Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Tag,
liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Zur Beratung des Tagesordnungspunktes 3 haben die
Fraktionen der CDU/CSU und der PDS eigene Anträge
zur Wirbelsturmkatastrophe in Mittelamerika eingebracht, die Ihnen in einer Zusatzpunktliste vorliegen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Tagesordnung um diese Anträge erweitert werden:
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-Jürgen
Hedrich, Dr. Christian Ruck, Dr. Norbert Blüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Nach der Wirbelsturmkatastrophe in Mittelamerika: Hilfsmaßnahmen koordinieren, Schuldendienst aussetzen, Schulden erlassen
und Wiederaufbau unterstützen - Drucksache 14/56 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf,
Carsten Hübner, Heidi Lippmann-Kasten, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Soforthilfe, Wiederaufbaumaßnahmen und Entschuldung für Mittelamerika
- Drucksache 14/57 Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Deutsche Beteiligung an möglichen NATOOperationen zum Schutz und Herausziehen
von OSZE-Beobachtern aus dem Kosovo in
Notfallsituationen
- Drucksachen 14/47, 14/51 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Christoph Zöpel
Karl Lamers
Dr. Werner Hoyer
Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die
Aussprache über diese Vorlage namentlich abstimmen
werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Herrn Minister
Fischer das Wort, bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat am 13. November 1998 der Entsendung von deutschen Kräften zur Teilnahme an der
NATO-Luftüberwachungsoperation über dem Kosovo
zugestimmt. Heute bittet die Bundesregierung den Deutschen Bundestag - wir haben dies in der vorangegangenen Debatte bereits angekündigt; es wurde auch schon
im Zusammenhang politisch diskutiert -, einer deutschen Beteiligung an einer in Mazedonien zu stationierenden NATO-Notfalltruppe zum Schutz und zur Rettung von OSZE-Beobachtern aus dem Kosovo in Notfallsituationen zuzustimmen.
Alle unmittelbaren militärischen Fragen wird der
Kollege Scharping ansprechen, während ich noch einmal
auf den politischen Begründungszusammenhang eingehen möchte.
Daß wir in der vergangenen Woche keine Entscheidung in einem Zuge hinbekommen haben, lag nicht an
der Bundesregierung, sondern am Verfahren bei der
NATO. Wir hätten uns eine einheitliche Entscheidung
im Deutschen Bundestag gewünscht; denn in der Tat
gibt es hier einen nicht auflösbaren Sachzusammenhang.
Dieser Sachzusammenhang ergibt sich aus dem Abkommen, das Holbrooke mit der Regierung in Belgrad
geschlossen hat. Durch den Abschluß dieses Vertrages
ist es gelungen, eine humanitäre Katastrophe abzuwenden, worüber wir sehr froh sind. Die dauerhafte Abwendung einer humanitären Katastrophe setzt aber voraus,
daß es zu einer friedlichen Entwicklung kommt, hoffentlich eines Tages auch zu einer Entwicklung hin zu
einem substantiellen Frieden, so daß man nicht nur von
einer Abwesenheit von Krieg sprechen kann.
({0})
Eine ganz wesentliche Bedingung der Umsetzung ist,
daß der Prozeß des Rückzugs der militärischen Einheiten sowie der Einheiten der Sonderpolizei auf jugoslawischer Seite überwacht wird und daß es gleichzeitig eine
Vertrauensgrundlage für die Menschen im Kosovo gibt,
die es ihnen ermöglicht, in ihre zum großen Teil beschädigten oder gar zerstörten Häuser zurückzukehren Vertrauen in den Wiederaufbau zu finden und so insgesamt zu einer friedlichen Entwicklung beizutragen. Für
die Überwachung dieses Prozesses werden unbewaffnete, nichtmilitärische OSZE-Verifikateure - Beobachterinnen und Beobachter - eingesetzt. Deutschland beteiligt sich mit bis zu 200 unbewaffneten Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern für die OSZE an diesem Programm.
Dabei handelt es sich um einen zwar zivilen, jedoch
alles andere als ungefährlichen Auftrag. Damit die Risiken dieses Auftrags minimiert werden können, bedarf es
nicht nur einer unbewaffneten militärischen Luftraumüberwachung - diese hat der Deutsche Bundestag
bereits beschlossen -, sondern auch einer entsprechenden Notfallmaßnahme. Diese Maßnahme bezieht sich ich wiederhole es - allerdings nur auf den Notfall.
Mit dem Beschlußvorschlag der Bundesregierung ist
nicht die militärische Durchsetzung, ist nicht die militärische Begleitung der OSZE-Mission gemeint. Dazu wären die ausgesuchten Einheiten weder von der Größenordnung noch von der Zusammensetzung her geeignet.
Das muß klar sein. Ich denke, das ist bei der Bewertung
der heutigen Entscheidung wichtig. Es handelt sich also
um eine Truppe für den äußersten Notfall, wenn es zur
Abwehr eines Schadens für Leib, Leben und Gesundheit
zu einer beschleunigten Evakuierung der unbewaffneten
OSZE-Beobachter, die im Kosovo in einem gefahrvollen
und zugleich wichtigen Einsatz sind, kommt. Darum
geht es in der Entscheidung, die heute zu treffen ist.
Meine Damen und Herren, ich muß Ihnen sagen, ich
finde es gut und richtig, daß es im Deutschen Bundestag
eine breite Zustimmung zu dieser OSZE-Mission gibt.
Was ich allerdings nicht begreifen kann, ist: Wenn man
weiß, daß diese unbewaffneten, zivilen OSZEBeobachterinnen und -Beobachter in einen gefahrvollen
Einsatz gehen, warum hat man dann nicht den Mut, die
Konsequenz daraus zu ziehen und auch zur letzten
Sicherheitsreserve Ja zu sagen, damit diese Menschen,
falls sie in eine lebensbedrohliche Situation kommen,
schnell evakuiert werden können und die Gefahr für
Leib und Leben abgewehrt werden kann?
({1})
Das begreife ich nicht; ich glaube, Sie begreifen es
selbst nicht. Wenn ich diesen OSZE-Einsatz unterstütze
und die Menschen dort hinschicke, kann ich ihnen,
selbst wenn ich tausend Bedenken habe, diesen Schutz
doch schon von der Logik her nicht verwehren.
({2})
Dennoch ist es mir sehr wichtig, Herr Kollege Breuer,
heute noch einmal festzuhalten, daß sich die Bundesrepublik Jugoslawien vertraglich verpflichtet hat, für den
Schutz, für die Sicherheit und für die Bewegungsfreiheit
der OSZE-Beobachter zu garantieren. Wir werden sehr
sorgfältig darauf achten, daß diese Verpflichtung entsprechend realisiert wird.
({3})
Wir haben über alle umfassenden Fragen zu diesem
Thema bereits in der vorangegangenen Debatte diskutiert: über die Grundlagen der politischen Bewertung des
Vertrages und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben; die Gespräche, die wir mit der kosovo-albanischen
Seite geführt haben, und das Insistieren darauf, daß die
UCK ihre Gewaltaktionen einstellen muß, wenn es zu
einem dauerhaften Frieden im Kosovo kommen soll;
({4})
über die Bedeutung, die der WEU-Polizeimission in
Albanien unter dem Gesichtspunkt der Stabilisierung der
innenpolitischen Verhältnisse vor allen Dingen in Nordalbanien zukommen kann - was am Rande der WEURatstagung in Rom eine Rolle gespielt hat -, denn auch
insofern gibt es ein Instrument, das fortentwickelbar ist.
Ich möchte all das heute nicht mehr vertiefen. Wir haben
uns entschieden - ich finde diese Entscheidung richtig
und alternativlos -, bis zu 200 unbewaffnete, zivile
OSZE-Beobachter in eine gefahrvolle Mission in den
Kosovo zu schicken.
Ich bitte den Deutschen Bundestag darum, dem Beschlußvorschlag der Bundesregierung zuzustimmen,
damit es eine Letztversicherung, eine Sicherheitsreserve
für diese Menschen in ihrem gefahrvollen Einsatz gibt.
Danke.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Überbetonung der OSZE als europäisches Sicherheitsinstrument kann man in der Koalitionsvereinbarung der neuen
Regierung nachlesen. Dort heißt es:
Die OSZE ist die einzige gesamteuropäische Sicherheitsorganisation. Das macht sie unersetzlich.
Meine Damen und Herren, unersetzlich für die europäische Sicherheit - das haben uns nicht erst die letzten
Jahre gelehrt - ist vor allem die NATO. Sie ist die einzige voll einsatzfähige, durchsetzungsfähige und damit
wirkungsvolle Sicherheitsorganisation in Europa. Niemandem nützt es, beim Thema Sicherheit Fakten nicht
zur Kenntnis zu nehmen und der OSZE mehr andichten
zu wollen, als sie sein kann, nämlich ein Instrument der
Krisenwarnung und der friedlichen Streitschlichtung.
Der Tagesordnungspunkt, über den wir heute zu
befinden haben, macht denn auch in aller Deutlichkeit
klar: Die von Herrn Außenminister Fischer erhoffte neue
Operabilität der OSZE ist nur machbar, wenn die NATO
der OSZE Deckung gibt. Wie schwer diese nüchterne
Einsicht einigen gefallen sein muß, kann man daran
erkennen, wie lange die Regierung für eine Kabinettvorlage gebraucht hat, in der es letztendlich nur um
Selbstverständlichkeiten geht. Zudem hat sie gestern auf
Fragen im Plenum und in den verschiedenen Ausschüssen höchst bemerkenswerte unterschiedliche Interpretationen geliefert.
({0})
Eine Selbstverständlichkeit aus unserer Sicht ist es, den
notwendigen militärischen Schutz für zivile Beobachter
zur Verfügung zu stellen, die wir in ein Gebiet entsenden,
in dem ausschließlich die zynische Sprache der Gewalt
gilt und in dem zur Zeit wohl niemand die Hoffnung der
Grünen teilt, man könne die entfesselte Gewalt eines
Krieges oder die menschenverachtende Politik eines
Tyrannen ohne militärische Abschreckung stoppen.
Herr Außenminister, Sie appellieren an dieses Haus an welche Seite appellieren Sie denn eigentlich mit Ihrer
Vorlage? -, der NATO die Möglichkeit zum Schutz der
unbewaffneten OSZE-Beobachter zu geben. Bei uns
brauchen Sie keinerlei Sorge zu haben. Aber es ist schon
Ball paradox, wenn die eigene Fraktion in beschwörenden Worten angesprochen werden muß, damit sie vielleicht gnädigerweise von einer ablehnenden Haltung zur
Enthaltung kommt.
({1})
Wir werden da noch einiges erleben, und wir werden da
noch einiges zu kommentieren haben.
({2})
Um Milosevics Propagandamaschine, die schon wieder läuft, von hier aus nicht unkommentiert zu lassen,
sollten wir eines feststellen - ich finde, hierin treffen wir
uns wieder -: Wenn aus Belgrad bereits jetzt wieder
Einschüchterungsversuche zu beobachten sind, die darauf hinauslaufen, die in Mazedonien zu stationierende
Truppe und das Stationierungsland zu kritisieren, dann
setzen wir dem klar entgegen, daß wir der mazedonischen Regierung für ihre Bereitschaft außerordentlich
danken und daß wir der Überzeugung sind, daß diese
Notfalltruppe alleine durch ihre Präsenz zur Stabilisierung der Situation Mazedoniens im komplizierten Geflecht Südosteuropas beitragen wird.
Ganz wohl kann sicherlich keinem von uns bei dem
Gedanken sein, daß wir 2 000 unbewaffnete Beobachter
in dieses unsichere Gebiet schicken. Aber das war wohl
das Optimale, was Herr Holbrooke hat herausholen können. Allerdings bleibt schon die Erinnerung an die in
weiße Overalls gekleideten EU-Monitore zu Beginn des
Jugoslawien-Konflikts, die nur Statistiken des Grauens
führen konnten und die man dann schließlich vor Angriffen schützen mußte.
Mir wäre es lieber gewesen, eine SFOR-ähnliche
Truppe hätte im Kosovo stationiert werden können.
Nachdem das nicht so ist, muß Milosevic klargemacht
werden, daß erstens der militärische Druck, den wir
auch und gerade durch den Beschluß des 13. Bundestages vom 16. Oktober dieses Jahres deutlich gemacht haben, im Grundsatz aufrechterhalten bleibt
({3})
und daß zweitens eine effiziente Notfalltruppe für die
OSZE-Beobachter bereitsteht. Gerade deswegen ist es
dringend notwendig, nicht nur auf die OSZE, sondern
auch auf die NATO zu setzen, ich darf hinzufügen: erfreulicherweise mit einer sehr starken, ja führenden Beteiligung unserer französischen Partner.
So kann man denn mit Verlaub auch nicht glauben,
daß die so späte Vorlage des Antrages, die ich schon angesprochen habe, alleine durch Hinweis auf NATOEntscheidungsprozesse zu entschuldigen sei. Mein Vertrauen in den militärischen Apparat der Hardthöhe ist
sehr groß, und ich bin sicher, daß die Aufstellung der
Schutztruppe keine schwierige, unlösbare Aufgabe ist.
Man muß beim Nachdenken über die Schwierigkeiten
nicht lange grübeln, um zu der Vermutung zu kommen,
daß es eigentlich darum gegangen ist, politische Ungereimtheiten innerhalb der Koalition zu überdecken.
({4})
Sie werden sich noch mehrfach anhören müssen: Wir
alle haben noch die kritischen Anmerkungen von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Aufstellung der sogenannten „Kommando-Spezialkräfte“ im Ohr. Es handelt sich
um ein Kommando, das damals aus der Situation in
Afrika heraus politisch entstanden war, als deutsche
Rundfunkjournalisten von belgischen Fallschirmjägern
entsetzt werden mußten. Gerade da ging es um die Befähigung zur Geiselbefreiung - eine Option, die in Szenario 2 des NATO-Operationsplans für die Notfalltruppe
vorgesehen ist.
Um so verwunderlicher ist es, daß diese Spezialeinheit jetzt nicht zum Einsatz kommen soll. Ich kann nur
sagen: Hört, hört, Hohes Haus!
({5})
- Frau Beer hat sich mit dem Zwischenruf sofort zu
Wort gemeldet. Sie weiß, wer gemeint ist. Wir werden
sicherlich gewundene Versuche der Erklärung von ihr
hören.
Ich will nicht die Sinnhaftigkeit militärischer Planungen diskutieren. Herr Verteidigungsminister, wir gehen
davon aus, daß die unbenommen dem Antrag gefundenen vieldeutigen Worte die am besten geeigneten - Wo ist denn der Herr Verteidigungsminister? Gestern
bei der Regierungsbefragung war er auch nicht da.
({6})
Christian Schmidt ({7})Christian Schmidt ({8})Christian Schmidt ({9})
- Da ist er. Ich grüße Sie, Herr Verteidigungsminister.
({10})
- Ich habe gestern in der Regierungsbefragung zu diesem Thema Fragen gestellt, und kein Vertreter des Verteidigungsministeriums war anwesend.
Herr Verteidigungsminister, ich bin sicher, daß Ihnen
daran gelegen ist, diesen Verdacht zu zerstreuen, und
zwar nicht den Verdacht, daß Sie gestern die Regierungsbefragung versäumt haben, sondern daß parteiideologische Überlegungen in die Praxis der militärischen Operationsplanung hineingespielt haben könnten.
Die CDU/CSU-Fraktion stimmt dem Antrag zu; aber
wir werden im Sinne der Betroffenen die weitere Entwicklung sehr genau unter die Lupe nehmen. Dazu werden wir auch bei den Beratungen für den Haushalt 1999
Gelegenheit haben, wenn es um die Frage geht, ob Unterstützungsmissionen, die die Bundeswehr auszuführen
hat, im Rahmen des Einzelplans 14 oder von anderer
Seite finanziert werden. Das sei nur am Rande gesagt.
Wir haben ein großes Interesse daran, daß alle diejenigen, die an der Beobachtermission teilnehmen, optimal
geschützt sind. Deswegen unsere Sorge, deswegen unsere Fragen an die Regierung.
Den Soldaten, die in den Einsatz im Kosovo gehen,
der hoffentlich nicht stattfinden muß, wünschen wir alles Gute. Ich stimme mit Ihnen, Herr Außenminister,
überein: Es ist kein ungefährlicher Einsatz; deswegen
muß alles mit Bedacht, aber auch im Sinne der besten
Lösung - das heißt für uns, die besten Kräfte dorthin zu
schicken - getan werden. Wir werden sehr genau beobachten, was hierzu in der nächsten Zeit noch passiert.
({11})
Das Wort hat
jetzt der Herr Verteidigungsminister Rudolf Scharping.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Vielleicht sollte ich allen Kolleginnen und Kollegen im
Hause noch einmal ins Gedächtnis rufen, daß der
NATO-Rat am Freitag, dem 13. November den Operationsplan für diese Notfall- und Risikovorsorge gebilligt
hat. Es handelt sich um den Freitag der vergangenen
Woche. Es wird für die Beurteilung durch das Haus
vielleicht auch von Interesse sein, daß die Rules of Engagement gestern im NATO-Rat gebilligt worden sind.
Wenn vor diesem Hintergrund - mehr oder weniger
künstlich - ein Vertreter der CDU/CSU-Fraktion den
Vorwurf erhebt, die Bundesregierung habe zögerlich gehandelt,
({0})
wo sie doch ihren Antrag in der ersten Sitzung des
Bundeskabinetts, unmittelbar nach der Verabschiedung
des Operationsplanes und vor der Billigung der Rules
of Engagement gestellt hat, dann finde ich das einigermaßen erstaunlich. Dahinter kann ich nur das Bedürfnis
erkennen, in einer Frage, die hinsichtlich der politischen
Beurteilung unstreitig ist, noch wenigstens ein Minimum
von Streit vom Zaune zu brechen. Das aber ist in diesem
Fall alles andere als angebracht.
({1})
Es ist deshalb nicht angebracht, weil wir einen der ganz
wenigen Fälle haben, in denen in einer hochrisikoreichen Situation OSZE und NATO in einer klugen Arbeitsteilung zusammenwirken, auf der Grundlage internationaler Abkommen, auf der Grundlage von Resolutionen der Vereinten Nationen, auf der Grundlage von
Beschlüssen des Ständigen Rates der OSZE.
Deshalb glaube ich, daß es der Sache mehr dient, Sie
darüber zu informieren, daß der Operationsplan vorsieht,
in Notfallsituationen das Personal der OSZE mit militärischen Kräften aus dem Kosovo herausziehen zu können, wenn die Bundesrepublik Jugoslawien ihren eingegangenen Schutzverpflichtungen nicht nachkommt oder
nicht nachkommen kann, was sich hier und da wegen
des Verhaltens der UCK im Kosovo durchaus als Risiko
ergeben kann. Eine solche Notfallsituation wäre beispielsweise vorhanden, wenn Leib oder Leben einzelner
Verifikateure gefährdet wäre oder wenn diese mit Gewalt an ihrer Bewegungsfreiheit gehindert würden und
eine Evakuierung durch die OSZE selbst ausgeschlossen
wäre. So ist es ausdrücklich in den entsprechenden Unterlagen vorgesehen.
Der Einsatz der Streitkräfte ist im übrigen in drei
Szenarien abgestuft. Szenario eins geht von einer graduellen Zunahme bewaffneter Zwischenfälle und der
Evakuierung in einem relativ friedlichen Umfeld trotz
des einen oder anderen bewaffneten Zwischenfalls aus.
Szenario zwei geht davon aus, daß es direkte Übergriffe
in einem begrenzten Gebiet geben könnte, aber möglicherweise - das zeigt die Erfahrung in Bosnien und Herzegowina - verbunden mit Geiselnahmen. Ein drittes
Szenario geht davon aus, daß das vollständige Herauslösen des Verifikationspersonals und übrigens auch, soweit das irgend möglich ist, der Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter von zivilen Hilfsorganisationen notwendig
werden könnte.
Auch da will ich mit Blick auf die Bemerkungen, die
gerade gemacht wurden, sagen, daß der deutsche Beitrag
bei allen diesen Szenarien sichergestellt ist. Die Bundesrepublik Deutschland wird sich mit Hilfe der Bundeswehr an allen drei Optionen dieser möglichen Operation
mit einer verstärkten Kompanie und den dazugehörigen
Kräften beteiligen, einschließlich des notwendigen Hafenpersonals, Luftumschlagkräften etc. Dazu zählt auch
das Personal für die internationalen Hauptquartiere und
für die Beteiligung an der NATO-Luftüberwachung.
Sie wissen, das deutsche Kontingent wird zunächst
bis zu 250 Soldaten umfassen, wovon zur Zeit 190
Dienstposten ausgeplant sind. Das muß ich Ihnen deshalb sagen, weil Frankreich dankenswerterweise nicht
nur die Rolle der sogenannten „lead nation“ übernimmt
und damit die Hauptlast der ganzen Operation trägt, was
Christian Schmidt ({2})
ein bedeutsamer politischer Fortschritt ist, sondern weil
die Planungen im einzelnen auch noch gar nicht abgeschlossen sind, so daß wir uns hier zum Teil auf einem
Boden bewegen, der es notwendig macht, zu sagen: Wir
haben zur Zeit 190 Leute ausgeplant, aber wir beantragen bis zu 250, um im Hinblick auf die Verhandlungen
und Gespräche einen gewissen Spielraum zu haben.
Übrigens: Die Vereinbarung mit Mazedonien wird
hoffentlich bald getroffen, denn nach dem Ausgang der
Wahlen und der Nachwahlen kann man hoffen, daß die
Regierung bald gebildet ist. Sollte es beispielsweise im
Zusammenhang mit einem entsprechend risikoreichen
und gefährlichen Szenario notwendig werden, aus
Deutschland oder aus anderen Ländern weitere Kräfte
zur Verfügung zu stellen, dann erfordert das selbstverständlich erneut eine entsprechende Zustimmung des
Deutschen Bundestages. Ich möchte Ihnen aber sagen,
daß wir auch darauf vorbereitet sind.
Insgesamt ist meine Bitte, daß das Haus mit großer
Mehrheit, wie sich das Gott sei Dank auch bei den früheren Entscheidungen abgezeichnet hat, dem Antrag der
Bundesregierung zustimmt
({3})
und daß wir uns im übrigen die Versuchung versagen, in
einer Situation, in der wir Menschen, sowohl die Verifikateure der OSZE als auch die Soldaten der Bundeswehr, in einen sehr risikoreichen, möglicherweise gefährlichen Einsatz schicken, hier in vordergründige parteipolitische Kleinkrämerei zu verfallen. Das nutzt den
Menschen und übrigens auch dem Auftrag nicht.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Günther Friedrich Nolting.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die F.D.P.Bundestagsfraktion wird dem Antrag der Bundesregierung zustimmen. Nur, Herr Außenminister Fischer, es
hätte Ihrer Überzeugungskünste wahrlich nicht bedurft,
damit die F.D.P. hier heute zustimmt. Sehen Sie es mir
nach: Wenn ich Sie heute hier reden höre, komme ich
mir vor wie im falschen Film.
({0})
Aber ich gratuliere Ihnen, daß es Ihnen gelungen ist,
Ihre eigene Fraktion zu überzeugen, und ich hoffe im
Interesse des gesamten Hauses, daß es Ihnen auch noch
gelingen wird, die PDS zu überzeugen. Sie haben ja
hier, wenn ich es richtig gesehen habe, überwiegend in
Richtung der linken Ecke gesprochen.
Meine Damen und Herren, 2 000 OSZE-Beobachter
werden in Kürze eine unbewaffnete Mission beginnen.
Deutschland beteiligt sich an dieser bedeutenden Aufgabe mit zirca 200 Beobachtern. Herr Außenminister, wir
sind mit Ihnen einig: Dies ist eine schwierige Aufgabe,
eine bedeutende Aufgabe. Es ist aber keine ungefährliche Aufgabe, sondern eine äußerst gefährliche.
Die Bundesrepublik Jugoslawien ist zwar auf Grund
ihrer Vereinbarung mit der OSZE zum Schutz dieser
Beobachter verpflichtet. Aber wissen wir, ob sich Milosevic und sein unberechenbares Regime an die eingegangene Verpflichtung halten werden? Haben wir nicht
in den vergangenen Jahren allzuoft erlebt, daß Vereinbarungen gebrochen oder umgangen wurden, bevor die
Tinte der Unterschrift getrocknet war?
Deshalb sind wir gezwungen, vorbeugende Maßnahmen zu treffen, Maßnahmen, die uns ein eigenständiges
und äußerst wirkungsvolles Handeln erlauben. Unter
keinen Umständen dürfen wir Leib und Leben der OSZE-Beobachter in die Disposition des Belgrader Regimes stellen. Wir dürfen sie nicht zum Spielball der Launen und des - häufig genug - menschenverachtenden
Handelns von Milosevic werden lassen. Ich wiederhole
an dieser Stelle: Die Bundesrepublik Jugoslawien hat
sich auch ausdrücklich verpflichtet, eine Evakuierung
der OSZE-Verifikateure im Notfall zu gestatten.
Soldaten aus Frankreich, aus Italien, aus Großbritannien und den Niederlanden werden gemeinsam mit Soldaten der Bundeswehr die sogenannte Extraction Force
bilden, die in Mazedonien stationiert wird. Hoffentlich
sorgt allein ihre Präsenz dafür, daß alle OSZEBeobachter ihre wichtige Arbeit unbeeinträchtigt und sicher durchführen können.
Herr Minister Scharping, Sie haben davon gesprochen, hier werde ein Streit vom Zaun gebrochen. Wir
wollen Soldaten nach Mazedonien schicken, die bestens
ausgebildet sind, die bestens ausgerüstet sind, und dazu
gehören für uns auch Soldaten von KSK. Wir haben uns
ja im Verteidigungsausschuß darüber unterhalten, und
Sie haben dort nicht ausgeschlossen, daß auch Soldaten
von KSK eingesetzt werden. Sie sprechen hier von
Streit. Dazu will ich Ihnen sagen: Wir hätten uns gefreut, wenn die frühere Opposition uns so unterstützt
hätte, wie wir dies heute hier im Parlament tun werden.
({1})
Meine Damen und Herren, wir haben gestern ja auch
im Verteidigungsausschuß über dieses Thema diskutiert.
Ich habe mich gefreut - das sage ich ganz offen -, daß
es dort eine einhellige Zustimmung zum Antrag der
Bundesregierung gibt. Ich denke, die OSZE-Beobachter
und auch unsere Soldaten brauchen diese breite Zustimmung, und sie haben diese breite Zustimmung zweifellos verdient. Ich denke, dies trifft auch für die Einsätze der vergangenen Jahre zu. Deshalb sage ich auch an
dieser Stelle, daß die bisherige Verweigerung der Grünen falsch war. Ihre Behauptung, die sie noch bis zum
27. September dieses Jahres aufgestellt haben, es handle
sich um die Militarisierung der Außenpolitik, ist geradezu abwegig, geradezu abstrus.
({2})
Ich denke, dieser Gesinnungswandel ist auch die
nachträgliche Anerkennung - ich sage: die verdiente
Anerkennung - der Richtigkeit der Außenpolitik der liberalen Außenminister Scheel, Genscher und in den
letzten sechs Jahren vor allem Klaus Kinkel.
({3})
Ich will mich für diese Unterstützung noch einmal ausdrücklich auch bei den Grünen bedanken.
Erlauben Sie mir zum Abschluß, noch darauf hinzuweisen, daß es der Kollege Ulrich Irmer aus der F.D.P.Bundestagsfraktion war, der gesagt hat, wir bräuchten
ein Abkommen für den Kosovo analog zum DaytonAbkommen. Herr Minister Fischer, ich denke, Sie sind
hier gefordert, solch eine Initiative zu ergreifen. Auch
hierbei sichern wir Ihnen unsere Unterstützung zu.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Helmut Lippelt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Schmidt und Herr Nolting, es ist schon bemerkenswert,
wenn Sie dem Außenminister unterstellen, er rede nur zu
uns, und wenn Sie, Herr Schmidt, nicht sehen, daß es bei
der Grundentscheidung vom 16. Oktober, über deren
Folgen wir hier reden, auch in Ihrer Fraktion immerhin
zwei Enthaltungen gab. Auch bei uns hat es einige Enthaltungen gegeben. Hier muß also wirklich mit Überzeugungskraft geredet werden.
Außerdem finde ich es schon erstaunlich, Herr
Schmidt, daß Sie, wenn Sie hier den Streit darüber, ob
NATO oder OSZE, vom Zaun brechen, die NATO in
der Tat so verinnerlicht haben, daß Sie die Entscheidungsgänge schon schneller vornehmen, als sie sich in
den NATO-Gremien selbst abspielen. Ebenso erstaunt
mich, daß Sie dabei nicht bemerken, daß wir heute über
den bedeutendsten OSZE-Einsatz und dessen Absicherung sprechen. Wir sprechen jetzt nicht über die wirklich hoffnungslosen Situationen, in denen es immer
hieß: Wir verhandeln. - Aber dann passierte nichts, und
das Militär mußte eingreifen.
Wir sprechen hier über eine Politik, bei der wir mit
der OSZE versuchen, einen Konflikt im Konflikt mit zivilen Mitteln zu bewältigen. Ich denke, das ist ein ganz
großer Fortschritt in der Außenpolitik. Es ist bemerkenswert, wie sehr sich Herr Schmidt in unseren Begriff
der „Militarisierung der Außenpolitik“ verliebt hat, den
wir sehr gern benutzen. Wir sind jetzt auf einem anderen
Wege. Das sollte man begrüßen. Wir wollen hoffen, daß
auch Sie solche Wege nachvollziehen können, damit wir
uns hier einen überflüssigen Streit ersparen können.
({0})
Wir als Deutsche antworten heute auf das dringende
Ersuchen des polnischen Außenministers - auch das ist
zu erwähnen -, der gleichzeitig der amtierende Präsident
der OSZE ist, auf Schutz der 2 000 OSZE-Beobachter.
Meine Fraktion wird dem Stattgeben des Ersuchens zustimmen.
({1})
- Das kommt noch hinzu: Wir sprechen über Extraction
in speziellen Notfällen.
Deshalb ist die Diskussion über den Einsatz von Soldaten der KSK an dieser Stelle völlig überflüssig. Sie
selbst wissen, daß in den Operationsplänen noch ganz
andere Dinge angedacht sind, die man aber, so denke
ich, nicht beschließen muß, bevor die Notwendigkeit dazu besteht; denn sonst wird durch solche Beschlüsse die
politische Flexibilität vermindert, die wir für die Erstikkung eines Konfliktes mit friedlichen Mitteln dringend
brauchen.
Schlußwort: Vieles bleibt offen. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß wir jetzt zwei oder drei Wintermonate lang Atempause haben. Wir wissen, daß sowohl die serbische Seite - also die serbische Armee wie auch die albanische Seite die Zeit zur Regruppierung nutzen. Um so dringender ist natürlich der Appell,
diese Monate intensiv politisch zu nutzen, um so dringender der Appell, den wir auch an die albanische Seite
richten sollten, endlich eine verantwortliche Führung,
die sowohl die militärische als auch die politisch legitimierte Seite umfaßt, einzusetzen, so daß es keine einseitigen Erklärungen mehr gibt, sondern Verträge auch mit
dieser Seite möglich sind.
Um so dringender ist die Ermahnung an die serbische
Seite, nicht immer nur zu sagen: Wir wollen ja verhandeln, aber wir wollen keine Dritten dabeihaben bzw. wir
stellen sie in die Kulisse.
Verhandlungen zwischen Albanern und Serben sind
nur möglich, wenn eine dritte Seite da ist und wenn diese von der serbischen Seite nicht kleingeredet wird. Wir
hoffen sehr, daß die Serben über ihren Schatten springen
können, so daß wir zu wirklich vertrauensaufbauenden
Verhandlungen kommen, und die Wintermonate dazu
genutzt werden.
Deshalb ist nach der Unterstützung für die Sicherheit
der OSZE-Beobachter, die wir heute geben, die politische Seite wieder um so dringender gefordert.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachdem der Bundesaußenminister, wie mir schien, versucht hat, meiner
Fraktion ins Gewissen zu reden,
({0})
will ich zu Beginn meiner Ausführungen sagen, daß ich
einige der Gründe, die der Außenminister genannt hat,
verstehen kann, wenn ich sie auch für falsch halte.
Vielleicht ist es umgekehrt möglich, die Sorge anderer
zu verstehen, auch wenn man sie für falsch hält.
Im übrigen ist meine Auffassung von einem Meinungsaustausch nicht, daß man mit einer Meinung hineingeht und mit der des anderen wieder herauskommt.
Das heißt, man muß sich schon auf eine Debatte einlassen.
Die Bundesregierung begründet ihren Antrag unter
anderem damit, daß die Entsendung unbewaffneter Beobachter im Rahmen der OSZE auch deren Schutz im
Notfall nach sich zieht. Daß zivile OSZE-Beobachter
geschützt werden müssen, steht für mich außer Frage.
Diesen Schutz hat vertraglich in vollem Umfang die Republik Jugoslawien übernommen. Aus dieser Verpflichtung können und wollen wir sie nicht entlassen.
Die Sicherheit der OSZE-Beobachter kann letztlich nur
durch Jugoslawien selbst gewährleistet werden.
Ich befürchte, daß die Stationierung von NATOEinheiten in Mazedonien nicht mehr Schutz bietet,
sondern das Risiko erhöht. Es gibt im Kosovo politische
Kräfte, deren erklärte Strategie und Wunsch es ist, eine
NATO-Intervention zu provozieren. NATO-Truppen in
der unmittelbaren Nachbarschaft - welch eine wunderbare Steilvorlage für diese Kräfte.
Zusätzlich wird mit der NATO-Stationierung in Mazedonien ein weiteres Land auf dem Balkan destabilisiert. Die Bundesregierung - auch der Außenminister
sprach darüber - versucht, den Eindruck zu erwecken,
als gäbe es zwischen der Entsendung unbewaffneter
OSZE-Beobachter und der Stationierung von NATOVerbänden einen zwingenden inneren Zusammenhang.
Dies ist aus meiner Sicht mitnichten der Fall.
({1})
Mit der Stationierung wird hintenherum das Militärbündnis NATO doch noch ins Geschäft gebracht, nachdem es politisch der zivilen OSZE das Feld überlassen
mußte.
Liegt es da so fern, in diesem Umstand die eigentliche Begründung zu sehen? Wenn ich dann noch lese,
daß der Verteidigungsminister gerade diese Truppenstationierung als Ermutigung für seine WEU-Pläne sieht,
habe ich den Eindruck, daß es bei der Stationierung
nicht nur um die Sorge für die OSZE-Beobachter geht.
({2})
Die Truppenstationierung in Mazedonien hat unübersehbar eine militärische Drohfunktion. Wir debattieren
hier nicht nur über den Einsatz von 250 Mann, sondern
für den Fall, daß der Notfall tatsächlich eintritt, über den
möglichen Einsatz des gesamten SFOR-Kontingents,
über eine Dimension von mehreren tausend deutschen
Soldaten; so steht es jedenfalls im Regierungsantrag. Ich
glaube sagen zu können: Man sieht, Militärbündnisse
sind für nichtmilitärische Lösungen nicht geeignet.
({3})
Dünn ist aus meiner Sicht auch die rechtliche Argumentation der Bundesregierung. Das Notwehrrecht
nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen kann
völkerrechtlich nicht herangezogen werden. Im Vertrag
mit Jugoslawien ist die Stationierung von NATOTruppen nicht verankert. Vertragliche Vereinbarungen
mit Mazedonien und der OSZE liegen bis zur Stunde
nicht vor. Der von der Regierung benutzte Ausdruck, sie
befänden sich im Regelungsprozeß, kann darüber nicht
hinwegtäuschen. Nach dem Motto „Steter Tropfen höhlt
den Stein“ wird seitens der NATO das Gewaltmonopol
des UN-Sicherheitsrates ausgehöhlt. Das wollen wir
nicht mitmachen.
({4})
Es ist tragisch, daß sich auch die neue Regierung auf
den ausgetretenen Wegen einer alten Politik fortbewegt,
gehetzt von einer außenpolitischen Krise zur anderen,
und nicht die Kraft findet, aus diesem Teufelskreis von
immer neuer Gewalt auszubrechen. Sie täuschen sich,
Herr Außenminister, wenn Sie glauben, daß die Drohung mit Gewalt oder mit dem Einsatz derselben letztlich doch erfolgreich sei, auch dann, wenn einzelne Entscheidungen einen solchen Eindruck rechtfertigen.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Kollege Gehrcke, ich
bräuchte viel Zeit, wenn ich die Anträge Ihrer Fraktion
zur Unterstützung einer größeren Rolle, die die OSZE
im internationalen Leben spielen soll, aufzählen würde.
Können Sie dem Hohen Haus einmal erklären: Was für
eine Logik besteht darin, daß Sie auf der einen Seite diese Anträge einbringen, daß Sie aber auf der anderen
Seite keinen Vorschlag machen, wie man OSZEVertreter dafür gewinnen soll, unbewaffnet in eine gefährliche Region zu gehen, und was eigentlich passieren
soll, wenn sie dort in Gefahr geraten? Können Sie einmal Ihren Standpunkt erklären?
({0})
Das Angebot, das wir unterbreiten, ist, sich auf zivile Konfliktlösung zu konzentrieren und vertragliche Vereinbarungen ernst zu nehmen.
