber auch, wie ich finde, erhebliche freiheitsfördernde Elemente. So ist es zum Beispiel China bis heute nicht gelungen, das Netz zu kontrollieren. ({14}) Herr Kollege Mayer, während des Kosovo-Krieges haben wir ebenso gelernt, dass es selbst der Führung in Belgrad nicht gelungen ist, zu unterbinden, dass die Opposition im ehemaligen Jugoslawien mit uns hier kommuniziert hat. ({15}) Margareta Wolf ({16}) Es wurden E-Mails ausgetauscht. Insofern denke ich, dass das Internet keine blutleere Veranstaltung ist. Das Internet hat ein Potenzial, das weltweit Freiheit und Demokratie fördert. Ich glaube darüber hinaus, dass die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien grundlegende Veränderungen der Produktion und der Struktur der Unternehmen, aber auch der öffentlichen Verwaltung nach sich ziehen wird, wenn dies nicht schon erfolgt ist. So haben wir es heute in denjenigen Unternehmen, die diese Kommunikationsmöglichkeiten nutzen, mit dezentralen Entscheidungsstrukturen zu tun. Zudem kommt es zu Gruppenarbeit und flachen Hierarchien. Dies alles wäre ohne diese Technologien nicht möglich gewesen. Heute kann man dezentral und flexibel entscheiden, gleichzeitig aber zentral über alle notwendigen Informationen verfügen. Diese Entwicklung verändert die Unternehmenskultur in Deutschland hin zum Positiven, sprengt veraltete Hierarchiekonzepte und führt zu höherer Produktivität und mehr Verantwortung in den Unternehmen. Dies ist eine Entwicklung, die wir unterstützen. ({17}) Gleichzeitig bieten die neuen Medien erhebliche Potenziale gerade für Existenzgründer. Heute wird „seed capital“ bzw. „venture capital“ vor allen Dingen über das Netz verbreitet. Darüber hinaus wird der gesamte Problemkomplex der Generationennachfolge bei kleinen und mittleren Unternehmen relativiert, weil man heute im Netz so etwas wie einen Marktplatz findet, wo sich potenzielle Unternehmer, die Unternehmen übernehmen wollen, treffen und sich mit Betrieben bekannt machen, deren Chef in den Ruhestand gehen will. Ich denke, das ist eine sehr gute Entwicklung, die gerade den Aspekt Networking und Kommunikation ganz oben auf die Tagesordnung setzt. Solche Dinge wurden in der Vergangenheit versäumt, was dafür verantwortlich ist, dass wir heute gerade im Bereich der Unternehmensnachfolge sehr viel aufzuholen haben. ({18}) Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt ansprechen, der mir zentral zu sein scheint und angesichts dessen auf den Staat erhebliche Aufgaben zukommen, wobei die Bundesregierung schon heute auf diesem Gebiet Erhebliches leistet. Das ist der gesamte Komplex der Qualifikation und der Weiterbildung, Stichwort: lebenslanges Lernen. In den letzten Jahren wurden im Bereich der IuK-Technologien - bei gleichzeitig 4 Millionen Arbeitslosen; wenn ich daran erinnern darf - 75 000 Arbeitsplätze nachgefragt. Das ist ein Zustand, den man seitens der Politik nur als unverantwortlich bezeichnen kann. Wir haben - darauf sind wir Grünen stolz - im "Bündnis für Arbeit" erreicht, dass 40 000 Ausbildungsplätze geschaffen werden. Dies hatte man sich bis zum Jahre 2003 vorgenommen. Die Schaffung von 40 000 Arbeitsplätzen ist bereits erreicht worden. Darüber sollten wir sprechen, darüber sollten wir uns freuen. Ich denke, das zeigt, dass wir auf einem guten Wege sind. Lassen Sie mich abschließend sagen: Von den Menschen wird in Zukunft wesentlich mehr Flexibilität erwartet, als wir das heute ahnen. ({19}) Sie sollten einmal die amerikanische gesellschaftspolitische Debatte verfolgen. Richard Sennett warnt ja vor den Flexibilitätsanforderungen, die auf die Menschen zukommen. Daher sollten wir mit solchen Anforderungen sehr vorsichtig umgehen und gerade deshalb den Schwerpunkt auf eine qualifizierte Ausbildung legen. Wir müssen die Menschen in die Lage versetzen, sich schnell neues Wissen aneignen zu können. Wir sollten das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten stärken und sollten gerade wegen der Verunsicherungen, die auf die Menschen zukommen, perspektivisch eine stabile soziale Grundsicherung herstellen. Ich glaube, wir befinden uns auf einem guten Weg. Wir sind gewappnet und wir sind auch im Bildungsbereich wettbewerbsfähig. Ich danke Ihnen. ({20})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Mayer das Wort. ({0})

Dr. Martin Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001448, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kol-legin Wolf, Sie haben mich mehrfach angesprochen. Ich möchte zunächst etwas richtig stellen: Ich habe nicht gesagt, dass das Internet blutleer sei, sondern ich habe gesagt, dass das Aktionsprogramm und die Politik der Bundesregierung zum Internet blutleer seien. ({0}) Ich möchte aber zur Bewertung des Aktionsprogramms noch andere zu Wort kommen lassen, zum Beispiel „Spiegel Online“ vom 29. Oktober 1999. Der Untertitel lautete: Trotz vollmundiger Absichtserklärungen fällt der rot-grünen Bundesregierung zur „Innovation“ wenig Innovatives ein. Ein gerade vorgestelltes „Aktionsprogramm“ beweist allerhöchstens Mut zur Lücke. Wenn Sie dem „Spiegel“ nicht glauben, will ich einen Vertreter der Koalition zitieren: „Es ist eigentlich ganz wie in alten Oppositionszeiten“, meint der SPD-Bundestagsabgeordnete Jörg Tauss und räumt nur einen geringfügigen Fortschritt ein: ({1}) Margareta Wolf ({2}) „Während ich mit der früheren Bundesregierung zu 30 Prozent einig war, bin ich es heute mit der rotgrünen zu 50 Prozent.“ Das ist ein gewaltiger Fortschritt. ({3})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin angesprochen worden. Lieber Kollege Mayer, ich kann Ihnen bestätigen, dass ich an dieser Stelle korrekt zitiert worden bin. Warum Sie aber eine Steigerung von 30 auf 50 Prozent für gering halten, ist mathematisch nicht ganz nachvollziehbar. Ich habe in der Tat deutlich gemacht, dass die alte Bundesregierung kläglich versagt hat. Wir haben in kürzester Zeit aufgeholt. Ich habe aber auch gesagt - im Übrigen zu einem Zeitpunkt, als viele der jetzt angesprochenen Initiativen noch nicht auf dem Weg waren -, dass wir mit 50 Prozent schon viel erreicht haben und auf dem Weg zu 100 Prozent munter vorwärts schreiten können. Die weitere Debatte wird zeigen, dass wir dies tun. Wir werden auch noch ein bisschen Ihre Defizite beleuchten. Ich freue mich darauf.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Abgeordnete Hans-Joachim Otto das Wort.

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Herr Bundeswirtschaftsminister und Frau Kollegin Wolf, Ihre selbstzufriedenen und unverbindlichen Worte, so schön sie gewesen sein mögen, und auch das Aktionsprogramm der Bundesregierung dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Medienordnung in Deutschland einer sehr grundsätzlichen Reform bedarf. Das hat sich erst jüngst an einem handfesten Beispiel erwiesen. Obwohl wir in Deutschland bereits jetzt mit jährlich fast 13 Milliarden DM das teuerste öffentlichrechtliche Rundfunkprogramm der Welt unterhalten, soll die Rundfunkgebühr erneut um satte 11,8 Prozent auf monatlich 31,58 DM erhöht werden. Wen wundert es da, wenn die Bereitschaft der Bürger, ihre Rundfunkgebühren zu entrichten, drastisch abnimmt? Immer weniger Menschen verstehen, warum sie jährlich fast 400 DM für ein Rundfunkangebot zahlen sollen, obwohl sie ein solches in ähnlicher Form von den privaten Sendern kostenlos bekommen. Es ist in der Tat inakzeptabel, dass wir uns ein immer aufwendigeres öffentlichrechtliches Rundfunksystem leisten, ohne endlich dessen spezifischen Funktionsauftrag und damit die Berechtigung des Gebührenprivileges geklärt zu haben. Dringenden Reformbedarf gibt es aber auch aufgrund der Tatsache, dass wir die Anbieter in Deutschland mit der höchsten Kontroll- und Regulierungsdichte aller demokratischen Staaten der Welt überziehen. Wir leisten uns zum Beispiel 15 teure Landesmedienanstalten, dazu jeweils einen Rundfunkrat bei allen neun ARDAnstalten, dazu einen ZDF-Fernsehrat, dazu eine KEF und eine KEK, eine Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post usw. Wir dürfen auch nicht länger hinnehmen, dass sich die Gesetzgebungszuständigkeiten von Europa, dem Bund und den Ländern geradezu willkürlich überlappen und überschneiden. Mir hat bisher noch niemand erklären können, weshalb zum Beispiel für Teleshopping die Länder zuständig sind, für Telebanking aber der Bund und weshalb für die OnlineZeitungen andere Regelungen gelten als für gedruckte Zeitungen. Der zentrale Fehler unserer Medienordnung ist es, dass ihre verfassungsrechtlichen Grundlagen aus einer Zeit stammen, als es in Deutschland nur ein einziges Fernsehprogramm gab, als die Nation also noch gebannt den Mörder im Durbridge-Krimi suchte, als es die neuen Mediendienste noch nicht einmal in der Idee gab, vom Internet ganz zu schweigen. Seit der Zuweisung der Gesetzgebungskompetenz für den Rundfunk an die Länder hat sich die Technik geradezu revolutionär verändert. Im Wege der Konvergenz - das Stichwort ist schon mehrfach gefallen - verschmelzen weltweit Individual- und Massenkommunikation zu einem medialen Gesamtangebot. Wir in Deutschland setzen uns über diese technische Gegebenheit hinweg, solange wir Individual- und Massenkommunikation unterschiedlich regeln. Es ist ein Kennzeichen dieser skurrilen Situation, dass für ein Internet-Unternehmen in Deutschland bis zu 28 unterschiedliche Aufsichtsgremien und Regulierungsinstanzen zuständig sein können. Diese Überregulierung hat ihren Preis; der Kollege Mayer hat schon darauf hingewiesen. So haben etwa die skandinavischen Länder mehr als doppelt so viele Internetanschlüsse pro tausend Einwohner wie wir, von den USA und Kanada ganz zu schweigen. In diesem Zusammenhang noch ein Hinweis, Herr Mosdorf - Herr Müller ist nicht mehr da -: Meinen wir wirklich, diesen Rückstand aufholen zu können, indem wir bald auch noch jeden internetfähigen PC in Deutschland mit einer Rundfunkgebühr belegen? ({0}) Das ist doch skurril. Ich erwarte auch angesichts der Kompetenzzuweisung - die ich kenne -, dass von der Bundesregierung Widerstand geleistet wird. Dieser Rückstand besteht nicht etwa - da wäre es vielleicht noch verkraftbar - in einem Orchideenbereich; nein, er besteht ausgerechnet im weltweit am schnellsten wachsenden Wirtschaftsbereich. ({1}) Der Regulierungs- und Kontrollwirrwarr in Deutschland ist ein Investitions- und Innovationshemmnis erster Klasse. Der Bertelsmann-Chef Middelhoff hat zu Recht davor gewarnt, dass im neuen Medienzeitalter nicht die Großen die Kleinen, sondern die Schnellen die Langsamen fressen. Das gilt auch für Wirtschaftsnationen. ({2}) Dr. Martin Mayer ({3}) Nirgendwo sonst brauchen wir daher den von Roman Herzog angemahnten Ruck so dringend wie gerade im Bereich von Medien und Telekommunikation. ({4}) In der Analyse scheinen wir uns in diesem Hause weitgehend einig zu sein. Auch die Bundesregierung sieht Handlungsbedarf, wie sich aus ihrer Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion ergibt. Sie schreibt dort - ich zitiere -: ... die historisch gewachsene Aufsplitterung der Aufsichtsbehördenstruktur ... erscheint unübersichtlich und unpraktikabel, da die Medien in technischer und ökonomischer Hinsicht konvergieren und sich im internationalen Wettbewerb behaupten müssen. Der Bund und die Länder stehen vor der Aufgabe, zukunftsfähige Lösungen ... zu finden. Gut gebrüllt, Löwe! Wir stimmen überein. Aber warum geschieht jetzt nichts? Das Aktionsprogramm ändert an diesen Problemen überhaupt nichts. Exakt vor diesem Hintergrund hat meine Fraktion jüngst die Einrichtung einer gemeinsamen KonvergenzEnquete von Bundesrat und Bundestag vorgeschlagen. In dieser wollten wir mit den Ländern die erforderlichen Konsequenzen aus der Konvergenz der Medien erarbeiten. Es hat sich jedoch erwiesen, dass Sie Ihren hehren Worten wieder einmal keine entsprechenden Taten folgen lassen. Sie haben sich gegen eine KonvergenzEnquete ausgesprochen und - schlimmer noch - Sie haben keinen Gegenvorschlag unterbreitet, wie der von uns gemeinsam festgestellte Reformstau aufgelöst werden kann.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mosdorf?

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn Sie freundlicherweise die Uhr anhalten!

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte.

Siegmar Mosdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Otto, ich wollte Sie - angesichts der Tatsache, dass wir in Bezug auf die Medienaufsicht tatsächlich Reformbedarf haben, was die Länder angeht - nur fragen, worauf Sie zurückführen, dass sich in Süddeutschland zwei Sender zwar zusammengetan haben, dass aber gleichzeitig die beiden Landesmedienanstalten beibehalten worden sind und dass die Landesmedienanstalt in Baden-Württemberg mit einer Person, die aus der CDU-Fraktion stammt, besetzt worden ist. Die F.D.P. ist ja als Koalitionspartner dort mit in der Regierung. Worauf führen Sie das zurück? ({0})

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Kollege, Sie haben offensichtlich übersehen, dass sich diese Rede nicht nur an die rotgrüne Bundesregierung richtet. Mein Anliegen ist es, einen Fehler im System zu beseitigen. ({0}) Deswegen haben wir gesagt, wir wollen eine Konvergenz-Enquete von Bund und Ländern. Dass hier etwas an der Grundstruktur falsch ist, hatte ich Ihnen bereits zu erklären versucht. Ich glaube, dass wir in der Analyse auch nicht weit voneinander entfernt sind. Was ich jetzt aber anmahne - das ist der Sinn meiner Rede vor diesem Hause -, ist, dass wir gemeinsam, Regierungsfraktionen und Oppositionsfraktionen, Bund und Länder, erkennen, dass es hier einen wirklich dramatischen Rückstand, grundlegende Probleme und einen Reformstau gibt und wir deshalb tätig werden müssen. Deswegen verstehe ich nicht - dabei schaue ich alle Fraktionen dieses Hauses an -, dass wir uns nicht auf eine Konvergenz-Enquete einigen konnten. Diese hätte Bund und Länder in die Lage versetzt, die Dinge gemeinsam anzupacken. ({1}) Meine Damen und Herren, ich sehe es als einen kleinen Schritt in die richtige Richtung an, wenn wir jetzt in diesem Haus einen Unterausschuss „Neue Medien“ bilden werden. Das ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber bei weitem noch nicht genug. Nachdem Ihnen der Mut zu einer KonvergenzEnquete abgegangen ist, werden Sie, Herr Mosdorf, hoffentlich das jüngste Gutachten des wissenschaftlichen Beirates bei Ihrem Bundesminister für Wirtschaft und Technologie als wertvolle und zielführende Anregung lebhaft begrüßen. In diesem Gutachten weisen die renommierten Wissenschaftler überzeugend nach, dass ein Großteil der überkommenen Regulierungen und Instanzen ersatzlos entfallen könnte, wenn man Wettbewerbs- und Fusionskontrollen als Gewähr für eine freie und durch Meinungsvielfalt geprägte Ordnung anerkennen würde, wie es im Übrigen auch das Bundesverfassungsgericht bei der Presse bereits getan hat. Hunderte von Kontrolleuren bei den Landesmedienanstalten und anderen Behörden ließen sich durch wenige Wettbewerbshüter beim Kartellamt ersetzen. Völlig zu Recht kritisiert der wissenschaftliche Beirat die Expansionsstrategie und Vormachtstellung der öffentlich-rechtlichen Anstalten zu Lasten eines funktionierenden Wettbewerbs. Völlig zu Recht schlägt der wissenschaftliche Beirat vor, die Finanzierung von ARD und ZDF durch Werbung zu beenden. Völlig zu Recht fordert der wissenschaftliche Beirat, dass die historische Kompetenzzuweisung des Grundgesetzes für den Rundfunk der technischen Entwicklung anzupassen ist. Herr Mosdorf, Bund und Länder sollten gemeinsam vorgehen. Es wird möglicherweise sogar zu verfassungsrechtlichen Anpassungen kommen. Meine Rede richtet Hans-Joachim Otto ({2}) sich nicht nur an zwei Fraktionen dieses Hauses, sondern an wesentlich mehr. Meine Damen und Herren, dieses wegweisende Gutachten stammt nicht etwa aus der Giftküche der F.D.P., nein, es kommt von einem Beraterkreis Ihrer Bundesregierung. Loben wir also den Herrn Bundesminister Dr. Müller, sagen wir ihm, dass er einen hoch qualifizierten Beirat hat, dessen Empfehlungen unsere volle Unterstützung und vor allem unsere Umsetzungen verdienen. ({3}) Bund und Länder, alle Fraktionen dieses Hauses tragen gemeinsam Verantwortung. Schaffen wir endlich eine offene Medienordnung für Deutschland! Vielen Dank. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.

Angela Marquardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003191, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat ein Aktionsprogramm zur Informationsgesellschaft vorgelegt und auch die CDU hat mit ihrer Großen Anfrage gezeigt, dass sie dem Thema „Neue Medien“ eine große Rolle beimisst. Ich denke, sie tut das mit Recht; denn die rasante Entwicklung im Bereich der elektronischen Medien hat unsere Gesellschaft verändert und wird das auch weiterhin tun. Zurzeit wird jedoch das Tempo allein von der Wirtschaft bestimmt. Die politische sowie die juristische Begleitung dieses Prozesses kann da kaum Schritt halten. Die tatsächlichen Auswirkungen dieser Veränderungen auf den Arbeitsmarkt sind nur wenig bekannt. Verschiedene Studien kommen zu völlig verschiedenen Ergebnissen. Die ausnahmslos positive Sicht, die in diesem Aktionsprogramm der Bundesregierung zum Ausdruck kommt, kann in ihrer Undifferenziertheit meines Erachtens nur als bewusste Täuschung der Öffentlichkeit bezeichnet werden. Es ist nicht zu leugnen, dass durch die neuen Technologien Arbeitsplätze besonders für qualifizierte Kräfte entstehen. Gleichfalls ist klar - Herr Mosdorf betont das immer wieder -, dass die meisten Chancen auf neue Stellen dort gegeben sind, wo besonders innovativ geforscht und produziert wird. Dennoch führt die technologische Entwicklung letztlich zu Ratio-nalisierungen in allen Bereichen und damit netto zum Arbeitsplatzabbau. Im Technologiebereich ist die Entwicklung eben ambivalent. Eine Studie der Zeitschrift „Capital“ kam zu dem Ergebnis, dass durch die zunehmende Vernetzung zwischen den Unternehmen in den nächsten zwei Jahren 100 000 Jobs verloren gehen. Trotz hoher Zuwachsraten bei den Umsätzen ist die Zahl der Beschäftigen bei den deutschen Herstellern von Elektronik und Informationstechnik rückläufig. Das hat eine Studie des BMBF „Dienstleistungen als Chance“ - zutage gebracht. Es muss in meinen Augen aufhören, dass den Bürgerinnen und Bürgern die IuK-Branche als Wunder bringende Jobmaschine verkauft wird. Das ist einfach nicht wahr. ({0}) - Ich komme dazu. Ein weiteres Problem sehe ich - auch das wurde hier schon angesprochen - im Bildungsbereich. Die schlechte Ausbildungssituation führt dazu, dass viele qualifizierte Stellen unbesetzt bleiben. Auf die neuen Anforderungen sind weder Schulen noch Universitäten - ich bin zurzeit selber in einer Universität - und Betriebe wirklich vorbereitet. Währenddessen setzt die Bundesregierung ausschließlich auf Privatisierung. Hier kündigt sich der langsame Rückzug des Staates aus der Bildung an. Sie kündigen großspurig die Ausstattung von Schulen mit Computern an, überlassen die Umsetzung aber zum Teil der Wirtschaft. Eine Schule, die für Sponsoren nicht interessant genug ist, hat also Pech gehabt. Es gibt kein interessenfreies Sponsoring; das wissen Sie genauso gut wie ich. Eine Zukunft hat nur, wer da mitziehen kann. Die Gesellschaft droht immer mehr - das haben Sie auch schon gesagt, Kollege Tauss - in User und Loser zu zerfallen. ({1}) Richtig finde ich die Einstellung der Bundesregierung zur Kryptographie, also der Datenverschlüsselung. Hier hat sich - auch auf Druck der Wirtschaft; das muss man sagen - die Vernunft durchgesetzt. Allerdings fehlt nach wie vor eine klare Absage an so genannte Key-Recovery-Maßnahmen, deren Einsatz Sie sich vorbehalten haben. Die Sicherung des Datenschutzes ist eine der ganz großen Herausforderungen der nächsten Jahre. Jede Verharmlosung der Risiken muss verhindert werden. In der Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU schreibt die Bundesregierung, das Vertrauen aller Beteiligten in die Sicherheit der technischen Systeme sei die wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung der Informationsgesellschaft. Nein, Kolleginnen und Kollegen, Vertrauen ist in diesem Fall genau die falsche Tugend. Sensibilisierung für die datenschutzrechtlichen Gefahren verlangt einen kritischen und skeptischen Umgang mit den neuen Medien. ({2}) Es darf kein Vertrauen in Systeme geben, ohne dass sie tatsächlich sicher sind. Weil es in diesem Zusammenhang auch immer um den Jugendschutz geht, lassen Sie mich dazu Folgendes sagen: Ich denke, hier muss zunächst eine grundsätzliche Diskussion darüber geführt werden, wovor Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene - mit welchen Mitteln geschützt werden müssen. Eines steht für mich jedenfalls fest: Filtersoftware, wie sie immer wieder propagiert wird, führt letztlich zu einer umfassenden Hans-Joachim Otto ({3}) Zensur im Netz. Gerade bei Internetzugängen an Schulen oder in öffentlichen Einrichtungen können mit solchen Filterprogrammen die Bewegungsräume im Netz wesentlich eingeschränkt werden. Und wer maßt sich eigentlich an, zu beurteilen, wer was sehen darf und wer was nicht sehen darf? ({4}) Auch die viel gepriesene freiwillige Selbstkontrolle ist in meinen Augen keine Lösung. Nehmen wir als Beispiel nur die Selbstverpflichtungserklärung des Vereins „Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia e. V.“, dem auch die Telekom und Microsoft angehören. Dort wendet man sich gegen Inhalte, die zur sittlichen Gefährdung von Kindern und Jugendlichen geeignet sind oder leidende Menschen in ihrer Würde verletzen. Die Verbreitung von rassistischer Propaganda ist jedoch explizit nicht aufgenommen worden. Hieran sieht man ganz deutlich den willkürlichen Charakter solcher Maßnahmen. Was wir brauchen, ist eine Debatte über Inhalte. Zensur muss - das ist eine Aufgabe der Demokratie überflüssig gemacht werden. ({5}) Darum ist eine Diskussion um neue Methoden der Zensur, so denke ich, wenig zweckdienlich. Ich bin auch immer wieder verwundert, mit welchem Ehrgeiz das Thema Jugendschutz im Zusammenhang mit neuen Medien diskutiert wird. Jedoch geht die Gefahr nicht vom Internet aus, sondern von einzelnen Menschen oder gesellschaftlichen Gruppen, die das Internet als ein weiteres Mittel für ihre Gewalt verherrlichenden, rassistischen oder sexistischen Publikationen nutzen. Nicht gegen das Internet, sondern gegen sie sollte sich unser Engagement richten. ({6}) Ich komme jetzt noch zur Medienordnung und zu dem Antrag der F.D.P. Die zunehmende Konvergenz der Technologien ist unbestreitbar, ebenso, dass dies eine neue Form der Regulierung im Medienbereich notwendig macht. Allerdings bedeutet dies, neue Regulierungsinstrumente zu schaffen, und nicht - wie es die F.D.P. wünscht -, jede medienspezifische Regulierung abzuschaffen. Wenn es nach Ihnen ginge, dann würden allein die Marktgesetze über die Medienordnung bestimmen. Ihr Parteifreund Martin Bangemann hat das ja schon 1994 deutlich gemacht - ich zitiere -: Die Schaffung der Informationsgesellschaft in Europa sollte dem Privatsektor und den Marktkräften überlassen werden. ({7}) Genau in diese Kerbe stößt auch das in Ihrem Antrag so hoch gepriesene Gutachten „Offene Medienordnung“. Es handelt sich dabei um ein Plädoyer für die völlige Deregulierung des privaten Rundfunks und um einen Frontalangriff auf die öffentlich-rechtlichen Anbieter.Jener wissenschaftliche Beirat, der dieses Gutachten gemacht hat, stellt das System des dualen Rundfunks grundsätzlich infrage und verkennt, dass dieses System nicht ein Zufall der Geschichte, sondern politisch und gesellschaftlich gewollt gewesen und auch heute noch gewollt ist. Rundfunk ist nicht einfach nur ein Marktsegment, sondern erfüllt eine gemeinwohlorientierte Aufgabe als Kultur- und Informationsvermittler. Rundfunk ist ein fester Bestandteil der Demokratie. Schon eher kann ich dem Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetzes in Sachen Medienordnung zustimmen. Die Dreiteilung der Angebote in Teledienste, Mediendienste und Rundfunk kann nur eine Interimslösung sein. Angesichts der sich ständig wandelnden Medienlandschaft ist zurzeit nur ein entwicklungsoffener Weg denkbar. Die von Bund und Ländern gemeinsam entwickelte Struktur aus Mediendienste-Staatsvertrag, Telekommunikationsgesetz und Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz ist sicher nicht der Weisheit letzter Schluss. Dennoch weist sie eindeutig in eine andere Richtung als die Vorstellung der Deregulierungslobby. Das ist in meinen Augen gut so. Auch wird diese Regelung eher dem föderalen Charakter unseres Mediensystems gerecht, obwohl das angesichts der Konvergenzprozesse tatsächlich immer schwieriger wird. Eine Debatte um künftige Regulierungsmodelle lässt sich jedenfalls nicht dadurch ersetzen, dass man einfach unter dem Vorwand der nationalen Wettbewerbsfähigkeit alles Bestehende über den Haufen wirft. Eine Enquete-Kommission, wie die F.D.P. sie anstrebt, hätte vielleicht unsere Unterstützung gefunden, wenn nicht so leicht durchschaubar wäre, welchen Zweck Sie damit verfolgen. An der Abwicklung des dualen Rundfunksystems wird sich die PDS jedenfalls nicht beteiligen. ({8}) Zum Schluss noch ein Satz zu dem SPD/GrünenAntrag zu „Strategie für eine Nachhaltige Informationstechnik“. Das Roadmapping-Verfahren, welches Sie vorschlagen, ergibt insofern einen Sinn, als dass die IuK-Branche natürlich am besten die Entwicklung in ihrem Bereich einschätzen kann. Die Frage ist nur: Was soll dabei herauskommen? Können Sie sich ernsthaft vorstellen, dass die Wirtschaft selbst Standards für eine nachhaltige Entwicklung formuliert, wenn das ihren Profit beeinträchtigt? ({9}) Man sollte so ein Verfahren ausprobieren. Auch das findet wirklich meine Zustimmung. Aber wenn die praktischen Ergebnisse zu gering sind - davon gehe ich aus -, wird letztlich doch der Gesetzgeber aktiv werden müssen. ({10}) Man kommt nicht darum herum, doch Druck auszuüben, damit auch dort Nachhaltigkeit Einzug findet. ({11}) Danke. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Wir unterbrechen jetzt, wie gesagt, die Sitzung für eine Stunde. Um 15 Uhr werden dann die Sitzung und die Debatte fortgesetzt. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen die unterbrochene Sitzung mit der Beratung zum Tagesordnungspunkt 4 - neue Medien und Gestaltung der Informationsgesellschaft - fort. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen.

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es fällt uns heute angesichts der Tatsache, dass Politik im Rahmen einer elektronischen Mediendemokratie betrieben wird, und angesichts des Überangebots an Informationen, das manchmal vielleicht aus aktuellen Gründen produziert wird, nicht immer leicht, zu beherzigen, dass wir als Politiker auch in Zeiten wie diesen Verantwortung haben, Informationen auszuwählen und die Themen in den Vordergrund zu rücken, deren Erörterung der Sicherung der Zukunft unseres Landes dient. Deshalb reden wir heute zu Recht über den Wandel der Industriegesellschaft zur Informations-, Bildungs- und Wissensgesellschaft sowie über die damit verbundenen Chancen und Risiken, die sicherlich bestehen. Aber es ist Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, sondern dass die Bundesregierung und die Regierungskoalition mit neuem Tempo und mit neuer Zielgenauigkeit einen aktiven Beitrag zur Gestaltung des Wandels zur Informations- und Bildungsgesellschaft leisten. ({0}) In den Industrieländern lebt heute schon jeder zweite Erwerbstätige von Tätigkeiten, deren Grundlage überwiegend Daten und Informationen sind. Wir müssen uns darauf einstellen, dass schon bald 80 Prozent aller menschlichen Tätigkeiten auf der Sammlung, auf dem Umgang und auf der Verwertung von Informationen sowie auf der Anwendung von Wissen beruhen werden. Damit ist klar, dass die Informationswirtschaft eine der zukunftsträchtigsten Branchen für Wachstum und Beschäftigung gerade in Deutschland darstellt und dass wir als Politikerinnen und Politiker in besonderer Weise auch Verantwortung dafür tragen, die Chancen entschlossen zu nutzen, die damit verbunden sind. Nach der mutigen Rede des Kollegen Mayer möchte ich deutlich sagen: Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von der CDU/CSU, die Begrifflichkeit bezüglich Wissensgesellschaft und Globalisierung haben Sie in den letzten Jahren durchaus eingeübt. Aber die Frage ist, was die alte Koalition insgesamt dafür getan hat, ihre Verantwortung für die Sicherung der Zukunft der IuKBranche wahrzunehmen. ({1}) Herr Mayer, wenn bis zur Regierungsübernahme durch uns im Bundeskanzleramt das Prinzip „Rohrpost statt Intranet“ galt, wenn die Rohrpost offenkundig das wichtigste Kommunikationsnetz im Kanzleramt war und wenn etwa der Einsatz von E-Mail unbekannt war, dann verrät dies sehr viel darüber - das ist kein Wunder -, wie groß der Modernisierungsrückstand der alten Koalition etwa im Vergleich zu der Staatskanzlei in München war. Das muss man deutlich sagen. ({2}) - Nein, Sie als Bundespolitiker hätten etwas davon lernen können und hätten sich mit glänzenden Augen überlegen müssen, welchen Nachholbedarf Sie damals in Bonn und heute in Berlin hatten. Die Informationswirtschaft droht bei uns an die Grenzen ihres Wachstums zu stoßen, weil sie unter einem dramatischen Mangel an qualifizierten Fachkräften leidet. Nach jüngsten Schätzungen fehlen uns mindestens 75 000, vielleicht auch 100 000 IuK-Fachkräfte, weil die alte Bundesregierung nicht vorgesorgt hat, vor allem weil sie nicht in der Lage war, ein Konzept der Förderung der Informationstechnologien einzubinden in ein Konzept der Gestaltung der Informationsgesellschaft, mit dem Forschungsförderung mit besonderen Anstrengungen bei Ausbildung, Weiterbildung und Qualifizierung strategisch verknüpft war. Es war richtig, dass die neue Bundesregierung gleich nach der Regierungsübernahme dieses Problem angepackt hat. Ich füge hinzu: Wir haben mit der gemeinsamen Federführung von Wirtschaftsministerium und Ministerium für Bildung und Forschung ein Zeichen dafür gesetzt, dass eine technologische Entwicklung, die alle Bereiche unserer Gesellschaft erfasst, auch als Querschnittsaufgabe in der Politik, das heißt ressortübergreifend, angenommen und aufgenommen werden muss. Das Ministerium für Bildung und Forschung hat im Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit gemeinsam mit den Sozialpartnern und den Bundesländern eine Reihe von Maßnahmen vereinbart, mit denen der Fachkräftemangel reduziert und die Qualifikationsstrukturen auf allen Ebenen verbessert werden. ({3}) Wir haben damit eine gute Chance, nicht nur die gegenwärtigen Lücken schnell zu schließen; vielmehr wollen wir damit auch dazu beitragen, dass junge Menschen qualifizierte und zukunftssichere Arbeitsplätze finden. Wir haben beispielsweise im Juli in dieser Arbeitsgruppe und ebenso im Wirtschaftsministerium vereinbart, dass die Anzahl der Ausbildungsplätze im IT-Bereich bis zum Jahr 2003 verdreifacht wird. Es ist sehr gut, dass die Dynamik, die in diesem Bereich gerade im letzten Jahr sehr stark zugenommen hat, uns schon heute die Aussage möglich macht: Wir sind optimistisch, dass wir die Vereinbarungen vom Sommer letzten Jahres, was den Zeitablauf angeht, sehr viel schneller erfüllen können, als es noch im Sommer unsere Hoffnung war. Das ist ein gutes Zeichen und es zeigt, dass etwa durch die Initiative D 21 eine breite Mobilisierung aller Verantwortlichen zum Abbau des IT-Fachkräftemangels im Gange ist. ({4}) Angesichts aller ermutigenden Entwicklungen des letzten Jahres möchte ich Ihnen, Kollege Mayer, Folgendes sagen: Wenn Sie wie ich seit fünf oder sechs Jahren Internet-Nutzer wären und den Markt aufmerksam verfolgten, dann wüssten Sie zum Beispiel, dass man solche Gesamtangebote im Bereich Internet - Tarife von 100 DM im Monat - auf dem deutschen Markt schon findet. ({5}) Vielleicht haben auch Sie es schon einmal festgestellt. Man muss deutlich feststellen, dass bei der Verbreitung und der Nutzung des Internets und moderner multimedialer Anwendungen andere Länder die Nase noch vorn haben. Wir müssen vor allem feststellen, dass in unseren Bildungseinrichtungen die Möglichkeiten von Internet und Multimedia sehr viel stärker genutzt werden müssen. Es ist klar, dass beispielsweise amerikanische Hochschulen in der Multimedia-Anwendung durch Gesamtkonzepte für Hochschulen der deutschen Entwicklung um Jahre voraus sind und dass sie vor allem schon seit längerem auch über das Internet ihre Bildungsangebote weltweit vermarkten. Das ist eine Messlatte für die Entwicklung, die auch unser Hochschulsystem in diesem Bereich nehmen muss. ({6}) Diese Defizite sind auch ein Ergebnis dessen, dass die Vorgänger im Amt des Bundesministers für Bildung und Forschung die Ausgaben auf diesem Gebiet jahrelang heruntergefahren haben. Eine Politik, die Feuerwehr spielt, wenn es brennt, ist manchmal nötig; aber alleine ist sie nicht wünschenswert. Wir brauchen vielmehr eine Politik, die den Wandel von der Industriegesellschaft zur Wissenschaftsgesellschaft vorausschauend und aktiv gestaltet. Unter unserer Verantwortung geht es um weitere Grundlagenforschung, um die Entwicklung neuartiger Anwendungen und um deren umfassende Nutzung. Es geht aber auch um die Verklammerung der Förderung von technischen Entwicklungen mit Fragen der Qualifizierung und Bildung; denn die Fähigkeiten und die Fertigkeiten der Menschen sind der entscheidende Faktor dafür, ob aus elektronisch gespeicherten Daten verwertbare Informationen und vor allem Wissen werden. Deshalb brauchen wir eine Gesamtstrategie. Im Aktionsprogramm „Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ setzen wir uns politische Ziele und laden alle Verantwortlichen, alle Akteure ein, an der Realisierung dieser Ziele mitzuarbeiten. ({7}) Damit gibt es erstmals ein umfassendes Gesamtkonzept für den Weg in die Informationsgesellschaft. Ich will aus dem Bereich des BMBF einige Bausteine dazu vortragen. Wir sind sehr zuversichtlich, dass schon im nächsten Jahr bei uns alle Schulen, beruflichen Ausbildungsstätten und Weiterbildungseinrichtungen mit multimediafähigen PCs und Internetanschlüssen ausgestattet sind. An unseren Hochschulen werden wir den Einsatz der neuen Medien mit einem speziellen Förderprogramm „Multimedia an den Hochschulen“, das in Absprache mit den Ländern vorbereitet wird, unterstützen. Wir müssen auch aufmerksam verfolgen, was sich beim Umgang mit Wissen wie etwa Fachinformationen tut. Wir müssen rechtzeitig Visionen entwickeln, wie etwa im Zeitalter von Multimedia die Bibliothek der Zukunft aussehen könnte, konkrete Wege zur Weiterentwicklung etwa von Fachinformationssystemen aufzeigen und uns vor allem auch überlegen, wie wir weiterhin den Zugang gerade von öffentlichen Einrichtungen zu diesen Informationen kostengünstig sichern können. ({8}) Die Informationsgesellschaft ist eine Bildungsgesellschaft. Wenn wir den vor uns liegenden Strukturwandel sozialverantwortlich meistern wollen, dann müssen wir Sorge dafür tragen, dass alle Menschen die gleichen Chancen haben, in diese Gesellschaft integriert zu werden. Das ist die Aufgabe aller Einrichtungen des Bildungssystems, auch schon der Grundschulen. Von entscheidender Bedeutung sind dafür neue medienpädagogische Konzepte und der Einsatz von Bildungssoftware mit hoher fachlicher und didaktischer Qualität. Deshalb wird unser Haus spezielle Anstrengungen unternehmen, um die Entwicklung und den Einsatz von Bildungssoftware zu fördern. Wir wollen durch ein neues Förderprogramm neue Impulse auch zur Qualitätsverbesserung von Bildungssoftware in Deutschland geben. ({9}) Es geht aber nicht nur um das technische Verständnis der Nutzung von Hard- und Software, es geht vor allen Dingen um die Fähigkeit, mit Informationen kompetent umzugehen. Ich denke, dass über diesen Punkt hier im Hause Einigkeit besteht. ({10}) Medienkompetenz muss deshalb zu einem zentralen Bildungsinhalt werden, um allen die Chance zu geben, aus der immer größer werdenden Informationsflut das für sie relevante Wissen zu gewinnen. Chancengleichheit im Multimediazeitalter muss dadurch realisiert werden, dass wir nicht nur Zugang zum Wissen, sondern auch noch Qualifikationen vermitteln, damit jeder aus den Informationen das für seine Entwicklung wichtige und relevante Wissen gewinnen kann. Es macht Sinn, dass wir in unserem Hause Forschungsanstrengungen etwa zur Weiterentwicklung von Suchmaschinen unternehmen, um eine benutzerfreundliche Suche nach für einen selbst relevanten Informationen zu ermöglichen. Neue Technologien zur Suche nach relevantem Wissen sind auch ein Beitrag dazu, um genau diesen gesellschaftspolitischen Auftrag zu erfüllen. Dazu gehört natürlich auch, dass wir dafür sorgen, dass wir bei den technologischen Grundlagen der Informations- und Bildungsgesellschaft nicht an Boden verlieren, sondern unsere Position sichern und weiter ausbauen. Wir werden auch weiterhin unseren Beitrag zum Erhalt einer bei der Entwicklung und dem Bau wichtiger Schlüsselkomponenten wettbewerbsfähigen informationstechnischen Industrie am Standort Deutschland leisten. Dabei können wir die Anregung der Koalitionsfraktionen aufgreifen, mit einer Strategie der nachhaltigen Informationstechnik in Zusammenarbeit mit der informationstechnischen Industrie und anderen dafür zu sorgen, das Potenzial, das die Informations- und Kommunikationstechnik für eine nachhaltige Entwicklung unserer Industriegesellschaft insgesamt bereithält, stärker zu nutzen. Ein zentraler Punkt ist für uns dabei auch die Entwicklung der nächsten Internet-Generation. Wir wollen sicherstellen, dass bis zum Jahr 2005 mobile Kommunikationssysteme mit Zugriffsmöglichkeiten auf multimediale Dienste zu jeder Zeit und an jedem Ort zur Verfügung stehen. Der drahtlose breitbandige Internetzugang wird bei uns schon im Jahr 2002 möglich sein. Wir brauchen natürlich insgesamt eine moderne und leistungsfähige Forschungslandschaft, wenn wir die Chancen der Informationsgesellschaft nutzen wollen. Die Zusammenführung der Großforschungseinrichtungen Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung und Fraunhofer-Gesellschaft ist eine wichtige forschungspolitische Weichenstellung, denn wir schaffen damit die größte Forschungsorganisation in der Informations- und Kommunikationstechnik mit über 2500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Europa. Damit erreichen wir eine neue Qualität und eine neue kritische Masse, durch die sichergestellt wird, dass auch weiterhin Forschungsanstrengungen zur Weiterentwicklung von Techniken und Dienstleistungen für Wirtschaft und Bürgerinnen und Bürger am Standort Deutschland unternommen werden können. Meine Damen und Herren, mit dem Aktionsprogramm „Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ haben wir ein Angebot zur Kooperation mit Wissenschaft, Gewerkschaften und Industrie begonnen. Wir wollen diese Diskussion fortsetzen und werden sie bei der Verwirklichung der von uns vorgestellten Aktionsfelder auch verstärken. Das heißt, dieses Aktionsprogramm ist die Grundlage für weitere Verabredungen und für gemeinsame Maßnahmen. Es ist ein Angebot an die gesellschaftlichen Gruppen, die Informations- und Bildungsgesellschaft aktiv mitzugestalten. Die Gestaltung der Informationsgesellschaft ist Aufgabe aller gesellschaftlichen Gruppen. Der Staat hat hier die Aufgabe, aktive Beiträge zu leisten, aber auch neue Vernetzungen der Akteure zu ermöglichen, Kräfte zu bündeln und insoweit eine lebenswerte Gesellschaft zu verwirklichen. Danke schön. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht nun der Kollege Bernd Neumann.

Bernd Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001593, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn fünf Tagesordnungspunkte miteinander verbunden sind, besteht die Schwierigkeit darin, dass man möglicherweise thematisch aneinander vorbeiredet, wenn man sich auf einen Tagesordnungspunkt konzentriert. Kollege Catenhusen hat eben zur nachhaltigen Informationstechnik gesprochen. Ich möchte mich auf den F.D.P.-Antrag „Offene Medienordnung für Deutschland verwirklichen“ konzentrieren, der sich fast ausschließlich mit der Frage der Zukunft des Rundfunksystems befasst. ({0}) Dass alles miteinander zusammenhängt, ist richtig; aber ich setze hier den Schwerpunkt meiner Ausführungen. Ein Beirat des Wirtschaftsministeriums, bestehend aus dreißig hochkarätigen Ökonomen, hat, wie bereits gesagt, zur zukünftigen Medienordnung in Deutschland Stellung genommen. Die F.D.P. beantragt nun, die Aussagen dieses Gutachtens sozusagen eins zu eins umzusetzen. Natürlich ist es zu begrüßen, dass wir uns mit dieser Thematik befassen - dies ist sogar zwingend -; denn auch für den Rundfunk, ob privat oder öffentlichrechtlich, haben Stichworte wie Digitalität und Konvergenz ungeheure Folgen. Insofern ist dieses Gutachten eine gute Grundlage. Viele Aussagen teilen wir, manche - im Gegensatz zur F.D.P. - nicht. ({1}) Meine Damen und Herren, ich möchte sieben Punkte aus diesem Gutachten herausgreifen: Erstens. Eine wichtige Aussage dieses Gutachtens ist, dass die Rundfunkordnung in Deutschland für Hörfunk und Fernsehen überholt und untauglich sei und daParl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen her ein radikaler Umbau erfolgen müsse. Diese Position teilen wir nicht. Das duale System, also das Nebeneinander von privatem und öffentlich-rechtlichem Rundfunk, für das wir die Grundlagen gelegt und geworben haben, ist vom Prinzip her positiv zu sehen. In Deutschland insgesamt haben wir ein vielfältiges, differenziertes Angebot von Hörfunk und Fernsehen. Hinsichtlich der Informationsbreite kann man sogar sagen, dass wir im Vergleich mit anderen Ländern in der Spitzengruppe liegen. Natürlich stellt sich die Frage, Herr Otto, wie wir die Schnittstellen zu anderen Bereichen der Medien im Rahmen von Multimedia regeln. Insofern ist Ihre Forderung richtig, hierfür eine Enquete-Kommission mit dem Thema Konvergenz einzusetzen. Auch sind immer wieder Anpassung und Deregulierung insbesondere für den privaten Bereich des Rundfunks richtig und wichtig. Dies geschieht ja durch dauernde Veränderungen des Rundfunkstaatsvertrages, wenn auch manchmal sehr schleppend. Aber dies alles rechtfertigt nun nicht einen radikalen Umbau dieses öffentlich-rechtlichen Systems in Verbindung mit den Privaten. Im Übrigen besteht auch keinerlei Chance zur Realisierung; darauf komme ich gleich. Zweitens. Die nächste Forderung lautet, aufgrund der wachsenden Kompetenz des europäischen Wirtschaftsrechtes müsse man den Rundfunk in die wirtschaftsrechtliche Ordnung des Bundes integrieren. Anders ausgedrückt: Den Ländern soll hierfür die Zuständigkeit genommen werden und der Bund soll die alleinige Zuständigkeit haben. Natürlich wäre es im wirtschaftlichen Wettbewerb manchmal hilfreich, sofort mit einer Sprache sprechen zu können. Bloß: Diese Forderung ist bar jeder Realisierungschance, egal in welche politische Richtung Sie sehen. Die Zuständigkeit für den Rundfunk liegt bei den Ländern. Alle Länder wollen das einvernehmlich - aus ihrer Sicht verständlicherweise - nicht ändern. Ich füge hinzu, Herr Kollege Otto: Vielleicht ist dies auch gut so; denn der Föderalismus im Rundfunkbereich hat aufgrund des Wettbewerbs durchaus für Vielfalt im Angebot für den Zuschauer gesorgt. ({2}) Weil es eben unterschiedliche Ebenen gibt, müssen wir uns die Mühe machen, zwischen Bund und Ländern die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten auszutarieren. Herr Kollege Catenhusen, der alten Bundesregierung und der alten Koalition ist es im Hinblick auf den Multimedia-Bereich mit der Schaffung des Informationsund Kommunikationsdienste-Gesetzes einerseits, welches die Zuständigkeit des Bundes betrifft, und dem parallel dazu verabschiedeten Mediendienste-Staatsvertrag andererseits gelungen, einen Ordnungsrahmen zu schaffen, der immer wieder überprüft werden muss. Die Anzahl der verschiedenen Gremien ist zwar sehr groß. Aber wir haben einen Ordnungsrahmen geschaffen, der notwendig war, um für Investoren eine gewisse Sicherheit zu gewährleisten, und um den uns andere vergleichbare Industrienationen zumindest in einigen Teilen beneiden. Drittens. Es wird gefordert, dass für den Erhalt der Meinungsvielfalt im Medienangebot keine medienrechtliche Regulierung mehr erforderlich sei. Wir sollen vielmehr alles, auch den privaten Rundfunk, ausschließlich von der Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs abhängig machen. Das bedeutet, dass im Hinblick auf die privaten Rundfunkmedien wie für alle anderen Wirtschaftszweige nur die Missbrauchsaufsicht und die Fusionskontrolle des Kartellrechts angewendet werden sollen. Es ist völlig unstrittig, dass einige Medienprobleme bereits mit einer konsequenten Anwendung des Kartellrechts gelöst werden können. Richtig ist auch, dass im Rundfunkbereich eine Reihe von Sektoren überreguliert ist und dass man dem Markt mehr Einfluss überlassen lassen kann als bisher. Aber Markt und Wettbewerb allein sind als Bezugsgrößen nicht ausreichend, um hinsichtlich der Qualität und Quantität des Rundfunks, also der Entwicklung hin zu sehens- und hörenswerten Programmen, einen angemessenen Rahmen zu bilden. ({3}) Rundfunk ist mehr - ich spreche jetzt nicht von Multimedia; ich spreche vom privaten und vom öffentlichrechtlichen Rundfunk - als nur normales Wirtschaftsgut und mehr als pure Ware, ganz abgesehen davon, dass es für diesen Bereich eine verbindliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt. Wenn ich sehe, wie in manchen Talkshows bereits am Nachmittag zum Teil Menschen verachtende, menschenfeindliche und zum Teil auch von Rohheit und Gewalt geprägte Beiträge vermehrt gezeigt werden - im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, aber auch und insbesondere im privaten Bereich -, ({4}) dann wird für mich daran deutlich, dass Rundfunk und Fernsehen doch noch andere Kriterien erfüllen müssen als nur die des Kartellrechts wie beim Verkauf von Textilien und Zahnpasta. Es gibt noch andere Kriterien, nämlich die des Pluralismus, der Menschenwürde und des Jugendschutzes. Das ist eben mehr als nur Kartellrecht. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Neumann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?

Bernd Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001593, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das wird mir nicht von der Redezeit abgezogen?

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nein. ({0}) Bernd Neumann ({1})

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Neumann, Sie haben die Vorschläge des Beirates abgelehnt.

Bernd Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001593, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nicht so voreilig. Ich komme noch zur Zustimmung.

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Insbesondere die Zuständigkeit des Kartellamtes, die notwendig ist, um einen funktionierenden Wettbewerb in diesem Bereich zu ermöglichen, haben Sie sehr skeptisch gesehen. Ihre Begründung war, es handele sich beim Rundfunk nicht um ein normales Wirtschaftsgut wie Zahnpasta oder andere Güter. Das war Ihre These. Meine Frage ist: Sind Sie denn wirklich der Auffassung, dass beispielsweise unser sehr vielfältiges und qualitätsvolles Angebot an Printmedien ein Wirtschaftsgut wie zum Beispiel Zahnpasta ist? Wie rechtfertigen Sie in einer veränderten Medienlandschaft die Tatsache, dass wir für Rundfunk etwas völlig anderes vorsehen als für die Printmedien Zeitungen und Zeitschriften? Eine weitere Frage: Warum gilt für Online-Zeitungen etwas völlig anderes als für die gedruckten Zeitungen? Meines Erachtens passt das vorne und hinten nicht zusammen. Ist es wirklich weiterführend, wenn Sie sagen, dass Rundfunk kein Wirtschaftsgut wie Zahnpasta sei? Der Wettbewerb gilt auch für andere Wirtschaftsgüter als Zahnpasta.

Bernd Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001593, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Otto, ich kenne das Argument mit den Printmedien. Das ist so nicht vergleichbar. Warum ist es nicht vergleichbar? Der gesamte Printmedienbereich, historisch gewachsen, befindet sich im normalen privatwirtschaftlichen Wettbewerb. Ich habe von einer Rundfunkordnung geredet, die bisher durch das duale System gekennzeichnet ist: auf der einen Seite der öffentlichrechtliche Rundfunk und auf der anderen Seite der private Rundfunk. Will ich aber in Richtung Printmedien gehen, so bedeutet das zwangsläufig, dass ich zunehmend alles privatisiere und damit die eine Säule des dualen Systems, nämlich die des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, am Ende liquidiere, und dies möchte ich nicht. Ich möchte im Prinzip das duale System erhalten. ({0}) - Ich komme noch auf die Punkte, wo wir völlig einer Meinung sind. - Wenn ich dies möchte, dann muss es bestimmte Kriterien geben, die in etwa auch Wettbewerbschancengleichheit herbeiführen. Wenn Sie mich nun zu einem weiteren Punkt des Gutachtens kommen lassen. In diesem Gutachten heißt es: Der öffentliche Rundfunk soll reduziert werden, auf ganz bestimmte Aufgaben beschränkt werden, und er soll zum Teil privatisiert werden. - Hier ist ein Punkt, wo wir uns sehr nahe kommen und wahrscheinlich auch sehr nahe sind. Ich bin im Übrigen gegen eine Teilprivatisierung. Den Vorschlag, das ZDF zu privatisieren, halte ich für nicht angemessen, weil das die Ausgewogenheit in der einen Säule, nämlich der öffentlichrechtlichen, verändern würde. ({1}) Aber ich finde, wir müssen die Diskussion führen, inwieweit all das, was der öffentlich-rechtliche Rundfunk in seiner Quantität bietet, mit Grundversorgung zu tun hat. Dieser Diskussion muss man sich stellen. Hierzu sage ich, der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat sich in den letzten Jahren ausgebreitet wie eine Krake. Eine Beschränkung auf eine kulturelle Nischenfunktion wäre allerdings auch nicht angemessen. Es ist richtig, dass zur Grundversorgung auch qualitative Angebote gehören, nicht nur in der Kultur, sondern auch im Bereich der Information, der Unterhaltung und auch des Sports. Aber eine permanente Ausdehnung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, so wie wir sie jetzt gehabt haben oder wie wir es jetzt sehen, mit dem Ergebnis, dass originäre Aufgaben wie Kulturangebote entweder liquidiert oder in späte Abendstunden verlegt werden, das kann nicht vernünftig sein. ({2}) Meine Damen und Herren, wir haben im öffentlichrechtlichen Fernsehen zwei nationale Volksprogramme, acht dritte Fernsehvollprogramme, zwei Spartenkanäle, zwei europäische Satellitenprogramme; wir haben jetzt zusätzlich den Bildungskanal Alpha, wir haben den Theaterkanal des ZDF. Wenn Sie in das neue KEFGutachten schauen, dann stellen Sie fest, dass die Sendeleistung von ARD und ZDF von 1992 bis 1997 um 65,8 Prozent, die Zahl der öffentlich-rechtlichen Programme im Hörfunkbereich von 46 auf 58 und die Sendeleistung im öffentlich-rechtlichen Hörfunkbereich um 30,4 Prozent gestiegen ist, und dies, während wir gleichzeitig ein sehr umfangreiches Angebot im privaten Bereich haben. Diese Expansion ist auch mit ein Grund für die aus meiner Sicht uns wahrscheinlich bevorstehende eklatante Gebührenerhöhung von über 10 Prozent. Deswegen sage ich: Diese Entwicklung muss der Bürger bezahlen. Dies alles darf nicht und kann nicht unter „Grundversorgung“ eingeordnet werden. Wenn dies so weitergeht, gefährdet es das Gleichgewicht im dualen System. Deswegen sage ich: Hier müssen wir zu einer Änderung kommen. Diese Entwicklung müssen wir bremsen. ({3}) Ich füge hinzu, wir werden diese Entwicklung, nicht durch mehr Selbstregulierung der Anstalten selbst bremsen, sondern nur wenn wir den Mut haben, in der Politik im Rahmen eines so genannten Funktionsauftrages letztlich auch in Staatsverträgen zu beschreiben, was öffentlicher Rundfunk kann und nicht kann, im Sinne eines zukunftsträchtigen dualen Systems. ({4}) Eine weitere Forderung, die ich teile, ist: Keine Werbefinanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, weil sie den Wettbewerb verfälscht! Wir treten dafür ein, mindestens mittelfristig private Programme durch Werbung, öffentlich-rechtliche durch Gebühren zu finanzieren. Nun ist mir klar, dass dies nicht sofort zu machen ist, aber man muss es schrittweise anstreben. Ein erster Schritt zu dieser Funktionsaufteilung wäre die Abschaffung des Sponsoring, die ja klar getarnte Werbung ist. Meine Damen und Herren, ich bin der Auffassung, dass ein Programm ohne Werbung, die in Spielfilmen für die meisten Zuschauer eher störend ist, sogar zu einem Markenartikel des öffentlich-rechtlichen Rundfunks werden könnte. Damit würde gleichzeitig, wenn wir das erreichen, ein ordentliches Gleichgewicht zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Anbietern hergestellt. Lassen Sie mich in einem weiteren Punkt etwas zu den verschiedenen Zulassungs- und Genehmigungsverfahren und den verschiedenen Gremien sagen - der Kollege Otto hat sie zu Recht angesproche - 15 Landesmedienanstalten, die KEK, die Regulierungsbehörde, das Kartellamt. Es gibt unterschiedliche Forderungen. Vonseiten der SPD wird, so von Herrn Mosdorf, gefordert, alle 15 Landesmedienanstalten zu einer zusammenzufassen. Herr Mosdorf weiß genau, dass das, wenn er es in den Ländern, in denen die SPD regiert, vortragen würde, nicht durchsetzbar ist. Wenn man am Anfang wäre, müsste man in derTat die Überlegung anstellen, ob das nicht sinnvoll wäre. Ich befürchte, obwohl ich das in der Zielrichtung unterstütze, dass dies mit allen Ländern leider nicht zu machen ist. Für abwegig halte ich den Vorschlag, der auch aus den Reihen der SPD - von Herrn Clement und auch vom Bundestagspräsidenten Thierse - kommt, zu diesen Gremien zusätzlich einen Kommunikationsrat zu schaffen. Meine Damen und Herren, das wird ein weiteres Gremium, eine weitere Bürokratie. Deshalb ist dies abzulehnen. ({5}) Wir sagen: Wenn eine Abschaffung nicht möglich ist - am ehesten könnte die KEK abgeschafft werden; ich will das nicht im Einzelnen erläutern, aber diese Aufgabe könnte man dem Kartellamt bzw. den Landesmedienanstalten übergeben -, dann müsste eine stärkere Differenzierung der Regulierungsinstanzen möglich sein. Wenn nicht fusioniert wird, dann sollte wenigstens koordiniert werden. Dass eine größere Koordination erfolgen muss, ist unstrittig. Lassen Sie mich zu einem Fazit kommen: Das heutige Ja zum dualen System der Medienordnung kann immer nur eine Momentaufnahme sein. Die Veränderungen im Medienbereich über die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien zur Digitalität und zum Internet, Konvergenz von Fernsehen, Telefon mit Internet in einem einzigen Gerät, stellen uns natürlich - das ist auch Ihr Thema - vor eine herausragende Aufgabe. Wenn man jetzt die Fusionspläne von AOL, dem Online-Anbieter, und Time Warner, dem Medienkonzern, was auch ein Stück Konvergenz im wirtschaftlichen Bereich ist, sieht, wird deutlich, welche Herausforderung wir zu bewältigen haben. Aber, meine Damen und Herren, die Politik wird - ich sehe nicht, wie es anders gehen soll - den technologischen Entwicklungen immer ein Stück hinterherlaufen. Ich teile nicht alle markigen Sprüche des Staatsministers Naumann, der als Medienminister jetzt leider nicht mehr dabei ist. Mit einer Aussage hat er aber heute Recht: Wir können nicht Konsequenzen regulieren, ehe Erfindungen gemacht werden. Dies bedeutet, die Dinge erst einmal sich entwickeln zu lassen, um dann zu sehen, was an Ordnungsrahmen dringend nötig ist. Hier muss es heißen, den Ordnungsrahmen so schmal wie möglich und so großzügig wie möglich zu halten, damit sich wirklich etwas entwickeln kann. ({6}) Zum Abschluss. Dieses Gutachten, welches wir heute auch zu diskutieren haben, leistet einen wichtigen Diskussionsbeitrag. Lieber Kollege Otto, eine Übernahme von 1 : 1, wie Sie das vorgetragen haben, kommt für uns nicht in Frage. Da der Wirtschaftsminister dieses Gutachten vorgestellt hat, da er einen Beirat dafür eingesetzt hat, der sich dieses Themas angenommen hat, reicht es nicht aus, dass wir uns mit einer Seite Presseerklärung des Wirtschaftsministeriums abfinden, sondern ich gehe davon aus, dass wir dies an den zuständigen Ausschuss überweisen. Ich gehe davon aus, dass wir dann natürlich erwarten können, dass die Bundesregierung über diese eine Seite hinaus zu den verschiedenen Problemen dieses Themas Stellung nimmt. ({7}) Ich glaube, dass wir, wenn wir über unsere Strukturen sprechen, immer einen realistischen Blick haben müssen, der am föderalistischen System fixiert ist, das wir haben und das wir unterstützen, der andererseits aber so fortschrittlich ist, dass wir Innovationen durch übermäßige Regulierungen nicht verhindern. Vielen Dank. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort dem Kollegen Hans-Josef Fell vom Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologie sind unglaublich vielfältig, spannend und faszinierend. Die Bundesregierung greift mit ihrem Aktionsprogramm diese Chancen offensiv auf. Das Internet kann Gebäude durch Websites, es kann Papier durch Elektronen und es kann Lastwagen durch GlasfaBernd Neumann ({0}) serkabel oder durch Satelliten ersetzen. Produkte können auf Bestellung produziert und ausgeliefert werden, womit die Herstellung von Produkten, die in Geschäften liegen bleiben, vermieden und der Einkaufsverkehr verringert werden können. Die Informations- und Kommunikationstechnologie ermöglicht potenziell eine Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Energie- und Ressourcenverbrauch. Ein qualitatives Wachstum, welches nicht auf Kosten von Gesundheit und Umwelt geht, ist möglich, aber einen Automatismus dafür gibt es leider nicht. Meine Damen und Herren, mit wem reden wir im Jahre 2020 - mit unseren Mitmenschen oder nur noch über Handy mit dem Computer? Wo lernen unsere Kinder im Jahre 2020 die Natur kennen - im Internet oder im Wald? Verehrte Kolleginnen und Kollegen, sosehr wir die Informations- und Kommunikationstechnik bejahen, es gilt dennoch auch auf die sozialen und ökologischen Aspekte in einer zukünftigen Informationswelt aufmerksam zu machen und nicht jede machbare Entwicklung blind zu verfolgen. ({1}) Heutige Rahmenbedingungen werden eine nachhaltige Entwicklung bei der IuK-Technik nicht zwangsläufig fördern. Daher legen die Regierungsfraktionen den Antrag zur Strategie für eine nachhaltige Informationstechnik vor. So bekommt der Aktionsplan der Bundesregierung auch im Sinne der Nachhaltigkeit einen zusätzlichen Pusch, wie Minister Werner Müller heute bereits bestätigt hat. Entscheidend hierbei ist zum Beispiel die Verhinderung des Rebound-Effekts. Er besagt im Wesentlichen, dass jedes technische Potenzial der Dematerialisierung infolge einer Ausdehnung von Aktivitäten doch höheren Ressourcenverbrauch schaffen kann. So ist trotz aller immensen Effizienzgewinne in der Vergangenheit der Ressourcen- und Energieverbrauch bis zum heutigen Tag gestiegen. Zum Beispiel hat in einem modernen Büro trotz E-Mail, trotz Fax, trotz elektronischer Zeitung der Papierverbrauch drastisch zugenommen. ({2}) Die Umweltbilanz zu verbessern, gelingt zum Beispiel durch die Optimierung der technischen Produkte in diesem Sektor selbst. Hier gibt es erhebliche Verbesserungspotenziale. Über 700 verschiedene Stoffe gehen in einen PC ein. Obwohl der PC bislang als Grundlage der angeblich immateriellen und Ressourcen schonenden Informationsgesellschaft gilt, werden dennoch zwischen 16 und 19 Tonnen Rohstoffe zur Herstellung eines einzigen PCs benötigt. Das sind fast zwei Drittel so viel wie zur Produktion eines normalen Pkw ohne Elektronik. Ursache ist unter anderem, dass sehr viel Energie in die Herstellung geht, zum Beispiel für die Reinstluftbedingungen bei der Chipproduktion. Hinzu kommt eine Menge Energie, die beim Antrieb der Anlagen benötigt wird. Das Problem wird durch die kurze Nutzungsdauer von häufig nur drei bis vier Jahren zusätzlich verschärft. Ich möchte an dieser Stelle ein Beispiel nennen, das aufzeigt, wie schlechte Rahmenbedingungen Umweltschutz und Arbeitsplätzen gleichzeitig schaden. Bis Mitte der 90er-Jahre waren deutsche Unternehmen bei der halogenfreien Leiterplatte technologisch führend. Das Problem war, dass die Preise etwas höher waren als für das halogenhaltige Pendant. Auf dem Computermarkt mit seinen engen Margen konnte sich die umweltfreundliche deutsche Technologie daher nicht durchsetzen. Hätte die alte Bundesregierung gehandelt und halogenhaltige flammgeschützte Leiterplatten verboten oder wenigstens die Markteinführung der halogenfreien Produkte unterstützt, wären wir nicht nur dieses Umweltproblem los, sondern hätten auch einige tausend Arbeitsplätze mehr. Stattdessen sahen Sie, meine Damen und Herren von der heutigen Opposition, tatenlos zu. Nun werfen die mittlerweile führenden Japaner diese Technologie auf den Markt. Sie wird Erfolg haben, was für den Umweltschutz gut ist, aber die Arbeitsplätze werden wohl in Japan entstehen. Ebenso wichtig wie die Produktion ist die Verwertung des Abfalls. Dort, wo recycelt wird, kann einerseits das Material wieder in die Produktion einfließen und können andererseits die gewonnenen Erfahrungen in die ökologische Entwicklung neuer Produkte eingebracht werden. Immer wichtiger wird neben dem PC die Peripherie. Auch hier gibt es große Chancen. Flachbildschirme werden mehr und mehr die bekannten Bildschirme mit ihren Energie fressenden Bildröhren ersetzen. In einem nächsten Schritt könnten sich visualisierende Brillen durchsetzen. Auch hier wird die Politik begleiten müssen, damit sich mögliche negative Nebenwirkungen in Grenzen halten. Die große Chance der Informations- und Kommunikationstechnologie ist der Einsatz der Technik für eine nachhaltige Entwicklung in allen Bereichen der Wirtschaft. Es wird aber immer deutlicher, dass nicht die digitale Technik als solche Lösungen liefert, sondern dass die Rahmenbedingungen, in die sie eingebettet ist, entscheidend sind. Darüber hinaus muss ein Erkenntnisgewinn wirklich in reales Handeln umgesetzt werden. Ich möchte nur einige Beispiele nennen. Ohne Hochleistungscomputer gäbe es keine aufwendigen Klimamodelle. Der Computer selbst ist aber nutzlos, wenn die Politik nicht zum einen umfangreiche Mittel für die Klimaforschung ausgibt und zum anderen dann die Erkenntnisse tatsächlich in eine vorsorgende Klimaschutzpolitik umsetzt. Ein zweites Beispiel. Die Organisation einer dezentralen Energieversorgung und die Steuerung des Energieverbrauchs über die Ausrichtung an einem natürlichen solaren Energieangebot ist dank der IuK-Technik ein ganz leicht lösbares Problem. Die Energiepolitik aber gegen alteingesessene Interessen zu ändern, die dem Klimaschutz im Wege stehen, ist tausendmal schwieriger. An dieser Stelle möchte ich aber auch vor der Gefahr von Scheinlösungen warnen. Hierzu zählt in Teilbereichen die Telematik, die lediglich an Symptomen kuriert, aber die Probleme nicht wirklich anpackt. Im schlimmsten Fall werden echte Lösungen im Verkehrssektor mit Hinweis auf die Möglichkeiten der Telematik sogar verzögert. Ein Zitat des Verkehrsforschers Hermann Knoflacher macht das deutlich: Als Wunderwaffe gegen Unfälle und Verkehrsstau wird die Telematik propagiert ... Hunderte Millionen Mark europäischer Steuergelder werden derzeit in dieses aussichtslose Unterfangen investiert, um lieb gewonnenes Fehlverhalten beibehalten zu können. So weit Hermann Knoflacher. Nachdem ich mich bisher auf die Chancen und die Problemlösungsfähigkeit der IuK-Technik konzentriert habe, möchte ich abschließend aber auch auf mögliche Gefahren eingehen. Die Entwicklung des Mobilfunks ist dabei, unsere Gesellschaft zu überrollen. Die meisten in diesem Hohen Hause dürften die Vorzüge dieser Technologie schätzen gelernt haben. Andererseits sind die Mobilfunknetze de facto eine Technikfolgenabschätzung am lebenden Objekt Mensch. Die Wissenschaft ist sich über die Unbedenklichkeit dieser Technologie noch nicht einig. ({3}) Immer wieder werden Studien bekannt, die Gefährdungen sehen. Dessen ungeachtet boomt das Geschäft mit dem Handy. Dies hat zu einer dichten Infrastruktur an Mobilfunksendeanlagen geführt, die sich nicht selten auch auf Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen befinden. Weiterhin vorhandene Forschungslücken und sich widersprechende Erkenntnisse bereits vorliegender wissenschaftlicher Untersuchungen verlangen zumindest nach verstärkten Forschungsanstrengungen. Eine nachhaltige Gesellschaft ohne freien und sicheren Informationszugang ist nicht vorstellbar. Aber auch die Freiheit des Informationszugangs ist nicht auf alle Tage gesichert. Monopolisierungstendenzen und Missbräuche des Monopols hat es in der IuK-Branche immer gegeben. Ich begrüße in diesem Zusammenhang mit Nachdruck, dass das BMWi Open-Source-Software nun unterstützt. ({4}) Zugleich möchte ich vor Bestrebungen in der EU warnen, Software patentieren zu lassen. ({5}) Dieser Schritt würde den Zugang zu Software erschweren und die wirtschaftliche Entwicklung in Europa stark hemmen. ({6}) Resümierend möchte ich festhalten, dass die Informations- und Kommunikationstechnologie weiterhin gewaltige Chancen bietet. Ein rein technokratischer Ansatz würde aber zwangsläufig dazu führen, dass die Risiken gegenüber den Chancen an Bedeutung gewinnen würden. Deshalb haben die Regierungsfraktionen den Antrag zur Nachhaltigkeit in der Informations- und Kommunikationstechnologie vorgelegt. Sie werden damit eine Verbesserung erreichen. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe nunmehr dem Kollegen Jörg Tauss für die SPD-Fraktion das Wort.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Rexrodt, ich freue mich, wenn Sie sich so freuen. Es ist in diesen turbulenten Tagen ja gar nicht so einfach, über Sachpolitik zu reden. ({0}) - Lichtgestalt, danke. - Statt mit der Struktur der zukünftigen Gesellschaft und ihren Kommunikationsmöglichkeiten muss man sich gegenwärtig leider mehr mit dem Finanzgebaren der CDU in ihrer Vergangenheit beschäftigen. Die Bundesregierung hat demgegenüber in dieser Zeit solide ihre Arbeit gemacht und mit dem jetzt vorgelegten Aktionsplan das Tor in Richtung Zukunftsgestaltung weit aufgestoßen. ({1}) Dass Deutschland mit dem Regierungswechsel nach den unverzeihlichen Jahren der Versäumnisse der Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. mit der Aufholjagd begonnen hat, war überfällig. Herr Kollege Mayer, deshalb sollten Sie vonseiten der Opposition helfen und nicht über die Geschwindigkeit jammern, mit der die Beseitigung Ihrer Defizite erfolgt. Auch mir wäre es lieber, wenn dies schneller ginge. Aber es ist nun einmal so, wie es ist. ({2}) Die im Aktionsplan auf 155 Seiten angesprochenen Fragen sind außerordentlich komplex und berühren alle Arbeitsfelder der Bundesregierung von A wie Arbeit ich sehe hier den Staatssekretär im Arbeitsministerium bis Z, bis zur Zivilprozessordnung im Bereich des Justizministeriums. All diese Themen im Rahmen einer zweistündigen Debatte ausführlich zu erörtern, das geht nicht. Wir schlagen Ihnen deshalb vor, Herr Kollege Otto, beim Bundestagsausschuss für Kultur und Medien einen Unterausschuss einzurichten, mit dem wir künftig ausschussübergreifend Problemfelder aufgreifen und die Arbeit der anderen beteiligten Ausschüsse bei der Bewertung von IuK-Technologien ein Stück ergänzen und begleiten könnten. Herr Kollege Mayer, gerade über solche Initiativen wie die hinsichtlich eines ungetakteten Internettarifes, also über Zukunftsfragen, könnte dort sehr gut diskutiert werden. In diesem Punkt - da teile ich Ihre Auffassung pennt im Übrigen die Telekom, wenn ich das so burschikos sagen darf. Ich gehe aber davon aus, dass im Laufe der Zeit auch dort alle Vorstandsmitglieder Anschluss an die Moderne finden werden. Dann wird dies sicherlich einfacher zu regeln sein. ({3}) Über das Desinteresse der alten Bundesregierung an diesem Thema ist gesprochen worden. Kollege Catenhusen hat das traurige Beispiel geschildert, dass es im Kanzleramt statt des Internets nur die Rohrpost gab. Gehässig betrachtet - aber Sie haben es in diesen Zeiten schwer genug - könnte man natürlich sagen: Bargeldverkehr und der Verlust von Akten wurden angesichts dessen, dass man statt des Internets nur eine Rohrpost hatte, leicht gemacht. Aber ich will diese Themen heute Nachmittag nur streifen. ({4}) Auf diesem Rohrpostniveau fand damals - übrigens in Zuständigkeit der Herren Rüttgers und Rexrodt; Herr Rüttgers ist nicht anwesend; Herr Rexrodt, Sie scheinen sich heute zumindest noch ein bisschen für das alte Thema zu interessieren; das ist gut - die ganze Laienaufführung statt. Sie verzeihen mir dieses Wort; aber es war wirklich eine Laienaufführung, die ihr da unternommen habt. Immerhin verbindet mich etwas mit dem Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, der in diesen Tagen laut „Spiegel“ gesagt hat, er hielte nicht viel von Rüttgers. Ich kann Herrn Schäuble an dieser Stelle wirklich nur zustimmen. Wer Rüttgers kennt, der kann zu keiner anderen Betrachtung kommen. Das merken die Menschen in Nordrhein-Westfalen im direkten Vergleich mit Wolfgang Clement. Rüttgers war als Zukunftsminister angetreten und ist als Ankündigungsminister in Erinnerung geblieben. In seiner Zeit sind weder wesentliche Standardsetzungen noch eine deutsche Beteiligung bei den Weichenstellungen in Sachen Internettechnologie feststellbar gewesen, welche übrigens allen wirtschaftspolitischen Legenden von der neoliberalen Seite des Hauses zum Trotz ganz wesentlich zum eigentlichen Aufschwung in den USA beigetragen haben. Die Internettechnologie war dafür verantwortlich, nicht irgendwelche neoliberalen Thesen, die Sie uns auch hier gelegentlich um die Ohren schlagen. ({5}) Herr Kollege Mayer, ein Teil der Fragen Ihrer Großen Anfrage sind durchaus sehr originell. Diese Fragen hätten Sie zu Ihrer Regierungszeit stellen müssen. Über die Versäumnisse während seiner Amtszeit sollte besser Herr Rüttgers sprechen. Die Clinton/Gore-Administration machte schon vor Jahren den Aufbau einer globalen Informationsinfrastruktur zur Chefsache, Blair und Jospin zu ihren Schwerpunkten. In Deutschland fand zu Zeiten der ehemaligen Bundesregierung das Thema Internet lange überhaupt kein Interesse, wurde bekämpft oder als Schmuddelecke bezeichnet. ({6}) - Jawohl, bekämpft. Sie haben es doch nahezu als Bedrohung empfunden. Ich erinnere an die Überlegungen zur Telekommunikationsüberwachung in Ihrem Hause, Herr Kollege Rexrodt. ({7}) - Herr Kanther und Frau Nolte hatten völlig falsche Regulierungsansätze zur an sich richtigen Bekämpfung der Kriminalität, was bestenfalls zu wirkungslosen, schlimmstenfalls zu gegenteiligen Folgen führte. Aufgrund des Aufbaus einer globalen Informationsinfrastruktur sind in den USA zahlreiche Jobs entstanden. Die bei uns auf diesem Gebiet existierenden wenigen Stellen können wir kaum besetzen. Eine der Ursachen dafür ist, dass Sie das Internet technologisch, rechtlich und in seiner gesellschaftlichen Wirkung völlig falsch eingeschätzt haben. ({8}) Deshalb ist es gut - Herr Catenhusen hat darauf hingewiesen -, dass das Bündnis für Arbeit in einer seiner ersten Maßnahmen die Erhöhung der Zahl der Ausbildungsplätze in diesem Bereich um rund 40 000 vorgesehen hat. Wenn dieses Ziel, Herr Staatssekretär, früher erreicht werden kann, ist das ganz hervorragend. ({9}) Der angesprochene Internetpreis wird zusätzlich deutlich machen, dass wir die Entwicklung des Internets in Deutschland jetzt fördern und sie nicht wie unter Schwarz-Gelb verschlafen wollen und dürfen. Mit diesem Preis sollen übrigens - das sage ich ausdrücklich für den Ausschuss für Kultur und Medien - auch kulturelle Leistungen gewürdigt werden. Medienpolitik ist nämlich intelligente Struktur- und Wirtschaftspolitik, wie übrigens das Beispiel NRW zeigt, aber zuvörderst - und das soll so bleiben - Gesellschafts- und Kulturpolitik. Das ist es, worauf wir Wert legen. ({10}) Lieber Herr Kollege Otto, der Sie sich jetzt aufgeregt mit Herrn Rexrodt unterhalten: Sosehr ich Sie auch schätze, das ist der Grund, warum wir Ihren Antrag zu meinem großen Bedauern ablehnen müssen. Kollege Neumann hat bereits einige der Argumente, die ich durchaus teile, vorgetragen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Tauss, der Kollege Rexrodt gibt Ihnen die Möglichkeit, Ihre Redezeit zu verlängern, wenn Sie seine Frage zulassen.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das wäre prima, weil ich schon knapp in der Zeit bin. Sie merken, dass ich schon immer schneller rede. - Herr Kollege Rexrodt, gestatten Sie mir noch einige Sätze zu Herrn Neumann. Ich komme gleich zu Ihnen. Ich sehe Angebote wie zum Beispiel den Kinderkanal nicht als „Krake im öffentlich-rechtlichen Bereich; darüber müssen wir ernsthaft reden. Ich halte auch den Weiterentwicklungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht generell für verwerflich. Aber lassen Sie uns darüber reden! Wir wollen das duale System. Dazu gehört natürlich eine faire Entwicklung des privaten ebenso wie eine faire Weiterentwicklung des öffentlich-rechtlichen Sektors. Da sind wir uns völlig einig. ({0}) Bitte schön, lieber Herr Kollege Rexrodt.

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Tauss, ich nehme Bezug auf Ihre Aussage, dass das Internet und nicht die neoliberale Wirtschaftspolitik in den USA zu einer Veränderung der Gesellschaft geführt habe. Ist Ihnen bekannt, Herr Kollege Tauss, dass es die alte Koalition war, vornehmlich das Wirtschaftsministerium, das zu führen ich damals die Ehre und die Gelegenheit hatte, die das Informations- und KommunikationsdiensteGesetz und die Telekommunikationsliberalisierung vorangebracht hat? Ist Ihnen ebenfalls bekannt, dass es, was die Nutzung des Internet und dessen Implementierung angeht, gerade die Sozialdemokratische Partei war, die über Jahre hinweg eine Ordnung angedacht hatte, die darauf hinauslief, dass auf europäischer und weltweiter Basis quasi eine Vorgabe der Staaten für die Nutzung elektronischer Medien verabschiedet werden sollte, und dass wir es waren, die gegen den Widerstand von Ihnen und anderen gesellschaftlichen Gruppen dafür Sorge getragen haben, dass das Internet, der freie Umgang und Verkehr mit Daten innerhalb bestimmter Regeln, die wir auch vereinbart haben, möglich wurde? Ist Ihnen das bekannt, Herr Kollege Tauss?

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist natürlich ein ganzer Strauß von Fragen, die Sie mir stellen. ({0}) - Nein, ich kann nicht Ja sagen, Herr Kollege Otto. Sie haben völlig zu Recht das Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz des Bundes angesprochen. Es gab innovative und auch problematische Teile. Der Evaluierungsbericht hat gezeigt - hier appellieren wir ein Stück weit auch an die Bundesregierung -, dass es in der Tat noch offene Rechtsfragen gibt, die von der alten Bundesregierung zu verantworten sind. Herr Rexrodt, ich kann Ihnen gerne noch einmal meine Rede von damals vortragen - als Sie mich dafür in der Kantine gelobt haben, habe ich schon gedacht, ich hätte etwas verkehrt gemacht -, die ich an dieser Stelle zum IuKDG gehalten habe. Damals habe ich gesagt: Es muss für die Anbieter Rechtssicherheit geben. Dies bedeutet auch eine freie Kommunikation, die durch nichts beeinträchtigt wird. Sie werden von mir und, soweit ich mich erinnern kann, auch nicht von einem anderen Mitglied meiner Fraktion zu irgendeinem Zeitpunkt eine Erklärung gefunden haben, in der wir gesagt haben: Wir wollen das Internet im Sinne einer Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit regulieren. Diese Probleme hat es damals bei Ihnen gegeben. Denken Sie daran, wie Sie damals im eigenen Hause im Zusammenhang mit der Telekommunikationsüberwachungsverordnung ausgetrickst worden sind! Denken Sie auch an die Krypto-Geschichte, die wir damals heftig miteinander diskutiert haben! Herr Kanther hat damals bis zuletzt mit allen Mitteln dafür gesorgt ({1}) - Ich weiß doch, dass ihr dagegengehalten habt. Aber ihr habt euch doch nicht durchgesetzt. Erst mit unserer Regierungsübernahme hat sich die Bundesregierung klar dafür ausgesprochen, dass es keine Beeinträchtigung geben soll . ({2}) Herr Rexrodt, es ist keine Schande, wenn Sie meiner Meinung sind. Aber dass Sie dies damals nicht als Position der Bundesregierung durchgesetzt haben, sondern als offenes Spiel mit erheblicher Verunsicherung der Branche gehandhabt haben, ist doch bekannt. ({3}) - Nein, ich war nicht auf der anderen Seite. Aber darüber können wir bei einem Gläschen Bier reden, auch über die Rolle von Herrn Kanther, den zwischenzeitlich auch einige aus Ihren Reihen als Schande für das Parlament bezeichnen. Ich glaube, all diese Beispiele zeigen: Hier ist von Ihnen schon ein Stück weit gesündigt worden. Ich erinnere einmal an das Bundesdatenschutzgesetz. Welche Reformen haben Sie denn hier auf den Weg bekommen? Nichts! Jetzt befinden wir uns in der Situation, dass uns die EU abmahnt. Herr Hintze von der CDU hat kürzlich sogar noch gesagt: Datenschutz ist Täterschutz. - Nein, meine Damen und Herren, das ist völliger Unfug. Datenschutz in der Informationsgesellschaft ist wie der gesamte Bereich Sicherheit in der Informationstechnik eine der ganz wesentlichen Voraussetzungen für die Wahrung von Bürgerrechten - das müsste Sie von der F.D.P. interessieren - , ({4}) für die Rechtssicherheit in der E-Commerce - auch das müsste Sie interessieren - und für den elektronischen Rechts- und Zahlungsverkehr insgesamt. Sie haben damals von Täterschutz geredet. Deswegen begrüßen wir sehr, dass die Bundesregierung, das Justizministerium, bei der digitalen Signatur einiges tut und es vorantreibt. Auch das ist Voraussetzung für sichere Kommunikation. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine weitere Zukunftsaufgabe wurde von Wolf-Michael Catenhusen angesprochen. Ich meine die Umstellung von Papier auf Digital. Das gilt, Herr Kollege Fell, auch dann, wenn wir das papierlose Büro, auch im Bundestag, noch nicht erreicht haben. Hier kommen auf Bibliotheken und auf alle anderen Beteiligten völlig neue Aufgaben zu. Herr Rüttgers wollte in diesem Bereich - Herr Neumann, Sie werden sich erinnern - unverantwortlicherweise einen Zustand schaffen, in dem die Hochschulen gezwungen worden wären, eigene wissenschaftliche Ergebnisse von privaten Betreibern wissenschaftlicher Datenbanken mit öffentlichem Geld zurückzukaufen, während sie gleichzeitig aus Geldmangel Fachzeitschriften abbestellen müssen. Herr Catenhusen, wenn Sie sagen, dass Sie in diesem Bereich etwas tun werden - Information wird zur Generierung von Wissen als dem Rohstoff der künftigen Gesellschaft benötigt -, wenn Sie den Zugang zu diesem Rohstoff so umfassend und so preiswert, wie Sie das heute angesprochen haben, garantieren, dann sind Sie und die Ministerin - das kann ich Ihnen sagen - der Hoffnungsträger einer ganzen Generation, zumindest was die Gestaltung der Informationsgesellschaft anlangt. ({6}) Die Weichenstellungen des vormaligen Forschungsministers in diesem Bereich waren verheerend. Doch reden wir nicht mehr von Herrn Rüttgers; reden wir jetzt von der Zukunft! Ich bitte die Bundesregierung, das im Koalitionsvertrag vereinbarte Informationsfreiheitsgesetz gleichfalls rasch auf den Weg zu bringen. Auch dieses Gesetz wird ein ganz wichtiger Baustein zur Sicherung des Zugangs zu Informationen und des Rechts auf Information sein und kann auch, gerade in diesen Zeiten, meine Kolleginnen und Kollegen, einen wichtigen Beitrag zur Transparenz politischer Prozesse - wann war dies nötiger als in diesen Tagen? - und zur Modernisierung des Staates leisten. Sie sehen: Wir haben mit den Themen Informationsfreiheitsgesetz, Datenschutz, Zugang zu Informationen es sind die richtigen Themen - das Tor zur Zukunft weit aufgestoßen. Kollege Mayer, meine Zufriedenheit liegt nun zwischenzeitlich etwas über 50 Prozent und geht stark auf die 70 Prozent zu - ganz einfach deshalb, weil diese Bundesregierung handelt. Je mehr sie handelt, umso geringer wird natürlich auch die Kritik der sie tragenden Fraktionen werden. Ich kann Ihnen nur sagen: Lassen auch Sie sich von den Möglichkeiten und den Chancen dieser Technik überzeugen! Nutzen Sie beispielsweise die Möglichkeiten des bargeldlosen Verkehrs und des Electronic Banking, ({7}) dann haben Sie viel weniger Probleme. Denn wer von diesem Thema nichts versteht, wird auch bei anderen Themen schwerlich den Anschluss finden. Schlussbemerkung. Herr Präsident, ich sehe, Sie leuchten, genauer: die Lampe hier vorn. ({8}) Wir haben vorher von Oppositionsrednern gehört, diese Bundesregierung könne mit E-Mail nicht umgehen. Kollege Mayer, Sie haben die jungen Leute angesprochen, die sich mit uns in Verbindung setzen. Ich zitiere aus einer der 500 E-Mails, die in den letzten Tagen das Innenministerium erreicht haben: Hallo! Ich habe keine spezielle Frage. Ich kann nur hoffen, dass Sie - gemeint ist die Bundesregierung - viel Erfolg mit Ihren Projekten haben werden, damit der verstaubte Amtsschimmel aus den deutschen Amtsstuben vertrieben wird. Vielleicht gelingt es dieser Bundesregierung. Glück auf! ({9}) Sehen Sie, das sind die Ehrenamtlichen, die Sie vorhin so gelobt haben; das ist deren Meinung von uns. Darauf sind wir stolz. Ich bedanke mich. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich hatte schon, Herr Kollege Tauss, die Hoffnung aufgegeben, dass Sie das leuchtende Licht sehen würden. ({0}) Denn Sie hatten Ihre Papiere so geschickt platziert, dass sie alles verdeckten. Jetzt gebe ich das Wort dem Kollegen Walter Hirche. ({1})

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Tauss ist ja am Schluss derart in Begeisterung geraten, dass ich beim Verlesen der E-Mail in der Tat den Eindruck hatte, er freut sich heute noch darüber, dass er sie losgeschickt hat, um sie hier im Plenum einmal vortragen zu können. Selbst wenn das so ist, haben Sie hier zusammen mit den meisten Rednern dieser Debatte Dinge vorgetragen, bei denen man als überwiegenden Tenor feststellen kann: Die Chancen der Informationsgesellschaft müssen in Deutschland für den Arbeitsmarkt genutzt werden. Die riesigen Chancen, die vorhanden sind und nicht genutzt werden können, sind eine Herausforderung für unser Bildungs- und Weiterbildungssystem. Das ist gar keine Frage. Weitere große Chancen liegen zum Beispiel auch im Bereich der modernen Medien. Sie müssen genutzt werden, um Menschen, die etwa aus Gründen körperlicher Behinderungen bzw. anderen Ursachen in das gesellschaftliche Abseits geraten sind, wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Technik muss also als Mittel sozialer Integration genutzt werden. Darüber hinaus werden wir in diesem Zusammenhang auch im Bereich „Messen, Regeln, Steuern“ über die Möglichkeiten diskutieren müssen, wie wir mit modernen Medien und moderner Kommunikation die vorhandenen Chancen nutzen können. Ich habe, Herr Fell, ein bisschen bedauert, dass Sie - ich will es milde sagen im Unterschied zu Ihrer Kollegin Wolf eher über die Probleme gesprochen haben, anstatt die Chancen zu beschreiben. ({0}) Ich denke, wir sollten die Chancen nutzen und sehen, dass wir nach vorne kommen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Hirche, gestatten Sie die Fortsetzung der Rede von Herrn Kollegen Tauss? ({0})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es wird natürlich keine Fortsetzung der Rede geben, aber, lieber Herr Kollege Hirche, Sie haben mir gewissermaßen unterstellt - ich würde meine eigenen E-Mails verlesen. Sind Sie der Auffassung, dass auch die folgende E-Mail von mir erfunden ist? Sie stammt von der F.D.P.-nahen FriedrichNaumann-Stiftung aus Seoul und ist ebenfalls heute beim BMI eingegangen. Die Friedrich-Naumann-Stiftung ist seit über zehn Jahren ... mit einem kommunalpolitischen Projekt tätig. Aspekte der Verwaltungsreform spielen bei unserer Tätigkeit eine wichtige Rolle. Ihre Hompage - die des BMI - habe ich mit sehr großem Interesse studiert. Herzlichen Glückwunsch zu dem gelungenen Auftritt, der auch in der Ferne Beachtung findet. Dr. Ronald Meinardus, Seoul. Sie sehen, solche Dinge erfinde ich in der Regel nicht. Ich wollte fragen: Ist Ihnen dies bekannt? ({0})

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist mir jetzt bekannt. Sie haben einen Beweis für die Weltoffenheit, Toleranz und Vielfalt von Liberalen vorgetragen. ({0}) Das finde ich hervorragend. Ich bedanke mich. Für eine solche Art der Zusammenarbeit kann man in der Tat die neuen Medien nutzen und man könnte darüber reden, wie fehlgelaufene Entwicklungen korrigiert werden können.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Der Herr Kollege Seifert möchte eine Zwischenfrage stellen. Oder möchten Sie Ihre Ausführungen zu der Zwischenfrage von Herrn Tauss noch fortsetzen?

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich will noch einen Hinweis an Sie, Herr Tauss, geben. Sie sollten die Dinge in der Zukunft entsprechend darstellen: Die F.D.P. hat sich ({0}) sowohl in der letzten Legislaturperiode als auch davor entschieden für die Liberalisierung und Öffnung der Regelwerke eingesetzt. Zu Zeiten, als Sie auf Landesebene und im Deutschen Bundestag die Veränderungen blockiert haben, hat sich lediglich Ihr Kollege Glotz für Öffnung und Änderung eingesetzt. Ich kann Ihnen die von Niedersachen aus betriebenen Initiativen nennen, mit welchen wir seinerzeit im Bundesrat aufgelaufen sind, weil die SPD alles blockiert hat. Sie haben im Grunde über zehn Jahre hinweg die Dinge blockiert. ({1}) Dass dies nun anders werden soll, begrüße ich. Dies will ich ausdrücklich sagen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Gestatten Sie nun eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Seifert?

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Hirche, Sie haben vorhin sehr verdienstvoll darauf hingewiesen, dass behinderte Menschen unter Umständen über neue Kommunikationsmittel Arbeits- und Kommunikationsmöglichkeiten finden, die sie sonst nicht haben. Teilen Sie dennoch mit mir die Meinung, dass es nicht unwichtig ist, diesen Punkt nicht zu sehr überzubetonen, sondern zu sehen, dass die interpersonelle Kommunikation dadurch verhindert werden kann? Gerade behinderte Menschen brauchen wie alle anderen Menschen auch den persönlichen Kontakt. Man kann diesen nicht allein über elektronische Medien herstellen. Ich möchte Sie gern fragen, wie Sie zu diesen beiden Seiten der Medaille stehen.

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich würde gern das Positive in den Vordergrund stellen. Wenn man etwas positiv darstellt, sollte man auch nicht so tun, als ob alles in Ordnung sei. Wo Sonnenschein ist, gibt es auch ein bisschen Schatten. Darüber muss man reden. Man geht dann etwas zur Seite, betrachtet die Dinge neu und hat trotzdem die Möglichkeit, nach vorne zu gehen. Der wichtigste Punkt, den ich hier sehe - da werden Sie, Herr Kollege Tauss, den Beweis noch erbringen müssen -, ist, dass wir in Deutschland einen Ordnungsrahmen haben, der den Aufbruch, den die BundesreWalter Hirche gierung in ihrem Aktionsprogramm beschreibt, die Hilfe für Existenzgründer und das Nach-vorne-Gehen überall durch Schranken und Bremsen verhindert. Jedes Mal, wenn wir in der Vergangenheit irgendwo Deregulierung versucht haben, haben Sie gesagt: Dann gehen die Menschen kaputt. - Dieses durfte nicht sein und jenes durfte nicht sein. Sie wissen: Es ist mehr als nur ein Scherz, wenn man sagt, die Erfolgsgeschichte von Bill Gates hätte in Deutschland nicht stattfinden können, weil eine Arbeit in einer Garage ohne Fenster nicht erlaubt ist. Es gibt x solcher Beispiele in diesem Zusammenhang. Trotzdem halten Sie an solchen Regelungen und den Genehmigungsverfahren bis heute fest. Denn eines ist doch klar: Wenn wir in Deutschland in diesem Bereich im Vergleich zu anderen Ländern rückständig sind, dann liegt das nicht an der Wirtschaft in Deutschland. Die Wirtschaft hat ihre Hausaufgaben in weitesten Teilen gemacht. Es ist unser Staat, der auf den verschiedenen Ebenen der Entwicklung hinterherhinkt, der nicht dafür sorgt, dass der Ordnungsrahmen ausreichend flexibel ist, und der nicht die entsprechenden Rahmenbedingungen für Existenzgründer schafft. Ein kleines Beispiel - mehr ist in einem solch kurzen Beitrag nicht möglich -: Dass der Bundeswirtschaftsminister und die Bundesbildungsministerin der Anlage zum Entwurf des Haushaltsplans 2000 im August letzten Jahres zugestimmt haben, in der stand, dass die Abschreibungsfrist für PCs von vier auf sechs Jahre verlängert wird, zeigt, dass bei Ihnen nicht durchgängig der Wille herrscht, sich um die modernen Entwicklungen zu kümmern. ({0}) Wenn Sie die Situation im Wege von Abschreibungsfristen verschlechtern, dann behindern Sie unsere Wirtschaft. Ich finde es gut, dass die Wirtschaft mit der Initiative D 21 vorangegangen ist. Wir werden darauf achten müssen, dass die Übertragung des „road mapping“ aus den USA auf Deutschland, die Sie vorschlagen - vielleicht könnten wir uns einmal auf deutsche Begriffe verständigen, damit die Bevölkerung versteht, worum es hier geht -, nicht dazu führt, dass der Staat in allen Bereichen der Gesellschaft Vorschriften für andere macht. Denn das ist unser Problem: Sie lassen den wesentlichen Vorteil des Internet nicht zu, nämlich dass globale Kommunikation, Demokratie und Wirtschaftsaustausch von unten her stattfinden. Sie wollen über alles ein Netz stülpen, mit dem der Staat reguliert. Vielleicht belehren Sie uns in den Ausschussberatungen eines Besseren. Aber bis jetzt erschöpft sich Ihr Verhalten in Regeln und Behinderungen. Der Staat hat seine Hausaufgaben nicht gemacht. Wir werden sehen, ob Ihr Wortschwall, den Sie über uns ergossen haben da sind Sie wirklich ein Tausendsassa -, der Realität Rechnung trägt. Das Ziel haben wir gemeinsam: die Chancen zu nutzen. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPDFraktion spricht nun der Kollege Hubertus Heil.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht kennen Sie den Werbespot, der seit einigen Wochen über den Fernseher flimmert, in dem ein berühmter deutscher Tennisspieler sehr verdutzt sagt: „Ich bin drin.“ - Uns geht das im Moment ebenso: Auch wir sind mittendrin. ({0}) - „So einfach ist das!“ Genau, das hat er auch gesagt. Manchmal ist es eben so einfach. Ich glaube, wir alle in diesem Hause sind uns bewusst, dass wir uns mittendrin im Übergang von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft befinden und dass die Geschwindigkeit dieses Übergangs das hat keiner hier bestritten - immer rasanter wird. Nur, ich denke, wir sollten einen realistischen Blick auf die Dinge haben. Weder - Herr Kollege Hirche, das sage ich an Ihre Adresse - ideologische Fixierung auf eine Deregulierungswut, noch - das sage ich an die Adresse der PDS - das ewige Rufen nach neuen Regelungen, nach Überregulierung, bringen uns weiter. Wir brauchen eine realistische Sicht im Sinne eines - was die Begrifflichkeiten betrifft, sind wir uns sicher einig - flexiblen Ordnungsrahmens. ({1}) Ich denke, dass dieses Parlament in der letzten Legislaturperiode - das kann ich so unbefangen sagen, weil ich damals noch nicht dabei war - eine sehr gute Arbeit in der Enquete-Kommission zur Informationgesellschaft geleistet hat. ({2}) Die Enquete-Kommission hat sowohl eine Einschätzung der Möglichkeiten der neuen Technologien vorgenommen als auch die notwendigen Regulierungs- und Deregulierungsmaßnahmen beschrieben. Stellvertretend möchte ich dem Kollegen Mosdorf, der die EnqueteKommission damals geleitet hat, danken. Das hat die Grundlage für das Aktionsprogramm geboten, das wir jetzt konsequent durchsetzen. Wir nehmen die Folgen dieses Berichts ernst und wir setzen sie um. ({3}) Das ist ein Unterschied zu dem Stillstand, der jahrelang in Deutschland zu verzeichnen war. Das Aktionsprogramm der Bundesregierung - mit vollem Titel: „Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ - setzt auf Realität, setzt auf konkrete Schritte, um ein Ziel zu erreichen, nämlich dass Deutschland weltweit in der Spitzenliga der Informations- und Kommunikationstechnologien mitspielen kann. Wir haben in Deutschland bereits gute Voraussetzungen. Mir ist es ziemlich egal, wer alles daran mitgewirkt hat. Aber wir haben gute Voraussetzungen, dieses Ziel in wenigen Jahren zu erreichen. 1,7 Millionen Beschäftigte arbeiten bereits heute im Bereich der Informationstechnik und im Medienbereich. Wir haben eine Infrastruktur von 230 000 Kilometer Glasfaserkabel, die in Deutschland liegen. Das ist eine Infrastruktur, die, wie gesagt, eine gute Basis bildet. Die Evaluierung des Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetzes, das ebenfalls heute diskutiert wird, sagt aber sehr deutlich, dass wir in bestimmten Bereichen noch sehr starken Handlungsbedarf haben; dort ist der Fortschritt in den letzten Jahren verpennt worden. Tatsache ist, dass in Deutschland nur 9 bis 10 Prozent der Bevölkerung einen Internetzugang haben. Zum Vergleich: In Großbritannien sind es bereits 14 Prozent, in den USA 30 Prozent. Herr Kollege Mayer, ich finde es schon ein ehrgeiziges Ziel, dies in wenigen Jahren zumindest auf über 40 Prozent zu steigern. ({4}) 100 Prozent werden wir nicht erreichen. Lassen Sie uns doch nicht streiten. Auch ich würde mich freuen, wenn wir mehr erreichen. Aber ich finde das etwas kleinkrämerisch, nachdem jahrelang von Ihrer Regierung nichts getan wurde, um das nach vorne zu bringen. ({5}) - Was denn, bitte schön? ({6}) Lassen Sie uns doch gemeinsam daran arbeiten, dass wir es schaffen; denn das hat auch etwas, mit Akzeptanz zu tun. Wir müssen beim Zugang Chancengleichheit haben - der Kollege Catenhusen hat darauf hingewiesen -, damit diese neuen Technologien akzeptiert werden und um die Gesellschaft nicht in User und Loser verfallen zu lassen. ({7}) Wir wollen die Internet-Abonnements steigern. Dann ist es natürlich auch wichtig, den Weg über den Bildungsbereich zu gehen. Das ist ein weites Feld. Lassen Sie mich hier zumindest zu der Frage kommen, die vorhin diskutiert wurde: Was machen wir mit den 75 000 Fachkräften, die im IuK-Bereich in den letzten Jahren gefehlt haben? Wenn Sie immer sagen, bei dem „Bündnis für Arbeit“ würde nichts herauskommen, dann schauen Sie sich einmal diesen Bereich aufmerksam an. ({8}) - Hören Sie erst einmal zu, bevor Sie dazwischenrufen. - Mit den Partnern aus Wirtschaft und Gewerkschaften ist vereinbart worden, gerade in dem Bereich der Informationstechnik über eine Fortentwicklung des Weiterbildungssystems diesen Fachkräftemangel binnen kürzester Zeit zu beseitigen. Wir alle kennen die viel zitierten Beispiele von den indischen Programmierern, die deutsche Software programmieren müssen. Das ist, wie gesagt, ein Zustand, bei dem wir alle an einem Strang ziehen müssen. Das geht nur mit den Tarifparteien und öffentlicher Unterstützung. Das tun wir auch. Den Rechtssicherheitsrahmen hat der Kollege Tauss umfassend angeschnitten. Ich möchte mich auf die Frage beschränken: Wie schaffen wir es, Unternehmen dazu zu bringen, stärker in die Anwendung zu gehen? Ich rede vor allen Dingen von kleinen und mittelständischen Unternehmen. Tatsache ist - auch da sind wir uns einig, Herr Kollege Hirche -, dass die Innovationen in dem Bereich vor allen Dingen von Unternehmen getragen werden, nicht von der öffentlichen Hand. Aber es ist Aufgabe der öffentlichen Hand, den Rechtsrahmen, den Orientierungs- und Entwicklungsrahmen zu geben, auch aus kulturellen Gründen. Aber es kommt auch darauf an, für die Wirtschaft Rechtssicherheit zu schaffen und Anstöße zu geben. Das Aktionsprogramm der Bundesregierung wird hierbei sehr konkret. Ich nenne in diesem Bereich Förderprogramme, Informationskampagnen und vor allen Dingen Wagniskapital. Daran hat es in Deutschland in den letzten Jahren vor allen Dingen gemangelt. Auch darin unterscheiden wir uns von den USA. Warum ist es dort schneller gelaufen? Wir müssen im Bereich von Wagniskapital, von Venture Capital weiterkommen, um gerade dort die Potenziale nutzen zu können. Nach den Prognosen, die wir haben, kann es uns durchaus gelingen, binnen zwei Jahren über 350 000 Arbeitsplätze in diesem Bereich zu schaffen. Das sind keine Peanuts. Das muss man sehr deutlich sagen. Konkret läuft es vor Ort so - ich kenne die Beispiele aus Nordrhein-Westfalen, aber auch aus Niedersachsen, aus meinem Wahlkreis -, dass über 24 Kompetenzzentren in den Regionen kleinen und mittelständischen Unternehmen die Möglichkeit geben, am E-Commerce, am elektronischen Handel teilzunehmen, und auch das notwendige Wissen und die Technik zur Verfügung stellen. Damit soll vor allem eines erreicht werden, was gerade heute noch bei kleinen und mittelständischen Unternehmen das Problem ist, nämlich Hemmschwellen abzubauen. Es gibt viele Handwerksmeister, die daran im Moment noch nicht teilnehmen, aber die sowohl bei der Beschaffung wie bei der Vermarktung ihrer Produkte zukünftig über diesen Bereich Impulse bekommen. Auch im Bereich der Gründungen - ich komme zu Ihrem Garagenbeispiel, Herr Kollege Hirche - schauen wir nicht tatenlos zu. Wir wollen, wie gesagt, den Boom der Gründung gerade solcher Unternehmen fördern. Wir tun dies auch. Wir wissen, dass die Innovationen eben nicht von den großen etablierten Unternehmen geleistet werden, sondern von kleinen Existenzgründern, von so genannten Start-ups. Ich möchte in diesem Zusammenhang beispielsweise den Gründungswettbewerb des Bundesministeriums für Wirtschaft nennen, der Anreize schafft und Öffentlichkeit erzeugt, die notwendig ist. ({9}) Wir haben das ehrgeizige Ziel, bis zum Jahr 2001 die Zahl der Multimediaunternehmen in Deutschland zu verdoppeln. Wenn wir uns darüber einig sind, sollten wir uns hier auch nicht gegenseitig das Leben schwer machen. Zum Schluss möchte ich sagen: Wir wollen die entsprechenden Regelungen flexibel gestalten. Darauf ist schon hingewiesen worden. Angesichts des Tempos des technischen Fortschritts müssen wir ständig überprüfen, ob der Orientierungs- und Handlungsrahmen, den wir geschaffen haben, noch zeitgemäß ist. Deshalb muss man ihn weit und flexibel gestalten. Das ist gar keine Frage. Aber ein Orientierungs- und Regelungsrahmen ist notwendig. Das Kennzeichen der Informations- und Kommunikationstechnologien ist, dass vor allen Dingen Raum und Zeit keine merklichen Grenzen mehr sind, sowohl im wirtschaftlichen als auch im politischen Bereich. Der Kollege Tauss hat darauf angespielt. Wir haben es über das Ökonomische hinaus auch im Bereich der politischen Kommunikation mit Veränderungen zu tun, deren Chancen wir nutzen müssen. ({10}) Eine Chance ist zum Beispiel, dass durch die Informations- und Kommunikationstechnologie auch der Abstand zwischen Gewählten, also beispielsweise uns, und Wählern geringer wird, weil sich Bürgerinnen und Bürger schneller Informationen beschaffen können und weil sie auch schneller reagieren können. Wer sich das praktisch noch nicht vorstellen kann, der sollte sich zwei Beispiele vor Augen führen - es ist ganz einfach, sich das anzuschauen; um Boris Becker zu zitieren: Da ist man ganz schnell drin: - Erstens. Das Projekt „Virtueller Ortsverein“, das der Kollege Tauss für unsere Partei aufgezogen hat, ist ein Beispiel für lebendige Demokratie im Netz. Wir müssen dafür sorgen, dass daran mehr Menschen teilhaben. Zweitens. Auf den Besucherseiten der Homepage unter der Adresse www.cdu.de wird zurzeit sehr heftig diskutiert. Ich sage dies, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ohne Häme. Wir werden zukünftig - das gilt für uns alle - mit dem Internet umgehen müssen. Dieses Forum soll nicht zensiert werden. Dafür müssen wir einen entsprechenden Rahmen setzen. ({11}) - Das können wir gerne machen. Das Aktionsprogramm der Bundesregierung ist ein wichtiger Schritt nach vorne. Es ist zwar noch nicht der Weisheit letzter Schluss, aber es ist jetzt notwendig. Wir haben damit das angepackt, was Sie liegen gelassen haben. Wir haben die Evaluierung sehr ernst genommen und werden daraus weiterhin unsere Schlüsse ziehen. Zu den beiden vorliegenden Anträgen ist genug gesagt worden. Wir können sie fachlich weiter beraten, auch den Antrag der F.D.P. Ich möchte das zwar noch nicht in Bausch und Bogen bestätigen, aber der Kollege Neumann von der CDU hat dankenswerterweise ein paar sehr wichtige Takte dazu gesagt. Ich freue mich auf die fachliche Diskussion. Wir wollen gemeinsam viel erreichen. Wir können in Deutschland in diesem Bereich Wachstum und Beschäftigung schaffen. Ich teile die Ansicht, dass wir mehr nach den Chancen und weniger nach den Risiken fragen sollten. Es gibt aber auch Risiken, die nicht verschwiegen werden sollten. Aber in erster Linie stehen die Chancen im Vordergrund. Wir können viel gewinnen, wenn wir etwas tun. Diese Bundesregierung tut etwas. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht nun der Kollege Elmar Müller.

Elmar Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die fünf Tagesordnungspunkte zusammenfasst und einzeln bewertet, dann spürt man regelrecht das krampfhafte Bemühen vor allem der Regierung, sich einer modernen Entwicklung anzupassen. Dies kann man vor allem dort sehen, wo die jetzige Regierung Berichte abliefert, die auf Gesetzen der früheren Regierung fußen. Im Gegensatz dazu stehen die beiden Fraktionen, von deren Rednern wir eine ganze Reihe von Beiträgen gehört haben, die ausschließlich rückwärts gewandt waren. Dies war eine interessante Erkenntnis der Debatte, die heute Nachmittag stattfand. Sie, Herr Kollege, sind eine seltene Ausnahme in diesem Reigen gewesen. Ich möchte noch einmal an Folgendes erinnern: Alle Gesetze, auf denen die jetzigen Programme fußen und auf die sich alle weiteren Entwicklungen stützen, sind in der vergangenen Legislaturperiode von der Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. auf den Weg gebracht worden. ({0}) Ich will die Modernisierer beim Wort nehmen. Wir erinnern uns: Im Juni 1994 fand die entscheidende Sitzung des Bundesrates statt. Es ging darum, Privatisierung und Liberalisierung im Telekommunikationsbereich auf den Weg zu bringen. Es waren ausschließlich die beiden Obermodernisierer dieser Regierung, nämlich der Herr Bundesfinanzminister Eichel, damals Ministerpräsident, und Herr Schröder, damals ebenfalls Ministerpräsident, die gegen eine Privatisierung und eine Liberalisierung gestimmt haben. ({1}) Sie wollten, dass sich diese beiden Unternehmen weiterhin als Behörden entwickeln - in einem Umfeld, das in dieser Form nun wirklich nicht mehr möglich gewesen wäre. Man könnte die Rede des Herrn Ministers Müller und die des Herrn Staatssekretärs in der Formel zusammenfassen: Das Ei des Damokles beschwört das Schwert des Kolumbus. In allen Ehren, Herr Staatssekretär: Es ehrt Sie, dass Sie Ihre Reden möglicherweise selber schreiben. Wenn Ihnen das, was Sie vorhin eingangs gesagt haben - ich denke an die „flat rate“ im Internet -, ein Mitarbeiter aufgeschrieben hat, dann bestellen Sie ihn bitte nachher ein und bitten Sie ihn, sich auf die aktuelle Situation etwas besser vorzubereiten. ({2}) Denn Sie hätten nicht falscher als mit diesem Satz beginnen können. Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland keine „flat rate“. Die Engländer sind jetzt dabei, dies im europäischen Bereich einzuführen. Bei uns in der Bundesrepublik gibt es eine ganze Reihe von Dingen, die noch auf den Weg gebracht werden müssen. Ich sage ausdrücklich: auf den Weg gebracht werden müssen. Die Gesetze, die wir in der vergangenen Legislaturperiode gemacht haben - hervorragende Gesetze -, müssen weiterentwickelt werden, auch was die Regulierungen angeht, die es ermöglichen, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland eine „flat rate“ im Internet auf den Weg bringen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Elmar Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es macht immer Spaß, sich mit dem Kollegen Tauss auseinander zu setzen.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich weiß gar nicht, warum ihr heute alle so liebenswürdig seid. ({0}) Übrigens habe auch ich damals in diesem Hause gegen dieses Telekommunikationsgesetz gestimmt. Ist Ihnen bekannt - möglicherweise ist es mit anderen Motiven zu verbinden -, dass ich diese Ablehnung damals - ich war einer der ganz wenigen - mit der Aussage verbunden habe, es fehle an einem zukunftsgerichteten Universaldienst, der genau auf die Belange der Informationsgesellschaft ausgerichtet ist und sich nicht allein, wie Sie es gemacht haben, rückwärts gerichtet an der Sprachtelefonie orientiert. Können Sie sich vorstellen, dass die Ablehnung des TKG unter diesen Gesichtspunkten in einigen Bereichen vielleicht doch ganz sinnvoll gewesen ist und dass wir es damals hätten besser machen können?

Elmar Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich spüre durch Ihre Formulierung schon, dass Ihnen nicht ganz wohl zumute ist, wenn Sie die damalige Ablehnung heute rechtfertigen müssen, Herr Kollege Tauss. Ich habe in all den Verhandlungen, die wir von 1992 bis 1997 geführt haben, eine ganze Menge an Rückschlägen erleiden müssen. Das gilt auch für die Kollegen, die mit uns seinerzeit verhandelt haben. Ich denke auch an die des Koalitionspartners F.D.P. Der frühere Minister Rexrodt war einer von denjenigen, die einige Erwartungen zurückschrauben mussten. Insgesamt haben wir - das wurde mehrfach zum Ausdruck gebracht - im Spektrum der Reihe der Gesetze eine Voraussetzung geschaffen, auf deren Grundlage wir nun in der Tat in der Lage sind - bei all den Abstrichen, die wir alle machen mussten -, eine moderne Entwicklung auf den Weg zu bringen und sie zu beschleunigen. ({0}) Dies darf aber nur mit dem geschehen, was wir uns an Erfahrung aneignen müssen. ({1}) - In der Tat. Ich komme darauf noch zurück, wenn wir über den Bericht der Regierung reden. Zweifellos müssen die Grundlinien unserer Vision deutlich machen, dass wir führend auf dem Mobilitätssektor, dynamisch in der Informationsgesellschaft und effizient in der Produktion werden. Das gehört alles zusammen. Das Rückgrat dieser Informationsgesellschaft ist eine leistungsfähige Kommunikationsinfrastruktur. Hier verfügt die Bundesrepublik Deutschland als eines von wenigen Ländern wirklich über eine hervorragende Ausgangslage, nicht nur, was die Gesetzeslage angeht, sondern auch in Bezug auf die Infrastruktur, die fast flächendeckend ist. Jahr für Jahr werden in die Netze in der Bundesrepublik Deutschland Investitionen in einer Größenordnung von 4 Milliarden DM zur Verbesserung der Technik etc. getätigt. Das ist eine hervorragende Situation, die wir nicht kleinreden sollten. Die ganze Entwicklung zielt darauf ab, dass die PC-Vernetzung auf den Weg gebracht wird. Wenn ich mich in den Veröffentlichungen richtig informiert habe, dann ist in Bezug auf Netz- und Ausbaukapazitäten inzwischen von Terabyte die Rede. Das deutet darauf hin, dass unsere Voraussetzungen ganz hervorragend sind. Es gibt aber auch Nachholbedarf. Die Deutsche Telekom, die sich derzeit mit der Veräußerung oder auch Nichtveräußerung des Fernsehkabelnetzes beschäftigt, muss nun wirklich gezwungen werden, dieses Breitbandnetz endlich auf den neuesten technischen Stand zu bringen und so dem Verbraucher zur Verfügung zu stellen. ({2}) Elmar Müller ({3}) Ich sage das ohne Vorwurf. Wir hatten das gleiche Problem schon einmal. Der Bund ist der Hauptaktionär bei dieser Gesellschaft. Er muss die Verantwortlichen, die Vorstände und die Aufsichtsräte dieser Gesellschaft, endlich zwingen, dass sie dieses Netz dem Verbraucher zur Verfügung stellen. Dieses Netz hat nicht die Telekom bezahlt, sondern der Bürger. Deshalb muss es ihm auch wieder in einem Ausbaustandard zurückgegeben werden, der interaktiven Ansprüchen gerecht wird. Meine Damen und Herren, die Zahlen sind zum Teil schon genannt worden: Das Verhältnis zwischen Deutschland und den USA beim Netzzugang per PC beträgt etwa 1 : 3. Der Anteil der Haushalte mit Onlineanschluss entweder via Modem oder ISDN liegt in den USA etwa dreimal höher als in der Bundesrepublik Deutschland bzw. in Europa. Hier müssen wir immer wieder nachrechnen. Gleichwohl registrieren wir, dass die in der Bundesrepublik installierte Rechenleistung in der Tat Jahr für Jahr um etwa 50 Prozent zunimmt. Das ist eine hervorragende Zahl, die ich Ihnen hier nennen kann. Dabei ist die Furcht mancher völlig unbegründet, die durch Angstparolen hervorgerufen wurde, die suggerierten, dass jeder in der Welt der neuen Berufe Tätige ein kleiner Einstein sein müsse. Das ist nicht so. Ich möchte dazu ein Beispiel nennen. Nach T-Online ist AOL Deutschland der größte Internetanbieter. Vor vier Jahren hat diese Gesellschaft in Deutschland begonnen. Sie beschäftigt heute etwa 1100 Mitarbeiter in der Bundesrepublik Deutschland. Von diesen 1100 sind etwa 800 man höre und staune - ausschließlich in der Kundenbetreuung tätig, also in einem Bereich, den wir als Dienstleistungssektor bezeichnen, und nur der Rest, etwa ein Drittel, ist für Verwaltung oder das Web-Design zuständig. Neben denen, die als Informatiker, Techniker oder Ingenieure tätig sind, gibt es also eine ganze Reihe von Berufen, die an traditionelle Berufsfelder anknüpfen. Ich möchte ein weiteres Beispiel nennen; es fußt auf den Erfahrungen der letzten Wochen. Wir haben im letzten Jahr in den USA eine Entwicklung verfolgen können, die dazu führte, dass mittlerweile etwa 25 Prozent aller Haushalte ihren täglichen Bedarf über das Internet bestellen. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es erst wenige Firmen, die die sich daraus ergebenden Chancen nutzen. Dazu zählt beispielsweise das große Versandhaus Otto, das sich als Erstes mit diesen neuen Möglichkeiten beschäftigt hat. Wenn es stimmt, was ich gelesen habe, ist dieses große Versandhaus das einzige, das im letzten Jahr einen gehörigen Umsatzzuwachs erzielte. Das Gleiche gilt für einen Lebensmittelanbieter, der zu Weihnachten ebenfalls eine Bestellmöglichkeit via Internet mit einer Lieferung am nächsten Tag und einer Zustellgebühr in Höhe von 10 DM seinen Kunden angeboten hatte. Er ist, wie ich hörte, regelrecht von Kunden überrannt worden, die ihren täglichen Bedarf auf diese Weise abdecken wollten. Die Entwicklung kommt also in Gang. Wir liegen aber noch weit hinter dem zurück, was woanders bereits Standard ist. Mit dieser Entwicklung sind aber auch Nebeneffekte verbunden. So besteht selbst im Bereich der Zustelldienste die Möglichkeit, dass künftig neue Berufe entstehen und Einsteiger die Chance haben, ebenfalls an der Entwicklung teilzunehmen. Durchaus erfreut war ich, dass die Bundesregierung in ihrem Bericht das IuKDG oder Multimedia-Gesetz nach zwei Jahren insgesamt als gut bewertet. Dieses Gesetz, das übrigens federführend von Jürgen Rüttgers in der vergangenen Legislaturperiode auf den Weg gebracht wurde, ({4}) stellt sich nun als so gut heraus, dass die Bundesregierung in ihrem Zwischenbericht nicht einmal die Empfehlung ausspricht, Änderungen rasch auf den Weg zu bringen. Es gibt zwar einige Dinge, die sie theoretisch auf den Weg bringen möchte; aber sie nennt dafür keine Termine. ({5}) - Herr Tauss, ich weiß, dass Sie einer derjenigen sind, der darauf drängt. Es ist in einigen Bereichen in der Tat notwendig nachzubessern. Nicht umsonst hat der Bundestag im Sommer 1997 festgelegt, er wolle nach zwei Jahren einen Zwischenbericht haben und werde nach Auswertung des Zwischenberichts Überlegungen darüber anstellen, welche Konsequenzen aus den Erfahrungen gezogen werden müssen. Meine Damen und Herren, in einem Punkt sind wir uns in der Union einig - von einigen Mitgliedern der Regierungskoalition wurde gesagt, dass dies auch für sie gelte -: Im Hinblick auf die Medien stellen die Regulierungsinstitutionen einen Hemmschuh dar. Wir müssen daher ohne Denkverbote an eine Reform der Landesmedienanstalten herangehen. Angesichts der Tatsache, dass der einzelne Antragssteller dort bis zu 15- oder 16mal bestimmte Hindernisse zu bewältigen hat, ist es schon erstaunlich, wie weit wir heute schon sind. Aber wir könnten sehr viel weiter sein und die Entwicklung der neuen Medien sehr viel schneller vorantreiben, wenn es diese Bürokratie in den Ländern nicht gäbe. ({6}) Wir müssen sie auf einen modernen Stand bringen. Damit sage ich nichts gegen die im Übrigen positive Struktur in der Bundesrepublik Deutschland. Meine Damen und Herren, zwischen IuKDG und MDStV und dem, was die Arbeit der Medienanstalten ausmacht, gibt es etwas, was uns Sorgen macht. Im Hinblick auf Teledienste und die allgemeine Medienversendung muss die Schnittstelle definiert werden. Dies geschieht vielfach durch Gerichte. Aber das ist zu wenig; darauf können wir uns nicht stützen. ({7}) Wir müssen hier eine Lösung finden. Das Gleiche gilt in der Gesetzgebung für das, was bezüglich der Hyperlinks in einem Urteil abzulesen war: Einer der Anbieter wurde für Inhalte verantwortlich geElmar Müller ({8}) macht, für die er nicht verantwortlich gemacht werden konnte. Gott sei Dank wurde dies im Berufungsverfahren zurechtgerückt. Aber in der Gesetzgebung muss darauf geachtet werden, dass die Anbieter im zweiten Hyperlink nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. ({9}) Das stellt ein erhebliches Hemmnis dar; hier ist eine Änderung notwendig. Im Hinblick auf den Datenschutz dürfen wir nicht zu einer Überregulierung kommen; wir sollten möglichst sogar zu einer nur geringen Regulierung kommen. Es kann nicht sein, dass dem Einzelnen vorgeschrieben wird, dass er nicht irgendwelche Anbieter beauftragen dürfe, ihm zu irgendeinem Thema Angebote zukommen zu lassen. Das muss in der Entscheidungskompetenz des Einzelnen liegen. Dazu brauchen wir keinen Datenschutz. Der Staat hat das Konsumverhalten des Einzelnen nicht zu regulieren. ({10}) Herr Präsident, ich komme sofort zum Schluss. - Das Gleiche gilt, meine Damen und Herren, für die Preisauszeichnung. Ich halte es für ein positives Phänomen, dass es in den USA seit einigen Jahren Versteigerungen über das Internet gibt. So etwas beginnt bei uns inzwischen auch. Dies zeigt, dass eine Preisauszeichnungspflicht illusorisch wäre. Abschließend weise ich darauf hin, dass das, was die Koalitionsfraktionen mit ihrem Antrag erreichen wollen, noch einmal überdacht werden sollte.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Müller, ich bitte Sie, jetzt doch zum Schluss zu kommen. Sie haben Ihre Redezeit bereits erheblich überschritten.

Elmar Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie dürfen nicht heute schon sagen, dass alles reguliert werden soll. Wer alle Risiken ausschließen will, schließt auch alle Chancen aus. ({0}) Dieser Antrag der Koalition ist wirklich fehl am Platze. Danke schön. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzte Rednerin in dieser Debatte spricht nun die Kollegin Monika Griefahn für die SPD-Fraktion.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich halte die gemeinsame Euphorie für die neuen Medien am Anfang des neuen Jahrtausends für ganz erfrischend. Ich will aber auf einen Punkt hinweisen: Als ich 1990 mein Ministerium in Niedersachsen - Sie, Herr Hirche, waren dort sehr aktiv, um die Dinge voranzubringen - übernommen habe, habe ich Abteilungen vorgefunden, die verschiedene Computersysteme hatten, die also noch nicht einmal Disketten austauschen konnten, um zum Beispiel Papiere abzugleichen. Auf der anderen Seite habe ich in einer Nichtregierungsorganisation schon 1983 ein vernetztes Kommunikationssystem eingeführt. Insofern kann man nicht sagen, Herr Hirche, bei Ihnen in Niedersachsen sei schon alles prima gelaufen. Die neuen Herausforderungen, mit denen wir uns in der Medienpolitik im 21. Jahrhundert beschäftigen, beschränken sich eben nicht nur auf die Schaffung des Ordnungsrahmens, der hier schon mehrfach angesprochen worden ist. Deshalb denke ich - ich möchte in diesem Zusammenhang den Kollegen Fell unterstützen -, dass es auch um die beiden gesellschaftlichen Leitbilder gehen muss, wie sie in unserem Antrag „Strategie für eine Nachhaltige Informationstechnik“ dargestellt sind. Es geht zum einen um die nachhaltige Entwicklung, über die wir schon vorhin diskutiert haben, und es geht zum anderen darum, die Informationsgesellschaft damit so zu verbinden, dass sowohl ihre Entwicklung als auch die nachhaltige Entwicklung weltweit politisch und wirtschaftlich möglich sind. Wir müssen sozusagen den Rahmen vorgeben und klare Definitionen setzen. Es ist wichtig, dass uns dieser Prozess nicht entgleitet; ansonsten wären wir überflüssig und wir bräuchten kein Parlament mehr. Ich denke, darin liegt unsere Aufgabe. ({0}) Die in der Debatte über die Informationsgesellschaft und über die neuen Medien viel strapazierten Begriffe wie Multimedia, Wissensgesellschaft, virtuelle Welten, Datenautobahn, Internet und E-Mail schweben noch für viele Menschen - das haben wir auch an den Prozentzahlen gesehen, die hier mehrfach genannt worden sind; Hubertus Heil hat von den 9 Prozent gesprochen, die heute an das Internet angeschlossen sind - sozusagen im Cyberspace. Wenn man sieht, dass auch gestandene Intellektuelle wie Hans Magnus Enzensberger meinen, es handele sich um die digitalen Evangelisten, die sich jetzt in den Vordergrund schieben, dann muss man die vorgebrachten Argumente zumindest ernst nehmen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Unser Aktionsprogramm leistet dies und trägt zur Aufklärung bei. Aber ich denke, dass Hans Magnus Enzensberger Recht hat - der Kollege von der PDS hat das ebenfalls vorhin gesagt -: Wer Cybersex für Liebe hält, der ist reif für die Psychiatrie. ({1}) Das kann ich nur bestätigen. Ich denke, dass wir unsere Kommunikation und unseren Umgang miteinander nicht nur auf das Internet und die Computertechnik beschränken können; wir müssen auch noch etwas direkt miteinander zu tun haben. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, für den diese Bundesregierung etwas tut. ({2}) Elmar Müller ({3}) - Nein, es war eindeutig Herr Seifert, der diesen Punkt in einer Zwischenfrage angesprochen hat. Was in der öffentlichen Debatte bei aller Euphorie ebenfalls zu kurz kommt, ist der Aspekt der Verträglichkeit angesichts der Vielfalt der neuen Geräte, die man sich anschaffen muss. Damit wird eine weitere Herausforderung an uns gestellt; denn es reicht nicht aus, nur einen PC zu besitzen. Man braucht auch noch ein Modem, einen Drucker und vielleicht noch zusätzlich ein Faxgerät. Das heißt: Man braucht zusätzliche Geräte, die neue Ressourcen verschwenden und Energie verbrauchen. Frau Caspers-Merk hat heute Morgen in der Debatte zur Nachhaltigkeit deutlich gesagt, dass wir in unserer technisierten Welt mehr Energie in Form von Strom und Wärme verbrauchen und nicht weniger. Den Umschwung haben wir noch nicht geschafft. Darin liegt die Herausforderung. ({4}) Es reicht eben nicht, beispielsweise Verordnungen zur Entsorgung von Elektronikgeräten und Altautos zu erlassen, wie sie vor Jahren diskutiert wurden. Es reicht auch nicht, einzelne Produkte ein bisschen effizienter zu machen. Es geht vielmehr darum, auch neue Vorstellungen und Visionen zu entwickeln, die uns helfen, das Bewusstsein dahin gehend zu verändern, dass Multimedia und Ökologie eine Einheit bilden. Es darf nicht sein, dass sich die einen nur um Multimedia und die anderen nur um Ökologie kümmern. Diese beiden Bereiche müssen sozusagen organisch zusammenhängen. Das fängt eben bereits in der Ausbildung an, und zwar schon im Kindergarten. Herr Kollege Fell hat ja darauf hingewiesen, dass die Kinder heute zum Beispiel denken, die Spaghettis wachsen auf den Bäumen. Die Kinder kennen mehr Automarken oder mehr Internetadressen als zum Beispiel Pflanzennamen. Ich glaube, beides ist notwendig, um Produkte so zu entwickeln wie wir es schon 1992 gemeinsam mit der Firma Hewlett-Packard getan haben -, dass Computer aus einem einzigen Material bestehen und nicht geklebt oder geschraubt, sondern nur gesteckt werden und auseinander genommen werden können. ({5}) Die Menge dessen, was trotz immer kleiner werdender elektronischer Geräte weggeschmissen wird, belastet unsere Umwelt doch in höchstem Maße, einmal durch den Ressourcenverbrauch und zum Zweiten durch die Materialien, die dann in der Umwelt landen. Unterschätzen Sie das nicht: Wenn die Ressourcen weg sind, dann ist es zu spät. Deshalb müssen wir jetzt die Designer, die Architekten, die Menschen, die solche Produkte konstruieren, erst so ausbilden, dass sie sagen: Wir machen ein schickes Gerät, wir machen ein ökologisches Gerät und wir machen das, was Hartmut Vogtmann, der neue Chef des Bundesamtes für Naturschutz, gesagt hat: Wir kommen aus der Verbotsecke raus, es muss Spaß machen, mit den neuen Geräten im Internet zu sein. - Beides gehört zusammen und das ist, so glaube ich, der entscheidende Punkt. Dafür wollen wir uns mit unserem Antrag einsetzen. Die Bundesregierung hat dies aufgenommen. Dazu gehört natürlich auch noch, dass wir es gleichzeitig hinkriegen, dass der Missbrauch dieser Medien durch Rechtsextremismus, durch organisierte Kriminalität, durch Pornografie verhindert wird. Auch das ist unser Job, den wir nicht unterschätzen dürfen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Griefahn, Sie haben Ihre Redezeit weit überschritten.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, okay, nur noch ein Satz. - Die Euphorie der Zusammenbindung, der Zusammenschluss von AOL und Time Warner wurde eben erwähnt. Dazu kann ich nur meinen ehemaligen Kollegen aus dem Bundestag, Peter Glotz, zitieren, der ges- tern dazu sagte: Eigentlich passen die nicht zusammen; das ist ein Zusammenschluss wie eine Ehe zwischen Seehund und Hund. ({0}) Das kann eigentlich nicht die alleinige Zielperspektive sein, vielmehr müssen wir zum Ziel haben, dass die kleinen und vielfältigen Einheiten erhalten bleiben; denn dies schafft Arbeitsplätze. Dies ist etwas, was mit diesen ganzen Initiativen, die im Aktionsprogramm genannt werden, auch vorangebracht wird. Ich bin dafür auch sehr dankbar. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/1191, 14/1776, 14/2362 und 14/2390 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Überweisung im vereinfachten Verfahren Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Wehrsoldgesetzes ({0}) - Drucksache 14/2498 Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf der Drucksache 14/2498 zur federführenden Beratung an den Verteidigungsausschuss und zur Mitberatung an den Innenausschuss zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen jetzt zur Beschlussfassung über Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Innenausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau und der Fraktion der PDS Sofortiger unbefristeter Abschiebestopp für Flüchtlinge in die Türkei - Drucksachen 14/331, 14/2391 Berichterstattung: Abgeordnete Rüdiger Veit Dietmar Schlee Marieluise Beck ({2}) Dr. Max Stadler Ulla Jelpke Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/331 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN, gegen die Stimmen der PDS, bei Enthaltung der F.D.P.Fraktion. Ich komme zu Tagesordnungspunkt 7: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung des arbeitsgerichtlichen Verfahrens ({3}) - Drucksache 14/626 ({4}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({5}) - Drucksache 14/2490 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Thea Dückert Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen! - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der F.D.P. angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der zweiten Beratung angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P. Haltung der Bundesregierung zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes Ich gebe für den Antragsteller dem Kollegen Jürgen Möllemann das Wort.