({0})
Wenn man mit der Bundesrepublik Jugoslawien einen
Vertrag abschließt, in dem nichts von Entsendung einer
NATO-Truppe steht, muß man diesen Vertrag auf der
eigenen Seite so ernst nehmen, wie man es vom Vertragspartner erwartet, sonst wird aus dem Völkerrecht
ein Schweizer Käse, der für die Weltgemeinschaft unverdaulich ist.
({1})
Die Bundesregierung ist auf einem falschen Wege,
wenn sie glaubt, daß diese Probleme mit Gewalt zu lösen sind, auch wenn Einzelerscheinungen einen solchen
Eindruck rechtfertigen mögen. Jeder auf diese Weise
„gelöste“ Konflikt zieht einen neuen Konflikt nach sich,
auf den dann wieder mit Gewalt reagiert wird.
Ich komme zum Schluß. Es ist für mich bedrückend,
daß wir in fast jeder Sitzungswoche gefordert sind, deutsche Soldaten und Kriegsgerät in die Welt hinauszuschicken.
({2})
Aus diesen Gründen lehnen wir den Antrag ab und hoffen, daß sich auch Kolleginnen und Kollegen anderer
Fraktionen zu einer solchen Gewissensentscheidung
durchringen können.
Schönen Dank.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christoph Zöpel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute fassen wir
seit Mitte Oktober den dritten Beschluß, um einen Beitrag zur inneren Sicherheit des Kosovo zu leisten. Diese
innere Sicherheit des Kosovo ist allerdings auch in einer
Weise gefährdet, die durch den Strom von Flüchtlingen,
überwiegend albanischer Herkunft, Auswirkungen auf
andere Teile Europas hat.
Ursache für dieses humanitäre Desaster im Kosovo
ist das Zusammentreffen von zwei historischen Entwicklungen, die den demokratisch-zivilgesellschaftlichen Werten Europas widersprechen: dem Zusammentreffen von Elementen eines totalitären politischen
Systems, das aus der Zeit vor 1989 in die Gegenwart
hineinragt, und den Auswüchsen eines extremen Nationalismus auf beiden Seiten, der sich in Gewalt gegen
andere ethnische Gruppen niederschlägt.
Gegen einen Teil dieser Gewalt, gegen die Gewaltanwendung durch serbische Streitkräfte, half nur - dieses Vorgehen ist leider weiterhin ohne Alternative - die
Androhung von überlegener militärischer Gewalt durch
die NATO. Wie von allen gewünscht, mußte die Gewalt
nicht angewendet werden. Ein weiteres Mal hat, wie im
kalten Krieg, die Androhung mit Gewalt gereicht, um
sie nicht anwenden zu müssen.
({0})
Da der Bundestag zwar verpflichtet ist, dem Einsatz
von Soldaten zuzustimmen, er aber nicht verpflichtet ist,
dem Einsatz von Friedenskräften zuzustimmen - mir
liegt daran, diesen Punkt deutlich zu machen -, komme
ich auf das eigentliche Ereignis, um das es geht. Die
Folge war die historisch erstmalige Vereinbarung, daß
unbewaffnete Kräfte der OSZE eingesetzt werden, um
einen Konflikt einzudämmen und vielleicht zu beenden.
Ich glaube, ohne Übertreibung sagen zu können: Wir
stehen hier in einer historisch neuen Situation.
({1})
Durch das Abkommen von Helsinki im Jahre 1975
wurde erträumt - damals wohl nur von den westlichen
Signatarstaaten - und 1989 durch die Charta von Paris
wurde deklarativ vereinbart, zu einer europäischen Zivilgesellschaft zu kommen, in der sich alle Europäer
gemeinsam um ihre innere Sicherheit bemühen. Dieser
Einsatz ist ein erster Schritt der OSZE, zu prüfen, wie
das umgesetzt werden kann.
({2})
Indem dieser Einsatz vertraglich vereinbart wurde,
stellt sich nun eine neue konkrete Frage: Wie kann die
persönliche Sicherheit von Menschen garantiert werden,
die sich bereit erklären, unbewaffnet in ein Konfliktgebiet zu gehen? Da machen abstrakte Überlegungen wenig Sinn. Ich glaube, kaum jemandem wird man vermitteln können, er müsse, solle oder dürfe in ein Krisengebiet gehen, wobei nicht ausgeschlossen werden könne,
daß es weiterhin zu Gewaltanwendung komme, wenn
man ihm nicht sagt, was im Krisenfall zur Gewährleistung seiner persönlichen Sicherheit geschieht. Das muß
man sagen. Dazu hat es Überlegungen gegeben. Darüber
wird heute eine Entscheidung getroffen. Ich sehe sie als
alternativlos notwendig an.
({3})
Die Sicherheitskräfte, die in der Republik Mazedonien stationiert sein werden, kommen aus fünf Ländern:
aus Frankreich, das die militärische Führung übernimmt,
aus Großbritannien, aus Italien, aus den Niederlanden
und aus Deutschland, also nur aus europäischen Ländern. Darüber wird diskutiert. Es wird die Frage gestellt,
warum sich die Vereinigten Staaten nicht beteiligen.
Meine Bewertung dazu lautet: Es liegt in der Logik der
OSZE, daß diese Aufgabe allein von Europäern übernommen wird.
({4})
Offenkundig bleibt eines erforderlich: Wo als Voraussetzung für die Vermeidung militärischer Gewalt
weiterhin die Androhung überlegener Gewalt notwendig
ist, geht dies nur innerhalb der NATO unter Beteiligung
der Vereinigten Staaten. Dazu benötigen wir dieses
Bündnis. Aber die Frage, wie die europäische Zivilgesellschaft dauerhaft gemeinsam ihre innere Sicherheit
regeln kann, können letztlich nur die Europäer gemeinsam beantworten.
({5})
Insoweit halte ich es für historisch richtig - das sollte
von uns so aufgefaßt werden -, daß dieser Einsatz nur
von Europäern unternommen wird. Sie werden sich natürlich weiter auf die Vereinigten Staaten verlassen können. Der Einsatz in Mazedonien, den wir hier beschließen, ist ja gekoppelt an die Mission der SFOR-Truppe,
der die Vereinigten Staaten angehören.
Manche diskutieren über diese Situation abstrakt. Dazu trägt aus meiner Sicht falsches Vokabular im Rahmen
europäischer Sicherheitspolitik bei. Das Bild von der
europäischen Sicherheitsarchitektur, die entworfen
und geplant werden muß, führt in die Irre. Wir sollten in
diesen Monaten und Jahren gelernt haben: Der Weg zu
einer gemeinsamen Sicherheit - ich wiederhole diese
Vokabel: zu einer gemeinsamen inneren Sicherheit - einer mehr und mehr vernetzten europäischen Zivilgesellschaft ist ein Prozeß, den man nicht planen kann. Dies
ist ein Prozeß, den man, orientiert an Werten, leiten
kann. Das ist das, was wir tun. Wir brauchen für ganz
Europa die Werte der Demokratie und der Zivilgesellschaft. Sie bestimmen den Prozeß, in immer wieder neuen Situationen und durch immer neue Entscheidungen
festzustellen, wie die Instrumente, die wir besitzen,
möglichst häufig die OSZE und möglichst selten die
NATO - aber es geht weiterhin offenkundig nicht ohne
die NATO -, eingesetzt werden können. Das ist der
Weg.
Keiner wird planen können, wie die Garantie innerer
Sicherheit in Gesamteuropa zum Schluß aussieht und
wann dieser Prozeß zu Ende ist. Er wird nur gelingen,
wenn wir uns an den Werten orientieren, um die es mir
geht, wenn wir an der Ablehnung von totalitären Systemen und übertriebenem Nationalismus festhalten und
versuchen, Schritt für Schritt mit den der OSZE zur Verfügung stehenden Mitteln - also möglichst ohne militärische Lösungen - irgendwann einmal in die Lage versetzt zu werden, daß es in Europa nur noch normale
Polizisten gibt, die unvermeidbare Konflikte lösen.
({6})
Weil wir diesen Prozeß für immer wieder unvorhersehbare Ereignisse wollen, stimmen wir, die SPDBundestagsfraktion, heute der Vorlage der Bundesregierung zu.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Christian Schwarz-Schilling.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben die deutsche Beteiligung an der OSZEMission im Kosovo beschlossen. Der Schutz der zivilen
Mitarbeiter, die in einer Notsituation unbewaffnet in ein
gefährliches Krisengebiet gehen, ist eine moralische
Verpflichtung aller, die diese Entscheidung getroffen
haben.
({0})
Auch diejenigen, die diese Entscheidung nicht mitgetragen haben, müßten heute zu dem Schluß kommen: Da
dies so entschieden wurde, muß ich für den Schutz dieser Leute als Zivilisten aufkommen. Das sollten Sie sich
noch einmal sehr genau vor Augen führen, Herr
Gehrcke.
({1})
Die CDU/CSU-Fraktion ist deswegen uneingeschränkt
für die Drucksache 14/51, wie gestern auch vom Ausschuß beschlossen.
Die Historie zu diesen Beschlüssen ist nicht nur erfreulich. Bis zum Herbst waren es verbale Reaktionen
der westlichen Staatengemeinschaft auf die sich aufheizende Lage im Kosovo: verzweifelte Appelle der Betroffenen und der internationalen Hilfsorganisationen sowie
die Dauerreisen von Herrn Rugova, der verzweifelt versuchte, uns den Ernst der Lage klarzumachen und damit
die immer stärkere Bedeutung der bewaffneten Kräfte
der UCK, weil nichts geschehen ist.
Es ist leider nicht fünf Minuten vor zwölf, sondern
zehn Minuten nach zwölf. Es gab in den letzten Monaten mehr als 300 000 Flüchtlinge. Ein Drittel aller Häuser ist total zerstört, ein weiteres Drittel schwer beschädigt, also nur noch ein Drittel bewohnbar. Wieviel Geld
das kostet, kann sich jeder ausrechnen.
Es war ein Fehler, diese Maßnahmen nicht schon im
Frühjahr einzuleiten. Wir alle, die wir die Verhältnisse
dort kannten, haben das gefordert. Erst als der Winter
nahte und sich der Schrecken breitmachte, welche Bilder
es wieder im Fernsehen zu Weihnachten geben könnte,
gab es eine gewisse Erregung unter den Politikern: Das
können wir ja wohl nicht zulassen. Und so wurden dann
die Sicherheitsratsresolutionen 1199 vom 23. September
und 1203 vom 24. Oktober verabschiedet. Auf dieser
Grundlage ist das Drohpotential der NATO aufgebaut
worden, und durch ein Bündel von Maßnahmen ist bei
den Verhandlungen von Herrn Holbrooke einiges erreicht worden. Das ist erfreulich.
Die Verhinderung eines erneuten Genozids, einer total verbrannten Erde und riesiger Flüchtlingsströme, die
unausweichlich gewesen wären, wenn diese Maßnahmen nicht getroffen worden wären, wurde nur durch die
militärische Drohung möglich. Durch nichts anderes
wäre dieser Erfolg erreicht worden.
({2})
Meine Damen und Herren, welcher Erfolg ist dies
auch in der deutschen Bewußtseinslage, wenn ich einmal an die Situation in Bosnien im Jahre 1992/93 denke,
als wir zuschauten und nur durch Argumente, warum
Deutsche nicht beteiligt sein dürfen, erklärt haben, daß
wir eine entsprechende internationale Intervention für
uns nicht als gegeben ansehen. Die CDU/CSU war noch
am mutigsten, indem sie die Möglichkeiten, die sich
boten, ergriffen hat. Über die F.D.P. will ich nicht weiter
sprechen; dort gab es eine gewisse Verwirrung.
({3})
Die SPD war weit von einer Position wie jener der
CDU/CSU entfernt. Sie hat Prozesse gegen die Bundesregierung angestrengt wegen einiger Schiffe in der Adria
- das muß man sich einmal vorstellen -, mit denen wir
ein wenig bei der Beobachtung geholfen haben.
Lieber Herr Lippelt, die Grünen waren noch in einer
Fundamentalopposition. Ich muß Ihnen natürlich eines
zugestehen: Wenn Sie mit diesem Tempo bei der Veränderung Ihrer Positionen weitermachen, könnten Sie
hier einmal die Spitze sein. Dazu herzlichen Glückwunsch.
({4})
Aber wir dürfen die Gefahren für die Zukunft nicht
vergessen. Durch diesen Auftrag der OSZE und durch
unseren Beschluß ist keine militärische Absicherung gegeben. Es ist eine schlechtere Ausgangslage als in Bosnien, wo es noch vor Ort UNPROFOR-Kräfte zum
Schutz der UNHCR-Mitarbeiter gab. Hier gibt es keine
bewaffneten Kräfte vor Ort. Das ist natürlich ein Ergebnis der Holbrooke-Verhandlungen.
Die Menschen dort werden nicht geschützt. Es liegt
genau der gleiche Fehler wie in Bosnien-Herzegowina
vor. Da hat man Friedenszonen etabliert, und die Mitarbeiter der internationalen Organisationen sind, als es
brenzlig wurde, mit ihren Hubschraubern verschwunden,
und das Massaker in Srebrenica konnte beginnen. Das
ist hier vielleicht noch eher möglich als in Bosnien.
Deshalb müssen der Verteidigungsminister und der
Außenminister, bevor es zum Einsatz der Extraction
Force kommt, schon darüber nachgedacht haben, für
welche Begleitmaßnahmen Vorbereitungen getroffen
werden müssen - etwa NATO-Luftangriffe -, um dort
Massaker zu verhindern. Wir dürfen nicht nur unsere
eigenen Leute schützen, vielmehr müssen in einem entsprechenden Fall schnellstens neue Beschlüsse gefaßt
und umgesetzt werden, um etwas Ähnliches wie das,
was in Srebrenica passierte, nicht wieder eintreten zu
lassen.
Die „local police“ muß eine ausreichende Exekutivgewalt bekommen. Denn wie sollen die Flüchtlinge, die
in die Gebiete zurückkehren sollen, von denen sie wissen, daß dort serbische Polizei ist, ein Gefühl der Sicherheit bekommen, wenn nicht die lokale Polizei eine
entsprechende Exekutivgewalt erhält?
Es müssen Verwaltungshilfen und Finanzhilfen in
großem Umfang für das Kosovo und die es umgebenden
Staaten zur Verfügung gestellt werden.
Wir müssen Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit
und Medienfreiheit bei Herrn Milosevic mit Nachdruck
einklagen - und zwar jede Woche, täglich. Sonst stehen
wir auf einer schiefen Bahn zum Abgrund; das muß uns
klar sein.
({5})
Herr Bundeskanzler, Sie haben in der Debatte am 16.
Oktober gesagt:
Die Umsetzung des von Holbrooke erreichten Verhandlungsergebnisses wird uns vor weitere schwierige Aufgaben und Entscheidungen stellen.
Sehr wahr! Sie wollen „Frieden und Stabilität in diesem
Teil Europas“ schaffen. Meine Fraktion wird Ihnen sicherlich in dieser Frage jede Unterstützung zukommen
lassen. Auch ich werde meine Funktion als internationaler Streitschlichter weiter intensivst ausüben und werde Ihnen natürlich in gleicher Weise wie der vorherigen
Regierung zur Verfügung stehen. Sie haben das Glück,
das Amt des Bundeskanzlers zu einem Zeitpunkt übernommen zu haben, in dem es einen großen Konsens in
diesem Hause gibt. Nutzen Sie ihn schnell! Es könnte
auch wieder anders werden.
Ich danke Ihnen.
({6})
Herr Kollege
Schwarz-Schilling, ich möchte Ihnen im Namen des
Hauses zu Ihrem heutigen Geburtstag gratulieren.
Ich habe das gerade erfahren. Ich wünsche Ihnen alles
Gute.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zu
den Abstimmungen. Der Kollege Volker Kröning hat
eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung ab-
gegeben, die ich mit Ihrer Zustimmung zu Protokoll ge-
be.*)
Wir kommen zur Abstimmung über die Be-
schlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Bundesregierung zur deutschen Be-
teiligung an möglichen NATO-Operationen zum Schutz
und Herausziehen von OSZE-Beobachtern aus dem Ko-
sovo in Notfallsituationen, Drucksachen 14/47 und
14/51. Der Ausschuß empfiehlt, dem Antrag zuzustim-
men.
Die Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche
Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind alle Urnen besetzt? - Ich eröffne damit die Ab-
stimmung. - Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend,
das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Damit schließe
ich die Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu be-
ginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen spä-
ter bekanntgegeben.**)
------------
*) Anlage 2
**) Seite 433
Wir setzen die Beratungen fort. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 3 sowie die Zusatzpunkte 8 und 9 auf:
3. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schuldenerlaß und Aufbaumaßnahmen in
Mittelamerika nach der Wirbelsturmkatastrophe
- Drucksache 14/54 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausJürgen Hedrich, Dr. Christian Ruck, Dr. Norbert
Blüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Nach der Wirbelsturmkatastrophe in Mittelamerika: Hilfsmaßnahmen koordinieren,
Schuldendienst aussetzen, Schulden erlassen
und Wiederaufbau unterstützen
- Drucksache 14/56 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Carsten Hübner, Heidi LippmannKasten, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS
Soforthilfe, Wiederaufbaumaßnahmen und
Entschuldung für Mittelamerika
- Drucksache 14/57 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Ministerin Frau Heidemarie Wieczorek-Zeul.
({1})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können nicht anfangen, wenn nicht Ruhe einkehrt. Ich bitte darum, die
Debatten nach draußen zu verlegen. - Das gilt auch für
den Mittelgang. Ich bitte Sie, sich auf die Plätze zu setzen, damit wir anfangen können.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn dieser Debatte möchte ich noch einmal zum Ausdruck bringen, daß uns die Menschen in Honduras und
in Nicaragua auf unserer Reise in der letzten Woche
immer wieder ihre Dankbarkeit gezeigt haben. Die häufigsten Sätze, die man hörte, wenn man mit den Menschen in Honduras sprach, waren zum Beispiel: Ihr
Deutschen wißt doch, wie schlimm es ist, in einem zerstörten Land zu leben. Ihr wißt auch, wie wichtig es ist,
daß man Hilfe von Freunden erhält.
Ich sehe Bilder von Schulen vor mir, in denen Hunderte von Kindern, die ohne Obdach sind, in engsten
Klassenzimmern zusammengedrängt sind und dort auch
noch längere Zeit leben müssen. Ich sehe auch das Bild
eines Mannes vor mir, der mit den Füßen und Beinen im
Schlamm stehend dabei ist, mit seinen Händen seine
Werkstatt wiederaufzubauen. Solche Bilder bleiben mir
immer vor Augen.
Ich möchte an dieser Stelle sagen: Wir stehen zu unserer Verpflichtung. Wir danken allen deutschen Entwicklungshelfern und Entwicklungshelferinnen sowie allen
Vertretern der Nicht-Regierungsorganisationen vor Ort.
({0})
Sie haben dazu beigetragen, daß die deutsche Soforthilfe
schnell und unbürokratisch geleistet werden konnte, daß
das Leid der Menschen gemildert worden ist und daß
weniger Opfer und Tote zu beklagen waren.
Wir danken aber auch allen Menschen in Deutschland, die mit ganz großem Engagement gespendet haben
und nach wie vor spenden. Diese Hilfsbereitschaft zeigt,
daß unser Land engagiert ist, zum Wiederaufbau der
Länder in Mittelamerika beizutragen. Ein herzliches
Dankeschön auch an sie.
({1})
Es ist vielleicht noch zwei, drei Wochen Soforthilfe
zu leisten. Gleichzeitig geht es aber auch schon um den
Wiederaufbau. Wir haben in unseren Gesprächen die
Bereitschaft der Bundesregierung erklärt, kurzfristig,
aber auch über einen längeren Zeitraum aktiv beim
Wiederaufbau zu helfen. Vor allem geht es auch darum,
Fehlinvestitionen zu verhindern. Schon in dieser Woche
werden den Menschen in einer Region Nicaraguas, im
Bosawas-Bereich, von der GTZ beschaffte Saatgutmittel
zur Verfügung gestellt, damit sie ihre Grundnahrung
schnell wieder selber produzieren können und nur ganz
kurze Zeit auf Nahrungmittelhilfe angewiesen sind.
Es gilt noch einmal deutlich zu machen: In Nicaragua
gibt es eine außerordentlich hilfreiche Arbeit der Städtepartnerschaften aus Deutschland. Wir haben diese Arbeit
auch vor Ort außerordentlich schätzengelernt; wir haben
sie gelobt. Wir haben die nicaraguanische Regierung
unter Präsident Alemán aufgefordert, die Behinderung
der Arbeit dieser Städtepartnerschaften zu unterlassen
und sich mit allen Hilfsorganisationen an einen Tisch
zu setzen, damit die Hilfe aus dem Ausland den Menschen in Nicaragua auch wirklich zugute kommt. Die
leidende Bevölkerung braucht diese Hilfe, und zwar
schnell und unbürokratisch. Dabei muß es völlig gleichgültig sein, welche Farbe, auch politische Farbe diese
Hilfe hat.
({2})
Wir müssen daran arbeiten, daß beim Wiederaufbau
endlich auch die Interessen der armen Bevölkerung, die
besonders gelitten hat, und der Schutz der Natur berücksichtigt werden. Es ist ganz klar, daß die Vernachlässigung dieser beiden Aspekte eine wichtige Ursache für
das Ausmaß der Katastrophe war. Diese Fehler dürfen
sich nicht wiederholen; sie müssen beim Wiederaufbau
vermieden werden.
({3})
Was den deutschen Beitrag anbelangt: Wir haben
aus den unterschiedlichsten Finanzquellen rund
40 Millionen DM für die Region zur Verfügung gestellt.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Sie werden eingesetzt zum Beispiel zum Wiederaufbau
von kleinen und mittleren Unternehmen, von Wohnungen, von Energieversorgung, von Straßen, von Wasserversorgung, von nachhaltiger Forstwirtschaft. Wir werden immer Wert darauf legen - zum Beispiel auch bei
den Regierungsverhandlungen mit Honduras, die Anfang Dezember in Bonn stattfinden werden -, daß die
Partnerländer selbst Anstrengungen unternehmen, in
diese Richtung zu arbeiten. Ich möchte ausdrücklich sagen, daß wir den Nichtregierungsorganisationen aus
Anlaß dieses Besuches und dieser Regierungsverhandlungen Zuschüsse für ihre Arbeit vor Ort anbieten. Soweit das 1998 nicht möglich ist, wollen wir das 1999 mit
Präferenz tun.
({4})
Die Umwidmung von Mitteln reißt natürlich ein Loch
in die betroffenen Kassen. Deshalb sage ich mit Blick
auf den Bundesfinanzminister, der jetzt nicht anwesend
ist: Wir haben beim Bundesfinanzminister beantragt,
30 Millionen DM aus den 1998 für andere Bereiche zugesagten Finanzmitteln, die nicht gebraucht werden, für
den finanziellen Wiederaufbau, für die Finanzielle Zusammenarbeit, für Wiederaufbauvorhaben in Zentralamerika freizugeben. Meine Bitte ist, daß diesem
Antrag entsprochen wird.
({5})
Nachdem sich Ende November ein EU-Entwicklungsministertreffen mit diesen Fragen beschäftigt haben
wird, wird am 10. und 11. Dezember 1998 eine Sitzung
der Interamerikanischen Entwicklungsbank, zu der
bereits einberufen worden ist, stattfinden. Wir haben
gegenüber deren Präsidenten Iglesias, der gestern zu
Gesprächen in der Bundesrepublik war, klargemacht,
daß Wiederaufbauprogramme für diese Region notwendiger als für viele andere Regionen, die manchmal bezuschußt werden, sind und daß sie eine nachhaltige soziale
und ökologische Entwicklung zur Konsequenz haben
müssen. Das sind wir den Menschen dort, aber auch den
Menschen bei uns schuldig. Schließlich geht es hier um
Steuermittel, die so effektiv wie möglich und im Interesse der großen Mehrheit der Bevölkerung in diesen
Ländern eingesetzt werden müssen.
({6})
- Soweit ich es sehen konnte, hat er scharf nachgedacht.
Vielleicht muß man dem Nachdenken noch etwas nachhelfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schuldenerlaß, der in der Diskussion eine große Rolle spielt,
möchte ich noch einmal die Position der Bundesregierung darstellen. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in
seiner Regierungserklärung von letzter Woche unseren
Willen zum Ausdruck gebracht, einen internationalen
Schuldenerlaß für die Länder der Region, vor allem für
Honduras und Nicaragua, zu verwirklichen.
Nicaragua und Honduras sind bereits, ohne daß es
schon entschieden wäre, Kandidaten für die Initiative
von Weltbank und IWF zugunsten der ärmsten und am
höchsten verschuldeten Länder. Ich möchte an dieser
Stelle meine persönliche Auffassung zum Ausdruck
bringen, daß wir beiden Staaten eine schnelle Teilnahme
an dieser Initiative von Weltbank und IWF ermöglichen
sollten, weil sie dadurch am schnellsten einen wirklichen Schuldenerlaß erhalten. Deshalb bitte ich um Ihre
Unterstützung gerade auch für eine solche Initiative.
({7})
Des weiteren geht es darum, den bilateralen Schuldendienst - bis hin zum Schuldenerlaß - auszusetzen.
({8})
Die Bundesregierung tritt für ein Moratorium bei den
laufenden Schuldendienstverpflichtungen ein und
möchte möglichst viele Teilnehmer, die im Pariser Club
als bilaterale Gläubiger vertreten sind, für eine solche
Initiative gewinnen. Ich bitte auch hier um die Unterstützung des ganzen Hauses.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung stimmt dem Antrag von SPD und Grünen sowie
dessen Ausführungen zur Verschuldung zu. Das habe
ich hier deutlich gemacht.
Zum Schluß möchte ich aber noch eine eindringliche
Bitte an alle Fraktionen in diesem Hause richten. Angesichts des Themas, um das es heute geht, ist es schade,
daß sich eine Fraktion von dem interfraktionellen Antrag
mit der Begründung zurückgezogen hat, daß ihn auch
die PDS unterschrieben habe. Das finde ich deshalb
schade und schlecht, weil es hier um die Hilfe für
Menschen geht. Dabei zählt nur, daß Leid gelindert und
geholfen wird; aber es zählt nicht, nach Farbe zu sortieren.
({10})
Wir dürfen doch niemanden zurückstoßen, der sich
an dieser Hilfe beteiligen will. Deshalb appelliere ich
an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsparteien: Tragen Sie bei der Schlußabstimmung
über den Antrag der Koalitionsfraktionen dazu bei,
daß es ein breites, vielleicht sogar einstimmiges Votum
gibt, das nachdrücklicher ist und in Mittelamerika
von der leidenden Bevölkerung auch gehört wird. Ich
appelliere an Sie, diesem Antrag zuzustimmen und
damit ein Signal der Solidarität und Unterstützung zu
setzen.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
({11})
Bevor wir in
der Debatte fortfahren, gebe ich Ihnen das von den
Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem
Antrag der Bundesregierung zur deutschen Beteiligung
an möglichen NATO-Operationen zum Schutz und Herausziehen von OSZE-Beobachtern aus dem Kosovo in
Notfallsituationen bekannt: Abgegebene Stimmen 598.
Mit Ja haben gestimmt 555, mit Nein haben gestimmt
36. Es gab 7 Enthaltungen. Die Beschlußempfehlung
und damit der Antrag der Bundesregierung sind angenommen worden.
({0})
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 595
ja: 553
nein: 35
enthalten: 7
Ja
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Rainer Arnold
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({1})
Klaus Barthel ({2})
Ingrid Becker-Inglau
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({3})
Kurt Bodewig
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Dr. Eberhard Brecht
Rainer Brinkmann ({4})
Bernhard Brinkmann
({5})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({6})
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Christel Deichmann
Peter Dreßen
Rudolf Dreßler
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Petra Ernstberger
Annette Faße
Lothar Fischer ({7})
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Peter Friedrich ({8})
Lilo Friedrich ({9})
Harald Friese
Anke Fuchs ({10})
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({11})
Angelika Graf ({12})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({13})
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({14})
Walter Hoffmann
({15})
Iris Hoffmann ({16})
Frank Hofmann ({17})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Barbara Imhof
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Volker Jung ({18})
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({19})
Detlev von Larcher
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Christa Lörcher
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({20})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Ingrid Matthäus-Maier
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Dr. Jürgen Meyer ({21})
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Michael Müller ({22})
Jutta Müller ({23})
Christian Müller ({24})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann ({25})
Gerhard Neumann ({26})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Willfried Penner
Georg Pfannenstein
Dr. Eckhart Pick
Joachim Poß
Karin Rehbock-Zureich
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({27})
Birgit Roth ({28})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Otto Schily
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer
({29})
Ulla Schmidt ({30})
Silvia Schmidt ({31})
Dagmar Schmidt ({32})
Wilhelm Schmidt ({33})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({34})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
({35})
Brigitte Schulte ({36})
Reinhard Schultz
({37})
Volkmar Schultz ({38})
Ilse Schumann
Ewald Schurer
Dr. R. Werner Schuster
Dietmar Schütz ({39})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Ernst Schwanhold
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Günter Verheugen
Simone Violka
Ute Vogt ({40})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({41})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({42})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Hans-Joachim Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Helmut Wieczorek
({43})
Jürgen Wieczorek ({44})
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese ({45})
Engelbert Clemens Wistuba
Barbara Wittig
Verena Wohlleben
Hanna Wolf ({46})
Waltraud Wolff ({47})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Peter Zumkley
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Friedrich Bohl
Sylvia Bonitz
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Monika Brudlewsky
Hartmut Büttner
({48})
Cajus Caesar
Peter H. Carstensen
({49})
Hubert Deittert
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Rainer Eppelmann
Anke Eymer
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({50})
Axel Fischer ({51})
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
({52})
Dr. Hans-Peter Friedrich
({53})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Michaela Geiger
Georg Girisch
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Gottfried Haschke
({54})
Gerda Hasselfeldt
Norbert Hauser ({55})
Hansgeorg Hauser
({56})
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues
Hubert Hüppe
Peter Jacoby
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Dr. Dietmar Kansy
Manfred Kanther
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Dr. Helmut Kohl
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Dr. Martina Krogmann
Dr. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Karl A. Lamers
({57})
Dr. Norbert Lammert
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({58})
Eduard Lintner
Dr. Klaus Lippold
({59})
Dr. Manfred Lischewski
Dr. Michael Luther
Erich Maaß ({60})
Dr. Martin Mayer
({61})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Dr. Gerd Müller
Bernward Müller ({62})
Elmar Müller ({63})
Bernd Neumann ({64})
Claudia Nolte
Günter Nooke
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Norbert Otto ({65})
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Marlies Pretzlaff
Dieter Pützhofen
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Christa Reichard ({66})
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Dr. Klaus Rose
Kurt Rossmanith
Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Dr. Jürgen Rüttgers
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Heinz Schemken
Norbert Schindler
Dietmar Schlee
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({67})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({68})
Andreas Schmidt ({69})
Hans Peter Schmitz
({70})
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt
Wolfgang Schulhoff
Clemens Schwalbe
Wilhelm - Josef Sebastian
Heinz Seiffert
Rudolf Seiters
Werner Siemann
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Carl-Dieter Spranger
Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Michael Stübgen
Dr. Rita Süssmuth
Dr. Hans-Peter Uhl
Gunnar Uldall
Arnold Vaatz
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Peter Weiß ({71})
Gerald Weiß ({72})
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({73})
Hans-Otto Wilhelm ({74})
Klaus-Peter Willsch
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Aribert Wolf
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Benno Zierer
Wolfgang Zöller
BÜNDNIS 90 /
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({75})
Angelika Beer
Matthias Berninger
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({76})
Joseph Fischer ({77})
Katrin Göring-Eckardt
Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Kristin Heyne
Michaele Hustedt
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Oswald Metzger
Klaus Wolfgang Müller
({78})
Kerstin Müller ({79})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Claudia Roth ({80})
Christine Scheel
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({81})
Werner Schulz ({82})
Christian Sterzing
Jürgen Trittin
Sylvia Ingeborg Voß
Helmut Wilhelm ({83})
Margareta Wolf ({84})
F.D.P.
Hildebrecht Braun
({85})
Ernst Burgbacher
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({86})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Joachim Günther ({87})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Dr. Helmut Haussmann
Walter Hirche
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich Leonhard Kolb
Gudrun Kopp
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Günter Friedrich Nolting
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Dr. Günter Rexrodt
Gerhard Schüßler
Dr. Irmgard Schwaetzer
Marita Sehn
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
Nein
SPD
Uwe Hiksch
BÜNDNIS 90 /
DIE GRÜNEN
Monika Knoche
PDS
Monika Balt
Petra Bläss
Maritta Böttcher
Eva Bulling-Schröter
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Dr. Ruth Fuchs
Fred Gebhardt
Dr. Klaus Grehn
Dr. Gregor Gysi
Dr. Barbara Höll
Ulla ({88}) Jelpke
Sabine Jünger
Gerhard Jüttemann
Dr. Evelyn Kenzler
Dr. Heidi Knake-Werner
Rolf Kutzmutz
Heidi Lippmann-Kasten
Ursula Lötzer
Dr. Christa Luft
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Manfred Müller ({89})
Rosel Neuhäuser
Petra Pau
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Dr. Ilja Seifert
Enthalten
SPD
Renè Röspel
CDU/CSU
Manfred Carstens ({90})
Willy Wimmer ({91})
BÜNDNIS 90 /
DIE GRÜNEN
Annelie Buntenbach
Irmingard Schewe-Gerigk
Christian Simmert
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der NAV, der OSZE
und der IPU
Abgeordnete({92})
Behrendt, Wolfgang, SPD Irmer, Ulrich, F.D.P.
Bühler ({93}), Klaus, Siebert, Bernd, CDU/CSU
CDU/CSU
Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat jetzt der
Abgeordnete Klaus-Jürgen Hedrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Hurrikan „Mitch“
ist eine der schwersten Katastrophen der letzten Jahrzehnte über die Menschheit hereingebrochen. Daß die
Meteorologen Wirbelstürmen auch noch menschliche
Namen geben, ist wohl ein hilfloser Versuch, das
Schreckliche gedanklich und emotional zu erfassen. Eine besondere Tragik ist natürlich, daß diese Katastrophe
Länder getroffen hat, die heute schon zu den ärmsten auf
der Erde gehören und die in ihrer Entwicklung wahrscheinlich - das Ausmaß kann man ja noch nicht völlig
überblicken - um Jahrzehnte zurückgeworfen sind. Das
heißt, sie brauchen unsere Solidarität.
Ich möchte mich dem anschließen, was die Frau Ministerin vorgetragen hat: Ein Dank an diejenigen, die
auch aus Deutschland unmittelbar geholfen haben! Ich
glaube, wir können auf unsere Entwicklungshilfeorganisationen - ob sie nun staatlicher oder kirchlicher Natur
sind, ob es politische Stiftungen oder private NichtRegierungsorganisationen sind - ein bißchen stolz sein.
Es wird eine tolle Arbeit geleistet.
({0})
Man kann wohl hinzufügen - jemand, der den Wahlkreis vertritt, in dem das schreckliche Unglück von
Eschede passiert ist, darf das sagen -: Die oft beschriebene und beschworene Kälte in unserer Bevölkerung ist
in Notfällen eben doch nicht vorhanden. Vielmehr sind
unsere Bürger in solchen Notsituationen zu einer überdurchschnittlichen - auch finanziellen - Hilfe bereit.
Auch dafür sollten wir an dieser Stelle ein Dankeschön
sagen.
({1})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Die internationale Gemeinschaft hat unmittelbar zu
helfen begonnen. Der französische Präsident Jacques
Chirac hat den Ländern Mittelamerikas einen Schuldenerlaß zugesagt. Insgesamt sollen den Ländern Guatemala, Nicaragua, Honduras und El Salvador Schulden in
Höhe von 255 Millionen DM erlassen werden. Darüber
hinaus forderte er die anderen Länder auf, dem Beispiel
Frankreichs zu folgen. Die Vereinigten Staaten haben
für Hilfsmaßnahmen im Katastrophengebiet eine erste
Tranche in Höhe von 210 Millionen DM zugesagt. Der
Direktor des IWF, Camdessus, hat Nicaragua und Honduras in der letzten Woche bereits einen 80prozentigen
Schuldenerlaß zugesagt. Er wies ausdrücklich darauf
hin, daß sich diese Hilfe nicht auf Soforthilfe beschränken soll, sondern von Nachhaltigkeit geprägt ist.
({2})
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz,
Karl Lehmann, hat das Instrument des Schuldenerlasses
für die betroffenen Länder als Tat echter Nächstenliebe
begrüßt. Wir freuen uns darüber und unterstützen, daß
die Bundesregierung ausdrücklich erwähnt hat, diesem
Beispiel folgen zu wollen. Wir fordern die Bundesregierung daher auf, den Schuldendienst unverzüglich auszusetzen und sich international für einen Erlaß der Schulden auf allen Ebenen einzusetzen.
({3})
Mit einem Schuldenerlaß alleine ist es aber nicht getan. Darüber hinaus ist die internationale Koordinierung
aller Maßnahmen, die zum Wiederaufbau der betroffenen Länder beitragen können, notwendig. Die französische Regierung hat daher eine Initiative zu einer internationalen Mittelamerika-Aufbaukonferenz gestartet, die
am 10. und 11. Dezember 1998 in Washington stattfinden soll. Wir erwarten von dieser Konferenz entscheidende Impulse für den Wiederaufbau der betroffenen
Region.
Das vorrangige Ziel der Wiederaufbaumaßnahmen
muß natürlich in der Wiederherstellung der agrarischen
Produktion, also der Ernährungssicherung, und der Basisinfrastruktur liegen. In diese Maßnahmen sind die Aktivitäten der Kirchen, der politischen Stiftungen, der Organisationen der Wirtschaft und der anerkannten privaten Nicht-Regierungsorganisationen einzubeziehen.
Bei der entwicklungsorientierten Nothilfe handelt es
sich um Maßnahmen, die erst einmal das reine Überleben sichern, aber auch um Maßnahmen, die auf Langfristigkeit angelegt sind. Ich wiederhole: Zu diesen Maßnahmen gehört auch das Instrumentarium des Schuldenerlasses.
Ich darf daran erinnern, daß die VorgängerBundesregierung von CDU/CSU und F.D.P. bereits im
August dieses Jahres ein umfangreiches Umschuldungsabkommen mit Nicaragua unterzeichnet hat, welches auf
Handelsforderungen einen Schuldenerlaß von 67 Prozent gewährt.
Ich möchte allerdings auch darauf hinweisen, daß der
größte Teil der Schulden Nicaraguas auf die Mißwirtschaft der sandinistischen Diktatur zurückzuführen
ist. Davon hat sich das Land bis heute nicht erholt.
({4})
Deshalb sage ich auch: Der Schuldenerlaß ist auch
ein Beitrag zur Demokratisierung der Region,
({5})
weil er den in demokratischen Wahlen legitimierten Regierungen das Leben erleichtert. Das ist ganz entscheidend.
({6})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wolf?
Ja, gerne.
({0})
Herr Abgeordneter
Hedrich, Sie sagen, Nicaragua sei eine Diktatur gewesen. Ist Ihnen bekannt, daß dieses Land einem Bürgerkrieg ausgesetzt war, daß die Contras von den USA finanziert waren und daß der Gerichtshof in Den Haag die
USA unter anderem deshalb verurteilt hat, weil sie Minen gelegt haben, weil sie die Häfen Nicaraguas vermint
haben? Sagen Sie trotzdem, daß die Schulden dieses
Landes vor allem auf „Mißwirtschaft“ zurückzuführen
seien?
Ich kann nur
bestätigen, was Sie in Ihrer Frage andeuten. Die sandinistische Diktatur hat eine absolute Mißwirtschaft im Lande geführt,
({0})
die dazu beigetragen hat, die wirtschaftlichen Grundlagen dieses Landes zu ruinieren. Das ist um so bedauerlicher, als nach dem Sturz der Somoza-Diktatur, an dem
sich übrigens alle politischen Kräfte Nicaraguas außerhalb dieser Diktatur beteiligt haben, eine große, euphorische Aufbruchstimmung in diesem Land vorhanden war,
die zur Demokratisierung und zur Freiheit der Menschen
in Nicaragua hätte beitragen können. Schritt für Schritt das wissen Sie doch - haben sich Demokraten aus der
sandinistischen Regierung zurückgezogen, weil sie erkannt haben, daß dort ein ganz anderer Kurs verfolgt
wird.
({1})
Das hat das Land dann ruiniert. Unter den Folgen leidet
Nicaragua bis heute. Das sind die Fakten.
({2})
Die Ministerin hat noch einen anderen Punkt der Hilfe angesprochen, - möglicherweise treffe ich damit wieder mehr Ihre Stimmungslage, vielleicht auch nicht -:
Wir haben mit Skepsis zur Kenntnis genommen, daß die
Regierung Alemán - übrigens eine demokratisch gewählte Regierung ({3})
ein Hilfsprogramm auf den Weg gebracht hat und dabei
im Begriff ist, die Spenden, die von der internationalen
Gemeinschaft gekommen sind, sehr einseitig an die Bevölkerung zu verteilen. Das findet - ich sage das mit
großem Nachdruck - unsere Mißbilligung.
({4})
Deshalb möchte ich die Bundesregierung bitten, bei
allen Hilfsmaßnahmen darauf zu achten, daß die Hilfe
wirklich bei den Betroffenen ankommt. Ich darf Sie zitieren, Frau Ministerin: Nicht die Farbe und schon gar
nicht die politische Farbe ist entscheidend. Hilfe darf
nicht nur jenen gegeben werden, die einem politisch nahestehen. Nein, hier geht es darum, der Bevölkerung im
ganzen Lande zu helfen.
({5})
Eine letzte Bemerkung: Die Ministerin hat an das
Haus appelliert, dem Antrag von SPD und Grünen zuzustimmen. Der Grundtendenz dieses Antrages stimmen
wir in der Tat zu. Wenn Sie unseren Antrag nachlesen,
dann werden Sie feststellen, daß er einige ergänzende
Punkte enthält; aber in der Tendenz unterscheiden sich
unsere Anträge nicht.
({6})
- Immer mit der Ruhe. - Das Interessante ist nur: Sie
appellieren an uns, es sollte hier einen interfraktionellen
Antrag geben, und gleichzeitig beschweren Sie sich darüber, daß wir keinen Antrag unterstützen wollen, in dessen Kopf auch „PDS“ steht. Ich nehme mit Interesse zur
Kenntnis, daß Sie bei Ihrer alten Marschrichtung nicht
geblieben sind; vielmehr legen Sie jetzt einen eigenen
Koalitionsantrag vor. Wenn Sie einen solchen Antrag
vorgelegt hätten und uns gebeten hätten, ihn mitzutragen, dann bin ich ziemlich sicher - das gilt auch für die
Kollegen von der F.D.P. -, daß wir das getan hätten.
({7})
- Bitte keine Aufregung! - Das sind die Fakten.
({8})
Ich kann uns nur ermutigen, uns bei den gegenseitigen Anträgen zu unterstützen. Ich biete folgendes Verfahren an: Wir werden uns bei Ihrem Antrag enthalten;
Sie enthalten sich bei unserem Antrag. Wenn das geschieht, dann kommen beide Anträge durch, und die
Bundesregierung hat eine solide Grundlage für die weitere Arbeit in der Region. Es geht in der Tat nicht darum, sich möglicherweise gegenseitig mit parlamentarischen Vorwürfen zu überziehen; vielmehr geht es darum, in diesem Parlament deutlich zu machen: Den Menschen in der betreffenden Region in Mittelamerika gehört unsere Solidarität. In dieser Frage sollten wir uns
nicht durch Streit in diesem Hause auseinandertreiben
lassen.
Herzlichen Dank.
({9})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Ströbele?
Ja, gerne.
Herr Kollege, geben Sie mir recht Klaus-Jürgen Hedrich ({0}): Das weiß ich
noch nicht.
- es ist ja auch eine Frage -, daß in Ihrem
Antrag die Forderung nach Schuldenerlaß fehlt? Geben
Sie mir recht,
({0})
daß in Ihrem Antrag insbesondere das fehlt, was im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und SPD enthalten ist,
nämlich daß die Bundesregierung den einseitigen Schuldenerlaß der Bundesrepublik Deutschland nicht nur prüfen, sondern dieses Ziel auch erreichen soll?
Da ich den
Antrag selbst mitformuliert habe, würde es mich sehr
wundern, wenn das fehlt. Wenn Sie den Antrag nachlesen, dann sehen Sie, daß wir uns ausdrücklich dafür aussprechen, daß die Bundesregierung unverzüglich den
Schuldendienst aussetzen soll
({0})
- das ist Ziffer 3 - und daß sie sich in den internationalen Gremien um einen allgemeinen Schuldenerlaß für
die Region bemühen soll.
({1})
Ich wiederhole ausdrücklich: Wir erwarten von der
Bundesregierung, daß sie den betroffenen Ländern der
Region die Schulden erläßt. Dazu gehört auch, dies in
den entsprechenden internationalen Gremien - wie es
üblich ist - in einem normalen Verfahren abzustimmen.
Genau dasselbe fordern Sie; wir liegen da nicht auseinander.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Dr. Angelika Köster-Loßack.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir sind erschüttert über die Folgen der
furchtbaren Naturkatastrophe in Mittelamerika: Es gab
Zehntausende Tote, und ein Fünftel der Bevölkerung in
Honduras ist obdachlos geworden. Wir sind uns einig,
daß alles getan werden muß, um den betroffenen Ländern beim Wiederaufbau zu helfen. Vor allem Honduras
und Nicaragua - das ist gesagt worden -, die zu den
ärmsten Ländern der Welt gehören, sind in ihrer Entwicklung um Jahrzehnte zurückgeworfen worden.
Es gibt große Hilfsbereitschaft in der deutschen Bevölkerung, und die bereits bestehenden Partnerschaften
von Kirchengemeinden, Städten und NichtRegierungsorganisationen, aber auch insbesondere die
Städtepartnerschaften sind eine tragfähige Basis für die
engen und fundierten Beziehungen, die jetzt für eine
schnelle und effektive Hilfe genutzt werden. Ich möchte
allen Menschen in diesem Bereich dafür danken, daß sie
sich sofort auf den Weg gemacht haben und geholfen
haben.
({0})
Für die Überlebenden der Katastrophe ist eine ganz
schnelle Hilfe nötig. Krankheiten und Seuchen haben
sich ausgebreitet, viele Kinder haben ihre Eltern verloren, sie sind traumatisiert, und für die Gesamtbevölkerung ist die Ernte vernichtet. Was das für die nähere Zukunft bedeutet, ist noch nicht absehbar.
Wir begrüßen es deswegen ausdrücklich, daß die
Bundesregierung schnell und unbürokratisch ein Sofortprogramm an Hilfen für die Länder Mittelamerikas beschlossen hat. Die Nicht-Regierungsorganisationen leisten dabei einen unverzichtbaren Beitrag.
({1})
Es muß durch Vereinbarungen mit den Regierungen sichergestellt werden - das gilt vor allem für Nicaragua -,
daß die Arbeit der NROs nicht behindert wird. Ich danke
auch der Frau Ministerin, daß sie dazu klare Worte gesagt hat.
({2})
Als Soforthilfe muß auch der Schuldendienst für die
Länder der Region, insbesondere für Honduras und Nicaragua, ausgesetzt werden, wobei uns allen klar ist, daß
diese Länder sowieso absolut zahlungsunfähig sind und
das eine Bedienung der Schuldenlast nicht möglich ist.
({3})
Schon vor den Verwüstungen war die Situation Nicaraguas katastrophal. Über die Hälfte der Einwohner sind
arm und haben auch keinen Zugang zu sauberem Wasser.
Vor diesem Hintergrund wollen wir, daß die bilateralen und internationalen Schulden beider Länder erlassen werden. Der Schuldenerlaß ist nicht alles, aber ohne
einen Schuldenerlaß ist keine Lösung der gegenwärtigen
und auch der mittelfristigen Probleme möglich.
({4})
Dabei kommt den bilateralen Schulden Nicaraguas und
der Verschuldung gegenüber Deutschland eine Schlüsselrolle zu.
({5})
Vor allem auch für die DDR-Altschulden Nicaraguas weit über 300 Millionen DM - muß eine Lösung gefunden werden.
({6})
Honduras hingegen hat 60 Prozent seiner Schulden
bei multilateralen Gläubigern. Bilaterale und multilaterale Lösungen müssen aber Hand in Hand gehen, und in
jedem Land ist eine spezifische Vorgehensweise erforderlich.
Durch die aktuell nachvollziehbare Konzentration auf
die Katastrophenländer Mittelamerikas darf es nicht zu
einer Vernachlässigung der anderen hochverschuldeten
armen Länder kommen. Deren Problem besteht in der
permanenten Unterfinanzierung entscheidender gesellschaftlicher Bereiche wie Gesundheitsversorgung und
Armutsbekämpfung.
Wir müssen deswegen unverzüglich an die Umsetzung eines gezielten Schuldenerlasses für alle hochverschuldeten Länder gehen.
({7})
Dabei wird die Bundesregierung nicht ohne jegliche
Konditionen Schulden erlassen, wie es manchmal von
falscher Kritik suggeriert wird. Es muß sichergestellt
werden, daß durch Entschuldung freiwerdende Mittel
den Ärmsten in diesen Ländern auch zugute kommen.
({8})
Ein wirksamer Schuldenerlaß muß letztendlich international abgestimmt sein. Wenn Deutschland mit gutem
Beispiel vorangeht, besteht die große Chance, dies auch
international durchzusetzen. Frankreich und Österreich
haben angekündigt, die Schulden von Honduras und Nicaragua zu erlassen. Das konservativ regierte Spanien
will einen Teil erlassen, und auch die USA und Großbritannien wollen ihren Beitrag leisten.
Wir erwarten von IWF und Weltbank ein klares, konkretes Zeichen für die Entschuldung der Länder Mittelamerikas. Zwar ist die Bereitschaft dazu schon erklärt
worden, aber eine Umsetzung ist notwendig. Die Gründung eines Hilfsfonds für den multilateralen Schuldendienst der betroffenen Länder ist ein erster sinnvoller
Schritt. Dabei müssen auch von beiden internationalen
Finanzinstitutionen mehr Gelder für eine Gesamtentschuldung bereitgestellt werden. In diesem Sinne hoffe
ich auch, daß unsere deutschen Exekutivdirektoren in
diesen Institutionen initiativ werden.
Über Soforthilfe und Entschuldungsprogramme hinaus wird es auch darauf ankommen, daß international
langfristig abgestimmte Konzepte entwickelt werden,
die in den betroffenen Ländern eine ökonomisch und
ökologisch nachhaltige Entwicklung begründen. Ein
besserer Schutz gegen die Folgen von Naturkatastrophen
kann nämlich nur durch eine Umsteuerung in den sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geleistet werden.
Die hohen Schuldendienste haben in den betroffenen
Ländern zur Fortführung einer einseitigen Exportorientierung beigetragen, insbesondere bei Agrarprodukten. Die für den einheimischen Markt produzierende Landwirtschaft wurde vernachlässigt. Landreformen stehen weiterhin aus. Gerade hier aber liegt der
Schlüssel zur Hilfe für die ärmsten Bevölkerungsgruppen. Die bisherige ungleiche Verteilung von
Land hat dazu geführt, daß viele Menschen in den am
stärksten betroffenen Ländern in ihrer Not dort siedeln
mußten, wo sie auch gegen die Wassermassen keinen
Schutz finden konnten.
Auf Grund der landwirtschaftlichen Monokulturen ist
die Bodenerosion eine große Gefahr. Jedes Jahr werden
in Mittelamerika bis zu 400 000 Hektar Wald vernichtet.
Gerade diese Abholzung und die Bodenerosion waren
aber entscheidende Faktoren bei den extremen Folgen
der Überschwemmungen und der Erdrutsche.
Zukünftig müssen die mittelamerikanischen Länder
die sozialen und ökologischen Probleme ins Zentrum ihrer Politik stellen. Die krasse soziale Ungerechtigkeit,
eine mangelnde Grundversorgung in bezug auf Gesundheit und soziale Dienste schaffen für die ärmsten Menschen bisher einen Teufelskreis, aus dem sie sich aus eigener Kraft nicht befreien können. Wir können diesen
Teufelskreis jetzt durchbrechen helfen, wenn die Auslandsschulden zum Beispiel in Fonds umgewidmet werden, mit denen eine soziale und ökologische Entwicklung angeschoben werden kann. Damit wir diese Ziele
insbesondere einer Armuts-bekäpfung und nachhaltigen
Entwicklung befördern können, müssen alle westlichen
Industrieländer ihren Beitrag leisten. Die rot-grüne Koalition hat sich auf eine globale Strukturpolitik verpflichtet, die die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Verhältnisse in den Entwicklungsländern verbessern hilft.
Unverzichtbar ist auch eine andere Klimapolitik.
Es ist unbestritten, daß die zunehmenden Naturkatastrophen der letzten Jahre im engen Zusammenhang mit Klimaveränderungen stehen. Deshalb
müssen in erster Linie wir, die westlichen Industrienationen, die größten Klimaverschmutzer, unsere
Energie- und Verkehrspolitiken ändern.
({9})
Nur dadurch sind die Klimaschutzziele erreichbar. Nur
durch gemeinsame Anstrengungen in Nord und Süd
können wir verhindern, daß in immer kürzer werdenden Abständen solche vermeintlich nur naturgegebenen Katastrophen diese schrecklichen Folgen
haben.
Zum Schluß möchte ich sagen, daß ich es sehr bedauere, daß es nicht zu einem gemeinsamen Antrag aller
Fraktionen gereicht hat. Wir lehnen in der jetzigen Situation die von den Oppositionsfraktionen eingebrachten Anträge ab, denken aber, daß es notwendig ist,
gerade auch im Hinblick auf die betroffenen Menschen,
daß wir einstimmig unsere Zustimmung zu dem Antrag
der Koalition geben. Ich glaube, angesichts des menschlichen Elends in dieser Weltregion müssen parteipolitische Gesichtspunkte wirklich ganz in den Hintergrund
treten.
({10})
Ich bitte Sie darum!
({11})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Joachim Günther.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der
Wirbelsturm „Mitch“ hat verheerende Zerstörungen bisher unbekannten Ausmaßes angerichtet, und die katastrophalen Regenfälle und Überschwemmungen haben
vor allem in Honduras und Nicaragua viele Tausende
von Menschenleben gekostet. Hunderttausende Sturmopfer haben ihr Obdach verloren und benötigen dringend
überlebensnotwendige Hilfsgüter. Die Seuchen sind bereits ausgebrochen. Auch in Guatemala, Belize, El Salvador und Costa Rica sind Sturmschäden und unzählige
Opfer zu vermelden. Die Infrastruktur hat in den betroffenen Ländern schwerste Schäden erlitten.
Unsere Partner und Freunde in Zentralamerika sind
dringend auf unsere Unterstützung zur Linderung der
schlimmsten Not und zur Beseitigung der Sturmschäden und auf den Wiederaufbau angewiesen. Die
F.D.P.-Bundestagsfraktion begrüßt es daher, daß die
Bundesregierung, die Europäische Union, aber auch
viele andere Länder und Organisationen sowie viele
deutsche und internationale Nichtregierungsorganisationen umgehend umfassende humanitäre Hilfe zur
Verfügung gestellt haben.
({0})
Der Dank dafür wurde ja von meinen Vorrednern bereits
ausgesprochen. Wir möchten uns diesem Dank anschließen.
Wir begrüßen es, daß die deutschen Hilfsleistungen,
auch dank der deutschen Experten vor Ort und der Projekte vor Ort - die übrigens von dieser Katastrophe auch
betroffen wurden -, schnell anliefen. Es wäre aber aus
unserer Sicht nützlich gewesen, wenn man bei der Abwicklung zum Beispiel auch auf die Lufttransportkapazitäten der Bundeswehr zurückgegriffen hatte. Die
Transportlogistik der Bundeswehr hat sich in der Vergangenheit in Katastrophensituationen hervorragend
bewährt. Die Übernahme derartiger Aufgaben im Rahmen der deutschen humanitären Nothilfe befindet sich
nach unserer Auffassung auch im Einklang mit dem
Auftrag der Bundeswehr, gemeinsam mit unseren Partnern einen konstruktiven Beitrag zur Behebung derartiger Notfälle zu leisten.
({1})
Mein Kollege Werner Hoyer hat bereits am 4. November mit Schreiben an Bundesaußenminister Fischer
und Innenminister Schily die Entsendung von Einheiten
des Technischen Hilfswerks und Unterstützung durch
Lufttransportkapazitäten der Bundeswehr angemahnt.
Aber außer der Antwort, ein Hilfsteam erkunde derzeit
vor Ort, welcher Hilfsbedarf bestehe, ist noch keine Initiative erkennbar. Es ist bedauerlich, daß unser Vorschlag in dieser Richtung keine Zustimmung gefunden
hat.
Wir begrüßen dennoch, daß die Hilfsmaßnahmen
nunmehr schrittweise umgesetzt werden und besonders
in den Bereichen der Nahrungsmittelversorgung und der
Seuchenvorbeugung bereits Wirkung zeigen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, die betroffenen
Staaten durch weitere Mittel und Aufbaumaßnahmen zu
unterstützen. Ich hoffe, daß auch die von Ihnen, Frau
Ministerin Wieczorek-Zeul, gestern im Ausschuß aufgezeigten Maßnahmen schnell und unbürokratisch umgesetzt werden.
Die Zusagen für konkrete Maßnahmen wie Straßenund Wasserleitungsbau sowie Pionierbrücken sind aus
unserer Sicht unproblematisch. Sie müssen aber an der
Selbsthilfe der betroffenen Menschen und Gemeinden
ansetzen.
({2})
Die Unterstützung von kleinen und mittleren Unternehmen sowie der Forstwirtschaft sollte über die momentane Hilfe hinausgehen und dann in mittelfristige
Programme eingebunden werden.
({3})
Dabei sollte - so sieht es eigentlich auch der Antrag
vor - auf eine enge Koordinierung mit den Maßnahmen
der Europäischen Union und der Vereinten Nationen geachtet werden.
Mit den für den Wiederaufbau der Region vorgesehenen Mitteln und Projekten soll ein Beitrag sowohl zur
Schaffung von Frühwarnsystemen als auch zur Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und zur Stärkung der Eigeninitiative der
Partnerländer geleistet werden. Diese Entwicklungsorientierung ist für unsere Hilfe ganz entscheidend.
Die Menschen Mittelamerikas sind durch die Naturkatastrophe in den Entwicklungsbemühungen um Jahrzehnte zurückgeworfen worden. Ein Wiederaufbau der
Region darf nicht durch Altlasten zusätzlich erschwert
werden. Ein umfassender Schuldenerlaß für die meisten
betroffenen Länder ist daher dringend erforderlich. Wir
fordern deshalb vor allem, daß Nicaragua und Honduras
die Schulden, die aus der Entwicklungszusammenarbeit
entstanden sind, umgehend erlassen werden.
Darüber hinaus ist es erforderlich, daß sich die Bundesregierung - das haben Sie, Frau Ministerin, eben bestätigt - in allen internationalen Gremien - auch im Pariser Club - für einen möglichst umfassenden Schuldenerlaß auf multilateraler Ebene einsetzt.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat aktiv an der Formulierung eines interfraktionellen Antrags zur Wirbelsturmkatastrophe in Mittelamerika mitgewirkt. Dabei
wurden die von mir genannten Aspekte im wesentlichen
eingearbeitet. Angesichts der dramatischen Situation in
Mittelamerika hätten wir es begrüßt, wenn der Bundestag in dieser Frage über Parteigrenzen hinweg einen
Konsens gefunden hätte.
({4})
Dies wäre unserer Meinung nach auch ein richtiges Signal der Solidarität an die mittelamerikanischen Partner
und Freunde gewesen.
Um so bedauerlicher ist es nun, daß der interfraktionelle Ansatz, nachdem sich die Fraktionen eigentlich schon auf einen gemeinsamen Text geeinigt
hatten,
({5})
offensichtlich aus innerpolitischen Gründen von der
CDU/CSU kurzfristig aufgegeben wurde.
({6})
Welche Ergebnisse so etwas nach sich zieht, kann
man am besten am PDS-Antrag sehen, der jetzt unter
dem Motto „Koste es, was es wolle; wir fordern mal 100
Millionen DM“ völlig falsche Dimensionen und völlige
Unberechenbarkeit auf den Weg bringen soll.
({7})
Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Fraktion steht
zu ihrer einmal eingenommenen Haltung. Wir Liberalen stimmen dem von uns mit formulierten Antrag der
Koalition zu.
({8})
Joachim Günther ({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Carsten Hübner.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach einer Meldung
der Nachrichtenagentur IPS vom 17. November, also
von vorgestern, müssen allein die beiden am schwersten
vom Hurrikan „Mitch“ verwüsteten Länder Honduras
und Nicaragua täglich rund 2,2 Millionen US-Dollar, also mehr als 3,5 Millionen DM, zur Bedienung ihrer
Auslandsschulden aufbringen - täglich, meine Damen
und Herren, also auch heute und gestern, als wir noch
über den interfraktionellen Antrag verhandelt haben.
Ich möchte das hier deshalb so deutlich unterstreichen, weil der Antrag der PDS-Fraktion inzwischen der
einzige ist, der von der Bundesregierung einen sofortigen bilateralen Schuldenerlaß für die betroffenen Staaten verlangt und diese inzwischen von vielen Seiten erhobene Forderung nicht verwässert oder die angebliche
Notwendigkeit einer Entscheidung des Pariser Clubs
vorschiebt.
({0})
Länder wie Frankreich, Österreich oder selbst das
hochverschuldete Kuba sind uns hierbei bereits weit
voraus. Wir sollten uns dieser auch aus der Sicht des
IWF vorbildlichen Initiative schleunigst anschließen,
({1})
was natürlich die dringend notwendige Initiative einschließt, endlich zu multilateralen Vereinbarungen über
einen generellen Schuldenerlaß für die ärmsten und am
wenigsten entwickelten Staaten zu kommen. Angesichts
der hier gemachten Äußerungen denke ich, daß wir uns
darin ziemlich einig sind.
Darüber hinaus ist die PDS-Fraktion der Überzeugung, daß die von der Bundesregierung angekündigten
und zum Teil bereits ausgereichten Mittel in Höhe von
rund 40 Millionen DM mit Blick auf die verheerende
Situation gerade in Honduras und Nicaragua keineswegs
ausreichen, sondern daß eine deutliche und vor allem
verbindliche Aufstockung der Mittel für Soforthilfe und
Wiederaufbau auf 100 Millionen DM erfolgen muß.
Was die scheinheilige Frage von eben angeht, so muß
ich sagen: Natürlich sind die 50 Millionen DM eine
Verhandlungsposition gewesen. Es ist doch selbstverständlich, daß man in solche interfraktionellen Verhandlungen mit einer Summe geht, die zunächst konsensfähig zu sein scheint.
Ein Betrag von 100 Millionen DM ist angesichts der
Gesamtschäden von mehreren Milliarden Dollar aus unserer Sicht durchaus nicht überhöht, sondern trägt einer
Situation Rechnung, in der neben der drohenden Gefahr
von Hunger auch die Gefahr von Epidemien besteht,
ganz abgesehen von der massenhaften Obdachlosigkeit,
der weitgehend zerstörten Infrastruktur und den vielen,
zum Teil noch nicht geborgenen Toten. Auch diesbezüglich könnten andere Länder durchaus ein Ansporn
für uns sein; das ist bereits erwähnt worden.
Selbst die dringend erforderliche Aussetzung des
Schuldendienstes soll - so sieht es der Antrag der Regierungskoalition vor - allein für Nicaragua und Honduras
erfolgen. Von den - wenn auch nicht in vergleichbarer
Weise - betroffenen Staaten El Salvador und Guatemala
ist hier nicht einmal mehr die Rede.
Die PDS-Fraktion verkennt nicht, daß die neue Bundesregierung bereits erste Schritte unternommen hat, um
die Situation in Mittelamerika lindern zu helfen. Wir begrüßen das ganz ausdrücklich. Gleichzeitig müssen wir
aber feststellen, daß diese Schritte längst nicht weit genug gehen, daß sie außerordentlich zaghaft sind und daß
die vorhandenen Spielräume nicht ausgeschöpft werden.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, in Notsituationen wie dieser beweist sich, ob
ein Kurswechsel, ob ein wirklich substantieller Politikwechsel tatsächlich gewollt ist oder ob das inzwischen omnipräsente Wort „Kontinuität“ auch in dieser Frage zur treffenden Situationsbeschreibung taugt.
Erlauben Sie mir, zum Abschluß noch meine Enttäuschung darüber zum Ausdruck zu bringen, wie mit dem
von meiner Fraktion am Dienstag letzter Woche angeregten interfraktionellen Antrag verfahren wurde. Enttäuschend ist nicht nur, daß die CDU/CSU erst im Rahmen der gestrigen Beratung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung öffentlich
ihren Rückzug vom ausgehandelten Kompromiß erklärte
und einen eigenen Antrag ankündigte. Das war das Ende
des interfraktionellen Verständigungsversuchs und damit ein äußerst bedenkliches Zeichen in dieser wichtigen
Frage. Sie können dazu gern einmal den Kommentar im
Berliner „Tagesspiegel“ lesen, Herr Hedrich. Das Zeichen ist ein deutliches.
Zusätzlich enttäuscht hat mich jedoch, daß sich, als
Ministerin Wieczorek-Zeul gestern im Ausschuß noch
für den interfraktionellen Antrag warb, SPD und Grüne
längst darauf verständigt hatten, den eigentlich interfraktionellen Antrag nun ganz als den ihren auszugeben
und so einzubringen, als hätte es nicht weiterhin die
Möglichkeit gegeben, ihn als interfraktionellen Antrag
einzubringen, wenn auch ohne die CDU/CSU; auch die
F.D.P. wäre dazu ja bereit gewesen.
({2})
Das ist ein Umgang, meine Damen und Herren, der
nicht nur Ihre Aussagen über ein gemeinsames und einvernehmliches Signal gegenüber den Betroffenen konterkariert - wenn Sie sich erinnern, Frau Ministerin, waren Sie es, die gestern davon sprach, daß in den verwüsteten Gebieten niemand ein derartig kleinkariertes Vorgehen verstehen würde -, sondern der auch Ihre Ankündigung konterkariert, zu neuen Formen des Umgangs,
der Transparenz und der Kooperation in Sachfragen
kommen zu wollen.
Ich hoffe deshalb sehr, daß dieses Handeln eine Ausnahme bleiben wird und daß wenigstens in Zukunft mit
offenen Karten gespielt wird, gerade dann, wenn es sich
um so dramatische und bedeutende Fragen wie diese
handelt. Sie taugen nämlich nicht für Profilierungsspielchen.
Vielen Dank.
({3})
Herr Kollege,
Sie haben Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag gehalten. Es ist üblich, daß wir Ihnen vom Haus aus dazu
gratulieren. Das tue ich hiermit.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Adelheid Tröscher.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, daß bei diesem Thema das Haus relativ gut besetzt ist. Ich hoffe
doch, daß dies auch in Zukunft so sein wird. Hurrikan
„Mitch“ hat uns alle sehr betroffen gemacht. Diese Katastrophe ruft uns auf, nicht nur kurzfristig zu helfen,
sondern uns auch längerfristig Gedanken über Entwicklungspolitik zu machen. Das ist wohl das einzig Gute an
diesem schrecklichen Naturereignis.
({0})
Entwicklungspolitik ist globale Strukturpolitik. Ich
glaube, auch Abgeordnete in diesem Hause müssen das
noch lernen. Wir dürfen nicht immer nur bei den Themen des eigenen Ausschusses verharren. Wir müssen
vielmehr schauen, welche Themen in anderen Ausschüssen behandelt werden. Wir müssen dabei sehen, welche
schlimmen Zustände hinsichtlich der Menschenrechtsverletzungen und mangelnder Demokratie auf dem Globus, vor allem auf der Südhalbkugel, herrschen. Dort
gibt es noch sehr viele Diktaturen und korrupte Regimes, die die Lage der Menschen erschweren, weil sie
ihnen noch mehr Unglück bringen, als es ohnehin schon
der Fall ist.
Den Betroffenen hilft es nicht, wenn wir in diesem
Punkt nur politisch-ideologisch denken. Wir müssen alle
ein bißchen über unseren Schatten springen. Es geht um
Menschen, denen wir helfen müssen. Deswegen ist es
wichtig, daß wir unsere Hilfsmaßnahmen in Mittelamerika zunächst auf die unmittelbare Katastrophenhilfe
konzentrieren: die Rettung von Menschen, die noch immer in Lebensgefahr sind, die Bereitstellung von Lebensmitteln, die Vermeidung von Seuchen durch die Bereitstellung provisorischer Unterkünfte sowie die Bereitstellung sauberen Trinkwassers und die Wiederherstellung eines Minimums an öffentlicher Ordnung.
Es war gut, daß die Bundesregierung den betroffenen Ländern, vor allem Honduras und Nicaragua, Soforthilfe für die Nahrungsmittelversorgung und die Seuchenvorbeugung zur Verfügung gestellt hat und
daß die Bereitstellung weiterer Mittel für Aufbaumaßnahmen in den betroffenen Gebieten vorbereitet
wird.
Es war weiterhin gut, daß die Ministerin in die entsprechenden Gebiete geflogen ist und an Ort und Stelle
mit Regierungen und NGOs, aber vor allem mit den betroffenen Menschen gesprochen hat.
({1})
Dies war ein gutes Zeichen, Frau Ministerin, für unsere
Solidarität und unser Mitgefühl. Ihr Handeln war mutig
und unkonventionell. Ich möchte Ihnen daher an dieser
Stelle unseren großen Dank für Ihr Handeln aussprechen.
({2})
Über diese unmittelbaren Maßnahmen hinaus besteht
Handlungsbedarf bei der mittelfristigen Wiederherstellung einer grundlegenden Infrastruktur sowie der
Produktionskapazitäten, insbesondere im Hinblick auf
die für die Selbstversorgung wichtige Landwirtschaft.
Der Naturkatastrophe folgt nun nämlich ein wirtschaftliches Fiasko. Nach vorläufigen Schätzungen beträgt der Schaden des Wirbelsturms insgesamt mehr als
5 Milliarden DM - weit mehr als zum Beispiel das jährliche Bruttosozialprodukt Nicaraguas. In weiten Teilen
der Region existieren heute weder Straßen noch Telefonleitungen. Es sollen allein 180 Brücken zerstört worden sein. Ich glaube, dieses Ausmaß können wir uns in
unserem hochzivilisierten Land gar nicht vorstellen.
Die Landwirtschaft existiert in Honduras praktisch
überhaupt nicht mehr. Der Exporterlös der Bananenernte
von 1,4 Milliarden DM ist weggefallen. Kaffee-, Zukker- und Reisernte fallen in diesem Jahr aus. Wo Nutztiere den Hurrikan überlebten, finden sie nun kein Futter
mehr.
Dies ist die Bilanz, die der Hurrikan „Mitch“ hinterlassen hat. Die internationale Staatengemeinschaft ist
nun gefragt, in den betreffenden Regionen zu helfen. Es
geht nicht mehr allein um die Frage, wie wir kurzfristig
die Not- und Katastrophenhilfe, Nahrungsmittellieferungen, Wiederaufbauprogramme und die Flüchtlingsversorgung sicherstellen können. Hinzu kommt
auch, welche bisher geleisteten Investitionen im Rahmen
der Entwicklungszusammenarbeit der Hurrikan vernichtete.
Ein zusätzliches Problem liegt in der Nothilfe auf der
einen Seite und in der Entwicklungszusammenarbeit
auf der anderen Seite. Beide werden weltweit aus den
gleichen Töpfen finanziert, und zwar aus den knapper
werdenden Etats für internationale Zusammenarbeit.
Das Problem aber ist: Im Nothilfebereich explodieren
die Kosten; für die Entwicklungszusammenarbeit bleibt
immer weniger übrig.
({3})
Gaben etwa Anfang der 80er Jahre die Geberländer noch
weniger als 2 Prozent ihrer Entwicklungsmittel für die
Nothilfe aus, so hat sich dieser Anteil inzwischen auf
11 Prozent erhöht. Allein die GTZ erhielt 1985 rund
20 Aufträge zur Katastrophenbewältigung; Mitte der
90er Jahre waren es 250. Für Frauenförderung bleibt
dann überhaupt nichts mehr übrig. Überschuldung ist zu
einem entwicklungshemmenden Problem geworden.
Selbst die Weltbank, neben dem IWF, privaten Geschäftsbanken und einzelnen Staaten Hauptgläubiger
vieler Entwicklungsländer, fordert mittlerweile neue Initiativen ein, um zumindest die Verschuldung der allerärmsten Länder, der „highly indebted developing countries“, in den Griff zu bekommen. Der von der Weltbank
einschlagene Weg, einen internationalen Fonds zur
Entschuldung der multilateralen Forderungen zu schaffen, könnte wegweisend auch für die Entschuldung privater und bilateraler Forderungen sein.
({4})
Die bisherigen Bemühungen von IWF und Weltbank
gegenüber den hochverschuldeten armen Ländern sind
kleine Schritte in die richtige Richtung. Dennoch sind
beide auch weiterhin gefordert, innovative Maßnahmen
zu ergreifen, um die Belastungen der armen Schuldnerländer auf ein tragbares Niveau zu reduzieren. Eine
volle Aufrechterhaltung der Finanzforderungen ist nicht
zu rechtfertigen.
Wir könnten bei der Lösung dieser Fragen weiter
sein, als wir es heute sind. Leider aber hat die alte Bundesregierung auf nationaler wie auch auf internationaler
Ebene Chancen und Möglichkeiten in diesem Bereich
vertan, was auch von Mitgliedern des Pariser Clubs kritisch angemerkt wurde.
({5})
Schon auf den letzten Jahrestagungen von IWF und
Weltbank hätte die alte Bundesregierung die Möglichkeit gehabt, umfassende Initiativen zur Lösung der Verschuldungskrise zu ergreifen. Versäumnisse dieser Art
dürfen nicht wieder vorkommen. Die Bundesregierung
muß in diesem Zusammenhang eine aktivere Rolle auf
dem internationalen Parkett spielen.
({6})
Ich begrüße es daher außerordentlich, daß die jetzige
Bundesregierung den bilateralen Schuldendienst für die
betroffene Region, vor allem für Honduras und Nicaragua, zunächst aussetzen will, und zwar mit dem Ziel, einen Erlaß der Auslandsschulden zu erreichen, und daß
sie sich in den internationalen Gremien für einen gezielten internationalen Schuldenerlaß einsetzen wird.