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor der Bundestagswahl hat die SPD mitgeteilt, sie werde für den Fall, dass sie mit dem Regierungsauftrag versehen werde, die Ausgaben für Bildung, Wissenschaft und Forschung verdoppeln. ({0}) Auf unsere interessierte Nachfrage wurde dann etwas einschränkend gesagt, man werde die Investitionen für Bildung, Wissenschaft und Forschung verdoppeln, allerdings ohne zu erläutern, wo der genaue Unterschied zwischen Ausgaben für Bildung, Wissenschaft und Forschung und den Investitionen liegt. Auf die Nachfrage nach der Bundestagswahl, die von der SPD nicht zuletzt auch mit diesem Versprechen an die junge Generation und die am Bildungsbetrieb Interessierten gewonnen wurde, hieß es dann, man werde die Zukunftsinvestitionen für Bildung, Wissenschaft und Forschung verdoppeln. Man ahnte schon - ich weiß, dass ich das in den Debatten immer wieder nachgefragt habe -, dass nach und nach aus diesem Versprechen eine Enttäuschung werden würde. ({1}) Wenn man sich die Haushalte, die seither eingebracht und verabschiedet wurden, anschaut, lässt sich das auch nachlesen. Im ersten Jahr gab es zunächst eine durchaus spürbare Steigerung. ({2}) Diese war allerdings bei weitem nicht so spürbar, dass diese mit vier multipliziert in dieser Legislaturperiode eine Verdoppelung ergeben hätte. Diese wurde aber schon in der Bereinigungssitzung wesentlich reduziert. Beim zweiten Haushalt gab es dann die große Enttäuschung, weil von einer wirklichen Steigerung keine Rede mehr sein konnte. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben den Wahlkampf mit dem Argument geführt, die frühere Koalition habe nicht genug getan. ({4}) - Darüber kann man streiten. Aber wer dieses Argument vorträgt und es zum wahlentscheidenden Kriterium macht, muss sich anschließend daran messen lassen. ({5}) Vizepräsident Rudolf Seiters Sie haben sich nicht daran gehalten. Von einer Verdoppelung der Bildungsausgaben konnte in den ersten beiden Jahren Ihrer Amtszeit tendenziell nicht die Rede sein. Ich weiß nicht, von wem das Zitat ist, aber es ist nicht so schlecht: „Gebrochene Versprechen sind gesprochene Verbrechen.“ Sie haben Ihr Versprechen gebrochen. Das Zweite passiert jetzt. Sie - die Grünen übrigens auch - haben vor der Wahl in Ihrem Wahlprogramm gesagt, es werde das Drei-Körbe-Modell geben. Wir bringen einen entsprechenden Entwurf hier ein, weil er mit gewissen Modifikationen in seinen Grundstrukturen durchaus vernünftig ist. ({6}) Sie reagieren darauf mit einer Verzögerungsargumentation, indem Sie sagen, man müsse noch den Familienleistungstungsausgleich usw. gestalten. Dann haben Sie die Idee, dies auch umzusetzen. Ich glaube, Frau Bulmahn, dass Sie wirklich die Idee hatten, die Investitionen zu verdoppeln. Aber Sie durften nicht, weil der Kanzler sich nicht auf Ihre, sondern auf die Seite seines Finanzministers gestellt hat. Dann haben Sie die Idee, das Drei-Körbe-Modell zu machen. Aber Sie sind zur Klausurtagung Ihrer Fraktion gekommen und haben sich vom Kanzler sagen lassen müssen, dass es mit ihm nicht gehe. Das kann einem passieren; aber Sie dürfen sich nicht wundern, wenn wir hier eine Bildungsministerin nicht mehr so ganz ernst nehmen können, die uns unablässig etwas ankündigt, was anschließend von ihrem Kanzler mit einem Federstrich zur Seite geräumt wird. Frau Bulmahn, Sie haben im Kabinett nichts zu sagen. Das ist das Problem, ({7}) und das ist der Unterschied zwischen Worten und Taten, der die jungen Menschen und auch die anderen, die daran interessiert sind, deren Eltern, deren Lehrer und Hochschullehrer, so enttäuscht. Sie haben enttäuscht und Sie versuchen jetzt, mit einer Scheinlösung, mit einer kleinen Lösung, ({8}) mit einem Trick den Eindruck zu erwecken, als kämen Sie auch nur in die Nähe dessen, was Sie versprochen haben. ({9}) Sie tun es nicht. In der Überschrift Ihrer heutigen Presseerklärung sprechen Sie von 1 Milliarde DM und tun so, als würden Sie 1 Milliarde DM zusätzlich ausgeben. ({10}) - Mit anderer Leute Geld kann ich auch gut prahlen. - Sie sprechen von 1 Milliarde DM und meinen 500 Millionen DM aus dem Bundeshaushalt und sagen, die Länder hätten gefälligst eine halbe Milliarde hinzuzutun. ({11}) Das müssen sie bei einer BAföG-Reform auch, wenn sie zustande kommen soll, aber tun Sie nicht so, wenn Sie die Mittel der Länder hinzuzählen, als gäben Sie das Geld dieser Regierung aus. ({12}) Die Wahrheit ist - das ist der Grund, warum wir das hier thematisieren; das mediale Echo ist auch so eindeutig, dass man es gar nicht weiter bekräftigen muss -: Sie haben im Bildungsbereich erneut große Taten angekündigt und Sie passen mit Hut unter der Tür durch, die Ihnen Herr Schröder vor der Nase zugeschlagen hat. Das ist nun wirklich eine Enttäuschung, die wir hier deutlich ansprechen. Frau Pieper wird im Übrigen unser Modell gleich noch erläutern. Vielen Dank. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn. Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung ({0}): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! An dem Ergebnis wird man gemessen, ({1}) und das Ergebnis, das wir heute vorlegen, bedeutet eine Totalsanierung der Ausbildungsförderung. ({2}) Fakt ist: Auch Sie werden an den Ergebnissen Ihrer Regierungspolitik gemessen. Das Ergebnis Ihrer Regierungspolitik, Herr Möllemann, für das auch Sie verantwortlich waren, ({3}) ist, dass das BAföG unter Ihrer Regierung zur Bedeutungslosigkeit verkommen, war, ({4}) dass immer mehr Jugendliche aus finanziellen Gründen sagen mussten: Ich kann nicht studieren. ({5}) Ich stand vor einem Scherbenhaufen, als ich dieses Amt übernommen habe, und die Koalition hat gesagt: Das werden wir so nicht weiter mitmachen, ({6}) sondern wir werden dafür Sorge tragen, dass in Zukunft keine junge Frau und kein junger Mann mehr sagen muss: Ich kann nicht studieren, weil meine Eltern kein Geld dafür haben. ({7}) Genau das werden wir mit diesem Vorschlag wahrmachen. Meine Damen und Herren, wir können es uns nicht leisten, dass Jugendliche aus finanzschwachen Familien vom Studium abgehalten werden. ({8}) Wir müssen alle Potenziale aus unserem Land nutzen. Damit gibt diese Regierung und diese Koalition ein deutliches Bekenntnis dafür ab, dass mehr Jugendliche in diesem Land studieren sollen ({9}) und dass wir in Deutschland gut ausgebildete Menschen brauchen, denn die Zukunft liegt in den Händen gut ausgebildeter Menschen ({10}) und sie hängt ab von den Startchancen, die wir jungen Menschen für ihre Ausbildung geben. ({11}) Deshalb habe ich ein neues BAföG auf den Tisch gelegt, von dem Sie, Herr Rachel, und Ihre Kollegen nur hätten träumen können. ({12}) Dies hat der Bundeskanzler auch ausdrücklich unterstützt und ausdrücklich selbst gesagt. Ich habe ein neues BAföG auf den Tisch gelegt, ein BAföG, das einen wirklichen Neuanfang darstellt, ({13}) ein BAföG, das sozial gerecht ist, ein BAföG, das viele Familien wirklich entlasten wird, ein BAföG, das die Unterschiede zwischen Ost und West aufhebt und den Studierenden den Weg nach Europa frei macht. ({14}) - Es ist durchaus sinnvoll, wenn ich als Studierende, die BAföG erhält, auch die Möglichkeit habe, im Ausland zu studieren. Wenn Sie das nicht begreifen, tut es mir Leid. ({15}) Meine Herren und Damen, die Bundesregierung wird für die Reform der Ausbildungsförderung jährlich zusätzlich 500 Millionen DM mehr zur Verfügung stellen. ({16}) Das hat es in Ihrer Regierungszeit nicht ein einziges Mal gegeben. ({17}) - Ich erwarte schon von Ihnen, Herr Möllemann, dass Sie auch lesen, und zwar richtig lesen. ({18}) So habe ich es in der Presseerklärung auch gesagt. Damit mobilisieren wir insgesamt rund 1 Milliarde DM. Es ist sogar noch etwas mehr.Das wissen Sie genauso gut wie ich. Mit dem Länderanteil und dem Darlehensanteil bedeutet das im Klartext rund 1 Milliarde DM mehr für BAföG. ({19}) - Das steht im Text. Sie müssen anscheinend noch lesen lernen; dabei kann ich Ihnen gerne helfen. Ich habe vorhin gesagt, so etwas habe es in den vergangenen 16 Jahren nicht gegeben. Die bisherigen Ausgaben für die Ausbildungsförderung werden damit für die Jugendlichen erheblich verstärkt. Damit haben wir die Grundlage für einen neuen Anfang geschaffen. Das ist für diese Bundesregierung eine gewaltige Kraftanstrengung; das will ich gar nicht verhehlen. ({20}) Es ist eine gewaltige Kraftanstrengung, dafür so viel mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Damit machen wir deutlich: Bildung hat für uns Priorität. Mehr junge Menschen werden während ihres Studiums finanziell gefördert. Das ist einer der wichtigen Eckpunkte. Wir wollen erreichen, dass das Kindergeld in Zukunft bei der Berechnung des BAföG nicht mehr angerechnet wird. Diesen Vorschlag habe ich schon im Frühjahr gemacht. Ich glaube, dass das jedem einsichtig ist. Das bedeutet, dass wir das BAföG mit den anderen Systemen, wie Sozialhilfe oder Rente, gleichstellen, und das bedeutet, dass in Zukunft jede Kindergelderhöhung in vollem Umfang auch den Familien zugute kommt, die Kinder haben, welche studieren und BAföG erhalten. Genau das wollen wir. Das bedeutet vor allem für Familien mit einem mittleren Einkommen eine deutliche Verbesserung. Wir werden über die Nichtanrechnung des Kindergeldes hinaus auch die Freibeträge deutlich anheben, damit erheblich mehr Jugendliche BAföG-berechtigt werden. Das ist unsere Zielsetzung. Wir wollen nicht, Bundesministerin Edelgard Bulmahn dass das BAföG nur von den Ärmsten in Anspruch genommen werden kann. Es muss seinem Anspruch wieder gerecht werden, eine Ausbildungsförderung für Jugendliche aus einkommensschwächeren Familien zu sein. Wir werden die Bedarfssätze erhöhen. Der Höchstsatz des BAföG steigt von 1030 DM zurzeit auf 1100 DM. Damit haben Studierende zusammen mit dem Kindergeld das, was sie heute tatsächlich zum Lebensunterhalt brauchen und was auch der ständigen Forderung des Deutschen Studentenwerkes entspricht. Künftig wird es eine dauerhafte Hilfe zum Studienabschluss geben, unabhängig von den Gründen, die zur Überschreitung der Förderungshöchstdauer geführt haben. Denn wir sind der Überzeugung, dass es wichtig ist, den Studierenden zu ermöglichen, dass sie ihr Studium erfolgreich abschließen können. Das werden wir damit erreichen und wir werden damit wegkommen von den befristeten Lösungen, die es in der Vergangenheit gab. ({21}) Wir wollen, dass Studierende aus West und Ost in der Ausbildungsförderung gleichgestellt werden. Die noch bestehenden Unterschiede bei der Förderung von Studierenden in den alten und neuen Bundesländern werden aufgehoben. Auch das ist mehr als überfällig. ({22}) Damit haben wir beim BAföG endlich die notwendige Einheit von Ost und West realisiert. ({23}) Wir wollen die Ausbildungsförderung internationalisieren. Junge Menschen haben heute eine berechtigte Forderung an uns, wie ich finde. Sie sagen: Wir wachsen in einem vereinten Europa auf und wir wollen unbeschränkt in Europa studieren können. Mit unserer BAföG-Reform ebnen wir genau dafür den Weg. Wer zwei Semester in Deutschland studiert hat, kann in Zukunft in einem anderen Land in Europa nicht mehr nur zwei Semester, wie bisher, weiterstudieren, sondern kann zum Beispiel nach dem Vordiplom beschließen, in ein anderes Land zu gehen und dort bis zum Ende zu studieren, also auch seinen Abschluss dort zu machen, wenn er es für sinnvoll hält. ({24}) Ich bin davon überzeugt, dass das der richtige Weg ist, denn wir haben inzwischen einen europäischen Arbeitsmarkt. Eine Ausbildung im Ausland hat eine immer größere Bedeutung. Das muss auch für Jugendliche gelten, die BAföG erhalten. Wir wollen doch keine Zweiklassengesellschaft. ({25}) Wir stellen uns mit der BAföG-Reform den neuen Anforderungen der internationalen Abschlüsse - auch das haben Sie nicht gemacht - und des Arbeitsmarktes. Master-Studiengänge, die auf den Bachelor-Studiengängen aufbauen, müssen künftig nicht mehr streng fachidentisch sein, sondern werden auch dann gefördert, wenn sie für den späteren Beruf besonders geeignet sind. Gerade diese Mischqualifikationen werden vom Arbeitsmarkt sehr stark nachgefragt. Deshalb will ich auch hier nicht, dass BAföGStudierende benachteiligt sind. Wir wollen erreichen, dass sie die gleichen Chancen haben wie Kinder und Jugendliche aus Familien, die das Studium ihrer Kinder aus eigenen Mitteln finanzieren. Das ist ein wichtiger Punkt. Denn die Attraktivität dieser Studiengänge, die wir alle wollten und gefordert haben, hängt natürlich auch davon ab, ob wir die Rahmenbedingungen so verändern, dass diese Studiengänge von den Jugendlichen gewählt werden können und dann auch tatsächlich gewählt werden. ({26}) Ein ebenso wichtiges Ziel ist für uns, eine BAföGRegelung zu schaffen, die sowohl für Studierende als auch für Eltern ein Mehr an Transparenz und Verlässlichkeit bietet. Wir wollen daher in Zukunft klare Regelungen im Hinblick auf die Höchstförderungsdauer formulieren. In der entsprechenden Verordnung gibt es zurzeit über 100 Sonderregelungen. Das ist nicht mehr nachvollziehbar und durchschaubar, das ist - leider das Ergebnis Ihrer Regierungspolitik. Denn diese Sonderregelungen haben wir nach dem Regierungswechsel so vorgefunden. ({27}) Deshalb werde ich dafür sorgen, dass dieses komplizierte System, das Sie uns hinterlassen haben, vereinfacht wird, damit jeder erkennen kann, welche Förderungshöchstdauer es gibt. ({28}) Genauso wichtig ist es, die zurzeit existierenden fünf verschiedenen Freibeträge für Kinder und die drei verschiedenen Freibeträge für Eltern zu vereinfachen. Ich frage Sie, wer angesichts von acht verschiedenen Freibeträgen eigentlich noch durchblicken soll. Auch das wollen wir ändern. Deshalb wird das entsprechende Gesetz in Zukunft so gestaltet sein, dass man es auch als normaler Mensch verstehen kann. Es wird so sein, dass man sich das Gesetz durchliest und dann auch weiß, welche Rechte man hat. Genau das ist unsere Zielsetzung. ({29}) - Dieses Modell hat Herr Schröder ausdrücklich unterstützt. ({30}) Bundesministerin Edelgard Bulmahn Die Länder fordern seit Jahren eine BAföG-Reform. Ich mache Ihnen mit diesen Eckpunkten ein Angebot für einen echten Neuanfang, ({31}) der zu einer erheblichen Verbesserung der BAföGRegelungen führen wird. Ich hoffe im Interesse der Jugendlichen, dass dieses Angebot von Ihnen aufgegriffen werden wird. Vielen Dank. ({32})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Angelika Volquartz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Angelika Volquartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, zum Ersten ist festzustellen: Ihr Angebot hört sich nach einem CDU/CSU-Angebot an. Das muss man ganz klar feststellen. ({0}) Zum Zweiten ist zu sagen: Nicht am Ergebnis wird man gemessen, sondern an den Versprechungen. Sie haben Ihre Versprechungen, die Sie während des Wahlkampfes im Jahre 1998 gemacht haben, ganz klar gebrochen. ({1}) Es muss für Sie wirklich erdrückend sein, dass der Bundeskanzler, dessen Landesvorsitzende Sie sind, Ihnen in den Rücken gefallen ist und die Eckpunkte der CDU/CSU-Fraktion unterstützt. Damit hat weder in der Öffentlichkeit noch hier jemand gerechnet. Frau Ministerin, eine Frage: Woher kommen die von Ihnen angesprochenen 500 Millionen DM? ({2}) - Herr Schlauch, verzichten Sie auf diese billige Bemerkung, mit der Sie von Ihren Fehlern ablenken wollen. Kommen die aus Ihrem Haushalt, und wenn ja, wo wird gekürzt? Darauf hätten wir gerne eine Antwort. Ich möchte noch einmal Folgendes deutlich machen: Vor fast einem Jahr, am 26. Februar 1999, hat die Bundesbildungsministerin in diesem Hause ausgeführt - ich zitiere -: Wir werden eine BAföG-Reform durchführen, die auch auf längerfristige Sicht Sicherheit für Studierende aus einkommensschwächeren Familien bietet. Bis Ende letzten Jahres hatten Sie, Frau Bulmahn, ein entscheidungsreifes Konzept angekündigt. Es war nicht zu überhören - das Feuerwerk zum Jahrtausendwechsel war von ausreichender Lautstärke begleitet -, dass dieser Termin ohne das angekündigte Konzept verstrichen ist. Wir haben, obwohl Sie im Sommer letzten Jahres in einer Presseerklärung noch einmal von diesem Ziel gesprochen haben, zur Kenntnis nehmen können, dass die Bildungspolitik der Regierung offenbar weiterhin vom Finanzminister und neuerdings auch vom Bundeskanzler gemacht werden - wir sind gespannt, was in anderen Fragen noch auf uns zukommt - und dass Zusagen der Bildungsministerin in diesem Hohen Hause wenig Bedeutung haben. Bedauerlich ist, dass sich Ihre Politik nicht mehr an den Bedürfnissen der Wählerinnen und Wähler orientiert, wie Sie es zugesagt haben, sondern an Haushaltszwängen. Das nächste Mal müssen Sie sich vor einer Wahl entscheiden und deutlich sagen, was Sie wirklich wollen. Jedenfalls dürfen Sie keine Versprechungen machen, die Sie anschließend absolut nicht halten können. ({3}) Verehrter Kollege Berninger von den Grünen, Sie haben uns in der Debatte im Dezember unsinnigerweise vorgeworfen, dass wir als CDU/CSU-Fraktion in Bezug auf das große BAföG-Reformwerk unflexibel seien und eigentlich den Bremser darstellten; denn alle anderen seien sich einig, dass es eine große Reform geben müsse. ({4}) Heute stellt sich heraus, dass wir der eigentliche Motor dieser BAföG-Reform sind ({5}) und unsere Vorschläge die Kernpunkte der Vorstellungen des Bundeskanzlers - "der Ministerin" kann man kaum mehr sagen - bilden. Wir haben machbare Vorschläge vorgelegt. Wir haben Sie, Frau Ministerin, schon vor Monaten darauf hingewiesen, dass es verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Zahlung eines Ausbildungsgeldes gibt. Scheinbar sind es heute nicht die verfassungsrechtlichen Bedenken, die Sie dazu bewegen, eine Veränderung vorzunehmen; vielmehr ist es schlicht und ergreifend das Machtwort des Kanzlers und des Finanzministers, dem Sie sich beugen müssen. Die verfassungsrechtlichen Bedenken nehmen Sie lediglich als Ausrede. ({6}) Was der Ministerin nicht vergönnt war, das zaubert der Bundeskanzler aus dem Hut mit seiner Ankündigung am Dienstag vor der SPD-Fraktion, den BAföG-Etat zu erhöhen. Richtig ist, was in der gestrigen Ausgabe der „FAZ“ stand: Das BAföG-Theater wird immer peinlicher - In der Tat! Bundesministerin Edelgard Bulmahn ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns nach Ihrer Kehrtwende zügig entscheiden, damit wir schnell weniger Taxi fahrende Studenten haben und endlich Nägel mit Köpfen machen können. ({8}) Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Matthias Berninger vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man muss, wenn man über die BAföG-Reform und die aktuelle Situation redet, zunächst einmal über den Bundeskanzler sprechen. Ich sage Ihnen in diesem Hohen Haus, dass die Begründung des Bundeskanzlers für die Ablehnung einer BAföG-Strukturreform für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nicht akzeptabel ist. ({0}) Die Eltern, deren Kinder studieren, erhalten die staatlichen Transfers nicht zur Finanzierung ihres Hauses, auch nicht zur Finanzierung von Papis Passat, sondern zur Weitergabe an ihre Kinder, damit diese studieren können. Insoweit ist die Begründung des Bundeskanzlers zurückzuweisen. - Das vorneweg. ({1}) Kommen wir nun zur Strukturreform, und zwar zunächst zur Frage des Geldes: Frau Volquartz, wenn man noch einmal eine Reparaturnovelle mit 200 Millionen DM zusätzlich als Beruhigungspille in Angriff genommen hätte, würde ich heute anders reden, als ich es in den nächsten vier Minuten tun kann. 1,2 Milliarden DM werden zusätzlich in das BAföG fließen. ({2}) Durch Maßnahmen der Bundesregierung werden 800 Millionen DM mobilisiert, und zwar weil wir den Zuschussanteil über den Haushalt und darüber hinaus den Darlehensanteil über die Ausgleichsbank finanzieren werden. ({3}) 1,2 Milliarden DM ist die größte Summe, die je für eine BAföG-Novelle ausgegeben wurde. ({4}) 1,2 Milliarden DM sind ein Betrag, von dem wir als Bündnis 90/Die Grünen glauben, dass er für eine Totalsanierung des BAföG ausreicht. ({5}) Ich halte das BAföG, wie es heute ist, für bürokratisch überladen. Es erreicht nicht mehr genügend Menschen. Das kann man an der Zahl der Geförderten ablesen. ({6}) Das BAföG ist für viele ein Graus.Wir wollen es deregulieren; wir wollen Sonderregelungen abschaffen. Das Gesetz muss schlanker, transparenter und für die Leute attraktiver werden. ({7}) Diese Zielsetzung kann erreicht werden, wenn wir die zusätzlichen Mittel mobilisieren. Es ist gefragt worden: Wo kommt das Geld her? Die Antwort darauf ist ein weiterer Grund dafür, warum diese Reform ein Schritt in die richtige Richtung ist. Dieses Geld wird zusätzlich aufgebracht werden; es muss nicht aus dem Etat der Bundesbildungsministerin finanziert werden. ({8}) Die Koalitionsfraktionen haben sich darauf geeinigt, weitere 500 Millionen DM in den Bereich Bildung zu investieren. Damit wird auf die Zukunftsmilliarde eine halbe Milliarde draufgelegt. Trotz Sparpaket, trotz Unternehmensteuerreform ist das ein Signal, ({9}) das deutlich macht, dass Bildung für diese Bundesregierung Priorität hat. ({10}) Ich bin deshalb den Koalitionsfraktionen für diese Schwerpunktsetzung dankbar. ({11}) - Das wird im Jahre 2001 in Kraft treten, unter einer Voraussetzung, ({12}) nämlich der, dass die CDU- oder CSU-geführten Länder, die nicht bereit waren, eine Strukturreform zu machen - übrigens auch ein Grund, warum sie gescheitert ist -, willens sind, ihren Anteil zur Finanzierung beizutragen. ({13}) Eine BAföG-Reform allein wird meiner Meinung nach nicht ausreichen. An dieser Argumentation hat sich nichts geändert. Es gibt Studierende, die sagen: Ich möchte meine Eltern nicht finanziell belasten, während ich studiere; ich möchte das lieber selbst regeln. Sie sind heute gezwungen, erwerbstätig zu sein. Die Koalition hat sich deshalb darauf verständigt, ein neues Förderinstrument einzuführen, das vorsieht, dass den Studierenden Förderung elternunabhängig zugute kommen soll. Mit Bildungskrediten wollen wir es allen ermöglichen, zumindest in bestimmten Studienabschnitten ohne Zwang zur Erwerbstätigkeit elternunabhängig zu studieren. Das ist für mich der erste Schritt hin zu einem Ziel, das Bündnis 90/Die Grünen verfolgen werden, ({14}) nämlich die Errichtung einer Bildungsbank. ({15}) Die Deutsche Ausgleichsbank wird als Bildungsbank künftig eine wichtige Rolle übernehmen, und die Aufgabe des Staates ist relativ klar. Der Staat wird als Ausfallbürge auftreten - denn die fehlende Bürgschaft ist ein Grund, warum Studierende heute etwa bei Banken keinen Kredit bekommen - und der Staat wird in der Ausbildungsphase und der Phase des Berufseinstiegs die Zinszahlungen übernehmen. Das werden wir zusätzlich machen, weil wir sagen: Neben dem BAföG muss es weitere Förderinstrumente geben. ({16}) Einen weiteren Punkt, von dem ich glaube, dass er in die richtige Richtung geht, möchte ich hier noch ansprechen. Über die Hälfte aller Arbeitnehmer wird in 20 Jahren älter als 40 Jahre sein. Die Zahl der 30-Jährigen wird von heute 12 Millionen auf 8 Millionen sinken. Eine Bildungsreform wird nicht mehr nur das Thema Erstausbildung im Blick haben können; wir müssen auch auf die Weiterbildung, auf das lebenslange Lernen schauen. Deshalb hat sich die Koalition darauf verständigt, dass die Bundesregierung eine Expertenkommission einberufen wird, in der über Strukturfragen, über Fragen der Bildungsfinanzierung, die sich in Zukunft stellen, geredet wird und in der Vorschläge erarbeitet werden, die dieser neuen Herausforderung gerecht werden. Bündnis 90/Die Grünen schlagen vor, dass man, weil Bildung so wichtig ist wie ein Dach über dem Kopf, Bildungsvorsorge und Bildungssparen ähnlich fördert wie die Vorsorge für eigenen Wohnraum, wie die Schaffung von eigenem Wohnraum. Das ist ein neuer Schritt, eine neue Reform, von der ich glaube, dass sie jetzt erarbeitet werden muss. Da diese Koalition das Interesse hat, über die Legislaturperiode hinaus strukturelle Reformen im Bildungsbereich voranzubringen, ({17}) bin ich sehr froh darüber, dass wir die Arbeit daran noch in diesem Jahr aufnehmen. Auch das macht deutlich, dass mit der BAföG-Reform die Diskussion über die Zukunft der Bildungsfinanzierung nicht beendet ist, sondern dass sie nur einen Anfang genommen hat und wir damit den Scherbenhaufen aufkehren, den die alte Koalition und auch der damalige Bildungsminister Möllemann uns hinterlassen haben. Ich danke Ihnen. ({18})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Maritta Böttcher von der PDS-Fraktion das Wort.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Es bleibt dabei: Die Enttäuschung und Empörung der bildungspolitischen Öffentlichkeit über das Scheitern der geplanten BAföGReform sind enorm. ({0}) Weit über das übliche Murren sogar der Regierungsjugend hinaus ist ein regelrechter Aufschrei zu vernehmen. Schließlich musste die Bildungsministerin ihren Offenbarungseid allein deshalb leisten ({1}) - ich komme gleich noch auf die Millionen -, weil sie von Bundeskanzler Gerhard Schröder zurückgepfiffen wurde - entgegen den klaren Ankündigungen in der Koalitionsvereinbarung, noch 1999 eine grundlegende Reform der Ausbildungsförderung in Angriff zu nehmen. ({2}) Derartige Versprechungen waren mit dem Rückenwind der studentischen Protestbewegung des Winters 1997/98 auch in die Bundestagswahlprogramme von SPD und Grünen aufgenommen worden. Wenn nun, wie es sich abzeichnet, die Koalition anstelle einer Strukturreform eine abermalige Novelle vorbereitet, also die Bildungsmisere des 20. Jahrhunderts bruchlos in eine Misere des 21. Jahrhunderts überführt, so sprechen die Studierenden zu Recht von einem gebrochenen Wahlversprechen. ({3}) Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen kann mit unserer Unterstützung rechnen, wenn es darum geht, in der Koalition eine Reform der Ausbildungsförderung auf den Weg zu bringen, die diesen Namen auch verdient, die den Erwartungen sowohl der heutigen als auch der künftigen Studentinnen und Studenten entspricht und die die Zahl der BAföG-geförderten Studierenden und ihre Leistungen spürbar verbessert. Sie, verehrter Kollege Berninger, machen sich allerdings unglaubwürdig, wenn Sie sich mit Ihrer berechtigten Kritik am Abrücken der SPD vom Koalitionsvertrag an die Speerspitze der Reformbewegung stellen wollen. Indem Sie die BAföG-Querelen in der SPD postwendend mit einem eigenen Vorhaben zur Errichtung einer „Bildungsbank“ beantworten, wird unverkennbar, dass nicht nur Kanzler Schröder, sondern auch der grüne Koalitionspartner die Bundesbildungsministerin mit ihren ambitionierten Reformplänen im Regen stehen lässt. ({4}) Strategien zur Privatisierung und Individualisierung der Ausbildungsförderungssysteme sind einer wirklichen Reform im Sinne von Chancengleichheit abträglich. Die Fraktion der PDS bedauert, dass die Koalition vom Vorhaben einer strukturellen Reform der Ausbildungsförderung abrückt. Denn mit ihren Plänen hatte sich die Bildungsministerin endlich Reformüberlegungen angeschlossen, die seit vielen Jahren von Organisationen wie dem DSW oder der GEW diskutiert werden und bereits 1996 erstmals auch von der PDS in den Deutschen Bundestag eingebracht worden sind. Kern der bisher geführten Reformdebatte ist die Finanzierung der Ausbildungsförderung aus verschiedenen „Körben“. Ich will dies nicht näher erläutern, da wir alle wissen, worum es geht. Sie wissen auch, dass die angesprochenen Probleme nicht erst seit heute bestehen. - Die existenzsichernde Ausbildungsförderung hat nach den Vorstellungen der PDS-Fraktion zumindest für Kinder von Eltern mit unterdurchschnittlichem Einkommen als Zuschuss ohne Rückzahlungspflicht zu erfolgen. ({5}) An diese Forderung möchte ich hier noch einmal erinnern. Seit dem Herbst 1998 hatte die Bundesregierung die Chance, endlich mit einem sozialen Numerus clausus an den Universitäten Schluss zu machen. Die Koalition hat wertvolle Zeit verspielt. Ich bin durchaus der Auffassung, dass die rechtlichen Unsicherheiten, die mit dem geplanten Ausbildungsgeld verknüpft sind, ernst genommen werden müssen, wenngleich ich zu berücksichtigen bitte, dass die Kanzlerinterventionen gegen die Ausbildungsförderungsreform in erster Linie nicht von juristischen, sondern von politischen Bedenken motiviert waren. Außerdem sind die juristischen Probleme in Bezug auf das Unterhalts- und Steuerrecht nicht neu. Um die Reformpläne der Ministerin beurteilen zu können, wäre es dringend geboten, dass diese dem Deutschen Bundestag, seinem zuständigen Ausschuss sowie der bildungspolitischen Öffentlichkeit endlich zur Kenntnis gegeben werden, und zwar nicht nur auf dem Wege über die Presse, wie es heute geschehen ist. Erst dann ist eine verantwortungsvolle Bewertung der Reformkonzeption der Ministerin für Bildung und Forschung überhaupt möglich. Die mit einer halbherzigen Reform verbundenen auch rechtlichen - Unsicherheiten zeigen gleichwohl schon jetzt, dass wir mittelfristig nicht - in diesem Punkt gebe ich Herrn Kollegen Berninger wieder Recht - um eine grundlegende Erneuerung des Ausbildungsförderungssystems herumkommen, die das bestehende BAföG in das System einer bedarfsdeckenden sozialen Grundsicherung für alle Bürgerinnen und Bürger, also auch für Studierende, überführt. Lassen Sie mich zum Abschluss betonen: Es wird entgegen den vom Kollegen Berninger geweckten Erwartungen keine kostenneutrale Reform der Ausbildungsförderung geben. Eine solche wird auch nicht nötig sein, wenn die versprochenen Gelder - jetzt wird von anderen Summen als heute Morgen gesprochen - wirklich fließen. Ich möchte noch eine Forderung der PDS anfügen: Die jährlichen Darlehensrückflüsse in Höhe von rund 1 Milliarde DM müssen zur Finanzierung der Strukturreform der Ausbildungsförderung bereitgestellt werden. Die Generation der ehemaligen Studentinnen und Studenten, die nach fünf Jahren zur Kasse gebeten wird, darf nicht weiter zum Stopfen der Haushaltslöcher des jeweiligen Finanzministers missbraucht werden. Wir brauchen also schnell eine wirkliche Entscheidung anhand der konkreten Eckwerte, die uns vorliegen, um überhaupt eine Reform, die den Namen auch verdient, wirkungsvoll auf den Weg bringen zu können. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen Ernst Dieter Rossmann von der SPD-Fraktion.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht viele von den Oppositionsparteien machen dieses Thema zu ihrem Herzensanliegen. Ich habe den Eindruck, Sie alle zusammen sehen ziemlich bedeppert aus. ({0}) Sie sehen deshalb bedeppert aus, weil Sie nicht einmal mehr eine einheitliche Linie verfolgen, weil Sie merken, dass Sie sich nur mit Worten bewegen können, aber in der Praxis offensichtlich etwas ganz anderes läuft. Das ist Ihr Dilemma: Sie wenden die Worte hin und her, aber gemessen an den Taten haben Sie schmählich versagt. ({1}) Oder um es umgekehrt zu sagen: Wann gab es zuletzt Taten, aufgrund deren in einem Haushaltsjahr - wie 1999 - 900 Millionen DM für Bildung und Wissenschaft dazugekommen sind? Im Haushaltsjahr 2000 ist der Verfügungsrahmen für Bildung und Wissenschaft um mehr als 300 Millionen DM gesteigert worden. Für die Jahre 1999 und 2000 ist ein Bildungsförderprogramm für arbeitslose Jugendliche im Umfang von 2 Milliarden DM aufgelegt worden. Die Hochschulen können 200 Millionen DM mehr für Baumaßnahmen ausgeben, neben einem Investitionsanreizprogramm für Bildungsinnovationen in Höhe von 200 Millionen DM. Die Mittel für die Nachwuchsförderung weisen Steigerungsraten von 50 bis 60 Prozent auf. Wann hat es das jemals gegeben? ({2}) Deshalb sagen wir aus voller Überzeugung: Was Sie hier angreifen, ist in Wirklichkeit die Geschichte einer Erfolgsministerin. Frau Buhlmann ist eine Erfolgsministerin, ({3}) so wie die ganze Regierung eindeutig die Bildung in den Vordergrund stellt. Wenn Sie es nicht glauben wollen, Herr Möllemann, dann vergleichen Sie unsere Erfolge nicht mit Ihren eigenen. Denn dazwischen war ja noch was: die ungenannten Bildungspolitiker der F.D.P. und dann Rüttgers. Wenn wir das, was wir jetzt mit Blick auf Frau Buhlmann gesagt haben, auf Herrn Rüttgers beziehen wollten, was müssten wir dann sagen? Rüttgers war der Minister, unter dem die Ausgaben für Bildung und Wissenschaft um 1 Milliarde DM zurückgingen, ({4}) unter dem die Jugendarbeitslosigkeit gewachsen ist, unter dem die Ausgaben für die Hochschulen nicht substanziell erhöht worden sind. Rüttgers war der Minister, der immer BAföG-Erhöhungen angekündigt hat, aber bei einer Erhöhung der Bedarfssätze um 6 Prozent und der Freibeträge um 12 Prozent für eine ganze Legislaturperiode stehen geblieben ist. Rüttgers hatte ganz andere Erlebnisse, wenn es denn darum ging, für Bildung finanziell mehr herauszuholen. Sie erinnern sich sicher noch alle daran, als Bundeskanzler Kohl einmal nicht an das jetzt viel diskutierte Geld dachte, sondern an die Bildung. Das war der so genannte „Bildungsgipfel“. Wissen Sie, was daraus geworden ist? - Null. ({5}) Rüttgers bekam überhaupt keine Unterstützung von seinem Kanzler. Wollen wir uns denn beklagen, wenn wir uns für Bildungsinteressen einsetzen, dass mit Kanzler Schröder eine Bildungsministerin die Chance bekam, im Bereich BAföG eine Reform auf den Weg zu bringen, die so viele - auch strukturell wichtige - Elemente enthält, wie Sie sich das nie haben vorstellen können? ({6}) Herr Möllemann, manchmal, wenn Sie den Mund so spitzen, denke ich: Sie können ja auch ganz unterhaltsam sein. Aber irgendwie war Ihre Stimmung heute arg gedämpft. Ich vermute, das hat etwas mit dem Niveau der Plakate zur Bildungspolitik zu tun, die gegenwärtig in Nordrhein-Westfalen hängen und auch für Sie sprechen sollen. ({7}) Es wäre ein Gebot der Ehrlichkeit, zu sagen: Wenn wir jetzt vorankommen, dann nur, weil die gesamte Regierung - vom Kanzler über den Finanzminister bis hin zu den Fachressorts - darin einig ist, Bildung Priorität einzuräumen. Wir kommen voran, weil es zwischen den Koalitionsparteien jetzt eine eindrucksvolle Geschlossenheit gibt, die in Ihrer Regierungszeit offensichtlich nicht vorhanden war. Oder sehen Sie irgendeine Verbindung zwischen dem, was die F.D.P. beantragt, und dem, was die CDU/CSU beantragt? Ich finde das schon frappierend. Aber das erklärt auch, warum es unter Kohl mit Rüttgers offensichtlich nicht vorwärts gehen konnte: Sie hatten überhaupt keinen gemeinsamen Nenner mehr. Die F.D.P. applaudiert für sich, genauso wie die CDU/CSU für sich applaudiert - und SPD und Bündnis 90/Die Grünen tun etwas für die Studenten, tun etwas für die Auszubildenden, machen eine Bildungsreform. ({8}) Das sind strukturelle Elemente. Wo die Ausbildungsförderung unter Möllemann und Rüttgers um die Hälfte zurückging, gibt es jetzt wieder einen Weg, der nach oben führt: deutlich mehr Geförderte, vor allem in dem Bereich, in dem es materiell wehtut. Und was die Nichtanrechnung des Kindergeldes angeht, haben wir auch noch Übereinstimmung erzielt. Was gibt es weiter für die Studenten? Im letzten Jahr haben wir mit der 20. Novelle die Sauerei, dass Auslandsstudien nicht mehr gefördert wurden, zum Teil repariert. Jetzt geht es einen gewaltigen Schritt nach vorne: Das Auslandsstudium wird sozusagen anerkannt und voll in die Förderung einbezogen. Das ist etwas strukturell Neues. Ich meine, das ist wirklich Zukunftsorientierung, die sonst von Ihnen immer nur mit Worten beschworen wird. ({9}) Schließlich gibt es endlich Fairness in Bezug auf den Studienabschluss. Das konnte Studenten in der Vergangenheit arg beschweren. Wir werden Gelegenheit haben, zusammen ein gutes Gesetz zu machen. Herr Möllemann, wenn Sie schon mehr als nur Plakate lesen, dann haben Sie vorhin die Regierungspresseerklärung gelesen. Darin steht wortwörtlich: Zusammen mit dem Anteil der Länder und der Deutschen Ausgleichsbank können so rund 1 Milliarde Mark für die Verwirklichung des Rechts auf Bildung mobilisiert werden. ({10}) Das ist ein Angebot. Das ist auch eine Aufforderung zum Pragmatismus. Denn in 20 Jahren redet man nicht mehr davon, ob es eine SPD- oder eine CDU-BAföGReform war. Man wird davon reden, ob das die Wiederbelebung des BAföG war. Wir haben jetzt die Chance, dies mit der SPD-Regierung, den SPD-Ländern und den CDU-Ländern gemeinsam hinzubekommen. Deshalb ist heute ein guter Tag für die Auszubildenden und für die Studenten in Deutschland. Dies ist ein Tag, an dem das BAföG wieder Zukunft bekommt. Danke schön, Frau Ministerin! ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Cornelia Pieper von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die BAföG-Reform ist Chefsache, also Sache des Kanzlers. Wir führen hier eine Aktuelle Stunde und ich vermisse den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, der sich als Kanzler für Innovation und Bildung versteht. ({0}) Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, was Sie heute im Deutschen Bundestag geboten haben, indem Sie die Katze aus dem Sack lassen und sagen, dass es keine Strukturreform beim BAföG geben wird ({1}) - hören Sie ruhig zu, das wird Ihnen gut tun; vielleicht lernen Sie noch etwas dazu -, ist, denke ich, ein Vertrauensbruch gegenüber den jungen Menschen in diesem Land. Sie haben ihnen diese Strukturreform nicht nur vor der Wahl, sondern auch in Ihrer Koalitionsvereinbarung und bis zuletzt versprochen. Ich bezeichne das als Schwindelei, was hier im deutschen Parlament gegenüber den Wählern gemacht worden ist. Das können wir so nicht hinnehmen. ({2}) Frau Ministerin, Sie haben heute in der Bundespressekonferenz erklärt, die Bundesregierung werde - das steht hier in der Überschrift schwarz auf weiß zu lesen „insgesamt 1 Milliarde DM zusätzlich“ in die Ausbildungsförderung investieren. „Die Bundesregierung“ steht da. Sie haben dann klargestellt: 500 Millionen DM kommen zusätzlich vom Bundesfinanzminister. Woher die da kommen sollen, weiß ich nicht. Ich möchte Sie daran erinnern, dass wir bei den Haushaltsberatungen 2000 die Summe von 550 Millionen DM, die ursprünglich für das BAföG eingestellt war, gestrichen haben. ({3}) Sie haben sich diese 550 Millionen DM vom Finanzminister streichen lassen. Jetzt kriegen Sie 500 Millionen DM zurück. Das ist keine zusätzliche Bundesausbildungsförderung. Dieses Geld gehört eigentlich sowieso in diesen Haushalt; dieses Geld sollte dem Anschub einer BAföG-Reform dienen. ({4}) Meine Damen und Herren, alle Bildungsexperten der Bundesrepublik Deutschland sind sich über eine echte Strukturreform bei der Bundesausbildungsförderung einig. Verfassungs- und Steuerrechtler haben die Sockelförderung, also die direkte Auszahlung eines monatlichen Betrages an die Studenten und Auszubildenden, geprüft und für vereinbar mit dem letzten Familienurteil des Bundesverfassungsgerichts erklärt. Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang unter anderem das Studium eines Gutachtens von Professor Dr. Wieland von der Universität Bielefeld empfehlen -, der übrigens auch Berater des Bildungsausschusses des Deutschen Bundestages gewesen ist -, in dem er dies klarstellt. Wir stellen Ihnen dieses Gutachten gerne zur Verfügung. Wir bekommen von Ihnen ja keine Gutachten, also müssen wir uns diese selber besorgen. Ich finde es schon sehr befremdlich, wenn man als Abgeordnete dieses Hohen Hauses nicht alle Informationen zur Beratung einer Gesetzesvorlage zur Verfügung gestellt bekommt. ({5}) Meine Damen und Herren von der Fraktion der Grünen, ich wundere mich sehr: Herr Berninger macht Äußerungen, die zuerst sehr sympathisch klingen. ({6}) „Richtige Analyse, aber falsche Schlussfolgerungen“, kann ich dazu nur sagen. Ich weiß nicht, wie viele Kröten Sie in dieser Koalition noch schlucken müssen. Eigentlich müsste sie angesichts der vielen Kröten, die Sie geschluckt haben, schon geplatzt sein. Bis gestern haben Sie in allen Interviews noch erklärt, dass Sie auf einer echten Strukturreform bezüglich des BAföG insistieren würden. Für diese Strukturreform treten Sie jetzt nicht mehr ein. Das, was die Ministerin vorgelegt hat, ist keine Reform, auch kein Reförmchen, sondern eine Mogelpackung. Sie bleiben beim alten System. ({7}) Die Grünen sind eine Umfallerpartei. Herr Berninger hat zu Recht gefragt: Warum werden eigentlich in dieser Republik 27-Jährige wie 14-Jährige behandelt, und warum können sie den Sockelbetrag nicht ausgezahlt bekommen? ({8}) Ich stimme Ihnen in dieser Frage zu. Aber dann lassen Sie es uns endlich tun. Mit 18 Jahren hat man in Deutschland alle Rechte und Pflichten. Aber wahrscheinlich traut der Staat den jungen Menschen nicht zu, mit einem bestimmten Betrag ihren Lebensunterhalt eigenständig zu finanzieren. Wie können Sie dann angesichts eines solch geringen Maßes an Vertrauen in die jungen Leute in diesem Land mehr Eigenverantwortung und Eigeninitiative verlangen? Ich möchte Ihren Juso-Chef, Benjamin Mikfeld, zitieren. ({9}) - Man soll auch hin und wieder andere für sich sprechen lassen. Das tut der Argumentation gut. Ich zitiere: Da frage ich mich dann wirklich, wie ernst die Regierung - damit sind Sie gemeint - junge Erwachsene eigentlich nimmt. Wir haben den Eindruck, da wird die neue Mitte von morgen zurück an Mamas Herd und Mamas Schoß getrieben, wenn gesagt wird, das Geld kann überhaupt nicht den Jugendlichen direkt ausgezahlt werden ... Ich sehe das genauso wie Ihr Juso-Vorsitzender. Ich frage mich, warum Sie nicht für einen Innovationsschub in Ihrer Bildungspolitik sorgen. Im Verlauf der bisherigen Debatte ist schon deutlich geworden: Die Ministerin ist am Machtwort des Kanzlers gescheitert. Eigentlich kann man ihr selbst das gar nicht vorwerfen. Er ist eben kein Kanzler der Jungen, die zu Recht auf die Nutzung der Chancen in einer immer offener werdenden Welt drängen. Die jetzige Regierung macht Bildungs- und Chancengleichheit nicht zur Priorität in der Politik. Dem Fortschritt und den Reformen kann man sich auf Dauer nicht versperren. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Jawohl, Herr Präsident. Deshalb rate ich Ihnen, Frau Bulmahn: Lassen Sie sich nicht weiter unterbuttern! Überdenken Sie Ihr Vorhaben und beschließen Sie nach einer eingehenden Expertenanhörung mit uns gemeinsam endlich eine echte Strukturreform! Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Rednerin gebe ich das Wort der Kollegin Antje Hermenau vom Bündnis 90/Die Grünen.

Antje Hermenau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002673, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Erstens, Frau Pieper: Was hat Sie eigentlich so gepiekt? Es ist völlig unklar, warum Sie sich hier so echauffieren. Ich kann es nicht nachvollziehen. Zweitens. Wenn Sie hier schon solche Reden schwingen und piepersche Thesen zum BAföG aufstellen, dann wäre ich Ihnen dankbar, Sie hätten sich vorher über den Haushalt informiert. Sie kennen die Zahlen nicht. Sie haben unterstellt, wir hätten im Haushalt 2000 500 Millionen DM für das BAföG gestrichen. Das ist lächerlich. Wir haben es lediglich anders finanziert. Für die BAföG-Empfänger ändert sich gar nichts. Das haben Sie nicht verstanden. ({0}) Den nächsten Punkt werden Sie wahrscheinlich auch nicht verstehen, nämlich wie wir die 500 Millionen DM finanzieren wollen, die wir ab 2001 für die Umsetzung der Reform, von der wir sprechen, brauchen. Renate Rennebach [SPD]: Hier gibt es keine schwarzen Kassen!) - Hier gibt es keine schwarzen Kassen. Das ist ein völlig berechtigter Zuruf. Ich sehe in der Finanzierung auch kein Problem; denn wir werden die 500 Millionen DM im Rahmen des Haushalts 2001 finanzieren, der im Herbst erst noch diskutiert wird. Dann können Sie all Ihre Einwände vorbringen. Dann können wir in Ruhe besprechen, wie die 500 Millionen DM finanziert werden. Ich sehe kein Problem; denn die Koalition hat bereits die Prioritäten für die nächste Haushaltsberatung im Bildungsbereich gesetzt. Eines garantiere ich Ihnen: Die 500 Millionen DM werden nicht aus Mitteln für den Hochschulbau finanziert, wie das in den letzten Jahren unter Ihrer Ägide üblich war. ({1}) Die CDU behauptet, wir machten keine Reform. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Natürlich werden die jungen Leute mehr und mehr wie Erwachsene behandelt und nicht mehr wie die armen kleinen Kümmerlinge. Natürlich werden sie selbstbestimmter arbeiten können das werde ich gleich ausführen -, sie werden flexibler über ihre Lebensplanung verfügen können und sie werden endlich auch internationale Studien aufnehmen können, indem ihnen ein Studium im Ausland wieder möglich ist, was ich für ganz wesentlich halte. Wir haben in Deutschland keine Chancen, wenn wir im Bildungsbereich immer nur vor uns hinschmoren. Wir müssen ganz einfach auch das Studieren im Ausland ermöglichen. Vor diesem Hintergrund wundere ich mich, dass die PDS noch einmal mit dieser abgestandenen These vom sozialen Numerus clausus aufgetaucht ist. Ich weiß nicht, was es mit einem sozialen Numerus clausus zu tun hat, wenn das Kindergeld nicht mehr angerechnet wird. Wenn die Freibeträge und die Bedarfssätze angehoben werden, dann weiß ich ebenfalls nicht, was das mit einem sozialen Numerus clausus zu tun hat. Sie müssen sich besser informieren. ({2}) Jetzt reden wir einmal über diese Strukturreform, die wir - ich gebe zu: mit einer gewissen Mühe - auf die Beine gestellt haben. Also: 500 Millionen DM kommen dazu. Das heißt, 400 Millionen DM werden vonseiten der Bundesregierung als Zuschuss gegeben und 100 Millionen DM wird die Deutsche Ausgleichsbank zur Verfügung stellen müssen, um Zins und Ausfallbürgschaften zu übernehmen. Wenn man das zusammenrechnet und überlegt, was die Ausgleichsbank ungefähr finanzieren kann - in der Summe noch einmal ungefähr 400 Millionen DM -, dann kommt man locker auf 800 Millionen DM, die zusätzlich zur Verfügung stehen werden. ({3}) Nimmt man noch den Länderfinanzierungsanteil dazu, dann ist man schon bei über 1,2 Milliarden DM. Das übrigens, meine Damen und Herren von der CDU, entspricht exakt der Summe, um die die BAföGFinanzierung des Bundes von 1992 bis 1998 abgesenkt worden ist. ({4}) Wenn wir schon bei solchen Vergleichszahlen sind: Innerhalb von zwölf Jahren, von 1982 bis 1994, ist der Anteil der Studis aus niedrigen Einkommensgruppen von 23 Prozent auf 14 Prozent heruntergeplumpst. ({5}) Wir werden das ändern. Es soll unabhängig vom Elterneinkommen - das war der eigentliche Diskussionspunkt in der Koalition - jedem möglich sein, ein Studium aufzunehmen. Dass der Student dabei ein gewisses persönliches Risiko eingeht, indem er eine Mitverantwortung für die Finanzierung seines Studiums übernimmt, indem er kreditfähig ist, halte ich für ein Moment der Selbstbestimmung, das ich jedem jungen Menschen nur wünschen kann. ({6}) Denn junge Leute, die nicht in der Lage sind, über ihr Leben selbst zu entscheiden, haben wir leider genug. Ich bin sehr dankbar für alle aufmunternden und mutigen Schritte in dem Bereich. Ich denke, wir haben ein gutes Stück präsentiert. Wir haben darauf hingewiesen, dass es eine Kommission geben wird. Man wird noch einmal über alle Punkte einzeln sprechen: über die Bildungsbank und über Bildungskredite. Wir werden über das lebenslange Lernen sprechen müssen. Sie können sich heute entscheiden, ob Sie Abstand von dieser Diskussion nehmen wollen, ob Sie sich aus dieser ganzen Debatte verabschieden wollen oder ob Sie sich dafür entscheiden können an diesen Veränderungen - auch produktiv - teilzunehmen. Ich bin der Auffassung: Wir alle würden davon profitieren, wenn Sie sich beteiligen. Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt erteile ich dem Kollegen Thomas Rachel von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rot-grün und Bildungsministerin Bulmahn sind wortbrüchig geworden. ({0}) Im Bundestagswahlkampf haben Sie eine zügige BAföG-Reform versprochen. Im Koalitionsvertrag haben SPD und Grüne zugesagt, ein im Bundestag und im Bundesrat zustimmungsfähiges Konzept bis Ende 1999 vorzulegen. Beide Versprechen aus dem Wahlkampf und aus dem Koalitionsvertrag haben Sie gebrochen. ({1}) Zu Recht schreibt der „Kölner Stadt-Anzeiger“ - ich zitiere -: Es ist schon ein dreistes Stück, wie die Berliner Regierung glaubt mit den Studenten umspringen zu können. Doch der Super-GAU für Bildungsministerin Bulmahn kam erst in diesen Tagen. Erstmalig in seiner Regierungszeit als Bundeskanzler hat Gerhard Schröder von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht und sein Veto gegen das von der Bildungsministerin favorisierte BAföG-Modell eingelegt. Mit einer Handbewegung hat er das Sockelmodell vom Tisch gefegt. Frau Bulmahn, das Veto des Kanzlers gegen Ihre Bildungspolitik ist eine schallende Ohrfeige für Sie als Ministerin. ({2}) Die Begründung Schröders, Kindergeld und Freibeträge seien von den Eltern zur Finanzierung ihrer Häuser fest eingeplant und könnten deshalb nicht an die Studenten ausgezahlt werden, ist abenteuerlich. Schröder leistet dem Missbrauch mancher Eltern Vorschub, die sich ihrer Pflichten entziehen und ihren Kindern den Unterhalt vorenthalten. Für eine solche Begründung sollte man sich schämen. ({3}) Wir Christdemokraten wollen eine zügige BAföGReform, mit der der Anteil der BAföG-Berechtigten auf 25 Prozent ansteigt.Schröder will 500 Millionen DM für Verbesserungen beim BAföG im bestehenden System zur Verfügung stellen. Wir begrüßen diese Entscheidung, im bestehenden BAföG-System zu bleiben, auch wenn der Umfang der nun angekündigten Gelder hinter den von Ihnen geweckten Erwartungen zurückbleibt. ({4}) Die CDU ist der eigentliche Gewinner des Streits, den Sie innerhalb Ihrer Regierung hatten. ({5}) Von der Opposition unter Druck gesetzt haben Sie, Frau Bulmahn, heute Mittag vor der Presse den Kurswechsel beim BAföG angekündigt. Grundpfeiler der heute von Ihnen vorgestellten BAföG-Reformüberlegung ist es, das Kindergeld im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung beim BAföG nicht mehr auf das Einkommen anzurechnen. Genau dies hat die Unionsfraktion im November letzten Jahres mit ihrem Antrag vorgeschlagen. ({6}) Wir begrüßen es, dass die Bundesregierung auf den Kurs der CDU/CSU eingeschwenkt ist. Durch eine solche Reform werden wir die absurde Situation beseitigen, dass jede Kindergelderhöhung den Kreis der BAföGBerechtigten verkleinert. Wir wollen, dass die monatliche BAföGFörderleistung erhöht wird. Zehntausende Studenten hätten bei Umsetzung unserer Vorschläge zusätzlich Anspruch auf BAföG. Wir werden auch den Vorschlag, die Angleichung zwischen alten und neuen Bundesländern vorzunehmen, unterstützen. Der angekündigte Bildungskredit soll den Studenten, die aufgrund des Elterneinkommens kein BAföG beziehen können, als verzinslicher Kredit eingeräumt werden. Das ist offensichtlich das Trostpflaster für die Grünen. Die BAföG-Politik der Grünen und ihr BAFF-Vorschlag sind gescheitert. Die Grünen sind als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet. ({7}) Frau Bulmahn, wir sollten allerdings auch die Kinder aus armen Familien entlasten. Ich vermisse in Ihrem Vorschlag eine soziale Komponente. Die CDU/CSUFraktion hat in ihrem Antrag vorgeschlagen, die Hemmschwelle für Jugendliche aus sozial schwachen Familien, ein Studium aufzunehmen, zu senken. Deshalb soll die Darlehenssumme, die BAföG-Studierende aus besonders sozial schwachen Familien nachher zurückzahlen müssen, gesenkt werden. Falsch wäre eine Reform, die die sozial Schwächsten aus dem Blick verlöre. In dieser Frage schlage ich Ihnen, Frau Bulmahn, eine große Koalition von CDU/CSU und SPD vor, damit auch ohne die Grünen die BAföG-Förderung für die sozial Schwächsten verbessert wird. ({8}) Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kollegen, die Bundesregierung ist auf den BAföG-Kurs der Union eingeschwenkt. Das zeigt, dass man mit guten Vorschlägen auch als Oppositionspartei konstruktive Politik für dieses Land machen und auch durchsetzen kann. Darauf sind wir stolz. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt gebe ich das Wort dem Kollegen Peter Eckardt von der SPD-Fraktion.

Dr. Peter Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000431, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich stelle zunächst einmal fest, dass das, was die Frau Ministerin und die rot-grüne Koalition organisiert haben, ein Kurswechsel ist. ({0}) Ich stelle weiter fest, dass ich schon ein bisschen darüber erstaunt bin, wer sich jetzt als Sympathisant der Studierenden und ihrer sozialen Lage artikuliert. ({1}) Ich habe den Verdacht, dass es auf der rechten Seite des Hauses immer noch eine ganze Reihe von Abgeordneten gibt, die meinen, dass zu viele und außerdem die Falschen studierten, nämlich nicht ihre eigenen Kinder. ({2}) Ich bin aber sicher, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass meine Studentinnen und Studenten, denen es wirtschaftlich und sozial nicht sehr gut geht, zwar Interesse am BAföG, aber kaum Interesse an den Kritikpunkten haben, die hier von der Opposition vorgetragen werden. Ich habe mit Verwunderung gehört, dass die CDU in den letzten Jahren der Motor für Fortschritte in der BAföG-Politik gewesen sei. ({3}) Wenn sich Studentinnen und Studenten überhaupt in diesen Tagen für Politik und nicht nur Skandale interessieren, dann stehen andere Themen auf deren Stundenplan. ({4}) Wenn sich meine Studentinnen und Studenten aber möglicherweise doch für das Thema BAföG interessieren, dann allein aus dem Wunsch heraus, 29 Jahre nach dem In-Kraft-Treten des Bundesausbildungsförderungsgesetzes endlich ihre sozialen Bedingungen verbessert zu sehen, um auch ihre Studienchancen zu verbessern. Das hängt ja offensichtlich zusammen. ({5}) Die soziale Lage unserer Studierenden ist seit 1971, als das BAföG das Honnefer Modell ablöste, von Jahr zu Jahr schlechter geworden. Der größte Kahlschlag das sollte auch nicht vergessen werden - erfolgte zu Anfang der CDU-Regierung in den 80er-Jahren. 1989 hat es - das muss man Herrn Möllemann zugestehen - einen kleinen Rückzieher im Sozialabbau gegeben. Im Wesentlichen aber hat sich die Entwicklung fortgesetzt. Die Zahl derer, die ein Studium beginnen, ist zurückgegangen. Das Durchschnittsalter der Studierenden und ihr Hochschuleintrittsalter sind gestiegen. Das sind keine guten Startchancen für Jugendliche. Nach einer Untersuchung ist die Erwerbstätigkeit der Studierenden während der Vorlesungszeit auf eine Durchschnittsdauer von zwei Tagen in der Woche angestiegen. Deshalb werden zum Beispiel Studiengänge, bei denen man wenig nebenher arbeiten kann, nicht mehr von jungen Frauen ausgewählt. Erwerbsarbeit ist nachweisbar nicht, wie es der Stammtisch oft formuliert, ein Mittel, um Luxus zu finanzieren, sondern erfolgt aus zwingenden Gründen des Lebensunterhalts. ({6}) Die Haupteinnahmequelle der deutschen Studierenden das sollten alle bedenken, die das BAföG kritisieren - ist in den letzten Jahrzehnten die Erwerbsarbeit geworden. Weder BAföG noch Stipendien, weder Elternbeiträge noch ererbtes Vermögen spielen eine wesentliche Rolle. Die soziale Struktur der Studierenden hat im Jahre 2000 wieder die soziale Struktur der 60er-Jahre, in denen ich studiert habe, erreicht. In Fächern wie Jura und Medizin - das ärgert mich besonders - kann man fast schon von einer akademischen Vererbung sprechen. Eine erfreuliche soziale Ausnahme ist dabei die quantitative Bildungsbeteiligung von jungen Frauen an den Hochschulen. Für die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes ist es notwendig, dass mehr Studierende als heute bessere finanzielle Bedingungen an den Hochschulen vorfinden. Unser Land kann es sich nicht leisten, auf Begabungspotenziale zu verzichten, die aus Finanzgründen ein Studium gar nicht erst beginnen oder ein begonnenes Studium - das kommt leider sehr häufig vor - vor dem Examen abbrechen. Auch neue Organisationsformen und wissenschaftliche Innovationen innerhalb des Studiums stoßen bei Studierenden nur dann auf Akzeptanz - ich denke hier an das Studium im Ausland oder an die Absolvierung gestufter Studiengänge -, wenn sie dazu die notwendigen finanziellen Möglichkeiten haben. Die finanzielle Sicherung der Studierenden kostet Geld, für viele Zeitgenossen zu viel Geld; ich weiß das. Aber auf eine zusätzliche Finanzierung kann man nicht verzichten. Dies zeigt auch der Vorschlag von Edelgard Bulmahn. ({7}) Die neue Bundesregierung hat bewiesen, dass sie dem Ziel der Chancengleichheit nach 26 Jahren wieder nahe kommen will. Wenn es irgendwo noch Vertrauen in die Politik gibt, dann das von Studierenden, dass die sozialdemokratisch-grüne Regierung alles unternehmen wird, um die soziale Situation der Studierenden während dieser Legislaturperiode zu verbessern. Dabei ist nicht wichtig, um welches System und welches Modell es sich handelt. Wichtig ist, dass am Ende strukturell herauskommt, dass mehr Studierende mehr BAföG bekommen. ({8}) Ich stelle fest, dass es um diese Frage, bei der es um viel Geld geht, natürlich Konflikte gibt, sicherlich auch zwischen dem Kanzler, dem Finanzminister und der Bildungsministerin. Wenn Sie aber diesen Konflikt mit den Konflikten vergleichen, die es in der Vergangenheit bei anderen Regierungen gegeben hat, dann stellen Sie fest, dass es ein mildes Lüftchen gewesen ist. Von dem, was nun aus diesem Konflikt herausgekommen ist, nehme ich an, dass ein Großteil der Studierenden damit zufrieden sein kann. Danke schön. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Norbert Hauser von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Im Ethikunterricht von Gerhard Schröder durften wir zwar lernen, dass eine Koalitionsvereinbarung keine Bibel ist. Aber man wird sich ja wohl noch daran erinnern dürfen, was in ihr steht: Für eine grundlegende Reform und Verbesserung der Ausbildungsförderung werden wir ein im Bundestag und Bundesrat zustimmungsfähiges Konzept bis Ende 1999 vorlegen. Dazu werden wir unter anderem alle ausbildungsbezogenen staatlichen Leistungen zusammenfassen. Diese hehren Sätze stellen Ansprüche dar, vor denen Sie kapituliert haben. ({0}) Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn ist mit ihrem Vorschlag zur Grundförderung für jeden StudenDr. Peter Eckardt ten endgültig gescheitert. Die „einfühlsame“ Art unseres Bundeskanzlers hat ihre ministeriellen Träume platzen lassen. ({1}) Frau Bulmahn, Sie sind keine Erfolgsministerin, wie Herr Rossmann meint es darstellen zu müssen. Nein, Sie sind neben diesem Bundeskanzler zu einer Ankündigungsministerin geschrumpft und von ihm desavouiert worden. ({2}) Frau Ministerin, wie herablassend haben Sie sich hier dazu geäußert, als von den Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen angezweifelt wurde, dass Sie noch bis zum 31. Dezember des letzten Jahres ein Konzept, die Eckpunkte, für eine BAföG-Reform vorlegen würden. Herablassend haben Sie uns mitgeteilt, am 31. Dezember würden Sie gegebenenfalls noch um 23.45 Uhr zu einer Pressekonferenz einladen. Der Jahreswechsel ist gekommen; auf Ihre Einladung warten wir noch heute. ({3}) Es war nicht anders zu erwarten, dass das Presseecho vernichtend ist. In der „Süddeutschen Zeitung“ war gestern zu lesen: Der Kanzler hat Edelgard Bulmahn abgestraft, als sei er Niedersachsens Ministerpräsident und sie seine Fahrradbeauftragte. ({4}) Herr Rossmann, es war nicht nur die böse Presse. Auch Herr Berninger hat es gerade dargestellt: im Forschungsbereich zwar gut gearbeitet, aber in der Bildungspolitik zu schwach. ({5}) Man konnte fast schon den Eindruck haben, Frau Bulmahn wäre zum Abschuss freigegeben. ({6}) Herr Berninger, es war faszinierend, wie Sie eben hier die Kurve gekriegt haben: Nachdem Sie erst festgestellt haben, dass ihre Politik gescheitert ist, haben Sie später dargestellt, wie Sie sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt haben. ({7}) Nichts haben Sie erreicht. Sie haben Ankündigungen gemacht und haben hier mitgeteilt, dass Sie einige Kommissionen gründen werden, die es dann richten sollen. Auch Sie, Frau Hermenau, konnten uns nicht erklären, wie die 500 Millionen DM finanziert werden. Man werde es bei den Haushaltsberatungen sehen; man müsse mal schauen, wo etwas gestrichen wird ({8}) und wo Schwerpunkte gesetzt werden. So haben Sie sich gerade eingelassen. Wir werden also sehen, ob Sie überhaupt in der Lage sind, die jetzigen Ankündigungen und Versprechungen einzuhalten. Jetzt, wo der Druck aus der Opposition, aus den eigenen Reihen und aus den Medien so groß geworden ist, ({9}) haben Sie versucht, zu retten, was zu retten ist. Nun könnte man ja sagen: Was soll es denn? Drei Wochen zu spät zum Unterricht erschienen. Sie haben aber eigentlich etwas ganz anderes vorgehabt. Sie wollten rot-grüne Lehrbücher mitbringen und mussten dann heute Zuflucht beim Eckpunktepapier der CDU/CSU-Fraktion suchen. ({10}) Ein Eckpunktepapier, das Sie noch vor wenigen Wochen belächelt haben: Ziel 25 Prozent Förderquote. Gut so. Eckpunktepapier der CDU/CSU. 500 Millionen DM als Förderung angekündigt. Gut so - Eckpunktepapier der CDU/CSU. Nichtanrechnung des Kindergeldes bei der Bedürftigkeitsprüfung. Gut so - Eckpunktepapier der CDU/CSU. ({11}) - Unseren eigenen Anträgen stimmen wir meistens zu, Herr Kollege. ({12}) Die zusätzliche Förderung des Auslandsstudiums ist zu begrüßen, keine Frage. ({13}) Nicht gefolgt ist die Koalition aber unserer Forderung nach einer stärkeren Unterstützung für schnelles und erfolgreiches Studieren. Ebenso fehlt in Ihrem Vorschlag, dass die Fördermittel, die über 800 DM hinausgehen, als Zuschuss gewährt werden. Die bulmahnsche Pirouette im Berlin Winter gab es dann mit der Äußerung der Absicht, Studenten, die keinen Anspruch auf BAföG-Förderung haben, aber trotzdem zu wenig Geld zum Studieren haben, nunmehr ein verzinsliches Darlehen einzuräumen. Vor ein paar Tagen, Frau Kollegin, wollten Sie diesen Studenten noch eine Grundförderung von 400 DM auszahlen. Dann hat Sie der Bundeskanzler zurückgepfiffen und damit noch einmal deutlich gemacht, dass Ihre Politik gescheitert ist. Der Kanzler und seiner Ministerin hätten vielleicht einmal bei Lessing nachlesen sollen: Beide schaden sich selbst: der, der zu viel verspricht, und der, der zu viel Norbert Hauser ({14}) erwartet. Vielleicht auch bei Hagedorn: Versprechen macht Schuld. Meine Damen und Herren aus den Koalitionsfraktionen, auch Sie Frau Hermenau, haben Sie doch einfach den Mut, lassen Sie uns zusammen die Dinge, die in unserem Eckpunktepapier stehen, noch umsetzen und wir werden eine Menge für die Studierenden in der Bundesrepublik erreichen. Vielen Dank. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Walter Hoffmann von der SPD-Fraktion.