Ebenso wichtig ist die Bereitschaft der Bundesregierung, sich auf internationaler Ebene an der Einrichtung eines Hilfsfonds für multilateralen Schuldendienst für die betroffenen Länder zu beteiligen. Vor
allem ist wichtig, einen Beschluß des Pariser Clubs zu
initiieren - Frau Ministerin Wieczorek-Zeul hat schon
darauf hingewiesen -, in dem sich die Gläubigerstaaten
zu einer massiven Minderung der Schuldenlast bis hin
zu einem völligen Schuldenerlaß bekennen.
({7})
- Auch die bekommen wir vielleicht noch mit ins Boot.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits in der letzten
Legislaturperiode Vorschläge zur Lösung der Entschuldungsproblematik erarbeitet und in den Deutschen Bundestag eingebracht. Wir hatten seinerzeit die Vorschläge
der Weltbank begrüßt, einen internationalen Fonds zur
Entschuldung der ärmsten 40 Länder einzurichten. Über
diesen Fonds sollte unseres Erachtens unverzüglich auf
einer internationalen Schulden-konferenz diskutiert und
dessen Umsetzung und Konzeption geprüft werden.
Wir hatten dazu eine Reihe von Fragen formuliert,
die auf dieser Konferenz behandelt werden sollten und
die auch heute noch ihre Aktualität besitzen. Hierzu gehören die Fragen, gegenüber welchen Ländern der
Fonds Entschuldungen durchführen könnte, welche
Kriterien den Entschuldungsmaßnahmen zugrunde gelegt werden und ob im Zuge von Entschuldungen Gegenwertfonds für entwicklungspolitische Maßnahmen in
den betreffenden Ländern eingerichtet werden sollten.
Hierzu gehört die Sicherstellung, daß die Entschuldungsprogramme der breiten Bevölkerung zugute kommen und nicht den korrupten Eliten, die eine große Verantwortung für die Misere der Bevölkerung tragen.
({8})
Hier warne ich ausdrücklich vor einer Geschichtsklitterung, wie sie Herr Hedrich vorhin vorgetragen hat.
Ich denke, zum Beispiel die Regimes Somoza usw., die
lange, lange Jahre unter anderem auch von Nordamerika
unterstützt worden sind, haben den Grundstein für die
Entwicklung in diesen Ländern gelegt, die für die breite
Bevölkerung höchst negativ ist und zu diesem Ausmaß
der Katastrophe geführt hat.
({9})
Wir wollen weiter eine ausreichende Finanzierung
des Fonds, wobei der Fonds von der Weltbank insgesamt auf ein langfristiges Volumen von 11 Milliarden
US-Dollar veranschlagt wird und in den ersten drei Jahren über zirka 1,5 Milliarden US-Dollar verfügen müßte,
und müssen überlegen, welche Anteile am Fonds durch
Einlagen der internationalen Finanzinstitutionen - vor
allem von IWF, Weltbank und regionalen Entwicklungsbanken - selbst, durch einen Teilverkauf der IWFGoldreserven, durch eine Erhöhung der Sonderziehungsrechte und gegebenenfalls durch bilaterale Einlagen abgedeckt werden können. Hinzu kommt, daß es sinnvoll
ist, in bestimmten Fällen der Entwicklungsfinanzierung
diese nur noch in Form von Zuschüssen zu unterstützen
oder mit niedrigverzinslichen und langfristigen Krediten
zu flankieren.
Darüber hinaus, liebe Kolleginnen und Kollegen,
sollten wir prüfen, wo wir noch mehr Spielräume bei
Entschuldungsmaßnahmen haben, vor allem dann, wenn
der Schuldendienst armer Entwicklungsländer nicht ihrer Leistungsfähigkeit entspricht und deshalb Investitionen in Entwicklung verhindert. Auf deutsch: Mit neuen
Krediten werden alte Schulden bezahlt. Das kann nicht
so weitergehen. Das kann nicht Sinn von Entwicklungspolitik sein.
({10})
Zum Schluß: Auch ich finde es sehr bedauerlich, daß
die CDU/CSU-Fraktion nicht über ihren Schatten springen konnte und unseren Antrag, der interfraktionell
schon abgesegnet war, nicht mittragen konnte. Es wäre
gerade vor dem Hintergrund der katastrophalen Lage in
Mittelamerika ein positives Zeichen gewesen, wenn das
Haus geschlossen hinter diesem Antrag gestanden hätte.
Sie haben diese Chance leider vertan. Vielleicht gelingt
es Ihnen aber doch noch, einen kleinen Schritt zu tun
und, nachdem wir über die Anträge der Opposition abgestimmt haben, unserem Antrag zuzustimmen. Das wäre ein schönes Zeichen von gemeinsam gezeigter Solidarität für diese Länder.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat die
Kollegin Erika Reinhardt, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, noch nie
haben uns so viele schreckliche Nachrichten über Naturkatastrophen erreicht wie in diesem Jahr: Überschwemmungen in China, Bangladesch und Nordamerika,
Waldbrände und Smog in Asien, Hunger im Sudan. Besonders schlimm aber ist es, wenn solche Naturkatastrophen Entwicklungsländer treffen.
Der Wirbelsturm „Mitch“ hat in den Ländern Mittelamerikas eine Schneise der Verwüstung hinterlassen und
insbesondere die Länder Nicaragua und Honduras in ihrer Entwicklung um Jahrzehnte zurückgeworfen und die
Menschen in Not und Elend gestürzt. Verheerende
Überschwemmungen haben fast 350 000 Häuser zerstört
oder schwer beschädigt. Dem Hurrikan sind möglicherweise bis zu 30 000 Menschen zum Opfer gefallen.
Viele Tausende Kinder haben ihre Eltern verloren. Das
menschliche Leid und Elend, das durch den Wirbelsturm
und die Überschwemmungen angerichtet worden ist, ist
unermeßlich.
Die Menschen in dieser Region brauchen unsere Hilfe und Unterstützung; da sind wir uns einig. In diesem
Moment darf ich vielleicht gleich anfügen: Ich habe wenig Verständnis, wenn Sie jetzt der CDU ankreiden, daß
sie einen eigenen Antrag formuliert. Sie, SPD und Grüne, würden aber diesen Antrag, der in der Sache genauso
lautet wie Ihr Antrag - beiden Anträgen geht es um Entschuldung und Soforthilfe -, ablehnen. Glauben Sie tatsächlich, daß der Bürger draußen dies versteht?
({0})
Sie wissen, warum wir den gemeinsamen Antrag abgelehnt haben. Auch Sie haben sich nämlich jetzt plötzlich
von der PDS distanziert.
({1})
Lieber Herr Kollege, Sie sollten sich das schon sehr genau überlegen. Ich mache Ihnen ein Angebot: Stimmen
Sie unserem Antrag zu!
({2})
Wir werden kein Problem damit haben, auch Ihrem
Antrag zuzustimmen. Es werden beide zur Abstimmung
gestellt. Überlegen Sie es sich; Sie haben noch Zeit!
({3})
Der bilaterale Schuldendienst für Honduras, Nicaragua und Guatemala muß ausgesetzt werden, um den
Menschen überhaupt eine Chance zu geben, aus diesem
Dilemma herauszukommen. Die Bundesregierung sollte
sich deshalb in den internationalen Gremien für einen
umfassenden Schuldenerlaß einsetzen, um einen nachhaltigen Wiederaufbau der verwüsteten Regionen zu
fördern. Was das Instrumentarium des Schuldenerlasses
betrifft, so sage ich: Man muß darüber von Fall zu Fall
entscheiden. Die durch eine Naturkatastrophe hervorgerufene Situation in Guatemala, Nicaragua und Honduras
ist eine besondere und sollte nicht zum Anlaß genommen werden, einen bedingungslosen Schuldenerlaß
plötzlich für alle Entwicklungsländer zu fordern.
({4})
Als Entwicklungspolitikerin habe ich gelernt, Probleme pragmatisch anzugehen und sie grundsätzlich
nicht um ihrer selbst willen zu sehen. Die Situation in
Mittelamerika ist außergewöhnlich. Durch die bittere
Not und die existenzbedrohende Armut durch das
furchtbare Wüten des Wirbelsturms in der Region sind
Leben und Zukunft von 2,5 Millionen Menschen gefährdet. Hier müssen wir ohne Wenn und Aber helfen.
({5})
Der in unserem Antrag geforderte Schuldenerlaß für
Guatemala, Nicaragua und Honduras ist ein wichtiger
Weg, um den Menschen nicht nur zu helfen, sondern ihnen auch eine Chance zu geben.
Aber der Schuldenerlaß ist eben nur die eine Sache.
Darüber hinaus müssen auch Sofortmaßnahmen in die
Wege geleitet werden, um zumindest die drängendsten
Probleme lösen zu können. In den verwüsteten Ländern
sind die hygienischen Verhältnisse nach der Hochwasserkatastrophe - dies ist nicht verwunderlich - verheerend. Sauberes Trinkwasser fehlt überall. Dies begünstigt die Ausbreitung von Krankheiten. Insbesondere in den schwer zugänglichen Dörfern werden die
Infektionsrisiken immer höher. Verseuchter Schlamm,
übergelaufene Latrinen und Kadaver führen zur Ausbreitung von Krankheiten und Seuchen. Die Trinkwasserversorgung ist fast völlig zusammengebrochen. In ihrer Verzweiflung schöpfen die Menschen das Wasser
aus verseuchten Flüssen und Tümpeln. Die Seuchenspirale dreht sich immer schneller. Im Zusammenhang mit
dem Wirbelsturm wurden in Honduras 115 000 Krankheitsfälle registriert; in Nicaragua waren es annähernd
60 000. Mehrere hundert Fälle von Cholera, DenguefieAdelheid Tröscher
ber und Malariaerkrankungen wurden bereits gemeldet.
Hier ist dringend medizinische Hilfe erforderlich. Deshalb fordern wir auch die Bundesregierung auf, die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen und in den Katastrophengebieten einzusetzen. Denkbar wäre zum Beispiel der Einsatz des Technischen Hilfswerks. Das THW
hat Erfahrung und verfügt über die modernste technische
Ausstattung; es könnte vor allem bei der Trinkwasseraufbereitung und der Reparatur von lebensnotwendiger
Infrastruktur wie dem Wiederaufbau von Brücken und
Straßen helfen.
({6})
Neben sauberem Trinkwasser fehlen den Menschen
Nahrungsmittel. Trotz aller internationaler Hilfsbemühungen droht in Honduras immer noch eine Hungersnot. Ähnlich schwierig ist die Situation in Nicaragua. Die Ernten sind nach den verheerenden Überschwemmungen vernichtet. Für ein Agrarland wie Honduras, in dem drei Viertel der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeiten, ist dies eine doppelte Katastrophe.
Zum einen fehlen Nahrungsmittel für die eigene Bevölkerung, zum anderen fallen exportfähige Produkte wie
Bananen, Zuckerrohr, Zitrusfrüchte als Hauptdevisenbringer weg, was die Situation im Land natürlich wesentlich verschlimmert. Wenn nicht schnellstens Nahrungsmittel und Saatgut zur Verfügung gestellt werden,
dann ist die Abwärtsspirale geschlossen, möglicherweise
auch mit Folgen für die Industrieländer. Mehr und mehr
Menschen werden in den Ländern Zuflucht suchen, die
ihnen ein relativ sicheres Leben garantieren.
Honduras und Nicaragua sind durch die Naturkatastrophe in ihrer Entwicklung um mindestens zwei
Jahrzehnte zurückgeworfen. 20 verlorene Jahre bedeuten auch den Verlust von 20 Jahren Entwicklungshilfe.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unter Minister Spranger hat
noch in den Jahren 1997 und 1998 300 Millionen DM in
diese Region gegeben; ein großer Teil davon ist jetzt
unter dem Schlamm begraben. Dies ist um so tragischer,
als diese Länder sowieso zu den ärmsten der Welt gehören. Wir müssen den Menschen dort Hoffnung geben
und ihnen durch Solidarität und Anteilnahme beweisen,
daß uns ihr Schicksal nicht gleichgültig ist. Nur rasche
und unbürokratische Hilfe ist Garant für effektive Hilfe.
Langfristig müssen aber auch Gelder für den Wiederaufbau der Infrastruktur bereitgestellt werden.
Dazu bedarf es vor allen Dingen der Koordination unterschiedlicher Politikbereiche, aber auch der Koordination
bilateraler und multilateraler Entwicklungszusammenarbeit. Dabei müssen wir im Blick behalten, daß
Hilfe immer Hilfe zur Selbsthilfe sein muß. Das heißt,
wir müssen die Menschen vor Ort verstärkt in den Wiederaufbau einbinden. Ziel muß es sein, eigene Ressourcen vor Ort zu entwickeln bzw. zu mobilisieren.
({7})
Wir fordern die Regierung auch auf, im Ausschuß zur
gegebenen Zeit einen Bericht über die durchgeführten
Aktivitäten zu geben.
Im übrigen beweisen nicht nur Politikerinnen und
Politiker Solidarität und Hilfsbereitschaft gegenüber den
Notleidenden in Nicaragua, Guatemala und Honduras.
Auch die deutsche Bevölkerung zeigt sich solidarisch
mit den Opfern in Mittelamerika. Viele private Organisationen und Initiativen haben in den vergangenen Tagen Spendenkonten eingerichtet. Viele große deutsche
Hilfsorganisationen wie das Deutsche Rote Kreuz, das
Diakonische Werk oder die Caritas haben Nothilfeaktionen gestartet, um den Menschen in Mittelamerika beizustehen. Ihnen allen, vor allem den Helfern vor Ort,
möchte ich für diese Solidarität mit den Menschen in
Not von dieser Stelle aus ganz herzlich danken.
({8})
Diese Signale der Mitmenschlichkeit und des Mitleidens sind für die Betroffenen vor Ort wichtig; denn
sie machen ihnen Mut und deutlich, daß sie trotz ihrer
Verzweiflung nicht alleine sind.
Nun bitte ich Sie noch einmal: Stimmen Sie dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion zu!
({9})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über
den Antrag der CDU/CSU-Fraktion zu Hilfsmaßnahmen, Schuldenerlaß und Wiederaufbau in Mittelamerika nach der Wirbelsturmkatastrophe, Drucksache
14/56. Wer diesem Antrag zustimmen möchte, den bitte
ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Das zweite war die Mehrheit. Damit ist
der Antrag abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den
Antrag der Fraktion der PDS zu Soforthilfe, Wiederaufbaumaßnahmen und Entschuldung für Mittelamerika, Drucksache 14/57. Wer diesem Antrag zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist
abgelehnt.
Nun kommen wir zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen zum Schuldenerlaß und zu Aufbaumaßnahmen
in Mittelamerika nach der Wirbelsturmkatastrophe auf
Drucksache 14/54. Wer diesem Antrag zustimmen
möchte, den bitte ich um das Handzeichen? - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Bei Stimmenthaltungen ist dieser Antrag angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zu einem Umfrageergebnis, nach dem nur 13 % der Unternehmen die bisherigen 620/520-Mark-Jobs
in reguläre Arbeitsverhältnisse überführen,
demgegenüber aber 20 % der Firmen diese
bisherigen geringfügigen BeschäftigungsverErika Reinhardt
hältnisse streichen und 23 % lieber freie Mitarbeiter einstellen wollen, wenn die bisherigen
rot-grünen Pläne zu einer Neuregelung verwirklicht werden
Dazu eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat Herr
Rainer Brüderle, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Aktuelle Stunde, die die F.D.P.
beantragt hat, hat offensichtlich erste, und zwar nachhaltige Wirkung gezeigt.
({0})
Die Agenturen melden: Der Bundeskanzler, so der Regierungssprecher, beabsichtigt, heute in dieser Aktuellen
Stunde seine neueste Variante zu dem Thema „620-DMVerträge“ vorzulegen. Es ist höchste Zeit, diese wirtschaftspolitische Geisterfahrt bei den 620-DM-Verträgen zu beenden.
({1})
Das Chaos und das Wirrwarr, die hier inszeniert wurden, haben Ängste beim Mittelstand um seine Marktstellung und bei den Arbeitnehmern Ängste um ihre Arbeitsplätze ausgelöst.
({2})
Dies war alles überflüssig, weil die ganze Argumentation unaufrichtig, ideologisch und falsch war.
({3})
Was wurde denn mit bebender Stimme von den Regierungsfraktionen vorgetragen? Erstens. Der soziale
Schutz soll verbessert werden. Zweitens. Die soziale
Absicherung der Frauen soll verbessert werden. Drittens. Es werden viele Arbeitsplätze in Vollerwerbsarbeitsplätze umgewandelt.
({4})
Viertens. Die Parzellierung der Arbeitsverhältnisse wird
damit eingestellt. - Nichts wird geschehen. Es bleibt,
wie es war. Das ist auch vernünftig. Es wird zur Gesichtswahrung jetzt ein Bankkonto durch ein anderes ersetzt.
({5})
Sie hätten zur Verwaltungsvereinfachung gleich die
4,5 Milliarden DM aus dem Staatshaushalt an die Sozialversicherung zur Finanzierung Ihrer Wahlversprechen
überweisen können. Aber diese ganzen Tricks waren
doch nicht nötig, genauso wenig wie Ihr Gesetzentwurf,
der in der Tat elementare Ängste ausgelöst hat, ergänzt
um den Fehlstart Ihrer Regierung, ergänzt um die unaufrichtige Debatte um Ökosteuern, die mit Öko und
Lenkung überhaupt nichts zu tun haben, sondern nur ein
Abkassieren der Bevölkerung bedeuten.
({6})
Sie legten uns dieses hochbürokratische Modell vor,
das kaum umsetzbar ist. Was hat Ihnen eigentlich der
Mittelstand getan, daß Sie so mit den Ängsten und Sorgen der kleinen Handwerker, der kleinen Einzelhändler
und der kleinen Gastronomen spielen? Das ist unanständig, was Sie gemacht haben.
({7})
Sie wissen, daß Sie gerade diesen Bereich brauchen,
weil hier am ehesten Chancen bestehen, Arbeitsplätze zu
erhalten und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Was Sie an
Horrorinstrumenten auf den Weg gebracht haben, sitzt
tief im Bewußtsein der Menschen. Sie leisten mit diesem
Wirrwarr und mit diesen falschen Konzepten einen Beitrag zur tiefen Verunsicherung der deutschen Wirtschaft.
({8})
Die Fünf Weisen haben es Ihnen gestern ins Stammbuch
hineingeschrieben.
Die Beschäftigungslage ist zu ernst, um mit solchen
unausgegorenen und nicht durchdachten Konzepten als
Gesetzentwürfen draußen diese Ängste hochzuzüchten
und um anschließend die Notbremse zu ziehen, weil
man erkennt, daß das, was man vorhat, ökonomischer
Unsinn ist.
({9})
Deshalb kommt die Revision. Es wäre besser, Sie hätten
uns dies gleich erspart, aber immerhin ist es der zweitbeste Weg, heute den Rückzug anzutreten. Vielleicht
nutzen Sie, Herr Bundeskanzler, auch die Gelegenheit,
sich ein Stück beim Mittelstand und bei den Arbeitnehmern, die in diesem Bereich beschäftigt sind, für die
Ängste, die Sie ausgelöst haben, zu entschuldigen.
({10})
Ich erteile das Wort
dem Herrn Bundeskanzler Gerhard Schröder.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Bessere ist des Guten Feind. Herr Brüderle, ich glaube, Sie
haben sich künstlich aufgeregt.
({0})
Deswegen zurück zur Sache.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Drei Ziele gilt es zu realisieren. Erstens. Wir müssen
und wir wollen die Erosion der Finanzierungsgrundlagen der Sozialversicherung stoppen.
({1})
Das sollte ein Ziel sein, das uns verbindet. Denn niemand hat etwas davon, wenn es so weitergeht wie bisher, wenn zum Beispiel - das muß doch klar sein; das
sollte selbst Ihnen von der Opposition klar sein - große
deutsche Handelsketten ein Vollerwerbsarbeitsverhältnis, das zu finanzieren sie sehr wohl in der Lage sind, in
drei 620-DM-Jobs umwandeln.
({2})
Das hilft doch keinem. Das hilft weder der deutschen
Wirtschaft, noch hilft es im entferntesten den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, noch hilft
es den sozialen Sicherungssystemen, auf die wir alle angewiesen sind.
Das zweite Ziel, das es bei dieser gewiß schwierigen
Frage anzustreben gilt, ist: Die Belastungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, um die es mir, uns allen in diesem Zusammenhang geht, jedenfalls gehen
sollte, dürfen nicht zunehmen.
Drittens. Es gibt ganz viele Menschen, die auf geringfügige Beschäftigungsverhältnisse angewiesen sind.
({3})
Es gilt zu erkennen, daß Familien damit beispielsweise
ihren Urlaub finanzieren. Auch um die geht es mir, geht
es uns.
({4})
Auf der einen Seite will ich nicht, daß Mißbrauch betrieben wird, indem Vollerwerbsarbeitsverhältnisse systematisch auch da, wo es nicht nötig ist, in geringfügige
Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt werden. Auf
der anderen Seite gilt es Rücksicht auf diejenigen zu
nehmen, die einen solchen Job brauchen, aus welchen
Gründen auch immer.
({5})
Alle drei Ziele müssen miteinander in Einklang gebracht werden. Wir haben das in den vergangenen Tagen
mit den betroffenen Verbänden, vor allen Dingen aber
auch mit den Fachleuten der Koalition, mit den Fraktionsführungen der Koalition diskutiert.
({6})
- Warten Sie doch erst einmal ab, ehe Sie weiter herumschreien!
({7})
Ich glaube, wir haben eine Lösung gefunden, die sich
sehen lassen kann und die wir umsetzen werden. Ich will
Ihnen gerne die Elemente dieser Lösung nennen.
Das erste Element sind die Arbeitsverhältnisse im Bereich der geringfügigen Beschäftigung bis 620 DM, und
zwar im Westen wie im Osten; die Unterschiede werden
aufgehoben.
({8})
Diese Arbeitsverhältnisse bleiben steuerfrei, und zwar
unabhängig von weiteren Einkünften. Die Bundesregierung wird prüfen, wie eine verfassungsrechtlich
saubere Lösung in diesem Bereich aussehen kann. Wir
werden eine solche Lösung finden.
({9})
Eine Dynamisierung findet nicht mehr statt.
({10})
Dies bedeutet: Das wird festgeschrieben.
Zweitens. Für die Sozialversicherung hat der Arbeitgeber folgende Pauschsätze zu leisten: 10 Prozent an die
Krankenversicherung, 12 Prozent an die Rentenversicherung.
Drittens. Aus diesen Leistungen heraus entstehen
keine zusätzlichen Ansprüche
({11})
- Sie sollten wenigstens einmal lernen zuzuhören, Herr
Hirche; sonst bekommen Sie dazu, wie schon in Niedersachsen, wieder Gelegenheit -,
({12})
es sei denn, daß zum Beispiel der betroffene Arbeitnehmer oder die betroffene Arbeitnehmerin die Beiträge zur
Rentenversicherung aus eigenen Mitteln so aufstockt wozu Gelegenheit gegeben werden wird -, daß der
Rentenbeitragssatz von zukünftig 19,5 Prozent erreicht
wird.
Tut er das, dann erwirbt er eigene Ansprüche im Rahmen seiner Beitragsleistungen.
Viertens. Mehrere geringfügige Beschäftigungsverhältnisse werden zusammengerechnet. Die zuvor genannten steuer- und sozialversicherungsrechtlichen Regelungen gelten nur - das ist wichtig -, sofern 620 DM
insgesamt nicht überschritten werden, denn wir wollen
Mißbrauch ausschließen.
({13})
Meine Damen und Herren, um das noch einmal klarzumachen: Wir werden festlegen, daß die steuer- und
sozialversicherungsrechtlichen Regelungen nicht für
Nebenbeschäftigungen beim selben Arbeitgeber gelten.
Fünftens. Alle Arbeitsverhältnisse im Bereich der Geringfügigkeit müssen der Sozialversicherung gemeldet
werden. Sie sind auf der Lohnsteuerkarte zu vermerken,
und zwar - auch dies sage ich ausdrücklich - mit dem
Ziel, stattgefundenen Mißbrauch in Zukunft jedenfalls
einzuschränken, wo wir ihn nicht verhindern können,
was besser wäre. Aber wir müssen den Versuch machen,
zu Einschränkungen zu kommen; denn alles, was in diesem Bereich an Mißbrauch geschieht, geht letztlich zu
Lasten derer, die die sozialen Sicherungssysteme finanzieren, also derer, die als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt sind.
({14})
Sechstens. Die Regelung soll zum 1. April 1999 in
Kraft treten.
({15})
Die Beitragsabsenkung in der Rentenversicherung auf
19,5 Prozent erfolgt ebenfalls zum 1. April 1999.
Siebtens. Die dargestellte Lösung wird in einem eigenständigen Gesetzentwurf geregelt werden. Das Parlament wird Gelegenheit erhalten, ihn zu diskutieren.
Wir gehen davon aus, daß er im Januar, Februar 1999
verabschiedet wird.
Meine Damen und Herren, damit haben wir, wie ich
glaube, einen Beitrag dazu geleistet, daß auf der einen
Seite der Mißbrauch der 620-DM-Jobs eingeschränkt
wird, daß auf der anderen Seite jene betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die auf solche Jobs angewiesen sind, nicht zusätzlich belastet werden und daß
zum dritten berechtigten Forderungen insbesondere
kleiner und mittlerer Unternehmen Rechnung getragen
wird - unberechtigten Forderungen, mit denen wir in
diesen Tagen zuhauf konfrontiert wurden, naturgemäß
nicht.
Ich habe die Bitte, daß Sie, wenn es soweit ist, dieser
Regelung zustimmen, und ich gehe davon aus, meine
Damen und Herren von der Opposition, daß auch Sie,
wenn Sie es mit der Sorge für die Beschäftigten, die darauf angewiesen sind, und mit vernünftigen Regelungen
zugunsten des Mittelstandes ernst meinen, zustimmen
werden. Ich freue mich schon darauf, wenn Ihre Hände
bei den entsprechenden Gesetzentwürfen - diesmal an
der richtigen Stelle - nach oben gehen.
({16})
Das Wort hat der
Kollege Julius Louven, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Ihr telegenes Lächeln vergeht Ihnen langsam.
({0})
Gestern waren es die verheerenden Ergebnisse der Wirtschaftsweisen, heute ist es das Eingeständnis, daß Sie
eine Regelung bei 620-DM-Arbeitsverhältnissen nicht
so, wie angekündigt, hinbekommen. Dabei müssen Sie
wissen, daß uns Ihre Kolleginnen und Kollegen aus der
SPD-Fraktion - allen voran Ottmar Schreiner - in der
letzten Legislaturperiode immer wieder vorgeworfen
haben, wir hätten nicht die Kraft zu handeln,
({1})
obwohl doch alles so einfach sei.
({2})
Nun erleben Sie, wie schwierig es ist. Man sieht es
Ihnen ja an Ihrem Gesicht an, welche Probleme Sie in
Ihrer Fraktion gehabt haben.
({3})
Wenn die Lösung der Probleme so einfach wäre, dann
hätten Sie doch nur Ihren Gesetzentwurf auf Drucksache 13/3301 wieder vorlegen müssen. Aber Sie haben
sich nicht getraut, dieses Machwerk noch einmal auf den
Tisch zu legen.
({4})
Zu Ihren Vorschlägen, Herr Bundeskanzler, will ich
nur sagen, daß es - Sie haben es selbst eingeräumt Verfassungsprobleme geben könnte. Das werden wir
natürlich prüfen. Ich möchte zudem feststellen, daß Ihr
Vorschlag äußerst kompliziert ist. Wie soll das in der
mittelständischen Wirtschaft denn überhaupt gehandhabt
werden?
({5})
Uns interessiert natürlich, was mit den Einnahmen passiert. Frau Fischer hat bereits 1,4 Milliarden DM eingeplant, um ihre läppische Reform zu finanzieren;
2,1 Milliarden DM für die Rentenversicherung - wir
werden gespannt sein, wie das weitergeht.
Nun zur Sache selbst und auch zur F.D.P., zu Ihnen,
Herr Brüderle: Selbst wenn die Ergebnisse der Umfrage,
die Sie zum Gegenstand des Antrages einer Aktuellen
Stunde gemacht haben, richtig sind, bleibt es Tatsache,
daß erstens die Sozialversicherungssysteme mit zunehmender Tendenz unterlaufen werden - wobei ich weiß,
daß die Unternehmen das tun, weil sie einem besonderen
Kostendruck unterliegen; das hat natürlich Folgen für
die Sozialversicherungssysteme -, daß zweitens viele
Arbeitnehmer, insbesondere Frauen, in dieser Beschäftigung keinen ausreichenden Altersschutz erreichen darüber müssen wir reden ({6})
und daß drittens Unternehmen und auch Freiberufler
sich Wettbewerbsvorteile verschaffen und andere zwingen, das gleiche zu tun, womit eine Welle in Bewegung
kommt, der wir nicht tatenlos zusehen dürfen.
Vor diesem Hintergrund sieht meine und im übrigen,
Herr Brüderle, auch Ihre Fraktion Handlungsbedarf.
Denn wir haben am 11. Dezember 1997 in einer gemeinsamen Entschließung festgestellt, daß für
schutzwürdige Personen ein ausreichender Versicherungsschutz sichergestellt werden muß.
({7})
Dieses Instrument wurde geschaffen, um es der mittelständischen Wirtschaft zu ermöglichen, Auftragsspitzen
abzufangen. Ich hätte meinen Betrieb - ein Ausflugscafé
- ohne dieses Instrument überhaupt nicht führen können.
In mancher Landesvertretung bekämen Sie abends kein
Glas Bier gebracht, wenn es dieses Instrument nicht gäbe.
({8})
Deshalb ist für uns als CDU/CSU-Fraktion folgendes
wichtig: Erstens. Der flexible Zugriff auf Arbeitnehmer,
die ad hoc bereit sind, auch zu unpopulären Arbeitszeiten tätig zu werden, muß möglich bleiben. Zweitens. Die
Arbeitsverhältnisse dürfen sich nicht wesentlich verteuern - weder für die Arbeitnehmer noch für die Arbeitgeber. Drittens. Der Einstieg in normale Teilzeitbeschäftigung, die jetzt an der 620-DM-Mauer endet, muß mit
einer Neuregelung erleichtert werden. Viertens. Wir
müssen alles vermeiden, was Arbeitnehmer und Arbeitgeber in die Illegalität treibt. Fünftens. Wir brauchen
Regelungen, die einfach handhabbar sind. Deshalb rate
ich auch zur Vorsicht bei Ausnahmen.
Meine Damen und Herren, das alles geht, wenn Sie
nicht Geldquellen suchen, mit denen Sie andere Löcher
schließen. Die soziale Absicherung der Menschen muß
im Mittelpunkt stehen und nicht die Suche nach Einnahmequellen.
({9})
Die Löcher, die Sie leichtfertig und gegen jede Vernunft
aufreißen, dürfen Sie nicht auf Kosten des Mittelstands
zu schließen versuchen.
({10})
Das Wort hat Frau
Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie die
Aktuelle Stunde eingeleitet worden ist, war gewiß ein
ungewöhnlicher Vorgang in diesem Hohen Hause. Daran, Herr Kollege Brüderle, sehen Sie eins: Es bleibt eben
nichts, wie es war. Ich glaube, das ist es, was bei Ihnen
Ängste auslöst.
({0})
Meine Damen und Herren, in der gebotenen Kürze
der Zeit kann ich nur eine erste Bewertung vornehmen
und sicherlich auch nicht alle Punkte ansprechen, die der
Herr Bundeskanzler soeben vorgestellt hat.
Erster zentraler Punkt. Ab der ersten Mark wird die
Sozialversicherungspflicht eingeführt.
({1})
Das, meine Damen und Herren, wollten wir als Grüne
immer, und das, Herr Kollege Brüderle, ist keine komplizierte, sondern eine einfache, klare und übersichtliche
Regelung.
({2})
Wir wollten das unter anderem deshalb, weil sich in
den letzten fünf Jahren gezeigt hat, daß es eine unsoziale
und gesellschaftlich gefährliche Tendenz gibt, Vollzeitund sozialversicherungspflichtige Jobs immer mehr
durch nicht sozialversicherungspflichtige Jobs zu ersetzen.
({3})
- Ja, freilich. Die Zahl der prekären Beschäftigungsverhältnisse ist in den letzten fünf Jahren um 30 Prozent
angestiegen. Gleichzeitig ist der Anteil der sozialversicherungspflichtigen Jobs um 6 Prozent gesunken. Hieran
sieht man die Substitution. Mit dieser Regelung wird
genau diesem Prozeß, der insbesondere Frauen in prekäre Beschäftigungsverhältnisse drängt, ein Riegel vorgeschoben. Ich denke, das ist eine vernünftige Entwicklung.
Zweitens: keine Lohnsteuer bis 620 DM. Dies bedeutet natürlich eine Entlastung der kleinen Einkommen.
Aber ich sage an dieser Stelle auch: Wir müssen hierüber noch weiter diskutieren, weil es auch um Nebenjobs geht. Der Herr Bundeskanzler hat dies angesprochen. Wir müssen hinsichtlich der Besteuerung eine
auch verfassungsrechtlich haltbare Lösung finden.
Drittens. Es läuft darauf hinaus, daß die geringfügig
Beschäftigten, also jene, die unter 620 DM monatlich
verdienen, keine zusätzlichen Belastungen haben, weil
die Arbeitgeber den Sozialversicherungsbeitrag leisten
müssen. Aber es ist auch richtig, daß Frauen und Männer, wenn sie ihren eigenen Rentenanteil nicht zahlen,
auch keine zusätzlichen Ansprüche erwerben.
({4})
Das muß man sehr ausgewogen diskutieren. Das ist
vollkommen klar.
Aber wir müssen eines sehen: Wir haben zum erstenmal und endlich für alle und insbesondere für Frauen ab der ersten Mark Verdienst die Möglichkeit geschaffen, sich überhaupt einen Rentenanspruch zu erwerben. Das müssen wir einfach sehen.
({5})
Wäre die Grenze bei 300 DM festgesetzt worden, hätte
ein großer Teil der Frauen diese Möglichkeit nicht bekommen. Auch das müssen wir in diesem Zusammenhang sehen, und hierüber werden wir diskutieren.
Auf alle Fälle besteht mit dieser Regelung die auch
für die Frauen schlechte Möglichkeit nicht mehr, 620DM-Jobs beispielsweise in nicht sozialversicherungspflichtige Jobs unter 300 DM aufzusplitten. Denn das
lohnt sich für die Arbeitgeber nicht. Wir werden also die
Tendenz, Arbeitsverhältnisse immer weiter aufzuJulius Louven
splitten, aufhalten können. Das ist eine positive Entwicklung.
Viertens: die Pauschalbesteuerung. Die Aufregung,
die hierüber in der letzten Zeit entstanden ist, habe ich
nicht verstanden. Auch bisher war ja die Pauschalbesteuerung eine Kann-Lösung. Wer in diesem Hause
kann mir einen Unternehmer oder eine Unternehmerin
nennen, die freiwillig eine Doppelbesteuerung vorzieht?
Ob und in welcher Weise sie abgeschafft wird, ist also
kein zentraler Punkt.
Zum Schluß möchte ich eine vorläufige Bewertung
abgeben, die wie folgt lautet: Es ist ein Fortschritt, daß
die Sozialversicherungspflicht ab der ersten verdienten
Mark eingeführt wird.
({6})
Es ist ein richtiger Weg, daß Frauen endlich die Möglichkeit haben, sich einen Rentenanspruch zu erwerben.
({7})
Aber - auch das sage ich -: Die Armut in dieser Gesellschaft ist immer noch weiblich. Dieses Problem werden
wir weder mit der Geringfügigkeit noch mit einer neuen
Grenze abschaffen können.
Deswegen besteht an dieser Stelle der politische
Auftrag an Rotgrün, unter anderem mit einer großen
Steuerreform das Problem der weiblichen Armut grundsätzlich neu anzugehen.
({8})
Das Wort hat
Dr. Klaus Grehn, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Es ist nichts Neues, daß die F.D.P.
die sozialversicherungsfreien Jobs protegiert. Nach den
Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers könnte ich Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der
F.D.P., sagen: Erstens kommt es anders, zweitens als
man denkt.
({0})
Bisher waren diese Jobs ein probates Mittel, um die
Misere am Arbeitsmarkt zu verschleiern - eine Misere,
für die die rechte Seite in höchstem Maße Verantwortung trägt.
({1})
Am Entgelt und an der Arbeitszeit festgemacht, handelte
es sich um ein in den vergangenen Legislaturperioden
ständig gewachsenes Defizit an regulären existenzsichernden Arbeitsplätzen. Dies haben Sie in all Ihren
Diskussionen niemals einbezogen. Sie haben von
400 000 Arbeitsplätzen gesprochen, die geschaffen worden sind; Sie sehen aber nicht, daß in diesem Bereich bei
6 Millionen prekär Beschäftigten nahezu 3,5 bis 4 Millionen reguläre Arbeitsplätze fehlen.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P.,
als Begründung für Ihren Antrag Umfrageergebnisse
herangezogen haben, dann muß ich Ihnen sagen, daß Sie
im Verlaufe Ihrer Regierungszeit vieles hätten ändern
müssen, wenn Sie schon damals auf Umfrageergebnisse
reagiert hätten.