Walter Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manches Argument der Interessenvertreter der Studierenden wirkt in der Tat etwas pharisäerhaft ({0}) und paradox, wenn man sich die Mühe macht, ein wenig in die Geschichte dieses Gesetzes hineinzuschauen. Diese Geschichte ist jetzt fast 30 Jahre alt. ({1}) - Warten Sie doch erst einmal ab. Im Jahre 1971 war es damals die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung, die mithilfe einer damals zumindest noch regierungsfähigen F.D.P. nach jahrelangem hinhaltenden Widerstand der CDU die bundeseinheitliche Ausbildungsförderung begründete. ({2}) Das Ziel damals und heute war, dass die Förderung der Studierenden nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängig sein darf, sondern von Neigung, Eignung und Leistung. 30 Jahre sind vorbei und wir leben in der Tat nicht von der Geschichte. Wir müssen uns aber die Frage stellen: Was ist eigentlich aus diesem Ausbildungsgesetz geworden? Nun haben mehrere meiner Vorrednerinnen und Vorredner ja gesagt, welche Entwicklungen stattgefunden haben. Ich komme aus Darmstadt, einer Stadt in Südhessen mit drei Hochschulen. Wir haben 24 600 Studierende. (Jürgen W. Möllemann ({3}) - Das habe ich auch nicht vor. - Aber ich will Ihnen die Entwicklung am Beispiel dieser Stadt dokumentieren. Im Jahre 1982 waren es noch 42 Prozent der Eingeschriebenen, also der Berechtigten, die Leistungen nach dem BAföG erhielten. Heute sind es nur noch 10 Prozent der 24 500 Studierenden. Heute ist es selbstverständlich - wir wissen das alle - dass eine Studentin oder ein Student das Studium über einen oder mehrere Nebenjobs finanziert, und die Studienzeiten haben sich entsprechend verlängert. Bundesweit gibt es die gleiche Entwicklung. Seit 1982 - nur noch einmal zur Erinnerung -, dem Jahr der geistig-moralischen Wende, geht die Zahl der nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz Geförderten kontinuierlich zurück. 1982 waren es 41,8 Prozent, die gefördert wurden, 1997 sind es nur noch 17 Prozent. Im selben Zeitraum sind die BAföG-Ausgaben von Bund und Ländern trotz gestiegener Studierendenzahlen real gesunken. Die Kürzungen waren besonders stark im Zeitraum von 1992 bis 1997. Gegenüber 1992 ist von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, der Haushaltsansatz des Bundes derart stark gekürzt worden, dass 1997 - ich habe das noch einmal nachgerechnet und nachgelesen - nur noch 57 Prozent der Mittel des Jahres von 1992 zur Verfügung standen. ({4}) 1992 waren es 2,7 Milliarden DM, 1993 2,5 Milliarden, 1994 2,27 Milliarden, 1995 2 Milliarden, 1996 nur noch 1,72 Milliarden, 1997 1,54 Milliarden DM. Die Mittel des Bundes sanken also in sechs Jahren sage und schreibe um fast die Hälfte bei nahezu gleich bleibender Studierendenzahl. ({5}) Das ist eine schlimme Entwicklung mit leider harten Fakten. Uns allen, so hoffe ich zumindest, schmerzt es natürlich ganz besonders, dass der Anteil der Studierenden aus einkommensschwachen Familien massiv zurückgegangen ist. Ich sage es noch einmal: 1982 waren es 83 Prozent, heute nur noch 14 Prozent. Ihr Umgang mit dem Bundesausbildungsförderungsgesetz war in diesen 16 Jahren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine Geschichte ständiger direkter und indirekter Kürzungen der Leistungen für die Studiererenden. ({6}) Das kann man hier an vielen Fällen darlegen. 1983 fing es mit der Umstellung auf das Volldarlehen an. Sie haben 1990 diese Entwicklung nur stufenweise korrigiert, als endlich 50 Prozent als Zuschuss ausgezahlt wurden. In all diesen Jahren haben Sie die Freibeträge und Bedarfssätze so gering erhöht, dass die Leistung pro Geförderten nicht einmal der Inflation angepasst wurde, sondern sogar real gesunken ist. In dem Zeitablauf von Norbert Hauser ({7}) 1992 bis 1997 haben Sie weiter gekürzt. Sie haben durch die Anrechnung von Auslandsaufenthalten auf die Förderungsdauer und die Abschaffung der Honorierung der Gremientätigkeit indirekt gekürzt. ({8}) Das Ganze wurde fortgesetzt mit der 18. BAföGNovelle aus dem Jahre 1996, ({9}) und das unter dem so genannten Zukunftsminister Jürgen Rüttgers, der in diesem Bereich Gott sei Dank Vergangenheit ist. ({10}) Wir haben im Bundestagswahlkampf deutlich gemacht, dass wir uns für eine Stärkung der Mittel im Bildungsbereich im Interesse der Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit dieses Landes einsetzen, um eine Verbesserung der Qualifikation der Arbeitskräfte zu erreichen. Wir haben deutlich gemacht, dass junge Menschen wieder nach Neigung, Eignung und Leistung gefördert werden sollen. Konsequenterweise haben wir unverzüglich nach der Regierungsübernahme die entsprechenden Schritte für die 20. BAföG-Novelle eingeleitet, um die übelsten Auswirkungen zu korrigieren. Die Zahl der Geförderten wurde erhöht. Wir haben wieder finanzielle Anreize für Auslandsstudien und vieles andere mehr geschaffen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Hoffmann, kommen Sie bitte zum Schluss.

Walter Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit den Eckpunkten, die Frau Bulmahn heute vorgelegt hat, führen wir diesen wichtigen Schritt weiter. Ich freue mich, dass neben der 1 Milliarde DM in den Eckpunkten auch verankert wurden, dass den Studierenden in Ost und West endlich gleiche Leistungen zukommen werden. ({0}) Ich freue mich, dass in der gesamten EU in Zukunft deutsche Studenten gleichmäßig gefördert werden sollen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Hoffmann, Sie haben Ihre Zeit weit überschritten. Ich bitte, zum Schluss zu kommen.

Walter Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bitte Sie, die Eckpunkte in Ruhe, Gelassenheit und handwerklicher Solidarität in ein Gesetz umzusetzen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ilse Aigner von der CDU/CSU-Fraktion.

Ilse Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Hoffmann, es geht hier nicht darum, was wir in den letzten Jahren, wie Sie meinen, unterlassen haben, sondern es geht darum, was Sie im Wahlkampf versprochen haben und was Sie nicht eingelöst haben. Das ist das Entscheidende. ({0}) Damit klar ist, was Sie versprochen haben, will ich es Ihnen noch einmal zur Verdeutlichung sagen. Ich habe eine mündliche Anfrage gestellt: Wann beabsichtigt die Bundesregierung, die geplante BAföG-Strukturreform zu verwirklichen ..., insbesondere angesichts der Tatsache, dass 549 Millionen DM durch die Umbuchung der BAföG-Förderbeträge im Bundeshaushalt frei geworden sind? Ihre Antwort vom 10. November 1999 - das ist noch gar nicht so lange her - von Herrn Staatssekretär Catenhusen lautete: Die Bundesregierung wird - ich betone „wird“, nicht will, nicht könnte wie sie bereits mehrfach bekräftigt hat - ihre Vorschläge zu Eckpunkten einer Ausbildungsförderungsreform Ende des Jahres 1999 vorstellen. ({1}) Damit nicht gesagt wird, dass das, was Sie heute vorgelegt haben, eine Reform, wie Sie sie sich vorgestellt haben, ist, will ich aus dem Protokoll vom 2. Dezember 1999 zitieren. Dort sagte die Kollegin Wimmer aus Karlsruhe von der SPD - Ihnen wahrscheinlich be kannt -: Wir schaffen die Trendwende zu mehr Chancengleichheit und Gerechtigkeit. Dabei gehen wir als SPD-Fraktion vom Drei-Körbe-Modell aus … Ich weiß nicht, wo das Drei-Körbe-Modell ist. Ich sehe es in diesem Vorschlag nicht. Herr Kollege Berninger, glaube ich, sieht es auch nicht. ({2}) Er hat auch zugegeben, dass er mit dem, was heute vorgelegt wurde, nicht einverstanden ist. Frau Ministerin, ich verstehe, dass Sie sich in die Schoßwärme der SPD-Fraktion zurückziehen, weil es Ihnen persönlich - das ist nicht ironisch gemeint - wahrscheinlich wirklich nicht gut geht: denn es war für Sie eine anständige Watschen, wie man in Bayern sagt. ({3}) Aber einen Vorwurf kann ich Ihnen als Parlamentarierin nicht ersparen. Wir haben mehrfach im Ausschuss disWalter Hoffmann ({4}) kutiert, was auch richtig ist. Wir haben im Parlament am 2. Dezember 1999 diskutiert. Dass Sie, bevor Sie das Parlament darüber informieren, was Sie vorhaben, in die Pressekonferenz gehen, ist allerdings unparlamentarisch. Das muss ich Ihnen wirklich vorwerfen. ({5}) - Das ist nur festzustellen. Das muss man hier auch einmal deutlich sagen dürfen. ({6}) Außerdem möchte ich noch darauf hinweisen - es sind schon viele Punkte angesprochen worden, aber diesen habe ich zumindest noch nicht gehört -, dass eines schon klar werden muss: Sie wollten dieses Vorhaben möglichst schnell, möglichst rasch umsetzen. Aber das, was Sie jetzt in Fragmenten umsetzen - was übrigens größtenteils wir vorgeschlagen haben -, tritt erst im Jahr 2001 in Kraft, ({7}) also zweieinhalb Jahre, nachdem Sie die Regierung übernommen haben. Das muss man den Studenten auch deutlich sagen. ({8}) Sie haben groß etwas versprochen und nichts oder nur sehr wenig eingehalten. ({9}) Noch ein Punkt, der zwar nicht genau an diese Stelle passt, aber auch erwähnt werden muss, weil er bei der Debatte um die Ökosteuer immer zu kurz gekommen ist: Die Studenten haben Sie bei der Ökosteuer voll erwischt. Auch hier kommt die Entlastung erst Monate, ja Jahre später. Dies ist ein Punkt, den wir auch kritisieren. ({10}) Ich könnte Ihnen jetzt noch sagen, wo jene Punkte, die Sie umgesetzt haben, in unserem Antrag stehen, den Sie meines Wissens abgelehnt haben. Zum Beispiel Punkt 1 in Drucksache 14/2031: Bei einer Bedürftigkeitsprüfung im Rahmen des BAföG wird zukünftig auf eine Anrechnung des Kindergeldes und gleichartiger Vergünstigungen verzichtet ... So steht es im Antrag der CDU/CSU-Fraktion. Ich hoffe, dass Sie es umsetzen werden, und bedanke mich im Vorhinein dafür. In Punkt 3 haben wir eine Vereinfachung vorgeschlagen. Ich hoffe, dass Sie auch hier den Ansatz übernehmen werden, wie wir ihn vorgehabt haben. Frau Ministerin, die Angelegenheit tut mir für Sie persönlich wirklich Leid, weil das sehr schwer für Sie sein muss. Ich meine das jetzt wirklich nicht ironisch. Aber wenn man im Wahlkampf den Mund zu voll nimmt, muss man natürlich damit rechnen, dass man sich irgendwann daran verschluckt. Danke schön. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner in der Aktuellen Stunde gebe ich dem Kollegen Stephan Hilsberg von der SPD-Fraktion das Wort.

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Eckpunkte, die wir Ihnen hier vorlegen und die wir gestern Nacht ({0}) und heute Morgen gemeinsam als Koalition erarbeitet haben, wären nicht möglich gewesen ohne die großartige Vorbereitung und auch die Durchsetzungsfähigkeit unseres Hauses mit unserer Ministerin Edelgard Bulmahn an der Spitze. Dafür gebührt ihr großer Dank. ({1}) Gemeinsam mit den innovativen Elementen, die dieser systemimmanenten Reform des BaföGs zugrunde liegen, ({2}) hat unser Reformwerk eine Substanz, die den Anträgen der Opposition zusammengerechnet überlegen ist. ({3}) Wir haben ein Angebot an eine Gruppe von Studenten gemacht, die bei Ihnen, obwohl die Probleme bekannt sind, bis jetzt überhaupt noch nicht aufgetaucht ist. ({4}) Es ist doch eine absurde Situation in diesem Land, dass es Studenten gibt, die bereit wären, für einen bestimmten Abschnitt ihres Studiums einen Kredit aufzunehmen, aber keine Bank in diesem so reichen Land finden, die ihnen dafür einen Kredit gewährt, obwohl die Investitionen in Bildung in aller Munde sind und obwohl jeder sagt, wie wichtig das ist und welch große Bedeutung dies für das anschließende Erwerbsbleben des Hochschulabsolventen hat. Genau das ist doch der Punkt, weshalb wir immer wieder an die Jugendlichen appellieren, so viel wie möglich aus sich zu machen, das heißt so viel Bildung wie möglich für sich zu bekommen. Wir schaffen hier ein Angebot für eine zusätzliche große Gruppe von Studenten, die mit 1 Million nicht untertrieben ist, die es vorher so noch nicht gegeben hat. Das betrachte ich in der Tat als einen Einstieg in eine neue Form der Finanzierung, die Bildungskreditfinanzierung, über den wir sehr froh sein können. ({5}) Meine Damen und Herren, wir können uns diese Gesellschaft nicht backen. ({6}) Wir können sie auch nicht mit Werten betrachten, die 30 bis 40 Jahre alt sind, denn sie verändert sich. ({7}) Wir stehen vor neuen großen Herausforderungen und die haben Sie zur Kenntnis zu nehmen. Sie müssen sie zur Kenntnis nehmen, wenn Sie zeitadäquate und aktuelle Antworten auf die neue Herausforderung geben wollen. Ich nenne zwei Beispiele dafür: Es gibt neue Verhältnisse in den Beziehungen, in den Familienverhältnissen. Es ist überhaupt kein Geheimnis, dass bestimmte Familien immer weiter auseinander driften, dass es gar nicht mehr selten ist, dass Kinder in zweiter oder dritter Ehe aufwachsen und dass die Kontakte zu den leiblichen Eltern abnehmen, mit der entsprechenden Folge, dass sie sich für den Unterhalt nicht mehr so verantwortlich fühlen, wie das in Ihrem alten Familienbild immer noch der Fall war. Oder was ist mit den unterbrochenen Erwerbsbiografien, zu denen bereits jetzt eine lose Schätzung sagt, dass 3 Millionen Menschen davon betroffen sind? Es kommt zum Beispiel vor, dass Erwerbsabschnitte zwei, drei Jahre ausmachen, dann gehen die Menschen in die Weiterbildung, um etwas Neues zu erlernen, und dann gehen sie wieder in die Selbstständigkeit. Für diese Leute brauchen wir doch eine Antwort. Diese Antwort müssen Sie geben. Sie müssen das doch in Ihren Projekten mit erarbeiten. Aber gerade bei der CDU/CSU kann ich das nicht finden. Wir wollen an dieser Stelle voranschreiten. Deswegen werden wir eine Kommission einrichten. ({8}) - Sie lassen hier nur billig und moralisch anmutende Attitüden ab, Herr Hauser, mit denen Sie niemandem gerecht werden und mit denen Sie vor allen Dingen nicht kaschieren können, dass Sie Eckpunkte vorgelegt bekommen haben, über die Sie eigentlich jubeln müssten, aber stattdessen kommt von Ihnen nur billige Polemik. Aber ich will auf das zurückkommen, worauf es wirklich ankommt. Wir haben Probleme im Steuerrecht und im Unterhaltsrecht. Wir haben sie in der Familienförderung und der gegenwärtigen Form der Bildungsfinanzierung. Darüber muss man reden. Darüber wird auch weiter zu reden sein. Diese Punkte stehen auf der Tagesordnung. Wir wollen zukunftsfähige Antworten geben. Wir stellen uns dieser Herausforderung. Ich kann Sie nur alle einladen, meine Damen und Herren von der Opposition: Stellen Sie sich wie wir dieser Herausforderung, um adäquate Antworten geben zu können! ({9}) Wir liefern frisches Geld. Neben der Innovationsmilliarde sind das 500 Millionen DM zusätzlich, die wir für den Bildungs- und Forschungshaushalt zur Verfügung stellen. ({10}) Nun ein Appell. Sie sind ja noch immer die größte Oppositionspartei, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, obwohl Sie sich große Mühe geben, immer kleiner zu werden. Da kann man sich gelegentlich Sorgen um das demokratische System machen. Aber darüber will ich gar nicht reden. Ich denke schon, dass Sie, auch gegenwärtig, eine große Verantwortung für die Verbesserung der Finanzierung des studentischen Unterhalts haben. Gerade deshalb, weil wir in vielen Punkten gar nicht so weit voneinander entfernt sind - obwohl ich die Urheberschaft Ihres Gesetzesentwurfs, den Sie hier eingereicht haben, aus wohl überlegten Gründen bezweifeln möchte -, fordere ich Sie auf: Werden Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst und kämpfen Sie bei den von Ihnen geführten Ländern dafür, dass die BAföG-Reform, die wir jetzt in Angriff nehmen, auch im Bundesrat durchgesetzt werden kann - im Interesse der Studenten, im Interesse des Rechts auf Bildung, der Chancengerechtigkeit und der Wissens- und Informationsgesellschaft, die für uns alle und unsere Gesellschaft die Zukunft ist! Vielen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Aktuelle Stunde ist beendet. ({0}) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie Zusatzpunkt 5 auf: 5 a) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirschaft und Technologie ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hans Martin Bury, Ernst Schwanhold, Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz ({2}), Margareta Wolf ({3}) un der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Initiative gegen die Auswirkungen der asiatischen Finanzkrise und des internationalen Subventionswettlaufs auf die deutsche und europäische Werftindustrie - Drucksache 14/540, 14/1233 Berichterstattung: Abgeordenete Margareta Wolf ({4}) 5 b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Rahmenabkommen vom 28. Oktober 1996 über den Handel und die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedsstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits - Drucksache 14/1200 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirschaft und Technologie ({5}) - Drucksache 14/2064 Berichterstattung: Abgeordneter Friedhelm Ost ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({6}) zu dem Antrag der Abgordneten Wolfgang Börnsen ({7}), Gunnar Uldall, Ulrich Adam, weitere Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Initiative gegen die Auswirkungen der asiatischen Finanzkrise und des internationalen Subventionswettlaufs auf die deutsche und europäische Werftindustrie - Drucksachen 14/400, 14/258 Berichterstattung: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Margrit Wetzel von der SPD-Fraktion das Wort.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte ist trotz des sehr ernsten Hintergrundes, nämlich die durch Korea ausgelöste Krise im Weltschiffbau, doch auch ein gewisser Grund zur Zuversicht für uns, und zwar aufgrund der umfassenden Einigkeit, die bei diesem Thema besteht: Einigkeit zwischen allen europäischen Nationen, zwischen der Werftindustrie und den Gewerkschaften, zwischen den Fraktionen des Deutschen Bundestages sowie zwischen den Fraktionen und der Bundesregierung. Wir haben alle gemeinsam die feste Absicht, unseren Werften zu helfen, die Krise nicht nur kurzfristig zu bewältigen, sondern einer tatsächlichen Lösung zuzuführen. Als Erstes möchte ich an dieser Stelle einen ganz besonderen Dank an unsere Haushälter richten, die für den Haushalt 2000 trotz des eisernen Sparzwanges Produktionsbeihilfen in Höhe von 240 Millionen DM bereitgestellt haben. ({0}) Damit werden die Werften in diesem Jahr in die Lage versetzt, die Aufträge für die nächsten drei Produktionsjahre zu akquirieren. Der prompt einsetzende Auftragseingang - zumindest bei den größeren Werften bestätigt die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Standortes. Diese nach der EU-Vereinbarung zum letzten Mal möglichen Produktionsbeihilfen waren aber auch deshalb notwendig, damit die deutschen Werften im europäischen Wettbewerb bestehen können, und zwar insbesondere gegenüber den spanischen und den französischen Mitbewerbern, die aufgrund der staatlichen Regie entsprechend mehr Förderung erhalten, aber auch gegenüber den deutlich höheren Beihilfen der anderen europäischen Schiffbaunationen. Korea hält inzwischen 70 Prozent der Marktanteile am Containerschiffbau. Die koreanischen Schiffbaukapazitäten sind unter geradezu abenteuerlichen finanziellen Bedingungen auf- und ausgebaut worden. Korea hat den Schiffbau inzwischen zu einer strategischen Industrie erklärt und beabsichtigt für das Jahr 2000, die Auftragsakquisitionen um weitere 30 Prozent zu erhöhen. Wir sind deshalb dankbar, dass die Bundesregierung parallel zu unseren Anträgen in sozusagen vorauseilender Aktivität tätig geworden ist. Das zeigt, wie einig wir in dieser Sache sind. Initiiert unter dem damaligen Vorsitz des Bundeswirtschaftsministers Müller im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hat - die EUKommission koreanische Aufträge analysiert und ist in acht von neun Fällen zu dem Ergebnis gekommen, dass Korea eben doch Dumpingpreise verlangt hat, die zwischen 15 und 40 Prozent unter den eigenen Selbstkosten lagen. Inzwischen sind bei weiteren Untersuchungen 49 Fälle mit ähnlichen Ergebnissen bekannt geworden. Es ist völlig klar: Europa kann sich dieses Dumping nicht gefallen lassen. Die europäische Werftindustrie und die Gewerkschaften können - so wie natürlich auch bei uns - die Politik aller europäischen Schiffbaunationen an ihrer Seite wissen. ({1}) Die Bundesregierung hat in bilateralen Gesprächen mit hochrangigen Vertretern Koreas Fairness und Transparenz im Schiffbau angemahnt. Korea braucht uns als Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Handelspartner. Als Mitgeberland des Milliardenkredites des IWF sind wir nicht bereit, zuzusehen, wie koreanische Dumpingpreise und Überkapazitäten die deutschen und europäischen Werften in eine echte Existenzkrise führen. ({2}) Wir verlangen deshalb eine exakte Überprüfung der Kreditbeihilfen und die Einhaltung der Kreditauflagen des IWF. Wenn man bedenkt, dass die Halla-Werft dies soll nur ein Beispiel sein - ausschließlich Verlustaufträge abgewickelt hat und dass diese Verlustaufträge von der staatlichen Korea-Export-Import-Bank finanziell abgesichert werden, dann können wir das in dieser Form nicht hinnehmen. Dabei ist völlig unmaßgeblich, ob der IWF-Kredit direkt in diese Subventionierung, in diese Aufträge geflossen ist oder ob er der KEXIM nur indirekt die entsprechenden Handlungsspielräume gegeben hat. Ich denke, das koreanische Finanzgebaren ist katastrophal. Dem werden wir entschieden entgegentreten. Die EU-Kommission, die Bundesregierung und auch Vertreter der SPD-Fraktion haben in der Zwischenzeit in diesem Sinne ganz eindringliche Gespräche mit Vertretern sowohl der Weltbank als auch des IWF geführt. - Ich denke, die Regierung wird darüber noch berichten. - An dieser Stelle richte ich an die Bundesregierung den herzlichen Dank, dass sie so schnell und so eindeutig im Sinne unserer Werften gehandelt hat. ({3}) Der Kredit des Internationalen Währungsfonds darf nicht zur Subventionierung der koreanischen Werften verwandt werden. Korea drohen - im Übrigen veranlasst durch Japan; ich denke, es ist gut, das zu wissen eine Klage vor der WTO, ein Antidumpingverfahren oder gegebenenfalls Strafzölle in anderen Bereichen. Denn Schiffe werden ja bekanntlich nicht importiert. Hier können wir auf direktem Wege leider nichts tun. Aber wichtig ist, dass Korea, wenn es Kredithilfen des Währungsfonds in Anspruch nimmt, ein entsprechend unseren Maßstäben betriebliches Rechnungswesen einführt. Das können wir verlangen. Das muss auch geschehen. ({4}) Wir beschließen heute auch das EUHandelsabkommen mit Korea. Wenn wir in diesem Papier Fairness und Transparenz im Hinblick auf den Wettbewerb fordern, dann darf das nicht nur auf dem Papier stehen. Diese Forderung muss vielmehr der harten Realität der Konkurrenz auf dem Weltschiffbaumarkt standhalten können. Das wird den koreanischen Gesprächspartnern von der Bundesregierung und der EU-Kommission unmissverständlich deutlich gemacht. Auf europäischer Ebene ist bereits der Begriff Handelskrieg gefallen. Das ist ein hartes Wort. Aber ich denke, Korea muss ernst nehmen, dass wir hinter unseren Werften stehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Fairness auf dem Weltschiffbaumarkt ist die beste Unterstützung, die es für unsere deutschen Werften geben kann. Sie wollen und brauchen in Wirklichkeit keine Subventionierung und auch keine staatlichen Gelder; es muss uns nur gelingen, faire Rahmenbedingungen auf dem Weltmarkt herzustellen. Das ist unsere politische Aufgabe. Daran arbeitet die Bundesregierung mit Nachdruck, mit aller Kraft und mit der Unterstützung der Fraktionen des Deutschen Bundestages. ({5}) Wir müssen versuchen - das ist die nächste Aufgabe, die sehr viel schwerer zu bewältigen ist -, in den drei Jahren, die wir an Spielraum geben konnten, möglichst zu erreichen, dass es ein neues weltweites Schiffbauabkommen gibt, weil wir festgestellt haben, dass das alte OECD-Abkommen, das sowieso nicht ratifiziert wird, diverse Mängel aufweist. Das Abkommen muss AntiDumping-Vorschriften und Sanktionen gegen Verstöße enthalten und die gesamten Weltschiffbaukapazitäten umfassen. Zu erreichen, dass die europäischen Schiffbaunationen, aber auch Korea, Japan, China, Polen und die USA dem zustimmen, wird ein hartes Stück Arbeit sein. Aber nur so können unsere Werften sicher im internationalen Wettbewerb bestehen. Es sind unsere Werften, die die technischen Standards setzen. Sie haben in den letzten Jahren einen enormen Personalabbau verkraften müssen, haben modernisiert, wo immer sie konnten. Die Werften sind restrukturiert worden. Die Fertigungstiefe der Werften liegt heute nur noch bei 25 bis 30 Prozent. Hoch automatisierte, computergestützte Fertigung mit Genauigkeiten im Mikrometerbereich, Ultraschall und Lasertechnik haben in der Genaufertigung, in der Fügetechnik im Stahlbau Einzug gehalten. Man muss sich das wirklich einmal ansehen; es ist faszinierend. Der größte Teil der Arbeitsplätze bei den Werften liegt heute nicht mehr in der Fertigung, - wie man es sich landläufig vorstellt, - sondern in der Planung, Konstruktion und Entwicklung. Unsere Stärken liegen in der Systemtechnologie, in der Modulbauweise, in der hoch entwickelten Technik auch der Werkzeuge, in der Genauigkeit, in der Geschwindigkeit der Entwicklung des einzelnen Schiffes. Unsere Stärke ist der hoch spezialisierte Schiffbau, sind die anspruchsvollen Kreuzfahrtschiffe, die Mega-Jachten, die schnellen Schiffe mit höchsten Anforderungen an Schalldämpfung und Schwingungsverhalten. Deshalb ist es ganz besonders zu begrüßen, dass es im maritimen FuE-Bereich ein gerade aufgelegtes neues, mit 180 Millionen DM dotiertes Forschungsprogramm geben wird, das unsere Forschungsministerin in diesen Tagen vorgestellt hat. ({6}) - So ist es: Erfolgsministerin. - Das ist es, was unsere Werften langfristig zur Sicherung ihrer Wettbewerbsfähigkeit brauchen. Und dabei helfen wir Ihnen. Wir dürDr. Margrit Wetzel fen nicht vergessen, dass auch Korea hochmoderne Jachten hat, dass auch Korea in diesen Markt eindringen will. Deshalb brauchen wir diese Unterstützung. Ich hoffe, dass es gelingt, vor allem die praktischen Spezifika bei der Forschung im Schiffbau zu berücksichtigen; denn die Forschung im Schiffbau unterscheidet sich ganz grundsätzlich von der Forschung im Flugzeugbau oder in der Automobilindustrie. Prototypen gibt es im Schiffbau kaum. Dort sind es Einzelaufträge, die ausgesprochen schnell ganz besondere Problemlösungen und damit natürlich auch Forschungs- und Entwicklungsleistungen verlangen. Wir müssen in diesem Bereich entsprechende Unterstützung für unsere Werften bereitstellen. Ich denke, das Programm ist optimal dafür geeignet. Unsere Werft- und Zuliefererindustrie ist hochproduktiv. Sie braucht nichts anderes als faire Wettbewerbsbedingungen auf dem Weltmarkt. Dann braucht sie langfristig keine Subventionen. Weil wir uns in dieser Frage politisch alle einig sind, bin ich zuversichtlich, dass wir die durch Korea ausgelöste Krise bewältigen können, und zwar mit vereinten Kräften in Europa - an dieser Stelle ist sich Europa absolut einig - und mit nachdrücklichem Einsatz der Bundesregierung, der wir für die weiteren, bereits geplanten, zum Teil auch schon terminierten Gespräche Durchsetzungsvermögen wünschen, damit unsere Werften, durch uns ermutigt, durchhalten und gestärkt in die Zukunft gehen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Wolfgang Börnsen von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Bei diesem Tagesordnungspunkt - das ist schon deutlich geworden - ist sich das Parlament seit Jahren im Grundsatz einig. Aber es gibt unterschiedliche Überlegungen zu den Schwerpunkten. Einig sind wir uns auch in der Lagebeurteilung. Auf Plattdeutsch gesagt: Dat is to Tiet een schöön Schiet mit de Schippsbu an de Küst. Für die, die es mit dem Hochdeutschen besser halten: Es ist zurzeit eine kritische Lage mit dem Schiffbau an der Küste. ({0}) Vor knapp zwei Monaten hatten wir den ersten europäischen Werftentag, getragen von Gewerkschaften und Verbänden. Tausende von Beschäftigten sind damals auf die Straße gegangen, weil die Situation im Schiffbau wirklich dramatisch ist - nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa insgesamt. Noch nie zuvor hat es in Europa einen solchen Aufstand von Arbeitern für eine solche Sache gegeben. Für mehr Wettbewerbsgerechtigkeit ist man auf die Straße gegangen. Das sollten wir wie das auch meine Vorrednerin getan hat - sehr ernst nehmen. Der Grund: unfaires Preisdumping aus Fernost. Die Folge: extreme Auftragsrückgänge und zum Teil Werftenschließungen mit Arbeitslosigkeit als Folge bei uns. So darf es nicht weitergehen. Wir brauchen - das ist zumindest die Meinung unserer Fraktion - eine ProWerften-Offensive für den Werftenstandort Deutschland und für den Werftenstandort Europa. Die gescheiterte Korea-Reise des ehemaligen EUKommissars Martin Bangemann hat gezeigt: mit freundlichen Worten allein änderst du überhaupt nichts. Korea will Nummer eins im Weltschiffbau werden; dafür scheint jedes Mittel recht zu sein. Bei Neubauaufträgen hat Korea dieses Ziel bereits erreicht. Unterstützt durch einen Rekordkredit des Internationalen Währungsfonds - dem übrigens auch die Bundesrepublik angehört - bieten Koreas Werften Preisvorteile bis zu 40 Prozent an. Subventionierte Preise, die sogar noch unter dem Materialwert liegen, zerstören den Schiffbaumarkt. Weltweit fairer Wettbewerb ist Fehlanzeige. Die EU hat in einem Gutachten festgestellt, dass bei acht von neun Schiffbauaufträgen in Europa systematisch Dumping betrieben wird. In mindestens vier Fällen ist nachgewiesen, dass europäische Anbieter sicher geglaubte Aufträge nicht erhalten haben. Über 50 weitere Projekte dieser Preisunterbietung werden derzeit untersucht. Die Folgen dieser Wettbewerbsverzerrungen sind verheerend: Kostete ein koreanisches Containerschiff vor Jahresfrist noch gut 80 Millionen Dollar, so ist das gleiche Schiff jetzt für knapp 45 Millionen Dollar zu haben. Pleiten in Deutschland bei sicheren Arbeitsplätzen in Korea sind eine böse Folge des unfairen Wettbewerbs. Gewachsene und erfolgreiche Strukturen in Deutschland werden dabei zerstört. Der Betriebsrat der erfolgreichen FSG in Flensburg hatte schon vor einem Jahr im Flensburger Tageblatt gewarnt: „Wenn das so weitergeht, haben wir keine Überlebenschance!“ In diesen Tagen erleben die Husumer Schiffbauer - und nicht nur die Schiffbauer dort - das schlimme Schicksal der Betriebsauflösung, und das, obwohl die tüchtigen deutschen Schiffbauer zu den produktivsten und innovativsten der Welt gehören; das ist eben auch gesagt worden. Der Abwärtstrend bei uns in den letzten Jahren ist mehr als dramatisch. Auch die Streichung der Steuervorteile hat daran einen Anteil. Korea steigerte seinen Weltmarktanteil auf 27 Prozent. Bei uns stehen in den Docks die Räder zum Teil still. Nach dem Einbruch im Herbst 1998 ist die Produktion in den ersten drei Quartalen 1999 noch einmal um ein gutes Drittel auf jetzt 5,6 Prozent Weltanteil geschrumpft. Auch die Auftragseingänge haben sich in den vergangenen neun Monaten fast halbiert. Das gilt auch für die neuen Bundesländer. Unsere Hochkostenstruktur bringt uns auch innerhalb Europas Nachteile. Bei den Neubauaufträgen ist England mit über 16 Prozent locker an uns vorbeigezogen. Nur noch 4 Prozent der Neubauordern gehen noch an die deutschen Werften. Wir sind zusammen mit Polen immer noch auf Platz zwei, aber mit absteigender Tendenz. Weltweit ist Deutschland jetzt nur noch Nummer fünf im Weltschiffbau hinter Korea, Japan, China und GroßDr. Margrit Wetzel britannien. Viele Jahre, das heißt, über 20 Jahre, waren die deutschen Schiffbauer in der Weltspitzengruppe. Jetzt geht es leider bergab. Ursache dafür ist nicht nur eine verzerrte Weltmarktlage, nach Ansicht eines ÖTV-Sprechers gehören auch Regierungsfehler dazu. Eine Industrie mit einer Wertschöpfung von rund 9 Milliarden DM jährlich ist in ihrer Existenz wirklich bedroht. Der Handelsschiffbau mit 5 Milliarden DM gehört ebenso dazu wie der Marineschiffbau mit über 2 Milliarden DM sowie die Schiffsreparatur mit 1,75 Milliarden DM. Allein in Deutschland sind über 100 000 Arbeitsplätze in Gefahr, nämlich 30 000 auf den Werften und 70 000 bei den Zulieferern. Von der Flensburger Förde bis zum Spessart bangen die Beschäftigten um ihre Arbeit. Wie lange können sich die deutschen Schiffbauer noch halten, wenn der globale Preiskrieg und der deutsche Sonderweg bei Abgaben und Steuern nicht gestoppt werden? Diese Abwärtsspirale ist zu stoppen. Deshalb ist es richtig, dass auf unser Drängen hin die Wettbewerbshilfe wieder aufgestockt worden ist. Staatssekretär Mosdorf hat an ihrer Sicherung einen erheblichen Anteil. Wir halten auch die Ankündigung der Regierung, ein 180Millionen-DM-Programm aufzulegen, für richtig. Wir stopfen damit jedoch nur die Löcher, die wir selbst in Korea aufgerissen haben. Während unsere europäischen Nachbarn die EUFördergrenzen voll ausschöpfen, müssen deutsche Werften mit einem Bruchteil öffentlicher Unterstützung effizient wirtschaften. Allein Spanien hat ein 300Millionen-DM-Programm aufgelegt. Damit beginnt der Wettbewerbsnachteil für Deutschland bereits in der EU. Hinzu kommt, dass die Dauer der Krise überhaupt nicht absehbar ist: China droht mit einer Währungsabwertung, und Japan hat diesen Schritt bereits vollzogen. Beide Schiffbaunationen können aus diesem Grund günstiger anbieten. Ein Abwertungswettlauf zu unseren Ungunsten hat eingesetzt. Es geht jetzt im Grunde genommen um eine Dreifachoffensive: bei uns, in der EU und weltweit. Das gilt sowohl für den Bund als auch für die Küstenländer. Die Kieler Koalition ist jetzt gefordert. Nur wenn sie und wir bei den Verpflichtungsermächtigungen kräftig nachbessern, kann das Ziel einer Auftragsförderung von fast 3 Milliarden DM allein für den deutschen Schiffbau erreicht werden. Gelingt dies nicht, wandern Unternehmen und Arbeitsplätze ab. Das wäre auch wirtschaftspolitisch ein großer Verlust. 90 Prozent des Welthandels werden über die Meere abgewickelt. Vom Handy bis zur Banane kommen Waren aus aller Welt in deutschen Häfen an, Produkte made in Germany verlassen auf dem Seeweg unser Land. Deutschland erwirtschaftet jede dritte Mark in Geschäftsbeziehungen mit dem Ausland. Wir müssen deshalb über die Kompetenz verfügen, unsere Waren auch ausliefern zu können. Das ist nicht nur strategisch wichtig, sondern macht auch ökonomisch Sinn. Es lohnt sich, tatkräftig und entschlossen für die Menschen in der „blauen Industrie“ einzustehen. Wir sehen als CDU/CSU-Bundestagsfraktion sieben Erfordernisse für eine nationale Werftenoffensive mit dem Ziel der Stärkung der maritimen Wirtschaft. Erstens. Der IWF muss endlich garantieren, dass Südkorea seine Mittel nicht weiter gegen Europas Werften einsetzt. Die unfairen Wettbewerbsbedingungen sind sofort aufzuheben. Wir müssen den Missbrauch der Währungshilfen wirksam beenden. Wenn es nicht anders geht, muss die Bundesregierung ihren Beitrag so lange auf Eis legen, bis Korea eingelenkt hat. Zweitens. Die Wettbewerbshilfen für die nationale Werftindustrie sind so lange in voller Höhe fortzusetzen, bis faire Marktbedingungen für deutsche Schiffbauer umgesetzt worden sind. Drittens. 70 Prozent der Wertschöpfung in der Werftenindustrie kommen aus Süd- und Westdeutschland. Rund 9 Milliarden DM hängen bei uns von der „blauen Wirtschaft“ ab. Wir sind der Auffassung, dass auch die Verhältnisse zwischen Bund und Ländern, die Quotierung, neu überdacht werden müssen. Viertens. Auch Europa muss härter handeln. Finanzielle Unterstützungen und Hilfeleistungen an Staaten, die den Wettbewerb verzerren, müssen solange unterbleiben, bis wieder gleiche Spielregeln für alle gelten. Fünftens. Die Bundesregierung sollte noch vor der parlamentarischen Sommerpause im Juli dieses Jahres einen Werftenbericht vorlegen, um auf der Grundlage einer ungeschminkten Bestandsaufnahme weitere Handlungsschritte zu entwickeln. Sechstens. Die überhastete Steuergesetzgebung bei den Sonderabschreibungen ist zu überarbeiten. Siebtens. Wir brauchen endlich ein Antisubventionsabkommen der OECD. Seine Ratifizierung ist überfällig. Es fehlt noch die Unterschrift der Vereinigten Staaten, um den internationalen Subventionswettlauf zu beenden. Unfaire Wettbewerbspraktiken müssen streng und unnachgiebig geahndet werden. Deshalb gehört das Abkommen ganz oben auf die Agenda beim nächsten G-8Gipfel. Das ist der eigentliche Schlüssel für faire Wettbewerbsbedingungen. Der deutsche Schiffbau wie der in Europa sind in schwerer See. Nur konsequentes Handeln auf allen Entscheidungsebenen kann eine Ausweitung der Krise und noch mehr Arbeitslosigkeit verhindern. Die Belegschaften und die Werften selbst haben in den vergangenen Jahren ihren Beitrag dazu in großartiger Weise geleistet. Rationalisierung und Arbeitsoptimierung wurden bis zur Grenze der Verantwortbarkeit ausgereizt. Die Produktivität hat sich vervielfacht, trotz reduzierter Belegschaft. Hier ist kein Spielraum mehr. Jetzt sind politisch Verantwortliche gefordert. Zehntausende Schiffe auf allen Weltmeeren sind mehr als 20 Jahre alt. Neue Schiffe, neue Sicherheitsstandards, neue Konzepte „from road to sea“ werden die Wolfgang Börnsen ({1}) Zukunft prägen und neue Märkte erschließen. Mit unserer weltweit immer noch führenden Technologie eröffnet dies größte Chancen für unseren Schiffbaustandort Deutschland. Deshalb gilt es, diesen Standort zu stabilisieren. Denn in Qualität und Umweltorientierung sind unsere Schiffbauer erste Klasse. Doch der Preis diktiert die Aufträge. Wenn wir nicht von Billiganbietern ausgebootet werden wollen, brauchen wir eine gemeinsame Werftenoffensive. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Kristin Heyne von Bündnis 90/Die Grünen.

Kristin Heyne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002676, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die deutschen Werften sind technologisch hoch entwickelt, sie sind modern und sie sind wettbewerbsfähige Betriebe. Ich glaube, darin sind wir hier in der Debatte einig. Das finde ich einen ganz wichtigen Punkt. Sie spielen in ihren Regionen eine wichtige wirtschaftspolitische Rolle: als Arbeitgeber, aber auch als innovative Unternehmen, als Systemanbieter, als Kooperationspartner und nicht zuletzt als Ausbilder in den verschiedensten Berufszweigen. Aus grüner Sicht ist uns am Schiffbau ganz besonders gelegen; denn hier wird ein umweltverträgliches Verkehrssystem entwickelt. Wir wünschen einen Ausbau des Gütertransports „from road to sea“. Wir wünschen Werften, die umweltverträgliche und vor allen Dingen meeresverträgliche Schiffe bauen. Das genau tun unsere deutschen Werften. Der Kollege Börnsen hat insofern eine Einschränkung gemacht, als unsere Werften bessere Bedingungen bräuchten, zum Beispiel in der Frage der Abgaben. Die in dieser Woche so viel geschmähte Ökosteuer hat die Sozialversicherungslast - und damit die Abgaben - für die Werften gesenkt. Ich glaube, dass das gerade für die Werften ein wichtiger Schritt war, neben vielen weiteren, die notwendig sind. ({0}) - Lieber Kollege Austermann, Sie wissen: Die Werften gehören zum produzierenden Gewerbe. Wenn Sie sich noch gestern darüber beklagt haben, dass wir energieintensivere Bereiche eben nicht in den - nicht zu gewinnenden - Wettbewerb treiben, dann werden Sie heute ganz sicher unterstützen, dass wir in diesem Bereich die Ökosteuerreform mit maßvollem Auge eingeführt haben. Für die Werften ist Weiteres notwendig: Heute liegt uns die Empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie vor, dem Antrag der Regierungsfraktionen zuzustimmen, der beinhaltet, der Schiffbauindustrie Wettbewerbshilfen zu genehmigen. Wir halten diese Hilfen für sinnvoll; denn es handelt sich um zeitlich befristete Hilfen und eben nicht um ein Fass ohne Boden. Die deutsche Werftindustrie ist grundsätzlich wettbewerbsfähig. Aber - die Kollegen haben es beschrieben in den vergangenen Jahren war eine extreme Verzerrung des Wettbewerbs auf dem Weltmarkt zu beobachten. Seit Mitte 1998 erhalten die deutschen Werften wie die der übrigen europäischen Länder - fast keine Aufträge mehr. Der Weltschiffbaumarkt ist von einem dramatischen Preisverfall gekennzeichnet. Viele Werften arbeiten trotz voller Auslastung mit Verlusten. Der Auslöser dieser Entwicklungen sind die südkoreanischen Angebote, die bis zu 30 Prozent unter Weltmarktpreisen liegen. Südkorea hat seine Schiffbaukapazitäten innerhalb der letzten sechs Jahre verdreifacht. Fast jedes dritte Schiff entsteht inzwischen in Südkorea. Der Wettbewerbsvorteil der südkoreanischen Schiffbauer beruht zum einen auf der ökonomischen Entwicklung - die durch die dramatische Abwertung des Won im Rahmen der asiatischen Finanzkrise gekennzeichnet ist - und ist zum anderen in Lohnkürzungen begründet. Aber trotz dieser Maßnahmen arbeiten die koreanischen Werften zurzeit offensichtlich nicht kostendeckend. Verschiedene Studien, unter anderem von der EU, haben gezeigt, dass aus Korea Schiffe angeboten werden, deren Preis unter den Selbstkosten liegt. Dies ist eine Wettbewerbsverzerrung, die auf mittlere Sicht nicht hinzunehmen ist. Um die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Schiffbaus kurzfristig zu sichern, müssen wir vergleichbare Produktionsbedingungen gewährleisten. Hierzu hat der Bund für die Jahre 2001 bis 2003 zusätzliche Verpflichtungsermächtigungen eingestellt. Hier gibt es eine klare Planbarkeit für die Werften über die nächsten Jahre. Das ist etwas anderes als die Praxis bei Herrn Wissmann, an die ich mich gut erinnern kann. Damals mussten wir über die Hilfen jedes Jahr noch kurz vor Verabschiedung des Haushaltes verhandeln. Sie wussten nie genau, woran sie sind. Mit dieser Bundesregierung wissen die Werften, woran sie sind, ({1}) welche Hilfen ihnen zur Verfügung stehen. ({2}) Dieser Schritt ist notwendig, kann aber nur zur Überbrückung dienen. Ich glaube, das kann keine langfristige Perspektive sein. Darum arbeitet die Bundesregierung gleichzeitig an einer Korrektur der verzerrten Wettbewerbsbedingungen. Südkorea erhält ja wegen seiner Finanzkrise Unterstützung vom IWF im Volumen von 58 Milliarden DM. Es ist zu befürchten, dass genau dieses Geld in die Werftenindustrie läuft, wofür es nicht vorgesehen war. ({3}) Wolfgang Börnsen ({4}) Deswegen drängt die Bundesregierung in allen Kontakten darauf, dass die Vorgaben des IWF strikt eingehalten werden und dieses Dumping nicht fortgesetzt wird. Wir müssen aber natürlich auch sehen - da gebe ich dem Kollegen Börnsen und auch der Kollegin Wetzel Recht -: Wie kann man langfristig zu vernünftigen Wettbewerbsbedingungen auf dem Schiffsmarkt kommen? Das kann nur über ein Ende des internationalen Subventionswettlaufs gehen. Schon jetzt kann man auch bei einigen EU-Staaten erkennen, dass sie die Lösung doch in einer dauerhaften Subventionierung der Werften sehen. Das kann nicht unser Weg sein. Vielmehr muss es darum gehen, zu gemeinsamen Vereinbarungen aller Schiffbaunationen zu kommen. Es muss ein multilaterales Subventionsabkommen geben. ({5}) Das heute ebenfalls vorliegende und noch nicht angesprochene Gesetz über ein Rahmenabkommen über Handel und Zusammenarbeit zwischen EU und Korea ist, denke ich, ein wichtiger erster Schritt auf diesem Weg. Das Abkommen vertieft die Beziehungen zwischen Korea und der EU. Im Zentrum stehen Handelskooperationen, handelspolitische Zusammenarbeit, wirtschaftliche, wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit und der Aufbau der industriellen Kooperation. Mit diesem Abkommen werden günstige Voraussetzungen für ein nachhaltiges Wachstum und für eine Diversifizierung des Handels geschaffen. Wir wollen die Werften mittelfristig in die Lage versetzen, nach dem EU-weiten Auslaufen der Wettbewerbshilfen aus eigener Kraft wirtschaftlich und technologisch am Markt zu bestehen. Ich will aber auch ganz klar sagen: Im Moment ist es eindeutig notwendig, Hilfen zu geben. Wir haben aber auch die Erwartung an die Werften, dass sie sich auf die Bereiche konzentrieren, in denen sie langfristig konkurrenzfähig sein können. Der Schiffbau muss seine Produktpalette diversifizieren. Auch schiffbaufremde Produkte müssen angeboten werden. Seine Chance auf dem Markt für umweltverträgliche und innovative Transportsysteme sollte der Schiffbau nutzen. Es hat gerade vonseiten der Betriebsräte an den verschiedenen Werften seit vielen Jahren Vorschläge in diese Richtung gegeben, die leider oft für lange Zeit nicht aufgegriffen wurden. Ganz sicher kann es nicht akzeptabel sein, wenn die Betriebe sich auf Rüstungsproduktionen konzentrieren. Eine Breite des Angebots ist dringend notwendig. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassend sagen: Die moderne Werftindustrie ist auf mittlere Frist wettbewerbsfähig. Sie ist unverzichtbar für die Küstenländer und auch für die süddeutschen Zulieferer. Die Bundesregierung unterstützt die Werften finanziell und in internationalen Verhandlungen. Lassen Sie uns den vorliegenden Anträgen und dem Gesetzentwurf zustimmen und damit der Politik der Bundesregierung deutlichen Rückenwind geben! Danke schön. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Jürgen Koppelin von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die aktuelle Lage der deutschen Werftindustrie ist alles andere als zufriedenstellend. Der Kollege Börnsen hat schon darauf hingewiesen. Ich glaube, es ist nicht zu hoch gegriffen, von einer sehr dramatischen Situation nicht nur bei den deutschen Werften, sondern bei den europäischen Werften insgesamt zu sprechen. Seit der Finanzkrise in Südkorea wird offenbar, dass sich auf dem Weltschiffbaumarkt ein Falschspieler herumtreibt, der entsprechend agiert. Gigantische Kapazitätsausweitungen und die Preispolitik Südkoreas haben den Werften bei uns im Lande sehr schwer geschadet. ({0}) Es ist einfach nicht hinzunehmen, dass die Koreaner erst durch ihre eigene Subventionspolitik in die Krise geraten, der asiatische Markt praktisch kollabiert, dann der Internationale Währungsfonds milliardenschwere Kredite nach Südkorea pumpt und wir dann zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Koreaner mit Staatskrediten für den heimischen Schiffbau so weitermachen wie bisher und Dumpingangebote auf dem Weltmarkt machen. Das kann so nicht laufen. ({1}) Diese Vorgehensweise geht eindeutig zu Lasten der deutschen Werftindustrie und ist zu verurteilen. Wir sollten dem auch nicht tatenlos zusehen. Sowohl die Bundesregierung als auch alle Fraktionen hier im Hause - das habe ich aus den Redebeiträgen herausgehört wollen und werden dem auch nicht tatenlos zusehen. Allein bei mir in Schleswig-Holstein sind zehn Werften von der Preispolitik Südkoreas betroffen. Die Zahlen aus den vergangenen Jahren, vor allem von 1998, belegen die Unverhältnismäßigkeit und das Ungleichgewicht auf dem Weltschiffbaumarkt. Mit Hilfe einer künstlich niedrig gehaltenen Währung, dem Won, hat die südkoreanische Werftindustrie im dritten Quartal 1998 ein Drittel aller Neubauaufträge bekommen. Im vierten Quartal ging aufgrund der Preispolitik schon jeder zweite Auftrag nach Südkorea. Südkorea wird mindestens, so schätze ich, bis 2001 einen Währungsvorteil haben, der dazu führt, dass der europäische Schiffbau eine Preisdifferenz von etwa 20 bis 30 Prozent ausgleichen muss, um Aufträge zu erhalten. Unter Druck geraten dadurch - darauf möchte ich extra hinweisen - vor allem unsere kleineren Werften, die es sowieso schon schwerer haben. ({2}) Daher ist es auch richtig, der Beschlussempfehlung des Wirtschaftsausschusses zu folgen und auf eine strikte Einhaltung der Bedingungen für die Vergabe von Krediten an Südkorea durch den Internationalen Währungsfonds zu drängen. Die hohe Bedeutung des Schiffbaus als strategische Industrie, der hohe Zulieferanteil aus allen Bundesländern sowie die Sorge um die Arbeitsplätze und die Verantwortung des Bundes sind nach meiner Meinung Gründe genug, die ein Engagement wie das jetzt beschlossene rechtfertigen. ({3}) Angemerkt werden muss trotz aller Einigkeit mit der Koalition allerdings auch an dieser Stelle - hier unterscheidet sich meine Position etwas von der der Kollegin Heyne -, dass die Werften Schwierigkeiten haben, weil die Mittel für die Marine im Verteidigungshaushalt erheblich gekürzt wurden und noch weiter gekürzt werden sollen. Dies wird negative Auswirkungen auf die Werftindustrie haben. Vieles, was die Marine aufgrund der Aufträge der Bundeswehr erforschen konnte, war später ein Vorteil für den Handelsschiffbau, weil er modernere Technik anbieten konnte und dadurch den Preisunterschied ausgleichen konnte. ({4}) Ich sehe mit großer Sorge, dass die Zahl der Ersatzbeschaffungsaufträge der Bundeswehr zurückgehen. Davon haben die kleineren und mittleren Werften ebenso wie Reparaturbetriebe profitiert. Herr Staatssekretär, Sie haben gestern die Richtlinien für den Rüstungsexport angesprochen. Ich möchte auf die Situation im U-Bootbau aufmerksam machen. Ich akzeptiere nicht nur, sondern unterstütze auch, dass Sie auf die Einhaltung der Menschenrechte im Zusammenhang mit Rüstungsexporten drängen. ({5}) - Stellen Sie einfach eine Zwischenfrage! - Aber haben Sie hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte im Zusammenhang mit dem Verkauf von U-Booten Bedenken? Ich sehe nicht die Möglichkeit, dass U-Boote Menschen beschießen. U-Boote sind ausschließlich eine Verteidigungswaffe und nichts anderes. Die Krise im Schiffbau hat zum Beispiel dazu geführt, dass sich eine Werft in Schleswig-Holstein im UBoot-Bau mit einer schwedischen zusammentut. Wie sollen bei einer solchen Zusammenarbeit die Bedingungen für den Export aussehen? Die Schweden, die nun wirklich friedliebende Leute sind und deren Engagement für den Frieden in der ganzen Welt bekannt ist, haben nicht dieselben strengen Exportbedingungen wie wir. Sie haben für Exportbedingungen gesorgt, die ihren Werften helfen. Ich habe schon gehört, dass es bei dieser Zusammenarbeit Schwierigkeiten gibt, weil die rotgrüne Koalition in Berlin regiert. Hier wäre ich für eine Auskunft dankbar. Es ist nur als ein Tropfen auf den heißen Stein zu bewerten, wenn bei den Beratungen des Haushalts 2000 eine Verpflichtungsermächtigung von 240 Millionen DM in den Etat des Wirtschaftsministers eingestellt wurde. Die Darstellung der Kollegin Heyne, die früher Mitglied des Haushaltsausschusses war, ist natürlich falsch gewesen. Selbstverständlich kämpfen alle Parteien - so war es auch bei der früheren Bundesregierung üblich - teilweise, ich sage bewusst nicht: gegen den Wirtschaftsminister, aber gegen das Wirtschaftsministerium. So war es auch bei den letzten Haushaltsberatungen. Sowohl den ehemaligen Wirtschaftsministern als auch der jetzigen Regierung und vor allem dem Herrn Staatssekretär - auf ihn komme ich gleich noch zu sprechen - will ich gerne zugestehen, dass sie innerlich froh über unsere geleistete Arbeit waren und ihr zugestimmt haben. Die erste Botschaft des Bundesministers Müller bestand eigentlich darin, den Beitrag für die deutschen Werften zu streichen, damit er seinen Sparbeitrag für Herrn Eichel leisten konnte. Wir haben das verhindern können. Wir haben andere Möglichkeiten gefunden. ({6}) Insofern zollen sich alle Fraktionen, die daran gearbeitet haben, selbst Beifall. ({7}) Ich spreche ausdrücklich den Herrn Staatssekretär an und ich bescheinige ihm gerne, dass er sich für die Werften engagiert. Darauf wurde schon von dem Kollegen Börnsen in einem Nebensatz aufmerksam gemacht. Ich finde, Herr Staatssekretär, wir müssen uns über ein mit diesem Bereich verbundenes Problem unterhalten, nämlich dass die norddeutschen Länder nun aus ihren Landeshaushalten einen hohen Beitrag erbringen müssen, was zum Beispiel Schleswig-Holstein nicht immer gemacht hat - es hat sich hin und wieder einmal verabschiedet -, obwohl 50 Prozent der Zulieferung aus Süddeutschland - mindestens 25 Prozent aus BadenWürttemberg - erfolgt. ({8}) Bei aller Einigkeit darf man einmal sagen: Die Süddeutschen sollen nicht kommen und behaupten, dort oben werde subventioniert. Es sind teilweise ihre eigenen Arbeitsplätze - nicht nur die norddeutschen -, die davon profitieren. In Norddeutschland wird das Schiff zusammengebaut; aber der Motor und alles andere kommen aus Süddeutschland und sichern dort Arbeitsplätze. Ich denke, wir sind uns insgesamt beim Thema Schiffbau in unserem Vorgehen gegenüber Korea einig. Wenn wir weiterhin einig sind - vom Wirtschaftsministerium will ich besonders den Herrn Staatssekretär nennen, aber auch alle Fraktionen -, dann blicken wir in eine positive Zukunft für den deutschen Schiffbau. Ich bedanke mich für Ihre Geduld. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Rolf Kutzmutz von der PDS-Fraktion das Wort.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig: Wir sind uns im Grundsatz einig. Wir sind uns darüber einig, was der Schiffbau für Deutschland und seine Zukunftsfähigkeit bedeutet. Wir sind uns darüber einig, was die Werften für jeweilige Region bedeuten. Insofern gibt es in dieser Frage meinerseits überhaupt keinen Widerspruch. Wenn ich zum Sarkasmus neigen würde, dann würde ich meinen Redebeitrag etwa so anfangen: Natürlich sind auch wir von den zahlreichen Initiativen der Bundesregierung in den letzten Wochen und Monaten tief beeindruckt, vor allem von ihren Erfolgen gegenüber Südkorea. Die messbaren Ergebnisse konnte, wer wollte, am Dienstag bei „dpa“ unter der Überschrift „Korea jetzt weltgrößter Schiffbauer - Deutschland auf Rang vier“ studieren. Herr Börnsen hat von Rang fünf gesprochen. Als im Bundestag vor zehn Monaten die heute zu verabschiedenden Anträge anberaten wurden, lag Südkorea auf Platz zwei hinter Japan und die Bundesrepublik Deutschland lag vor China auf Platz drei der Schiffbaunationen. Ich will überhaupt nicht die Anstrengungen kleinreden. Ich kann mir vorstellen, wie viel zähe Gespräche es gegeben hat und noch geben muss. Aber letztendlich muss man das Ergebnis zur Kenntnis nehmen. Für mich ist das Ergebnis nicht verwunderlich und es sagt nichts über hiesige nationale schiffbaupolitische Aktivität oder Untätigkeit aus. Es liegt vielmehr an fundamentalen weltwirtschaftlichen Entwicklungen: der weiteren Schwächung der südkoreanischen Währung Won und an der nach wie vor bestehenden fernöstlichen Subventionspraxis. Insofern unterstützen wir natürlich auch den interfraktionellen flammenden Appell an die Bundesregierung, sich allerorts für verbindliche Rahmenbedingungen eines stabilen Weltschiffbaumarktes einzusetzen. Natürlich begrüßen auch wir das von Frau Bulmahn vorgestellte Programm „Schiffbau und Meerestechnik für das 21. Jahrhundert“. Aber die Situation ist heute nicht anders als im März des vergangenen Jahres. Deshalb will ich noch einmal hervorheben: Ohne grundlegende Reform der Weltwirtschaftsordnung bleibt es selbst im Erfolgsfall beim Kurieren an Symptomen, ohne die Wurzeln der Probleme tatsächlich zu berühren. ({0}) Dabei ist mir vor allem unverständlich - das will ich hier deutlich ansprechen, weil einige Kollegen schon darauf eingegangen sind -, wieso ausgerechnet heute das EU-Rahmenabkommen mit Südkorea verabschiedet werden soll. Es ist für mich ein Unding, hier allseits und wortreich das Preisdumping südkoreanischer Werften - im Einzelfall bis 38 Prozent unter den tatsächlichen Fertigungskosten - zu beklagen und dennoch ein Abkommen ratifizieren zu wollen, in dessen Art. 8 es wörtlich heißt: Daher treffen die Vertragsparteien in Einklang mit dem OECD-Übereinkommen über den Schiffbau keine Maßnahmen zur Unterstützung ihrer Schiffbauindustrie, die den Wettbewerb verzerren würden oder es ihrer Schiffbauindustrie ermöglichen würden, künftigen schwierigen Situationen zu entgehen. Mag sein, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, so wie im Ausschuss gesagt, selbst auch noch Verhandlungsbedarf sehen. Sie sagen ja, mit der vertraglichen Festlegung würde der Verhandlungsspielraum nicht eingeschränkt werden. Ich kann es mir aber einfach nicht vorstellen, dass man ein Abkommen abschließt und bestimmte Rahmenbedingungen festlegt und anschließend sagt, wir brechen aus diesem Rahmen aus. Namens der PDS-Fraktion beantrage ich hiermit deshalb, den Entwurf eines Gesetzes zum Rahmenabkommen vom 28. Oktober 1996 über den Handel und die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits zur erneuten Beratung an die Ausschüsse rückzuüberweisen. Wir haben im Oktober vergangenen Jahres im Wirtschaftsausschuss auf Vertagung gedrängt. Das wurde damals von allen anderen Fraktionen abgelehnt. Die Regierung hatte nämlich noch in der Sitzung erklärt, man habe wegen des Subventionsproblems bei der EUKommission bereits interveniert und werde den Sachverhalt bilateral im November mit Südkorea zu klären versuchen. Auch hierzu hat Frau Wetzel gesprochen; ich will dazu sagen, dass ich keinen Zweifel daran habe, dass es Bemühungen gegeben hat. Was kam nun aber bei den Beratungen des EUMinisterrates und den wirtschaftspolitischen Konsultationen zwischen Deutschland und Südkorea heraus? Wenn man den Wahlkampfauftritt von Bundeskanzler Schröder vom Dienstag vergangener Woche zur Kenntnis nimmt, besteht darüber kein Zweifel. Ich zitiere hierzu eine dpa-Meldung: Subventionen müsste man gar nicht zahlen, wenn es anderswo einen fairen Wettbewerb gäbe. Auf einer Betriebsversammlung der größten deutschen Werft mit mehr als 2 000 Beschäftigten kündigte Bundeskanzler Schröder an, die europäischen Anstrengungen in der Welthandelsorganisation und beim Internationalen Währungsfonds voranzutreiben, um den von Korea erzeugten „Teufelskreis“ zu durchbrechen. Das scheint vom Ergebnis her alles zu sein; Herr Mosdorf wird sicherlich noch einiges sagen. Wenn Bundeskanzler Schröder mehr gegenüber Südkorea erreicht hätte, dann hätte er, da bin ich sicher, das auch in Kiel den Werftarbeitern gesagt. ({1}) Wer zum jetzigen Zeitpunkt das Abkommen bestätigt, obwohl er genau weiß, dass es sein Partner nicht einzuhalten gewillt ist, der muss sich schon die Feststellung gefallen lassen: Entweder sind für ihn völkerrechtliche Verträge das Papier nicht wert, auf dem sie stehen, oder aber er täuscht bewusst seine Wählerinnen und Wähler in den Werftstandorten über die Möglichkeiten und die Ernsthaftigkeit seiner Bemühungen. Das wäre fatal. Südkorea hat das Abkommen - das muss man hier noch einmal sagen, damit es auch alle verstehen, die sich sonst nicht damit beschäftigen - nämlich schon im November 1996 ratifiziert, also Jahre, bevor es Milliarden den Gläubigerbanken der Dumping-Werften zukommen ließ. Wohlgemerkt: Auch wir sind für vertraglich garantierte Rahmenbedingungen, für weltwirtschaftliche Verflechtungen statt kommerziellen Faustrechtes, zumal im vorliegenden Abkommen beispielsweise Zusammenarbeit beim Umweltschutz und bei nachhaltiger Entwicklung auf der Basis der von den UN angestoßenen Prozesse vereinbart ist. Wir brauchen aber - mein letzter Satz, Herr Präsident - ein politisches Signal. Das darf sich nicht nur an Südkorea richten, sondern muss auch den europäischen und deutschen Werften gegeben werden. Wenn wir aber heute ratifizieren, lautet das Signal: Wir haben die Chance zur Auseinandersetzung vergeben; denn ein Vertragspartner, der einen Vertrag in der Hand hat, wird sich auf Auseinandersetzungen nicht mehr einlassen. Danke schön. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Dieser Rücküberweisungsantrag der PDS-Fraktion würde eigentlich eine Geschäftsordnungsdebatte nach sich ziehen. Ich höre aber, dass es Einvernehmen unter den Fraktionen gibt, auf diese Geschäftsordnungsdebatte zu verzichten. Ist dies der Fall? - Das ist so. Damit wird im Anschluss an die Aussprache über diesen Antrag entschieden. Jetzt gebe ich das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Siegmar Mosdorf.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut zu wissen, dass das Haus - vielleicht mit ganz wenigen Ausnahmen - eigentlich geschlossen dafür eintritt, dass alles getan werden muss, damit der deutsche Schiffbau in einer veränderten weltwirtschaftlichen Konstellation wettbewerbsfähig bleibt, mithalten kann und damit auch erfolgreich zukunftsfähige Arbeitsplätze sichern kann. Das ist gut zu wissen und stützt auch die Haltung der Bundesregierung bei vielen komplizierten Verhandlungen. Die Lage auf dem Schiffbaumarkt ist weltweit in der Tat dramatisch und hat sich sehr zugespitzt. Das hat natürlich auch etwas mit der Finanzkrise in Asien zu tun. Die Ursachen dafür liegen insbesondere bei den südkoreanischen Werften. Es wurde hier auf viele Fragen eingegangen. Wir haben in mehreren Stufen versucht, das Problem einzugrenzen: Zunächst einmal ließen wir Aufträge genau untersuchen. Dabei kamen wir zu dem Ergebnis - das wurde hier schon mehrfach zitiert -, dass es immerhin achtmal Angebotspreise von südkoreanischen Werften gab, die deutlich, nämlich 15 bis 40 Prozent, unter den Gestehungskosten lagen. Die Durchführung dieser Untersuchungen hatten wir bei der Europäischen Kommission veranlasst. Es war auch wichtig, dass diese Untersuchungen angestellt worden sind, denn dadurch sind wir argumentationsfähig geworden. Des Weiteren haben wir Initiativen bei der Europäischen Kommission ergriffen, weil sich die Lage des Schiffbaus in Deutschland dramatisch zugespitzt hatte. Die deutschen Werften haben in den letzten Jahren allergrößte Modernisierungsanstrengungen unternommen. Es waren schmerzliche Anstrengungen, die auch den Abbau von Arbeitsplätzen beinhalteten. Würde dies durch den Markt nicht honoriert, wären diese Anstrengungen vergebens und es käme zu einer nicht akzeptablen Situation. Bei den Containerschiffen, vor kurzem noch der meistverkaufte Schiffstyp deutscher Werften, gehen zurzeit 60 bis 70 Prozent aller Aufträge an südkoreanische Werften. Die südkoreanischen Werften haben insbesondere auf dem Sektor Containerschiffe alles getan, um sich auf dem Weltmarkt Dominanz zu verschaffen. In Deutschland wie auch in anderen europäischen Schiffbauländern konzentrieren sich die Unternehmen daher zurzeit auf den Bau von Fährschiffen und Passagierschiffen, also auf qualitativ hochwertige Wertschöpfungsketten. Dieser Sektor reicht jedoch nach Darstellung der Schiffbauindustrie langfristig nicht aus. Deshalb brauchen wir auch weiterhin andere Ansatzpunkte. ({0}) Die in dem Antrag enthaltenen Forderungen decken sich mit den von der Bundesregierung gesehenen Handlungserfordernissen, zu deren Umsetzung in den vergangenen Monaten bereits zahlreiche größere Initiativen unternommen worden sind. Wir haben zu diesem Zweck auch ich kann bestätigen, dass wir das einvernehmlich getan haben - Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von 240 Millionen DM in den Bundeshaushalt 2000 eingestellt, um in diesem Jahr akquirierte Aufträge fördern zu können. Mit der üblichen Kofinanzierung der Länder in Höhe von zwei Dritteln des Programms kann damit ein Auftragsvolumen von zirka 10 Milliarden DM unterstützt werden. Ich füge hinzu - das ist von Frau Wetzel bereits angesprochen worden -, dass es aufgrund der europäischen Situation wahrscheinlich die letzte Möglichkeit war, etwas zu tun, sofern sich auf dem Weltmarkt nicht dramatische Zuspitzungen ergeben. Herr Börnsen hat darauf hingewiesen, dass es nicht darum gehen kann, Dauersubventionen zu erreichen. Es geht um die Frage, wie man in dieser spezifischen Situation helfen kann. Auch die französischen und spanischen Kollegen haben im Ministerrat in Brüssel dieselbe Frage aufgeworfen. Deshalb haben wir diese Schritte unternommen. Die Bundesregierung sieht allerdings keine Möglichkeiten, ihren Anteil zu erhöhen. Wir wollen ja gerade versuchen, von diesen Subventionen weg zu kommen. Aber wir haben alles getan, um in dieser prekären Situation die Werften zu unterstützen, und werden weiterhin darauf drängen, dass es auf internationaler Ebene zu Verträgen kommt. ({1}) - Das ist für die Rahmenbedingungen entscheidend. In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, Herr Kutzmutz - in diesem Punkt waren Sie auch nicht ganz eindeutig -, daß Ihre Ablehnung des heutigen Vertrages natürlich dazu einlädt, dann, wenn man keine Vertragsbindungen hat, das zu tun, was man selber für richtig hält. So war es bisher, und das kann man Raubtierkapitalismus ohne Spielregeln nennen. Das ist der Grund, warum wir sehr darauf drängen, dass möglichst viele Volkswirtschaften in der WTO und in der OECD sind. ({2}) Die Zahl der OECD-Mitgliedstaaten hat deutlich zugenommen. Das ist auch der Grund, weshalb wir diese bilateralen Verträge machen. In einer Zentralverwaltungswirtschaft funktioniert die Wirtschaft nach Kommandos von der Kommandobrücke aus. Im Raubtierkapitalismus ist es wie im Dschungel. Wir hingegen wollen eine Art von sozialer Marktwirtschaft in der Tradition von Ludwig Erhard und Karl Schiller, die einen Ordnungsrahmen hat und trotzdem die Effizienzvorteile der Marktwirtschaft nutzt. Wir versuchen, einen solchen Ordnungsrahmen zu schaffen. Leise füge ich hier aber hinzu, dass es nicht ganz einfach war, während der Zeit des Stand-still-Abkommens bei den Ostwerften eine Zweitprivatisierung vorzunehmen. Das haben auch die Koreaner moniert. Es werden ja auf beiden Seiten Kritikpunkte gesehen. Die andere Seite registriert so etwas ja auch sehr genau. Deshalb muss man alles fair im Auge behalten. Wir sind aber entschlossen, alles zu tun, damit die Werften auch in Zukunft eine reale Fertigungsbasis haben; denn es soll niemand glauben, wir könnten auf Werften verzichten. ({3}) Wir brauchen diese reale Fertigungsbasis auch in Zukunft nicht nur für die Arbeitsplätze, sondern auch für unsere hochentwickelte Volkswirtschaft. Deswegen werden wir die Anstrengungen auf diesem Gebiet fortsetzen. Übrigens wird dieses Thema auch Gegenstand der Gespräche sein, die vom 9. bis 11. März geführt werden, wenn der koreanische Präsident die Bundesrepublik Deutschland besucht. Der Bundeskanzler hat die Absicht, auch bei dieser Gelegenheit auf diese Themen sowohl in Sachen Werften als auch in Sachen Automobile zu sprechen zu kommen. Wir werden diese Punkte im Klartext ansprechen und deutlich sagen, welche Erwartungen wir hier haben. Die harschen Töne, die wir - auch ich selber auf der Ministerratskonferenz in Brüssel - gefunden haben, waren neben der Aufforderung an die EU-Kommission, selber initiativ zu werden, notwendig, weil sich die Koreaner sonst nicht bewegt hätten. Wenn die Koreaner jetzt auf einen Teil der letzten Tranche des Weltbankdarlehens in Höhe von 1 Milliarde DM verzichtet haben, dann ist das ein Zeichen dafür, dass sie registriert haben, dass es nicht ganz so einfach geht, wie sie es sich gedacht haben. Von den 58 Milliarden DM haben sie einen Teil abgerufen; jetzt sind sie dabei, auf Teile zu verzichten. Das hat etwas damit zu tun, dass die EUKommission ernsthaft - jedenfalls ernsthafter, als es vorher gemacht worden ist - interveniert. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss kommen. Neben dieser aktuellen Auseinandersetzung mit den Koreanern haben wir darüber hinaus das grundsätzliche Interesse, dass der maritime Standort gestärkt wird. Das ist der Grund, warum wir eine Konferenz des Bundeskanzlers am 13. Juni zum Thema „Maritimer Standort“ vorbereiten. Das ist auch der Grund, warum wir weiter konzeptionell an der Entwicklung in dieser Branche arbeiten. Man muss dazu sagen: Wir tun dies einvernehmlich sowohl mit den Gewerkschaften wie mit der Wirtschaft. Wir haben nämlich alle ein Interesse daran, dass der Standort in diesem Bereich gesichert wird. Wir müssen alles tun, damit die Arbeitsplätze krisenfest und so leistungsfähig und wettbewerbsfähig sind, dass sie sich im internationalen Wettbewerb behaupten können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Dietrich Austermann.

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist eine seltene Situation, dass man in einer Debatte den Eindruck hat, es seien sich - zumindest nach der Situationsbeschreibung - alle einig. Dieser Eindruck umfasst die Darlegungen des Parlamentarischen Staatssekretärs aus dem Wirtschaftsministerium und die Beschreibung, die von der SPD, von der F.D.P. und vom Kollegen Börnsen gegeben worden ist. Einigkeit besteht auch darüber, dass wir in Deutschland Werften dringend brauchen. Dazu müssen auf europäischer Ebene Entscheidungen getroffen werden. Das ist richtig. Ich brauche jetzt nicht zu wiederholen, was über die schädlichen Auswirkungen der besonderen Vorgehensweise der Koreaner zutreffend gesagt worden ist. Wenn man sich allerdings anschaut, wie die Bewertung dessen aussieht und welche Schlussfolgerung aus diesen Entscheidungen gezogen werden, dann kommt man zu dem Schluss, dass es in der Tat doch wieder die eine oder andere Differenz gibt. Ich sage das nicht im Hinblick auf die vorgelegten Anträge, sondern im Hinblick auf die Realität und die Entscheidungen, die daraus praktisch folgen. Wir sind uns einig darüber, dass die koreanischen Werften ihre Position brutal ausgebaut haben und damit dazu beigetragen haben, dass deutsche, europäische und japanische Werften im Vergleich zu ihnen ins Hintertreffen geraten sind. Sie haben durch Dumping, durch Preisunterbietung den Wettbewerb kaputtgemacht. Das hat dazu geführt, dass sich die Annahme einzelner Aufträge zum Teil kaum noch rechnet. Wir erleben in Schleswig-Holstein eine Diskussion bei HDW. Dort hat man einen Auftrag für den Bau eines Kreuzfahrtschiffes mit einem Volumen von 1,3 Milliarden DM hereingeholt. Jetzt rechnet der neue Eigentümer des Unternehmens nach, ob denn überhaupt noch Geld übrig bleibt. Wir wissen in der Tat, dass sich in den vergangenen Jahren Schiffbauaufträge nur noch dann gerechnet haben, wenn die Werft Möglichkeiten hatte, an anderer Stelle einen Ausgleich zu schaffen. Das wurde beispielsweise durch Aufträge aus dem Marineschiffbau erreicht. Die Aufträge für U-Boote, für Fregatten und für sonstiges Gerät der Bundesmarine konnten offensichtlich besser abgerechnet werden, als das bei den Spannen im Handelsschiffbau möglich ist. Diese Möglichkeit scheint jetzt nicht mehr gegeben zu sein, auch wenn ich nicht bestreiten will, dass man den U-Boot-Bau unterstützen soll - das geschieht mit unserer Zustimmung - und dort, wo es nötig ist, mit entsprechenden Partnern auch Export betreiben soll. Der Kollege Börnsen hat darauf hingewiesen. Es ist ja ganz interessant an der Situation Schleswig-Holsteins, dass, nachdem es einmal einen Blaupausen-Untersuchungsausschuss gab - da ging es um U-Boote für Südafrika die Bundesregierung ja inzwischen genehmigt hat, dass U-Boote und Korvetten nach Südafrika geliefert werden. Aber es ist vielleicht bloß ein Schmankerl, wenn man manchmal sagt: Manches wäre nicht passiert, wenn ... Ich behaupte heute, der Kollege Gansel wäre nie Oberbürgermeister in Kiel geworden, wenn es diese Blaupausen-Affäre nicht gegeben hätte. - Nun gut. Die Werften sind in einer schwierigen Situation. Sie kommen mit den Preisen nicht mehr zurecht, und wir erwarten, dass die Europäische Union, unterstützt von der Bundesregierung, alle Schritte unternimmt, aus dem Bericht, den die Europäische Union im Oktober 1999 über die Situation des Weltschiffbaues vorgelegt hat, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. ({0}) Dazu gehören für uns Anti-Dumping- oder Ausgleichsmaßnahmen, die geprüft werden müssen, genauso, wie sich die Möglichkeit bietet, internationale Vereinbarungen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen der Welthandelsorganisation, die bisher im Schiffbau noch nicht angewendet wurden, einzusetzen und ein Streitschlichtungsverfahren zu betreiben. ({1}) Wenn man das in Deutschland vorhandene Knowhow erhalten will, reicht es nicht aus, den Blick nur auf die europäische Szene und auf den Weltmarkt zu richten; dann muss man sich angesichts der Tatsache, dass das Jahr 2000 nach meiner Beurteilung ein Schicksalsjahr des europäischen Schiffbaus wird, auch fragen: Wie sieht es aus mit den nationalen Maßnahmen, die wir treffen können oder die wir manchmal vielleicht auch besser unterlassen? Hier gibt es bei einzelnen Punkten wohl doch Anlass zu einer deutlichen Differenz. Wir haben im Haushaltsausschuss gemeinsam 240 Millionen DM für Wettbewerbshilfe beschlossen. Es gibt eine Lobby über Parteigrenzen hinweg zwischen Haushaltsausschuss und Wirtschaftsausschuss - meinetwegen nehme ich den Wirtschaftsausschuss auch zuerst -, wenn es darum geht, die Werften zu fördern. Aber jeder weiß - da fängt dann der Unterschied schon an -, dass im Regierungsentwurf dort Mittel nicht vorgesehen waren. Jeder weiß auch - hier kommt der Punkt, wo wir alle miteinander aktiv werden müssen, wenn wir entsprechende Ergebnisse erreichen wollen -, dass es zurzeit wieder ein Gerangel zwischen Finanzminister und Wirtschaftsminister in der Frage gibt, wann denn nun die Sperre, die ja noch verhängt worden ist und die wir nicht wollten, nämlich die Sperre über die Verpflichtungsermächtigungen, aufgehoben wird. ({2}) Wenn man sich das Auftragsvolumen von 10 Milliarden DM anguckt - Staatssekretär Mosdorf hat darauf hingewiesen - und dann feststellt, die Mittel sind bis heute nicht freigegeben, es bedarf einer zusätzlichen Einvernahme des Parlaments, dann fordere ich Sie ausdrücklich auf, dafür zu sorgen, dass möglichst schnell der Entsperrungsantrag von der Regierung vorgelegt wird, damit die Mittel auch für diese Maßnahmen zugunsten der Werften bereitgestellt werden können. ({3}) Ich sage aber auch, dass es noch andere Gründe gibt, aus denen man einen Einbruch befürchten muss, der zum Teil sogar schon eingetreten ist. Ich habe in meinem Wahlkreis eine kleine Werft. Die Werft hat seit der Bundestagswahl, wenn man der Presse glauben darf, keinen einzigen Auftrag bekommen. Beim letzten Besuch der Werft haben wir nachgefragt, woran das denn wohl liegen kann. Man hat uns gesagt, es fing an mit einer neuen steuerrechtlichen Regelung durch das so genannte Steuerentlastungsgesetz vom Frühjahr 1999. Damals wurde ein Paragraph eingeführt, der heute bei den Steuerberatern den Titel „Fallenstellerparagraph“ trägt. Es ist Paragraph 2 b des Einkommensteuergesetzes. Er verhindert die Einwerbung von Beteiligungskapital für den Schiffbau. ({4}) Die Verhinderung der Einwerbung von Beteiligungskapital heißt, dass gerade die kleinen und mittleren Werften durch diese Regelung nicht mehr in der Lage sind, Kapital zu sammeln, um über ihre Werft, wie das früher üblich war, möglichst viele gute Schiffe zu bauen und zu verkaufen. Ich habe damals als im Vermittlungsausschuss noch einmal über dieses Thema geredet wurde - es war im Herbst letzten Jahres -, Frau Simonis angeschrieben und sie gebeten, sie möge doch initiativ werden und habe einen Gesetzentwurf beigefügt, mit dem man die schädlichen Wirkungen des Paragraphen 2 b insbesondere für kleinere und mittlere Werften wieder ausmerzen könnte. Sie hat bis heute darauf nicht geantwortet. Das passt übrigens zu dem, was über den Besuch von Gerhard Schröder in Kiel berichtet wurde. Herr Schröder hat dort gesagt - und hat sich damit auf das berufen, was Frau Simonis immer über Schleswig-Holstein sagt -: Das Land hat einen weiten Weg gemacht, weg von der Ausrichtung der Wirtschaft auf Landwirtschaft und Werften -. Dies übersieht vielfache Entwicklungen in den letzten Jahren. Damit sollte wohl suggeriert werden, dass für Hightech besonders viel getan wird, was sicher falsch ist. Aber es übersieht die Tatsache, die hier mit Recht beschrieben worden ist, dass eine Fülle unserer Werften bei der Schiffsproduktion Hightech machen. Das neue 180-Millionen-Programm ist die dritte Fortsetzung von Programmen, die es früher immer ({5}) - ich komme gleich dazu, Herr Ronsöhr - für Förderungen gab, die wir im Bereich der Meerestechnik vorgenommen haben und die leider oft, weil die Werften nicht mehr die eigene Kraft hatten, nicht ausgeschöpft worden sind. Es nutzt überhaupt nichts, neue große Programme zu machen, die sich an Adressaten richten, die damit nichts anfangen können. Das ist natürlich auch bei der Landwirtschaft mit ihren Produktivitätssteigerungen der Fall, bei den Anwendungsmethoden in vielen Bereichen, auch bei der Umsetzung von Energie- und Biotechnologie in einer modernen Betriebswirtschaft. Ich nenne einen weiteren Punkt, der zu kritischen Bemerkungen Anlass gibt. Die Unsicherheiten über Abschreibezeiten für Schiffe führen zur Zurückhaltung bei der Bestellung von Neubauten. Wer moderne, sichere, umweltfreundliche Schiffe will, muss es bei angemessenen Abschreibezeiten lassen. ({6}) Das muss beachtet werden, wenn wir jetzt über die Unternehmensteuerreform und die Lohn- und Einkommensteuerreform reden. Es hat sicher auch eine Wirkung für den Schiffbau, gerade für kleine und mittlere Werften, wenn die degressive AfA verändert werden soll, wenn Sonderabschreibungen für kleine und mittlere Unternehmen und nach § 32 c EStG abgeschafft werden sollen. Dies hat zwangsläufig Wirkungen und kann nicht so einfach weggewischt werden. Die Wirkungen sind in den Werften bei den Arbeitsplätzen ohne weiteres leider sofort zu sehen. Ich will ein Weiteres zum Thema Wettbewerbshilfe sagen. Es muss darauf gedrängt werden, dass die ständigen Nadelstiche, die an der einen oder anderen Stelle angesetzt werden, endlich aufhören. Ich sage das deshalb, weil die Vereinbarung zwischen Bund und Ländern über das Programm 1999 erst in den letzten Tagen des Jahres 1999 unterzeichnet wurde - aber nicht vom Land Schleswig-Holstein. Die Landesregierung hat erst am 3. Januar 2000 das Programm für 1999 unterschrieben. Hier höre ich von der KfW, dass das ein absoluter Negativrekord ist. Wie will ich denn dynamisch unterstützen, wenn die Mittel, die wir hier im Parlament bereitstellen, nicht an den Mann bzw. an die Werften kommen? Das muss endlich aufhören. ({7}) Es ist fahrlässig und Unfug, wenn durch interne Diskussionen - auch zwischen den Regierungsbehörden - die Inkraftsetzung des Programmes lange hinausgezögert wird. Ich sage das auch, damit man sieht, was die Steuergesetzgebung bedeutet, was die Tätigkeit in einzelnen Bundesländern bedeutet, was die Schwierigkeiten der Finanzierung bedeuten. Mancher, der meint, die Werften seien allesamt gesunde Betriebe, verkennt, dass die Rahmenbedingungen, über die wir uns gern unterhalten, besser gestaltet werden können, als das zurzeit der Fall ist. Meines Erachtens gehört auch dazu, dass mancher Schiffbauauftrag, wie ich vorhin gesagt habe, nur über zusätzlichen Marineschiffbau überhaupt vernünftige Erträge gewährleistet. Besonders schlecht geht es - dies möchte ich zum Schluss sagen - den Werften in Schleswig-Holstein. Das Land hat seit 1996 107 Millionen DM Komplementärmittel verweigert und dadurch Bundesmittel von weiteren 53 Millionen DM ausgeschlagen. Das Ergebnis: Ein Auftragsvolumen von 2,2 Milliarden DM ist an den Werften des Landes Schleswig-Holstein vorbeigegangen. Wenn also die Kieler Landesregierung - wie wir alle - mit dem Zeigefinger nach Korea zeigt, weisen vier Finger auf das eigene rot-grüne Versagen in Kiel hin. Wer nicht die Mittel bereitstellt, um Angebote des Bundes zu komplettieren, kann sich hinterher nicht darüber beklagen, dass die Situation so ist, wie sie ist. Unsere Werften brauchen die Unterstützung einer tatkräftigen EU-Kommission, ({8}) einer handlungsfähigen Bundesregierung, die vom Parlament beschlossene Hilfen rasch umsetzt, verbesserte steuerliche Rahmenbedingungen und Bundesländer, die ihren Anteil bei der Erfüllung der Aufgaben im Bereich der regionalen Wirtschaftspolitik wahrnehmen. Dann kann damit gerechnet werden, dass die Produktionslücken, die zurzeit vorhanden sind, bis zum Jahre 2003 weitgehend gefüllt werden und der deutsche Schiffbau eine Zukunft hat. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPDFraktion spricht der Kollege Thomas Sauer.

Thomas Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003215, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schade, dass am Ende der Debatte nun durch Herrn Austermann in erster Linie landtagswahlpolitische Argumente hier Eingang gefunden haben. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten die sehr sachDietrich Austermann liche und in weiten Teilen in Übereinstimmung geführte Debatte auch so zu Ende bringen können. Die Bundesregierung wie auch die schleswigholsteinische Landesregierung tun alles, um die Arbeitsplätze auf den Werften und bei der Zulieferindustrie zu sichern und zu erhalten. ({0}) Das ist eine sehr schwierige Aufgabe. Die Arbeitsplatzzahlen auf den Werften sind seit vielen Jahren rückgängig. Die Produktivitätssteigerungen errechnen sich ja auch daraus, dass in erheblichem Umfang Personal abgebaut wurde. Das ist ein sehr schmerzlicher Prozess, und ich finde es nicht besonders anständig, die Versprechungen, die wir auch im Haushaltsplan 2000 machen, bei den Werftarbeitern und in der Werftindustrie jetzt sozusagen als unglaubwürdig darzustellen. Die Werften und die Werftarbeiter können sich auf die deutsche Sozialdemokratie verlassen. ({1}) Immerhin geht es noch um rund 26 000 Beschäftigte in den Werften und um rund 70 000 Beschäftigte bei den Zulieferindustrien. Das ist kein unwesentlicher Bereich, und man sollte mit den Ängsten dieser Menschen nicht spielen. Durch die Einstellung der Produktionsbeihilfen in den Haushalt 2000 ist - ich erwähnte es eben - die Auftragslage der Werften für die nächste Zeit gesichert. Diese politische Leistung zugunsten der Beschäftigten in der maritimen Wirtschaft war trotz der Konsolidierungsanstrengungen im Haushalt möglich und zeigt, dass wir, wie ich eben schon sagte, den deutschen Schiffbau nicht im Regen stehen lassen. Wir wollen die Zukunftsmöglichkeiten der maritimen Industrie stärken. Bei den kleineren und mittleren Werften ist die Situation nach wie vor insgesamt schwieriger. Wir müssen deshalb die ökonomische Situation gerade der kleineren und mittleren Werften ganz besonders im Auge behalten. Ich sage dies auch vor dem Hintergrund der Insolvenz der Husumer Schiffswerft in meinem Bundesland Schleswig-Holstein. Ich hoffe, dass sich über den Bau von Windkraftanlagen weitere neue Beschäftigungschancen für die Kolleginnen und Kollegen bei der Husumer Schiffswerft ergeben. Meine Damen und Herren, die Abwertung des Won war schon in mehreren Wortbeiträgen Gegenstand der Diskussion. Die Abwertung um 30 Prozent stand natürlich im Zusammenhang mit der Krise der asiatischen Finanzmärkte. Das hat auch Preisvorteile für Korea geschaffen, die ganz exemplarisch in der Werftindustrie dazu führen, dass Arbeitsplätze und Wachstumschancen in Europa gefährdet sind. Die Instabilität der internationalen Finanzarchitektur, die sich in der asiatischen Finanzkrise gezeigt hat, muss meines Erachtens auch politische Konsequenzen haben. Eine engere internationale Kooperation auch in der Währungspolitik ist meines Erachtens notwendig, um währungspolitische Stabilität zu erreichen. Das scheint mir eine wichtige makroökonomische Forderung zu sein. Eine moderne Wirtschaftspolitik muss dafür sorgen, dass die Währungsbeziehungen zwischen den großen Währungsräumen stabil sind, denn ohne stabile Weltfinanzmärkte gibt es keine stabilen Wechselkurse. Zur Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen im Schiffbau mit Südkorea müssen die ruinösen Wettbewerbspraktiken endlich abgebaut werden. Dazu hat Frau Dr. Wetzel ausführlich Stellung genommen. Ich kann dies für meine Person hier nur noch einmal bestätigen. Es ist unsere politische Aufgabe, gemeinsam mit den Unternehmen und den Gewerkschaften der maritimen Industrie eine Zukunftsperspektive für diese Branche zu eröffnen. Dazu brauchen wir ein Bündel von Maßnahmen. Sie betreffen zum einen die Stabilisierung der Währungsräume, aber auch den Abbau von Lohndumping und den Abbau von Beistandskrediten zum Erhalt von Überkapazitäten, wie es zum Beispiel in Korea der Fall ist. Andere Maßnahmen betreffen notwendige Anpassungen in Europa und beim deutschen Schiffbau über die bereits gemachten Anstrengungen hinaus. Denn bei aller richtigen Kritik: Der asiatische Raum und Südkorea bleiben natürlich selbst unter fairen Wettbewerbsbedingungen starke Mitbewerber, denen der europäische Schiffbau mit Produktivität und hoher Qualität begegnen muss. Ich glaube, gerade in Schleswig-Holstein, Herr Austermann, zeigen sich viele positive Beispiele, wie Unternehmungen, wie Werften und auch die Landesregierung versuchen, in die Zukunft zu schauen und diese Wettbewerbsbedingungen anzunehmen. ({2}) Positive Beispiele finden sich bei der Unternehmenskooperation, wie sie etwa Lindenau in Kiel und Büttner aus Bremen praktizieren, die für sich damit Synergievorteile realisieren. Sie zeigen sich ebenso in einer effektiven Förderung von Innovation und Forschung, die natürlich auch für diese Branche notwendig ist. Das wurde schon von einigen hier angesprochen. Als Abgeordneter aus Schleswig-Holstein freue ich mich, dass gerade in meinem Heimatland neben den Wettbewerbshilfen des Landes, die komplementär geleistet werden, und den Landesbürgschaften gerade in diesem Bereich viel für die Werften getan wird. Für Schleswig-Holstein hat der letzte Bericht zur Lage der Schiffbauunternehmen festgestellt, dass ein dichtes Netzwerk der Kooperation zwischen Schiffbauunternehmen und Forschungseinrichtungen entstanden ist. Das ist eine erfreuliche, weil wichtige positive Entwicklung. Ich erwähne hier exemplarisch, aber nahe liegend, weil aus meinem Wahlkreis kommend, die Kooperation der schleswig-holsteinischen Werften mit dem GKSSForschungszentrum in Geesthacht im Bereich neuer Materialien und ihrer Verarbeitung. Insbesondere freue ich mich natürlich - ich muss das hier zum dritten Mal positiv erwähnen - über das jüngst angekündigte 180-Millionen-DM-Forschungsprogramm für Schiffbau und Meerestechnik. Auch das wird helfen, die Produktivität in unseren Werften zu steigern und neue Innovationsprozesse zu realisieren. Ich glaube, dass die maritime Industrie mit gemeinsamen Anstrengungen und mit einem bisschen guten Willen eine gute Chance hat zu bestehen. Dazu braucht sie faire Wettbewerbsbedingungen auf den Weltmärkten. Die Bundesregierung ist aufgefordert, wie von Herrn Mosdorf hier angekündigt und bestätigt, diese fairen Wettbewerbsbedingungen herzustellen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Tagesordnungspunkt 5 a: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/ Die Grünen zu einer Initiative gegen die Auswirkungen der asiatischen Finanzkrise und des internationalen Subventionswettlaufs auf die deutsche und europäische Werftindustrie; Drucksache 14/1233. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/540 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 5 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Rahmenabkommen vom 28. Oktober 1996 über den Handel und die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits; Drucksache 14/1200. Die Fraktion der PDS hat die Rücküberweisung des Gesetzentwurfs an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie beantragt. Wir stimmen zunächst über diesen Antrag ab. Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag auf Rücküberweisung an den Ausschuss ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Wir stimmen deshalb jetzt über den Gesetzentwurf ab. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/2064, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen. Zusatzpunkt 5: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zu einer Initiative gegen die Auswirkungen der asiatischen Finanzkrise und des internationalen Subventionswettlaufs auf die deutsche und die europäische Werftindustrie; Drucksache 14/2538. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/400 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Dann ist diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten KurtDieter Grill, Gunnar Uldall, Dr. Klaus W. Lippold ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Deutschland muss weiterhin in der Reaktorsicherheitsentwicklung eine führende Rolle einnehmen - Zusagen an Frankreich müssen eingehalten werden - Drucksache 14/1212 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Kollegen Dr. Paul Laufs für die CDU/CSU-Fraktion.

Prof. Dr. Paul Laufs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der schwerste Reaktorunfall in der westlichen Welt geschah am 28. März 1979 in Harrisburg, USA. Der 1 000-Megawatt-Druckwasserreaktor des Kraftwerks wurde bei diesem weit über die Auslegungsstörfälle hinausgehenden Kernschmelzunfall völlig zerstört. Personen- oder Umweltschäden waren nicht zu beklagen. Die inhärenten und passiven Sicherheitsvorkehrungen verhinderten wirksam eine Umweltkatastrophe. Der Reaktorunfall in Harrisburg war der Anlass für eine aufwendige und intensive Erforschung und Verbesserung der kerntechnischen Sicherheit in den 80er- und 90er-Jahren. Heute kann man feststellen, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Reaktorunfalls, vergleichbar dem Ereignis von Harrisburg, bei den Leistungsreaktoren westlicher Bauart um den Faktor 1 000 gesunken ist. Für die Kernkraftwerke der westlichen Industriestaaten liegt eine Erfahrung mit über 6 000 Anlagenbetriebsjahren vor. Die deutschen Kernkraftwerke sind durch umfangreiche Nachrüstungen, die Investitionen in Höhe vieler Milliarden DM erforderten, auf ein ständig verbessertes, sehr hohes Sicherheitsniveau gebracht worden. Deutsche staatliche Stellen, deutsche Wissenschaftler und Kraftwerksbetreiber waren immer ganz vorne bei den Vorkämpfern eines höchstmöglichen Sicherheitsstandards. Wir in der CDU/CSU wollen, dass dies im Interesse der Sicherheit unserer Bevölkerung so bleibt. ({0}) Viele Hundert deutsche Wissenschaftler haben in ihrem Memorandum zum geplanten Kernenergieausstieg gesagt, ({1}) dass angesichts der enormen Fortschritte der Sicherheitstechnik alte Parteitagsbeschlüsse auf ihre heutige Berechtigung überprüft werden müssten. Die rot-grüne Mehrheit lehnt dies ab, weil sie nicht zwischen Fakten und Meinungen unterscheiden will. Für sie ist die Kerntechnik grundsätzlich nicht beherrschbar und deshalb der sachlichen Auseinandersetzung nicht wert. Neue Erkenntnisse über inhärent sichere Hochtemperatur-, Siedewasser- und Druckwasserreaktorlinien interessieren sie grundsätzlich nicht mehr. Dies ist töricht und unverantwortlich. ({2}) Bei diesen neuen Reaktortechniken kann der größte denkbare Unfall, die Kernschmelze, entweder aus Gründen der Physik nicht mehr eintreten oder durch bauliche und technische Vorkehrungen sicher beherrscht werden. Wir sind überzeugt, dass die Kernenergie im Hinblick auf den ungeheuren Energiebedarf der Menschen in den Entwicklungsländern ebenso wie in den Industriestaaten und angesichts der Herausforderungen des Klimaschutzes eine Renaissance erfahren wird. Es wird ja nicht bestritten, dass heute und in den kommenden Jahren angesichts des auf den liberalisierten Märkten der Europäischen Union bestehenden Überangebots an elektrischem Strom kein Bedarf an einem neuen Kernkraftwerk besteht. In etwa zehn Jahren werden aber Entscheidungen über die Errichtung neuer Kraftwerke anstehen. In Japan, in Frankreich, in den USA und in vielen anderen Ländern denkt man nicht daran, die Kernenergie als Energieträger der Zukunft abzuschreiben. Neue weiterentwickelte Reaktoren sind übrigens durchaus wettbewerbsfähig mit Kohle und Gas, wenn man Abschreibungszeiten von 20 Jahren ansetzt. Die Option der Kernenergienutzung muss auch für Deutschland offen gehalten werden. Dazu gehört, dass ausreichender Nachwuchs für die nukleare Wissenschaft und Forschung sowie für das Fachpersonal in den kerntechnischen Anlagen ausgebildet wird. Wir müssen in diesem Bereich jungen qualifizierten Menschen eine Zukunftsperspektive bieten. ({3}) Selbst bei einem Ausstiegsszenario sind zahlreiche Fachkräfte für den Betrieb und die Entsorgung kerntechnischer Einrichtungen erforderlich. Aber der Ausstieg ist keine Lösung. Auch wenn in absehbarer Zeit keine neuen Kraftwerke gebaut werden: Der Weiterbetrieb der bestehenden Kraftwerke ist sicherheitstechnisch auch auf lange Zeit kein Problem. Durch Nachrüstungen kann der aktuelle Stand der fortgeschrittenen Technik für lange Zeit praktisch aufrechterhalten werden. Lebensdauerverlängerungen von 40 auf 60 Jahre sind sicherheitstechnisch kein Problem. ({4}) Sie haben eigentlich nur betriebswirtschaftliche Grenzen. Wenn gegenwärtig der Streit darum geht, ob eine Laufzeit von 25, 30 oder 35 Jahren politisch akzeptabel ist, bestehende Kernkraftwerke also noch für viele Jahre betrieben werden können, kann eine grundsätzlich unbeherrschbare Reaktorsicherheit den Atomausstieg nicht begründen. Wir haben auch noch keinen grünen Umweltminister erlebt, der eine Betriebsgenehmigung nach § 17 Abs. 5 des Atomgesetzes wegen einer erheblichen Gefährdung widerrufen hätte. Das ist mir bis jetzt nicht bekannt. Meine Damen und Herren, der CDU/CSU geht es um die Erhaltung einer wichtigen Zukunftsoption und um die weitere Verbesserung des Sicherheitsstandards deutscher Kernkraftwerke. ({5}) Dazu bedarf es im gegenwärtigen politischen Umfeld der Zusammenarbeit mit Frankreich. Deutsche und französische Unternehmen haben gemeinsam ein neues, inhärent sicheres Reaktorsicherheitskonzept für den Europäischen Druckwasserreaktor, den EPR, entwickelt. ({6}) Die Entscheidung über die Errichtung einer Prototyps auf einem französischen Standort in absehbarer Zeit erscheint möglich. ({7}) Für eine weitere deutsch-französische Kooperation muss die deutsche Seite ihre Zusagen gegenüber Frankreich einhalten, also auch die Zusagen der deutschen Bundesregierung zur Beurteilung der EPR-Auslegung und die Erarbeitung gemeinsamer Leitlinien für die Sicherheit künftiger Druckwasserreaktoren. ({8}) Durch die Vereinbarung der früheren Bundesumweltministerin Merkel mit dem französischen Industrieministerium ist ein gemeinsames deutsch-französisches EPR-Gutachterverfahren eingerichtet worden. ({9}) Zum ersten Mal wurde länderübergreifend gemeinsam an Regeln, Richtlinien und Vorschriften zur Reaktorsicherheit gearbeitet. Dies ist eine einzigartige Chance, deutsches und französisches Sicherheitsdenken zusammenzuführen und für ganz Europa und darüber hinaus Maßstäbe zu setzen. Diese Chance und das deutsche Mitspracherecht bei der zukunftsweisenden neuen Entwicklung eines EPR dürfen nicht verspielt werden. In der Sitzung des Deutsch-Französischen Direktoriums vom 16. Dezember vergangenen Jahres hat der Vertreter des Bundesumweltministeriums mitgeteilt, dass der deutsche Bundesumweltminister nicht mehr bereit sei, die gemeinsamen Arbeiten an neuen Sicherheitsanforderungen fortzuführen, ({10}) die bereits durch die Entlassung der früheren RSK außerordentlich erschwert worden waren. Die rot-grüne Bundesregierung hat das deutsch-französische Verhältnis bereits durch ihr unerhörtes Verhalten im Zusammenhang mit den Wiederaufarbeitungsverträgen und der Rückführung von Glaskokillen mit deutschen radioaktiven Abfällen außerordentlich belastet. ({11}) Mit dem vorliegenden Antrag fordert die Fraktion der CDU/CSU die Bundesregierung auf, deutsche Regierungszusagen und Vereinbarungen gegenüber Frankreich einzuhalten. Es ist bedrückend, dass solche Anträge überhaupt gestellt werden müssen. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPDFraktion spricht nunmehr der Kollege Horst Kubatschka. ({0})

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Präsident! Wir behandeln heute in erster Lesung einen kurzen, nicht knackigen, dafür aber dürftigen Antrag der CDU/CSU-Fraktion. Es geht um die Entwicklung des Europäischen Druckwasserreaktors und um den Traum einer Renaissance der Kernenergie, wie wir gerade gehört haben. Um es klar zu sagen: Zusagen der rot-grünen Regierung an Frankreich werden natürlich eingehalten. Genauso aber dürfte in Frankreich bekannt sein, dass die rot-grüne Koalition den Ausstieg aus der Kernenergie durchführen wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der EPR hätte bei uns keine Chance, genehmigt zu werden, dies nicht nur deswegen, weil wir den Einstieg in den gesetzlichen Ausstieg noch in diesem Jahr vollziehen werden, sondern auch, weil wir keinen Europäischen Druckwasserreaktor brauchen. Wir brauchen den Einsatz von erneuerbaren Energien. ({0}) Deswegen haben wir das Gesetz über erneuerbare Energie in den Bundestag eingebracht. Der EPR wäre in Deutschland nicht genehmigungsfähig, und zwar wegen des novellierten Atomgesetzes.Ich darf Sie nur an § 7 - Genehmigung von Anlagen - Abs. 2 a verweisen. Im Gesetz - es wurde von Ihnen auf den Weg gebracht und beschlossen - heißt es an der Stelle, dass bei einem Unfall, selbst bei einem GAU, keine Radioaktivität aus einem geschlossenen Gebäudegelände austreten darf. Dies wäre der absolut sichere Kernreaktor. Es hat ihn bisher nicht gegeben und es wird ihn auch in Zukunft - selbst bei den jetzigen technischen Lösungen - nicht geben. Aus diesem Grund wird der Europäische Druckwasserreaktor in Deutschland nicht genehmigungsfähig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Deutschland erfolgt der Ausstieg bereits; darauf wurde bereits hingewiesen. Seit vielen Jahren wird kein neues Kernkraftwerk mehr gebaut. Grund ist nicht nur die enorme Überkapazität in Deutschland und in der EU. Die Bürgerinnen und Bürger wollen mehrheitlich nach wie vor den Ausstieg. Auch den Stromherstellern ist klar: Bei den geltenden Sicherheitsstandards für Neuanlagen wird der Atomstrom zu teuer. Einen niedrigeren Sicherheitsstand werden Sie ja nicht befürworten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU. Ein „Atomkraftwerk light“ werden Sie nicht befürworten. ({1}) - Weil du gerade die 60 Jahre genannt hast, Monika: Ein Kraftwerk wäre dann ein Oldtimer und normalerweise fährt niemand einen Oldtimer im Verkehr. Das wird uns als technische Lösung empfohlen. Auch die Hersteller der Atomkraftwerke ziehen inzwischen die Konsequenzen. Die Firma Siemens trennt sich von ihren Nuklearaktivitäten und bringt sie mit der Firma Framatome in eine gemeinsame Tochter ein. Die Nuklearaktivitäten gehören nicht mehr zum Kerngeschäft. ({2}) Auch die Firma ABB trennt sich von ihren Nuklearaktivitäten, man will sie verkaufen. Das heißt auch für die Firma ABB: Nukleartechnik gehört nicht mehr zum Kerngeschäft, und dies, obwohl man sich zusammen mit Südafrika in einer hoffnungsfrohen Entwicklung beim Hochtemperaturreaktor wähnt. Zwei Weltkonzerne ziehen sich aus der Kernenergietechnik zurück. Sie wollen das Risiko vermindern, sie trennen sich von der nicht mehr zukunftsfähigen Kernenergie. Ich möchte noch auf einen anderen Aspekt hinweisen. Wir sollten eigentlich die Menetekel beachten. Die Sturmkatastrophe um die Jahrtausendwende war so ein Menetekel. Dabei ist klar, der Zeitpunkt war rein zufällig und so etwas kann sich leider jederzeit wiederholen. Diese Naturkatastrophe hat belegt, dass die Megastrukturen der Stromversorgung zu anfällig sind. Sie sind in bestimmten Situationen nicht mehr einsatzfähig und beherrschbar. ({3}) Werden sie massiv gestört, dauert es zu lange, bis sie wieder einsatzfähig sind. Ein Katastrophensturm hat die Menschen im wahrsten Sinne des Wortes frieren lassen. Von dem verheerenden Sturm war vor allem Frankreich betroffen: 3,5 Millionen Menschen saßen im Dunkeln. Der Stromausfall hat aber auch klargemacht, in welcher totalen Abhängigkeit von dieser Energieform wir uns befinden. Ohne Strom geht gar nichts. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, die französischen Erfahrungen einmal auf unser Leben, auf Sie persönlich zu übertragen. Ich habe das bei mir überprüft: Ich säße in meiner Wohnung - das Dunkle wäre gar nicht so schlimm - und würde erbarmungslos frieren, weil meine Heizung nicht funktionieren würde. Ich habe einmal durchgespielt, wie es bei meinen Freunden ausschaut und ob ich bei denen Unterschlupf finden kann: Ebenfalls Fehlanzeige, sie alle sind auf die Stromversorgung angewiesen. Kein Einziger hat Heizungen, die nicht auf Elektrizität angewiesen wären. ({4}) - Ja, aber ich appelliere nicht, jetzt plötzlich Kachelöfen zu bauen. Vielmehr appelliere ich, dezentrale Stromstrukturen aufzubauen, die nicht so anfällig sind. ({5}) Es ist klar, dass diese dezentralen Produktionsstrukturen miteinander vernetzt werden müssen. Manche mögen sagen, dieser Sturm sei ein einmaliges Ereignis gewesen. Ich hoffe auch, dass der Sturm Lothar für lange Zeit ein einmaliges Erlebnis sein wird. Aber das ist auch nur Prinzip Hoffnung. Die Klimaforschung zeigt ganz klar: Die bereits stattgefundene Temperaturerhöhung hat als erste Folge, dass die Windgeschwindigkeiten deutlich angestiegen sind. Sturmkatastrophen treten häufiger auf; das beweisen die Statistiken der Versicherungsunternehmen. Ich möchte auch ganz kurz auf die beiden Forderungen des Antrages eingehen - es sind ja nur zwei. Die erste Forderung beinhaltet, dass die gegebenen Zusagen eingehalten werden. Hier ist natürlich zu fragen, um welche Zusagen es sich handelt? Es ist klar: Die rot-grüne Koalition wird kein Kernkraftwerk mehr genehmigen. Genauso klar ist: Wir werden noch heuer ein Ausstiegsgesetz in den Bundestag einbringen und beschließen. Der Bundesrat wird dieses Gesetz nicht verhindern können. ({6}) Dieses Gesetz wird entweder im Konsens oder im Dissens mit den Betreibern der Kernkraftwerke beschlossen werden. Ein Dissensgesetz ist machbar und wird anders aussehen als ein Konsensgesetz. Ich hoffe, dass ein Konsens noch möglich ist, obwohl wir nicht mehr viel Zeit dafür haben. ({7}) Selbstverständlich werden wir aber auch den Franzosen kein Sicherheits-Know-how verweigern, denn jede Maßnahme, die zur Erhöhung von Anlagensicherheit führt, ist sinnvoll. Die erste Forderung dieses Antrags läuft also total ins Leere. Die zweite Forderung finde ich interessant. Man muss sich auch hier wieder fragen: Was bedeutet die vage Formulierung „Vereinbarung“? Trotzdem finde ich die Forderung sehr interessant. Dieser Bericht hätte aber nur dann Neuigkeitswert, wenn das berichtende Ministerium Einblick in die Verträge zwischen der Cogema und den EVUs bzw. den britischen Aufbereitern hätte nehmen können. Dann wäre ein solcher Bericht sinnvoll. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Unionsparteien, Sie hätten die Möglichkeiten, auf die Betreiber der Atomkraftwerke einzuwirken, damit diese die Verträge veröffentlichen. Trotzdem stellt sich eine spannende Frage: Wird in Frankreich der Europäische Druckwasserreaktor gebaut? Dies ist nicht unsere Entscheidung. Er wird nur dann gebaut, wenn er wirtschaftlich ist. Dies ist dann der Fall, wenn hohe Subventionen fließen, um die Wirtschaftlichkeit zu erreichen. In Frankreich sind diese hohen Subventionen nur deswegen möglich, weil der französische Markt nicht liberalisiert ist und die Liberalisierung auch in naher Zukunft nur schleppend vorangehen wird. ({8}) Beim liberalisierten europäischen Strommarkt, auf dem sich die EdF voll dem Wettbewerb stellen müsste, wäre der Europäische Druckwasserreaktor chancenlos. Es ist eigentlich schon erstaunlich, mit welcher Langmut die Europäische Union die so genannte Liberalisierung in Frankreich hinnimmt. Nach wie vor hat ein Stromkonzern als Monopolist das alleinige Sagen, und jede ernsthafte Liberalisierung wird im Keim erstickt. Dieser Staatskonzern nützt unsere Liberalisierung, um in den deutschen Strommarkt zu drängen. Übrigens, in Frankreich zahlen die kleinen Verbraucher dafür die Zeche in Form von hohen Preisen. Darüber hinaus bietet die baden-württembergische Landesregierung den Franzosen die Möglichkeit, auf dem deutschen Strommarkt Leistungen anzubieten, indem sie privatisiert. ({9}) Bei uns wird diskutiert, welche Farbe der Strom hat und welcher Preis dafür gezahlt werden muss. Die Diskussion über die Qualität des Stroms, über Versorgungssicherheit, über Kundennähe und über den Service bei eintretenden Pannen findet bei uns nur am Rande statt. Vor allem wäre es wichtig, zu verhindern, dass es zu längeren Stromausfällen kommt, wie sie zum Beispiel durch Sturmkatastrophen, die wir in Frankreich erlebt haben, verursacht werden können. Es ist schon erstaunlich, dass die Erfahrungen in Neuseeland, wo die Hauptstadt über mehrere Monate ohne eine sichere Stromversorgung war und die Erfahrungen aus Buenos Aires, wo Ähnliches geschah, bei uns keinen Widerhall finden. Es wird Zeit, dass wir die Liberalisierung des Strommarktes auch unter diesen Gesichtspunkten ernsthaft diskutieren. Die Unionsparteien haben mit ihrem Antrag wieder einmal bewiesen, dass sie die Zeichen der Zeit nicht verstanden haben. Atomkraft ist nur eine Übergangsenergie. Zu dieser Meinung hatte sich unter den Eindrücken von Tschernobyl auch einmal die CDU durchgerungen. Auch damals hieß es, die Atomkraft sei nur eine Übergangsenergie. Aber inzwischen wird sie wieder von den Unionsparteien gepuscht. Die Rede vorhin hat es bewiesen. Sie setzen damit das falsche Signal. Es ist wichtig, dass wir in eine andere Energieversorgung mit dezentralen Strukturen und erneuerbaren Energien einsteigen. ({10}) Wir müssen eine Zeit einläuten, die den erneuerbaren Energien eine Chance gibt. Deswegen erfolgt der Einstieg in den Ausstieg. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.Fraktion spricht die Kollegin Birgit Homburger.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst ein paar grundsätzliche Bemerkungen zu diesem Antrag machen, der ja ein paar Tage alt ist, ({0}) an dem man aber sehr deutlich die Situation, in der sich die Bundesregierung befindet, aufzeigen kann. Es bestehen einige Grundlagen für eine Wirtschaftspolitik, die sich erfolgreich den Herausforderungen der Gegenwart stellt, und zwar den Herausforderungen an die Weltwirtschaft im Wandel. Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit und Stabilität, das sind die Grundsätze, die zu gelten haben. Deswegen haben Global Player auf der nationalen und auf der internationalen Ebene zu Recht Anspruch auf eine berechenbare und zuverlässige Politik. Sie entscheiden über Investitionen und damit auch über Arbeitsplätze in Deutschland. Deswegen haben die Unternehmen Anspruch auf Vernunft, Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit, und zwar auch gegenüber dieser Bundesregierung. ({1}) Dies gilt auch dann, wenn es um den Bereich der Kernenergie geht - gerade hier, denn der bereits entstandene Vertrauensschaden ist hoch. Monatelang beraten Staatssekretäre der Bundesregierung über die verfassungsrechtlichen Konsequenzen des Atomausstiegs. Gestern sollte das Ergebnis nun endlich vorliegen. Eine verunsicherte Öffentlichkeit hat gespannt auf das Ergebnis gewartet - nichts! Nichts soll über die Ergebnisse der Beratungen bekannt gemacht werden, mit denen die Bundesregierung in 14 Tagen die von ihr so titulierten Gespräche zum Energiekonsens in Deutschland führen will. Es handelt sich also um geheimnisumwitterte Vorbereitungen auf einen faulen Kompromiss. Was ist mit den Energieversorgern? Sie dürfen weiter rätseln. Plant die Bundesregierung eine verfassungswidrige Enteignung? Auf wie lange Restlaufzeiten dürfen sie eigentlich hoffen? Oder müssen sie fürchten, demnächst von ihren Aktionären verklagt zu werden? In Bezug auf die Genehmigung von Atommülltransporten zeigt sich dasselbe Bild: Müssen sich die Atomkraftwerksbetreiber weiterhin auf rechtswidrige Schikanen einstellen? Droht etwa eine Verstopfung der Kernkraftwerke? Der Bundeskanzler höchstpersönlich hat ja schließlich bei früheren Konsensgesprächen gesagt, dass er nicht zulassen werde, dass eine solche Verstopfungsstrategie gefahren werde. - Alles nur Schall und Rauch. Die F.D.P. erwartet, dass sich die Energieversorger kein zweites Mal ins Boot ziehen lassen, wenn es der Regierung wieder einmal darum geht, ihr rot-grünes Gesicht zu wahren. ({2}) Wir fragen die deutsche Öffentlichkeit, ob es sinnvoll sein kann, die Kraftwerksbetreiber zu zwingen, strahlenden Müll auf ihrem Gelände abzulagern, obwohl unter Tage Lagerstätten erschlossen sind, die eine weitaus größere Sicherheit bieten, ({3}) oder Atommüll auf Halde zu legen, obwohl seit langem rechtskräftige Vereinbarungen zur Wiederaufarbeitung vorliegen. Dies kann energiepolitisch nicht vernünftig sein. ({4}) Im Deutschen Bundestag fand eine entsprechende Anhörung statt, ({5}) die ergeben hat, dass es keine sachlichen Gründe mehr gibt, Transportgenehmigungen zu verweigern. ({6}) Deswegen fragen wir die Bundesregierung: Wann und zu welchen konkreten Bedingungen werden eigentlich wieder Transportgenehmigungen erteilt? ({7}) Wo bleibt das Entsorgungskonzept? Was sollen wir unseren Partnern im Ausland sagen, wenn sie uns nach der Verlässlichkeit der deutschen Bundesregierung fragen? ({8}) Uns allen ist die Peinlichkeit noch schmerzlich in Erinnerung. Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit der Politik nach Lesart der Bundesregierung hieß seinerzeit: Seht her, liebe Freunde in Europa! Wenn wir meinen, aus der Atomenergie aussteigen zu müssen, dann ist dies höhere Gewalt, die euch in der Gestalt des deutschen Umweltministers gegenübertritt. Briten und Franzosen mussten die deutsche Bundesregierung daran erinnern, dass Verträge eingehalten werden müssen, ob auf nationaler oder auf internationaler Ebene, ob es einem passt oder nicht. ({9}) Und der Bundeskanzler ruderte zurück. Dies war allerdings vergebens; denn der Vertrauensschaden, der seinerzeit entstanden war, konnte kaum mehr beseitigt werden. Die Bundesregierung weiß aber ganz genau: Nicht einmal einer von vier Wählern in Deutschland unterstützt die Attitüde von Rot-Grün. ({10}) Der Atomausstieg soll um jeden Preis vollstreckt werden, obwohl die Bundesregierung auf die entscheidenden Fragen der energiepolitischen Zukunft keine Antwort weiß. Das CO2-Ziel von Kioto - kein Konzept. Energetische Versorgungssicherheit - kein Konzept. Entsorgung kein Konzept. ({11}) Damit ergibt sich selbst jenseits der gravierenden verfassungsrechtlichen Probleme auch aus umwelt- und energiepolitischer Sicht der klare Befund: Der sofortige Atomausstieg ist nicht zu verantworten. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Homburger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Peter Dreßen?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Homburger, Sie haben gerade erzählt, es sei niemand außer Rot-Grün ernsthaft gegen die Kernenergie. Sie stammen ja aus Baden-Württemberg. Könnten Sie vielleicht einmal einen kleinen Unterricht bei Ihrem Parteifreund Dr. HansErich Schött nehmen, der acht Jahre im Landtag saß, und sich mit ihm einmal über Gefahren und Risiken von Atomkraftwerken unterhalten? Denn er war einer der führenden Männer aus der F.D.P., der damals das Kernkraftwerk Wyhl verhindert hat. Wären Sie bereit, sich einmal mit einem Ihrer Parteifreunde darüber zu unterhalten?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, ich unterhalte mich pausenlos mit meinen Parteifreunden, ({0}) durchaus auch sehr kontrovers, ob Sie sich das vorstellen können oder nicht. Wir haben uns intensiv mit diesen Fragen auseinander gesetzt. Sie sagen, Atomenergie solle Übergangsenergie sein. Darin kann ich Ihnen dann zustimmen, wenn man ein klares Konzept für energetische Versorgungssicherheit in Deutschland hat, wenn man sagen kann, wie man die CO2-Minderung bei abgeschalteten Atomkraftwerken in den Griff kriegen will, und wenn man sagen kann, wie die Steigerung bei den regenerativen Energien, die Sie anstreben, tatsächlich erfolgen soll, wenn man also ein Konzept hat, das funktioniert. Das haben Sie in keiner Weise. Solange man ein solches Konzept nicht hat, kann man nicht einfach sagen: Wir steigen aus der Atomenergie aus. ({1}) Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, ihre Haltung zum Europäischen Druckwasserreaktor zu überdenken. Es handelt sich nämlich in diesem Fall um ein deutsch-französisches Entwicklungsprojekt mit zukunftsweisenden Impulsen für den weltweiten technischen Fortschritt bei der Reaktorsicherheit. Nur durch konstruktive Mitarbeit an internationalen Projekten kann Deutschlands Vorreiterrolle, kann der Einfluss auf die Entwicklung kerntechnischer Sicherheit weltweit erhalten bleiben. Ich denke, das müssen wir als Bundesrepublik Deutschland tun. ({2}) Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit der Politik, das ist die Gretchenfrage für jede Investition und erst recht für jede Forschungsinvestition im europäischen Binnenmarkt. ({3}) In politischer Verantwortung auch für den Arbeitsmarkt geht es letztlich immer um die Qualität Deutschlands als Wirtschaftsstandort und als Vertragspartner in einer globalisierten Welt. Dabei ist die Bundesregierung auf dem besten Wege, das Ansehen Deutschlands gänzlich zu ruinieren. ({4}) Die F.D.P. unterstützt den vorliegenden Antrag. Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich darüber zu berichten, wie sie in der Frage des Transports abgebrannter Brennelemente weiter zu verfahren gedenkt. Wir wollen von der Bundesregierung auch wissen, wie sie den auf nationaler und auch auf internationaler Ebene entstandenen Vertrauensschaden zu begrenzen gedenkt. Schaffen Sie die Voraussetzungen dafür, dass Deutschland seinen Beitrag zum internationalen technischen Fortschritt im Bereich der Reaktorsicherheit weiterhin leisten kann! Reichen Sie trotz aller Ideologie der übrigen Welt die Hand als kooperativer Partner mit einem Bewusstsein für globale Verantwortung! Lassen Sie die Gelegenheit zu einem deutsch-französischen Projekt nicht zum Opfer Ihres Verständnisses von höherer Gewalt werden! Danke. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Michaele Hustedt.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind heute wieder zu später Stunde unter uns. Die Presse hat, glaube ich, schon Feierabend gemacht. „Phoenix“ läuft auch nicht mehr. Das ist eine Chance, eine ehrliche Debatte über den Stand der „Zukunftstechnologie“ Atomkraft zu führen. Allerdings muss ich sagen, dass ich mir nicht sicher bin, ob Sie von der CDU zurzeit in der Lage sind, eine solche ehrliche Debatte zu führen. ({0}) Bei der Ökosteuerkampagne, die Sie im Augenblick fahren, sinken alle, selbst die so genannten Modernisierer wie Rühe und Merkel, auf Hintzes Rote-Socken-Niveau hinab. An einer sachlichen Politik sind Sie anscheinend zurzeit nicht interessiert. Sie betreiben mit der Ökosteuerkampagne einen absolut dreisten Populismus. Sind Sie sich nicht zu schade, die Bevölkerung gegen den Umweltschutz in Stellung zu bringen? ({1}) Das werden wir mit uns nicht machen lassen. Vor diesem Hintergrund habe ich meine Befürchtung geäußert sie ist die durch die Redebeiträge bestätigt worden ist, ich bedauere das -, dass trotz der späten Stunde leider keine ernsthafte Debatte über die Frage „Hat der EPR eine Zukunft oder nicht?“ möglich ist. Ich möchte noch etwas zu einigen Punkten Ihres Antrags sagen. Der erste Punkt betrifft Folgendes: Die Bundesregierung hat keinerlei Zusagen für den Bau des EPR gegeben. Wenn Sie das behaupten - dies tun Sie in Ihrem Antrag -, dann müssen Sie dies belegen. ({2}) Dies haben Sie bisher nicht getan. Es stimmt, dass sich die Betreiber vor langer Zeit - noch vor Einführung des Wettbewerbs - darauf verständigt haben, in beiden Ländern einen Antrag zu stellen. Aber dies haben sie nicht getan. Auch eine Vereinbarung zwischen den Industrievertretern würde eine Bundesregierung in keiner Weise binden. Ich weiß nicht, ob die damalige, von Ihnen gestellte Bundesregierung da irgendwie herumgemauschelt hat. Aber selbst eine solche Mauschelei würde die jetzige rot-grüne Bundesregierung nicht daran binden, sich für den Bau des EPR einzusetzen. Deswegen werden wir es auch nicht tun. ({3}) Zweiter Punkt. Herr Laufs hat wieder die Mär von dem inhärenten Reaktor erzählt. Sie sind anscheinend nicht auf dem Laufenden. Der EPR hat die Erwartungen bei weitem nicht erfüllt. Der EPR ist nicht inhärent. Während der laufenden Erforschung des Reaktors ist festgestellt worden, dass bei diesem Reaktor eine Kernschmelze nicht verhindert werden kann. Man hofft, dass man eine Kernschmelze auf die örtliche Schutzzelle begrenzen kann. Das Öko-Institut kommt in seiner Analyse zu einer desaströsen Aussage über die tatsächliche Sicherheitstechnik dieses neuen Reaktors. Ich glaube nach wie vor: Der Störfall in Deutschland ist normal. Das gilt auch für die laufenden AKWs. Daran wird sich auch durch den Bau des EPR nichts ändern. Das Betreiben von Atomkraftwerken ist unverantwortlich, auch das von EPRs. Das ist ein unverantwortbares Risiko, das wir nicht eingehen werden. ({4}) Drittens. Sie suggerieren in Ihrem Antrag, der EPR sei eine Zukunftstechnologie mit großen Marktchancen. ({5}) - Ihre Rede über die großen Möglichkeiten, die wir versäumen, und über die weltweite Entwicklung der Atomkraft usw. ist ein Beleg dafür. ({6}) In Deutschland - dies ist klar - wird der EPR nicht gebaut. Es ist kein Antrag gestellt worden. Die Stromkonzerne haben überall erklärt, dass sie trotz merkelscher Atomnovelle in absehbarer Zeit keinen Antrag auf Bau eines Reaktors stellen werden. Jetzt zur Ehrlichkeit: Selbst wenn Sie weiter regiert hätten - Gott bewahre uns davor -, würde kein Antrag auf Bau eines EPR in Deutschland gestellt werden. Das ist die absolute Wahrheit. ({7}) Viertens. Sie verweisen auf Frankreich und hoffen, dass Frankreich den Bau eines EPR übernimmt. Ich sage Ihnen Folgendes: Auch in Frankreich wurde ein solches Projekt bisher nicht beantragt. Auch in Frankreich hat sich die französische Regierung bisher nicht für dieses Projekt ausgesprochen. Auch in Frankreich haben die Grünen den Bau des EPR zu einer Koalitionsfrage erklärt. Auch in Frankreich ist die Wahrscheinlichkeit ausgesprochen groß, dass dieser Reaktor nicht gebaut wird, und zwar auch aus wirtschaftlichen Gründen. Die EdF steht vor der Herausforderung - auch wenn der französische Markt noch abgeschottet wird -, sich dem Wettbewerb öffnen zu müssen. Wenn Sie sich die Zukunftsplanungen der EdF anschauen, dann stellen Sie fest, dass sie als Ersatz für die veralteten Atomkraftwerke keinen Neubau von Atomkraftwerken plant, auch keinen von EPRs; vielmehr plant die EdF den Neubau von GuD-Kraftwerken, weil sie sich ökonomisch wesentlich besser rechnen. ({8}) Das bedeutet für die nächsten Jahre erst einmal - lassen Sie uns nicht über eine Zeitraum von 10 oder 15 Jahren reden -, dass ein Bau dieses Reaktors weder in Deutschland noch in Frankreich - das ist Ihre Hoffnung - geplant ist. Wahrscheinlicher ist sogar, dass der EPR überhaupt nicht realisiert wird; vielmehr bedeutet die mit dieser Dinosauriertechnologie verbundene Forschung eine endlose Fortsetzung einer Sackgasse. Der EPR ist keine Zukunftstechnologie. Die Nukleartechnologie ist eine Auslauftechnologie. Das sehen im Übrigen nicht nur wir, sondern das sieht auch - Herr Kubatschka hat es angesprochen - Siemens so. Siemens hat seine Nuklearabteilung im Prinzip an Framatome verscherbelt. Anders kann man das nicht bezeichnen. Warum? Weil Siemens unter Ihrer Bundesregierung jahrelang keine Aufträge mehr zum Neubau von Reaktoren bekommen hat! ({9}) - Gott sei Dank aus unserer Sicht, natürlich. Die Nuklearabteilung von Siemens ist sowieso ein relativ kleiner Zweig mit etwas über 3 000 Beschäftigten. Im Vergleich dazu: Auf dem Gebiet der Windenergie haben wir schon über 30 000 Arbeitsplätze geschaffen. Im Bereich der Biomasse und dergleichen mehr wird ein Vielfaches neu geschaffen werden. ({10}) Die Sparte Nukleartechnologie von Siemens ist in den Jahren 1998 und 1999 mit einem Minus von 132,5 Millionen Euro noch tiefer in die roten Zahlen gerutscht. Aus diesem Grund verabschiedet sich Siemens schnell vom Nukleargeschäft. Die Analysten geben Siemens darin Recht, dass dieser Schritt eine richtige Maßnahme zur Weiterentwicklung des Unternehmens ist. Sie haben anlässlich dieser so genannten Fusion gesagt, dass das Nukleargeschäft seit Jahren eindeutig rückläufig ist. Anscheinend hat die Industrie die Zeichen der Zeit verstanden. Nukleartechnologie, auch der EPR, ist keine Zukunftstechnologie, auf die man bauen kann; im Gegenteil: Der EPR stellt eine technologische Sackgasse dar. Die Industrie tritt deswegen auf die Notbremse. Die Einzigen, die das Fähnchen noch hochhalten, sind die CDU/CSU und die F.D.P. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen und Fakten geschieht das aus ideologischen Gründen; anders kann es nicht sein. ({11}) Ich warne Sie. Ich nenne als Beispiel Wackersdorf. Dort war es haargenau so. ({12}) Irgendwann hat die Industrie gesagt: Wir verzichten auf dieses Projekt. Einen Tag vorher hat man Kohl angerufen und Kohl ist damals im Dreieck gesprungen - ich weiß es noch, als wenn es heute gewesen wäre -, ({13}) weil er bis zum letzten Tag für Wackersdorf gekämpft hat - ohne Wenn und Aber und mit großem Engagement. Die Industrie war aber der Ansicht: Nein, das rechnet sich nicht; wir gehen. Passen Sie auf, dass Ihnen das beim EPR nicht genauso geschieht! ({14}) Das Thema „Weiterentwicklung der Sicherheitstechnik“ ist eine ernsthafte Angelegenheit. Wenn wir es ernst nehmen, dann sollten wir uns auf etwas anderes konzentrieren. Wie gesagt, wenn die Nuklearindustrie überhaupt noch internationale Aufträge bekommt, dann geht es meistens um Nachrüstungen oder Umrüstungen und nicht um Neubautechnologien. In Deutschland laufen die Atomkraftwerke - aus Sicht der Grünen leider - wahrscheinlich noch einen längeren Zeitraum. Unter Ihrer Regierung gab es auch eine indirekte Subvention der laufenden AtomkraftwerMichaele Hustedt ke, weil es nicht zu regelmäßigen Sicherheitschecks der bestehenden Atomkraftwerke gekommen ist. ({15}) Wir werden uns bei der Atomgesetznovelle auch diesen Punkt vornehmen und regelmäßige Sicherheitschecks vorschreiben. Dabei kommt immer einiges heraus. Nehmen wir einmal das Beispiel Biblis A. Bei Biblis A wurde einmal ein solcher Sicherheitscheck durchgeführt und es sind weit über 100 Mängel aufgetaucht. Jetzt befinden wir uns in der Diskussion, wie diese Mängel behoben werden können; denn sie müssen behoben werden. ({16}) Das muss dann zu Nachrüstungen führen. Auf dieser Ebene - Sicherheitstechnologie entwickeln, die bestehenden Mängel der in Deutschland vorhandenen AKWs beseitigen - könnten wir zusammenkommen. Das könnten wir in der Zukunft tatsächlich etwas tun. ({17}) Ich glaube, dass man Ihren Antrag kaum ernst nehmen kann. ({18}) Er gehört in die Kategorie, alte ideologische Grundprinzipien immer und immer wieder zu wiederholen Ich glaube, wir sind für unsere Wirtschaft auf dem richtigen Weg, wenn wir den Einstieg in eine umweltverträgliche Energieversorgung forcieren - das werden wir tun - und den Atomausstieg in Deutschland voran treiben. Danke. ({19})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe für die Fraktion der PDS das Wort der Kollegin Eva BullingSchröter.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag der CDU/CSU-Fraktion reiht sich nahtlos in die Energiepolitik der alten Bundesregierung ein. Ich kann Ihnen nur sagen: Durch ständige Wiederholungen werden Ihre Argumente auch nicht besser. ({0}) Die Atomenergie ist und bleibt eine Dinosauriertechnik, ({1}) die es so schnell wie möglich abzuschaffen gilt. ({2}) Eine Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland lehnt die Atomkraft ab und wünscht sich den Einsatz von regenerativen und zukunftsfähigen Energien. Auch wenn von Ihnen immer wieder das Gegenteil behauptet wird, bleibe ich dabei: Das was Sie sagen, stimmt nicht; es verhält sich wirklich so. Ich glaube, dass Ihre Wahrnehmungsfähigkeit gerade in den letzten Wochen stark nachgelassen hat. Als Volkspartei sollten Sie aber auch den Zeitgeist wahrnehmen. Vermutlich spielt auch hier die Atomlobby eine große Rolle. Schauen wir einmal, was bei den weiteren Skandalen noch alles herauskommt. Wie Teile Ihrer Fraktion zu AKWs stehen, wurde in einer der letzten Umweltausschusssitzungen im letzten Jahr so richtig deutlich, als eine Kollegin von Ihnen sagte: Ich liebe mein Kernkraftwerk. ({3}) Ich persönlich würde andere Liebeserklärungen machen; auf alle Fälle zeigt aber auch das etwas. ({4}) Jetzt zu Ihrem Antrag: Klar ist, dass, solange nicht alle Atomanlagen abgeschaltet sind, ({5}) für die größtmögliche Sicherheit gesorgt werden muss. Das ist unbestreitbar. Ich bin nur der Meinung, dass Deutschland eine Vorreiterrolle in Fragen regenerativer Energien übernehmen sollte und nicht bei der Sanierung abgewrackter Atomanlagen, wie zum Beispiel in Mochovce. ({6}) Erinnert sei auch an unsere Auseinandersetzung um die Kredite für den Ausbau der beiden Atomkraftwerke K2/R4 in der Ukraine, wo es andere Möglichkeiten gegeben hätte und meiner Meinung nach eine Chance verspielt wurde. ({7}) Nach Ihrer Einschätzung verbindet der Europäische Druckwasserreaktor ein fortschrittliches, modernes Reaktorsicherheitskonzept mit einer zusätzlichen Sicherheitsstufe und effizienten Brennstoffnutzung. Umwelt- und Anti-AKW-Initiativen sehen das ganz anders. Nach ihrer Meinung kann der EPR nach dem neuen § 7 Abs. 2 a Atomgesetz nicht genehmigt werden. Ich brauche ihn nicht zitieren, Kollege Kubatschka hat das schon getan. Bis heute konnte von Seiten der Antragsteller der geforderte Beweis nicht erbracht werden. Nach wie vor gibt es große Sicherheitsbedenken. Es ist nämlich klar, dass die Folgen von Kernschmelzen in Hochdruckreaktoren nicht auf die Anlage begrenzt werden können. Kann der Beweis erbracht werden, dass die Integrität des Sicherheitsbehälters weder durch Wasserstoffexplosion noch durch Dampfexplosion gefährdet wird? Nein! Oder der Beweis, dass der teilweise oder ganz geMichaele Hustedt schmolzene Kern sicher aufgefangen wird und seine Nachkühlung gewährleistet ist? Nein! Der EPR schließt solche Schadensereignisse nicht aus. Eine bloße Verringerung der Eintrittswahrscheinlichkeit wird den Maßgaben des deutschen Atomgesetzes nicht gerecht. Im Übrigen möchte ich noch einmal die Forderungen des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1978 zitieren. Sie lauten: Es muss diejenige Vorsorge gegen Schäden getroffen werden, die nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen für erforderlich gehalten wird. Lässt sie sich technisch noch nicht verwirklichen, darf die Genehmigung nicht erteilt werden; die erforderliche Vorsorge wird mithin nicht durch das technisch gegenwärtig Machbare begrenzt. So das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Ich frage Sie also: Was wollen Sie mit einem Atomkraftwerk, das in der Bundesrepublik nicht genehmigungsfähig ist? Noch ein Aspekt ist wichtig: Die Atomindustrie steckt mit dem EPR in einem Dilemma, denn großtechnische Anlagen, zu denen auch Atomkraftwerke gehören, können heute auf dem internationalen Markt nur noch abgesetzt werden, wenn potenzielle Käufer im Herstellerland eine funktionsfähige Anlage besichtigen können. Vergleichen Sie das mit dem Transrapid, da gibt es ja ähnliche Probleme. Daher ist es folgerichtig, dass die Genehmigungskooperation über das DeutschFranzösische Direktorium gestoppt wird. Das ist das Mindeste, was diese Bundesregierung machen kann. Nichtsdestotrotz wird jetzt schon der Bau des EPR mit einer Leistung von 1 750 Megawatt am westrussischen Standort Smolensk geplant. Der superteure Großreaktor soll durch Stromlieferungen nach Deutschland finanziert werden. Die PDS hält derlei Geschäfte für ökonomisch unsinnig und ökologisch kontraproduktiv. Wir halten den EPR nicht für eine „richtungsweisende Zukunftstechnologie“, wie in Ihrem Antrag formuliert, sondern für eine rückwärts gewandte Technologie, die auch allen Nachhaltigkeitskriterien widerspricht. Zum Schluss möchte ich nur noch etwas zur Verhandlungslinie sagen, die gestern Abend anscheinend beschlossen wurde. Natürlich wird auch die PDS weder ein Ausstiegsszenario von 30 Jahren noch dezentrale Zwischenlager, noch die beabsichtigte Genehmigung von Schacht Konrad unterstützen. Das alles ist dem Atomausstieg nicht dienlich. Ihr solltet da wesentlich nachbessern. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Franz Obermeier. ({0})