({2})
Es scheint mir auch bei Ihnen zuzutreffen, daß dann,
wenn man hinter dem Schalter sitzt, die Gegend anders
aussieht, als wenn man vor dem Schalter sitzt.
Zunächst hat die PDS-Fraktion festgestellt, daß die
Verlautbarungen, die in der Vergangenheit zu 620Mark-Jobs und 520-Mark-Jobs gekommen sind, nicht
auf unsere Zustimmung gestoßen sind. Herr Bundeskanzler, ich gratuliere Ihnen dazu, daß Sie mit Ihren jetzigen Aussagen Ungereimtheiten in den Diskussionen 300 DM oder 200 DM als Untergrenze für die Sozialversicherungspflicht bzw. 20 Prozent Abzug als Lohnkostenpauschale für die Unternehmen? - beseitigt haben. Sie haben hier eine Klarheit geschaffen, die auch
die PDS-Fraktion weitestgehend mittragen kann. Das
betrifft insbesondere die Äußerung, daß von der ersten
Arbeitsstunde und von der ersten verdienten Mark an die
Sozialversicherungspflicht eintritt. Das findet unsere
Zustimmung.
({3})
- Sie haben jahrelang Zeit gehabt, sich das zu überlegen
und einen Neuanfang zu wagen. Jetzt können Sie nur
herummosern. Daß Ihnen das nicht vorher eingefallen
ist!
({4})
Wir hätten allerdings gern gewußt, ob die prekär Beschäftigten, die 520- bzw. 620-Mark-Jobs haben, einen
Anspruch auf Sozialleistung erwerben
({5})
oder ob sie ihren Anspruch erhöhen können, wenn sie
sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden.
Das, was die Regierung hier vorgestellt hat, bedarf
einer tiefergehenden Betrachtung. Eines darf nicht passieren: Es dürfen keine Veränderungen erfolgen, die dazu führen, daß einerseits der Anspruch auf ergänzende
Sozialhilfe wächst und damit den Kommunen weitere
Kosten zugeschoben werden und daß andererseits die
Armut in unserem Lande wächst.
Herr Bundeskanzler, ich bitte Sie, zu überlegen, ob
man in der Tat so stark von Leistungsmißbrauch reden
kann. Die ehemalige Regierungskoalition hat sich in der
Diskussion um den Leistungsmißbrauch unter anderem
bei den Empfängern von Arbeitslosenhilfe hinreichend
blamiert. Ich hoffe nicht, daß uns ähnliches passiert,
imdem wir von zu hohen Zahlen hinsichtlich des Mißbrauchs in diesem Bereich ausgehen. Die Menschen
wollen Arbeit. Sie können arbeiten. Was ihnen geboten
werden muß, ist Arbeit, die menschenwürdig ist und sie
vor Ausgrenzung und Armut schützt.
({6})
Herr Kollege Grehn,
das war Ihre erste Rede. Im Namen des Hauses gratuliere ich Ihnen dazu.
({0})
Das Wort hat jetzt Dr. Peter Struck, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Was dieser alten Regierungskoalition jahrelang nicht gelungen ist, wird diese neue Koalition innerhalb eines halben Jahres erledigen.
({0})
Wir werden den Mißbrauch bei geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen beenden. Wir werden soziale Sicherheit für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schaffen,
({1})
und wir werden nicht die mittelständische Wirtschaft
belasten,
({2})
so wie Sie es falsch an die Wand gemalt haben, Herr
Kollege Brüderle.
({3})
Die SPD-Bundestagsfraktion wird die vom Herrn
Bundeskanzler vorgetragenen Eckpunkte in einer ersten
Beratung heute in einen Gesetzentwurf umgießen. Herr
Kollege Louven, Ihre Rede bringt mich zu der optimistischen Erwartung, daß die CDU/CSU-Fraktion, endlich
aus der Gefangenschaft mit der F.D.P. befreit, unsere
Vorstellungen mittragen wird.
({4})
Wir werden einen Gesetzentwurf vorlegen. Selbstverständlich werden wir die Einwände, insbesondere auch
die Einwände, die von Betroffenen kommen, sehr sorgfältig im Anhörungsverfahren erörtern. Die SPDBundestagsfraktion und die Koalitionsfraktion der Grünen werden selbstverständlich berechtigte Einwände
aufgreifen.
Wir sind jetzt noch nicht soweit, daß wir hier eine
ausführlichere Debatte über die Einzelheiten führen
könnten. Deshalb erkläre ich für die SPD-Fraktion: Wir
werden uns an der im übrigen einen unsinnigen Titel
tragenden Aktuellen Stunde, Herr Kollege Brüderle,
nicht mehr beteiligen.
({5})
Aber es wäre schön,
wenn Sie im Saal blieben, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen.
({0})
Das Wort hat Kollege Thomas Strobl, CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wir sprechen heute in dieser
Aktuellen Stunde über die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, weil die rotgrüne Koalition zu diesem
Thema ein heilloses Durcheinander verursacht hat.
({0})
Die betroffenen Menschen müssen wissen, was auf
sie zukommt. Das wissen sie auch nach der Rede des
Herrn Bundeskanzlers leider nicht,
({1})
wiewohl wir anerkennen müssen, daß es dem Herrn
Bundeskanzler in nächtlicher Sitzung gelungen ist, die
Regierungskrise wegen der 620-DM-Jobs abzuwenden.
({2})
Aber ich glaube, Sie werden noch einige nächtliche Sitzungen haben. Vielleicht nehmen Sie auch den grünen
Koalitionspartner in diese Sitzungen mit, damit wenigstens der Koalitionspartner weiß, was Sie hier oben verkünden, und es versteht. Dies ist bei den Ausführungen
der Kollegin von der grünen Fraktion deutlich geworden.
({3})
Es ist wahr, Herr Bundeskanzler, daß es bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen Mißbrauch
gibt. Genau diesen Mißbrauch müssen wir bekämpfen.
Handlungsbedarf besteht vor allem dort,
({4})
wo die Flucht aus den Sozialversicherungsbeiträgen gesucht wird oder wo die Umwandlung von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in nicht sozialversicherungspflichtige Beschäftigung betrieben wird.
Aber diese Probleme löst man nicht durch Umverteilung von der einen Tasche in die andere Tasche,
({5})
von der Sozialversicherungskasse in die Steuerkasse und
umgekehrt. Richtig wären strukturelle Reformen, damit
die reguläre Teil- und Vollzeitarbeit durch die Senkung
von Steuern und Abgaben wieder attraktiver wird.
({6})
Meine Damen und Herren, wie die rotgrüne Koalition, eher der rote Teil der Koalitionsfraktionen, an die
geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse herangeht,
zeigt sehr deutlich, daß es nicht um strukturelle Maßnahmen für mehr Beschäftigung geht, sondern daß sie
offensichtlich nur Gelder für die Sozialkassen sucht, die
anderwärtig leichtfertig ausgegeben werden.
({7})
Meine Damen und Herren, so etwas nennt man Abkassieren, auch wenn jetzt der Finanzminister mit abkassiert
wird.
({8})
Klar ist: Wir werden nur eine Lösung mittragen können, die nicht zur Verteuerung von Arbeit führt.
Meine Damen und Herren, es ist immer gesagt worden, es gehe um die Absicherung von Frauen im Alter.
Da haben wir jetzt eine seltsame Lösung: Es werden
Beiträge zur Sozialversicherung bezahlt, aber Ansprüche
hat man keine.
({9})
Ich finde dies schon seltsam. Ich finde es auch nicht
in Ordnung, daß Sie damit den Schwarzen Peter den
Frauen zuschieben, indem Sie sagen: Ihr könnt ja jetzt
ein bißchen weniger verdienen, indem ihr noch mehr in
die Sozialversicherungskasse einzahlt, um einen Anspruch zu erwerben.
({10})
Meine Damen und Herren, ich möchte auch ein Wort
zum Ehrenamt sagen. Sie haben viel Verunsicherung
auch in die Vereine und in den ehrenamtlichen Bereich
hineingetragen.
({11})
Ich möchte für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sagen: Wir werden keine Lösung mittragen können, die zu
Lasten kleiner Sportvereine und kultureller Einrichtungen geht. Diese fühlen sich dem Gemeinwohl verpflichtet. Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse für
Platzwarte, Geschäftsführer, Jugendbetreuer, Trainerinnen und Trainer, Chorleiter sind die existentielle Basis
vieler Vereine und kultureller Einrichtungen.
({12})
Diese Arbeitsverhältnisse sind häufig Voraussetzungen
für das millionenfache Ehrenamt.
Die Einführung einer Sozialversicherungspflicht für
geringfügig Beschäftigte wird sämtliche vorgegebenen
Ziele verfehlen: kein einziger neuer Arbeitsplatz, geringe Mehreinnahmen in der Sozialversicherung, auf der
anderen Seite riesige Steuerausfälle.
Und ein Letztes: Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, alle Maßnahmen dieser Regierung sollen daran
gemessen werden, ob mehr Beschäftigung entsteht.
Durch diese Aktion, die Sie hier planen, entsteht im
Zweifel nicht mehr, sondern weniger Beschäftigung.
Vielleicht geht es Ihnen in Wahrheit um etwas ganz
anderes. Die Einführung der Sozialversicherungspflicht
führt nämlich zweifellos dazu, daß statistisch die Zahl
der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze zunimmt und auf der anderen Seite Leute aus der Arbeitslosenstatistik herausfallen.
({13})
Wenn die Regierung durch solcherlei teure kosmetische
Operationen die Statistik schönen will, würde dies auf
unseren entschiedenen Widerstand stoßen. Wir wollen
mehr Beschäftigung in diesem Lande, keine kosmetischen Operationen. Diese lehnen wir ab.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({14})
Herr Kollege Strobl,
das war Ihre erste Rede; ich darf Sie dazu beglückwünschen.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dirk Niebel,
F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich kann sehr gut verstehen, daß sich die SPD-Fraktion an der Diskussion nicht
weiter beteiligen darf. Sie durfte sich ja auch an der Lösungsfindung nicht beteiligen, weil der Bundeskanzler
diese Lösung heute hier vorgestellt hat und die Fraktion
sich erst heute abend zusammensetzt.
({0})
Herr Bundeskanzler, ich glaube, es ist das erste Mal
in der Geschichte dieses Hauses, daß ein Kanzler innerhalb von vier Wochen nach Regierungsantritt seine
eigene Regierungserklärung zurücknimmt und etwas
ganz anderes als das behauptet, was er in der Regierungserklärung gesagt hat. Da sprachen Sie noch von
300 DM, von nicht sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen in diesem Bereich. Jetzt gilt
die Versicherungspflicht von der ersten Mark an.
Es wird Sie nicht wundern, wenn ich Ihnen sage: Die
F.D.P. ist die Partei der sozialen Verantwortung.
({1})
- Ja, das gefällt Ihnen nicht. - Denn sie erlaubt es den
Menschen, daß diese für ihren Lebensunterhalt selber
sorgen. Ihre Pläne dagegen, Herr Bundeskanzler, sind
unsozial, weil dadurch den Menschen die Arbeit weggenommen wird.
({2})
Sie, Herr Bundeskanzler, versuchen allen Ernstes, diesem Hohen Haus eine reine Umbuchung als Ei des Kolumbus zu verkaufen. Erklären Sie mir doch bitte einmal, wie Sie 4,5 Milliarden DM Steuerausfälle finanzieren wollen.
({3})
Wer 620-Mark-Beschäftigungsverhältnisse versicherungspflichtig macht, will die Sozialkassen füllen. Das
ist eine gute Idee, wenn man sich die Situation der Sozialkassen ansieht, eine schlechte Idee aber, wenn man
die ökonomischen Folgen betrachtet. Glauben Sie denn
wirklich, daß Arbeitslosigkeit so bekämpft werden
kann? Damit schaffen Sie Arbeitslosigkeit. Durch Ihre
Politik werden Arbeitnehmer verunsichert, Arbeitsplätze
vernichtet und ist Schwarzarbeit vorprogrammiert. Sie
werden die Verwaltungen aufblähen.
({4})
Sie sollten lieber konstruktive Vorschläge machen, um
die Arbeitslosigkeit abzubauen, anstatt das letzte bißchen Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt zu beseitigen.
({5})
Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind seit
Jahr und Tag Thema von Plenardebatten. 93 Prozent der
Personen, die diese Arbeiten ausüben, sind mit der Arbeit und der Entlohnung zufrieden. Vergessen Sie nicht
die engagierten Kräfte in den Wohlfahrtsverbänden, in
Sportvereinen, ganz besonders im Breitensport, oder
auch in den Parteien. Eine Versicherungspflicht wird
eine Verschlechterung des Angebots dieser Institutionen
zur Folge haben. Nach der Emnid-Umfrage vom Oktober werden 13 Prozent der Betriebe, die heute 620Mark-Kräfte beschäftigen, keine Vollzeitjobs schaffen.
20 Prozent werden diese Arbeitsplätze sogar abschaffen.
Das ist für mich kein Abbau von Arbeitslosigkeit, sondern Abbau von Arbeitsplätzen, für den Sie verantwortlich sein werden.
({6})
Meine Damen und Herren, fünf Jahre Rentenbeitrag
während einer geringfügigen Beschäftigung führt zu
sage und schreibe 28 DM Rente. Nach 25 Jahren hat
man immerhin die Anwartschaft auf stattliche 140 DM
monatlich erworben. Jetzt erzählen Sie uns, daß man
einzahlen darf, aber dafür gar nichts bekommt. Das ist
doch wohl nicht in Ordnung!
({7})
Mit Sicherheit ist das kein Rezept zur Bekämpfung der
Altersarmut, ganz besonders nicht der von Frauen. Diese
beziehen Sie jetzt noch nicht einmal in die Krankenversicherung ein. Wer 620-Mark-Jobs verteuert, nimmt
Zigtausenden Arbeitnehmern den Arbeitsplatz. Das ist
das Gegenteil von Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. An
diesem Kriterium wollten Sie, Herr Bundeskanzler, sich
messen lassen.
({8})
Die Verschiebung der Vorlage Ihres Gesetzentwurfes
im Vorfeld der heutigen Debatte zeigt wieder einmal
ganz deutlich, daß Sie die Sache nicht im Griff haben.
Sie besetzen Überschriften, ohne inhaltliche Substanz
dahinter zu haben - mit anderen Worten: Sie arbeiten
schlampig.
({9})
Die Ziele, Herr Bundeskanzler, die Sie sich gesetzt
haben, werden durch die Regelung, die Sie uns heute
hier als Kompromiß verkaufen, nicht erreicht werden.
Sie werden kläglich scheitern, und in der nächsten Regierungserklärung werden Sie das zugeben müssen.
Vielen Dank.
({10})
Herr Kollege Niebel,
das war Ihre erste Rede in diesem Parlament. Im Namen
des Hauses gratuliere ich Ihnen sehr herzlich dazu.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es muß
schon ein großes Maß an Zerstrittenheit in der SPDFraktion herrschen,
({0})
wenn der Bundeskanzler das Forum einer Aktuellen
Stunde nutzen muß, um Befriedungsarbeit vor allem bei
den eigenen Leuten zu leisten.
({1})
Weil Sie sich offensichtlich nicht sicher sind und fürchten, daß hier auch andere Meinungen vertreten werden
könnten, dürfen sich die Mitglieder der SPD-Fraktion
überhaupt nicht mehr zu Wort melden.
({2})
Statt Klarheit und Berechenbarkeit herrschen bei Ihrer Reform Unsicherheit und Verwirrung vor. Das kennzeichnet geradezu alle Ihre Bemühungen. Das mag ja
noch angehen, wenn die Verwirrung in Ihren Reihen
bliebe. Aber angesichts der Tatsache, daß 3, 4 oder 5
Millionen Menschen in diesen Beschäftigungsverhältnissen sind, deren finanzielle Sicherheit von einer NeuDirk Niebel
regelung entscheidend berührt wird, und angesichts der
Tatsache, daß dadurch auch zahlreiche Angehörige dieser Menschen betroffen werden, führen Sie hier ein
schlimmes Spektakel auf. Mit der Angst dieser Menschen spielt man nicht.
Das, was Sie hier aufführen, ist ein trauriges Schauspiel in drei Akten: Ich erinnere zunächst einmal an das,
was der jetzige Bundeskanzler noch im vergangenen
Jahr selbst an Vorschlägen zur Neuregelung gebracht
hat. Auf dem Innovationskongreß der SPD im Oktober
1997 in Dortmund haben Sie, Herr Bundeskanzler, beispielsweise vorgeschlagen, diese Jobs auf höchstens 10
Prozent in einem Unternehmen zu begrenzen. Der Parteivorsitzende der SPD schrieb vor Jahresfrist im Informationsdienst der SPD: Ein Weg wird die Befreiung der
Arbeitnehmer und Arbeitgeber von Sozialversicherungsbeiträgen für gering bezahlte Arbeiten sein.
In der Regierungserklärung haben Sie die 300-DMGrenze - das ist der zweite Akt - ins Gespräch gebracht.
Heute nun, also bereits nach wenigen Tagen, bringen Sie
ein völlig neues Konzept, indem Sie erklären, daß die
Pauschalbesteuerung entfallen, aber dafür eine Sozialversicherungspflicht eingeführt werden soll. Herr Bundeskanzler, was kommt als vierter Akt? Was ist der
nächste Akt? Darauf sind wir gespannt.
({3})
Das, was Sie heute hier vorgestellt haben, bedeutet im
Klartext, daß es ein Zwei-Klassen-System von Sozialversicherungspflichtigen geben wird: die einen, die einzahlen und etwas bekommen, die anderen, die nur einzahlen und keine Gegenleistung erhalten.
({4})
Diejenigen, die sich von ihrem Rentenanspruch etwas
erwarten, werden am Schluß enttäuscht sein, weil nämlich die Höhe dessen, was sie zu erwarten haben, in keiner Weise geeignet sein wird, das Existenzminimum abzusichern, sondern etwa der Höhe des Betrages entsprechen wird, für den man sich täglich eine Leberkässemmel leisten kann.
Die Pauschalbesteuerung soll entfallen. Dies aber
wird bei Ihrem Modell eben nicht zu mehr Effizienz,
sondern zu mehr Bürokratie führen; denn wenn die geringfügigen Einkommen der Sozialversicherungspflicht
unterworfen werden, dann müssen diese Beiträge auch
verwaltet werden. Das bedeutet letztendlich mehr Bürokratie und ein neues Feld von Mißbrauchsmöglichkeiten,
das Sie hiermit eröffnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Handlungsbedarf besteht bei den 620-DM-Jobs. Aber dem
Handlungsbedarf können Sie nicht dadurch gerecht werden, daß Sie eine Jacke falsch einknöpfen. Sie wissen,
wenn Sie eine Jacke falsch einknöpfen, dann müssen Sie
sie irgendwann einmal ganz von oben her ausknöpfen.
Genau das wird mit Ihrem Vorschlag passieren.
Wir brauchen eine Reform bezüglich der 620-DMJobs, die mehr Beschäftigung bringt, aber keine Reform,
die ein Beschäftigungsprogramm für mehr Bürokratie
darstellt.
({5})
Das Wort hat der
Kollege Hartmut Schauerte, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe einmal, daß
ich den Vorschlag richtig verstanden habe. Er ist ja relativ einfach und schlicht vorgetragen worden.
Ich erinnere mich an unseren Wahlkampf, den wir
alle miteinander gemacht haben. Da ist uns in jeder
Podiumsdiskussion von den Kollegen der SPD, der Grünen und der PDS gesagt worden: Die 620-DM-Jobs sind
ein Übel. Sie müssen entschieden bekämpft werden. Am
besten schafft man sie ganz ab. - Damit haben Sie in
den Podiumsdiskussionen Zustimmung bekommen. Die
Menschen haben gesagt: Jawohl, hier werden Gerechtigkeit und Verbesserung entwickelt. Das ist etwas. Der
Mittelstand hat sich gefürchtet. Die Sozialpolitiker
haben sich gefreut, insbesondere Sie, die Sie es vorgetragen haben.
Jetzt wollen wir einmal gucken, was da passiert. Das
mit den 620-DM-Jobs ist also schlecht. Es ist so
schlecht, daß man die Bemessungsgrundlage für die
neuen Bundesländer jetzt erhöht, damit sie nicht ungerecht behandelt werden - mit einer schlechten Sache,
das muß man sich einmal vorstellen!
({0})
Der Mißbrauch soll eingedämmt werden. Es ist kein
einziger Ansatz zur Eindämmung des Mißbrauchs erkennbar, kein einziger!
({1})
Es ist keine Eindämmung zu erwarten - nichts, Fehlanzeige.
Soziale Sicherheit für Frauen, damit sie im Alter etwas haben, sollte geschaffen werden.
({2})
Absolute Fehlanzeige! Der Arbeitgeber darf zahlen, und
die Frauen kriegen keinen Pfennig.
({3})
Bei der Krankenversicherung sollte der Schutz erhöht
werden. - Null! Ob sie mitversichert sind oder nicht, 10
Prozent werden abgeführt. Es ist kein Krankenversicherungsschutz zu erwarten.
Bei diesen beiden Bereichen sehe ich eine verfassungsrechtliche Problematik allererster Ordnung,
({4})
denn ich halte es für nicht durchführbar, daß auf Dauer
Beiträge ohne jede Leistungsäquivalenz, wie das bei den
Steuern der Fall ist, in das Sozialversicherungssystem
gezahlt werden. Deswegen gibt es in diesem Punkt ein
großes verfassungsrechtliches Problem.
({5})
Die Arbeitslosigkeit ist auch ein Problem. Sie wird
natürlich nicht - das wußten wir vorher - mit Ihren
Maßnahmen gelöst werden. Die Pflegeversicherung,
auch ein Problem, kann so ebenfalls nicht gelöst werden.
Sieben Ziele, die den Menschen im Wahlkampf versprochen wurden, werden absolut verfehlt. Es ist nichts geschehen: erst versprochen und dann nichts gehalten, heiße Luft, nur heiße Luft.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPDFraktion, ich wundere mich über das, was Sie mit sich
machen lassen.
({7})
Sie müssen vor Ihre Wähler treten und ihnen sagen: Entschuldigung, alles, was wir euch hinsichtlich der 620Mark-Jobs versprochen haben, tritt nicht ein - Fehlanzeige.
({8})
Bei dieser Operation passiert nichts anderes, als daß die
22 Prozent Pauschalsteuer, die bisher die Arbeitgeber
gezahlt haben, jetzt in zwei Teilen - einmal 12 und einmal 10 Prozent; addiert: 22 Prozent - nicht mehr an Oskar, sondern an Riester überwiesen werden. Nichts anderes passiert.
({9})
Das ist also der Reformansatz für ein zentrales Wahlkampfthema, mit dem Sie uns bedrängt, bedrückt und
beschimpft haben. Sie sollten sich schämen, daß Sie das
mit sich machen lassen.
({10})
Wenn wir so gehandelt hätten und so wenig Kreatives
für die Lösung des Problems getan hätten, würden Sie
eine viel bösartigere Rede halten, als ich sie heute halte.
({11})
Ich komme noch einmal auf den Bundeskanzler zurück: Es wäre besser gewesen, Sie hätten von Ihrer
Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht und hätten
Oskar Lafontaine gesagt: Schick dem Riester einen
Scheck! - Damit wäre alles klar gewesen. Sollten Sie
allerdings auf diesem Weg die Grundlage für Ihre Eröffnungsbilanz verändern wollen, indem Sie sagen, diese
Menschen seien jetzt sozialversicherungspflichtige Beschäftigte und damit sei die Beurteilungsgrundlage ungenau, dann muß ich Ihnen sagen: Bei diesem Mogelversuch werden wir Sie stoppen. Damit kommen Sie
nicht durch. Ihre Politik ist eine Enttäuschung und Fehlanzeige.
({12})
Die vier bis fünf Millionen Menschen, die betroffen
sind, wurden in Unruhe versetzt. Geboten wurde ihnen
wegen der Verschiebung noch nichts. Wissen Sie, warum? Ein taktisch und strategisch ganz wichtiger Punkt
ist: Nachdem durch die Berichterstattungen in den Zeitungen und im Fernsehen die Stimmung umgekippt war
- Frauen riefen: Laßt uns unsere Verdienste! -, hat doch
tatsächlich einer von den Strategen im Kanzleramt erkannt: Wir haben in wenigen Wochen in Hessen eine
Landtagswahl. Wenn wir unser Vorhaben bis zur Wahl
in Hessen umsetzen, dann werden etwa 800 000 hessische Wähler von dieser Entwicklung betroffen sein. Diese Betroffenen hätten Ihnen die Quittung gegeben.
Deswegen sind Sie vor der Lösung des Problems in die
Knie gegangen.
Wenn auf diese Weise Ihre Reformen fortgesetzt
werden sollten, dann wird noch nicht einmal alles anders, geschweige denn besser.
Herzlichen Dank.
({13})
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
({0})
- Das finde ich auch. Ich hätte mich zu diesem Thema
gerne geäußert, wie Sie sich vorstellen können. Aber ich
bin zur Zeit Präsidentin.
({1})
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatzpunkt 5 auf:
9. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung und anderer Gesetze ({2})
- Drucksache 14/49 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({3})
Finanzausschuß
ZP5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({4})
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und
F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes über die politischen
Parteien ({5})
- Drucksache 14/41 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({6})
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatzpunkt 6
auf:
4. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Widerstand gegen die Aufhebung des Exportverbots für britisches Rindfleisch durch die
EU-Kommission
- Drucksache 14/31 ZP6 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Widerstand gegen die Aufhebung des Exportverbots für britisches Rindfleisch durch die
EU-Kommission
- Drucksache 14/42 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste hat Frau Bundesministerin Andrea Fischer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute
kommen Lebensmittel aus der ganzen Welt auf den
Tisch der Verbraucherinnen und Verbraucher in
Deutschland. Deswegen brauchen wir weitestgehende
Sicherheit, daß diese Lebensmittel gesundheitlich unbedenklich sind. Deshalb hat für mich der Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor den Gefahren beim Verzehr
von Lebensmitteln einen hohen Stellenwert.
Nationale Maßnahmen allein können angesichts des
großen Ausmaßes des internationalen Handels mit Lebensmitteln den Verbraucherschutz nicht mehr gewährleisten. Er kann in einem Europa der offenen Grenzen
nur im Zusammenwirken von europäischen Institutionen, von Bundestag und Bundesrat gestaltet werden. Mir
ist klar, daß es schwierig sein wird, für diese Politik
gleichermaßen in Brüssel wie auch in Bonn stets Zustimmung zu finden und diese Auffassung durchzusetzen.
Ich will deutlich machen, von welchen Prinzipien des
gesundheitlichen Verbraucherschutzes sich die neue
Bundesregierung bei ihrer Politik leiten lassen wird. Es
ist völlig klar - ich bin mir sicher, daß wir hier in diesem
Haus in diesem Punkt Konsens haben -, daß es darum
geht, die Sicherung und die Stärkung des gesundheitlichen Verbraucherschutzes zu gewährleisten.
Mein erstes Prinzip dabei lautet, daß der gesundheitliche Verbraucherschutz, das heißt der Schutz vor Gesundheitsgefährdungen durch Lebensmittel in Deutschland, im Europa des Binnenmarkts und in Drittländern
absoluten Vorrang vor allen anderen Interessen, vor
allen Dingen auch vor wirtschaftlichen Interessen, haben
muß und haben wird.
Beim zweiten Prinzip geht es darum, daß der vorbeugende gesundheitliche Verbraucherschutz in Deutschland verstärkt werden muß und künftig auch in der Europäischen Union Vorfahrt haben muß: Wir dürfen auch bei nur denkbaren Gefahren - sowohl mit staatlichem als auch mit gesellschaftlichem Handeln nicht
warten, bis der letzte wissenschaftliche Beweis einer
Gesundheitsgefährdung erbracht ist, bis es eventuell zu
spät ist und wir es bereits mit kranken oder gar toten
Verbraucherinnen und Verbrauchern zu tun haben.
({0})
Ich bin mir bewußt: Auch die verantwortlichste Gesundheitspolitik wird keine hundertprozentige Sicherheit
garantieren können. Risiken lassen sich selbst bei bester
Vorsorge nie vollkommen ausschließen. Aber das entbindet uns nicht von der Verpflichtung, alles Menschenmögliche beim vorbeugenden Gesundheitsschutz
zu tun.
({1})
Wohin eine Politik führt, die den vorbeugenden Gesundheitsschutz nicht sehr ernst nimmt, konnten wir am
Umgang mit der heute zur Diskussion stehenden BSEProblematik in Großbritannien lernen. Erst als Fälle einer neuartigen Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit
im Frühjahr 1996 in Großbritannien beschrieben wurden
und überhaupt erst ein Zusammenhang mit dem Rinderwahnsinn BSE hergestellt wurde - denn es gab keine
anderen Erklärungen -, hat die Europäische Union die,
wie ich meine, richtige Konsequenz gezogen. Erst zehn
Jahre nach Entdeckung der Rinderseuche BSE wurde
von der Europäischen Kommission ein absolutes Ausfuhrverbot für britisches Rindfleisch erlassen; drastische
Vermarktungsbeschränkungen für Fleisch sowie Maßnahmen zur Bekämpfung und Beseitigung des Rinderwahnsinns in Großbritannien wurden eingeleitet. Ich
meine, es darf sich nicht wiederholen, daß damit so lange gewartet wird.
({2})
Der dritte Grundsatz, von dem ich mich leiten lassen
werde, ist der Grundsatz der Ehrlichkeit, Offenheit
und Transparenz bei der Verbraucherinformation.
Denn gerade weil wir uns darauf einstellen müssen, daß
es uns nicht immer gelingen wird, die sehr strengen
deutschen Vorschriften im Hinblick auf den vorbeugenden Gesundheitsschutz in der Europäischen Union
durchzusetzen, brauchen wir eine offene, ehrliche und
transparente Verbraucherinformation, damit die Verbraucherinnen und Verbraucher auf der Grundlage umfassender Information darüber entscheiden können, was
sie kaufen und welche Produkte sie verzehren wollen.
Vor dem Hintergrund dieser von mir soeben skizzierten Prinzipien des gesundheitlichen Verbraucherschutzes möchte ich mich zum Thema der heutigen Debatte äußern.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Der Europäische Rat hat im Zuge der Aufarbeitung
der BSE-Problematik im Juni 1996 in Florenz die Bedingungen definiert, unter denen eine schrittweise Lokkerung des absoluten Ausfuhrverbots für britisches
Rindfleisch und andere vom Rind gewonnene Materialien ins Auge gefaßt werden kann. Die erste Bedingung
lautet, daß die wissenschaftliche Bewertung in den zuständigen Gremien der Gemeinschaft vorliegen muß,
daß die von Großbritannien jeweils vorgeschlagenen
Schritte zur Lockerung des Ausfuhrverbots und die einzuhaltenden Anforderungen den gesundheitlichen Verbraucherschutz nicht beeinträchtigen. Die zweite Bedingung ist, daß Sachverständige der Gemeinschaft vor Ort
geprüft haben müssen und weiter überprüfen können,
daß die bei der Lockerung des Ausfuhrverbots einzuhaltenden Anforderungen in der Praxis dauerhaft eingehalten werden können und auch eingehalten werden.
Der Vorschlag für eine weitere Lockerung des Ausfuhrverbotes, um den es jetzt geht und der heute hier
debattiert wird, soll am 23./24. November 1998 im EUAgrarministerrat beraten werden. Er betrifft das Fleisch
von Rindern aus ganz Großbritannien, die nach dem
1. August 1996 geboren worden sind und die zusätzlich
weitere Anforderungen erfüllen müssen. Dieser Vorschlag wirft aber mit Blick auf die zweite Bedingung,
die in Florenz vereinbart wurde, große Fragezeichen auf.
Diese Einschätzung wird auch vom Bundeslandwirtschaftsministerium geteilt.
Die Anforderungen, die von Großbritannien bei einer
Lockerung des Ausfuhrverbotes eingehalten werden
müssen, sind im Interesse des gesundheitlichen Verbraucherschutzes außerordentlich komplex. Ich räume
ein, daß Großbritannien in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte bei der Lösung der BSEProblematik erzielt hat. Diese Kraftanstrengungen verdienen unseren ganzen Respekt.
Ich kann mir aber beim besten Willen nicht vorstellen, daß die in dem Lockerungsvorschlag vorgesehenen
Anforderungen im täglichen Routinebetrieb wirklich
konsequent und lückenlos durchgesetzt werden können.
Selbst ein absolutes Ausfuhrverbot ist, wie einzelne
Vorfälle illegaler Ausfuhren britischen Rindfleisches im
vergangenen Sommer gezeigt haben, nur schwer durchsetzbar. Jede Lockerung „mit Auflagen“ weckt daher
Zweifel. Daß diese Zweifel berechtigt sind, hat sich
bislang bei der Beratung des Entwurfes für eine Lockerung des Ausfuhrverbots auf Beamtenebene gezeigt.
Die Kommission hat als wichtiges Element zur Sicherung des Gesundheitsschutzes vorgeschlagen, daß die
Ausfuhr von Fleisch von nach dem 1. August 1996 geborenen Rindern erst dann aufgenommen werden darf,
wenn zuvor alle Rinder dieser Altersgruppe, deren
Mütter an BSE erkrankt sind, getötet worden sind und
deren Fleisch dauerhaft aus der Nahrungsmittelkette entfernt worden ist. Dies ist wegen der Möglichkeit der
BSE-Übertragung von der Kuh auf das Kalb notwendig.
Prüfungen durch Sachverständige der Kommission vor
Ort haben aber ergeben, daß diese Anforderung nicht
hundertprozentig erfüllt werden kann. Selbst die britischen Vertreter haben dies im Ständigen Veterinärausschuß eingeräumt.
Meine Damen und Herren, wenn diese von der
Kommission selbst aufgestellten Forderungen nicht erfüllt werden können, dann kann die Konsequenz nur
heißen, daß der Entwurf von der Europäischen Kommission zurückgezogen werden muß.
({3})
Hierüber besteht zwischen dem Bundeslandwirtschaftsminister und mir völliges Einverständnis.
Die vorgesehene Lockerung ist im übrigen so konzipiert, daß zunächst lediglich die Anforderungen an die
Lockerung unter Beteiligung der Mitgliedstaaten bestimmt werden sollen. Der Zeitpunkt der Lockerung
selbst soll dagegen von der Europäischen Kommission
ohne förmliche Befassung der Mitgliedstaaten nach einer erneuten Überprüfungsreise festgesetzt werden. Damit werden die Mitgliedstaaten auf Gedeih und Verderb
der Einschätzung der Europäischen Kommission ausgeliefert. Ich bin deswegen dafür, daß die Lockerung erst
dann beschlossen wird, wenn sich die Mitgliedstaaten
ein Bild davon machen konnten, daß das Ergebnis befriedigend ist. Eine solch schwerwiegende Entscheidung
sollte nicht von der Europäischen Kommission allein,
sondern gemeinsam mit den Mitgliedstaaten im Ständigen Veterinärausschuß und gegebenenfalls im zuständigen Ministerrat getroffen werden.
Vor diesem Hintergrund wird sich die Bundesregierung dafür einsetzen, daß das gemeinschaftsrechtliche
Ausfuhrverbot für britisches Rindfleisch aufrechterhalten bleibt. Nur gemeinschaftsrechtliche BSERegelungen, bei deren Durchsetzung und Kontrolle die
Europäische Kommission und alle Mitgliedstaaten ihren
Beitrag leisten, sind im vereinten Binnenmarkt geeignet,
den gesundheitlichen Verbraucherschutz wirksam sicherzustellen.
Unabhängig davon muß gegen BSE in der gesamten
Europäischen Union weiter vorgegangen werden. Einen
wichtigen Beitrag hierzu könnte die systematische Anwendung geeigneter Untersuchungsverfahren zur
Feststellung von BSE bei geschlachteten Rindern leisten. Derartige Verfahren werden derzeit auf Veranlassung der Europäischen Kommission evaluiert. Sobald
eine sichere, routinemäßig anwendbare Untersuchungsmethode vorliegt, mit der auch klinisch gesunde - aber
mit BSE infizierte - Rinder ermittelt werden können,
sollte die obligatorische Anwendung dieses Verfahrens
im Vereinigten Königreich im Gemeinschaftsrecht verankert werden.
({4})
Wir haben Beispiele dafür, daß ein solches systematisches Vorgehen erfolgreich ist. Ich nenne die systematische Untersuchung geschlachteter Schweine auf Trichinen. Das sollte uns Ansporn sein, in den nächsten Jahren
die Vorbeugung durch eine vorangehende Untersuchung
stärker in den Mittelpunkt zu stellen.
Ich gehe - nicht zuletzt auf Grund der vorliegenden
Entschließungsanträge - davon aus, daß diese Politik der
Bundesregierung die Unterstützung des gesamten Hauses findet.
({5})
Das Wort hat der
Kollege Wolfgang Wodarg, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um zu Anfang hervorzuheben, daß wir
alle gemeinsame Ziele haben. Wir haben erstens das
Ziel, den Gesundheitsschutz der Verbraucherinnen und
Verbraucher zu verbessern, und wir haben zweitens das
Ziel, die Produktion hochwertiger Lebensmittel bei uns
in Deutschland zu sichern. Ich möchte außerdem die
Gelegenheit dazu nutzen, etwas über die gegenwärtige
Lage zu sagen. Was wissen wir? Was wissen wir nicht?
Was ist sicher? Was ist nicht sicher? Denn das muß
schließlich die Basis für das Handeln der Bundesregierung und für die Stellungnahmen der Bundesregierung
gegenüber der Europäischen Kommission und auch gegenüber Großbritannien sein.