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Debatte hier verfolgt, fällt einem allerhand ein. Aber am besten passen doch ein paar Redewendungen wie „Das Kind mit dem Bade ausschütten“, „Jemandem einen Bärendienst erweisen“ oder „Den Ast absägen, auf dem man sitzt“. Das sind überlieferte Volksweisheiten, die ihre Berechtigung dadurch erfahren, dass sie in ihrem Kern durchaus Weisheit beinhalten. Sie beruhen auf gemachten Erfahrungen und Überlegungen, sie beinhalten Erkenntnisse und Wahrheiten. Aber manche meinen, sie seien immun: nicht nur gegen diese Wahrheiten, sondern auch gegen Fakten, Prognosen und gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse. Dabei brauchen wir gerade heute Weitsicht, um unser Land in eine gute Zukunft zu führen. ({0}) Der Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie ohne vernünftige Alternativen und ohne Konzept, wie es derzeit passiert, hätte für unser Land weit reichende negative Konsequenzen. Davon betroffen wären vor allem die Bereiche Wirtschaft - und damit Arbeitsplätze -, Umwelt sowie Technologieentwicklung. Auch der Beitrag Deutschlands zur Verbesserung des internationalen Sicherheitsniveaus würde mit einem Ausstieg unnötig aufs Spiel gesetzt. Sicherheitspartnerschaften zwischen deutschen Kernkraftwerken und derartigen Anlagen in anderen, vor allem osteuropäischen Ländern wären gefährdet. Man muss es einfach immer wieder betonen: Die deutschen Kernkraftwerke sind die sichersten der Welt. ({1}) Dies belegen allein schon die 38 Jahre Betriebszeit in Deutschland. Auch die Analyse der Berichte des Bundesamtes für Strahlenschutz über „Meldepflichtige Ereignisse in Anlagen zur Spaltung von Kernbrennstoffen in der Bundesrepublik Deutschland“ lässt nur den Schluss zu, dass sich die deutschen Anlagen durch ein sehr hohes Sicherheitsniveau auszeichnen. ({2}) Der deutsche Sicherheitsstandard gilt als Motor für die internationale Entwicklung der nuklearen Sicherheit. Dies gilt gerade im Hinblick auf die Staaten Osteuropas. Eine wichtige Rolle hierbei spielt die gute und enge deutsch-französische Kooperation. Beispielsweise arbeiten Anlagenbetreiber und -hersteller aus beiden Ländern gemeinsam daran, das bereits sehr hohe Sicherheitsniveau in Frankreich und Deutschland weiterzuentwickeln und zu verbessern. Zum Ausdruck kommt die Qualität der Zusammenarbeit unter anderem darin, dass die beiden erfahrensten europäischen Kernkraftwerkehersteller, Framatome und Siemens, ihre nuklearen Aktivitäten in einer Firma bündeln wollen. ({3}) Die Verbesserung des Sicherheitsstandards war lange Zeit auch Ziel der deutschen und französischen Sicherheitsbehörden, Beratergremien und Sachverständigen. Sie haben sich in der Vergangenheit darauf verständigt, Sicherheitsanforderungen für zukünftige Kernkraftwerke zu formulieren. Die Kooperation auf Sachverständigenebene zwischen der Gesellschaft für Reaktorsicherheit und dem französischen Partner funktioniert nach wie vor hervorragend. Bedauerlicherweise wurde jedoch mit dem Regierungswechsel im September 1998 von deutscher Seite die gute Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden aufgekündigt. Während sich die Ministerien für Industrie und Umwelt in Frankreich weiterhin aktiv für eine Verbesserung der Sicherheitsstandards einsetzen, hat das deutsche Bundesumweltministerium an dieser Stelle bedauerlicherweise schon einmal den Ausstieg geprobt. Leider ist diesem Schritt auch die - inzwischen neu besetzte - Reaktorsicherheitskommission gefolgt. Das Ansehen Deutschlands, das wegen seiner Berechenbarkeit und wegen seiner Zuverlässigkeit über einen ausgezeichneten Ruf in der Welt verfügt, wurde durch diesen Schritt der Bundesregierung erheblich beschädigt. Dass sich der ursprüngliche Ansatz einer Länder übergreifenden Zusammenarbeit zwischen Behörden und Industrieunternehmen bewährt hat - nicht nur in puncto Sicherheit -, zeigt sich am Europäischen Druckwasserreaktor, am EPR. Die Auslegungskriterien für den EPR sind im Wesentlichen von drei hoch gesteckten Zielen geprägt: Es sind erstens die Verbesserung des Sicherheitsniveaus gegenüber den existierenden Anlagen, zweitens die Beherrschung hypothetischer Störfälle, sodass deren Auswirkungen auf die Anlage selbst beschränkt bleiben, und drittens die Konkurrenzfähigkeit der Stromerzeugungskosten im Vergleich zu Anlagen auf der Basis anderer Primärenergiequellen. Hier irren Sie, Frau Hustedt: Es ist den Konstrukteuren durch eine Vielzahl von Maßnahmen zur Beherrschung von Kernschmelzunfällen und zur Verhinderung von großen Aktivitätsfreisetzungen tatsächlich gelungen, mit dem EPR die anspruchsvollen Ziele, mit denen ein deutlich verbessertes Sicherheitsniveau angestrebt werden soll, zu erreichen. Ich möchte ein paar Maßnahmen nennen: Das sind erstens die Vermeidung des Kernschmelzens unter hohem Druck durch Maßnahmen zur Druckentlastung, ergänzt durch zuverlässige Wärmeabfuhrsysteme, zweitens die Vermeidung von Wasserstoffdetonationen durch frühzeitige Reduzierung der Wasserstoffkonzentration im Sicherheitsbehälter, drittens die Vermeidung der Schmelze-Beton-Wechselwirkung durch Ausbreitung der Schmelze in einem eigens dafür vorgesehenen Raum, dessen Flächen mit Schutzschichten versehen sind. Weiter ist die Sammlung aller Leckagen und die Vermeidung jeglicher Freisetzungen unter Umgehung des Sicherheitsbehälters durch einen doppelten Sicherheitseinschluss vorgesehen. Durch all diese Maßnahmen werden die Aktivitätsfreisetzungen derart begrenzt, dass einschneidende Gegenmaßnahmen, wie eine Evakuierung oder Umsiedlung der Bevölkerung, nicht mehr nötig sind. ({4}) Auch in einem weiteren Punkt irren Sie, liebe Vertreter der Regierungsfraktionen: Die Wettbewerbsfähigkeit des EPR ist tatsächlich gegeben; das wird durch die neuesten Zahlen belegt. Die Stromerzeugungskosten des EPR liegen deutlich unter denen von Steinkohlekraftwerken auf Importkohlebasis. Zudem halten sie auch einem Vergleich mit den Stromerzeugungskosten von GuD-Grundlastanlagen, bei denen es in den letzten Jahren deutliche technische Fortschritte und daraus resultierende Kostensenkungen gegeben hat, stand. Dabei ist zu bedenken, dass beim Gaspreis, der sich noch vor einem halben Jahr auf einem sehr niedrigen Niveau befand, eine eindeutige Tendenz nach oben ähnlich wie beim Ölpreis - feststellbar ist. Der Anstieg zwischen dem zweiten und vierten Quartal 1999 beträgt rund 40 Prozent. Das bedeutet schlicht und einfach, dass mit der Erhöhung der Preise für die fossilen Primärenergieträger die Wettbewerbsfähigkeit einer derartigen Technologie entsprechend steigt. ({5}) Die Argumente sprechen aus meiner Sicht für sich. Sobald die Notwendigkeit für den Bau einer neuen Grundlastanlage gegeben ist, ist der EPR in der Tat eine echte Option. Die bisherigen Veröffentlichungen über den EPR sind - wie mir die Hersteller versicherten - bereits auf großes Interesse gestoßen, nicht nur bei den Energieversorgern in Frankreich und Deutschland, sondern beispielsweise auch in Russland. Offensichtlich hat man erkannt, dass trotz steigender Nachfrage nach Grundlasterzeugungsanlagen auf Gasbasis der EPR ein Kraftwerkstyp ist, der sich am Wettbewerb beteiligen kann. Wenn ich die Reden der Vertreter der Regierungsparteien verfolge, dann fällt mir auf, dass Worte wie „Wettbewerb“, „Kosten“, „Wirtschaftlichkeit“ und Ähnliches überhaupt nicht vorkommen. ({6}) Die deutschen Energieversorgungsunternehmen und Herstellerfirmen haben aufgrund der durchwegs positiven Bilanz der Kernenergie zu Recht immer wieder ihr Interesse an Kernkraftwerken bekundet. Für die Kernkraftwerksbetreiber ist der Wettbewerbsmarkt nicht der größte Unsicherheitsfaktor, vielmehr ist dies die Politik unter Rot-Grün. ({7}) Sie hat die Möglichkeit, die Kernenergie ins Abseits zu drängen. Dies kann weder aus ökonomischen noch aus ökologischen Gründen, noch unter Sicherheitsaspekten im Sinne Europas sein. Die rot-grüne Regierung sollFranz Obermeier te ihre Position überdenken und nach ihrem Gesellenstück der ökologischen Steuerreform mit dem Ausstieg aus der Kernenergie nicht auch noch ihr Meisterstück unsinniger Energiepolitik abliefern. ({8}) Im Interesse unseres Landes muss der politische Rahmen so festgelegt werden, dass wir alle Optionen der Energieerzeugung offen halten, die die Wirtschaft im Wettbewerb stärken. Darüber hinaus müssen wir mehr Mittel für Forschung und Entwicklung auf dem Sektor der Energieerzeugung und der Energiespeicherung zur Verfügung stellen. Wir wollen die erneuerbaren Energien zum Schutz von Klima und Ressourcen voranbringen, aber dies darf nicht solche Auswirkungen auf die Energiepreise haben, dass die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft nachhaltig beeinträchtigt wird. Danke schön. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzter Redner in dieser Debatte spricht nun der Kollege Rainer Brinkmann für die SPD-Fraktion. ({0})

Rainer Brinkmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003056, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem uns vorliegenden Antrag geht es nach meinem Dafürhalten nur vordergründig um die Verbesserung der Reaktorsicherheit, speziell um den Bau eines Europäischen Druckwasserreaktors EPR, der, so wird ja pauschal behauptet, eine richtungsweisende Zukunftstechnologie verkörpere. So wie ich Ihren Antrag verstehe, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wollen Sie nur den Versuch machen, den hierzulande schon längst beschlossenen Ausstieg aus der Kernkraft auszuhebeln. Herr Kollege Obermeier, Sie haben vorhin eine alte Volksweisheit bemüht. Ich sage Ihnen, es gibt auch eine andere Volksweisheit, die lautet: Wer versucht, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, hat hinterher einen Dachschaden. ({0}) Sie sollten versuchen, dies auf alle Fälle zu verhindern. In Ihrem Antrag findet sich zum Beispiel der Satz: „eine Welt ohne Kernenergie wird es auf absehbare Zeit nicht geben.“ - Ob Sie damit Recht haben werden, hängt natürlich zunächst einmal davon ab, wie Sie diesen unbestimmten Begriff „auf absehbare Zeit“ überhaupt definieren. Sicher ist jedoch, dass es in durchaus absehbarer Zeit eine Bundesrepublik Deutschland ohne Kernkraft geben wird. Die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU glauben anscheinend immer noch nicht, dass wir es mit unserem Beschluss ernst meinen, dass wir die angestrebte Energiewende erreichen werden. Lassen Sie es sich gesagt sein: Wir schaffen den Einstieg in eine zukunftsfähige Energieversorgung. ({1}) Die Nutzung der Kernenergie ist gesellschaftlich nicht akzeptiert und sie ist auch volkswirtschaftlich nicht vernünftig. Das ist der Grund dafür - der Bundeskanzler hat im Übrigen darauf in seiner Regierungserklärung vom 10. November 1998 hingewiesen -, ({2}) warum wir sie geregelt auslaufen lassen werden. Das ist auch der Grund, warum nach unserer Einschätzung Projekte wie der EPR keine Zukunft haben werden. Wir werden eben nicht in die AKW-Technologie investieren. Dabei ist doch auch sowieso alles sozusagen solarklar. Was wir dort investieren - um nicht zu sagen: verschleudern - würden, würde uns in anderen Bereichen fehlen, um ökologisch sinnvolle und zukunftsträchtige Technologien zu fördern. ({3}) Nun haben Sie ja immerhin eingesehen - das ist ein Fortschritt -, dass es in Deutschland keine neuen Reaktoren mehr geben wird. So propagieren Sie nun etwas nebulös, Deutschland müsse in der Kernenergiewirtschaft und -technologie eine „führende Rolle“ behalten und sich aktiv an der verbesserten Reaktorsicherheit in Europa und anderen Kontinenten beteiligen. Da verfahren Sie nach dem Motto: Wenn wir schon die gefährliche Kernenergietechnologie bei uns nicht mehr durchsetzen können, wollen wir wenigstens am Export verdienen. Das ist der eigentliche Hintergrund Ihres Antrages. Das Vehikel dazu soll der EPR mit einer thermischen Leistung von 4 250 Megawatt und einer elektrischen Leistung von 1500 Megawatt sein. Dabei verschweigen Sie geflissentlich, dass auch beim EPR die gefürchtete Kernschmelze konstruktiv und reaktorphysikalisch keinesfalls ausgeschlossen wird. Sie soll lediglich mit Hilfe einer doppelten Außenhaut, einem Keramikbecken und einem über dem Reaktor angeordneten, „stabilisierend“ wirkenden Wasserbassin „beherrschbar“ gemacht werden. Das erscheint mir, gelinde gesagt, überaus anmaßend. In jedem Fall aber ist auch dieses EPR-Konzept nicht der technologische Durchbruch, der geeignet wäre, unsere Vorbehalte - und auch die der Menschen in unserem Land - gegen die Kernenergie zu zerstreuen, ({4}) von der weiterhin ungelösten Entsorgungsproblematik ganz zu schweigen. Ich komme nun, meine Damen und Herren, zu den wirtschaftlichen Fragen, die sich im Zusammenhang mit diesem angeblichen „Zukunftsprojekt“ stellen. Sie wissen doch ganz genau, welche Überlegungen aufseiten der Industrie im Raum stehen, falls es zum Bau eines EPR zum Beispiel im westrussischen Smolensk käme. Da soll Russland seinen Anteil an den Investitionskosten mit Stromlieferungen in den Westen bezahlen. Im Klartext: Wir sollen Atomtechnologie exportieren und uns dies mit dem Import von Atomstrom bezahlen lassen. Das, meine Damen und Herren, werden wir von der Regierungskoalition nicht mitmachen - ganz abgesehen davon, dass wir als Verfechter einer wirklich zukunftsträchtigen und nachhaltigen Energiewirtschaft kein Interesse daran haben können, die Marktchancen erneuerbarer Energien geradezu sehenden Auges zu verschlechtern. ({5}) Wir wollen genau das Gegenteil. Nein, die auch in diesem Antrag von Ihnen verfolgte Argumentation ist mehr als fragwürdig, Ausdruck eines rückwärts gewandten Denkens und durchaus durchsichtig. Noch einmal zu dem Argument ohne die Option auf die Kernenergie stehe die technologische Zukunft Deutschlands auf dem Spiel. Dazu kann ich nur sagen: Es steht den interessierten deutschen Unternehmen durchaus frei, sich am Bau eines EPR in Frankreich oder anderswo zu beteiligen, wenn es sich denn für sie rechnet. Das ist eine Entscheidung, die die Stromwirtschaft dann selbst zu fällen hätte. Die wahren Probleme, meine Damen und Herren, sind aber ganz andere. Wenn Sie selber einmal - der Kollege Obermeier ist am Montagabend auf dem Empfang des BEE gewesen - mit Anlagenbauern reden und deren Vertretern und Verbänden sprechen, stellen Sie fest, dass Sie mit ganz anderen Fragen konfrontiert werden. Da wird zum Beispiel gefragt: Wann schaffen Sie es endlich, das Einspeisegesetz umzusetzen? Denn, dort liegen ganz erhebliche Investitionspotenziale. Es sind Investitionen in Milliardenhöhe, die dort zurzeit auf Eis liegen, und weit über 30 000 Arbeitsplätze, die allein dort in den nächsten vier Jahren geschaffen werden könnten. Nun lassen Sie uns an dieser Stelle einen kurzen Augenblick über Arbeitsplätze reden. Denn die Beseitigung der Arbeitslosigkeit ist immer noch das Kernthema der deutschen Politik. Wenn wir uns den Bereich der Windenergie anschauen - die Windenergie hat in Deutschland zurzeit einen Marktanteil von etwas mehr als 1 Prozent -, so stellen wir fest, dass die Windenergie bereits heute weit über 15 000 gesicherte Arbeitsplätze zur Verfügung stellt. Rechnen Sie einmal mit was es für die Schaffung neuer Arbeitsplätze bedeuten würde, wenn es uns gelänge, den Anteil der Windenergie von etwas über 1 Prozent auf 5 oder gar 10 Prozent zu erhöhen. ({6}) Ich möchte Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, herzlich bitten: Hören Sie endlich auf, mit immer neuen Anträgen eine Diskussion anzufachen, die Sie schon längst verloren haben, ({7}) die Sie schon deshalb verloren haben, weil die Mehrheit der Bevölkerung, die Mehrheit in der Bundesrepublik Deutschland einen anderen Weg beschreiten will. Liest man allerdings die Presseverlautbarungen der CDU/CSU-Fraktion der letzten Wochen und Monate, fällt einem eines sofort ins Auge: Sie beklagen immer wieder und monoton das angeblich fehlende energiepolitische Konzept der Bundesregierung. ({8}) Gleichzeitig lehnen Sie aber natürlich - sachlich und inhaltlich demagogisch - die Vorschläge ab, die von unserer Seite auf den Tisch kommen. ({9}) Natürlich wenden Sie dabei einen Trick an: Diese beiden Pressemitteilungen werden immer schön voneinander getrennt, weil Sie natürlich nicht zugeben wollen - und aus Ihrer Sicht auch nicht zugeben können -, dass wir sehr wohl zukunftsweisende technologische Energievorstellungen haben. ({10}) Ich kann Ihnen wirklich nur raten: Schneiden Sie Ihre alten Zöpfe ab, verabschieden Sie sich von der AKWTechnologie. Denn wenn man einmal mit Mitgliedern und Funktionären Ihrer Partei vor Ort spricht, ({11}) stellt man ganz schnell fest: Sie wenden sich schon längst mit Grauen von Ihnen ab - und das nicht nur wegen der anderen Probleme, die Sie haben, ({12}) sondern durchaus wegen der anachronistischen Energiepolitik in Ihren Köpfen. Was die Einhaltung angeblicher Zusagen gegenüber Frankreich angeht, ist vorhin schon einiges gesagt worden. Ich will das nicht wiederholen, aber durchaus unterstreichen, dass diese Bundesregierung den Ausstieg aus der Kernenergie entschädigungsfrei regeln wird. ({13}) Wir werden uns für die energiepolitischen Weichenstellungen der alten Bundesregierung nicht in Haftung nehmen lassen. Das gilt selbstverständlich auch für das EPR-Projekt. Meine Damen und Herren, wir wollen, dass die Bundesrepublik Deutschland eine führende Rolle bei der Weiterentwicklung der Energietechnologie spielt, aber dies wird nicht auf dem Feld der Kernenergie geschehen. Wir sind sicher, dass auch unsere französischen Rainer Brinkmann ({14}) Partner diesen Weg im Sinne einer Harmonisierung der europäischen Energiepolitik mit uns gemeinsam gehen werden. Wir stehen jedenfalls für Gespräche mit dieser Zielrichtung zur Verfügung. Vielen Dank. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/1212 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Renè Röspel, Heino Wiese, Dr. wolfgag Wodarg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Hans-Josef Fell, steffi Lemke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Biosicherheit-Protokoll erfolgreich abschließen - Drucksache 14/2520 Die Redner geben ihre Reden zu Protokoll. Anlage 2 Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag auf Drucksache 14/2520 ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) zu der Unter- richtung durch die Bundesregierung Zweiter Bericht der Bundesregierung über den Anteil von Frauen in wesentlichen Gremien im Einflussbereich des Bundes - Drucksachen 13/10761, 14/272 Nr. 113, 14/1610 - Berichterstattung: Abgeordnete Renate Gradistanac Irmingard Schewe-Gerigk Maria Eichhorn Ina Lenke Christina Schenk Die Rednerinnen und Redner geben ihre Reden zu Protokoll.*) Damit kommen wir zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Bericht der Bundesregierung über den Anteil von Frauen in wesentlichen Gremien im Einflussbereich des Bundes, Drucksache 14/1610. Der Ausschuss empfiehlt unter Nummer 1, den Bericht auf Drucksache 13/10761 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nummer 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/1610 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 7 auf: 10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Georg Brunnhuber, Dirk Fischer ({1}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Transrapid-Projekt zügig realisieren - Drucksache 14/2359 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Eva-Maria Bulling-Schröter, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Gesetzliche Verpflichtung zum Bau der Transrapid-Strecke Berlin - Hamburg aufheben - Drucksache 14/2524 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertel stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner dem Kollegen Dirk Fischer für die CDU/CSUFraktion das Wort.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Transrapid ist eine bestechende und umweltfreundliche Technologie, die unbedingt auf der Referenzstrecke Hamburg - Berlin zur Anwendung kommen muss. ({0}) Die Planung ist durchgeführt. In der nächsten Woche ergeht der erste Planfeststellungsbeschluss. Man ist kurz ______ *) Anlage 3 Rainer Brinkmann ({1}) vor dem Ziel; ein klares politisches Bekenntnis ist notwendig. Das fordert der Antrag der CDU/CSUBundestagsfraktion. Stimmen Sie ihm also zu. ({2}) Sie haben monatelang ein unverantwortliches Schwarzer-Peter-Spiel getrieben. ({3}) In der Koalitionsvereinbarung von SPD und Grünen steht, Grundlage für die Realisierung des Projekts sei das Eckpunktepapier von 1997. Kostenobergrenze: 6,1 Milliarden DM. Dann kam der Vorschlag des damaligen Verkehrsministers Müntefering für eine einspurige Trassenführung. Ich gehe einmal davon aus, dass das seriös gemeint war ({4}) und im Ministerium sowie mit dem 100-prozentigen Bundesunternehmen DB AG abgestimmt worden ist. Es war schon eigentümlich, dass der Koalitionspartner Grün in der damaligen Debatte sofort angekündigt hat, dieser Vorschlag des Ministers sei das Todesurteil für den Transrapid. ({5}) Dafür 6,1 Milliarden DM auszugeben, sei nicht machbar. Da fragt sich die Opposition: Wo bleibt hier politische Führung durch Bundeskanzler Schröder? Er hat offenbar kein Rückgrat, die in Planung befindliche Strecke Hamburg - Berlin zu verwirklichen. Seine Haltung ist nicht Fisch und nicht Fleisch. Nette Worte hier, nette Worte dort, Besuch in China, Unterschreiben des „Letter of intent“, Einladung des Ministerpräsidenten zur EXPO, wo man sich dieses Wunderprodukt anschauen kann, große Hoffnung in Peking/Schanghai, dann die Mehdorn-Visite: Schröder: Wir halten am Transrapid fest. - Aber Konkretes erfährt man nicht. Ich meine in aller Deutlichkeit sagen zu müssen: Herr Bundeskanzler Schröder, hier geht es nicht um den Bau einer Dorfstraße in Niedersachen, sondern es geht um ein Zukunftsprojekt deutscher Industrie! ({6}) Es geht um eine Standortfrage für unser Land. Es geht um die EXPO und darum, ob wir uns in diesem Zusammenhang weltweit lächerlich machen oder als Industrienation weltweit zusätzliche Anerkennung einfahren. Das ist die Frage, um die es hier geht. ({7}) Kostenobergrenze: 6,1 Milliarden DM, ausgerechnet bei einer völlig neuen Technologie, bei der ersten Anwendung, ohne Langzeiterfahrung. Dies ist eine krasse Benachteiligung. Nach dem gleichen Maßstab wäre in Deutschland kein Projekt des Schienenbaus realisiert worden. Es gäbe kein Projekt Köln - Rhein/Main. Erste Schätzkosten: 3,35 Milliarden DM, Vergabepreis: 7,75 Milliarden DM, Endpreis: über 10 Milliarden DM. Es wird gebaut, koste es, was es wolle. Es gäbe keine Autobahn in Deutschland, es gäbe keine vierte Elbtunnelröhre, es gäbe keinen Lehrter Bahnhof, es gäbe kein Kanzleramt, es gäbe keinen Reichstagsumbau, wenn für diese Projekte die gleiche Messlatte angelegt worden wäre. ({8}) Ausgerechnet bei der ersten Anwendung einer völlig neuen Technologie legen Sie diese Messlatte an. Das ist eine vom Ansatz her total destruktive Position. Schätzpreis gleich Endpreis hat es bei keinem Infrastrukturprojekt der Weltgeschichte oder in Deutschland gegeben. ({9}) Ich verlange für den Transrapid das gleiche Recht wie für alle Infrastrukturmaßnahmen, nicht mehr und nicht weniger. ({10}) Ich will gar nicht von der Verweigerungspolitik der Grünen reden. Herr Schmidt, Sie wissen genau um die besonders gute Umweltverträglichkeit des Transrapids: sensationell niedrige Lärmemission, Energiesparsamkeit. Aber Sie verschweigen das. Sie zerstören hier ein ökologisches Spitzenprodukt. Es ist wirklich jammerschade, dass die Grünen so heruntergekommen sind, dass sie sich dies leisten. ({11}) Meine Damen und Herren, Sie haben nur deswegen immer mit dem Haushalt, über den ich soeben schon etwas gesagt habe, argumentiert, weil Sie in Wahrheit krampfhaft nach Gründen gesucht haben, Ihre ideologisch verbohrte ablehnende Haltung zu rechtfertigen. Schlimmer noch: Sie plädieren für den Ausbau der vorhandenen IC-Strecke Hamburg - Berlin zu einer Hochgeschwindigkeitsstrecke - durch Städte und Gemeinden mit Hochgeschwindigkeit! -, mit all den Lärmbelastungen für die Anrainer und einer Kostenentwicklung, die Sie überhaupt nicht unter Kontrolle haben. Es wird, wenn Sie diese Alternative wählen, nicht zum Schätzpreis abgerechnet. Es wird nicht zu dem Preis abgerechnet, den Sie jetzt planen und mit dem Sie den Menschen den Mund wässrig machen. Vielmehr wird gebaut und nochmals gebaut, koste es, was es wolle. ({12}) Dies ist nach meiner Auffassung eine krasse Ungleichbehandlung. ({13}) Dirk Fischer ({14}) Auch mir ist völlig rätselhaft, wie die Deutsche Bahn AG so verantwortungslos sein kann, die längst fällige Entscheidung für die Referenzstrecke wieder und wieder zu verzögern, am Ende sogar ganz zu verhindern. Sie kündigen das Eckpunktepapier auf. Dieses aber ist Inhalt Ihrer Koalitionsvereinbarung. ({15}) Ist es denn möglich, dass ein Unternehmen, über dessen Aktien der Bund zu 100 Prozent verfügt, diametral entgegengesetzt zur Koalitionsvereinbarung handelt? Ich meine, hier hat der Bund, also Verkehrsminister Klimmt und Bundeskanzler Schröder, die Führungsaufgabe, dieses Unternehmen an die Einhaltung des Eckpunktepapieres zu erinnern und zu ermahnen. ({16}) Es ist jammerschade: Die Bahn sperrt sich schon viel zu lange gegen ihre eigene technische und betriebswirtschaftliche Erneuerung. Sie könnte damit in Europa das modernste Hochgeschwindigkeitsverkehrsunternehmen werden. Diese Chance macht sie kaputt. Ganz andere Worte von Herrn Vogel und Herrn Mehdorn habe ich erlebt, als sie noch in der Industrie tätig waren. Als Herr Mehdorn für Airbus verantwortlich war, als ganz Deutschland geschrien hat: „Macht Schluss mit den Airbus-Subventionen!“ und Airbus Absatzschwierigkeiten hatte, da saß er in Finkenwerder und wir haben ihm politisch den Rücken gestärkt. Damals befürchteten wir im Hinblick auf Boeing ein Weltmonopol. Im letzten Jahr wurden jedoch 55 Prozent der gesamten Flugzeugbestellungen der Welt bei Airbus geordert und nicht bei Boeing. Damals musste man Mut haben, da brauchte man Franz Josef Strauß, der dies in Europa durchgesetzt hat. ({17}) Das war ein großartiger Einsatz für ein europäisches technologisches Spitzenprodukt. Das wäre auch beim Transrapid der Fall. Sie haben jedoch nicht den erforderlichen Mut und die Risikobereitschaft. Das ist der politische Skandal, den wir Ihnen in den nächsten Jahren links und rechts um die Ohren hauen werden. Sie werden noch lange darunter leiden. ({18}) Wenn Sie sich als Koalition technik- und innovationsfeindlich zeigen, dann wird das zu entsprechenden Resultaten führen. Der Transrapid ist eine Antwort auf die globalen Herausforderungen des Hochgeschwindigkeitsverkehrs. Er setzt Impulse für den Arbeitsmarkt. Er bietet der Bahn die Möglichkeit, Leistungsfähigkeit nachzuweisen, und der deutschen Politik die Chance, Durchsetzungsfähigkeit zu beweisen. Schon andere Dinge, zum Beispiel die Telefaxtechnik, das Humaninsulin und die LCDAnzeige, wurden entwickelt - und später die jeweiligen Patente verkauft -, ohne dass die Entwickler das Geld gemacht hätten. Ich sage Ihnen voraus: Wenn Sie den Transrapid kaputtmachen, werden die Patente verkauft. Dann werden wir dereinst im Ausland den Transrapid für teures Geld wieder zurückkaufen. Der Transrapid ist Werbung für Deutschland, insbesondere im EXPO-Jahr 2000. Es ist nicht auszudenken, dass Chinas Ministerpräsident als potenzieller Kunde nach Deutschland kommt, um eine Referenzstrecke zu besichtigen, und wir ihm mitteilen müssen: Die Teststrecke im Emsland wird gerade abgebaut. - Das ist eine nicht vorstellbare Lachnummer. Lächerlich sind auch Überlegungen, eine sehr viel kürzere Referenzstrecke zu bauen. Der Transrapid als Vorortbahn! Ich denke, das sind aberwitzige Vorstellungen. Deshalb am Schluss meiner Rede mein Appell an die Bundesregierung, an die beteiligten Bundesländer, an die Industrie, an die Banken und an die DB AG, das Projekt des Transrapids, das gerade in der strukturschwachen Norddeutschen Tiefebene durch die Verknüpfung der beiden größten deutschen Städte ein hervorragendes Einsatzprofil bietet, nicht scheitern zu lassen. Die bestehenden Probleme sind lösbar. Der Nutzen für unser Land wäre immens. Wir werden die Bundesregierung aus ihrer zentralen Verantwortung für unser Land, für dieses Projekt nicht entlassen. ({19}) Glauben Sie ja nicht, dass Sie sich durch taktisches Finassieren aus der Verantwortung stehlen können. Die wird Sie noch einholen. ({20})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPDFraktion spricht die Kollegin Angelika Mertens.

Angelika Mertens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002734, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich, wie sehr sich ein einzelner Mensch so aufplustern kann. Ich überlege schon - es gibt nämlich demnächst Organisationswahlen in Hamburg -, ob Sie einen Gegenkandidaten bekommen haben oder was Sie sonst dazu bewogen hat, hier so zu reden. Ende November haben wir im Deutschen Bundestag den überaus wegweisenden Antrag der F.D.P. diskutiert, nach dem sich die Bundesregierung für den Bau der Transrapid-Referenzstrecke zwischen Berlin und Hamburg einsetzen soll. Heute debattieren wir den etwas radikaleren Antrag der CDU/CSU, das Projekt zügig zu realisieren. Die PDS hat auch etwas beizutragen; sie will den Transrapid gar nicht. Dann fragen wir uns natürlich: Was machen wir mit dem Zwischenstopp in Schwerin? Dirk Fischer ({0}) Sehen wir uns das Anliegen der früheren Koalition einmal an: Auf eine ziemlich billige Art und Weise entdeckt sie hier mal wieder ihre eigene Langsamkeit. Sie hätten all das vor dem Regierungswechsel in Angriff nehmen können. Das aber haben Sie nicht getan. Es stellt sich die Frage, warum. Seit 1992 ist die Strecke im Bundesverkehrswegeplan. Seit 1994 gibt es das Magnetschwebebahnbedarfsgesetz. Seit 1996 warnt übrigens auch der Rechnungshof. Wenn Ihnen der Transrapid so am Herzen gelegen hätte, wie Sie es heute vorgeben, dann hätten Sie vor der letzten Bundestagswahl alles in trockene Tücher bringen können. ({1}) Sie haben 1998 kalte Füße bekommen und nicht unterschrieben, weil viele Details nicht geklärt waren und Sie sich das Projekt schöngerechnet haben. ({2}) Zwischen politischem Willen und Realisierung eines Projektes besteht eben doch ein Unterschied; das ist nicht nach Gutsherrenart zu lösen. Das hat übrigens nichts damit zu tun, dass Politiker kein Risiko eingehen sollten, aber sehr viel damit, wie eine Regierung mit dem Geld der Steuerzahler umgeht. ({3}) Hier geht es nicht um ein paar Milliönchen, womit Sie vielleicht Erfahrung haben könnten, sondern um Milliarden. Sie hatten in der Vergangenheit viele Gelegenheiten, das Projekt entscheidungsreif vorzubereiten. Das haben Sie versäumt und das musste jetzt nachgeholt werden. Der Bund hat einen festen Kostenrahmen von 6,1 Milliarden DM zugesagt. Die Bahn hat offenbar festgestellt, dass die erwarteten Fahrpreiseinnahmen nicht ausreichen werden, um dem Herstellerkonsortium die gewünschte Garantie für ein festes Nutzungsentgelt geben zu können.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Mertens, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dirk Fischer?

Angelika Mertens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002734, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Mertens, können Sie mir in dem Zusammenhang die Frage beantworten, warum nach den Grundsätzen, die Sie aufgestellt haben, bei der Neubaustrecke Köln Rhein/Main, einer Strecke mit Rad-SchieneTechnologie, die halb so lang ist wie die TransrapidStrecke, Mehrkosten in Höhe von fast 3 Milliarden DM völlig klaglos und problemlos hingenommen werden? ({0})

Angelika Mertens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002734, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

„Klaglos“ haben wir dies sicherlich nicht hingenommen. Keine Kostensteigerung wird klaglos hingenommen, weder von dieser Regierung, noch hat das die vorhergehende getan. Wir alle bedauern, dass dies so ist. - Ich denke, damit ist Ihre Frage beantwortet. ({0}) Was ist das überhaupt für eine Frage? Hören Sie am besten einfach zu! Die Bahn hat also festgestellt, dass sich das alles vielleicht doch nicht rechnet. Nunmehr sind die privaten Hersteller am Zuge. Ihre Aufgabe ist es, innerhalb dieses festen Finanzrahmens und bei einem festen Nutzungsentgelt, das voraussichtlich nicht sehr hoch sein wird, ein schlüssiges, wirtschaftlich darstellbares Fahrwegund Betriebskonzept auf der Strecke Hamburg - Berlin vorzulegen. Eines muss klar sein: Einen dauerhaften Ersatz von fehlender privatwirtschaftlicher Rentabilität durch öffentliche Gelder wird es mit Rot-Grün nicht geben. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt den Bundesbauminister/Bundesverkehrsminister in seiner Absicht, wirklich alles auszuloten, um eine Lösung für das Projekt zu finden. Meine Fraktion erwartet jetzt aber auch eine zügige Entscheidung von den Beteiligten. ({1}) Sollten alle Bemühungen zu keiner Lösung für diese Strecke führen, so erwarten wir, dass das verkehrspolitische Problem der angemessenen Schienenverbindung zwischen Hamburg und Berlin unverzüglich gelöst wird. - Ich selbst bewege mich auf dieser Strecke. Es ist, gelinde gesagt, eine Katastrophe - das sollte man vielleicht auch einmal Herrn Mehdorn sagen -, zwei Städte so miteinander zu verbinden.({2}) Erstens. Wir brauchen auf dieser Strecke eine erstklassige Verbindung für den Personenverkehr, die eine Fahrzeit von höchstens 90 Minuten - mit möglichst sinkender Tendenz, also bis hinunter auf 70 Minuten - garantiert. Nach allem, was wir wissen, würde dies ungefähr 500 Millionen DM kosten und müsste - sollte der Transrapid auf dieser Strecke nicht realisiert werden können - sofort in Angriff genommen werden. Ferner muss es eine überzeugende Lösung für den Güterverkehr geben, die den Personenverkehr nicht behindert. Zweitens. Unverzüglich müsste dann mit der Suche nach einer vernünftigen Alternativstrecke begonnen werden. Drittens. Es muss ein Konzept für eine vernünftige Zukunft der Versuchsanlage Lathen her.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Mertens, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Friedrich?

Angelika Mertens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002734, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Kollegin Mertens, Sie haben hier soeben von Fahrzeiten von 90 bzw. 70 Minuten gesprochen, die mit herkömmlicher Rad-Schiene-Technik erreicht werden sollen. Was für eine Geschwindigkeit muss der klassische ICE auf dieser Strecke dann nach Ihrer Meinung erreichen? ({0}) Ist Ihnen bekannt, dass das Eisenbahnbundesamt dem ICE eine maximale Betriebsgeschwindigkeit von 200 Stundenkilometern erlaubt und dass mit diesen 200 Stundenkilometern die von Ihnen genannten Fahrzeiten auf dieser Strecke niemals zu erreichen sind? ({1})

Angelika Mertens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002734, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich nehme Sie vielleicht einfach einmal mit auf dieser Strecke - es sind 294 Kilometer, Sie können sich die Fahrzeit ja selbst ausrechnen -, dann können Sie feststellen, dass wir mit den 90 Minuten sehr gut liegen. Ich gehe auch davon aus, dass sich die Technik insgesamt weiterentwickelt und dass es daher bei der Fahrzeit noch Spielraum nach unten gibt. ({0}) Letzte Anmerkung: Welche Entscheidung auch immer von den drei Beteiligten getroffen werden wird, sie wird zu den gründlichst gewogenen Entscheidungen in der industriepolitischen Geschichte Deutschlands gehören. Wenn alle Beteiligten klug bleiben, wird es dabei weder Gewinner noch Verlierer und schon gar keine schwarzen Peter geben. Jeder wird diese Entscheidung respektieren und das Ergebnis - wie auch immer es ausfällt - zum Wohle Hamburgs und Berlins umsetzen. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun spricht für die F.D.P.-Fraktion der Kollege Hans-Michael Goldmann. ({0})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber „Adi“ Schmidt, wir werden demnächst wahrscheinlich das eine oder andere noch austauschen. Ich will heute Abend aber eine Rede zum Transrapid halten: relativ leise, umweltverträglich und zukunftsorientiert. ({0}) Lassen Sie mich deswegen erst einmal ein paar Worte vorweg sagen. Ich denke, liebe Frau Kollegin Mertens, dass der CDU-Antrag ein guter Antrag ist. Das „TransrapidProjekt zügig realisieren“ - wer könnte etwas dagegen haben? ({1}) - Nein, nicht nur zügig, das lässt sich auch wirklich realisieren. - Ich denke, wir müssen das einmal ganz ruhig betrachten. Da gibt es seit vielen Jahren die Erprobung im Emsland. Nun muss es endlich zu einer vernünftigen Anwendung kommen, die der Technologie dieses ganzen Projekts Rechnung trägt. Ich bin mit allen anderen völlig einer Meinung: Dabei kann nicht ein Vorort mit einem Hauptort oder irgendein Flughafen mit einem anderen Flughafen auf kurzer Strecke verbunden werden. Vielmehr müssen zwei Metropolen miteinander verbunden werden. Ich finde, es ist eine sehr gute Idee, eine Stadt wie Hamburg, die sich zum Norden öffnet, zu einem Wirtschaftsraum, der demnächst eine hervorragende Entwicklung haben wird - man braucht nur an die wirtschaftliche Entwicklung im Ostseeraum zu denken -, mit einer Stadt wie Berlin zu verbinden, die ja unter unseren Augen und mit unserer Hilfe eine Entwicklung nimmt, die uns jeden Tag wieder fasziniert. Diese beiden Metropolen sollen mit einer Technologie verbunden werden, die unstrittig umweltverträglich ist, die auf dieser Verbindung auch unstrittig wirtschaftlich ist und jetzt komme ich zurück auf „zügig“ - die auch im Verfahren und im Hinblick auf Arbeit, Aufwand und Kosten schon weit vorangeschritten ist. Angesichts dessen wäre es nun wirklich eine hochgradige Dämlichkeit, sich aus diesem Projekt zu verabschieden. ({2}) Sie wissen es selbst: 18 von 20 Planfeststellungsabschnitten sind schon ganz weitgehend auf den Weg gebracht; die ersten können umgesetzt werden. In dieser Situation müssen wir schlicht und ergreifend sagen: Wir müssen mit aller Kraft - und das vermisse ich bei den Sozialdemokraten, bei den Grünen sowieso ({3}) - Frau Mertens, ich vermisse das, dies werden Sie mir doch wohl noch zugestehen - daran festhalten und darauf hinarbeiten, dieses Projekt zu realisieren. ({4}) Sie müssen einmal zu den Unternehmen gehen und mit ihnen darüber verhandeln, ob sie bereit wären, die Transrapid-Technologie in der Anwendungsstrecke zu fördern. Aber das tun Sie ja nicht. ({5}) Ich habe schon sehr stark den Eindruck, dass Sie ein bisschen in der Gegend herumquaken und dabei nicht unbedingt mit Herzblut und Engagement auf eine Technologie setzen, von der alle sagen: Mensch, das ist wirklich eine Technologie, um die man die Deutschen beneidet. ({6}) Wenn die Japaner die Diskussion, die wir hier führen, verfolgen würden, würden sie sich kaputtlachen. ({7}) Die Japaner haben ein zentrales Problem - und das wissen wir -, und wir haben die Lösung für dieses Problem: Der Transrapid ist in der Lage, Menschen sicher, schnell und umweltverträglich über große Entfernungen hinweg zu befördern. Auch Sie können doch rechnen. Sie haben vorhin etwas von Schönrechnen gesagt. Sie wissen doch, dass das, was Herr Mehdorn sagt, nicht stimmt. Es ist schlicht und ergreifend falsch. Seine Zeitberechnung ist falsch. Die von ihm vorgenommene Relation zwischen Milliarden und Zeitersparnis ist falsch. All diejenigen, die sich mit diesem Thema beschäftigt und sich dazu geäußert haben, haben klipp und klar gesagt: verrechnet! ({8}) - Herr Schmidt, Sie können gleich den Gegenbeweis antreten. Sie kennen doch auch die Pressemeldungen von „ADN“, in der Peter Mnich als Bahntechnikexperte genannt wird. ({9}) - Sie können doch nicht bestreiten, dass er ein Fachmann ist. Herr Schmidt, ich finde es nicht besonders fair, dass Sie unendlich weiterreden. Ich finde, es gehört zur Höflichkeit zuzuhören. Melden Sie sich zu einer Zwischenfrage. Dann habe ich eine Chance, mit Ihnen in dieser Frage fachlich umzugehen. Aber die Art und Weise Ihres ständigen Dazwischenredens ist der Sache nicht angemessen und trägt der Kollegialität nicht Rechnung. ({10}) Lassen Sie uns fachlich über das streiten, was Herr Mnich gesagt hat. Liefern Sie den Beweis, dass Ihre Berechnung richtig ist. Ich sage, der Transrapid ist ein riesiger Gewinn bei der Verbindung der beiden Metropolen und damit ein riesiger Gewinn für unser Land. Ich finde es einfach grottenschlecht, wenn wir diese Technologie hier nicht zur Anwendung bringen. Ich bin auch ein bisschen darüber traurig, dass man in der aktuellen Diskussion über fehlende Verkehrsinfrastrukturen an der einen oder anderen Stelle hört: Beerdigt doch den Transrapid! Da denke ich: Wir hier im Plenum haben die Verpflichtung, wirkliche Weichenstellungen vorzunehmen. Wir reden immer vom Zeitalter der Mobilität. Wir sagen immer: Mobilität ist die Trumpfkarte der Zukunftsgesellschaft. Sie wissen genauso gut wie ich, dass das Fliegen von der ökologischen Seite her nicht ganz so unproblematisch ist, wie der eine oder andere es darstellt. ({11}) Deswegen lassen Sie uns doch gemeinsam an einem Strang ziehen. Lassen Sie uns daher gemeinsam darauf hinarbeiten, das Transrapid-Projekt zwischen Hamburg und Berlin schnellstmöglich und zügig zu realisieren. Lassen Sie uns in dieser entscheidenden Frage im Bereich der Verkehrsinfrastruktur eine Zukunftsweiche stellen, an der sich die nachfolgenden Generationen mindestens freuen werden. Ich denke, auch wir würden es wirklich genießen, uns mithilfe dieser Technologie zu bewegen. Das wäre ein Beitrag für die Zukunft unseres Landes. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Albert Schmidt vom Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass wir beim Transrapid für einen Zeitvorteil von schlappen 20 Minuten auf der Strecke von Hamburg nach Berlin 12 Milliarden DM ausgeben sollen, will uns einfach nicht so richtig in den Kopf, führte der Bahnchef Hartmut Mehdorn vor einigen Tagen aus. ({0}) Der Mann hat Recht! ({1}) - Herr Kollege Fischer und Herr Kollege Goldmann, wenn der Mann nicht rechnen kann, muss ich ihn einmal fragen, wie er es trotzdem geschafft hat, als Chef der Heidelberger Druckmaschinen AG innerhalb von fünf Jahren den Umsatz zu vervierfachen und den Gewinn sowie die Belegschaft zu verdoppeln. Das ist eine tolle Leistung für jemanden, der nach Ihrer Einschätzung nicht rechnen kann. ({2}) Dasselbe gilt übrigens für Herrn Eckrodt von Adtranz, der vor wenigen Tagen - das können Sie nachlesen - in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gesagt hat: Lassen Sie uns das Abenteuer beenden. ({3}) Ich komme zu Hartmut Mehdorn zurück. Sein Vorschlag ist ein ICE-Ausbau, ein hochgeschwindigkeitstauglicher Ausbau der vorhandenen Bahnstrecke von Hamburg über Büchen - Wittenberge bis nach Berlin. ({4}) Er sagt, dies sei zu einem Bruchteil der Kosten machbar. ({5}) - Jetzt revanchiert er sich. Das verstehe ich ja. Herr Fischer, ich verstehe, dass Sie sich vorhin aufgeregt haben. Aber kommen Sie langsam wieder herunter. Lesen Sie mehr Zeitungen und hören Sie wieder einmal zu. Dann können wir in aller Ruhe darüber diskutieren. ({6}) Herr Mehdorn sagt: Lasst uns die ICE-Verbindung Hamburg - Berlin für einen Bruchteil der Kosten ausbauen und wir schaffen eine um 90 Minuten kürzere Fahrzeit. Dies ist innerhalb kurzer Zeit möglich. Der Mann hat wieder Recht. ({7}) Das Allerschönste an seinem Vorschlag ist, dass wir genau dies schon vor vielen Jahren gesagt haben. ({8}) Herr Goldmann, wir könnten schon heute im ICE zwischen Hamburg und Berlin in 90 Minuten fahren, wenn wir nicht Jahre durch sinnlose, fruchtlose und überteuerte Transrapid-Planspiele verloren hätten. ({9}) - Zuruf von der CDU/CSU: Unsinn!)

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Goldmann?

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Goldmann.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schmidt, wie schnell wollen Sie zwischen Hamburg und Berlin mit einem ICE fahren und was kostet der Ausbau, der notwendig ist, um die von Ihnen genannte Geschwindigkeit zu erreichen? ({0})

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Für Ihre Zwischenfrage bin ich sehr dankbar; denn sie gibt mir die Gelegenheit, auch noch das operationale Konzept vorzustellen, das im Hintergrund steht. Die Bahnstrecke Hamburg - Büchen - Wittenberge, die etwas über 300 Kilometer lang ist, unterliegt heute einer Geschwindigkeitsbegrenzung. Das ist vom Kollegen vorhin in der Zwischenfrage richtig gesagt worden. Diese Geschwindigkeitsbegrenzung beträgt aber nicht 200 km/h, wie Sie gesagt haben, sondern 160 km/h. ({0}) - Beim ICE 3, Herr Kollege. Es muss ja nicht der ICE 3 fahren; es kann ja der ICT oder der ICE 2 fahren. Diese Geschwindigkeitsbegrenzung, die das Eisenbahnbundesamt verhängt hat, gilt deshalb, weil höhengleiche Bahnübergänge existieren, die nur mit Halbschranken abgesichert sind. ({1}) - Ich sage Ihnen doch gerade, warum heute nur so langsam gefahren werden darf. Dann sage ich Ihnen, wie schnell wir fahren müssen. Entweder müssen wir die höhengleichen Bahnübergänge beseitigen, was Geld kostet - ich sage Ihnen gleich, wie viel -, oder wir müssen aus den Halbschranken, was kostengünstiger ist, Vollschranken machen. Dann könnte man - das lässt die Infrastruktur schon heute zu - 200 km/h und in gewissen Abschnitten sogar schneller fahren. Wenn Sie also mit dem ICT, dem ICE 2 oder auch, Kollege Friedrich, mit dem ICE 3 wenn die vorläufige Geschwindigkeitsbegrenzung auch noch aufgehoben wird - mit der Höchstgeschwindigkeit von 230 km/h und der Durchschnittsgeschwindigkeit von 200 km/h zwischen Hamburg und Berlin fahren, dann brauchen Sie 90 Minuten. Das wollten Sie wissen. ({2}) Was das kostet, sage ich Ihnen jetzt auch noch. Wenn Sie die Bahnübergänge in Gänze beseitigen und durch Überführungs- und Unterführungsbauwerke ersetzen wollen, würde das zwischen 500 und 600 Millionen DM kosten. Albert Schmidt ({3}) ({4}) Herr Kollege Fischer, wenn Sie aber aus den Halbschranken Vollschranken machen, dann müssen Sie diese Bauwerke gar nicht ausführen. Dann kommen Sie mit einem Bruchteil dieser Kosten zurecht. Genau das ist der Wirtschaftlichkeitsvorteil, den der Transrapid zwischen Hamburg und Berlin niemals haben wird. ({5}) Herr Kollege Goldmann, jetzt will ich Ihnen zeigen, dass das, was ich hier vortrage, keine Spinnerei der Grünen ist. ({6}) Ich zitiere aus der Hauspostille der Bündnisgrünen, aus dem „Handelsblatt“, den Kommentar des heutigen Tages zum Thema Transrapid. Die Überschrift lautet: „Die Vernunft siegt“. Nach all den Jahren der Diskussion müssen Sie sich den folgenden Satz schon anhören: ({7}) „Aus der Sicht des Steuerzahlers ist die unumgängliche Entscheidung gegen das Projekt ein später Sieg der Vernunft.“ ({8}) Sie Hohepriester der Marktwirtschaft bei der F.D.P., das schreiben Leute im „Handelsblatt“, die rechnen können, über andere, die auch rechnen können, denen Sie aber vorwerfen, dass sie eins und eins nicht zusammenzählen können. ({9}) Ich könnte Ihnen den Rest des Kommentars noch weiter vorlesen. Das erspare ich Ihnen. Lassen Sie mich noch ein Wort zur Technologie sagen: In Wahrheit führen Sie mit Ihrem Antrag eine ideologische Debatte. Sie behaupten, diese Technologie sei zukunftsfähig. Darüber kann man streiten. ({10}) Ich möchte Folgendes zu bedenken geben: Die Technologie Transrapid, also Magnetschwebebahn, wurde in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts entwickelt. ({11}) 1937 wurde dieses Patent angemeldet, von dem Sie sagen, es werde sich schnell verkaufen wie beim Faxgerät usw. ({12}) Dass dieses Patent sich bis heute weltweit nirgends marktfähig durchgesetzt hat, sollte uns sehr zu denken geben, Herr Fischer. ({13}) Zum Zweiten ist die Geschwindigkeitslücke - - ({14}) - Herr Kollege, ich glaube, es wird nicht besser durch mehr Zwischenfragen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schmidt, erlauben Sie die Zwischenfrage oder erlauben Sie sie nicht?

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn Sie mir versprechen, dass Sie mir auch zuhören, wenn ich sie beantworte, dann erlaube ich sie Ihnen gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Also, bitte schön, Herr Fischer, stellen Sie Ihre Frage.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Schmidt, können Sie mir Auskunft darüber geben, wie oft das von Ihnen angepriesene Produkt ICE bis zum jetzigen Zeitpunkt weltweit verkauft worden ist?

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich kann Ihnen, Herr Fischer, sagen, dass die Franzosen sich in den 70er-Jahren von der Magnetschwebebahntechnik verabschiedet und auf den TGV gesetzt haben, zehn Jahre früher auf dem Weltmarkt waren und mehr verkauft haben, weil wir mit dem ICE um zehn Jahre zu langsam waren. Diesen Fehler sollten wir nicht wiederholen. Vielmehr sollten wir die Technologie, die wir entwickelt haben, jetzt wirklich weltweit vermarkten, und das ist die schnelle Rad-SchieneTechnik. ({0}) - Jetzt reicht es, glaube ich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schmidt, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Fischer?

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich glaube, jetzt sollten wir das Spielchen beenden. Albert Schmidt ({0}) ({1}) Wir wollen auch noch abstimmen -

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das ist Ihre Entscheidung.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- und nachher nach Hause gehen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Es ist Ihre Entscheidung.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gut. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nein, Herr Fischer, er will keine weitere Zwischenfrage zulassen.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, danke. ({0}) Die Geschwindigkeitslücke, für die das Konzept einmal entwickelt wurde ({1}) Die Geschwindigkeitslücke - ({2}) - Herr Präsident, ich kann keinen Satz zu Ende sprechen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Meine lieben Kollegen, der Redner kann die Antwort geben, die er für richtig hält. Sie können sie dann bewerten.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie können ja eine Kurzintervention machen

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Sie können ihn nicht zwingen, eine Antwort zu geben.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- oder was immer Sie wollen. Okay? ({0}) Ich wollte Ihnen nur sagen: Die Geschwindigkeitslücke zwischen dem Zug und dem Flugzeug, für die die Magnetschwebebahntechnik einst entwickelt wurde, existiert nicht mehr. Die schnelle Rad-Schiene-Technik hat diese Geschwindigkeitslücke im Wesentlichen geschlossen. Wir haben in Mitteleuropa das dichteste Bahnnetz der Welt, mit dem Ergebnis, dass Sie überall, wohin Sie mit dem Transrapid gehen, schon eine Bahnstrecke finden, die mindestens entwicklungsfähig ist. Das ist das Problem. Deshalb spreche ich nicht gegen diese Technik an sich - dass wir uns da richtig verstehen. Ich bin sehr dafür, dass jede Alternativstrecke unvoreingenommen geprüft wird. Aber ich bin persönlich sehr skeptisch, ob Sie in Mitteleuropa eine attraktive, eine konkurrenzfähige, eine wettbewerbsfähige Strecke finden werden. ({1}) In den USA, wo wir kein Bahnnetz haben, ist die Situation wesentlich anders. ({2}) Nun komme ich aber zum Schluss. Ich will Ihre Geduld nicht über Gebühr strapazieren. Es gab einmal einen Verkehrsminister der CDU/CSU in diesem Haus, der Matthias Wissmann hieß. ({3}) Er war ein Befürworter der Transrapidtechnologie. Er hatte die folgende Position, die er - Herr Fischer, wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie das zugeben - im Verkehrsausschuss mehrfach vorgetragen hat: ({4}) Wir wollen den Transrapid, aber nicht um jeden Preis. Diese Position verlassen Sie mit Ihrem Antrag. Sie sagen: Wir wollen den Transrapid, egal, was es kostet, ({5}) egal, wie viel es der Bahn schadet, egal, ob es unwirtschaftlich ist. ({6}) Was Sie hier vertreten, ist nicht mehr Politik, sondern Dogmatismus. ({7}) Solche miserablen Epigonen wie Sie hat selbst Matthias Wissmann nicht verdient! ({8}) Sie sollten wieder zu seriöser Politik zurückkehren. ({9}) Ich bin froh, dass Sie heute bei einer Entscheidung über 6 Milliarden DM nichts zu sagen haben. Das kann ich Ihnen deutlich sagen. Sie haben das Eckpunktepapier von April 1997 angesprochen. Lesen Sie die Ziffer 10 nach! Ich sage das dem Hohen Hause heute zum dritten Mal. Darin steht: Wenn die Kosten explodieren, wenn die Daten nicht mehr stimmen, treten alle Beteiligten zusammen, bewerten gemeinsam die Situation neu und treffen eine abschließende Entscheidung. - Genau das wird geschehen. Ich sage Ihnen heute zum dritten Mal - vielleicht glauben Sie es mir ja heute -: Ich schwöre Ihnen, es wird die richtige Entscheidung dabei herauskommen. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Dr. Winfried Wolf von der PDS-Fraktion das Wort.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die CDU schlägt uns allen Ernstes vor, in einer aussichtslosen Lage den Transrapid auf der Verbindung Hamburg - Berlin doch zu bauen. Da könnte man mutmaßen, dass hier nicht nur Technikgläubigkeit, sondern auch ThyssenHörigkeit im Spiel ist, zumal das Unternehmen Thyssen nicht nur führend beim Bau des Transrapids, sondern auch führend im Parteispendenskandal der CDU ist. Wir haben alle gelacht, als Sie, Herr Fischer, am Anfang Ihrer Rede die freudsche Fehlleistung begangen haben, indem Sie erklärt haben, der Transrapid sei eine bestechende Technologie. Nun schien der gestrige CDUAntrag auch aus anderen Gründen von vorgestern zu sein. Gemeldet wurde, die Bundesregierung habe die Pläne für den Transrapid auf Eis gelegt. Doch die Haltung der Regierung ist nicht so eindeutig. Fast ein Jahr haben wir damit verloren, das Modell einer einspurigen Magnetbahn zu propagieren, eine Provinzposse, wie dies auch im „Handelsblatt“ bezeichnet wurde und die dort mit dem Satz kommentiert wurde: Langsam entsteht der Eindruck, dass die Bahnindustrie jeden noch so unsinnigen Sparvortrag abnickt. Das Hin und Her ist nicht nur unsinnig, sondern kostet auch viel Geld. Allein seit der Regierungsübernahme durch SPD und Grüne wurde für die Transrapid-Strecke in die Haushalte 1999 und 2000 rund 1 Milliarde DM eingestellt. Nun hat der Bundesverkehrsminister eine neue Runde im Transrapid-Eiertanz eröffnet. Er sucht nach neuen Referenzstrecken. Im Gespräch sind TransrapidVerbindungen der Flughäfen München und BerlinSchönefeld mit den jeweiligen Stadtzentren. Dazu ist festzustellen: Erstens. Wer bisher für den Transrapid argumentierte, der hat stets die hohe Geschwindigkeit und die Zeitersparnis angeführt. Jetzt werden als Alternativen Kurzstrecken empfohlen. Es ist richtig, Herr Fischer: Das sind keine Alternativen, die Zeitersparnisse bringen; vielmehr wären das Totgeburten. Zweitens. Zu den beiden genannten Flughäfen gibt es bereits gute S-Bahn- bzw. Regionalbahnverbindungen. Vorgeschlagen wird also allen Ernstes, doppelt zu investieren. Drittens. Die beschlossenen Mittel und die Magnetbahngesetze sind ausdrücklich auf die Strecke HamburgBerlin bezogen. Wer jetzt nahtlos die hierfür vorgesehenen 6 Milliarden DM für eine andere TransrapidStrecke verplant, der ist unseriös und undemokratisch. Auch das angeführte Arbeitsplatzargument, Herr Kollege Fischer, ist im Zusammenhang mit dem Transrapid nicht seriös. Herr Goldmann, den wenigen Arbeitsplätzen, die der Bau einer Magnetschwebebahnstrecke brächte, stehen Verluste von Arbeitsplätzen bei der Bahn und in der Bahnindustrie gegenüber. Der Transrapid ist auch ein Verkehrsmittel, das direkt mit der Bahn konkurriert. Alle zur Debatte stehenden Stre-cken, auch die Referenzstrecken, führen zum Abbau des Schienenverkehrs und damit auch zu einem Abbau der Belegschaft bei der Bahn. ({0}) Parallel zum Spitzengespräch Schröder/Mehdorn wurde gestern bekannt: Das Unternehmen Zukunft will insgesamt 70 000 weitere Jobs streichen. Solch ein Aderlass nach der Halbierung der Belegschaft in den 90erJahren gefährdet nach meiner Ansicht den Schienenverkehr existenziell. Dazu hören wir von den TransrapidBefürwortern kein Wort. Wir haben mit unserem schlichten Antrag das Angebot gemacht, aus dem Magnetschwebebahnbedarfsgesetz auszusteigen, und damit allen Parteien die Möglichkeit gegeben, aus der Transrapid-Technologie, zumindest aus den Planungen für die Strecke, auszusteigen; denn dieses Gesetz verpflichtet zum Bau der Magnetbahnstrecke Hamburg - Berlin. Es untersagt sogar, den Bedarf für diese spezifische Strecke auch nur zu hinterfragen. Das Gesetz ist schlicht anachronistisch. Es müssAlbert Schmidt ({1}) te aufgehoben werden, und zwar hier und heute. Die dann frei werdenden Gelder könnten sinnvoll umgewidmet werden und wären sinnvoll in den Ausbau des gesamten Schienenverkehrs investiert, unter anderem auch in die Verbesserung der Strecke Hamburg - Berlin. Wer will, könnte mit seiner Zustimmung zum Aus des Transrapids auf der Strecke Hamburg - Berlin auch einen Anstoß für die Verbesserung des gesamten Schienenverkehrs und für die Zukunft der Schiene geben. Danke schön. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen Wolfgang Börnsen von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Hamburger Abgeordnete hat mit dem Hinweis geschlossen, dass es eine gute Entscheidung für Hamburg geben soll. Angelika Mertens, das erweckt Hoffnung. Sie haben zwar nicht dafür gesprochen, aber auch nicht dagegen. Auch das erweckt die Hoffnung, dass wir doch noch zu einer Entscheidung gelangen, die ein Ja zur Technik und auch ein Ja zur Referenzstrecke bedeutet. Herr Schmidt, wir haben uns ein wenig festgefahren. Der Transrapid ist zur Weltanschauung geworden. Man kann nicht mehr so richtig hinter seine Position zurück. Das gilt für uns genauso wie für die Gegner. Aber Befürworter und Gegner wechseln inzwischen. Dazu möchte ich etwas sagen: ({0}) Mein Kollege Goldmann hat nach meiner Meinung sehr wohl deutlich gemacht, dass es ihm nicht um einen Showeffekt, sondern dass es ihm wie Dirk Fischer um die seriöse Beantwortung der Frage geht, ob wir in Deutschland eine Zukunftstechnologie einsetzen können. Die Situation hat in diesem Jahr einen ganz besonderen Charme. Der Charme besteht darin, dass wir die EXPO 2000 vor uns haben. Einige sagen: Das setzt uns unter Zugzwang. Wollen wir uns vor der Weltöffentlichkeit mit diesem - gewissermaßen symbolischen Projekt als Zauderer oder als Befürworter einer Technik, die ganz ungewöhnlich ist und deshalb über fast sechs Jahrzehnte ihre Schwierigkeiten gehabt hat, vorstellen? Ich glaube sehr wohl, dass die EXPO eine Chance sein kann, unser Land als zukunftsfähig und fortschrittsbereit vorzustellen. Wovon geht der Transrapid aus? Der Transrapid geht davon aus, dass wir in Zukunft überall in der Welt einen zunehmenden Massenverkehr zu bewältigen haben. Der Transrapid ist eines der geeignetsten Verkehrsmittel, um diesem Massenverkehr auch zwischen großen Zentren zu begegnen. ({1}) Alleine für Europa rechnet man mit einer Steigerung des Straßenverkehrs um 30 Prozent. Beim Schienenverkehr rechnet man mit einer Steigerung um 70 Prozent und beim Flugverkehr mit einer Steigerung um das Doppelte. Zwischen der Ost- und der Westverbindung in Europa - mit Deutschland als Haupttransitland - wird es eine Verdreißigfachung geben. Damit sollen wir fertig werden. Wir sollten uns wirklich ganz ernsthaft verschiedene Alternativen überlegen, wenn wir diese Zukunftsentwicklung in den Griff bekommen wollen. ({2}) Wir haben doch eine Politik auch für die nächsten Generationen zu betreiben. ({3}) Warum hat Herr Schröder in China einen Vertrag unterschrieben? Warum sind die Vereinigten Staaten bereit, auf fünf staatlich ausgewiesenen Anwendungsstrecken den Transrapid umzusetzen? ({4}) Warum gibt es in den Vereinigten Staaten zwei Betreiber, die es privatwirtschaftlich machen wollen? Warum wollen die Niederlande zwischen Hamburg und Amsterdam eine solche Strecke umsetzen? Warum planen die Schweiz, die Vereinigten Staaten und Japan mit dieser Technologie? Sie tun das, weil sie wissen: Das ist eine große Chance, zu einem wirklich umweltschonenden Verkehrsträger zu kommen, der Zukunft verspricht. Ich glaube sehr wohl, dass es richtig ist, sich ganz ernsthaft damit auseinander zu setzen. Man sollte unserer Meinung nach in sieben Punkten ein wenig darauf hinweisen, wie man doch noch zu einem Ja für die Technik und für die Referenzstrecke kommt. Die herkömmliche Rad-Schiene-Technik ist ausgereizt. Der TGV und der ICE stehen am Ende ihrer Entwicklung. Das sagen alle Technikexperten. Der Transrapid steht am Anfang. Der Transrapid schafft Arbeitsplätze, auch wenn seine Gegner das Gegenteil behaupten. Aber er schafft tatsächlich Arbeitsplätze und er schafft vor allen Dingen Exportchancen. ({5}) Exportchancen hat man nur dann, wenn man eine glaubwürdige und überzeugende Referenzstrecke hat, die zeigt, dass der Massenverkehr zwischen großen Zentren übersetzt werden kann. Man kann keine überzeugende Anwendungsstrecke in Vororten mit Kleinstlösungen schaffen. Nein, es muss eine wirklich große Lösung zustande kommen. ({6}) Wir haben in Deutschland, was Entwicklung angeht, zwei besonders dynamische Städte: Hamburg und Berlin. Ich glaube sehr wohl, dass es richtig ist, gerade hier bzw. dort und nicht woanders anzusetzen. ({7}) Der Transrapid befindet sich auf einer Zielgeraden. Über 90 Prozent der 300 Kilometer langen Strecke sind bereits planungsrechtlich abgesichert und damit ist eine Umsetzung möglich. Nach Einschätzung der Bundesanstalt für Medizin gibt es kein sichereres Verkehrsmittel. Denken Sie einmal an die Hunderttausende, die pro Jahr verunglücken. ({8}) Das ist ein wichtiges Argument, auf neue, sichere Verkehrsmittel zu setzen. Auch bei der Bahn gibt es leider noch zu viele Verkehrsunfälle. Der Transrapid ist umweltfreundlich. Es hat lange gedauert, bis viele Fraktionen in diesem Hause bereit waren, das mitzutragen. Der Transrapid kann ferner umgesetzt werden. Die hier diskutierte Alternative, auf der Strecke Hamburg - Berlin auf die Rad-Schiene zu setzen, hat deutlich gemacht, dass es keinen Kostenvorteil für die Rad-Schiene-Technik gibt. ({9}) Im Gegenteil: Zu den jetzt schon in die Rad-SchieneTechnik auf der Strecke Hamburg - Berlin investierten 5,5 Milliarden DM müssten noch einmal 7 Milliarden DM hinzukommen, wenn man diese Strecke auf eine Geschwindigkeit auf 200 km/h ausbauen wollte. Das bedeutet, dass die Strecke teurer wird als beim Transrapid. ({10}) 1931 fuhr man auf der Strecke zwischen Hamburg nach Berlin schneller als heute. Ich glaube schon, dass es unabhängig von den Finanzierungsbedenken richtig ist, jetzt einmal über die eigentlichen Ansatzpunkte nachzudenken, die für eine Entscheidung sprechen. Herr Bundesverkehrsminister, Sie haben jetzt die Chance dazu. Ihre Parteigenossen sind dafür: Herr Schröder ist dafür, Herr Stolpe ist dafür, Ihr Vorgänger, Herr Müntefering, ist dafür, Herr Clement ist dafür, Herr Runde ist dafür. ({11}) Deren Überlegung ist doch richtig, dass sich diese Technik lohnt. Sie sagen auch nicht Nein zur Referenzstrecke. Auch der Bundesfinanzminister, der vorher Ministerpräsident in dem Land war, wo Thyssen zu Hause ist, hat für den Transrapid plädiert, ohne irgendwie von Thyssen abhängig zu sein. Warum plädieren denn Spitzenpolitiker der SPD in großer Zahl und aller Deutlichkeit für den Transrapid und sprechen sich nicht gegen die Referenzstrecke aus? Sie wissen, dass sie nach den Wahlen in SchleswigHolstein, das als einziges Bundesland eine Verfassungsklage dagegen eingereicht hatte, keinen Widerstand mehr zu befürchten haben. Damit wird sich das Problem lösen. Auch Sie, Herr Schmidt, haben doch jetzt zurückgezogen. ({12}) Fünfmal hat die Regierung in den letzten Monaten angekündigt, sich zu entscheiden. Fünfmal hat sie nicht entschieden. Warum denn eigentlich nicht? Man sollte ehrlich sein und sagen, dass man sich nach den Wahlen in Schleswig-Holstein entscheiden wird. ({13}) Es wäre sehr hilfreich, wenn der Bundesverkehrsminister endlich sagen würde, dass er bereit ist, das, was seine sozialdemokratischen Vorgänger vor 30 Jahren auf den Weg gebracht haben, zu verwirklichen. Das ist doch keine Frage der politischen Ausrichtung von CDU/CSU, F.D.P., SPD oder den Grünen. ({14}) Es ist eine Frage, ob Deutschland fähig zum Fortschritt und risikobereit ist. Das können wir doch jetzt noch einmal zeigen. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Börnsen, bitte.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Haben Sie Mut und überqueren Sie diese Zielgerade! Wir können es schaffen. Der Transrapid lohnt sich als Zukunftsprojekt für unser Land. Danke schön. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Bundesminister Reinhard Klimmt das Wort