Erstens. Der Erreger von BSE ist immer noch nicht
identifiziert. Obwohl inzwischen fast 150 000 registrierte BSE-Fälle in Großbritannien bekannt sind, wissen wir nicht, wie er aussieht, und dieser Erreger ist
auch noch nicht nachgewiesen worden. Wir können bei
den verstorbenen Tieren lediglich die Krankheitsfolgen
feststellen. Es gibt noch keinen Infektionsnachweis am
lebenden Tier, das keine Krankheitszeichen aufweist.
Wenn sich das Tier also unauffällig verhält, dann können wir eine BSE-Infektion nicht nachweisen.
Zweitens. Die Inkubationszeit ist sehr lang. Die Inkubationszeit beim Rind beträgt mindestens 20 Monate;
im Durchschnitt liegt sie bei 50 Monaten.
Drittens - jetzt nenne ich ein sehr wichtiges Faktum -: Nur wenige Rinder in Großbritannien werden
älter als 30 Monate. Angesichts der Tatsache, daß die
Inkubationszeit so sehr lang ist, bedeutet das, daß selbst
bei den Rindern, die infiziert sind, keine Krankheitssymptome beobachtet werden können, weil sie vorher
geschlachtet werden, um dem Verbraucher zur Verfügung zu stehen. In Großbritannien sollen Rinder, die älter als 30 Monate werden, getötet werden. Dafür gibt es
ein Programm; das OTMS-Programm, das Over-ThirtyMonths-Slaughter-Programm. Dieses Programm hat dazu geführt, daß inzwischen 2,5 Millionen Rinder geschlachtet und dann zu Tiermehl verarbeitet worden
sind, das, bevor es verbrannt wird, zwischengelagert
wird. Das ist zur Zeit die Situation in Großbritannien. Ich hoffe, daß angesichts der Tatsache, daß die Kennzeichnung von Tiermehl nur schlecht möglich ist - es
wird nicht eingefärbt und kann daher auch leicht mißbraucht und verschoben werden; das ist meiner Meinung
nach ein großes Sicherheitsrisiko -, dieses Tiermehl tatsächlich verbrannt worden ist und auch in Zukunft verbrannt werden wird.
Bei den in diesem Jahr beobachteten 1 600 BSEFällen in Großbritannien - so viele sind es bisher etwa - handelt es sich überwiegend um Rinder, die älter
als 30 Monate sind. Natürlich braucht man auch Rinder,
die älter als 30 Monate werden, zum Beispiel zu
Zuchtzwecken. Bei den anderen Rindern - wenn sie
denn älter als 30 Monate geworden wären, wären wahrscheinlich zusätzliche BSE-Fälle zu erwarten gewesen.
Sie gehen aber nicht in die Statistik ein. Es ist sehr deutlich zu sehen, daß mit Einführung dieser Tötungsaktion
der Rinder, die älter als 30 Monate sind, sich die Statistik plötzlich zum Positiven wendet. Das heißt, es kann
sich dabei um einen künstlichen Effekt handeln, der wenig über die Inzidenz, das heißt die Krankheitshäufigkeit, von BSE in Großbritannien aussagt.
({0})
Es gibt eine weitere Unwägsamkeit: Wir wissen
letztlich immer noch nicht, wie die Übertragungswege
im Detail aussehen. Was wir wissen, ist, daß das Verfüttern von Tiermehl ein großes Risiko darstellte. Ich
denke, daß es auf diesem Gebiet noch eine Menge zu
forschen gibt.
Bei der Forschung, die mit europäischen Mitteln gefördert wird, handelt es sich - das ist auch in Deutschland so - überwiegend um Prionenforschung. Die Forschung und die dahinterstehenden Geldgeber haben ein
großes Interesse daran, eine Methode zu finden, wie
man BSE beim lebenden Tier nachweist. Wem das gelingt, der kann damit sehr viel Geld verdienen. Diese
Forschung ist durchaus nützlich und wichtig, aber sie ist
eben auch sehr attraktiv. Die epidemiologische Forschung ist dagegen, weil man damit nicht so viel verdienen kann, weniger attraktiv. Diese sieht so aus, daß man
Tiere künstlich infiziert, um festzustellen, auf welche
Weise und wann diese Tiere ihre Infektion auf andere
Tiere übertragen können.
In England hat man versucht, die Frage der maternalen Übertragung zu klären. Es hat dort Testreihen gegeben, es sind Populationen beobachtet worden. Doch diese Versuche sind zum Teil viel zu früh abgebrochen
worden; ihre Ergebnisse sind immer noch strittig. Es
gibt viel zu wenige ernsthafte Versuche, dies zu verifizieren, erneut zu überprüfen.
Von Scrapie, der entsprechenden Erkrankung bei
Schafen, wissen wir, daß eine Übertragung der Krankheit über den Weidegrund, über die Wiese, auf der diese
Schafe gestanden haben, möglich ist. Dies ist bei Scrapie unstrittig und steht in den Lehrbüchern. Darüber, wie
das bei BSE aussieht, gibt es keinerlei Forschung. Auch
da fehlt die nötige Sicherheit, die wissenschaftlich begründet sein muß.
Ich mache in diesem Hause noch einmal - ich habe
das schon zweimal getan - auf einen weiteren, ganz
wichtigen Unsicherheitsfaktor aufmerksam: Neugeborene Kälber werden den Mutterkühen meistens weggenommen. Nur in wenigen Fällen bleiben die Kälber bei
den Muttertieren und trinken deren Milch. Alle anderen
Kälber bekommen Milchaustauscher. Milchaustauschern werden verschiedene Zusatzstoffe beigemischt,
unter anderem auch tierisches Fett. Noch bis zum voriBundesministerin Andrea Fischer
gen Jahr ist - dies ist unbestritten - auch tierisches Fett
aus Tierkörperbeseitigungsanstalten verwendet worden,
um es dieser Kälbernahrung zuzumischen. Es kann sehr
gut sein, daß die Prionen gerade lipophil sind, das heißt,
daß sie besonders in fetthaltigen Substanzen zu finden
sind. Dieses Risiko ist nicht geklärt. Wenn dem tatsächlich so ist, dann ist es verständlich, daß immer noch, wie
in diesem Jahr, 1 600 Rinder in Großbritannien erkrankt
sind, obwohl vorher so viele getötet worden sind.
Ich finde, das sind beängstigende Zahlen, die wir zur
Kenntnis nehmen müssen. Die epidemiologische Situation ist nicht ausreichend untersucht.
({1})
Daher müssen wir darauf bestehen, daß das Verbot des
Exports von Tieren von der Insel weiter aufrechterhalten
bleibt. Das sind wir unseren Verbrauchern schuldig, und
das sind wir auch unseren Landwirten schuldig. Denn
allzu leicht verwechseln die Verbraucherinnen und Verbraucher die Waren und nehmen sich gar nicht die Zeit,
sich anzuschauen, woher sie kommen. Wir wollen weiterhin sagen können: Das Fleisch, was sie bei uns kaufen
können, ist sicher. Da kommt nichts Risikobehaftetes
aus England über den Kanal.
Ich bin froh, daß wir uns hier einig sind - obwohl ich
eben, als die Ministerin das gleiche vorgeschlagen hat,
den Beifall der rechten Seite vermißt habe. Ich freue
mich, daß wir einer Meinung sind und wir heute gemeinsam an die Regierung appellieren, der Aufhebung
des Exportstopps zu widersprechen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat der
Kollege Gerhard Scheu, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt die Bundesministerin in ihrer Absicht, die Lokkerung des Exportverbots abzulehnen.
({0})
Die Kommission hat einen Vorschlag unterbreitet, den
der Rat annehmen soll. In den Vorbemerkungen zu diesem Vorschlag heißt es, daß nunmehr wissenschaftlich
gesichert von der Möglichkeit maternaler Übertragungen
auszugehen ist. Dies verändert die Risikoannahmen, die
bisher zugrunde gelegt worden sind, und es verändert
auch das Unverdächtigkeitsalter von sechs Monaten; denn
die jungen Tiere unter sechs Monate, die maternale Übertragungen erfahren hatten, sind asymptomatisch infiziert,
weil sie die Infektion nicht über Futtermittel erhalten haben. Somit erscheint schon der Parameter „sechs Monate“
fragwürdig; denn eine Garantie kann das Vereinigte Königreich nicht in dem Sinne geben, wie sie in der Erwägung unter Punkt 6 formuliert ist:
Das Vereinigte Königreich muß gewährleisten, daß
die Muttertiere von zur Ausfuhr freigegebenen
Rindern zum Zeitpunkt der Schlachtung dieser Tiere nicht BSE-infiziert waren.
Diese Garantie und diese Gewährleistung kann das Vereinigte Königreich nicht geben. Wie Herr Dr. Wodarg
schon ausgeführt hat, gibt es keine Möglichkeit, den Erreger am lebenden Tier festzustellen.
Die Kommission führt weiter aus:
Mit diesen Maßnahmen wird das Risiko der materiellen Übertragung des BSE-Erregers auf ein freigegebenes Tier angemessen behandelt.
„Angemessen“ heißt hier, daß ein Risiko eingegangen
wird. Wenn man dabei noch berücksichtigt, daß es in der
Wissenschaft nach wie vor definitiv ungeklärt ist, welches Risiko mit Muskelfleisch verbunden ist, dann bedeutet dies, daß die Kommission uns zumutet, ein Risiko
- wie quantifiziert es auch sein mag - einzugehen. Daß
asymptomatisch infizierte Tiere vorkommen können, ist
seit eh und je Stand der Wissenschaft und Forschung.
Die Frage war wohl immer, ab wann sie infektiös sind
und die Krankheit übertragen können.
Der nächste Parameter, der vorgeschlagen wird, ist,
daß die Tiere, die von einer infizierten Mutter abstammen und vor oder nach dem 1. August 1996 geboren
wurden, getötet werden. Nach wie vor bleiben die
Kommission und das Vereinigte Königreich bei dem
Programm der selektiven Keulung. Der klinische Verdacht, der hinsichtlich des Muttertieres bestehen muß,
unterscheidet sich wesentlich vom deutschen tierseuchenrechtlichen Verdacht. Wenn in einem Bestand ein
Tier an BSE erkrankt ist oder klinische Anzeichen von
BSE zeigt, dann besteht wohl die Vermutung, daß auch
andere Tiere dieses Bestandes den Erreger über das
Transportmittel aufgenommen haben könnten. Das führt
bei der überwiegenden Zahl der Mitgliedstaaten dazu,
daß der gesamte Bestand gekeult wird. Das Vereinigte
Königreich wendet diese Methode nach wie vor nicht
an, sondern bleibt nach dem Prinzip der minimalistischen Risikobegrenzung bei selektiver Keulung bei bestätigtem BSE-Verdacht oder bei klinischen Anzeichen
für einen Verdacht. Das ist ein anderer Verdachtsbegriff
als in unserem Seuchenrecht.
Die weitere Zumutung des Vorschlages der Kommission besteht darin, daß diese nach dem 1. August 1996
geborenen Tiere aus Risikoherden stammen dürfen;
denn anders als gegenüber Nordirland wird nicht vorausgesetzt, daß die zur Ausfuhr freigegebenen Tiere aus
risikofreien Herden stammen, in denen nachweislich seit
mindestens acht Jahren kein BSE-Fall aufgetreten ist. Es
werden nach diesem Vorschlag Tiere exportiert, die aus
Risikoherden stammen können.
Der nächste Punkt. Die Vorschläge und Parameter
sind komplex. Sie setzen eine Vielzahl von Vorschriften
voraus, die auch beachtet werden müssen. Hier möchte
ich die Wissenschaftler daran erinnern, daß der Faktor
Mensch in der Einschätzung, die die Fachwissenschaftler der Veterinärwissenschaft haben, wohl anders gesehen wird, als ihn die Wissenschaft von den angewandten
Menschenkenntnissen betrachtet, nämlich die Politik.
Man muß bei solchen komplexen Vorschriften, die voraussetzen, daß es auf der Welt wie in einem wissenschaftlichen Labor zugeht, prüfen, ob sie in der Realität
hinreichend verläßlich eingehalten werden.
Wenn ich mich an die Vorschriften der Kommission
erinnere, die vorsahen, jeweils das Datum zu verändern,
dann frage ich, welche Garantie für eine größere Sicherheit heute gegeben ist. Erinnern Sie sich: Ursprünglich
ging man davon aus, daß ab Juli 1989 keine futtermittelbedingten Übertragungen mehr stattfinden können
und alle Tiere, die nach diesem Datum geboren wurden,
exportiert werden könnten. Das war der Stand Juli 1989:
Die Gefahr betrifft nur die Rinder, die vor dem
18. Juli 1989 geboren wurden.
Im Juli 1994 haben wir zur Kenntnis genommen, daß
die Krankheit bei einem Tier auftrat, das nach 1989 geboren wurde. Dann wurde die Frist bis zum
1. Januar 1991 verlängert.
Am 3. November 1994 mußte man zur Kenntnis
nehmen, daß bei einem 1991 geborenen Tier - ,,wider
jedes Erwarten“ wurde formuliert - BSE aufgetreten
war. Dann wurde die Frist durch Kommissionsentscheidung auf den 1. Januar 1992 verlegt. In der amtlichen
Begründung dazu hieß es damals:
Nach dieser Empfehlung hat das britische Verbot
der Verfütterung von Wiederkäuertiermehl an Wiederkäuer wirksam gegriffen. Die Gefahr einer
Übertragbarkeit wird als vernachlässigbar eingestuft. Damit ist das Risiko, daß der BSE-Erreger
über das Fleisch britischer Tiere, die nach dem
1. Januar 1992 geboren wurden, übertragen wird,
praktisch ausgeschlossen.
Im Juni 1995 mußte die Kommission zur Kenntnis
nehmen, daß es bei Tieren, die nach dem 1. Januar 1992
geboren worden waren, zu BSE-Erkrankungen gekommen ist. Konsequent hat man - minimalistisch - die
Frist auf 1992 geborene Tiere ausgedehnt.
Im Oktober 1995 schließlich wurden wir unterrichtet,
daß es auch bei Tieren mit Geburtsjahrgang 1993 zu
BSE-Fällen gekommen war.
Immer haben die Aussagen der Wissenschaftler auf
der Annahme gefußt, die Vorschriften aus den Gesetzund Verordnungsblättern würden wie in einem wissenschaftlichen Labor erfüllt.
({1})
Die Beurteilung, ob eine Vorschrift von den Adressaten
auch eingehalten wird, und zwar kraft freiwilliger Übereinkunft, ist eine politische Beurteilung. Hierfür sind
Veterinärwissenschaftler keine Experten. Deshalb ist der
Vorschlag, Frau Ministerin, völlig richtig, daß über die
endgültige Freigabe ein parlamentarisch verantwortliches Organ, nämlich der Rat, entscheiden muß und nicht
die Kommission.
({2})
Ein weiterer Punkt. Bei der Frage, ob man den Export
zulassen kann, möchte ich die Bundesregierung daran
erinnern, welche Anforderungen im Hinblick auf Arzneimittel gelten. Stellen Sie sich bitte einmal vor, ein
„british beef“ sei ein Arzneimittel und werde vom Arzt
verordnet. Wenn die Sicherheitskriterien des BfArM und
des Bundesgesundheitsamtes, die Exponentensumme 20,
von der an Unbedenklichkeit angenommen wird, auch
für das ,,british beef“ gelten, muß ich bei Annahme des
günstigen Falles hinsichtlich der Anwendung der Kriterien für die Arzneimittel sagen, daß höchstens eine Exponentensumme von 19 erreicht wird. Das heißt, wäre
britisches Fleisch ein Arzneimittel, wäre es
({3})
bedenklich, und es bestünde ein gesetzliches Verkehrsverbot.
Ich komme zum letzten Punkt. Wir hatten bei der
Kommission und beim Vereinigten Königreich eine Risikoabwehr nach dem Prinzip: Es muß wahrscheinlich
sein, daß eine Gefahr eintritt. Der Grad der Wahrscheinlichkeit eröffnet weitgehende Gestaltungsmöglichkeiten.
Im WTO-Hormonstreit hingegen ging die Kommission
der Europäischen Gemeinschaften noch davon aus, es
gelte das Vorsichtsprinzip. Im Falle wissenschaftlicher
Ungewißheit muß aber das Prinzip gelten: In dubio pro
securitate.
({4})
Daran sollte man die Kommission erinnern, die mit ihren Entscheidungen über Leib und Leben von Bürgern
der Europäischen Gemeinschaft bestimmt. Daß BSE als
„human spongiform encephalopathy“ auf den Menschen
übertragbar ist, steht fest.
Deutschland ist bislang frei von originärem BSE und
frei von HSE. Das Ziel der CDU/CSU-Fraktion und ihres Antrages ist: Dabei soll es und muß es bleiben. Deshalb lehnen wir den Vorschlag der Kommission ab.
Danke.
({5})
Das Wort hat die
Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr
geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Uns liegt ein interfraktioneller Antrag, den
wir gerne gehabt hätten, leider nicht vor. Vielleicht gehört es noch zu den Übungsschritten der frischgebackenen Opposition, bei so viel Konsens einmal einen interfraktionellen Antrag zu stellen. Auch könnte die Opposition in einem solchen Fall der Regierung - und ebenso
umgekehrt - durchaus Beifall spenden.
({0})
Die neue Bundesregierung bleibt bei ihrem Nein zu
einer Aufhebung des Exportverbots für britisches Rindfleisch. Das Aufflammen der Krankheit in den verschiedenen europäischen Ländern zeigt die Gefahr der schleichenden Verbreitung, aber auch die Tatsache, daß die
Kontrollen bisher mangelhaft und die durchgeführten
Schutzmaßnahmen halbherzig waren. Die Fehler, die
bislang gemacht worden sind, dürfen sich wahrhaftig
nicht wiederholen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, die Entwicklung der BSE-Tests zu beschleunigen. Es stimmt, was
Herr Wodarg gesagt hat: Es ist einerseits wichtig, die
Blut- und Lebendtests zu entwickeln; soweit ich es erkennen kann, stehen wir auch nahe davor. Andererseits
dürfen die epidemiologischen Untersuchungen nicht
vernachlässigt werden. Die Tests müssen so bald wie
möglich in Deutschland und in Europa standard- und
routinemäßig eingeführt werden. Ich unterstütze hier
das, was Andrea Fischer gesagt hat: Es muß zu Routineuntersuchungen kommen, wie es im Hinblick auf Trichinen bei den Schweinen schon längst der Fall ist.
Auch wenn Großbritannien seine Anstrengungen zur
Bekämpfung von BSE verstärkt hat, was wir durchaus
anerkennen wollen, gibt es dennoch nichts an den beschriebenen Problemen zu rütteln. Verbraucherschutz
muß den Vorrang haben, zumal 99,7 Prozent aller bekanntgewordenen Fälle in Großbritannien aufgetreten
sind. Gleichwohl gilt auch für Portugal und andere Länder, in denen BSE-Fälle aufgetreten sind, daß entsprechende Schutzmaßnahmen angewandt werden müssen.
In den letzten zwei Wochen hat es vier neue Fälle in
Frankreich, in Belgien und in Portugal gegeben; diese
Zahl ist durchaus bedenklich. In Frankreich wurden übrigens alle betroffenen Herden geschlachtet - eine Maßnahme, die, wie ich meine, nicht vom Tisch sein sollte.
({1})
Die Rindfleischproduktion muß in Deutschland wie
in Europa dem Bedarf an hochwertigem Fleisch angepaßt werden; wir alle wissen, daß dieser Bedarf wegen
des mangelnden Vertrauens der Verbraucher zurückgegangen ist. Tierhaltung hat sich in Deutschland wie in
Europa zukünftig an den Grundsätzen der artgerechten
Tierhaltung zu orientieren. Fälle wie die, über die wir
heute reden, dürfen sich nicht wiederholen.
Sehr geehrte Damen und Herren, zur aktuellen Diskussion: Solange die BSE-Freiheit des Rindfleischs in
den Lagerhäusern der EU nicht geklärt ist - in ihnen lagern ja erhebliche Mengen -, darf dieses Fleisch nicht in
den Verkauf gegeben werden, weder in Deutschland
noch in Europa, noch - im Rahmen der Lebensmittelhilfe - in der dritten Welt. Das wäre unverantwortlich, und
wir können nur darauf hoffen, daß es nicht aus kurzsichtiger Betrachtungsweise zu einer solchen Handhabung kommen wird.
({2})
Leider können Verbraucher an der Ladentheke immer noch nicht erkennen, woher das Fleisch stammt, das
sie kaufen möchten. Die Einführung von Herkunftsbezeichnungen und Etikettierungen muß beschleunigt
werden. Das ist ebenfalls ein Versäumnis der alten Bundesregierung. Es gilt, den Verbraucherschutz auch im
Bereich der Kennzeichnung weiter voranzutreiben.
Vielen Dank.
({3})
Nun erteile ich dem
Kollegen Ulrich Heinrich, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Man kann ja sehr befriedigt feststellen, daß sich alle Fraktionen gegen die
Aufhebung des Exportverbotes von Fleisch von britischen Rindern, geboren nach dem 1. August 1996, ausgesprochen haben. Diese Tatsache sollte für die EUKommission sowie für die Mitgliedstaaten, die das Embargo aufheben wollen, ein deutlicher Hinweis darauf
sein, daß sie ihren verbraucherfeindlichen Kurs korrigieren sollten.
Vor dem Hintergrund der vielen Ungereimtheiten bei
der Bekämpfung der Rinderseuche, für die nicht zuletzt
die Kommission selbst verantwortlich ist, kann ich die
EU-Kommission nur davor warnen, wieder zu ihrer alten Gefälligkeitspolitik zurückzukehren.
({0})
Die geplante Aufhebung des Exportverbots ist mit einem
vorbeugenden Gesundheits- und Verbraucherschutz
nicht zu vereinbaren.
Im Ständigen Veterinärausschuß der EU, also im verantwortlichen Expertengremium für Verbraucherschutzfragen bei BSE, ist Anfang November keine qualifizierte
Mehrheit für eine Aufhebung des Embargos zustande
gekommen. Eben wegen der wissenschaftlichen Zweifel
besteht meiner Meinung nach auch kein politischer
Spielraum, sich in dieser Frage anders zu entscheiden.
Viele Fakten sprechen gegen die Aufhebung. In
Großbritannien werden Monat für Monat rund 150 BSEFälle registriert. Diese Zahl erfaßt nur die Tiere, die tatsächlich krank geworden sind, und beinhaltet noch nicht
die Tiere, die automatisch mit notgeschlachtet werden,
weil sie in der gleichen Herde waren; insofern muß man
unterscheiden. Die Kontrollmaßnahmen in England greifen immer noch nicht in der erforderlichen Weise. Ich
kann nur das unterstreichen, was die Frau Ministerin und
die Kollegen schon ausgeführt haben: Es ist ein eklatanter Fehler, daß dort die Kennzeichnung noch nicht in
der Form durchgeführt wird, wie wir sie haben. Vor allen Dingen ist nicht zu tolerieren und zu akzeptieren,
daß nicht nachgewiesen werden kann, ob die Kälber von
infizierten Kühen abstammen oder nicht.
Illegale Fleischimporte nach Sachsen, Bayern und
Niedersachsen haben die deutsche Öffentlichkeit sehr
verunsichert. Solange wissenschaftlich noch nicht völlige Sicherheit besteht, ob der BSE-Erreger nicht doch
vom Muttertier auf das Kalb übertragen werden kann,
muß dem vorbeugenden Gesundheits- und dem Verbraucherschutz absoluter Vorrang eingeräumt werden.
({1})
Unter diesem Blickwinkel können wir im Falle einer
Aufhebung des Exportverbotes nun wirklich nicht von
der notwendigen Sicherheit für die deutschen Verbraucher ausgehen. Trotz aller Versicherungen der britischen
Regierung, der britischen Landwirte und der britischen
Fleischwirtschaft, die Rinderseuche BSE sei in Großbritannien ausgerottet, belegt die Statistik der EUKommission das genaue Gegenteil: Über 1 500 BSEFälle allein im Jahre 1998 sind keine zu vernachlässigende Größe. Jeder, der vor dem Hintergrund dieser
Fakten behauptet, BSE stelle keine Gefährdung für die
Verbraucher mehr dar, ignoriert die Wirklichkeit und
gefährdet Menschenleben.
({2})
Insgesamt sind 30 Menschen an der durch die Rinderseuchen verursachten neuen Variante der CreutzfeldtJakob-Krankheit gestorben, davon 29 in Großbritannien und einer in Frankreich.
({3})
Die in beiden Anträgen aufgeführten Schutzmaßnahmen
gegen BSE werden von der F.D.P. ausdrücklich unterstützt.
Neben diesen verbraucher- und gesundheitspolitischen Aspekten sprechen auch agrarpolitische Gesichtspunkte gegen eine verfrühte Aufhebung. Jede Schlagzeile über Pannen und kriminelle Machenschaften im
Zusammenhang mit BSE in Großbritannien führt unweigerlich zu einem erneuten dramatischen Rückgang
des Fleischkonsums in Deutschland.
({4})
Gerade der deutsche Verbraucher reagiert auf Lebensmittelskandale ausgesprochen sensibel. Auch wenn von
den 175 772 BSE-Fällen nahezu alle - immerhin 99,7
Prozent - auf Großbritannien entfielen, bleibt die deutsche Veredelungswirtschaft von den Nachlässigkeiten
und kriminellen Machenschaften, die vor allem in England stattgefunden haben, nicht verschont.
Meine Damen und Herren, wir müssen uns das vorstellen: Wir sind in der Bundesrepublik Deutschland
auch auf Grund unserer sehr guten gesetzlichen Grundlage und der korrekten Handlungsweise der Landwirte
und der Tiermehlproduzenten - man muß einmal sagen,
daß Tiermehl seit eh und je in der Bundesrepublik
Deutschland unter hohen hygienischen Standards produziert wurde - von dieser Seuche verschont geblieben.
({5})
Deutsche Landwirte haben dieses Tiermehl nie an ihre
Wiederkäuer verfüttert. Trotzdem ist der Markt in seiner
Gesamtheit stark beeinträchtigt worden. Das hat der
deutschen Landwirtschaft hohe wirtschaftliche Verluste
zugefügt. Auch diesen Aspekt muß man in der Debatte
erwähnen, obwohl ich noch einmal sehr deutlich zum
Ausdruck bringen will, daß bei den Maßnahmen, die die
Kommission jetzt vorgeschlagen hat, die gesundheitsgefährdenden Auswirkungen weit überwiegen. Wir bitten
daher die Bundesregierung, den Antrag, den die Kommission vorgelegt hat, abzulehnen. Ich bedanke mich,
daß wir hier auf einer Linie arbeiten.
({6})
Ich erteile der Kollegin Kersten Naumann, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren Abgeordneten! Als neue Abgeordnete muß ich sicherlich noch viel über das Parlamentsgeschäft im Bundestag lernen. Aber ein großes Problem
habe ich unter anderem mit der Verfahrensweise der
Regierungsparteien. Mir ist unbegreiflich, warum dem
Antrag der CDU/CSU eine Woche später ein in den entscheidenden Passagen gleicher Antrag der Regierungskoalition nachgeschoben werden mußte. Ich kann dahinter nur taktische Spielchen vermuten, die weder der
Sache noch den Menschen dienen.
Dem Anliegen des CDU/CSU-Antrages werden - das
wurde hier schon signalisiert - alle Abgeordneten zustimmen. Was sollen da solche formalen Spielchen? So
sieht für mich eine souveräne Regierungsarbeit auf jeden
Fall nicht aus.
({0})
Auch für die PDS gilt: Über allen Entscheidungen
muß der Schutz der Gesundheit der Verbraucher stehen.
Zwar ist die Abschätzung des Risikos, das von BSE
ausgeht, außerordentlich schwierig; denn die Erreger
bzw. die Ursachen und die genauen Übertragungswege
sind nicht bekannt, und die Übertragbarkeit auf den
Menschen ist noch nicht erwiesen. Doch solange die
Übertragung auf den Menschen nicht ausgeschlossen
werden kann, muß der Eintritt von Teilen BSEerkrankter Tiere in die Nahrungskette völlig verhindert
werden.
({1})
Deshalb wird die PDS den Forderungen des CDU/CSUAntrages und somit auch den Forderungen des Antrages
der Regierungskoalition zustimmen.
Allerdings bleiben bei den vorliegenden Anträgen
zwei Aspekte ausgeklammert.
Erstens. Leider gab es in der letzten Zeit in anderen
EU-Staaten wieder mehrere BSE-Fälle, so zum Beispiel
in Frankreich - 43 Fälle -, in Belgien, besonders aber in
Portugal, wo 67 Tiere betroffen waren. Zu fragen wäre
deshalb, was getan werden kann, um mit noch größerer
Konsequenz in allen Ländern gegen die Krankheit vorUlrich Heinrich
zugehen. In einem Exportverbot sehe ich nicht die Lösung.
Zweitens gehört die Produktion von Tiererzeugnissen
generell auf den Prüfstand. Überschüsse von Rind- und
Schweinefleisch überschwemmen den europäischen
Markt. Mit höheren Exporterstattungen übt die EUKommission Druck auf die Weltmarktpreise aus. Sinkende Weltmarktpreise zerstören die Produktion in den
nicht konkurrenzfähigen Entwicklungsländern, zu denen
inzwischen auch Rußland gehört. Kurz gesagt: Die EUAgrarpolitik produziert Hunger auf der Welt. Es besteht
die Gefahr, daß der Schutz von Verbraucherinteressen
dazu mißbraucht wird, Agrarmärkte zu erobern und zu
sichern.
Die PDS fordert deshalb, in den bevorstehenden
WTO-Verhandlungen nicht nur über Umwelt- und Hygienestandards zu verhandeln, sondern auch deren
Durchsetzung zu regeln.
({2})
Diese Standards in den wirtschaftlich schwachen Ländern einzuführen kostet viel Geld, das diese Länder
nicht haben. Im Kampf gegen BSE hat die EU den britischen Bauern mit mehreren Millionen DM geholfen. Die
geforderten Standards dürfen nicht zu einem Instrument
der Abschottung der europäischen Märkte werden. Die
Verhandlungen über Hygienestandards müssen die Bereitschaft einschließen, die eigene Entwicklungshilfe auf
mindestens 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes zu erhöhen und darüber hinaus den wirtschaftlich schwachen
Agrarstaaten gezielte Hilfe für die Modernisierung der
Produktion von Agrargütern und für deren Verarbeitung
zu gewähren.
({3})
Eine gerechte Weltwirtschaftsordnung wird es mit
einer Liberalisierung, für die die reichen Staaten des
Nordens die Bedingungen formulieren, nicht geben.
Statt Liberalisierung brauchen Deutschland und alle
Länder stabile Handelsbeziehungen zum gegenseitigen
Vorteil. Sie brauchen eine stärker regional orientierte
Produktion, die es der Landwirtschaft ermöglicht, ihre
spezifischen Standortvorteile zu nutzen und damit auch
ihre umweltschützende Funktion zu erfüllen.
({4})
Wer BSE bekämpfen will, muß den Herkunftsnachweis sichern, was global kaum realisierbar ist. Wer
Agrarüberschüsse vermeiden will, muß für die Nachfrage auf einem bekannten Markt produzieren. In einem
Satz gesagt, heißt das: Ein neues europäisches Modell
der Agrarproduktion ist dringend erforderlich.
({5})
In diesem Sinne greifen die vorliegenden Anträge zu
kurz. Setzt man sie in Beziehung zu dem engagierten
Einsatz von CDU/CSU und SPD für die Anwendung der
Gentechnologie in der Landwirtschaft, dann entstehen
erhebliche Zweifel hinsichtlich des tatsächlichen Risikobewußtseins und des Versprechens, die Gesundheit
der Verbraucher zu schützen.
Wir mahnen zu einer Versachlichung der BSEDiskussion; denn ängstliche Verbraucher werden noch
weniger Rindfleisch essen und den Werbeslogan der
Bauern „Unser Rindfleisch ist sicher!“ ignorieren. Unsere Zustimmung zu den Anträgen der CDU/CSU und der
Regierungskoalition verbinden wir mit der Forderung
nach politischer Ehrlichkeit und keinen politischen
Plänkeleien.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat die
Kollegin Jella Teuchner, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kollegen! Liebe Kolleginnen! Nur Insider bringen mit
der Abkürzung BSE die medizinische Krankheitsbezeichnung „bovine spongioforme Enzephalopathie“ in
Verbindung. Otto Normalverbraucher würde dafür sehr
schnell ein anderer Ausdruck einfallen: besonders
schreckliches Ereignis! Der Volksmund bezeichnet diese
Krankheit mit dem Wort „Rinderwahnsinn“. Das Sündenregister der BSE-Problematik ist sowohl in seiner
zeitlichen Ausdehnung wie auch in der großen Anzahl
der falschen politischen Entscheidungen, insbesondere
zu Beginn dieses besonderen schrecklichen Ereignisses,
kaum zu übertreffen.
({0})
Wir erinneren uns: Vor mehr als einem Dutzend von
Jahren, genau: 1985, traten die ersten Fälle des Rinderwahnsinns in Großbritannien auf. Schon ein Jahr später
konnte der Nachweis geführt werden, daß die Verfütterung von verseuchtem Tiermehl die Krankheitsursache
ist. An Scrapie verendete Schafe wurden zu Tiermehl
verarbeitet. Dabei ist eine falsche thermische Behandlung vorgenommen worden. Bei dieser thermischen Behandlung, in der Eiweißverbindungen nur unvollständig
inaktiviert wurden, hat sich der Scrapieerreger einer
Wandlung unterzogen, die ihn befähigte, die Artenbarriere zu überspringen. Damit war nicht mehr ausgeschlossen, daß auch Menschen von diesem Erreger infiziert werden, insbesondere dann, wenn sie rohes oder
nicht gut gegartes oder durchgebratenes Rindfleisch essen. In der Humanmedizin wird diese Krankheit als
Creutzfeldt-Jakob-Syndrom bezeichnet.
Lasche Bekämpfungs- und Überwachungspraktiken
sowohl auf nationaler wie auch auf EU-Ebene haben
BSE damit zu einer Bedrohung im Rindfleischbereich
von europäischem Ausmaß wachsen lassen, die ihren
Höhepunkt in den Jahren 1996 und 1997 erreichte.
Großbritannien, Frankreich, Belgien, die Schweiz und
in den letzten Tagen auch Portugal haben BSEErkrankungen bei im eigenen Land geborenen Kälbern
festgestellt und die Herden ausgemerzt. Bis heute gibt
es noch keine sichere Antwort, ob diese lokale Maßnahme ausreicht, das Auftreten von neuen Fällen zu
verhindern.
Erst spät hat die Bundesregierung Mitte der
90er Jahre auf die zunehmenden Fälle der BSE-Seuche
reagiert.
({1})
Es waren die Agrar- und Gesundheitsminister der SPDregierten Länder unter der Federführung von Frau Gesundheitsministerin Martini in Rheinland-Pfalz sowie
die SPD-Opposition im Deutschen Bundestag, die die
Bundesregierung im wahrsten Sinne des Wortes erst
einmal zum Jagen haben tragen müssen.
({2})
Erst danach hat Gesundheitsminister Seehofer die
notwendigen Dringlichkeitsverordnungen erlassen, die
einen ordnungsgemäßen Verbraucherschutz gewährleisteten.
({3})
Eine Keulungsaktion gegen alle Rinder britischen Ursprungs in Deutschland mit Zahlung von Entschädigungen an die betroffenen Tierhalter, angeordnet durch den
damaligen Bundeslandwirtschaftsminister, hat Deutschland bisher seinen Status als BSE-freies Land erhalten.
Der Verbraucher hat auf die seit 1991 verstärkt erfolgten Presseveröffentlichungen in seiner Weise mit
Konsumverzicht reagiert. Noch heute hat der Rindfleischverzehr nicht den Stand des Jahres 1990 erreicht,
als die ersten Alarmzeichen von BSE bekanntgeworden
sind.
Wenngleich die Fachexperten den Rückgang des
Rindfleischverzehrs auf Grund der BSE-Problematik
nicht in Tonnen quantifizieren können, so sind doch alle
der einhelligen Meinung, daß dadurch die Abnahme des
Rindfleischverbrauchs in der Europäischen Union beschleunigt wurde. Die Rindfleischproduktion der BSEfreien Mitgliedstaaten, zu denen auch die Bundesrepublik gehört, wurde ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen.
Die Spezialbetriebe der Bullenmast und der Fleischrinderhaltung bedurften zahlreicher Stützungsmaßnahmen
durch die Europäische Union, aber auch der nationalen
Parlamente, damit sie die Durststrecken des Rindfleischabsatzes, nachdem der Markt mehrmals zusammengebrochen war, überstehen konnten.
Wenngleich die Statistiken der letzten Jahre uns zeigen, daß die Zahlen der Erkrankungen EU-weit jährlich
zurückgehen, so machen auch die Neuerkrankungen in
anderen europäischen Mitgliedstaaten, wie jetzt in Portugal, deutlich, daß ein definitives Ende des Seuchenzuges noch nicht absehbar ist.