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005307

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der aktuellen, teilweise recht hitzig geführten Diskussion ist es notwendig, noch einmal den Stand des Verfahrens darzustellen und in eiWolfgang Börnsen ({0}) ner sachlichen Debatte aus der Sicht der Bundesregierung zu reflektieren. ({1}) Natürlich sind wir der Auffassung, dass wir stolz sein können, dass diese Technologie in Deutschland entwickelt worden ist. ({2}) Dank des deutschen Ingenieurgeistes liegen wir bei dieser Technologie klar und eindeutig vor den Japanern, die mit ihrem System erhebliche Schwierigkeiten haben. Sie versuchen ja, auf dem gleichen Gebiet annähernd so gute Ergebnisse zu erzielen, wie wir sie bei uns erreicht haben. ({3}) Es besteht auch gar kein Zweifel daran, dass über diese Technologie bei Politikern verschiedener Parteien immer Konsens geherrscht hat. Das geschah aus dem Wissen, dass Innovation eine der Voraussetzungen ist, wenn wir uns ökonomisch auf den Weltmärkten behaupten wollen. Es war in der Tat Georg Leber, der den Transrapid mit anderen zusammen auf die Spur gebracht hat und einen Plan entwickelt hat. ({4}) Damals bestand noch das Ziel, daraus eine Technologie zu machen, die praktisch dauerhaft in die Verkehrskonzepte der Bundesrepublik integriert und eingesetzt werden könnte. Allerdings ist dann die Entwicklung in dieser Frage anders gelaufen. Zwar müssen wir jetzt aus technologieund industriepolitischen Gründen die Angelegenheit intensiv und mit aller Sorgfalt weiter betreiben; ({5}) aber wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass es für uns momentan verkehrspolitisch nur, wenn überhaupt, eine Ergänzung sein kann. Falls der Transrapid in Deutschland oder im dicht besiedelten Europa insgesamt überhaupt jemals eine Rolle spielen wird, dann jedenfalls nicht in den nächsten 20, 30 Jahren. Die Entscheidung - man mag das bedauern, man kann es aber auch ganz realistisch zur Kenntnis nehmen - ist sowohl in der Bundesrepublik - von deutscher Seite waren daran meine Vorgänger von Ihrer Couleur beteiligt - als auch in Frankreich zugunsten der Rad-Schiene-Technik gefallen. Die ICE-Technik und die ICE-Strecken sind ja nicht von uns ausgebaut worden, sondern der Ausbau ist von den Verkehrsministern vorangetrieben worden, die von der Union gestellt worden sind, ({6}) weil man wusste, dass es seinerzeit dazu keine praktische Alternative gab. Den Transrapid muss man als mögliche Zukunftstechnologie auch für Europa jetzt vorantreiben; aktuell aber ist das eine Ergänzungstechnologie und vor allem das ist ja völlig richtig - eine Exportchance für uns, sofern ein ernsthaftes Interesse an anderer Stelle erkennbar wird. Allerdings muss sich das dann auch ökonomisch umsetzen lassen. Natürlich haben sich schon sehr viele Ingenieure oder Staatsmänner und Staatsfrauen - die letzte war die niederländische Verkehrsministerin - in Lathen das System angeschaut, sind damit gefahren und haben es bewundert. Aber es ist noch nie - weder mit China noch mit den USA noch mit den Niederlanden zu irgendeiner konkreten Verhandlung gekommen, aus der erkennbar gewesen wäre, dass man bereit ist, das System zu kaufen. Hier bleibt es leider im Vagen. Selbstverständlich hat China Interesse an einer Transrapidverbindung von Schanghai nach Peking, die rund 60 Milliarden DM kostet. Die Chinesen werden sie allerdings nur bauen, wenn wir sie ihnen bezahlen. Das ist sicherlich nicht im Sinne der deutschen Politik. Dieses Problem muss dabei mit bedacht werden. ({7}) Es gab eine lange andauernde Überlegung, in welcher Weise man eine Referenzstrecke einrichtet. Die Wahl ist nach einer ganzen Reihe von Untersuchungen - die Entscheidung fiel unter Ihrer Verantwortung - auf die Strecke Hamburg - Berlin gefallen. Anschließend ist eine Umsetzungsvereinbarung getroffen worden; in dieser Eckpunktevereinbarung ist festgelegt, dass die Bundesregierung für die Finanzierung des Fahrweges zuständig ist, während sich das Industriekonsortium und die DB AG darauf verständigt haben, in welcher Weise die sonstigen Investitionen und die Betriebskosten aufgebracht werden. Dabei sind eine Reihe von Daten in Ansatz gebracht worden, von denen man nicht unbedingt sagen kann, dass sie sich als haltbar erwiesen hätten. So ist in der Analyse zum Beispiel die Zahl der Beförderungsfälle so nennt man das - reduziert worden. Momentan sind 8,6 Millionen so genannter Beförderungsfälle Berechnungsgrundlage. ({8}) - Ich weiß, dass die Argumente, die ich jetzt vortrage, Ihnen nicht schmecken. ({9}) Wir brauchen uns aber um diese späte Zeit wirklich nicht mehr mit Polemik zu beharken. Angesichts der geringen Präsenz und der geringen Aufmerksamkeit sollten wir uns lieber den Luxus leisten, miteinander zu argumentieren. Ich bin immer noch der Meinung, dass Sie sehr wohl in der Lage sind, sich in diesem Hause rational zu verhalten, ({10}) und dass Sie das Haus nicht nur als eine Bühne für irrationale Verhaltensweisen nutzen. Fest steht, dass wir momentan auf der Strecke 2,2 Millionen Fahrgäste haben. Somit müsste mit der neuen Technologie eine Vervierfachung durchgesetzt werden. Ich nenne das nur als Kriterium, damit deutlich wird, dass nicht alles von vornherein so eindeutig und klar ist, dass es verantwortbar wäre, die Strecke auf jeden Fall zu bauen. Sie kann nicht um jeden Preis gebaut werden, sondern nur zu vernünftigen und vertretbaren Konditionen. ({11}) Es ist doch völlig klar: Die Bedingungen sind von uns festgelegt worden; wir geben 6,1 Milliarden DM dazu. Das ist weiß Gott nicht wenig. Man muss nämlich bedenken, dass aus Forschungsgeldern bereits 2,2 Milliarden DM in dem Projekt stecken. ({12}) Wenn man das System bauen, aber auch mögliche Risiken abdecken will, muss man davon ausgehen, dass nicht immer die Forderungen an den Bund gerichtet werden, sondern dass sich auch diejenigen, die auf das System setzen und die an ihm verdienen wollen, einmal etwas stärker in dieser Frage engagieren. ({13}) Auf keinen Fall darf man die Bahn in dieser Frage in ein Abenteuer zwingen. Wir haben sie gerade erst - ich möchte sagen - von der Gängelung durch die öffentliche Hand befreit, damit sie frei und wirtschaftlich entscheiden kann. Es ist also nicht sinnvoll, wenn man ihr jetzt wieder politisch eine Aufgabe aufdrückt, die ökonomisch nicht zu lösen ist. Deswegen müssen wir abwarten, wie sich die Bahn zu diesem Thema äußert. Wir wollen und können uns kein weiteres Zuschussgeschäft leisten. Die Bahn würde ein solches Geschäft nicht verkraften können. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer? ({0})

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005307

Ja, natürlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Fischer.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, Sie haben gesagt, wir müssten abwarten, wie sich die Bahn entscheidet. Können Sie mir bestätigen, dass der Brief, den Herr Mehdorn geschrieben hat und der öffentlich bekannt geworden ist, mit Ihnen abgestimmt war?

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005307

Nein, der Brief ist nicht mit mir abgestimmt gewesen. Diesen Brief hat er von sich aus an Herrn Posch geschrieben. ({0})

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005307

Ich habe gesagt, dass der Brief nicht mit mir abgestimmt war. Zu Ihrem Versuch, sozusagen ein Zusammenspiel zwischen Bundesregierung und Bahn herzustellen, um einen negativen Eindruck zu erzielen, sage ich Ihnen: Das ist eine Unterstellung, die keine Grundlage und keinen realistischen Hintergrund hat. ({0}) Wir haben selbstverständlich auch versucht, beim Transrapid Partner zu finden. Die Partnerschaften waren aber etwa auf der französischen und der niederländischen Seite nicht zu finden. Das heißt, auch in diesem Punkt muss man realistisch an die Frage herangehen, ob zu den vonseiten der Bahn genannten Konditionen dieses Projekt wirtschaftlich zu fahren ist. In diesen Gesprächen befinden wir uns momentan. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Auch ich habe mich nicht in irgendeiner Weise von der Strecke Hamburg - Berlin verabschiedet. Diese Strecke ist doch die Grundlage aller Verhandlungen und Gespräche gewesen. Es gab ja auch den Versuch von Franz Müntefering, durch das Vorschlagen der Einspurigkeit eine Lösung zu finden, die in einem vernünftigen Rahmen realisierbar gewesen wäre. Aber Franz Müntefering konnte nicht und auch Reinhard Klimmt kann nicht feststellen, ob die Bahn zu diesen Konditionen wirtschaftlich arbeiten kann. Diese Frage muss von der Bahn selbst beantwortet werden. Es muss auch vonseiten des Industriekonsortiums klar gesagt werden, ob die beteiligten Unternehmen bereit sind, auf die im Eckpunktepapier vereinbarte Rückzahlungsverpflichtung zu verzichten, was man vom Bund unter der Hand schon erwartet hat. All diese Punkte sind eindeutig bekannt. Darüber muss noch gesprochen werden; in diesem Diskussionsprozess befinden wir uns jetzt. Ich lasse mich aber nicht in Hudeleien verstricken, indem man versucht, uns durch eine zugespitzte Debatte zu Aussagen hinsichtlich Sachverhalten zu zwingen, über die man momentan noch keine Aussage machen kann. Das werden Sie auch heute Abend nicht schaffen. ({1}) Wir wollen erreichen, dass diese Technologie bei uns im Lande durchgesetzt wird. Dabei ist völlig klar - darüber sind wir uns einig -, dass man diese Technologie anderen nicht anbieten kann, wenn ihre Funktionsfähigkeit nicht in irgendeiner Weise auf einer Referenzstrecke nachweisbar ist. Man muss also nachweisen, dass diese Technologie im Alltagsbetrieb wirklich funktioniert. Die Strecke allein in Lathen zu betreiben reicht nicht aus. Darüber sind wir uns völlig im Klaren. Es geht darum, zu prüfen, ob das System im aktiven Betrieb wirklich funktioniert. Man braucht nur in die Koalitionsvereinbarung hineinzuschauen, in der eindeutig steht, dass Alternativstrecken zu prüfen sind, wenn die Strecke Hamburg - Berlin nicht zu realisieren sein sollte. Das ist eine Frage, an die wir jetzt noch gar nicht herangehen, weil sich die Strecke Hamburg - Berlin immer noch in der Debatte befindet und diskutiert werden muss. Aber ein Punkt ist dabei auch noch klar. Sie haben gefragt, warum man so viele Anläufe gebraucht hat -: Vor Weihnachten ist gesagt worden, die Länder seien bereit, Risiken mit abzudecken. Aber es hat sich hinterher herausgestellt, dass die Länder nicht bereit sind, ein Betriebsrisiko durch Bürgschaften mit abzudecken. ({2}) Deswegen hat sich die Situation dadurch für die Bahn in keiner Weise verändert und verbessert. Man muss prüfen, welche Strecke alternativ eingesetzt werden kann. Das werden wir dann tun, falls die Gespräche es ergeben. Wenn man die Strecke Hamburg - Berlin zu vertretbaren Bedingungen nicht realisieren kann, dann muss man in der Tat - dazu bitte ich dann auch um Ihre Unterstützung, falls das eintreten sollte - zusammen im Interesse der Technologie nach einer Alternativstrecke suchen, damit wir das Technologieprojekt als solches nicht beerdigen müssen, sondern ihm eine Chance geben können. Das ist der Auftrag, den wir, glaube ich, haben, wenn es um den technologiepolitischen Ansatz unserer Arbeit geht. ({3}) Es gibt eine Reihe von Vorschlägen. Von Herrn Mehdorn ist vorgeschlagen worden, Schönefeld mit der Stadt zu verbinden. Es gibt schon länger die Diskussion, ob es eine Verbindung zwischen München und der Innenstadt geben soll. Es wäre auch denkbar, noch einmal die Idee eines Shuttles zwischen den Flughäfen Düsseldorf und Köln zu prüfen. Es gibt also eine ganze Reihe von Varianten, um die man sich kümmern sollte. Denn eines ist klar, um es noch mal zu sagen: Es geht darum, im Betrieb zu prüfen. Dafür ist die Länge der Strecke nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass man deutlich macht, dass der Betrieb des Systems auch im täglichen Gebrauch mit Passagieren funktioniert. ({4}) Darum geht es und dafür können wir dann, wenn dies eintritt, auch eine andere Strecke suchen. Meine Damen und Herren, wir werden jetzt die nächsten Schritte in aller Ruhe mit den Partnern beraten, die einen Anspruch darauf haben, dass wir mit ihnen darüber reden, wie wir den Schritt weiter nach vorne weiter gemeinsam gehen, nachdem sie so viel Engagement und teilweise auch so viel Geld eingesetzt haben. Ich freue mich, dass ich dabei die Unterstützung der Sozialdemokraten und der Bündnisgrünen in diesem Hause habe und ich hoffe, dass Sie uns auch auf diesem Wege positiv und nicht nur mit nicht ganz so gut gemeinten Ratschlägen begleiten werden. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zum Antrag der Fraktion der CDU/CSU betreffend die zügige Realisierung des Transrapidprojektes auf Drucksache 14/2359. Die Fraktion der SPD hat beantragt, den Antrag zu überweisen zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Haushaltsausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, den Ausschuss für Angelegenheiten der Neuen Länder, den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technologiefolgenabschätzung, den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und an den Ausschuss für Tourismus. Die Fraktion der CDU/CSU verlangt hingegen sofortige Abstimmung. Nach ständiger Übung geht die Abstimmung über den Überweisungsvorschlag vor. Ich bitte diejenigen, die dem Überweisungsvorschlag der Fraktion der SPD zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -Dann ist der Überweisungsvorschlag angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen aller Oppositionsfraktionen. In der Sache stimmen wir dann nicht mehr ab. Es folgt der Antrag der Fraktion der PDS zur Aufhebung der gesetzlichen Verpflichtung zum Bau der Transrapidstrecke Berlin - Hamburg auf Drucksache 14/2524. Die Fraktion der SPD hat auch hierzu beantragt, den Antrag an die gleichen Ausschüsse zu überweisen, an die wir soeben den CDU/CSU-Antrag zum Transrapidprojekt überwiesen haben. Die Fraktion der PDS verlangt eine sofortige Abstimmung. Jetzt wird wie zuvor erst über den Überweisungsvorschlag abgestimmt. Ich bitte diejenigen, die dem Überweisungsvorschlag der Fraktion der SPD zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Dann ist der Überweisungsvorschlag bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der PDSFraktion und bei Enthaltung der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion angenommen. Auch hier wird in der Sache nicht mehr abgestimmt. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 sowie die Zusatzpunkte 8 und 9 auf: 11. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula Burchardt, Monika Griefahn, Heinz Schmitt ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Angelika Beer, Matthias Berninger, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/Die Grünen Förderung der Friedens- und Konfliktforschung - Drucksachen 14/1963, 14/2419 Berichterstattung: Abgeordnete Heinz Schmitt ({2}) Hans-Josef Fell Maritta Böttcher ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Burchardt, Monika Griefahn, Heinz Schmitt ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Angelika Beer, Matthias Berninger, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gründung einer Stiftung zur Friedens- und Konfliktforschung - Drucksache 14/2519 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Lensing, Eckart von Klaeden, Dr. Andreas Schockenhoff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Vorbereitung auf neue Herausforderungen an Deutschlands Sicherheitspolitik - Stärkung der Friedens- und Konfliktforschung als Teil der politikberatenden Forschung - Drucksache 14/2521 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als ersten Redner dem Kollegen Heinz Schmitt von der SPD-Fraktion das Wort.

Heinz Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002783, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit den beiden vorliegenden Anträgen zur Förderung der Friedens- und Konfliktforschung und zur Einrichtung einer Deutschen Stiftung Friedensforschung will die Regierungskoalition einen Forschungsbereich stärken, dessen wachsende Bedeutung durch die Ereignisse des letzten Jahres noch einmal unterstrichen wurde. Wir haben im Kosovo wieder einmal erfahren müssen, dass die Möglichkeiten von Krisenprävention und gewaltfreier Konfliktbewältigung weiterhin unzureichend sind, auch wenn im Falle des Kosovo natürlich das ideologische und Menschen verachtende Regime in Belgrad das Scheitern der diplomatischen Bemühungen zu verantworten hat. Eine nüchterne Bilanz des Krieges auf dem Balkan zeigt, dass die internationale Staatengemeinschaft mit ihren Militäroperationen und dem großen diplomatischen Engagement der deutschen Außenpolitik zwar ihre Ziele erreicht hat, nämlich die Menschenrechtsverletzungen und die Vertreibung der albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo beendet wurden und ein Friedensabkommen erzwungen wurde. Wir wissen aber auch, dass sich im Verlauf der Militäroperation die Vertreibungen der Zivilbevölkerung verstärkten und Hunderttausende von Menschen unter schlimmsten Bedingungen auf der Flucht waren. Die ganze Region war in einem kritischen, instabilen Zustand geraten. Wie nicht anders zu erwarten, steht am Ende auch dieser Maßnahme zur Friedenserzwingung die Notwendigkeit, auf Jahre hinaus Truppen zu stationieren, um den Frieden abzusichern, das Aufflammen neuer Gewalt zu verhindern sowie beim Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur zu helfen. Die Kosten für Militäreinsätze, für humanitäre Hilfe und für Wiederaufbaumaßnahmen werden voraussichtlich einen Beitrag in dreistelliger Milliardenhöhe erreichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es steht fest, dass angesichts der erwähnten Unwägbarkeiten, angesichts der großen Folgeprobleme und -kosten die militärische Friedenserzwingung immer nur die Ultima Ratio, das letzte Mittel bei der Bewältigung von Konflikten sein kann. Krieg ist und bleibt immer ein Scheitern der Politik. ({0}) Daher müssen wir nach Alternativen Ausschau halten, mit denen die Konfliktspirale schon früher unterbrochen werden kann. Die kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan sind beispielhaft für eine neue Form von Konflikten in der internationalen Politik, mit denen wir in den 90er-Jahren zunehmend konfrontiert worden sind. In Zukunft werden immer öfter Konflikte entstehen, in denen ethnische, religiöse und kulturelle Hintergründe eine Rolle spielen. Es sind bürgerkriegsähnliche Konflikte zu erwarten im Kampf um Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ressourcen, aufgrund von Bevölkerungswachstum, aufgrund sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit. Hinzu kommen ökologische Ursachen wie die Klimaveränderung und vieles mehr. Wenn wir also Entwicklungen wie im Kosovo zukünftig vermeiden wollen, müssen wir versuchen, früher einzugreifen, müssen wir verhindern, dass aus Konfliktund Krisensituationen kriegerische Auseinandersetzungen werden. ({1}) Wir müssen daher einerseits Konsequenzen ziehen für die Außen- und Sicherheitspolitik; denn auch hier gilt die Binsenweisheit: Vorbeugen ist immer besser als heilen. Für die Verrechtlichung von Konflikten und für die Fortentwicklung des Völkerrechtes brauchen wir eine Stärkung der Vereinten Nationen, der OSZE und anderer Regierungsorganisationen. Hier sind die staatlichen Akteure, hier sind Politik und Diplomatie gefordert. Auf der anderen Seite möchte die Regierungskoalition aber auch stärker als bisher auf externen wissenschaftlichen Sachverstand zurückgreifen. Es gilt, die Instrumente der Friedens- und Konfliktforschung zu stärken und besser in die politischen Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Hierzu gehören die Konfliktfrüherkennung, die Ursachenanalysen und die friedliche Konfliktbearbeitung. Das Potenzial der Friedens- und Konfliktforschung mit ihrem breitem Spektrum an Forschungsansätzen und -ergebnissen wurde von der alten Bundesregierung eher gering geschätzt. Die alte Bundesregierung hatte ja die Mittel für die Friedens- und Konfliktforschung zunächst drastisch reduziert und zum Schluss de facto eingestellt. ({2}) Wir haben bereits im Koalitionsvertrag den Aufbau einer Infrastruktur zur Krisenprävention und zivilen Konfliktbearbeitung vereinbart. Bereits für das Jahr 1999 wurden daher auch die Mittel für die Friedens- und Konfliktforschung im Haushalt wieder eingestellt. Mit der nachdrücklichen Förderung dieser Disziplin geht es uns darum, den Transfer der wissenschaftlichen Ergebnisse hin zur Politik sicherzustellen und die Erkenntnisse friedlicher Konfliktbearbeitung nahe bei der Politik zu verankern. Aus diesem Grunde befürworten wir daher auch die Gründung einer mit ausreichenden Mitteln ausgestatten Deutschen Stiftung Friedensforschung, die ihre Aufgaben weitgehend unabhängig von wechselnden politischen Interessen wahrnehmen kann. ({3}) Die Stiftung wird mit einem Stiftungsvermögen von 50 Millionen DM ausgestattet und wird am Anfang als unselbstständige Stiftung beginnen. Sie wird ab dem Jahre 2001 als selbstständige Stiftung ihre Arbeit fortsetzen. Die Stiftung hat einen Stiftungsvorstand, einen Stiftungsrat, dem Vertreter des Bundestages, der Bundesregierung und renommierte Friedensforscher angehören werden. Die Stiftung soll wissenschaftliche Vorhaben stärken, den wissenschaftlichen Nachwuchs fördern und sie soll auch die Vernetzung vorhandenen Wissens und neuester Erkenntnisse organisieren. Sie soll Anstöße geben und dafür Sorge tragen, dass die wissenschaftlichen Resultate zeitnah bei den Verantwortlichen ankommen und in die politischen Entscheidungen einfließen können. Wir gehen davon aus, dass die Stiftung auch vom neuen Stiftungsrecht profitieren wird und dass private Mittel hinzukommen werden. Wir wollen sicherstellen, dass die politischen Entscheidungsträger auf eine wissenschaftliche Unterstützung und professionelle Beratung bei der Konfliktbearbeitung zurückgreifen können und über die klassischen Mittel des staatlichdiplomatischen Instrumentariums hinausreichende Möglichkeiten haben und durch dieses Instrumentarium neue Handlungsansätze erhalten. Wir versprechen uns von dem Rückgriff auf das vorhandene Fachwissen einen Anstoß zur Stärkung einer neuen, präventiv agierenden und nicht reagierenden Konfliktbewältigung in der Außen- und Sicherheitspolitik. Meine Damen und Herren, ich denke, wir sind uns einig, dass nichts unversucht bleiben darf, was ein neues Kosovo zu verhindern hilft. ({4}) Die Stärkung der Friedens- und Konfliktforschung ist deshalb unerlässlich. Ich bitte Sie herzlich um Unterstützung unserer Anträge. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Eckart von Klaeden von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Kollegen! Dass die Friedens- und Konfliktforschung einer besseren Förderung bedarf, ist zwischen uns Konsens, glaube ich. Umso mehr sind wir von dem enttäuscht, was die Regierungskoalition hier vorlegt.Wir können feststellen, dass es in Wirklichkeit gar nicht darum geht, eine unabhängige wissenschaftliche Friedens- und Konfliktforschung zu schaffen und zu unterstützen, sondern dass es im Grunde um Schmerzensgeld für diejenigen geht, die sich von dieser Bundesregierung aus ideologischen Gründen enttäuscht fühlen. ({0}) Heinz Schmitt ({1}) Ich möchte den Gedanken einmal auf die Zeit lenken, als die Grünen noch in der Opposition waren. Zur Zeit des Bosnien-Krieges waren die Grünen der Ansicht, dass man den Konflikt nicht mit militärischen Mitteln, sondern allein mit dem wissenschaftlichen Ergebnis der von ihnen präferierten Friedens- und Konfliktforschung lösen müsste. Damals war der heutige Staatsminister Ludger Volmer als Bundestagsabgeordneter Gast in der Sendung „Talk im Turm“. Als ihm die Frage gestellt wurde, was man denn machen solle, wenn eine aggressive Macht wie Serbien unter Milosevic einfach die Nachbarn überfalle, hat er geantwortet, dann dürfe man nicht militärisch eingreifen, sondern müsse die Erkenntnisse der Friedens- und Konfliktforschung nutzen. Diese habe jetzt herausgefunden, dass man Chemikalien ausstreuen könne, die dafür sorgten, dass sich bei den militärischen Radfahrzeugen die Bereifung auflösen würde, wodurch das militärische Vorrücken der serbischen Truppen empfindlich gestört würde. ({2}) Nun hat man von diesen bedeutenden Erkenntnissen und wissenschaftlichen Früchten der den Grünen und anderen nahe stehenden Friedens- und Konfliktforschung im Kosovo-Krieg und generell, seitdem die Grünen und die SPD an der Regierung sind, nichts mehr gehört. Gleichwohl soll jetzt mit Steuergeldern ein ideologischer Biotop geschaffen werden. Dabei geht es mehr um die Versorgung bewährter Parteigänger als um eine wissenschaftlich fundierte Forschung und außeruniversitäre Politikberatung. ({3}) Gerade diese Regierung, Herr Kollege Schmidt, hat diese Beratung bitter nötig. Es besteht kein Zweifel, dass in einer unübersichtlicher gewordenen Welt von heute Friedens- und Konfliktforschung ihren Platz hat. Sicherheit lässt sich heute nicht mehr rein territorial definieren und ausschließlich militärisch bestimmen. Dem Stabilitätstransfer, der Krisenvorsorge und der Konfliktprävention kommen in Zukunft immer größere Bedeutung zu. Nur gemeinsam und in enger Abstimmung mit unseren internationalen Partnern lassen sich die vor uns liegenden Aufgaben meistern. Deutschland muss vor diesem Hintergrund seine sicherheitspolitischen Ziele und Wege neu definieren, seine Instrumente überprüfen und, wo nötig, an die neue Lage anpassen. Praxisorientierte Politikberatung kann dazu neben der Administration einen wertvollen Beitrag leisten. Eine Friedens- und Konfliktforschung, die sich nicht im akademischen Elfenbeinturm verkriecht, sondern die Nähe zur praktischen Politik sucht, hat dabei ihren Platz. Mit der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen, mit dem Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien und mit der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik verfügen wir allerdings über renommierte Institutionen, die Friedens- und Konfliktforschung zum Gegenstand haben und aus Bundesmitteln gefördert werden. Dazu kommen eine Reihe kleinerer Institute, wie die Hessische Stiftung Friedensund Konfliktforschung, das Institut für Theologie und Frieden, die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft oder das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, die sich ebenfalls, mehr oder weniger praxisrelevant, ganz plural mit Fragen der Friedens- und Konfliktforschung beschäftigen. Die Bundesregierung hat sich unlängst in den gemeinsamen Leitlinien und im Beschluss, die Stiftung Wissenschaft und Politik sowie das Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien unter einem Dach in Berlin zu vereinen, zur Bündelung der Kräfte und Stärkung der politikberatenden Forschung bekannt. Eine neue Stiftung zur Friedens- und Konfliktforschung, wie sie Bundesministerin Bulmahn jetzt dem Bundestag zum Beschluss vorlegt, ist deshalb überflüssig wie ein Kropf. ({4}) Sie würde neue bürokratische Strukturen schaffen, die zusätzliches Geld von der Forschung abziehen, und sie würde die allfälligen Bekundungen von Bundeskanzleramt und Auswärtigem Amt zur Stärkung der außeruniversitären politikberatenden Forschung Lügen strafen. ({5}) Bereits im Zusammenhang mit dem Umzug von SWP und BIOST hat die Bundesregierung ein tieferes Verständnis für die Bedeutung einer außenpolitischen Politikberatung vermissen lassen. Der Beitrag von Bundeskanzler Schröder im Auswärtigen Ausschuss ist allen geläufig. Als er gefragt wurde, wie es denn mit der außeruniversitären Politikberatung stehe, hat er gesagt: Wieso, ich habe doch hier meinen Steinmeier. ({6}) Nur auf massiven Druck des Deutschen Bundestages und dankenswerterweise auch der Fraktion der SPD ist es gelungen, das Bundeskanzleramt von seinen abwegigen Vorstellungen hinsichtlich der Verschiebung des Umzugs abzubringen. Dies hätte im Resultat den Todesstoß für das neue Berliner Institut bedeutet. Um so verwunderlicher ist es, wenn Bundesministerin Bulmahn in ihrem Haushalt auf einmal 50 Millionen DM zur so genannten Stärkung der Friedens- und Konfliktforschung findet. Wer sich die Liste der Mitglieder der Struktur- und Findungskommission für die Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung ansieht, wird mit einiger Verwunderung feststellen, dass es gelungen ist, bei der Auswahl ausschließlich altbekannte Vertreter ein und derselben politischen Schattierung zusammenzubringen: Von Egon Bahr bis Ulrich Albrecht, von Dieter Lutz bis Herbert Wulf, von Eva Senghaas-Knobloch bis Volker Rittberger ({7}) haben wir es ausschließlich mit Wissenschaftlern zu tun, die bislang vor allem durch parteinahe wissenschaftliche Äußerungen von sich reden gemacht haben. ({8}) Wenn Sie sich diese Liste einmal ansehen, werden Sie feststellen, dass nur Marion Gräfin Dönhoff wirklich rechts außen steht. Das ist, so finde ich, ein bemerkenswerter Beitrag an Einseitigkeit. Damit kein Missverständnis entsteht: Es handelt sich nicht um ein Kuratorium beim Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Es handelt sich um die Mitglieder der Struktur- und Findungskommission einer zu gründenden Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, die, wie es im Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen heißt, „Anregungen und Anstöße“ geben sollen, „insbesondere für die multidisziplinäre und internationale wissenschaftliche Kooperation sowie für die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis“. Man muss kein Prophet sein, um zu vorauszusagen, dass bei so viel Parteilichkeit die wissenschaftliche Unabhängigkeit auf der Strecke bleiben wird. Gegen die Förderung der Friedens- und Konfliktforschung ist nichts einzuwenden. Die Bundesregierung hätte allerdings gut daran getan, die jetzt zur Verfügung gestellten Mittel dem neuen Institut in Berlin, das aus der Stiftung „Wissenschaft und Politik“ und aus dem Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien gebildet wird, zu übertragen, damit von dort aus in engem fachlichen Austausch mit den anderen auf dem Gebiet der Friedens- und Konfliktforschung tätigen Instituten Ergebnisse erzielt werden können, von denen auch Bundestag und Bundesregierung profitieren können. Die Vorstellungen, die in dem vorliegenden Antrag dargelegt werden, und die, die in der Liste von Bundesministerin Bulmahn zum Ausdruck kommen, triefen hingegen vor Parteilichkeit und lassen eine „hidden agenda“ vermuten. Deutschland, will es seiner gewachsenen internationalen Verantwortung gerecht werden, muss auch in der Sicherheitspolitik mit Blick auf eine Vielzahl von neuen Herausforderungen andere Wege gehen. Denn die Aufgaben der deutschen und der atlantischen Sicherheitspolitik haben sich sowohl geographisch als auch funktional verändert. Dazu kann auch eine verstärkte politikberatende Forschung einen Beitrag leisten. ({9}) Mit den Vorstellungen der Bundesregierung zur Friedens- und Konfliktforschung, wie sie in den beiden Anträgen der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Ausdruck kommen, ist dieser Weg kaum gangbar. Es wäre deshalb angebracht, wenn die Bundesregierung ihre bisherigen Vorstellungen überdenkt und im Lichte unseres Antrages noch einmal überarbeitet. Ich kann ja verstehen, dass man in einer Koalition, in der die Vorstellungen über die Außen- und Sicherheitspolitik so weit auseinander gehen wie bei Ihnen, zu absurden Tauschgeschäften kommt, zum Beispiel dazu, dass man vereinbart, einen Testpanzer an die Türkei zu liefern

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege von Klaeden, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- ich komme sofort zum Schluss - und umgekehrt 50 Millionen DM für die Pflege der eigenen Klientel zur Verfügung zu stellen. ({0}) Das Einzige, was uns hier noch hoffnungsfroh stimmt, ist, dass Sie wenigstens den abwegigen Weg gewählt haben, dass das Stiftungskapital sich selber aufzehrt. Man kann nur hoffen, dass dieser Spuk bald zu Ende ist. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Winfried Nachtwei.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal zu dem Antrag der CDU/CSU-Opposition zur Stärkung der Friedens- und Konfliktforschung. Diesen haben Sie mit der wachsenden Bedeutung von Krisenvorsorge und Konfliktprävention begründet. Als ich ihn durchlas, war ich nach der Überschrift und der Einleitung zunächst einmal etwas erfreut. Denn damit sind Sie immerhin von Ihrer bisherigen Position, der Friedensund Konfliktforschung gegenüber pauschal Ignoranz zu zeigen und nur politische Verdächtigungen auszusprechen, abgerückt ({0}) Wenn man sich dann allerdings Ihre konkreten Forderungen ansieht und die Rede von Herrn von Klaeden berücksichtigt, muss man sagen: Von dieser Positionsänderung ist real nichts übrig geblieben. Die Vorwürfe einer Klientelpolitik laufen auf die Beleidigung verschiedenster Wissenschaftler und Institute hinaus. Sie setzen im Grunde darauf, nur den Teil der bisher Ihrer Regierung nahe stehenden Politik der beratenden Forschung zu fördern, der bislang schon gefördert wurde. ({1}) Wer so selektiv vorgeht, hat offensichtlich den tatsächlichen Handlungsbedarf in der internationalen Politik in keiner Weise verstanden. ({2}) Ich möchte zwei aktuelle Hinweise geben. Erstens. Heute war in der Zeitung „Die Woche“ ein Kommentar des Kommandeurs der KFOR-Friedenstruppe zur bisherigen Politik der internationalen Gemeinschaft bezüglich des Kosovo zu lesen. Dort hieß es: Das gesamte Kosovo-Budget der UN lag für 1999 bei 125 Millionen Mark: Das ist ein Viertel dessen, was die Nato an einem Tag an Geld verbombt hat. Es ist abenteuerlich dumm, - so General Reinhardt dass wir damals die Finanzen aufbrachten, doch jetzt, wo es um den Wiederaufbau geht, fehlen sie. Die internationale Gemeinschaft hat erstmals in der Geschichte die Verpflichtung übernommen, ein Land vorübergehend zu regieren - da genügt es nicht, ein paar Beamte herzuschicken und ihnen zu sagen: Macht mal! Der zweite aktuelle Hinweis: Die Jugendoffiziere der Bundeswehr schilderten in ihrem letzten Bericht, dass nichtmilitärische Ansätze der Sicherheitspolitik unter Schülern „ohne Bedeutung“ seien, dass die Vereinten Nationen wenig bekannt seien. In einem vorherigen Bericht hieß es: Die Fähigkeit von Streitkräften zur Konfliktlösung wird allgemein falsch beurteilt und oft überschätzt. Schüler sehen sie selten als „ein Element unter anderen“ zur Eindämmung eines Krieges oder Konfliktes, sondern als „Allround-Medizin“ an. Das sind nur zwei aktuelle Belege für eine ausdrückliche Beschränktheit des politischen Denkens, nach dem Sicherheitspolitik, Schaffung von Frieden und Krisenbewältigung überwiegend nur in ihrer militärischen Dimension wahrgenommen werden. So ist es kein Wunder, wenn die zivile Implementierung von Friedensabkommen, sei es das Abkommen von Dayton, sei es das Abkommen zum Kosovo, notorisch vernachlässigt und damit die Verewigung von Krisen provoziert wird. ({3}) Diese sicherheits- und friedenspolitische Engstirnigkeit kommt nicht von ungefähr. Sie hat erheblich zu tun - das ist keineswegs die einzige Ursache, es gibt eine ganze Reihe - mit der marginalen Rolle, die die Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland einnimmt. Diese Marginalisierung hat die alte Regierung Kohl im Laufe der 16 Jahre aktiv betrieben: ({4}) 1983 beendete die damalige Bundesregierung die Förderung der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung; die damalige Jahresförderung betrug ungefähr 4 Millionen DM. Einzelne Länder, Hamburg und Hessen, sind eingesprungen. 1994 stellte die Bundesregierung die Förderung der Sonderforschung für Friedens- und Konfliktforschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein, trotz offenkundig gewachsener sicherheitspolitischer Probleme und Herausforderungen. 1997 - daran müssten Sie alle sich noch erinnern - brachte der Bund gerade einmal 371 000 DM an institutioneller Förderung für die Friedens- und Konfliktforschung auf. Die Koalition von SPD und Bündnisgrünen bemüht sich entsprechend der Koalitionsvereinbarung vom Oktober 1998 - das war also noch vor den Konflikten des letzten Jahres - diesen politisch äußerst gefährlichen Rückstand in der Friedens- und Konfliktforschung aufzuholen. Deshalb wurden dafür 1999 4 Millionen DM und für das Jahr 2000 6 Millionen DM in den Etat des Bildungsministeriums eingestellt. Nun geht es an den Aufbau der Stiftung für Friedensund Konfliktforschung, wofür insgesamt 50 Millionen DM vorgesehen sind. Zur Stärkung der Friedens- und Konfliktforschung reicht es nicht, unstrittig bewährte, Politik beratende und regierungsnahe Institute zu fördern. Wir brauchen die gesamte Landschaft der Friedens- und Konfliktforschung, ihre Grundlagenforschung ebenso wie die empirischen Untersuchungen zur operativen Politik. Eine Stiftung ist nötig, um die stetige Förderung der Friedens- und Konfliktforschung, vor allem aber ihre politische Unabhängigkeit sicherzustellen nicht nur, falls es wieder zu einem Regierungswechsel kommen könnte, sondern auch - da sind wir nüchtern, aber plural - gegenüber der Regierung, die wir jetzt stellen. Sie muss in jeder Richtung unabhängig sein. ({5}) Wenn Sie bei Ihren Klientelvorwürfen einmal berücksichtigen würden, welche Stellungnahmen aus der Friedens- und Konfliktforschung im letzten Jahr angesichts des Kosovo-Krieges gegenüber der Politik der Bundesregierung abgegeben wurden, dann würden Sie nicht mehr diese beleidigenden Äußerungen mit „Parteigängern“ usw. machen. ({6}) Kritische Unabhängigkeit soll schließlich einhergehen mit einem besseren Austausch zwischen Politik und Praxis. Eine Schlüsselerfahrung in der Politik der Krisenvorbeugung und -bewältigung der letzten Jahre ist, dass sie ohne gute Kooperation ihrer verschiedenen Akteure von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Das gilt auch für dieses Forschungsfeld, in dem die bisherige Distanz zwischen Friedens- und Konfliktforschung auf der einen Seite und außen- und sicherheitspolitischer Forschung auf der anderen Seite abgebaut werden sollte. Die künftige Stiftung für Friedens- und KonfliktforWinfried Nachtwei schung wird ein wesentliches Element für die Infrastruktur für zivile Konfliktbearbeitung sein, mit der die rotgrüne Koalition endlich zu einer Politik der effektiven internationalen Krisenprävention beitragen will. Danke schön. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der Kollege Jürgen W. Möllemann, F.D.P.-Fraktion, gibt seine Rede zu Protokoll. Deshalb erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Dr. Heinrich Fink für die PDS-Fraktion.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr verehrte Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist für mich eine besondere Freude und ein Ereignis, zu diesem Thema sprechen zu dürfen, haben wir es doch am Ende der DDR an der Humboldt-Universität noch geschafft, ein Institut für Friedens- und Konfliktforschung zu gründen. Dieses ist aus verschiedenen Gründen abgewickelt worden. Grund war natürlich das fehlende Geld. Deshalb ist es besonders zu begrüßen, dass jetzt wieder Mittel für die Friedens- und Konfliktforschung vom Bund bereitgestellt werden. Auch die Idee, die Forschung auf diesem wichtigen Feld der Politik mittels einer Stiftung zu verstetigen und möglichst unabhängig zu organisieren, unterstützt meine Fraktion nachhaltig. Es ist an der Zeit, dass eine solche Einrichtung geschaffen wird, die von der Nachwuchsförderung über die wissenschaftliche Projektinitiierung bis zur Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und politischer Praxis Friedensarbeit wieder breit unterstützt. Wir stimmen daher dem Antrag der Regierungsfraktionen gern zu. ({0}) Hingegen offenbart die Union mit ihrem Gegenantrag nicht nur, dass sie von Friedens- und Konfliktforschung wenig versteht, vor allem aber auch wenig hält. Vielmehr zeigt der Antrag auch ein mehr als merkwürdiges Wissenschaftsverständnis. Die Union will Forschung auf staatstragende Politberatung reduzieren, eine Politberatung, die zudem noch auf Zuarbeit aus der Wissenschaft angewiesen ist und die zu einer nationalen Strategie der Sicherheitspolitik verkürzt wird. Den Antrag der CDU/CSU lehnen wir entschieden ab, schon deshalb das sage ich nicht ohne Erfahrung -, weil es die Freiheit der Forschung zu verteidigen gilt. Wenn wir uns die heutigen gewaltförmigen Konflikte in der Welt ansehen, dann wird schnell deutlich, welch breites Feld hier der wissenschaftlichen Bearbeitung bedarf. Dies reicht von der interdisziplinären Grundlagenforschung über die Forschung nach den Ursachen von Gewalt und über die Regionalforschung bis zu Überlegungen, wie die globalen Umwelt- und Verteilungsfragen angegangen werden müssen. Wir erwarten von einer unabhängigen Friedens- und Konfliktforschung erstens, dass sie mehr Erkenntnisse über die Ursachen der Konflikte und der Gewalt zutage fördert. Dabei gehen wir von einem breiten Gewaltbegriff aus. Zu nennen ist hier das Stichwort eines Nestors der Friedensforschung, Johan Galtung: strukturelle Gewalt. Es käme also darauf an, auch die strukturellen gesellschaftlichen Voraussetzungen von Gewalt und Gewaltfreiheit in den Blick zu nehmen. Man muss zweitens die Beiträge zu friedlichen, das heißt präventiven Konfliktlösungen liefern und sich drittens kritisch mit den Militär- und Rüstungspotenzialen in der heutigen Welt auseinander setzen sowie Vorschläge für künftige Rüstungskontrolle und Abrüstung unterbreiten. Das wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet der Konfliktprävention ist, wenn sie ihren Namen verdient, immer zugleich auch Friedenserziehung; dies sei hier nur am Rande erwähnt. Mir ist wichtig zu betonen, dass sich künftige Friedensforschung nicht allein auf Europa beschränken kann. Die Zunahme weltweiter, gewaltträchtiger Probleme und Krisen verlangt eine global ausgerichtete Forschung, die weit über die Themen der klassischen Außenpolitik hinaus geht. Ich habe das Stichwort Umwelt genannt und erwähnt, dass zum Beispiel die Frage der Ressourcenverteilung heute und zukünftig eine wachsende Quelle von Konflikten ist und sein wird, wird von niemandem mehr bestritten. Dies verlangt eine Forschung, die wirklich interdisziplinär angelegt ist. Zu den genannten Fragestellungen müssen Sozialwissenschaften, Psychologie, Pädagogik, Ökonomie und Jura ebenso Beiträge liefern wie die Naturwissenschaften. Dies sollte als Herausforderung für Universitäten und andere wissenschaftliche Einrichtungen sowie als Ermutigung für Wissenschaftler und Studenten verstanden werden, jetzt die Chance zu nutzen, die die Einrichtung der Stiftung bietet, und sich verstärkt den Fragen der Friedens- und Konfliktforschung zuzuwenden. Eine Schlussbemerkung: Es ist natürlich schön, wenn jetzt 15 bis 20 Millionen DM jährlich für die Friedensforschung zur Verfügung gestellt werden. Keiner sollte aber vergessen, dass im Bereich von Rüstung und Militär für Forschung und Entwicklung 2,5 Milliarden DM ausgegeben werden. Dies zeigt die nach wie vor bestehenden Diskrepanzen nachdrücklich auf. Wer die Priorität wirklich auf zivile Krisenvorbeugung und friedliche Konfliktbearbeitung setzen will, muss diese Prioritätensetzung unmittelbar und nachhaltig verändern, sonst bleibt die Friedensforschung nur ein schönes Feigenblatt inmitten einer Welt, die von Gewalt und großen Rüstungsapparaten, das heißt von militärisch gestützter Machtpolitik geprägt ist. Vielen Dank. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen.

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, dass wir in dieser Debatte auch daran erinnern müssen, dass die wissenschaftliche Disziplin der Friedens- und Konfliktforschung weltweit als Reflex in der Wissenschaft auf neue Dimensionen von Konflikten in der Phase des Ost-West-Gegensatzes und der atomaren Hochrüstung entstanden ist. Damals wurde klar, dass neue Bedrohungen und Gefährdungen sorgfältige Analysen verlangten, die nicht nur mit den traditionellen Methoden der Wissenschaftsdisziplin möglich schienen, sondern die neue Fragestellungen und das Überschreiten traditioneller Wissenschaftsdisziplinen erforderte. Es ist von Anfang an deutlich gewesen, dass neben der klassischen politikwissenschaftlichen, auf Politikberatung organisierten Forschung in diesem Bereich vor allem auch Naturwissenschaftler maßgebliche Anstöße zur Belebung des internationalen Diskurses über die Gestaltung und Perspektiven von Frieden und Konfliktverhütung gegeben haben. Ich denke hier etwa an die renommierte Pugwash-Konferenz. Ich erinnere heute daran, dass dies 1970 für den damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann der Grund war, die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung zu initiieren und damit in Deutschland den Anstoß zur Entwicklung einer Forschungslandschaft zu geben, aus der wertvolle Beiträge zur Etablierung eines erweiterten Sicherheitsbegriffs entstanden sind, die mit zeitlicher Verzögerung jetzt nach Ende des Ost-West-Konflikts auch Eingang in die Sicherheitsdoktrin selbst der NATO gefunden haben. Die Friedens- und Konfliktforschung hat die Grundlage für diese Entwicklungen gelegt. Das gesellschaftliche Umfeld für Friedens- und Konfliktforschung hat sich seitdem dramatisch gewandelt. Wir erleben heute eine beispiellose Verkettung politischer, sozialer, kultureller, religiöser und ökologischer Konfliktlagen innerhalb von Gesellschaften und in der Beziehung zwischen den Staaten. Es geht auch darum, langfristig Perspektiven für die künftige Rolle etablierter politischer Institutionen in Gesellschaften und im globalen Kontext zu definieren. Mit der Entscheidung der alten Bundesregierung aus dem Jahre 1992, die Sonderförderung für Friedensforschung Ende 1994 durch ein Sonderprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft auslaufen zu lassen, stellte sich die Frage nach den Perspektiven einer leistungsfähigen Friedens- und Konfliktforschung. Herr von Klaeden, zu Ihrer Rede möchte ich anmerken, dass Sie sich überlegen sollten, ob Ihr Versuch, Ihren ramponierten Ruf eines „jungen Wilden“ an diesem Objekt zu retten, vielleicht das falsche Sujet als Grundlage hat. ({0}) Auch Sie, Herr von Klaeden, sollten zur Kenntnis nehmen, dass diese Senatskommission in ihrem vom Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft einstimmig gebilligten Abschlussbericht Ende 1994 feststellte, dass die Bedeutung der Friedens- und Konfliktforschung nach Überwindung des Ost-WestGegensatzes durch die Ereignisse seit 1989 nicht geringer, sondern deutlich größer geworden ist. Diese Wissenschaftler der Senatskommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft - Herr von Klaeden, ich hoffe, dass Ihnen klar ist, was das bedeutet ({1}) empfahlen, dass die Schwerpunktbildung und Sonderförderung auf diesem Gebiet wieder hergestellt und ausgebaut werden sollten. Es müsste „alles getan werden, um auf diesem Gebiet den Anschluss an die internationale Forschung voll zu halten“. Zwei Jahre später haben zwei der renommiertesten Friedensforscher, Ernst-Otto Czempiel, der langjährige Direktor der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, ein - unabhängig von politischen Mehrheiten - geschätzter Gesprächspartner aller hessischen Landesregierungen, und Volker Rittberger, der frühere Vorsitzende der Senatskommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in einer gemeinsamen Denkschrift für die Gründung einer deutschen Stiftung für Friedensforschung plädiert. Diese sollte nach ihren Vorstellungen die Aufgaben haben, „Forschungsarbeiten anzuregen und zu finanzieren, die vorhandenen Expertisen zu vernetzen, zügig zu mobilisieren und verfügbar zu machen“. Meine Damen und Herren, wir haben aufgrund dieser Stimmen der Wissenschaft, die sich einer Bewertung auf der Ebene Ihrer Polemik, Herr von Klaeden, entziehen, in unserer Koalitionsvereinbarung Ernst gemacht und uns diesem Plädoyer angeschlossen. ({2}) Mit dem Beschluss des Haushaltsausschusses im November 1999 ist die Grundlage dafür geschaffen worden, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung zügig an die Errichtung dieser Stiftung gehen kann. Was sind ihre Aufgaben und was ist aus Sicht der Forschungspolitik und der Forschungsförderung dazu zu sagen? Die deutsche Stiftung für Friedensforschung soll die Friedensforschung insbesondere in Deutschland dauerhaft stärken und zu ihrer politischen und finanziellen Unabhängigkeit beitragen. Sie soll keine wissenschaftlichen Untersuchungen selbst durchführen, sondern durch ihre Arbeit und durch ihre Förderung die vorhandenen Potenziale stärken und neue Kapazitäten an Hochschulen und an außeruniversitären Forschungseinrichtungen aufbauen. Dazu wird sie wissenschaftliche Vorhaben fördern und initiieren, den wissenschaftlichen Nachwuchs unterstützen und wissenschaftliche Konferenzen durchführen. Sie hilft damit bei der Vernetzung von Forschungsinstitutionen, die sich national und international mit Fragen der Friedensgestaltung befassen und die sich im Gespräch zwischen Wissenschaft und Politik sowie bei der Vermittlung der Forschungsergebnisse engagieren. Herr von Klaeden, für Ihre nächste Auslandsreise rate ich Ihnen, vielleicht einmal in die nahe Schweiz zu fahren und sich dort am Beispiel der Arbeit der Schweizer Stiftung für Friedensforschung Ihre Zähne der Polemik in dieser Auseinandersetzung ziehen zu lassen. Denn die Schweizer Stiftung leistet seit Jahren mit genau demselben Ansatz eine bewährte und dort von allen politischen Parteien mittlerweile sehr akzeptierte Arbeit. Herr von Klaeden, auch bei Ihnen schließe ich nicht aus, dass Sie in ein oder zwei Jahren verstehen, dass Ihre Rede vielleicht nicht nur zum falschen Zeitpunkt, sondern vielleicht auch zum falschen Gegenstand gehalten worden ist. ({3}) Lassen Sie mich zu der Frage der Forschungspolitik eines deutlich sagen: Wir versuchen, die Friedens- und Konfliktforschung mit den bewährten Methoden der Forschungsförderung dauerhaft als Forschungsfeld in Deutschland zu verfestigen und damit Friedensforschung als einen normalen Bestandteil unseres deutschen Forschungssystems zu behandeln. Was tun wir? Erstens. Wir wollen, wie auch auf anderen Feldern, einen Dualismus von Ressortforschung, die in den Zuständigkeitsbereichen etwa des Auswärtigen Amtes und des Verteidigungsministeriums arbeitet, und einer breiter angelegten, in der universitären und außeruniversitären Forschungslandschaft angesiedelte Friedensforschung fördern. Es käme niemand auf die Idee, im Bereich der Umweltpolitik zu sagen, wir bräuchten nur Ressortforschung und nicht eine breite, auf langfristige und Grundlagenfragen orientierte Forschungslandschaft zu fördern. Wir brauchen Ressortforschung und Grundlagenforschung. Es kommt keiner auf die törichte Idee, im Bereich der Landwirtschaftspolitik zu meinen, dass es unsinnig wäre, neben der Ressortforschung des BML auch eine breite, auf Grundlagenfragen orientierte und längerfristig angelegte Forschungsförderung durch das BMBF zu betreiben. Diesen Dualismus brauchen wir auch im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung. Wer wie Sie, Herr von Klaeden, aus vielleicht verständlichem Interesse - weil die SWP zurzeit eigene Interessen auf diesem Gebiet an die Politik heranträgt -, auf die Idee kommt, dass es besser wäre, Ressortforschungsinstitutionen dieses Geld zukommen zu lassen, versteht nicht den notwendigen Dualismus. Forschungsinstitute mit hohem Qualitätsstandard können durch Wettbewerb begünstigt werden. Das ist mein zweiter Punkt. Wir verknüpfen institutionelle Förderung mit Projektförderung, die im Wettbewerb vergeben werden soll. Wir führen damit das Wettbewerbselement im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung ein und beschränken uns nicht darauf, einzelne Forschungseinrichtungen institutionell zu fördern und dann zu hoffen, dass diese in irgendeiner Weise zu einer vernünftigen Arbeitsteilung und Vernetzung kommen. Meine Damen und Herren, durch Projektförderung im Wettbewerb den Leistungsgedanken zu fördern und damit auch die Innovativität von Friedens- und Konfliktforschung der wissenschaftlichen Bewertung auszusetzen, das ist der richtige Weg. Sie werden sehen, dass alleine durch die Entscheidung, der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Stiftungsrat auf jeden Fall Vertretung zu gewähren, alle Ihre Vorurteile, Herr von Klaeden, sehr schnell zusammenbrechen werden. Wir setzen darauf, dass wir mit den etablierten Methoden von Forschungsförderung auch diesen Bereich fruchtbar weiterentwickeln werden. ({4}) Herr von Klaeden, ich will einen dritten Gesichtspunkt ansprechen. Ich habe den Eindruck, es ist wichtig für Sie, dass Sie so etwas zum ersten Mal hören. ({5}) - Das ist alles Quatsch, was Sie jetzt erzählen. Das könnten Sie von Herrn Polenz lernen. Es geht auch darum, dass die vorhandenen Einrichtungen der Friedensforschung in Deutschland durch übergreifende Projekte zu einem Kompetenznetzwerk verknüpft werden. Wir bemühen uns um Kompetenznetzwerke in der Nanotechnologie, also im Hochtechnologiebereich, ebenso wie im Bereich der Biowissenschaften und der Medizintechnik. Das ist natürlich auch für die Friedens- und Konfliktforschung eine sinnvolle Strategie. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, damit will ich verdeutlichen: Ihr Versuch der Politisierung dieser Förderanstrengung des Bundes geht ins Leere. Im Gegenteil: Wir versuchen auf der einen Seite, durch die Konstruktion dieser Stiftung sicherzustellen, dass der Abstand zur Politik gehalten wird. Wir erwarten auf der anderen Seite auch, dass die Forschungsfragestellungen in enger Interaktion mit der Politik festgelegt werden, aber - das sollten Sie nicht vergessen - nicht nur mit der Politik im engeren Sinne, den Institutionen der Bundesregierung, sondern auch mit all den gesellschaftlichen Gruppen, die sich in Fragen der Zukunftsgestaltung, der Konfliktverhütung engagieren. Wir brauchen auch den Beitrag der Forschung zum breiten gesellschaftlichen Diskurs, und dazu brauchen wir den Dualismus von Ressortforschung, die in direkter Rückkoppelung mit der Regierung und der Politik arbeitet, und einem breiter angelegten, grundlagenforschungsorientierten Förderinstrument. In diesem Sinne bin ich zuversichtlich, dass die Zustimmung auch hier im Hause durch die praktische Arbeit dieser Stiftung steigen wird. Wir gehen davon aus, dass die Stiftung Deutsche Friedensforschung in diesem Jahr ihre Arbeit beginnen wird. Schönen Dank. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Werner Lensing für die Fraktion der CDU/CSU.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Staatssekretär Catenhusen, Ihr Redebeitrag war zumindest kein Beitrag zur Stabilisierung des inneren Friedens. Denn - ohne das hier zu stark bewerten zu wollen - die Arroganz, mit der Sie meinen Kollegen von Klaeden für sachlich berechtigte Aussagen abgefertigt haben, ({0}) lässt jeden Ansatz von Friedensbereitschaft im parlamentarischen Umgang vermissen. ({1}) Nun zur Sache: Zweifel bestehen am Folgenden aber nicht: ({2}) Wir haben gelernt, dass angesichts der gewandelten Lage im internationalen System Sicherheit und Sicherheitspolitik heutzutage mehrdimensional verstanden werden müssen. Neben politischen und militärischen Aspekten spielen vor allem auch diverse wirtschaftliche, ökologische und soziale Faktoren eine wesentliche Rolle im Umgang mit den aktuellen und zukünftigen sicherheitspolitischen Herausforderungen. Niemand, glaube ich, hat Zweifel, dass eine stärkere Berücksichtigung wissenschaftlichen Sachverstandes in Form von praxisorientierter Politikberatung notwendig ist. Zweifel dürften auch nicht darüber bestehen, dass der Gedanke der Friedensforschung nicht erst ein Gedanke dieses Jahrhunderts ist, sondern seit mindestens vier oder fünf Jahrhunderten existiert. Durch ihn konnten politische und militärische Aspekte kaum so aufgearbeitet werden, dass Kriege vermieden wurden. Im Gegenteil: Manche apokalyptische Voraussagen bestimmter Friedensforscher haben dem Weltfrieden überhaupt keinen Dienst erwiesen. Ich möchte Ihnen noch Folgendes sagen: Der Eindruck, den Sie, Herr Schmidt, Herr Nachtwei und Herr Catenhusen, heute zu erwecken versucht haben, nämlich dass sich die CDU nicht ausreichend dem Gedanken des Friedens verschrieben habe, ({3}) lässt sich in keiner Weise belegen; denn die alte Regierung hat das realisiert, was wir alle für wichtig erachtet haben, nämlich „Frieden zu schaffen mit deutlich weniger Waffen“. ({4}) Das ist nicht das Ergebnis von Theorien, sondern von praktischer Politik. Zu den Zahlen, die immer wieder gerne - zumindest von einigen - bemüht werden, muss ich deutlich sagen, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die damals mit der Koordination betraut war, im Jahre 1985 immerhin 1,2 Millionen DM erhalten hat, 1986 3,3 Millionen DM und 1987 5 Millionen DM. Nach der Integration der verschiedenen Bereiche der Friedensforschung erhielt die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1995 immerhin noch fast 2 Millionen DM und 1998 sogar 3,1 Millionen DM. Das heißt also, dass die These, die Sie hier verbreiten, durch Fakten widerlegt werden kann. Jetzt bereitet uns Folgendes große Sorge: Seit einem Jahr trägt sich das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit dem Gedanken einer Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung. Wir müssen feststellen, dass es in der Vergangenheit eine Reihe von Versäumnissen und Schlampereien gegeben hat. Insofern müssen Sie verstehen, dass wir etwas vorsichtig gegenüber diesem Anliegen sind, obgleich wir uns im Grundsatz darauf verständigen können und wollen, dass die Friedensforschung ungemein wichtig ist. Für die Gründung der Deutschen Stiftung Friedensforschung wurden bekanntlich - man muss es so nennen - in einer Nachtund Nebel-Aktion während der Haushaltsplanberatungen im Herbst 50 Millionen DM an Steuergeldern mobilisiert. Die Einsicht in die Gutachten, auf deren Grundlage die Einrichtung der Friedensstiftung beschlossen werden sollte, verweigerte man mir mehr als acht Wochen. Erst auf wiederholtes Nachfragen gab es einen höchst unbefriedigenden Zwischenbescheid, der sich mehr oder weniger in dem Rat erschöpfte: Rufen Sie noch einmal an! Dass wir vor diesem Hintergrund durchaus Zweifel haben, ob das wirklich alles so objektiv ist, wie Herr Nachtwei meint und Herr Catenhusen glaubt beweisen zu können, müssen Sie doch bitte schön verstehen. Sie müssen auch verstehen, dass uns die Aussage von Herrn Dr. Fink, er sehe sich in der Tradition Ihres Antrags, sehr stutzig macht. Wir sind der Meinung, die Besetzung dort ist sehr einseitig. Dies hat mit Polemik nichts, aber auch gar nichts zu tun. Wir lehnen die Einrichtung einer eigenständigen Stiftung aber auch aus folgendem Grund ab: Da die in der Bundesrepublik Deutschland bereits vorhandenen Institutionen - das kann keiner bestreiten - seit langem einen wertvollen und unverwechselbaren Beitrag zur praktischen Politikberatung leisten, ist es nicht erforderlich, auch nicht vor dem Hintergrund des Gedankens des Dualismus, der eben beschworen wurde, zusätzliche Einrichtungen mit dem Auftrag der Friedens- und Konfliktforschung aufzubauen. ({5}) Die Einrichtung einer Stiftung Friedensforschung muss daher, auch vor dem Background dessen, was ich eben erläutert habe, als Versuch gewertet werden - diese Feststellung hat mit Polemik gar nichts zu tun -, einseitige Klientelpflege betreiben zu wollen. Es sind nicht die CDU-Vertreter, sondern renommierte Wissenschaftler, die erklärt haben, dass sich das wie eine Form von Selbstbedienungsladen darstellte und sich überdies wie ein - Zitat - „linkes SPD-Biotop“ ausmache. ({6}) Von dem - von der Koalition selbst eingeforderten unabhängigen wissenschaftlichen Sachverstand kann bei den Mitgliedern der Struktur- und Findungskommission - mein Kollege von Klaeden hat unter Beifügung von Namen schon darauf verwiesen - wirklich nicht die Rede sein. Gerade ein Verzicht auf den Rückgriff auf die anerkannten Think Tanks deutscher Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet eine Vergeudung nicht genutzter Ressourcen. Wir möchten das Anliegen mitverfolgen. Wir möchten aber auch, dass die Mittel nicht einseitig zur Verfügung gestellt werden, sondern in das integrierte Berliner Institut Wissenschaft und Politik einfließen, das sich ich wiederhole es gerne - als eine Form des Dualismus darstellt, weil sich dort unter anderem Institutionen wie die Stiftung Wissenschaft und Politik oder das Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien vereint haben. Nur auf der Basis fundierter wissenschaftlicher Grundlagen und der Nutzung eines möglichst breiten Spektrums unterschiedlicher grundlagen- und anwendungsorientierter Forschungsansätze kann die Friedensund Konfliktforschung für die Politik bzw. die Politikberatung sinnvollen Nutzen erbringen. Ich möchte vor allen Dingen darum bitten, dass wir dann, wenn es geht, auch in den uns noch bevorstehenden Diskussionen gemeinsam darauf setzen, dass eine der wesentlichen zukünftigen Aufgaben die gezielte wissenschaftliche Nachwuchsförderung ist. Um eine sinnvolle Politikberatung zu gewährleisten, werden dringend Wissenschaftler benötigt, die über ein hohes Maß an Kontakten und persönlichen Beziehungen verfügen. Nur durch eine systematische und durchdachte Förderung unserer Doktoranden und Habilitanden besteht die Chance, angesichts der anstehenden sicherheitspolitischen Herausforderungen unseren nationalen Interessen gerecht zu werden. ({7}) Mir macht es Sorge, dass in Deutschland ein krasses Missverhältnis besteht zwischen der Förderung von Natur-, Technik- und Wirtschaftswissenschaften einerseits sowie der praxisbezogenen politischen Forschung auf der anderen Seite. Während die so genannten Realwissenschaften bekanntlich über eigene und große anwendungsorientierte Organisationen verfügen, haben die Politikwissenschaften dem quantitativ nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Insofern erkenne ich hier einen Handlungsbedarf. Ich bitte einmal zu überlegen, ob es sinnvoll wäre, gegebenenfalls die Gründung eines eigenen Dachverbandes für politikberatende Aktivitäten über die Friedens- und Konfliktforschung hinaus - zu veranlassen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Lensing, Sie sind schon weit über die Redezeit.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, Sie sind sicherlich damit einverstanden, wenn ich noch einen letzten Satz spreche.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Wenn er nicht so lang ist wie der Letzte, ja.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der von der CDU/CSU-Fraktion vorgelegte Antrag sieht eine ausgewogene Gesamtkonzeption vor, die einen Beitrag dazu leisten kann, Forschungsergebnisse der Friedens- und Konfliktforschung in die praktische Politikberatung einfließen zu lassen. Frau Präsidentin, ich danke Ihnen für die gerade bewiesene Geduld. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Zunächst kommen wir zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Förderung der Friedensund Konfliktforschung, Drucksache 14/2419. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1963 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Wir kommen jetzt zum Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Gründung einer Stiftung zur Friedens- und Konfliktforschung auf Drucksache 14/2519. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Antrag ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion angenommen. Wir kommen jetzt zum Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur Stärkung der Friedens- und Konfliktforschung als Teil der politikberatenden Forschung auf Drucksache 14/2521. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gerda Hasselfeldt, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Harmonisierung der gastgewerblichen Mehrwertsteuersätze in der Europäischen Union - Drucksachen 14/294, 14/1899 Berichterstattung: Abgeordneter Dieter Grasedieck Klaus-Peter Willsch Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion der CDU/CSU hat zunächst der Kollege Ernst Hinsken das Wort. ({1})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Werte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich zunächst, dass Frau Kollegin Hustedt und Frau Kollegin Scheel da sind. So können Sie meinen Ausführungen lauschen, um daraus notwendige Konsequenzen zu ziehen und uns zu unterstützen, wenn wir vernünftige Vorschläge hier in den Deutschen Bundestag einbringen. Meine Damen und Herren, gerade bei der Harmonisierung der gastgewerblichen Mehrwertsteuersätze in der Europäischen Union zeigt sich wieder, dass bei dieser Bundesregierung Reden, Ankündigen und Handeln weit auseinander liegen. ({0}) Ich erwähne ganz kurz, dass vor ungefähr einem Jahr Bundeswirtschaftsminister Müller im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung der ITB - es waren viele Hoteliers und Gastwirte zugegen - lautstark gefordert hat, dass die Mehrwertsteuersätze im Beherbergungsgewerbe europaweit harmonisiert werden sollten. Er wollte sich nachhaltig dafür einsetzen, dass diese in der Bundesrepublik Deutschland halbiert werden. ({1}) Zwischenzeitlich hat sogar die Europäische Union die Hand ausgestreckt und gesagt, man sei bereit, den einzelnen Staatsregierungen die Möglichkeit zu eröffnen, im Dienstleistungsbereich die Mehrwertsteuersätze zu senken oder sonstige Regelungen vorzunehmen, die dem genannten Problem Rechnung tragen. ({2}) Ich frage: Was hat denn Bundesfinanzminister Eichel - im Gegensatz zu Herrn Bundesminister Müller - getan? ({3}) Er höchstpersönlich hat es vereitelt, dass das Gaststättengewerbe in der Bundesrepublik Deutschland in Zukunft nur noch den halben Steuersatz bezahlen muss. Das zeigt für mich, dass in dieser Bundesregierung Müller „Hü!“ und Eichel „Hott!“ rufen können. Wir alle wissen zu guter Letzt nicht, was das Ganze bedeuten soll. Niemand weiß, wo es langgeht. ({4}) Ich weiß sehr wohl, meine Damen und Herren, dass insbesondere auch Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion, die ebenso in diese Richtung gedacht haben, immer wieder den Kollegen Brähmig, aber auch mich und den Kollegen Burgbacher gebeten haben, ihnen ein bisschen Zeit zu lassen, weil die Vernunft ja wachsen könne und man es doch in die richtige Richtung bringen könne. Aber das Warten hat sich unsererseits nicht gelohnt. Die Mehrheit hat ja im Parlament das Sagen. Man hat dieses Vorhaben im Ausschuss und auch schon bei der Einbringung zunichte gemacht. Damals hat Frau Hendricks eine andere Meinung vertreten als ihre Kollegen im Bundeskabinett, Herr Mosdorf und Herr Müller, den ich vorhin schon genannt habe. ({5}) Das heißt für mich: Wettbewerbsverzerrungen sind innerhalb der Europäischen Union im Bereich des Hotelund Gaststättengewerbes nach wie vor gegeben. ({6}) Niemand kann doch von der Hand weisen, dass wir alles unternehmen müssen, um den Tourismusstandort Bundesrepublik Deutschland zu stärken. ({7}) Wir können keine Sonne importieren; aber wir können den Urlaub vergünstigen. Das können in erster Linie Sie gewährleisten. ({8}) - Wenn Sie von der SPD das Stichwort „Straubing“ einwerfen, dann sage ich Ihnen, dass das eine Urlaubsregion ohnegleichen ist. Dort ist Deutschland mit am schönsten. Man ist in Straubing übrigens auch bereit, tüchtige Sozialdemokraten zu beherbergen und Ihnen zu einem schönem, erlebnisreichen Urlaub zu verhelfen. Vizepräsidentin Petra Bläss ({9}) Meine Damen und Herren, wir haben derzeit weltweit 650 Millionen touristische Ankünfte. Bis zum Jahr 2020 wird eine Verdreifachung auf fast 2 Milliarden erwartet. Kollege Brähmig weist zu Recht immer darauf hin, dass es sich beim Tourismus um eine Leitökonomie der Zukunft handelt. ({10}) Bis zum Jahr 2010 - das ist auch wissenschaftlich begründet - dürften in der EU 2,2 bis 3,3 Millionen neue Arbeitsplätze in diesem Bereich entstehen. Deutschland wird, wenn vernünftige Rahmenbedingungen geschaffen werden, mit zirka 400 000 bis 450 000 Arbeitsplätzen dabei sein. Das heißt, die Bundesregierung und wir alle sind gefordert, vernünftige Rahmenbedingungen zu schaffen, damit wir von diesem Kuchen - es geht immerhin um eine Leitökonomie der Zukunft - etwas abbekommen. Es wird aber nur dann vermehrt Urlaub in Deutschland gemacht werden, wenn es finanziell einigermaßen interessant ist. Mit den Maßnahmen, die Sie, meine Damen und Herren, von den Regierungsfraktionen in den letzten Monaten ergriffen haben, ist dies jedoch nicht zu erreichen. Neben der Nichteinführung der Halbierung des Mehrwertsteuersatzes denke ich vor allen Dingen an jene Maßnahmen, die die Gastronomie nicht entlasten, sondern belasten. Damit bewirken Sie genau das Gegenteil. Ich wiederhole: Die Rahmenbedingungen für die Gastronomie, für das Hotel- und Gaststättengewerbe, müssen insgesamt stimmen. Aber es gab zuletzt eine zusätzliche Belastung nach der anderen. Das 630-DM-Gesetz belastet insbesondere das gastronomische Gewerbe. ({11}) Darüber hinaus belastet die Ökosteuer einen Betrieb mit 50 Betten mit zirka 20 000 DM zusätzlich. Ferner wurde die Mineralölsteuer erhöht. Mit dem Auto in den Urlaub nach Deutschland zu fahren, wird also auch verteuert. Der Gastronomiebetrieb ist ebenfalls betroffen. Darüber hinaus haben Sie beim Lohnfortzahlungsgesetz wieder den alten Zustand herbeigeführt. Sie haben die Lohnfortzahlung wieder auf 100 Prozent hochgeschraubt. ({12}) - Nein, Herr Kollege Kubatschka, ich bin hier völlig anderer Meinung. Gehen Sie einmal zu betroffenen Unternehmen; dann wird Ihnen etwas anderes gesagt. Schließlich haben Sie die volle Besteuerung bei der Betriebsveräußerung zu verantworten. Frau Kollegin Hendricks, ich schätze Sie ja als Staatssekretärin sehr und weiß auch, dass Sie viel von Finanzpolitik verstehen. Aber hier haben Sie einen Schritt in die falsche Richtung getan. Deshalb bitte ich Sie, darum besorgt zu sein, dass dies möglichst bald wieder korrigiert wird.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Hinsken, Sie müssen zum Schluss kommen.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Als Letztes: Auch die enorme Bürokratie - Sie haben sie nicht abgebaut, sondern vergrößert - macht unserer Gastronomie zu schaffen. Deshalb die herzliche Bitte an Sie alle, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen: Sehen wir die Probleme der Gastronomie und leisten wir unseren Beitrag, dass die Wettbewerbsbedingungen nicht verschlechtert, sondern verbessert werden! Das Hotel- und Gaststättengewerbe braucht das dringend. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Horst Schild für die SPD-Fraktion.