Vor diesem Hintergrund ist eine Aufhebung des Exportverbotes für britisches Rindfleisch aus deutscher
Sicht nicht zu verantworten. Der letzte monatliche Bericht der britischen Regierung an die EU-Kommission
führt für das Jahr 1998 bis Ende September 1 619 neu
registrierte Fälle an BSE-Erkrankungen auf. Gleichzeitig
weist dieser Bericht auf insgesamt 29 bestätigte oder
wahrscheinliche Creutzfeldt-Jakob-Erkrankungen der
neuen Variante hin.
Mehrere Faktoren erschweren damit auch heute noch
die Bekämpfung der BSE außerordentlich: Das sind erstens die lange Inkubationszeit der Krankheit von der
Ansteckung bis zum Ausbruch von vier bis fünf Jahren
und darüber, zweitens die wahrscheinlichen maternalen
Effekte, drittens die schwierige Bestimmungsmethodik
am lebenden Tier, da der bisherige Nachweis nur durch
die Sezierung von Gehirn und Rückenmark möglich ist,
und viertens die Verstöße in einzelnen Mitgliedstaaten
gegen die Kennzeichnung und Deklarierung von Fleisch
und Risikomaterial.
({4})
Der bereits zitierte britische Bericht gibt auch Hinweise auf falsche Tierpässe und nicht vorgenommene
Kennzeichnungen von Risikomaterialien. Zu den letzteren gehören zum Beispiel Schädel mit Gehirn,
Lymphgewebe und Knochen. So positiv die Kontrolldichte der britischen Behörden zu bewerten ist, so negativ müssen aber auch Verstöße gegen die Kennzeichnungsrichtlinien der EU im Mutterland der BSE gesehen
werden.
Die Bundestagsfraktion der SPD wird daher die Bundesregierung und besonders den Bundeslandwirtschaftsminister in seinem Veto gegen die Aufhebung des
Exportverbotes für britisches Rindfleisch unterstützen.
({5})
Wir halten es für erforderlich, die wissenschaftliche
Entwicklung von einfachen Bestimmmungsmethoden
der Krankheit am lebenden Tier finanziell zu unterstützen und auf EU-Ebene zu koordinieren. Es ist ein Versäumnis der EU, daß trotz dieser bekannten Problematik
die wissenschaftlichen Bemühungen nicht verstärkt
wurden, um bei einer solch langen Inkubationszeit die
Erkennungsdiagnostik zu verbessern.
Es ist für mich unverständlich, weshalb die EUKommission, die durch ihre lasche Handlungsweise
kurz vor der Entlassung durch das Europäische Parlament stand, bis heute keine nennenswerten Erfolge
außerhalb der strikten Kontrolle vorweisen kann. Es hat
den Anschein, daß sie das Problem eher aussitzen will
und darauf hofft, daß es bei den Fleischkonsumenten in
Vergessenheit gerät. Solange jedoch die Infektionskette
nicht unterbrochen wird und die Neuerkrankungen nicht
auf Null zurückgegangen sind, kann ein Exportverbot
nicht aufgehoben werden.
({6})
Das berühmte „Landgraf, bleibe hart“ gilt für den Bundeslandwirtschaftsminister ganz besonders in dieser
Frage. Die Koalitionsfraktionen des Deutschen Bundestages werden ihn dabei unterstützen.
({7})
Das Wort hat der
Kollege Wilhelm Dietzel, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Verbraucherschutz
hat höchste Priorität, und vorbeugender Gesundheitsschutz ist ein hohes Gut. Meine Damen und Herren, das
sehen wir von der CDU/CSU so, das sehen die deutschen Landwirte so, und ich freue mich, daß alle Fraktionen des Deutschen Bundestages dies ebenso sehen
und daß wir einheitlich gegen das vorgehen können, was
diesen Tatsachen widerspricht.
Um so unverständlicher ist es, daß der Ständige Veterinärausschuß der EU den Exportstopp gegen englisches
Rindfleisch mit acht zu fünf Stimmen bei zwei Stimmenthaltungen aufheben will. In der Begründung heißt es,
daß hier nicht politisch, sondern wissenschaftlich entschieden werden soll. Diese Begründung ist eigentlich
richtig, aber sie ist doch gerade in diesem Fall doch zumindest anzuzweifeln. Denn es soll entbeintes Fleisch
von Tieren, die nach dem 1. August 1996 geboren worden sind, exportiert werden können. So meint es der
Ständige Veterinärausschuß.
Wenn ich sehe, daß allein in Großbritannien 1997
4 334 Tiere an BSE erkrankten und bis zum 13. Oktober dieses Jahres 1 435 neue Fälle aufgetreten sind,
dann meine ich, daß wir dem so nicht folgen können.
Wenn ich weiterhin sehe, daß die maternale Übertragung, die Übertragung von der Mutterkuh auf das
Kalb, zumindest nicht ausgeschlossen werden kann,
dann frage ich mich, wer diesen Satz, daß eine Ausfuhr
möglich ist, geschrieben hat. Ich will den Text hier
zitieren:
„Ferner muß durch amtliche Kontrolle bestätigt
werden, daß die Muttertiere nicht an BSE erkrankt
waren und die Geburt wenigstens sechs Monate
überlebt haben.“
Meine Damen und Herren, als ich diesen Satz gelesen
habe, fand ich ihn doch etwas makaber, und zwar vor
allem deshalb, weil wir inzwischen wissen, daß in der
Schweiz und auch in Großbritannien je Jahrgang 200 bis
300 Tiere an BSE erkrankt sind, äußerlich aber nicht erkennbar war, daß sie erkrankt waren.
In Deutschland ist BSE ein sehr sensibles Thema. Als
im März 1996 das Gutachten des englischen Sozialministers auf den Tisch kam, in dem es hieß, daß es möglich
ist, daß diese Krankheit auf den Menschen übertragen
wird, gab es in Deutschland eine heftige Diskussion. Bis
dahin hatten wir in Deutschland vier Tiere, die an BSE
erkrankt waren. Alle vier Tiere wurden importiert, alle
vier Tiere hatten die Krankheit mitgebracht, und alle
vier Tiere wurden entsorgt, ohne daß ein Verbraucher
mit ihnen in Verbindung kam. Sie wurden geschlachtet
und verbrannt.
Dies hat in Verbindung mit der Diskussion dazu geführt, daß wir in der Landwirtschaft bei Rindfleisch einen Einbruch von 30 Prozent hatten. Zur gleichen Zeit
gab es in Großbritannien insgesamt 160 000 Fälle BSEerkrankter Tiere. Das hat dazu geführt, daß in Großbritannien der Umsatz an Rindfleisch um 3 Prozent nach
oben gegangen ist unter dem Motto: So billig war Rindfleisch noch nie!
Meine Damen und Herren, sicherlich gibt es hier eine
gewisse Hysterie, die auch von Medien geschürt wurde. Und die Überschrift einer großen deutschen Illustrierten „Unser tägliches Gift gib uns heute“ trägt
nicht dazu bei, daß Verbraucher über dieses Problem
aufgeklärt werden. Trotzdem meine ich, daß es eine der
wichtigsten Aufgaben ist - auch für mich als Bauer -,
das Vertrauen der Verbraucher wiederzugewinnen. Wir
bieten an: „Schwein von hier“ oder „Rind von hier“
und versuchen, dem Verbraucher zu zeigen, wo die
Tiere herkommen. Ich glaube, daß die Landwirte in
Europa, vor allen Dingen hier in Deutschland, stark
unter diesem Preiseinbruch gelitten haben, der Milliardenverluste für deutsche und europäische Bauern
gebracht hat, der den einen oder anderen Bullenmäster
in den Ruin getrieben hat. Ich selbst weiß - ich habe
etwa 120 Rinder in meinem Stall stehen -, wie die
Preisentwicklung in diesen Bereichen war, daß es
fatale Einbrüche auf diesem Markt gab, die von uns
ausgehalten werden mußten.
Meine Damen und Herren, ich darf mich hier bei ExMinister Jochen Borchert bedanken, der hier konsequent
gegengehalten hat, im Interesse der Bauern und der Verbraucher.
({0})
Er hat bei der Europäischen Union mit das Exportverbot
für Rindfleisch aus Großbritannien und ein Programm
zur Tilgung von BSE in Europa durchgesetzt. Die Herstellung von Fleischmehl wurde auf dem hohen deutschen Niveau standardisiert, durch Herauskauf wurden
die Preise gestützt, und durch Werbemaßnahmen in
Deutschland und innerhalb der Europäischen Union
wurde der Absatz wieder angekurbelt.
Ich denke, wir haben durch Minister Borchert auch mit
auf den Weg gebracht, daß in Zukunft die Herkunft
lückenlos nachweisbar ist. Denn der Verbraucher hier
wird erst dann wieder langfristig Vertrauen zu Rindfleisch haben, wenn er weiß, wenn er vor der Ladentheke steht, wo das Rind geschlachtet wurde, wo es gemästet wurde, wo es aufgezogen und geboren wurde. Das
schafft Vertrauen. Deswegen ist zum 1. Januar 1998 in
der Bundesrepublik Deutschland der Tierpaß eingeführt
worden, der in einigen Bundesländern schon im Jahre
1995 eingeführt wurde. Ich denke, daß das der richtige
Weg war. So schaffen wir bis zum Jahre 2000 eine zentrale Datenbank, mit deren Hilfe wir, wenn es Probleme gibt, diese Tiere finden können.
Das Rindfleischetikettierungsgesetz, das durchaus
heftig diskutiert wurde und im Augenblick noch auf
freiwilliger Basis umgesetzt werden kann, aber ab dem
1. Januar 2000 obligatorisch gelten soll,
({1})
trägt sicherlich mit dazu bei, daß der Verbraucher selbst
entscheiden kann, welches Rindfleisch er haben will. Er
kann nämlich an Hand dieser Rindfleischetikettierung
erkennen, woher dieses Rindfleisch kommt, also ob es
sich zum Beispiel um deutsches Rindfleisch handelt
oder ob es aus anderen Ländern - hoffentlich nicht aus
Großbritannien - kommt.
Auffallend ist, daß bei dieser Frage in der gesamten
Politik - auch innerhalb der Europäischen Union - offensichtlich mit zweierlei Maß gemessen wird. Auf der
einen Seite ist Portugal ein Exportverbot von Rindfleisch auferlegt worden. Das finde ich richtig, weil der
Schlendrian, der gerade in diesem Land eingerissen ist,
meiner Meinung nach auch geahndet werden sollte. Auf
der anderen Seite erkrankten in Portugal in diesem Jahr
66 Tiere und in Großbritannien 1 400 Tiere an BSE.
Deshalb verstehe ich nicht so ganz, daß der Exportstopp,
der über Portugal verhängt wurde, für Großbritannien
aufgehoben werden soll.
({2})
Meine Damen und Herren, Herr Minister Funke, ich
hoffe, daß Sie beim Agrarrat am 23. und 24. November
mit aller Macht und mit vollem Gewicht für die deutschen Verbraucher und für die deutschen Landwirte
eintreten, damit über uns nicht wieder eine katastrophale Talfahrt der Preise, die durch Fehlverhalten anderer hervorgerufen wurde, hereinbricht. Ich wünsche Ihnen Erfolg und auch das notwendige Durchsetzungsvermögen, denn nationale Lösungen sind meiner
Meinung nach nicht so hilfreich wie EG-weite Entscheidungen. Deutsche Verbraucher wollen kein Hormonfleisch und auch kein BSE-Fleisch. Der deutsche Verbraucher hat recht.
({3})
Deswegen hat die CDU/CSU-Fraktion diesen Antrag
eingebracht. Unser Antrag, Frau Höfken, vom 11. November 1998 erlebte eine wundersame Kopie: Alle vier
Punkte tauchen fast wortgleich im Antrag von SPD und
Grünen vom 17. November wieder auf. Deswegen bitte
ich Sie, meine Damen und Herren, dem CDU/
CSU-Antrag zuzustimmen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU zum Widerstand gegen die Aufhebung des Exportverbots für britisches Rindfleisch auf
Drucksache 14/31. Wer stimmt für diesen Antrag? Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Damit ist der Antrag mit den Stimmen der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktionen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS abgelehnt.
Nunmehr folgt die Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
zum Widerstand gegen die Aufhebung des Exportverbots für britisches Rindfleisch durch die EUKommission auf Drucksache 14/42. Ich bitte diejenigen, die dem Antrag zustimmen, um das Handzeichen. Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen der Fraktionen der SPD, des Bündnisses
90/Die Grünen, der F.D.P. und der PDS sowie einigen
Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen
Staatssekretäre
- Drucksache 14/30 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({0})
Rechtsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktionen der F.D.P. und der PDS jeweils fünf Minuten
erhalten sollen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
SPD-Fraktion Ludwig Stiegler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit diesem Gesetzentwurf möchte die
Koalition die Handlungsfähigkeit des Bundes-kanzlers
bei der Berufung von Parlamentarischen Staatssekretären erweitern. Sie alle wissen, daß sich die Institution
der Parlamentarischen Staatssekretäre bewährt hat. Sie
war am Anfang umstritten. Sie ist ein Ergebnis der Großen Koalition aus dem Jahre 1967.
Alle damaligen Bedenken sind von der Praxis widerlegt worden. Heute kann sich niemand mehr vorstellen,
daß wir einen ordnungsgemäßen Parlamentsbetrieb
- das gilt sowohl für die Regierungsfraktionen als auch
für die Oppositionsfraktionen - aufrechterhalten könnten, wenn nicht die Parlamentarischen Staatssekretäre
und -sekretärinnen die Aufgabe der Vermittlung zwischen Parlament und Regierung, aber auch die Vermittlung in der Öffentlichkeit wahrnehmen würden. Diese
Möglichkeiten sollen mit dem Gesetz verbreitert werden.
Herr Kollege Stiegler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Wenn er meint.
Er meint. - Bitte
schön.
Herr Kollege, ich habe
das, was Sie eben gesagt haben, mit großem Interesse
gehört. Können Sie mir erklären, wie es kommt, daß
Kolleginnen bzw. Kollegen wie Ingrid Matthäus-Maier
oder Karl Diller, der jetzt Parlamentarischer StaatsWilhelm Dietzel
sekretär geworden ist, früher gerade bei den Haushaltsberatungen der alten Koalition immer vorgeworfen haben, sie hätte zu viele Parlamentarische Staatssekretäre?
Können Sie mir bei der Gelegenheit einmal sagen, wieviel Parlamentarische Staatssekretäre und Staatsminister
es unter der alten Koalition gab und wieviel es jetzt gibt,
damit ich in etwa das Zahlenverhältnis weiß und sehen
kann, ob Sie das verwirklicht haben, was Sie in der
Opposition immer gesagt haben?
Die neue Koalition ist, was
den Regierungsapparat angeht, viel bescheidener als Sie;
das wissen Sie.
({0})
- Ja, das Kabinett ist kleiner. Hier haben wir uns gegenseitig nichts vorzuwerfen.
({1})
Von der Qualität will ich gar nicht reden. Zahlen sind
Schall und Rauch. Sie wissen, daß wir weniger Regierungspersonal haben als Sie. Schauen Sie sich an, was
Sie an Regierungspersonal bestellt haben und was die
neue Koalition bestellt hat. Von daher haben die Haushälter keinen Grund, die Stirn zu runzeln. Sie haben als
jemand, der im Glashaus sitzt, wirklich keinen Grund,
einen Stein auch nur anzufassen, geschweige denn zu
werfen.
({2})
Meine Damen und Herren, bisher war es Praxis, daß
die Parlamentarischen Staatssekretäre aus den Reihen
des Bundestages bestimmt worden sind. So steht es im
Gesetz, und so ist es bisher gehandhabt worden. Es gibt
aber keinen Grund, nicht auch Personen mit den Aufgaben eines Parlamentarischen Staatssekretärs zu betrauen,
die nicht oder noch nicht Mitglied des Bundestages
sind. Wir wollen dem Bundeskanzler die Möglichkeit
und den Spielraum geben, ins Kanzleramt auch Persönlichkeiten zu berufen, die dem Parlament nicht oder
noch nicht angehören. Sie wissen, wie sich die Verhältnisse inzwischen weiterentwickelt haben. Sie wissen,
wie die Aufgabenspektren gewachsen sind.
Vor diesem Hintergrund ist es gerechtfertigt und
notwendig, dem Bundeskanzler hier mehr Handlungsspielraum zu geben. Diesen Handlungsspielraum wollen
wir ihm mit dieser Gesetzesänderung verschaffen.
({3})
Meine Damen und Herren, Sie wissen auch, daß ein
erster konkreter Fall zur Entscheidung ansteht. Alle
Seiten des Hauses haben den neuen Beauftragten der
Bundesregierung für Kultur mit großem Beifall bedacht. Alle haben seine Aufgabe für richtig und wichtig
gehalten.
({4})
Jetzt geht es darum, daß wir auch die institutionelle
Verankerung dieser Persönlichkeit im Parlament richtig
vornehmen.
({5})
Dazu gehört die Berufung in das Amt eines Parlamentarischen Staatssekretärs. Wenn wir es so gemacht
hätten, wie die alte Koalition es getan hat, so hätten wir
schlicht einen neuen Minister bestellt. Das war bei Ihnen
die Praxis. Sie hätten einen zusätzlichen Bundesminister
berufen und hätten die Probleme, die wir jetzt mit diesem Gesetz lösen wollen, gar nicht gehabt. Sie wissen
aber genauso gut wie wir, daß wir im Kulturbereich mit
Rücksicht auf die Länder,
({6})
mit Rücksicht auf den Föderalismus zurückhaltend im
Sinne eines kooperativen Föderalismus vorgehen müssen. Die Rede des Beauftragten war in dieser Hinsicht
sehr wohltuend, weil er gesagt hat, daß die Kulturhoheit
der Länder eben nicht tangiert wird, sondern daß nur
Aufgaben erfüllt werden sollen, die die Länder nicht alleine bewältigen können. In Sachen Kulturhoheit
braucht mir als Bayer keiner Nachhilfeunterricht zu geben.
({7})
Es geht eben nicht darum, einfach einen Bundesminister, so wie Sie es getan hätten, zu bestellen. Wir wollen
vielmehr dem neuen Beauftragten mit der Berufung zum
Parlamentarischen Staatssekretär die Möglichkeit eröffnen, daß er Staatsminister werden kann und daß er die
zunehmenden europäischen und internationalen Verpflichtungen angemessen erfüllen kann. Ich wäre Herrn
Kinkel sehr dankbar, wenn er seiner Fraktion beibringen
würde:
({8})
Es ist notwendig - gerade in bezug auf die neue Medienpolitik -, daß derjenige, der mit unserer Zustimmung die neue Aufgabe erfüllen soll, den Titel und die
protokollarische Stellung hat, die es ihm ermöglichen,
daß er seine Aufgaben in unser aller Interesse erfüllt.
({9})
Liebe Kollegen aus Oberbayern, Sie müssen zur
Kenntnis nehmen, daß wir nicht mehr in Krähwinkel leben. Es genügt nicht mehr, sich allein im Großraum
München aufzuhalten, sondern der Beauftragte für Kultur muß seine Aufgaben europa- und weltweit erfüllen
können.
({10})
- Wir Oberpfälzer sind offenkundig viel weiter als Sie.
Das sieht man daran, daß ich die Internationalität in diesem Bereich unterstütze.
({11})
Wir wollen, daß er seine Aufgabe international angemessen erfüllen kann.
Schauen Sie sich einmal an, was allein im Urheberrecht an internationalen Aufgaben auf ihn zukommt und
was im Bereich des Internets durch internationale Verhandlungen zu klären ist! Wenn Sie die Medienpolitik in
ihrer vollen Breite und im Rahmen unserer kulturpolitischen Diskussionen betrachten, die europa- und weltweit
und nicht nur in Krähwinkel stattfinden sollen, dann erkennen Sie, daß es notwendig ist, daß der Beauftragte
für Kultur mit der notwendigen Statur und Titulatur für
unser Land auftreten kann.
({12})
Statt hier herumzumäkeln, sollten Sie uns dabei helfen, daß er die vom Parlament angenommene Aufgabe
- auch auf Ihrer Seite ist die Art, wie er sich vorgestellt
hat, gerühmt und bejubelt worden; einen solchen Kandidaten hatten Sie all die Jahre nie aufzubieten - erfüllen
kann.
({13})
Vor diesem Hintergrund müssen Sie auch den zweiten Schritt tun. Wir haben A gesagt; jetzt müssen wir
auch B sagen. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Hartmut Koschyk.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Sitzung des
14. Deutschen Bundestages am 12. November hat die
amtierende Vizepräsidentin dem Beauftragten der Bundesregierung für Kunst, Kultur und Medien, Michael
Naumann, das Wort erteilt. In der zweiten Sitzung des
neu gebildeten Bundestagsausschusses für Kultur und
Medien am gestrigen Tage stand ein Bericht des Beauftragten der Bundesregierung für kulturelle Angelegenheiten und Medien auf der Tagesordnung. Beide Vorgänge zeigen, wie absurd und überflüssig der heute in
erster Lesung zu beratende Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung
des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre ist.
({0})
Alleiniger Zweck dieses Gesetzes ist, daß dem im
Organisationserlaß von Bundeskanzler Schröder genannten Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheit der Kultur und Medien der schmückende Titel
eines Staatsministers im Bundeskanzleramt verliehen
werden kann.
({1})
Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, es
ist ja bezeichnend, daß die Kolleginnen und Kollegen
vom Bündnis 90/Die Grünen Ihren Gesetzentwurf zwar
mittragen, aber bei Ihrer Einlassung, Herr Stiegler, nicht
geklatscht haben und die Aufregung, die jetzt bei meinem Redebeitrag in Ihren Reihen herrscht, nicht teilen.
({2})
Meine Kolleginnen und Kollegen von der SPDFraktion, Sie müssen natürlich zur Kenntnis nehmen,
daß durch die deutsche Medienlandschaft bereits der
Begriff „Lex Naumann“ geistert.
({3})
Friedrich Karl Fromme hat in der „Welt am Sonntag“
vom 15. November dieses Jahres diesen Skandal in die
treffenden Worte gekleidet: „Was nicht paßt, wird angepaßt.“
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, mich erinnert dieser Vorgang an den schönen
bayerischen Satz: Wollen haben wir schon gekonnt, aber
dürfen haben wir uns nicht getraut.
({5})
Mitglied des Deutschen Bundestages konnte oder
wollte Herr Naumann nicht werden. Für die Ernennung
zum Bundesminister - Herr Stiegler, das haben wir gerade von Ihnen gehört - fehlte der rotgrünen Regierung
aber die Courage, weil man seitens der SPD-Mehrheit
im Bundesrat Zoff befürchtete. Denn ein Bundesminister
in diesem Bereich steht natürlich nicht mit der beschworenen Wahrung der Kulturhoheit der Länder in Einklang.
({6})
- Lieber Herr Stiegler, da irren Sie. Es wird nicht der
Bundesbeauftragte oder, wenn Sie den Gesetzentwurf
hier durchpeitschen, der Staatssekretär Naumann sein,
der die Bundesrepublik Deutschland in kulturellen Belangen auf EU-Ebene vertritt, sondern gemäß Lindauer
Abkommen und Briefwechsel der Vertreter der KMK.
({7})
Der Titel eines Beauftragten reicht also nicht, und die
Ernennung zum Bundesminister geht nicht.
({8})
Im schönen alten Österreich gibt es den Spruch: Ein
schöner Titel möcht's schon sein. Deshalb muß jetzt dieser Kunstgriff vorgenommen werden, um Herrn Naumann zum Staatsminister zu machen.
Ich war sowohl bei Ihrem Redebeitrag, Herr Naumann, den Sie letzte Woche hier im Plenum gehalten
haben, als auch bei Ihrer gestrigen Vorstellung im Ausschuß für Kultur und neue Medien dabei. Ich habe Ihnen
aufmerksam zugehört. Herr Naumann, ich hatte den
Eindruck - das will ich ganz ehrlich sagen -: Es ist nicht
der Titel, der Ihnen Probleme macht, sondern es sind die
Mittel, angefangen von der - wie Sie uns gestern im
Ausschuß berichtet haben - völlig unzureichenden Büroinfrastruktur - es ist wirklich bedauerlich, mit welchen
Dingen Sie sich abzuplagen haben, um mit Ihrer Arbeit
in die Gänge zu kommen - bis hin zu der Frage, wie
viele Mittel aus welchen Ressorts der neue Kulturbeauftragte letztendlich zu verwalten haben wird.
({9})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion jedenfalls wird
einer Lex Naumann nicht zustimmen. Es ist eine Zumutung der rotgrünen Bundesregierung und der rotgrünen Koalition, dem Deutschen Bundestag die Zustimmung zu einem Einzelfallgesetz abzuverlangen, das dem
einzigen Zweck dient, eine fragwürdige Zusage von
Bundeskanzler Schröder zu erfüllen. Es ist Sache der
rotgrünen Bundesregierung und der rotgrünen Koalition,
wie sie mit dem schon gebrochenen Wahlkampfversprechen einer deutlichen Verkleinerung der Bundesregierung zurechtkommen und gleichzeitig in einem bislang
nie gekannten Ausmaß Beamte wegen eines fehlenden
oder nicht genehmen Parteibuchs entlassen oder versetzen.
({10})
Wir alle haben noch die vollmundige Ankündigung
des damaligen Fraktionsvorsitzenden und jetzigen Verteidigungsministers Scharping im Ohr, der noch im
Sommer dieses Jahres die Absicht von Gerhard Schröder
begrüßte - ich zitiere -, „die künftige Bundesregierung
deutlich zu verkleinern“, und dies als „ein Signal für effiziente Regierungsarbeit, für einen sorgfältigen Umgang mit Steuergeldern und für eine Absage an jede Art
von Vetternwirtschaft“ bezeichnete. Was ist aus dieser
vollmundigen Ankündigung von Herrn Scharping geworden,
({11})
wenn man Ihre Regierungsbildung, Ihre Entlassungsund Versetzungspraxis sowie den Coup, Herrn Naumann
zum Staatsminister zu machen und nur für ihn ein Gesetz zu ändern, betrachtet?
({12})
Sie sollten sich wirklich noch einmal überlegen, ob
Sie dem Deutschen Bundestag die Änderung dieses Gesetzes zumuten wollen,
({13})
ob Sie also an diesem abstrusen Gesetzentwurf festhalten wollen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie das
durchziehen, dann sichern Sie zwar Herrn Naumann
nicht einen Platz am Kabinettstisch von Herrn Schröder
- Sie kennen die Situation noch immer nicht -, aber einen Platz im Kuriositätenkabinett deutscher Rechtsgeschichte.
({14})
In der Aussprache zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers hat die CDU/CSU-Fraktion klar zum Ausdruck gebracht, daß sie an der beabsichtigten und von
der neuen Bundesregierung teilweise vollzogenen Neuordnung der Organisation der Bundesregierung im Kulturbereich kritisch-konstruktiv mitarbeiten wird. Dies
haben wir auch gestern in der ersten Aussprache im zuständigen Ausschuß gegenüber Herrn Naumann zum
Ausdruck gebracht.
Mit diesem Gesetzentwurf - das belegt die Kommentierung in den Medien - erweisen Sie der Kulturpolitik
des Bundes und dem dafür vom Bundeskanzler Beauftragten einen Bärendienst, ja, Sie geben ihn ein Stück
der Lächerlichkeit preis.
Wir fordern Sie auf, noch einmal in sich zu gehen
und den Gesetzentwurf zurückzuziehen. Wir würden
auch mit einem Beauftragten des Herrn Bundeskanzlers
für Kultur und Medien - ohne Titel, aber mit den entsprechenden Mitteln - kritisch-konstruktiv als Opposition zusammenarbeiten.
({15})
Das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin
Ekin Deligöz.
Herr
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unterstützt die Einrichtung des Amtes eines Beauftragten für Kultur im
Kanzleramt.
({0})
Die Kulturpolitik ist ein wichtiger Bestandteil der
Koalitionsvereinbarung. Die Stelle des Kulturbeauftragten, die Bündelung der kulturpolitischen Kompetenzen, bietet uns eine große Chance, nämlich die Chance,
daß die Kulturpolitik in der neuen Regierung den Stellenwert erhält, der ihr nach unserer Überzeugung zusteht.
({1})
Das allein wäre an sich schon eine schöne Neuerung: eine neue Kultur im Umgang mit der Kultur, die jahrelang
von der jetzigen Opposition mit schönen Worten abgespeist wurde.
({2})
In der Öffentlichkeit und, wie ich jetzt höre, auch von
Teilen der Opposition wurde und wird immer noch
spöttisch von einer Lex Naumann gesprochen, weil
Herr Naumann den Rang eines Parlamentarischen
Staatssekretärs bekleiden soll, ohne selbst Mitglied des
Parlaments zu sein.
Hier gilt es folgendes zu bedenken: Es ist im internationalen Umfeld ganz einfach so, daß ein Kulturbeauftragter protokollarisch nicht den Rang eines Referenten
haben kann, wenn er zum Beispiel neben einem französischen Kulturminister ernst genommen werden soll.
({3})
Deshalb mein Appell an die Opposition, sich nicht nur
hinter billiger Polemik zu verschanzen,
({4})
sondern mit uns gemeinsam für eine angemessene Verankerung des Kulturbeauftragten in der Regierung zu
sorgen. Stimmen Sie unserer Vorlage zu!
({5})
Es gibt aber noch einen weiteren Gesichtspunkt, der
mir als Grüne besonders wichtig ist: Daß Herr Naumann
als Regierungsmitglied nicht dem Parlament angehört,
hat im Sinne der Gewaltenteilung auch seine Vorteile.
({6})
Die Verquickung von Exekutive und Parlament ist ein
Problem, das wir schlichtweg zur Kenntnis nehmen
müssen. Dies wird nicht nur von den Grünen so gesehen.
Auch Sie von der F.D.P. haben sich in Ihrer bürgerrechtlichen Vergangenheit bereits einmal dafür ausgesprochen, daß die verschiedenen staatlichen Ebenen zu
trennen seien. Und Sie hatten damals auch Ihre Gründe
dafür.
({7})
- Dürfte ich einmal weiterreden?
({8})
- Es ist die mangelnde Kultur. Deshalb sind Sie ja auch
abgewählt worden.
({9})
Bei der praktischen Umsetzung des Ganzen ist natürlich einiges zu bedenken. Es stärkt durchaus die Unabhängigkeit der Ministerinnen und Minister in einem Kabinett, wenn sie ihr Abgeordnetenmandat im Hintergrund haben. Es tut den Ministerinnen und Ministern sicherlich auch ganz gut, wenn sie neben ihrem Amt die
Wahlkreisarbeit als Abgeordnete weiterführen können.
Andererseits fällt mir kein zwingender Grund ein, warum die Ministerinnen und Minister zusätzlich zu ihren
Bezügen als Amtsträger und zusätzlich zu ihren Sachund Personalmitteln einen Teil ihrer persönlichen Bezüge als Abgeordnete behalten müssen. Doppelversorgung
muß nicht sein. Hier sind längst Reformen überfällig!
({10})
Natürlich weiß auch ich: Es gibt für das Problem der
Verquickung von Amt und Mandat keine Patentlösung,
und übertriebene Hektik wäre für die Interessen des
Parlaments ebenso schädlich wie das bisherige Aussitzen.
Lassen Sie mich deshalb am Schluß meiner ersten
Rede im Bundestag noch einen Gedanken formulieren.
Wir stehen jetzt am Anfang einer neuen Wahlperiode.
Wir haben als Parlament die Möglichkeit, ein neues
Selbstbewußtsein gegenüber der Regierung zu entwikkeln. Weder wollen die neuen Regierungsfraktionen
demütige Befehlsempfänger sein,
({11})
noch müssen die neuen Oppositionsfraktionen als pauschale Neinsager und Verweigerer dastehen.
({12})
Ich möchte deshalb mit meinem Beitrag einen Anstoß
dafür geben, daß wir Probleme ehrlich benennen und einen intensiven Reformdialog über die Fraktionsgrenzen
hinweg beginnen. Ein solches konstruktives Miteinander
wird an der Schwelle zum 21. Jahrhundert einer aufgeklärten und weltoffenen Bundesrepublik Deutschland
gut zu Gesicht stehen. In diesem Sinne, sehr verehrte
Kolleginnen und Kollegen, freue ich mich auf eine weiterhin gute Zusammenarbeit.
Danke schön.
({13})
Dies war die erste
Rede der Kollegin Deligöz. Auf weitere gute Reden von
Ihnen!
({0})
Das Wort hat jetzt für die Fraktion der F.D.P. der
Kollege Edzard Schmidt-Jortzig.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der
vorliegende Gesetzentwurf erfüllt alles, was man sich
vom ersten Schritt einer neuen Kulturpolitik nur erwarten kann: Er ist hintergründig, er ist ein wenig frivol, er
ist feinsinnig und geheimnisvoll.
({0})
Hintergründig kommt schon die unscheinbare
Schlußzeile auf dem Deckblatt daher, wo es heißt „Kosten: Keine“. Man hört noch die Versprechungen, daß
die neue Regierung bei der Regierungsbildung ganz
fürchterlich sparen wolle, daß es also keine neuen Pöstchen und keine weiteren Kosten geben werde. Aber der
gute Herr Naumann, den man sich als Beauftragten der
Bundesregierung für die Angelegenheiten der Kultur
und der Medien - eigentlich ist der Titel so ja auch
schon eindrucksvoll genug - ausersehen hat, muß doch
irgendwie entlohnt und besoldet werden. Was macht
man schließlich mit einem Kulturbeauftragten, wenn er
nichts kosten soll? Macht er dann keine Politik? Macht
er keine Kultur? Und was ist eigentlich - jetzt einmal
wieder ein bißchen juristisch gefragt - mit dem neuen
§ 40 Abs. 2 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der
Bundesministerien, den wir uns vor zwei Jahren gegeben haben und der doch immerhin Ehrlichkeit bei der
Kostenangabe verlangt? Also Fragen über Fragen. Ich
finde, es ist hintergründig.
Der Gesetzentwurf gibt sich dann aber auch ein bißchen frivol - finde ich jedenfalls -, weil er eben eine
sonst allenthalben schamhaft verhüllte Neigung des
Menschen bedienen soll, nämlich das Streben nach Titeln, besserem Dienstrang, Ehrenbezeugungen und angemessener Anrede, versteht sich.
({1})
Einfach nur für die Bundeskultur zuständig sein und dafür einen schlichten Anstellungsvertrag zu haben, das
reicht nicht.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Gerne. Wenn
sie der Wahrheitsfindung dient, immer.
({0})
Sie dient der Wahrheitsfindung.
Darf ich Sie, Herr Bundesminister a. D. und lieber
Herr Kollege Schmidt-Jortzig, fragen, ob Sie sich noch
an die letzte Legislaturperiode erinnern
({0})
- Sie beklagen hier jetzt lautstark, daß, berechtigterweise, die Stelle eines Staatsministers eingerichtet werden soll -, als wir den bemerkenswerten Vorgang erleben konnten, daß ein verdientes Mitglied dieses Haus
verlassen mußte und Staatssekretär werden durfte, damit
der hochverehrte Kollege Westerwelle überhaupt in dieses Parlament einziehen konnte, und sind Sie nicht der
Auffassung, daß dieser Vorgang Sie vielleicht dazu
bringen müßte, das, was Sie heute so vehement kritisieren, mit etwas größerer Zurückhaltung zu kommentieren?
({1})
Herr Kollege
Tauss, daß Sie jetzt so freundlich mit mir kommunizieren, ist wohl auch eine Ausgeburt dieser neuen Kulturpolitik. Ich kenne Sie sonst immer nur als intensiven
Zwischenrufer.
({0})
So haben wir Gelegenheit, die Dinge einmal zu beäugen.
Dabei stelle ich fest, daß das Justizministerium - wahrscheinlich immer noch, auch unter der neuen Leitung heftig davon beeindruckt ist, daß Sie es mit Kulturpolitik
in Verbindung bringen. All das, was Sie so schön geschildert haben,
({1})
hat sich nämlich im Justizministerium abgespielt.
Nun müssen wir feststellen, daß das offenbar die
richtige Kultur gewesen zu sein scheint. Weshalb wir
jetzt einen richtigen Beauftragten für Kultur haben, weiß
ich nicht so genau. Aber offensichtlich müssen schöne
Künste, müssen Literatur und Theater, müssen denkmalerische Erinnerung, musische Aufgeschlossenheit und
angenehme Lebensart - einleuchtenderweise - mit einem respekterheischenden Titel, mit einer hübschen Visitenkarte vertreten werden. Die Menschen sind eben so
- man weiß das ja -, und das muß natürlich bedacht
werden. Also: Das schöne Etikett „Staatsminister“
müßte her. Aber so deutlich darf dieser Zug nun auch
wieder nicht werden. Also deklariert man das ganze
Stück nicht da, wo es eigentlich hingehört hätte - in das
Ministergesetz, wo man „Juniorminister“ einführen
könnte -, sondern man versteckt es, ein bißchen schamhaft, in dem eher beamtenmäßig, unaufwendig und unauffällig klingenden Gesetz über die Parlamentarischen
Staatssekretäre.
Richtig feinsinnig ist - mir ist es jedenfalls so vorgekommen - die Zielbeschreibung des gesetzgeberischen
Schrittes gelungen. Wir lesen da:
Im Einzelfall kann es im Bundeskanzleramt im
Hinblick auf die Aufgabenstellung erforderlich
werden,
eine ganz spezifische personelle Sonderausstattung vorzusehen. Auf diese exquisiten Ausnahmegründe ist man
richtig gespannt. Das nenne ich gelungene Dramaturgie;
das steigert die Spannung, die Höhepunkte werden erwartet. Schrecklich schnöde ist dann leider die rauhe
Wirklichkeit, vor allen Dingen auch die Juristerei.