Horst Schild (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002775, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Verehrter Herr Kollege Hinsken, Ihr Anliegen, steuerliche Belastungen zu senken und Wettbewerbsverzerrungen zu beseitigen, ist durchaus ehrenwert. Wir befinden uns da zurzeit in einem edlen Wettstreit. Die Frage ist nur, welchen Weg man beschreitet. Wir müssen uns auf jeden Fall davor hüten, überzogenen Forderungen einzelner Branchen Rechnung zu tragen, ({0}) weil sie letztlich neue Wettbewerbsverzerrungen in den verschiedenen Wirtschaftsbereichen zur Folge haben. ({1}) Jetzt geht es um ermäßigte Mehrwertsteuersätze für das Gastgewerbe. Beim nächsten Tagesordnungspunkt geht es um ermäßigte Mehrwertsteuersätze für arbeitsintensive Dienstleistungen. Im Übrigen hat die Europäische Kommission - man muss zu Recht darauf hinweisen - nur den Bereich des Gastgewerbes geöffnet. ({2}) Die Frage ist nur, ob man dadurch nicht wieder neue Probleme schafft. Wir haben schon über die immensen Abgrenzungsprobleme diskutiert. Damit wäre die Liste aber nicht zu Ende. Morgen steht das Handwerk und übermorgen steht das Baugewerbe auf der Tagesordnung. Wo ist eigentlich ein sinnvolles Abgrenzungskriterium, wenn man willkürlich jeErnst Hinsken weils einen Wirtschaftsbereich herausgreift, dem man sozusagen aus einer aktuellen Situation heraus helfen will? ({3}) Viele Argumente sind bei der Einbringung schon ausgetauscht worden. Wir haben gesagt, dass wir aus finanzpolitischer Sicht, aus Gründen der Steuersystematik und der Gleichbehandlung unterschiedlicher Wirtschaftsbereiche, aber letztlich auch aus haushaltswirtschaftlichen Gründen Ihrem Antrag nicht folgen können. Sie gehen davon aus, dass sich eine Senkung der Mehrwertsteuersätze mittelfristig durch Umsatzsteigerungen wieder ausgleichen würde. Selbst wenn man einmal unterstellt, dass diese Senkung Umsatzsteigerungen zur Folge hat, muss man doch sagen, dass die Ihrem Antrag zugrunde liegenden Annahmen deutlich überzogen sind. ({4}) Es ist auch schon häufig genug gesagt worden, dass sich die Steuermindereinnahmen im Gast- und Hotelgewerbe auf 5 Milliarden DM summieren würden. Nun ist es ja nicht so, dass wir nicht auch die mittelständische Wirtschaft - dazu gehört auch dieser Bereich - deutlich entlasten wollen. Aber die Möglichkeiten, die es in der Vergangenheit gegeben hätte, diesem Antrag Rechnung zu tragen, sind seit 1993 nicht mehr gegeben. Sie selbst haben den Zug verpasst. ({5}) Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Äußerung Ihres damaligen Parlamentarischen Staatssekretärs, der 1997 ermäßigte Umsatzsteuersätze für das Beherbergungsgewerbe aus steuersystematischen Gründen, aber auch aus haushaltswirtschaftlichen Gründen abgelehnt hat.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Schild, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Horst Schild (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002775, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte schön.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schild, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Bundesrepublik Deutschland in der ersten Hälfte des Jahres 1999 die EU-Ratspräsidentschaft besaß und dass sie damit die Möglichkeit hatte, darauf Einfluss zu nehmen, dass es in diesem Bereich endlich zu einer Harmonisierung kommt? Das ist aber versäumt worden. Zudem hatte der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Santer, gesagt, er sei durchaus bereit, in den einzelnen Ländern eine Mehrwertsteuersenkung zuzulassen. Aber man hat diese Chance nicht ergriffen. Man muss einfach zur Kenntnis nehmen, dass es in diesem Bereich in Frankreich einen Mehrwertsteuersatz von 5,5 Prozent, in der Schweiz von 3 Prozent und in Österreich von 10 Prozent gibt. Aber in der Bundesrepublik Deutschland beträgt der Mehrwertsteuersatz 16 Prozent. Das ist eine Benachteiligung. Geben Sie mir Recht, wenn ich sage, dass diese Benachteiligung beseitigt werden muss? ({0})

Horst Schild (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002775, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hinsken, niemand in diesem Hause - auch wir nicht - bestreitet, dass die Umsatzsteuersätze in dem angesprochenen Bereich innerhalb der Europäischen Union unterschiedlich sind. Ich erinnere daran, dass die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Hendricks bei der Einbringung durchaus darauf hingewiesen hat, dass Bemühungen unternommen werden müssen, um zu einer Angleichung zu kommen. Wenn ich mich recht erinnere, hat sie damals aber auch gesagt, dass es während der kurz bemessenen Zeit der deutschen Ratspräsidentschaft natürlich auch andere bedeutsame Probleme zu lösen galt. Sie hat gleichermaßen darauf hingewiesen - diesen Punkt will ich gern wiederholen -, dass wir uns nicht zu große Hoffnungen machen dürfen. ({0}) - Ja, aber Sie wissen doch, dass sich die damalige genauso wie die jetzige Regierung vehement darum bemüht haben - um nur ein Beispiel zu nennen -, in der Frage der Besteuerung von Zinserträgen zu einer Harmonisierung zu kommen. Sie wissen alle, wie schwierig es ist, in solchen Fragen zu einer Übereinkunft unter den europäischen Partnern zu kommen. Die Bundesregierung hat hier bei der Einbringung gesagt, sie werde sich weiterhin dafür einsetzen. Ich gehe davon aus, dass dieses Wort gilt. ({1}) Was wir brauchen, meine Damen und Herren, ist eine Unternehmensteuerreform, die alle mittelständischen Betriebe entlastet. Und diese Vorschläge liegen auf dem Tisch. Sie werden in Bälde in diesem Haus beraten und auch verabschiedet. ({2}) Diese Unternehmensteuerreform wird für den Mittelstand weitere Entlastungen in einer Größenordnung von 12 Milliarden DM bringen. ({3}) Davon sind auch das Gastgewerbe und das Hotelgewerbe betroffen. Eines möchte ich noch kurz ansprechen, Herr Kollege Hinsken, weil Sie auf Belastungen durch die Ökosteuer verwiesen haben: Für das arbeitsintensive Gastgewerbe ist die Frage der Lohnnebenkosten sicherlich von zentraler Bedeutung. Sie haben 16 Jahre lang in diesem Bereich nichts getan. Sie werden nicht bestreiten können, dass auch bei Belastung durch die Ökosteuer durch die Senkung der Lohnnebenkosten in diesen arbeitsintensiven Betrieben eine erhebliche Entlastung erfolgt ist. ({4}) - Nein, das ist eindeutig eine Entlastung. Wenn diese Betriebe natürlich keine sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten haben, dann ist das eine andere Geschichte. Uns geht es darum, durch die Senkung der Lohnnebenkosten personalintensiven Betrieben mit sozialversicherungspflichtig Beschäftigten eine Entlastung zukommen zu lassen. ({5}) Und das geschieht in diesen Bereichen. ({6}) Meine Damen und Herren, wir werden den von uns eingeschlagenen Weg weiterhin beschreiten. Wir werden den gesamten Mittelstand entlasten und damit auch die von Ihnen angesprochenen Wirtschaftsbereiche, ({7}) unabhängig von dem Bemühen der Bundesregierung, zu einer Harmonisierung der Mehrwertsteuersätze zu kommen. Aber dem Anliegen, von den vielfältigen Wirtschaftsbereichen isoliert nur diesen einen Bereich zu bevorzugen, werden wir nicht Rechnung tragen. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Ernst Burgbacher für die F.D.P.-Fraktion.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schild, das Problem besteht genau darin, dass Sie Ihren eingeschlagenen Weg weiter verfolgen wollen und nicht zur Umkehr bereit sind. ({0}) Das Problem besteht auch darin, dass Sie die Beschäftigten in der Tourismuswirtschaft heute mit Worten trösten wie „ehrenwert“ und „edler Wettstreit“. Sie sagen, Frau Staatssekretärin Hendricks habe angekündigt, Bemühungen zu unternehmen. Nur, das reicht eben nicht. Ich habe in dieser Woche in einer bekannten Fachzeitschrift gelesen, dass eine Vertreterin des Bundeswirtschaftsministeriums gesagt hat, dass noch kein Bundeswirtschaftsminister im ersten Amtsjahr so häufig zu touristischen Themen Stellung bezogen habe wie Werner Müller. Das ist das Problem: Es wird Stellung bezogen und angekündigt, aber nachher wird das Gegenteil gemacht. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Burgbacher, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber bitte, Kollege Brähmig!

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Burgbacher, sind Sie mit mir der Meinung, dass man dieses wichtige Thema für die Sicherung von Arbeitsplätzen in der Bundesrepublik Deutschland nicht in einer Debatte um 23 Uhr, sondern möglichst um 9 oder 10 Uhr früh behandeln sollte? Sind Sie mit mir des Weiteren der Meinung, dass man dieses ganz konkrete Problem der Harmonisierung der Mehrwertsteuer nicht fiskalisch lösen kann, wie das leider im Finanzministerium versucht wird, sondern nur gesamtwirtschaftlich?

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kollege Brähmig, ich stimme Ihnen im ersten Teil zu. Das gilt übrigens nicht nur für diese heutige Debatte: Der Bereich des Tourismus wird in der Parlamentsarbeit meiner Ansicht nach nicht ernst genug genommen. ({0}) Ich sage auch, dass ich den Wirtschaftsminister bei allen Debatten, die wir hier zu diesem Thema geführt haben, höchstens einmal gesehen habe. Das Zweite - das ist richtig und das ist der Kern - ist: Wir müssen hier mit anderen Maßnahmen herangehen. Ich will das noch einmal an einem Beispiel erklären. Herr Kollege Schild, Sie haben von Wettbewerbsverzerrungen geredet. Ich komme aus einem Gebiet, liebe Frau Kollegin Scheel, wo man durchaus über die Grenze zum Friseur geht. Das ist dort gar nicht unüblich.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Burgbacher, es gibt eine weitere Frage der Kollegin Hustedt.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber bitte schön.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Glauben Sie nicht, dass es ein bisschen verlogen ist, über die Anwesenheit des Wirtschaftsministers zu reden, da doch die Anwesenheit Ihrer Fraktion belegt, dass Ihre Fraktion in keinster Weise an dem Thema interessiert ist? Sehen Sie einmal auf unsere Seite des Hauses. Zumindest gibt es hier ein Interesse. ({0})

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielleicht ist der Grund, dass wir diese Debatte immer zu so später Zeit führen. Ich glaube aber, dass wir das Geplänkel lassen sollten und zum Inhalt kommen sollten. ({0}) Wir sollten zum Inhalt kommen. Das ist mir sehr ernst. Hier geht es um ein großes Potenzial, denn Experten schätzen, dass 400 000 bis 500 000 neue Arbeitsplätze betroffen sind. Es ist ein Potenzial, das im Augenblick nicht annähernd ausgeschöpft wird. ({1}) Lassen Sie mich noch einmal zu dem Vergleich kommen. Im Schwarzwald sagen die Hoteliers im Grenzbereich, dass für den einzelnen Urlaubsreisenden der Preisunterschied keine große Rolle spielt. Aber für den Geschäftsreisenden oder den Organisator von Busreisen spielt es sehr wohl eine Rolle, ob er in Kehl für ein Zimmer, das 100 Euro kostet, 116 Euro zahlt und in Frankreich 105,50 Euro oder ob er in Maastricht 103 und in Aachen 116 Euro zahlt. Das, Herr Kollege Schild, ist die Wettbewerbsverzerrung, die wir ansprechen müssen. ({2}) Sie müssen begreifen, dass sich die Zeit verändert hat. Wir leben zunehmend in einer Dienstleistungsgesellschaft. Hier müssen wir bereit sein, über Schatten zu springen. Wir müssen bereit sein, in manchen Bereichen umzudenken. ({3}) Ich möchte noch etwas anderes sagen. Ich habe das Gefühl, dass viele das nicht begriffen haben oder nicht begreifen wollen: Wir haben den Euro. Ich sage: Zum Glück haben wir den Euro. Wir Liberale waren immer vorbehaltlos dafür. Wir waren auch dafür, dass der Wettbewerb durch den Euro hergestellt wird. Allerdings hatten die Franzosen -

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Burgbacher.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- darf ich noch diesen Satz beenden? - Angst vor der starken D-Mark. Man hat nicht gewechselt. Man wusste nicht, wie sich der Wechselkurs entwickelt. Das ist weg. Deshalb sind die Leute bereit, über die Grenze zu gehen. Deshalb vergleicht der Organisator von Reiseveranstaltungen heute die Kosten in Kehl, in Straßburg, in Aachen und in Maastrich. Das müssen wir begreifen. Darauf müssen wir in diesem Parlament reagieren. ({0}) Bitte schön, Frau Kollegin Roth.

Birgit Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Burgbacher, Sie haben zweimal die Reiseveranstalter genannt; das sind Unternehmer. Für Unternehmen ist die Mehrwertsteuer aber ein reiner Durchlaufposten. Stimmen Sie mir da zu? ({0})

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin überhaupt nicht sprachlos. Ich sage Ihnen: Reden Sie mit den Betroffenen! Ich kenne viele Kolleginnen und Kollegen aus diesem Bereich. Reden Sie mit ihnen, wie unterschiedlich die Konkurrenzsituation ist! Gehen Sie zu den Hoteliers am Rhein, angefangen in Basel und dann flussabwärts. Reden Sie mit denen und lassen Sie sich erklären, wie unterschiedlich die Wettbewerbsbedingungen sind und wie sich das seit der Einführung des Euro auf dem Markt auswirkt. Das hat sich vorher tatsächlich nicht ausgewirkt. Lassen Sie mich noch zu zwei anderen Punkten kommen. Es wurde mehrfach die Ökosteuer angesprochen. Meine Damen und Herren, hören Sie mit dem Märchen auf, in der Tourismuswirtschaft würden die Betriebe entlastet. Genau die sind es nicht. Wir haben hier noch die schöne Situation von vielen Familienbetrieben. Genau die werden belastet und nicht entlastet. Das sollten Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen. ({0}) Ein zweiter Punkt. Ich bin es wirklich langsam leid, ({1}) in der Tourismusdiskussion die Ankündigungen des Wirtschaftsministers und seines Staatssekretärs zu hören. Das Ergebnis ist nur ist heiße Luft. Es folgt überhaupt nichts. Es ist richtig, dass Herr Müller hier Stellung genommen hat, aber sagen Sie mir eine einzige Maßnahme, die bisher konkret zur Förderung des Tourismus durchgeführt wurde. ({2}) - Sie haben bald Gelegenheit dazu, liebe Bruni Irber. Ich hoffe, dass wir da vielleicht einen Schritt weiterkommen. Es gibt einen anderen Punkt, den die SPD vor der Wahl versprochen hat. Auch der Bundeskanzler hat es vor der Wahl versprochen; ich kann Ihnen das Datum nennen. Es geht um eine Sache, die für unsere Dienstleistungsgesellschaft sehr wichtig ist: die Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung. Ich bin gespannt, ob Sie da wieder mauern. Ich bin gespannt, wie lange Sie das Spiel weitermachen, bis die Tourismuswirtschaft es nicht mehr erträgt, nämlich nur Ankündigungen und Versprechungen zu machen und dann vor den Finanzpolitikern zu kuschen. Ich sage: Das ist die falsche Politik. Sie können die Branche nicht weiter so belasten. Es geht um die Arbeitsplätze. Wir dürfen den Jobmotor Tourismus nicht abwürgen. Wir müssen ihn endlich anwerfen und dazu müssen wir die richtige Politik machen. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Christine Scheel.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Hinsken, Ihr Hinweis auf die Möglichkeit anderer EULänder, im Zusammenhang mit aktuellen Diskussionen Mehrwertsteuersätze im unteren Umfang nutzen zu können, bezieht sich - Herr Kollege Schild hat es bereits angedeutet - auf den Dienstleistungsbereich und dort wiederum nur auf einen ganz, ganz begrenzten Bereich, und das auch nur als Pilotvorhaben, wozu ein Antrag verschiedener Länder vorliegt, der in der EUKommission übrigens noch einstimmig genehmigt werden muss. Da geht es um Schusterbetriebe, also Einzelpersonen, die Reparaturarbeiten durchführen, ({0}) und zwar regional ganz begrenzt ({1}) und nicht so, wie Sie es hier versucht haben darzustellen, als ob in allen möglichen Bereichen plötzlich Probleme bei uns auftauchen würden, weil einige EUMitgliedstaaten die Mehrwertsteuersätze für Einzelne nach unten setzen. So ist es nicht. ({2}) Es war ein ganz zentrales Anliegen der Bundesregierung, natürlich auch der Koalitionsfraktionen, dass wir gesagt haben: Das Hauptproblem, wenn man schon über Wettbewerbsverzerrungen redet, ist die Frage des Verhaltenskodexes. Dies ist unter der deutschen Ratspräsidentschaft wahrlich sehr weit nach vorne gebracht worden. Das ist das, was letztendlich für die deutsche Wirtschaft wesentlich ist, und nicht die Frage, ob man hier eine neue Ausnahmegenehmigung schafft. ({3}) - Sofort, Herr Hinsken Ein weiterer Punkt betrifft die Attraktivität bestimmter Regionen für den Tourismus. Ob jemand nach Oberbayern oder nach Straubing zum Urlaubmachen fährt, liegt doch mit Sicherheit nicht darin begründet, wie hoch die Mehrwertsteuersätze sind, sondern ob das eine schöne Gegend ist, ob das Hotel ansprechend ist und ob es bestimmte Dienstleistungen gibt, die für die Freizeitgestaltung der Leute attraktiv sind. Das ist doch der Grund, warum ich irgendwohin in Urlaub fahre. ({4}) Da schaut doch kein Mensch darauf, ob die Mehrwertsteuersätze bei 16 Prozent oder irgendwo anders liegen. Bitte schön.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Scheel, ich habe mich gemeldet, weil das, was Sie eben gesagt haben, einfach nicht stimmt. Ich habe mich einzig und allein auf die Mehrwertsteuersätze im Beherbergungsgewerbe bezogen. Ich habe ausdrücklich nochmals gesagt, dass in ganz Frankreich der Mehrwertsteuersatz bei nur 5,5 Prozent und bei uns bei 16 Prozent liegt. Sie müssen deshalb doch sicherlich meine Meinung teilen, dass es für eine vierköpfige Hamburger Familie, die zum Beispiel den Urlaub in Oberbayern verbringt und 1 000 DM Übernachtungskosten zahlen muss, ein Unterschied ist, ob sie den niedrigen Mehrwertsteuersatz, zum Beispiel 70 DM, oder den vollen Satz von 16 Prozent, also 160 DM, bezahlen muss. Das wäre für mich eine Politik für den kleinen Mann. Denn nicht jeder kann es sich leisten, seinen Urlaubsort nur nach der Schönheit der Landschaft auszusuchen und, wie Sie es können, nicht auf das Geld zu achten. ({0})

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Hinsken, ich kann sehr gut nachvollziehen, dass Sie sich jetzt, da Sie in der Opposition sind, in diesem Punkt nach vorne wagen. Ich wundere mich nur ein bisschen darüber, weil unser verehrter Kollege und ehemaliger Finanzminister Waigel, der ja auch aus Bayern kommt, in diesem Punkt nichts, aber auch gar nichts unternommen hat, und zwar aus ganz bestimmten Gründen. Denn wenn man das Argument anführt, dass im grenznahen Bereich in bestimmten Zusammenhängen niedrigere Steuersätze, in diesem Fall Mehrwertsteuersätze, im Gastgewerbe vorliegen, muss man sich, wenn man das konsequent weiterdenkt, auch all das anschauen, was es im grenznahen Bereich, in Tschechien, Frankreich und überall um die Bundesrepublik Deutschland herum und sogar darüber hinaus - denn manchmal durchqueren die Leute ja ein Land - an Steuerbelastungen gibt. Dann spielt zum Beispiel auch die Diskussion, die wir gestern zum Thema Ökosteuer hatten, bei diesem Thema eine Rolle, denn ein großer Teil der umliegenden Staaten hat beispielsweise eine wesentlich höhere Mineralölsteuer als wir. Es gibt auch andere Bereiche, auf die das zutrifft, zum Beispiel die Lohnsteuer. Wenn man all das herauspicken würde, dann würden wir in der Bundesrepublik ein Steuerdumping betreiben, dass es nur so knallt. So geht es nicht. Aus diesem Grunde bleiben wir in unserer Systematik. ({0}) Wenn wir schon bei der Ökosteuer sind, möchte ich, weil Sie das angesprochen haben, noch ein Wort zu den Belastungen im Hotel- und Gaststättengewerbe sagen. Ich kenne ein Unternehmen in Unterfranken - es gibt auch andere Unternehmen dieser Art, auch in Bayern -, das Solaranlagen produziert und montiert, das sehr viele Aufträge zum Beispiel in Österreich und in der Schweiz hat. Wenn ein Hotelgewerbe das Interesse hat, gerade bei Neubauten im gastgewerblichen Bereich, Solaranlagen zu montieren, ergibt sich bei ihm natürlich eine ganz andere Bilanz hinsichtlich des Energieverbrauchs als bei denjenigen, die Sie angesprochen haben und die im Einzelfall auf ökologische Komponenten nicht zurückgegriffen haben. Das ist übrigens auch ein Anreiz für die Schaffung von Arbeitsplätzen, weil man gerade in diesem Zusammenhang, beispielsweise wenn Schwimmbäder vorhanden sind, auf Solaranlagen zurückgreift. Das ist das, was diese Regierung im Prinzip insgesamt verfolgt. ({1}) Ich möchte auch noch darauf hinweisen, dass der Vorschlag, der jetzt kommt, immer so angesehen wird, als ob wir eine Not leidende Branche des Gaststättenund Beherbergungsgewerbes in Deutschland hätten. Auch davon kann keine Rede sein. Zum einen ist es so diese Fakten sind die Ergebnisse der Untersuchungen -, dass in Deutschland zirka die Hälfte des so genannten Deutschland-Tourismus auf Geschäftsreisende entfällt, die wohl nicht gerade zur zahlungsunfähigsten Gruppe der Gesellschaft gehören. Zum anderen waren beispielsweise nach Aussage des deutschen Tourismusverbandes im deutschen Tourismusgeschäft in den ersten zehn Monaten des Jahres 1999 durchaus Zuwächse zu verzeichnen. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollegin Scheel, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne. ({0}) - Doch, gerne.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kolleginnen und Kollegen, mit Blick auf die Uhr möchte ich dann von weiteren Zwischenfragen abraten.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich gebe mir Mühe, ganz kurz zu fragen. Erstens würde mich interessieren, woher Sie die Zahlen haben, verehrte Kollegin Scheel, dass die Tourismusbranche und vor allem die Hotellerie - Sie haben das ja zu Protokoll gegeben - nicht Not leidend ist. Ich habe da ganz andere Zahlen, die das Gegenteil belegen. Diese Branche ist in ganz besonderem Maße von den Belastungen und nicht von den Entlastungen betroffen. Da werden auch die sozialdemokratischen Kollegen und sogar die Kollegin Voß, wenn sie hier wäre, nicht widersprechen. Zweitens würde mich interessieren, woher Sie die anderen Zahlen haben, die Sie heute Abend gebracht haben. Sie können weder vom Statistischen Bundesamt noch von irgendeinem Landesamt sein. Mich würde wirklich interessieren, wer Ihnen diese Zahlen aufgeschrieben hat.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, zum Ersten muss ich feststellen: Ich bin in der Lage, mir die entsprechenden Zahlen selber aufzuschreiben. - Das nur als Vorbemerkung. ({0}) Zum Zweiten muss ich Ihnen sagen: Diese Zahlen stammen von Jürgen Linde, vom Vorsitzenden des deutschen Tourismusverbands, der auf einer Tagung im Vorfeld der Tourismusmesse CMT, die übrigens vom 15. bis zum 23. Januar dieses Jahres in Stuttgart stattfindet, ({1}) gesagt hat, dass in den ersten 10 Monaten des Vorjahres 5,3 Prozent mehr Touristen nach Deutschland gekommen seien als 1998. ({2}) Damit hätten 87,8 Millionen Menschen Deutschland 1999 bereist. Gleichzeitig sei bundesweit die Zahl der Übernachtungen um 4,4 Prozent auf 271,5 Millionen gestiegen. Ich denke, das ist sehr aussagekräftig - das ist immerhin die Aussage des Vorsitzenden des Tourismusverbandes; dem glaube ich - und keine nur von uns vorgenommene Interpretation. ({3}) Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen und Ihnen in Erinnerung rufen, dass wir in der Unternehmensteuerreform einen Hebel für eine bessere wirtschaftliche Entwicklung sehen und nicht in der Schaffung neuer branchenbezogener Mehrwertsteuersätze. Wir haben auch im Einkommensteuerbereich niedrige Steuersätze vorgelegt. Dadurch wird selbstverständlich auch diese Branche entlastet. Die jetzige Bundesregierung ist es doch - auch das sollte einmal betont werden -, die erstmals politisch und auch fachlich in der Lage war, die Lohnnebenkosten zu senken. Dadurch wurde die Mehrbelastung im Tourismusgewerbe gesenkt. Das ist durch die Leistung der jetzigen Bundesregierung zustande gekommen. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Heidemarie Ehlert für die PDS-Fraktion.

Heidemarie Ehlert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003112, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zusätzlich zu den Zahlen, die Frau Scheel genannt hat, gab es gestern in der „Berliner Morgenpost“ unter der Überschrift „Hitparade der Berliner Hotellerie“ eine Veröffentlichung über die Umsätze der Top Ten der Berliner Hotels für 1999. Trotz der noch immer geringen Bettenauslastung im Vergleich zu 1991 - da lag sie noch bei 60 Prozent; jetzt beträgt sie 47 Prozent - sind die Umsätze nicht nur bei den großen Hotels, sondern auch bei den kleineren gestiegen - und das bei einem Mehrwertsteuersatz von 16 Prozent. Sicher, Berlin boomt und ist deshalb nicht unbedingt vergleichbar mit anderen Gegenden. Auf jeden Fall aber schrecken die sehr hohen Übernachtungspreise weder die Touristen noch die Geschäftsreisenden davon ab, in Berlin zu nächtigen. Ausgangspunkt des Antrages der CDU/CSU-Fraktion ist die Wettbewerbssituation des Hotel- und Gaststättengewerbes in Deutschland im Zuge der Globalisierung. Das deutsche Gastgewerbe sei insbesondere im Vergleich zu den anderen EU-Mitgliedstaaten durch die Anwendung des vollen Umsatzsteuersatzes gravierend benachteiligt. Nun weiß ich aber aus eigener Erfahrung, dass die Preise in unseren Nachbarländern, die Sie in dem Antrag anführen, zum Beispiel die in Österreich, kaum unter den Preisen der Bundesrepublik liegen. Meist sind die Übernachtungskosten sogar höher. Deutschland ist ein weitgehend preiswertes, aber kein billiges Reiseland. Es ist jedoch ein Reiseland voll landschaftlicher Schönheiten und kultureller Schätze und, wie die Zahlen belegen, eine Reise wert. Entgegen aller Unkenrufe gibt es generell einen Aufwärtstrend im Hotelgewerbe. Der soeben schon einmal zitierte Präsident des deutschen Tourismusverbandes sagte, dass die Gästezahlen seit den letzten fünf Jahren kontinuierlich steigen und dass es bei den Übernachtungszahlen in nahezu alle Bundesländern ein Plus gibt, allein in den ersten zehn Monaten des vergangenen Jahres ein Plus von 4,4 Prozent. Thüringen konnte dank Goethe sogar einen Zuwachs von 12,1 Prozent verzeichnen. Die Umsatzsteuer ist zwar ein Faktor, der preisbestimmend wirkt, aber nur in den wenigsten Fällen ausschlaggebend ist für die Entscheidung, wo jemand Urlaub macht. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch Probleme; das will ich nicht verheimlichen. In meiner Heimatstadt ist die Zahl der Übernachtungen von 1993 bis 1999 um 100 000 gesunken. Parallel dazu aber stieg die Zahl der angebotenen Betten auf das Dreifache. Das heißt: Es wurde am Bedarf vorbeigebaut, um Fördermittel abzufassen. Die Goldgräberzeiten sind vorüber, und jetzt rufen Sie nach einer Senkung der Mehrwertsteuersätze im Interesse der Lobbyisten. Sicher, es ist notwendig, im Rahmen der EU über eine weitere Harmonisierung der Steuern nachzudenken. Die Einführung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes im Beherbergungsgewerbe wäre aber schon längst möglich gewesen. Oder haben Sie die 6. EU-Richtlinie des Anhangs nicht gelesen? Meine Damen und Herren von der CDU, Sie haben Ihre Chancen vertan. Sie hätten sie nutzen können. ({0}) Selbstverständlich könnten wir einer Erhöhung des Freibetrages für freiwillige Trinkgelder - das haben Sie noch in Ihren Antrag aufgenommen - zustimmen. Plötzlich aber schwenken Sie um: Das Gastgewerbe soll bevorteilt werden und zwischen den Berufen sollen Unterschiede gemacht werden. Erklären Sie mir doch bitte einmal den Unterschied zwischen einer Kellnerin und einer Friseuse! Wenn die Letztere nicht qualifiziert ist, dann möchte ich einmal manche Köpfe in diesem Raum sehen. Wenn, dann müsste diese Frage durchgängig neu geregelt werden. Wir aber plädieren für eine Anhebung der bisherigen Niedriglöhne in diesem Dienstleistungsbereich, also für gesicherte Einkünfte der Beschäftigten statt steuerfreie Trinkgeldgeschenke. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Thomas Dörflinger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Dörflinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will die Arbeitslosigkeit deutlich senken; daran will ich mich messen lassen. Mit diesem einen von vielen mehr oder weniger denkwürdigen Sätzen hat sich Bundeskanzler Schröder vernehmen lassen. Das aber, was bis heute in Sachen Bekämpfung der Arbeitslosigkeit festzustellen ist, verdanken wir einzig und allein der Tatsache, dass mehr Personen aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind als neue hinzukommen. Das ist also Resultat der Bevölkerungsentwicklung, nicht Resultat der Politik der Bundesregierung. In den Leitlinien der Europäischen Kommission zur Beschäftigungspolitik steht - diese haben wir gestern im Ausschuss beraten -, dass der Anteil des Dienstleistungssektors am Arbeitsmarkt in Deutschland im Vergleich zur EU und erst recht im Vergleich zu den USA unterentwickelt ist. ({0}) Genau diese Tatsache hat die Unionsfraktion zum Anlass genommen, einen Schritt in die richtige Richtung vorzuschlagen, ({1}) nämlich eine Harmonisierung der gastgewerblichen Mehrwertsteuersätze in der EU und in der Übergangszeit einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz in Höhe von 7 Prozent. Worum geht es? Betrachten wir einmal die Situation beispielsweise in Baden-Württemberg mit der speziellen Grenzsituation. Für deutsche Beherbergungsbetriebe beträgt die Mehrwertsteuer 16 Prozent, im benachbarten Österreich 10 Prozent, in Frankreich 5,5 Prozent und in der Schweiz sogar nur 3 Prozent. ({2}) Dazu muss man wissen, dass die Schweiz den Mehrwertsteuersatz im Beherbergungsgewerbe aus Gründen des Wettbewerbs, vor allem aber aus Gründen des Arbeitsmarktes von 6,5 auf 3 Prozent gesenkt hat. ({3}) Richtet man den Blick auf die Europäische Union, dann wird das Ausmaß der Wettbewerbsverzerrung für deutsche Unternehmen erst richtig deutlich. Für Gaststättenumsätze gelten in acht von 15 EU-Staaten ermäßigte Steuersätze, für Umsätze aus Beherbergung ist dies ebenfalls in acht von 15 EU-Staaten so. Deutschland aber gehört weder im einen noch im anderen Fall dazu. Ich habe von einem Schritt in die richtige Richtung gesprochen, den wir unternehmen wollen. Freilich müssen dem weitere folgen. Nachdem die Bundesregierung aber schon viele Schritte unternommen hat, die allerdings alle in die falsche Richtung liefen, wären wir schon zufrieden, wenn es wenigstens diesen einen Schritt gäbe. ({4}) Was aber hat die Bundesregierung getan? ({5}) Sie hat den Vorsteuerabzug für Geschäftsreisende abgeschafft. Wen trifft das? Das trifft die Betriebe im Tourismus und in der Gastronomie. ({6}) Sie haben die 630-Mark-Jobs weitgehend abgeschafft. ({7}) Wen trifft das? Die Betriebe im Tourismus und in der Gastronomie. Sie haben eine Ökosteuer eingeführt, die jährlich auch noch erhöht wird. Wen trifft das? Die Betriebe im Tourismus, die Betriebe in der Gastronomie. Und dann kommen Sie, insbesondere auch von der Regierungsbank, ({8}) in Festtagslaune zu den großen touristischen Kongressen und sprechen von den schönen Geschenken der Tourismusförderung. Ich kann davon nichts erkennen, denn Ihnen fehlt ein schlüssiges Konzept. ({9}) Ich zitiere aus der Rede des Bundeswirtschaftsministers Werner Müller zur Eröffnung der ITB am 6. März des vergangenen Jahres hier in Berlin: ({10}) Auf europäischer Ebene sind für die deutsche Touristikbranche die zum Teil gewaltigen Unterschiede bei den Mehrwertsteuersätzen der Mitgliedstaaten ein großes Handicap. - Stimmt das oder stimmt es nicht? - Es stimmt. Müller fährt fort: Diesen speziellen tourismuswirtschaftlichen Aspekt habe ich besonders im Auge, denn er ist ein handfester Wettbewerbsnachteil für das deutsche Geschäft. Zwei Tage vorher, in der Tourismusdebatte am 4. März, hatten Sie, Frau Staatssekretärin, sich ähnlich geäußert. Sie haben das festgestellt, das ist lobenswert; danach gehandelt haben Sie aber nicht. Sie haben etwas ganz anderes getan. Der Wirtschaftsminister hatte etwas im Auge, aber offensichtlich hatte er in den Verhandlungen mit dem Bundesfinanzminister eine aufs Auge bekommen, denn sonst würde er die Situation heute noch genauso sehen wie damals. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ob Sie dieses spezielle Thema nehmen, ob Sie das „Bündnis für Arbeit“ nehmen - Sie können beinahe jeden politischen Bereich herausgreifen -: Schlussendlich folgt immer einer großmündigen Ankündigung das große Nichts. Das ist Ihre Politik nach Art der Teletubbies: Wenn das Licht angeht, wenn die Sonne aufgeht, dann ist „winke, winke“. Wenn es dann an die Inhalte geht, dann kommt nur noch „oh, oh“. ({12}) - Herr Schmidt, Sie sollten sich nicht so aufregen. - So eine Politik hat keine Substanz, so eine Politik zielt nur auf Showeffekte. Deswegen kommen wir damit in Deutschland auch nicht weiter. Schönen Dank. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Brunhilde Irber. ({0})

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Zwischenrufe unter anderem des Herrn Vorsitzenden ehren mich, aber ich bin nicht nur Tourismuspolitikerin für Ostbayern, sondern für ganz Deutschland. ({0}) Ich könnte es mir heute sehr einfach machen und meine Rede zur Einbringung dieses Antrages jetzt bei der Schlussdebatte erneut vortragen. Lieber Herr Brähmig, Ihre Fraktion hat die Ausschussberatungen leider nicht dazu genutzt, den Antrag etwas näher an die Wirklichkeit heranzubringen. Um es vorwegzunehmen: Auch aus tourismuspolitischer Sicht muss Ihr Antrag abgelehnt werden. ({1}) - So ist es. ({2}) Zu den Fakten: Die Branche boomt. Wir verzeichnen seit Jahresbeginn 1999 eine Steigerung der Übernachtungszahlen in Deutschland von 4,4 Prozent. Die Frau Kollegin Scheel hat vorhin in ihrem Beitrag die „Passauer Neue Presse“ zitiert, das Organ, das auch Herr Hinsken bestens kennt. Vielleicht ist es ihm nicht mehr ganz so lieb, weil die Berichterstattung etwas kritischer geworden ist. Seit die Maßnahmen der neuen Bundesregierung zur Verbesserung der Kaufkraft wirken, hat sich eine deutliche Steigerung der Übernachtungszahlen im deutschen Tourismus eingestellt. Die Auslastung der Bettenkapazitäten steigt, die Zahl der Konkurse ist zurückgegangen. Es passiert also all das, was nach Ihrem Antrag doch erst passieren sollte, wenn der Staat die Mehrwertsteuer senkt. Das alles passiert, weil die Bundesregierung mit den richtigen Instrumenten in diesem Wirtschaftsraum aktiv wurde. ({3}) Herr Brähmig, Sie tun mir schon direkt Leid. Ich erhöre Sie. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hatten uns auf Zuruf verständigt, dass wir angesichts der fortgeschrittenen Zeit keine Fragen mehr zulassen. ({0}) Es gab reichlich Diskussionsgelegenheit in dieser Debatte. Ich wiederhole: Es passiert also all das, was nach Ihrem Antrag erst dann passieren sollte, wenn der Staat die Mehrwertsteuer senkt. Das alles passiert, weil die Bundesregierung mit den richtigen Instrumenten im Wirtschaftsraum aktiv wurde, ({1}) weil wir eine aktive Wirtschafts- und Sozialpolitik machen, die die Arbeitskosten verringert, die Einkommen- und Unternehmensteuern senkt, die Kaufkraft bei den Verbrauchen stärkt, ({2}) und weil wir eben die Gesamtverantwortung wahrnehmen und uns nicht mit einzelnen, zugegebenermaßen populären, aber unwirksamen Maßnahmen verheben. ({3}) Zweiter Fakt - Herr Brähmig, wenn Sie ein bisschen aufpassen und zuhören würden, könnten Sie jetzt vielleicht etwas lernen -: ({4}) Deutschland hat die niedrigste Mehrwertsteuer in der EU. Sie kommen daher und fordern, diese weiter zu senken. Ihnen ist doch klar, dass dann der normale Mehrwertsteuersatz so weit unten nicht mehr haltbar ist. Das würde alle anderen Branchen belasten. ({5}) Richtig ist sicherlich, dass auch wir Tourismuspolitiker zu Beginn der Legislaturperiode zusammen mit dem Wirtschaftsminister ein Modell zur Verringerung der Mehrwertsteuer für das Gaststättengewerbe in die Diskussion gebracht haben und mit einer probeweisen Senkung einverstanden gewesen wären. Damals aber waren die gesamtwirtschaftlichen Maßnahmen der Bundesregierung noch nicht abgestimmt. ({6}) Heute sind zwei Tatsachen gegeben: Die betroffene Branche wird durch die Unternehmensteuerreform weit mehr entlastet, als alle bisherigen ernst zu nehmenden Pläne es erwarten ließen. ({7}) Die Verbraucher, insbesondere die Familien, die für den Deutschlandtourismus wichtig sind, haben deutlich mehr Geld in der Tasche. ({8}) - Herr Brähmig, eine Regierung müsste mit dem Klammerbeutel gepudert sein, wenn sie für eine Branche im Wachstum die Mehrwertsteuer verringern würde. Es handelt sich wohlgemerkt um eine Steuer, deren Ausfälle die Allgemeinheit zu tragen hätte. Mit Recht würden alle anderen Branchen aufschreien, weil man dann dem Fluss des Geldes weiteres Geld hinterherwerfen würde. Außerdem befindet sich die Branche in einem harten Wettbewerb - das ist klar -, der ohnehin schon massiv auf die Preise drückt. Mit einer Mehrwertsteuersenkung zu einem Zeitpunkt des allgemeinen Preisverfalls würde man nur den Druck auf die Betriebe erhöhen und die Folge wären zunehmende Konkurse. Fragen Sie doch einmal einen Hotelier, wie er seine Preise bildet. Die Antwort ist: nach der Marktlage und nicht nach den Gewinnerwartungen. Die Marktlage zeigt im Hinblick auf die Preise nach unten. Es ist eine ähnliche Entwicklung wie bei den Reiseveranstaltern, über die wir uns gestern unterhalten haben. Die richtige Logik ist, dass die Bürger mehr Urlaub machen, wenn es in ihre eigene Gesamthaushaltslage passt, und nicht, wenn die Hotels allgemein etwas billiger werden. Wir haben daher das Richtige gemacht, während Sie nur der Branche gefällig sein wollten. ({9}) Es stimmt halt doch: Sie wollen der Branche erst jetzt gefällig sein, da Sie in der Opposition sind. ({10}) Herr Brähmig, Ihr Minister Waigel hat kurz vor der letzten Bundestagswahl das Umsatzsteuergesetz so geändert, dass die Gastronomie jetzt immer den vollen Mehrwertsteuersatz abführen muss, auch wenn die Familie in der eigenen Gastwirtschaft isst. Er hat damit für die Gastronomie die Tür zum ermäßigten Mehrwertsteuersatz zugeschlagen, weil er aus der bisherigen steuerrechtlichen „Lieferung“ eine „Dienstleistung“ gemacht hat. Diese wird immer mit dem vollen Mehrwertsteuersatz berechnet. Er hat dies getan, um ein paar Pfennige mehr in seinen Haushalt zu bekommen. Noch ein paar Sätze zu dem Vorschlag in dem Antrag der CDU, den Freibetrag für die Trinkgeldbesteuerung anzuheben.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, Sie müssen nun zum Schluss kommen.

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme sofort zum Schluss, Frau Präsidentin. Nur dies möchte ich noch ausführen: Die rechtlichen Probleme, die mit der Erhöhung des Freibetrages verbunden sind, stellen keine Lösung dar. ({0}) Die Prüfungspflicht der Finanzämter und der Sozialversicherungen bleibt auch bei einem höheren Freibetrag erhalten. ({1}) - Richtig; das ist etwas anderes. ({2}) Ich möchte Ihnen nur noch eines sagen: Bei Ihnen merkt man, dass Sie mit populären Vorschlägen den Beifall der Branche erreichen wollen, und Sie hoffen, dass Sie so wieder an die Macht kommen. Ich bedaure, dass die Branche auf diese populistischen Vorschläge eingeht und so tut, als hätten Sie noch die Gesamtverantwortung in diesem Land. ({3}) Aber die haben wir und aus dieser Gesamtverantwortung heraus lehnen wir Ihren Antrag ab. Da diese Sitzung zwar nicht mehrwertsteuerpflichtig ist und, wie ich hoffe, auch nicht vergnügungsteuerpflichtig wird, möchte ich meine Ausführungen jetzt beenden. Danke schön. ({4}) Vizepräsidentin Petra Bläss

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur Harmonisierung der gastgewerblichen Mehrwertsteuersätze in der Europäischen Union auf der Drucksache 14/1899. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/294 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. und bei Enthaltung der PDS angenommen. Jetzt rufe ich den letzten Tagesordnungspunkt, Tagesordnungspunkt 12, auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Ermäßigter Mehrwertsteuersatz für arbeitsintensive Leistungen - Drucksachen 14/64, 14/1333 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Barbara Höll Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die PDS-Fraktion die Kollegin Dr. Barbara Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir den heutigen Sitzungstag auch noch am heutigen Tag beschließen. Allerdings muss ich sagen, dass ich schon etwas erstaunt bin, insbesondere wenn man hier im Plenum die letzte Debatte gehört hat. Es wurde das Fehlen von Abgeordneten beklagt. Beim allerletzten Debattenpunkt allerdings, der nach der üblichen Praxis in diesem Parlament - so wird es im Ältestenrat immer vereinbart - ein Punkt der PDS ist, sprechen nicht einmal Vertreter aller Fraktionen, weil es ihnen oftmals einfach zu spät ist. Damit entziehen sie sich einer öffentlichen Diskussion hier im Plenum. Das finde ich, schlicht gesagt, wirklich scheinheilig, wenn man so unterschiedlich verfährt. Nun komme ich zum Thema: Wir haben über dieses Anliegen der PDS, einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz für arbeitsintensive Dienstleistungen auch in der Bundesrepublik Deutschland einzuführen, schon öfter diskutiert, zum Beispiel bereits in der letzten Legislaturperiode. Damals lehnten die Fraktion der CDU/CSU und die Fraktion der F.D.P. diesen Vorschlag ab. ({0}) Inzwischen muss ich sagen, dass der Inhalt unseres Vorschlages -wir wollten die vorherige Regierung bereits vor Jahren dazu bewegen, in dieser Richtung initiativ zu werden - von der Geschichte eingeholt worden ist. Das ist bereits Wirklichkeit geworden. Am Anfang des Jahres 1998 hat auf Initiative des Europaparlamentes die EU-Kommission die Initiative ergriffen und dieser Prozess ist gegen Ende des vergangenen Jahres zum Abschluss gekommen. Entsprechend der Initiative des Europaparlamentes ist es möglich, Reparaturarbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen, ({1}) Renovierungs- und Reparaturarbeiten im Wohnungsbau - außer Neubau - und arbeitsintensive Leistungen, zum Beispiel Pflegeleistungen in Wohnungen, Pflege von Kindern, alten Menschen und Behinderten, tatsächlich mit einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz zu belegen. Darüber haben wir im Ausschuss diskutiert. Es kamen verschiedenste Argumente. Unter anderem wurde das Argument angeführt, für diese Möglichkeit würden sich - wenn überhaupt - höchstens zwei Staaten in Europa interessieren. Bis zum 1. November 1999 - an diesem Tag war Antragsschluss - haben sich aber tatsächlich neun Staaten der EU dafür entschieden, dieses Instrument zum Abbau von Arbeitslosigkeit wenigstens auszuprobieren, und zwar in dem Maße, wie es im Rahmen des Vorschlages der EU-Kommission möglich ist. Es fiel das Argument: Würden damit tatsächlich Arbeitsplätze geschaffen? Das wissen wir sicher nicht. Aber wenn wir es nicht ausprobieren, haben wir auch keine Chance, es zu erfahren. Nur die Praxis wird es beweisen. ({2}) Gerade im Bereich der Dienstleistungen an Menschen bedeutet es einen Unterschied, wenn man den Mehrwertsteuersatz signifikant senkt. Eine Senkung bis auf 5,5, 6 Prozent - das sind die Vorschläge der europäischen Staaten, die von dem Instrument Gebrauch machen werden - macht sich schon im Portemonnaie bemerkbar. Auch zum Beispiel bei der Renovierung von Wohnungen ist mit einer Senkung der Kosten für denjenigen, der seine Wohnung renovieren lässt, ein Vorteil verbunden. Die Kosten auf dem offiziellen Markt wären zwar trotzdem höher, als wenn man eine solche Dienstleistung schwarz erledigen lässt; aber man hat damit auch den Vorteil, gewisse Garantieleistungen zu erhalten. Ich glaube, gerade in diesem Bereich ist das ganz wesentlich. Ein weiteres Argument war, es würde Milliarden kosten. Guckt man aber einmal in die Unterlagen der EUKommission nach der Beantragung durch die einzelnen europäischen Staaten, so stellt man fest, dass die einzelnen Länder eben nicht mit Mindereinnahmen in Milliardenhöhe rechnen. Vielmehr findet man Aussagen wie bei Luxemburg: keine nennenswerten Auswirkungen. Griechenland spricht davon, dass die finanziellen Auswirkungen nicht sehr groß sein werden. Ganz wichtig sind die ökologischen Faktoren, die wir hoffen mit einem solchen Instrument verwirklichen zu können. Denn es geht darum, Reparaturdienstleistungen zu einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz möglich zu machen. ({3}) Dann stellt sich nicht immer gleich die Frage: Lohnt sich eine Reparatur überhaupt noch oder zahle ich ein paar Mark drauf und kaufe mir dann etwas Neues? Es ist kein Zufall, dass die Mehrzahl der Staaten, die einen Antrag an die EU-Kommission gestellt haben, sich tatsächlich für eine Steuersenkung im Reparaturbereich , bei der Reparatur von Fahrrädern, entschieden hat. Ich muss aber sagen, dass die PDS das als unzureichend ansieht. Wir würden uns wünschen, dass auch Reparaturen an Autos zu ermäßigtem Steuersatz möglich wären. Denn auch das wäre ein ökologischer Faktor. Wir meinen, dass die Notwendigkeit, im Arbeitsmarkt aktiv zu werden, gegeben ist. Das wissen wir alle. Da wie bereits in der vorigen Debatte sicher auch jetzt wieder darauf abgehoben wird, dass Sie eine tolle Unternehmensteuerreform planen und umsetzen werden, muss man natürlich sagen, dass nach dem, was uns bisher vorliegt, die Unternehmensteuerreform eine massive Tarifentlastung für ertragsstarke Kapitalgesellschaften und Steuerpflichtige mit sehr hohem Einkommen, die wieder doppelt entlastet werden, bedeuten wird. Kleine Gewerbetreibende, auf die unser Antrag zielt, werden kaum profitieren, weil sie nicht ausreichend Gewinne haben und von den Steuertarifsenkungen nur marginal betroffen sind. ({4}) Abschließend möchte ich das „Handelsblatt“ zitieren, dem man sicher Objektivität zugute halten kann. ({5}) Es lobt die Unternehmensteuerreform und sieht in ihr die „sympathische Entwicklung“, dass die SPD endlich zu einer Shareholder-Value-Partei wird. Sie wollen auch Originalton „Handelsblatt“ - „großkapitalistische Produktivvermögen“ entlasten. Die kleinen Handwerker, um die es in diesem Antrag geht, beziehen Sie nicht ausreichend in Ihre Politik ein. Ich denke, es ist einfach kurzsichtig, ein Modell, für das sich neun europäische Staaten entschieden haben, nicht wenigstens auszuprobieren. ({6}) Danke.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dieter Grasedieck. ({0})

Dieter Grasedieck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Höll, auch wir wollen Arbeitsplätze schaffen. Das ist natürlich auch unser wichtigstes Ziel. Aber wir haben einfach bessere Wege dazu. ({0}) Wir schaffen Arbeitsplätze. ({1}) Wir schaffen Arbeitsplätze im Mittelstand. Wir schaffen Arbeitsplätze auch bei Kleinbetrieben. Wir legen Wert darauf, dass Betriebe mit Ausbildungsplätzen gefördert werden. Sie wissen doch ganz genau, dass wir eine große Steuerreform planen. Diese Steuerreform wird sehr viele Familien und Betriebe entlasten. Es werden nicht nur die Industriebetriebe berücksichtigt. Die Gesamtentlastung der Steuerreform beträgt bis zum Jahr 2002 42,5 Milliarden DM. ({2}) Dies wird bis zum Jahre 2005 auf 72,5 Milliarden DM gesteigert. Von einer solchen Entlastung hat die CDU/CSU immer nur geträumt. ({3}) Wir sind gegen die Minilösung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes. Wir wollen die große Steuerreform. Diese bringt sehr viel an Entlastung. Familieneinkommen bis zu einer Höhe von 40 000 DM werdem im Jahr 2005 steuerfrei sein. Das sind Ziele und Signale. Eine Familie mit zwei Kindern wird im Jahre 2005 sogar um 4 050 DM netto entlastet. Diese Entlastung muss im Rahmen der gesamten Steuerbelastung berücksichtigt werden. ({4}) Sie, meine Damen und Herren von der PDS, stellen heute Ihren Antrag zum dritten Mal, soweit ich mich daran erinnern kann. Aber die Politik hat sich weiterentwickelt und hat sich im letzten Jahr verbessert. Sie ist verändert worden. Ihr Antrag ist eigentlich überholt. Sie handeln nach dem Motto: Meine Meinung steht fest, bitte verwirren Sie mich jetzt nicht mit Tatsachen. Aber die große Steuerreform ist eine Tatsache. ({5}) Sie sind doch sonst so flexibel, Frau Dr. Höll und Frau Ehlert. Stellen Sie Ihren Antrag einfach zurück und loben Sie unsere große Steuerreform! ({6}) Lob hat diese Steuerreform wirklich verdient. ({7}) - Sie müssen doch nur einmal den Anstieg der Normaleinkommen im letzten Jahr betrachten. Das ist schon eine Auswirkung unserer Steuerreform. ({8}) Die Normaleinkommen sind im letzten Jahr von 4 900 DM auf 5 020 DM gestiegen. Wenn Sie das nachlesen, werden Sie feststellen, dass ich Recht habe. Von 2001 bis 2005 wird die Körperschaftsteuer von 40 Prozent auf 25 Prozent reduziert. Das ist ein gewaltiger Schritt. Dadurch werden auch die kleineren Betriebe unterstützt. ({9}) Auch der Eingangssteuersatz ist gewaltig reduziert worden. Sie haben vorhin behauptet, nur die großen Betriebe profitierten davon. Das ist nicht der Fall. Die Familien und die Kleinverdiener werden entlastet. ({10}) Der Eingangssteuersatz sinkt von 26 Prozent auf 15 Prozent, das ist unser Zielpunkt. ({11}) Ich kann mir denken, dass Sie davon total überrascht sind. Auch der Spitzensteuersatz ist wesentlich gesenkt worden. Unsere Zielprojektion ist ,den Steuerfreibetrag auf 14 500 DM anzuheben. Wir entlasten also den Bürger von 1998 bis 2005 um 72,5 Milliarden DM. Das sind wichtige Ziele. ({12}) - Um 72,5 Milliarden DM, Herr Hinsken. Das ist alles berechnet. Wenn Sie das nachlesen, dann werden Sie erkennen, dass wichtige Signale für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und für die Förderung des Wachstums ausgesendet werden. Investoren können sicher planen, weil sie ganz genau wissen: In jedem Jahr werden die Steuern weiter reduziert. ({13}) - Nein, nicht belastet. Sie scheinen etwas aus dem Rhythmus geraten zu sein. - Wir schaffen Sicherheiten, Arbeitsplätze werden abgesichert. Der PDS-Antrag könnte höchstens - wenn überhaupt - für zwei Jahre umgesetzt werden. Wir müssten dann ein Gesetzeswerk entwickeln und viele Erlasse auf den Weg bringen; denn in Ihrem Antrag verbergen sich viele Fragen. Was meinen Sie denn mit Renovierungsarbeiten? Handelt es sich um Renovierungs- und Reparaturarbeiten, wenn zum Beispiel ein Wintergarten gebaut wird? Handelt es sich um Renovierungsarbeiten im Hausbereich, wenn der Dachboden ausgebaut wird? Wo ziehen Sie die Grenzen? Liegt die Grenze bei 200 000 DM oder bei 400 000 DM? Für den Freizeitbereich ist es so ähnlich aufgeführt. Ich komme zum Schluss. Wir könnten hier Fragen über Fragen stellen, wenn wir den Antrag einmal im Detail betrachten. Würde man Ihrem Antrag folgen, würde das Umsatzsteuerrecht wesentlich komplizierter und ein neues Paradies der Steuerschlupflöcher würde geöffnet. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der PDS, unsere Politik braucht mutige Antworten. Streichen Sie Ihren Antrag und unterstützen Sie unsere Steuerreform! ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die Abgeordneten Jochen-Konrad Fromme, CDU/CSU-Fraktion, Klaus Müller, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, sowie Gisela Frick, F.D.P.-Fraktion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Ich setze das Einverständnis des Hauses voraus und schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für arbeitsintensive Leistungen auf Drucksache 14/1333. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/64 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion bei einer Enthaltung aus der CDU/CSUFraktion angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 21. Januar 2000, 9 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen allen eine angenehme Nachtruhe. Sie ist notwendig. Die Sitzung ist geschlossen.