Da hat im Wahlkampf einfach einer einem Mitstreiter handfeste Versprechungen gemacht, ohne die
Rechtslage zu kennen. Nun soll das Ganze möglichst
elegant - gesetzgeberisch - geradegerückt werden.
({2})
Wie demgemäß die Dinge hübsch formuliert, ummalt
und verziert werden, das ist wahrlich einer Kulturinitiative würdig. Schließlich sprechen wir hier - auch
das muß man einmal anmerken - von Gesetzgebungskultur.
({3})
Zuletzt wird alles noch ganz geheimnisvoll: Da soll
das Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre geändert werden. Man
erinnert sich doch, daß diese Figur extra geschaffen
wurde, um einen Minister in der parlamentarischen Einbindung zu unterstützen oder zu vertreten. Irgendwie
also - so denkt sich das jedenfalls ein argloses Gemüt müßten die Parlamentarischen Staatssekretäre, auch
wenn sie auf den schönen Titel „Staatsminister“ hören,
etwas mit Parlament zu tun haben. Nicht aber diese Gesetzesoperation! Denn dieser ganze Kraftakt wird ausdrücklich unternommen, um jemanden zu inkorporieren,
der gerade nichts mit dem Parlament zu tun hat und haben soll: Er ist weder selbst Parlamentsmitglied, noch
soll er einen politischen Vormann in dessen parlamentarischer Einbindung stärken - ein Fisch also, der gar kein
Fisch ist, aber doch wie ein Fisch behandelt werden soll,
obwohl er eigentlich für seine Aufgabe auch gar nicht
Fisch sein müßte. Also ziemlich dubios das Ganze.
Die F.D.P. wird dieses Meisterstück kulturpolitischer
Innovation jedenfalls mit großem Interesse auf seinem
weiteren Diskussionsgang verfolgen.
({4})
Der neue Kulturausschuß wird sicherlich heftig und angestrengt beraten, aber, so nehme ich an, wahrscheinlich auch nicht all die vielen Fragen ehrlich klären
können. Deshalb lehnen die Liberalen diese künstlerische Camouflage ab
({5})
und hoffen nur - auch das möchte ich gezielt an Ihre
Adresse, Herr Naumann, sagen -, daß das, was Sie als
der neue Wundermann sachpolitisch leisten mögen,
überzeugender ausfällt. Dann werden wir Sie auch unterstützen.
Danke sehr.
({6})
Das Wort hat der
Kollege Roland Claus, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich stelle mir jetzt einmal
vor, wie es den Autorinnen und Autoren des vorliegenden Gesetzentwurfes nach der Rede meines geschätzten
Kollegen geht, der vor mir gesprochen hat. Sie werden
eine Art Ehrfurcht vor dem eigenen Produkt bekommen
haben, die Sie vorher bestimmt noch nicht hatten. Wieviel ist in diesen Entwurf doch hineininterpretiert worden!
Aber ich will zunächst an die Adresse der Koalition
sagen: Die Kritik der Opposition läßt sich heute nicht
ganz so leicht abtun wie sonst. Bisher haben Sie jede
Kritik der Opposition damit abgetan, daß sie nicht so
richtig gehaltvoll sei, weil der Wählerwille das alles anders bestimmt habe. Ich kann Sie nur daran erinnern:
Die alte Regierung hatte 25 Parlamentarische Staatssekretäre, die neue hat es bisher schon auf 22 gebracht.
Als unmittelbaren Wählerwillen können Sie das wohl
nicht interpretieren. Wir merken uns an dieser Stelle: In
der Schamfalle ist die neue Koalition schwer zu fangen.
Es stört sie offenbar nicht sonderlich, mit eigenen Aussagen aus Reden früherer Legislaturperioden konfrontiert zu werden.
({0})
Nur soviel zum Beweis. Gerade die Abgeordneten
Rezzo Schlauch und Wilhelm Schmidt ({1}) haben zum Thema „Parlamentarische Staatssekretäre“ im
Bundestag sehr viele regierungskritische Fragen gestellt.
({2})
Ich hätte nicht übel Lust, Ihnen Ihre eigenen Anfragen
vorzutragen. Die Redezeit verwehrt mir diesen Lustgewinn und damit Ihnen leider auch. Aber Drucksachen
sind Tatsachen. Allerdings ist es richtig, daß die
CDU/CSU aus ihrem Glashaus heraus nicht mit Steinen
werfen sollte.
({3})
Ich komme nun zur jähen Wende in meiner Rede;
denn es gibt Gründe, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.
({4})
- Ich weiß wohl, daß ich mich hier zwischen alle Stühle
rede; aber auch zwischen allen Stühlen kann man es sich
gemütlich einrichten.
Ich will Ihnen sagen, warum wir für den Gesetzentwurf der Koalition stimmen wollen. Das Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs - bisher vorwiegend,
sagen wir einmal, als Posten eingerichtet, um Nachteile
auszugleichen; sozusagen ein saisongebundener Monchéri-Posten ({5})
soll nun für eine neue Aufgabe eingerichtet werden und
für einen ganz neuen Mann. Wir alle wissen: Naumann
heißt der neue Mann. Wir stehen jetzt gemeinsam vor
der Frage: Wollen wir ihn im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens, mit dem wir es jetzt zu tun haben,
hier reinlassen oder nicht? Ich will für meine Fraktion
sagen: Ja, wir wollen ihn reinlassen.
({6})
Wir stimmen zu, weil wir durchaus meinen, daß die
Bundespolitik originelle und kreative Entscheidungen
braucht - was man vielleicht auch als eine gewisse
Selbstkritik der Koalition an der Regierungserklärung
verstehen kann -, und weil wir meinen, daß die Fixierung auf Bundestagsabgeordnete bei der Besetzung der
Posten von Parlamentarischen Staatssekretären eine behutsame Öffnungsklausel braucht. Es wäre auch ein
ganzes Stück Selbstüberschätzung, wenn wir meinten,
daß Bundestagsabgeordnete nun für jede Aufgabe geeignete Leute in ihren eigenen Reihen finden könnten.
Mit unserer Zustimmung öffnen wir kein breites Tor,
sondern nur ein Fensterchen, wenngleich ich meine, daß
Herr Naumann nicht der einzige Nutznießer der Lex
Naumann bleiben muß.
Wir stimmen zu, weil es schließlich darum geht, von
dem wenigen, was der Kanzler anders machen will, einiges besser zu machen. Wenn der Kanzler schon etwas
Neues mit seiner Koalition ausprobieren will, dann soll
er dafür auch eine Reformchance bekommen. Deshalb
werden wir zunächst der Überweisung und dann auch
diesem Gesetzesvorhaben zustimmen.
Ich danke Ihnen.
({7})
Nun drängt es den
Kollegen Ludwig Stiegler noch einmal zum Mikrophon.
Er hat sich vorhin von seiner Redezeit viereinhalb Minuten aufgehoben.
Meine Damen und Herren!
Wer beizeiten spart, hat in der Not.
({0})
Ich freue mich, daß wir Herrn Schmidt-Jortzig ein
kulturelles Erlebnis verschafft haben. Ich muß Ihnen
aber zu Ihrer Rede sagen: Wenn Detlef Kleinert dagewesen wäre, hätte er sie wenigstens in Versen vorgetragen. Hier müssen Sie noch etwas üben.
Am interessantesten war das, was Herr Professor
Schmidt-Jortzig nicht gesagt hat. Er hat nämlich Herrn
Koschyk nicht bestätigt. Hier hat ein Staatsrechtslehrer
gesprochen. Herr Koschyk wollte uns mit dem „FAZ“Guru vorhalten, wir hätten ein Maßnahmegesetz beschlossen.
({1})
Hier wird eine generell abstrakte Regelung beschlossen.
({2})
Jeder generell abstrakten Regelung folgt ein erster
Schritt. Und jedem Anfang wohnt bekanntlich ein Zauber inne. Das müssen Sie bitte zur Kenntnis nehmen.
({3})
Es ist gerade kein Maßnahmegesetz, sondern ein erster
Schritt.
Was mir auch nicht gefallen hat, Herr SchmidtJortzig, ist, daß hier ausgerechnet ein Liberaler, der immer sagt, Wirtschaft und Politik sollten Austausch betreiben, die Finanz- und die Besoldungsfrage anspricht.
Ich verrate hier keine Geheimnisse und verletze nicht
den Datenschutz, wenn ich sage: Herr Naumann verzichtet auf erhebliche Einkommen, um sich unserem
Land zur Verfügung zu stellen. Er hat nicht Mäkelei,
sondern Dank und Anerkennung verdient.
({4})
Die Opportunitätskosten dieses Amtes - um es liberal
anzusprechen - sind ganz erheblich.
({5})
- Herr Westerwelle, an das, was Herr Naumann woanders machen könnte, würden Sie nie herankommen; das
ist völlig klar.
({6})
Ich finde es unglaublich, daß man einem, der bereit
ist, diesem Land zu dienen, auch noch Vorhaltungen
macht. So geht es nicht.
({7})
Herr Kollege Stiegler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?
Ja, mit Vergnügen.
Herr Kollege
Stiegler, wäre es nicht möglich, aus diesem Einzelfallgesetz ein „Zweifallgesetz“ zu machen? Sie könnten
beispielsweise Frau Christa Müller in das Gesetz einbeziehen,
({0})
damit sie in Zukunft nicht als Privatperson, sondern als
Amtsperson, als Staatssekretärin ihre Dinge zum besten
gibt.
Ich glaube, lieber Kollege
Marschewski, auch Sie haben Anlaß, Ihr Verhältnis zum
Zusammenleben von Frau und Mann zu überprüfen und
hier auf eine neue Partnerschaft aus zu sein.
({0})
Ein Letztes: Der Kollege Koschyk möchte mit dem
Lindauer Abkommen heute Kulturpolitik machen.
Manchmal habe ich den Eindruck, Sie sind in irgendeinem Einödhof steckengeblieben.
({1})
Wer bei den vielfältigen Verschränkungen heute mit
dem Lindauer Abkommen Kulturpolitik machen will,
dem kann ich nur sagen: Herr Naumann, nehmen Sie ihn
ein paarmal mit auf die Reise, damit der Bub was lernt!
Vielen Dank.
({2})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/30 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Kein Bau einer Magnetschwebebahn Hamburg-Berlin - Transrapid-Förderung einstellen
- Drucksache 14/38 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0})
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktionen der F.D.P. und der PDS jeweils fünf Minuten
erhalten sollen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Winfried Wolf.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Großprojekte
nach Art des Transrapid scheinen, den Katzen gleich,
sieben Leben zu haben. Den Katzen sollten wir diese
Langlebigkeit gönnen. Bei der Magnetbahn wäre eine
solche Weitherzigkeit jedoch fehl am Platz.
Doch offensichtlich ist hier von keiner Bundesregierung, gleich welcher Farbtönung, zu erwarten, nach
Vernunft zu entscheiden. Das hat Tradition. So war es
beim Schnellen Brüter Kalkar, bei der Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf und beim Atomendlager Gorleben: Immer wollten Bund und die jeweilige Landesregierung diese Großprojekte gegen alle Vernunft durchsetzen. Sie scheiterten aber am Widerstand vor Ort.
So ist es auch beim Transrapid. Investiert wurden in
diese Technologie bereits 2,2 Milliarden DM. Gestorben sind in den 80er Jahren bereits die Magnetbahnprojekte München-Hamburg, Hannover-Berlin und
Düsseldorf-Köln. Seit Anfang der 90er Jahre wird die
Strecke Berlin-Hamburg konkret projektiert, obgleich
der Transrapid alles andere als perfekt durchs Emsland
zuckelt.
Dennoch ließ die vorausgegangene Bundesregierung die gesetzlichen Grundlagen für den Bau der
Strecke Hamburg-Berlin verabschieden. Diese beinhalten unter anderem ein Gesetz, bei welchem der
undemokratische Charakter bereits durch jede Zeile
seiner zwei Paragraphen schimmert. Zu diesem Magnetschwebebahnbedarfsgesetz äußerte ich in diesem
Haus bereits einmal:
Das für das Projekt Magnetbahn gewählte Verfahren ist feudal. Der Satz des französischen Sonnenkönigs „L'État c'est moi!“
- „Der Staat, das bin ich“ wird hier von Betonbolschewisten ... mit „Den Bedarf bestimmen wir selbst“ aktualisiert.
In diesem Gesetz wird in § 1 schlicht festgestellt:
Es besteht Bedarf für den Neubau einer Magnetschwebebahnstrecke von Berlin nach Hamburg
über Schwerin. Die Feststellung des Bedarfs ist für
die Planfeststellung ... verbindlich.
In § 2 heißt es:
Die Durchführung der in dieses Gesetz aufgenommenen Maßnahme und deren Finanzierung bedürfen einer Vereinbarung zwischen dem Bund und
den privaten Projektträgern . . .
Bleibt es bei diesem Gesetz, dann ist klar: Der Bedarf
der Strecke kann gar nicht mehr hinterfragt werden. Mit
dem Bau kann durch einfache Vereinbarung losgelegt
werden, die zum Beispiel der Bundesverkehrsminister
mit dem Transrapid-Konsortium trifft.
Nun ist all das eine Erblast von Kohl, Riesenhuber,
Krause und Wissmann. SPD und Bündnisgrüne haben
vor der Wahl wiederholt erklärt, sie lehnten eine Transrapid-Strecke Hamburg-Berlin ab. Noch im Protokoll
des Verkehrsausschusses vom 29. April dieses Jahres
wird festgehalten, daß die SPD für einen entsprechenden
Antrag der Bündnisgrünen stimmte.
Den Antrag las ich heute nochmals, und fürwahr,
Kollegin Gila Altmann - heute Staatssekretärin - und
Kollege Albert Schmidt - alle Achtung - , es handelt
sich um einen ausgesprochen sophistischen - auf bayerisch: hinterfotzigen - Antrag. Nach diesem Antrag sind
Trassenpreise, die laut EU vorgeschrieben sind, in das
Finanzierungskonzept des Transrapid einzubeziehen.
Damit käme eine Transrapid-Strecke Hamburg-Berlin
jedoch rund 4 Milliarden DM teurer und wäre mit offiziell 10 Milliarden DM allein deswegen schon gestorben.
Das Ja der SPD zu diesem Antrag begründete damals es war vor sieben Monaten - im Ausschuß die SPDKollegin Elke Ferner, heute, von meinen besten Wünschen begleitet, ebenfalls als Staatssekretärin in Amt
und Würden.
Nun entstand nach der Wahl in der Öffentlichkeit tatsächlich der Eindruck, daß es mit Rotgrün keine MaLudwig Stiegler
gnetschwebebahn Hamburg-Berlin geben werde. Doch
dieser Eindruck trügt. Dies belegen drei Tatsachen: Erstens wird im Koalitionsvertrag die Magnetbahntechnologie explizit als „hochentwickelte Technologie“ begrüßt.
Zweitens laufen seit der Wahl die Planfeststellungsverfahren entlang der Strecke ungebremst weiter. Drittens wurde
im „Bundesausschreibungsblatt“ vom 2. November 1998,
also von vor gut zwei Wochen, der „Transport der Überbauten für den Magnetbahn-Fahrweg von deren Fertigungsstätten ... an die Einbauorte in der Trasse der
Magnetschnellbahn“ ausgeschrieben.
Wenn mir angesichts dessen jemand - wie Freund Ali
Schmidt in der vergangenen Woche - kommt und sagt,
diese Ausschreibung diene der Verfeinerung der Kalkulation, dann höre ich förmlich den Amtsschimmel im
Verkehrsministerium wiehern. Aber es kommt noch besser. Gestern bekannte sich Bundesverkehrsminister
Müntefering im Ausschuß mündlich und schriftlich ein
weiteres Mal zum Transrapid und sagte explizit: „Hamburg-Berlin ist die Strecke, die ich anstrebe.“
({0})
Kurzer Rede kurzer Sinn: Auch die neue Regierung
will den Transrapid. Sie will nach Möglichkeit die
Strecke Hamburg-Berlin bauen und dort mindestens
6,1 Milliarden DM in Beton gießen. All die guten Argumente gegen die Strecke werden nicht gehört. Damit
setzt Rotgrün auch hier auf Kontinuität.
Meine Damen und Herren, es entspräche jetzt durchaus dem feudalen Politstil des Magnetschwebebahnbedarfsgesetzes, wenn wir an Herrn Müntefering, Schillers
„Don Carlos“ abwandelnd, lediglich appellierten: „Sire,
gewähren Sie transrapide Freiheit und wenden Sie § 2
des Magnetschwebebahnbedarfsgesetzes nicht an.“
({1})
Doch die PDS schwört, wie Sie ja spätestens seit der
Regierungsbildung in Schwerin wissen, auf das Grundgesetz und somit auf Einsicht im gesetzgeberischen Verfahren. Daher unser Antrag,
({2})
der, Herr Friedrich, strikt auf bündnisgrüner und zum
Teil auch auf SPD-Linie liegt, bezogen allerdings auf
die Zeit vor dem 27. September.
Wir gestatten uns jedoch auch, zumindest aus der
Verkehrsgeschichte zu lernen, und sagen daher ergänzend: Dieses Projekt kann und wird offensichtlich nur
vor Ort gestoppt werden. In diesem Sinne sind wir mit
denen solidarisch, die in Berlin und Brandenburg mehr
als 200 000 Unterschriften gegen den Transrapid gesammelt haben.
({3})
Zusammen mit diesen Menschen werden wir weiter vor
Ort gegen dieses Monster und gegen die Verschwendung von Steuergeldern protestieren.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat die
Kollegin Angelika Mertens, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Es gibt ja immer einmal Anträge,
über die man sich richtig freut, wie es auch immer wieder welche gibt, über die man sich überhaupt nicht freut.
Ich bin jedenfalls nicht unglücklich über diesen PDSAntrag, denn er bietet uns erneut Gelegenheit, der Öffentlichkeit und der PDS Klarheit über die Zukunft des
Transrapid und vor allem auch Klarheit über die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten von Bund und privaten Herstellern zu verschaffen.
Für die SPD war immer klar, daß die Magnetschwebetechnik eine unbestrittene Attraktivität hat: hohes Beschleunigungsvermögen, hohe Geschwindigkeit, und bei
bis zu 250 km/h ist sie vergleichsweise leise. Auch begeisterte Bahnfahrerinnen und Bahnfahrer können sich
einem Charme nicht entziehen: Man gleitet und kann
sich anderen Dingen, als Kaffeebecher festzuhalten oder
sich für unleserliche Schriftstücke zu entschuldigen,
widmen. Absolute Spitzengeschwindigkeiten, die auf
der Schiene in Deutschland noch nicht realisiert wurden,
werden mit dieser Technik möglich.
In diesem Hause haben Vertreterinnen und Vertreter
meiner Partei in den letzten Jahren mehrfach dargelegt,
daß sie gleichwohl die ausgewählte Magnetschwebebahnreferenzstrecke Hamburg-Berlin für keine glückliche Wahl gehalten haben. Denn sie verläuft parallel zu
einer bestehenden Schienenverbindung und ist mit dem
dauerhaften Verzicht auf die Einbindung dieser Strecke
in das europäische Hochgeschwindigkeitsschienennetz
verbunden. Unsere Skepsis, ob es möglich sein wird,
diese Strecke nicht nur zu realisieren, sondern auch wirtschaftlich darzustellen, ist während der letzten Jahre im
Parlament immer wieder zum Ausdruck gebracht worden. Diese Skepsis ist nicht kleiner geworden. Wir haben der damaligen Bundesregierung statt dessen empfohlen, die Magnetschwebetechnik auf einer kurzen
Anwendungsstrecke zu erproben, möglichst in Form einer Flughafenanbindung.
Mit ziemlicher Verärgerung hat die SPD während der
letzten Jahre verfolgt, daß aus einem rein privatwirtschaftlichen Projekt ein Projekt wurde, das zunehmend
auf öffentliche Mittel aus dem Bundeshaushalt angewiesen war. Die Leichtfertigkeit, mit der Vorgängerregierungen den Wünschen der Transrapidhersteller nach
weiteren Bundesmitteln nachgegeben haben, haben wir
häufig kritisiert. Das kann jeder nachlesen; ich brauche
das nicht zu wiederholen.
Der letzte Sachstand, der uns hinterlassen wurde, war
die sogenannte Eckpunktevereinbarung von April 1997:
6,1 Milliarden DM öffentliche Mittel für den Fahrweg
und 3,7 Milliarden DM privat aufzubringende Mittel für
das Betriebssystem. Die endgültige Risikoaufteilung
sollte einer noch zu schließenden Finanzierungsvereinbarung überlassen werden. Jeder weiß, daß es zu dieser
Vereinbarung zwischen Bund, Deutscher Bahn AG und
privaten Herstellern nicht gekommen ist.
Nun hat die SPD-geführte Bundesregierung - namentlich Verkehrs- und Bauminister Müntefering - dieses Projekt geerbt. Mit dem Erben ist es manchmal nicht
so einfach, zumal wenn das Instrument eines Ausschlagens einer Erbschaft nicht zur Verfügung steht. Deshalb
gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder
machen wir das Beste daraus, oder wir machen das
Schlechteste daraus. Mit ihrem Antrag, das Transrapidprojekt sofort abzubrechen, empfiehlt uns die PDS,
das Schlechteste daraus zu machen, nämlich das Scheitern der Verhandlungen vorwegzunehmen und alle Vorarbeiten ohne Rücksicht auf Verluste in den Wind zu
schreiben. Im Moment sind aber weder die Vertragsverhandlungen endgültig ausgelotet, noch sind Finanzierungs- und Risikoverteilung geklärt. In anderen Bereichen des Lebens würde die PDS übrigens wahrscheinlich nach der letzten Chance greifen, etwa wenn es um
Menschen geht, die - aus welchen Gründen auch immer
- Schwierigkeiten haben, sich an Grenzen zu halten. In
diesem Fall gibt es so etwas wie eine letzte Chance. Es
wäre wirklich der falsche Zeitpunkt, jetzt so zu tun, als
hätte es in diesem Land nie eine nähere Beschäftigung
mit der Magnetschwebetechnik gegeben.
Die Koalitionsparteien und der Verkehrs- und
Bauminister haben in der Koalitionsvereinbarung deutlich gemacht, daß sie in der gegebenen Situation wünschen, das beste Ergebnis für die Zukunft dieses Projektes zu erzielen. Dazu gehört als allererstes die klare
Festlegung für alle Beteiligten: Es gibt für die Bundesmittel einen festen Kostenrahmen, der einzuhalten ist.
Alle Kosten, die darüber hinausgehen, sind von der privaten Industrie zu tragen. Es liegt nun an den privaten
Herstellern, in diesem festen Finanzrahmen ein schlüssiges, wirtschaftlich darstellbares Fahrweg- und Betriebskonzept auf der Referenzstrecke Hamburg-Berlin vorzulegen. Denn eines ist klar: Nur wenn sich die öffentlichen Finanzbeiträge auf dieser Referenzstrecke in überschaubaren Grenzen halten, kann aus der technischen
Attraktion Magnetschwebebahn auch so etwas wie eine
wirtschaftliche Attraktion - der sogenannte Exportschlager - werden.
Ein dauerhafter Zuschußbetrieb hätte notwendigerweise zur Folge, daß sich kein Land der Welt für dieses
Verkehrssystem interessierte. Insofern liegt der feste Finanzierungsdeckel, den die Regierungskoalition verordnet hat, im Interesse aller Beteiligten, ich wiederhole: im
Interesse aller Beteiligten, einschließlich der herstellenden Industrie.
Mit dem Regierungswechsel ist die Frage, ob in diesem Land eine Magnetschwebebahn-Referenzstrecke
realisiert werden soll, von großem Ballast befreit worden. Dies ist nun nicht mehr länger eine Prestigefrage
der Bundesregierung, und dies ist auch keine Frage mehr
der Ideologie zur Unterscheidung zwischen Technologiefeinden und Technologiefreunden. Diese Frage unterliegt nun ganz allein der wirtschaftlichen und der verkehrspolitischen Rationalität. Ich halte das für eine gute
Entwicklung.
({0})
Das Wort hat nun
der Kollege Georg Brunnhuber, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Antrag der
PDS wäre es eigentlich nicht wert, ausführlich diskutiert
zu werden, da die Argumente dieses Antrages in diesem
Hause schon zum wiederholten Male widerlegt wurden.
({0})
Dennoch ist der Antrag interessant. Denn alle in ihm
enthaltenen Argumente sind solche, die hier von der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schon wortwörtlich vorgetragen wurden.
({1})
Dies ist insofern interessant, als die Grünen jetzt nicht
mehr in der Opposition, sondern in der Regierung sind.
Da freuen wir uns natürlich schon,
({2})
heute zu hören, wie sie denn jetzt zu diesen Argumenten
stehen.
Wenn ich den Redebeitrag der Frau Kollegin Mertens
richtig ausgelegt habe, so ist sie sehr viel skeptischer, als
der Herr Minister gestern im Ausschuß war und als er
auch in seinen öffentlichen Äußerungen zum Transrapid
ist. Herr Staatssekretär Ibrügger, wenn es um den Transrapid geht, werden Sie sich wahrscheinlich viel mehr auf
die CDU/CSU-Fraktion verlassen können
({3})
als auf Ihre eigene. Denn wir stehen uneingeschränkt zu
diesem Projekt.
Ich bin dem Minister wirklich dankbar, daß er bei
diesem Projekt in der Kontinuität seines Vorgängers
Matthias Wissmann bleibt. Er hat nämlich nicht so oberflächlich gesprochen wie die Frau Kollegin Mertens,
sondern er hat in einer ganz hervorragenden Pressemeldung erklärt, nach zwei Jahrzehnten Skepsis der Sozialdemokraten gegenüber technischen Fortschritten dürfe
die innovative Technologie nicht aus ideologischen
Gründen verschüttet werden. Genau diese Position hat
die CDU/CSU jahrelang vertreten. Es ist schön, daß sich
der Minister dieser Position nunmehr anschließt.
({4})
Immer dann, wenn Zahlen neu auftauchen, gibt es
Probleme. In diesem Zusammenhang hat der Minister
auch noch darauf hingewiesen, daß diese neuen, immer
höheren Zahlen nicht amtlich seien, daß sie einer Prüfung nicht standhielten, und vor allem hat er gesagt, die
neuen Zahlen, die immer höhere Kosten darstellten, seien nur aufgebracht worden, um das Gesamtprojekt zu
stören oder es zu Fall zu bringen.
Auch hierzu kann ich nur sagen: Das ist ausschließlich die Position, die wir von der CDU/CSU-Fraktion
schon seit Jahr und Tag zu diesem Projekt einnehmen.
Vielleicht trägt die Debatte heute dazu bei, endgültig
Klarheit zu schaffen. Der Herr Staatssekretär wird hierzu vielleicht noch Stellung nehmen. Klarheit ist notwendig, und zwar sowohl für die betroffenen Bürgerinnen
und Bürger entlang des Planungsbereiches als auch für
die Investoren. Denn auf Dauer kann es nicht so sein,
daß die Verantwortlichen ständig wackeln und die SPD
in jedem Land eine andere Position zu diesem Projekt
vertritt. Hierzu muß eine Entscheidung fallen.
Heute besteht auch die Chance, nochmals darauf hinzuweisen, was der Transrapid kann und welche technische Möglichkeiten vorhanden sind. Insofern sind wir
für diese Debatte dankbar; denn sie ermöglicht es, deutlich zu machen, welch tolle Technik von uns eingeleitet
worden ist und von Minister Müntefering - zusammen
mit uns - hoffentlich zu Ende gebracht wird.
({5})
Erstens. Der Transrapid hat, wie wir auch schon
durch die Äußerungen von Ihnen, Frau Kollegin Mertens, gehört haben, eindeutig technische und umweltrelevante Vorteile.
Zweitens. Der Transrapid bietet Möglichkeiten für
den wirtschaftlichen Einsatz bei Geschwindigkeiten
zwischen 300 und 500 km/h.
Drittens. Der Transrapid ist - das sollten sich diejenigen, die ständig für die Umwelt eintreten, hinter die Ohren schreiben - bei einer Geschwindigkeit von 400 km/h
leiser als ein IC bei 160 km/h. Auch das muß man sich
einmal vor Augen führen.
({6})
Viertens. Der Energieverbrauch des Transrapid bei
400 km/h liegt in etwa bei dem Wert eines ICE bei 300
km/h, und er verbraucht 30 Prozent weniger als ein Airbus auf der Strecke Hamburg-Berlin.
({7})
Das sind Zahlen, die Sie, Herr Schmidt, eigentlich dazu
bewegen müßten, auf diesen Transrapid aufzuspringen,
weil dies doch eigentlich in Ihrem Sinne sein müßte. Offensichtlich haben Sie ein unterschiedliches Bewußtsein,
was Umweltstandards angeht: Wenn Sie ein Projekt, das
technisch hervorragend ist, nicht mögen, dann kommen
Sie mit allen möglichen Argumenten, und das Umweltargument wird plötzlich unter den Tisch gekehrt.
({8})
Fünftens. Durch die engen Kurvenradien, die der
Transrapid aufweist, ist der Flächenverbrauch nur halb
so groß wie der beim Ausbau einer konventionellen
Schienenstrecke.
Sechstens. Der Transrapid wird das sicherste Verkehrsmittel der Zukunft sein. Der Transrapid zwischen
Hamburg und Berlin ist im übrigen das erste echte
Modell einer privaten partnerschaftlichen Finanzierung
in Deutschland. Wir vom Bund bauen die Strecke;
({9})
das Wagenmaterial und den Betrieb bezahlen Private
ohne eine einzige Mark aus öffentlichen Kassen. So etwas hat es in Deutschland noch nie gegeben. Ich finde,
das ist etwas, was wir herausheben sollten; denn auch
dies ist ein Zeichen moderner Verkehrspolitik.
({10})
Siebtens. Der Transrapid ersetzt zwischen Hamburg
und Berlin den überflüssigen Luftverkehr.
Achtens. Ich nenne ein Argument, das in diesem
Hause offensichtlich nur gelegentlich eine Rolle spielt Sie sind doch aber mit dem Willen angetreten, mehr Arbeitsplätze zu schaffen -: Allein in der Bauphase des
Transrapid werden 18 000 neue Arbeitsplätze gesichert,
und auf Dauer werden nur auf dieser kleinen Strecke
Hamburg-Berlin 4 500 neue Arbeitsplätze geschaffen.
Wenn es hier darum geht, über moderne Technik, über
Zukunft und über neue Arbeitsplätze zu reden, dann
kann man dieses Argument nicht einfach vom Tisch wischen.
({11})
Herr Kollege Brunnhuber, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Schmidt?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Brunnhuber, Sie haben soeben
die wünschenswerte Verlagerung des Luftverkehrs auf
den Schwebeverkehr angeführt. Ist Ihnen bekannt, wie
viele Menschen täglich zwischen Hamburg und Berlin
im Flugzeug unterwegs sind? Ist Ihnen bekannt, daß es
lediglich 200 Menschen sind, daß wir aber im Jahr
14 Millionen Gäste bräuchten, damit sich der Transrapid
einigermaßen rechnete?
({0})
Lieber Herr
Schmidt, wenn es nur ein Flugzeug wäre, das durch den
Transrapid ersetzt werden könnte, dann wäre das schon
eine Idee.
({0})
Wir haben im Ausschuß schon vor vier Jahren - Herr
Schmidt, Sie müssen noch immer stehen bleiben ({1})
eine Anhörung und eine Diskussion. Auch schon vor
acht Jahren hatten wir eine ähnliche Anhörung und eine
ähnliche Diskussion. Damals waren Sie noch nicht dabei.
({2})
Sie sollten sich in einem Punkt über folgendes im klaren sein: Damals, bei der ersten Anhörung 1990, wurde
darüber gesprochen, daß die Strecke Paris-Lyon mit
dem schnellen Zug TGV ursprünglich mit etwa drei bis
vier Millionen Fahrgästen pro Jahr geplant war. Heute,
acht Jahre danach, sind es 16 Millionen Menschen, die
pro Jahr zwischen Paris und Lyon fahren. Sämtliche
Prognosen sind um ein Mehrfaches übertroffen worden.
Insofern können Sie sich auch hier darauf verlassen. Die
Institute waren doch nicht im Sinne der Bundesregierung tätig, sondern es waren objektive und neutrale Institute. Sie haben doch diese Zahlen von 14 Millionen
Fahrgästen errechnet. Ab 10 Millionen Fahrgästen
macht sich der Transrapid schon bezahlt.
Herr Kollege Brunnhuber, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Deichmann?
Nein.
({0})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir haben auf
dem heiß umkämpften Milliardenmarkt der Hochgeschwindigkeitsverkehre mit dem Transrapid eine Chance, hier dauerhaft für die Bundesrepublik Deutschland
Arbeitsplätze zu schaffen und mit dieser Referenzstrekke Hamburg-Berlin auch Kunden im Ausland anzuwerben.
Alles in allem möchte ich zusammenfassen, daß der
Transrapid ein Symbol für die Leistungsfähigkeit und
Innovationskraft des Standorts Deutschland ist.
({1})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition und insbesondere meine sehr verehrten Vertreter der Bundesregierung, wir fordern Sie auf:
Handeln Sie schnell, verzögern Sie nicht weiter, wakkeln Sie nicht weiter! Kommen Sie zu Entscheidungen!
Sie haben bei diesem Projekt die volle Unterstützung der
CDU/CSU-Fraktion. Wir lehnen deshalb den Antrag der
PDS ab.
({2})
Das Wort hat nun
der Kollege Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ihr Antrag, lieber Kollege Wolf, ist ein zwar
leicht mißglückter, aber trotzdem ziemlich abgebrühter
Zweitaufguß vieler früherer besserer bündnisgrüner Anträge. Er hat natürlich auch den Zweck, uns hier vorzuführen. Dafür habe ich größtes Verständnis. Ich würde
es an Ihrer Stelle ganz genauso anpacken.
Der Kern Ihres Antrags aber ist windelweich. Der
Kern ist die Kritik an der Koalitionsvereinbarung. Sie
schreiben, das, was in der Koalitionsvereinbarung enthalten ist, sei keine klare Aussage. Stellen wir uns das
Wahlergebnis einmal umgekehrt vor: 41 Prozent Grün,
6,7 Prozent Rot.
({0})
Dann stünde an dieser Stelle natürlich etwas anderes in
der Koalitionsvereinbarung.
Trotzdem haben wir dieser Passage letztendlich sehr
gern zugestimmt, denn entscheidend ist - um es einmal
mit Helmut Kohl zu sagen -, was auf Grund dieses weisen Textes hinten rauskommt. Das ist die intelligente Art
des Siegens, die manchmal besser ist, als eine vordergründige Schlacht zu kämpfen.
({1})
Ich will gern auf den Text des Koalitionsvertrages zu
sprechen kommen. Da heißt es im ersten Satz: „Die Magnet-Schwebebahn Transrapid ist eine hochentwickelte
Technologie.“ Wer sollte dem widersprechen? Natürlich
ist es eine hochentwickelte Technologie. Das ist also
abgehakt.
Dann geht es weiter: „Grundlage für die Realisierung
des Projekts sind die Vereinbarungen im Eckpunktepapier zwischen dem Bund, der Deutschen Bahn AG und
der Industrie vom April 1997.“ Das wurde von den drei
Beteiligten rechtsverbindlich unterschrieben.
({2})
Dann heißt es weiter: „Darüber hinausgehende“ jetzt kommt das, was ich schon als eine klare Aussage
bezeichnen würde - „Kosten hinsichtlich Investition und
Betrieb wird der Bund nicht übernehmen.“ Das ist eine
klare Aussage. Das bedeutet im Klartext, daß bei 6,1
Milliarden DM ein Deckel drauf ist. Mehr Geld ist vom
Bund nicht zu haben. Gleiches hat inzwischen die Deutsche Bahn AG in Gestalt ihres Vorstandsvorsitzenden
Dr. Ludewig erklärt, der gesagt hat: Von der Bahn gibt
es nicht mehr Geld.
Angesichts der Verteuerung tritt nun das Eckpunktepapier in Ziffer 10 in Kraft. Wenn die Kosten erheblich
höher werden, muß neu entschieden werden, heißt es
dort. Jetzt müssen die drei Partner sich treffen, und dann
muß einer von den Dreien diese 2 oder 3 Milliarden DM
Mehrkosten auf den Tisch legen, oder die Strecke Hamburg-Berlin kann nicht gebaut werden. So einfach ist die
Situation.
Herr Kollege
Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Wolf?
Aber gern, ja.
Kollege Schmidt, ist Ihnen bekannt, daß gerade die Passage, die die Kostenbegrenzung betrifft, und die Koalitionsvereinbarung dazu
von der Industrie, das heißt dem Konsortium von Siemens, Thyssen und Adtranz, begrüßt wurde? Und ist Ihnen klar, daß unser Antrag nicht darauf hinausläuft, irgend etwas Großartiges zum Koalitionsabkommen zu
sagen, sondern schlicht und einfach darauf, zu sagen,
daß die gesetzgeberischen Voraussetzungen geschaffen
werden sollen, um das Magnetschwebebahnbedarfsgesetz aufzuheben? Ich frage Sie: Was spricht Ihrer Meinung nach dagegen - aus Ihrer grünen Sicht von vor
dem 27. September und danach -, daß nicht länger gesagt wird: erstens besteht Bedarf für die Magnetbahnstrecke Hamburg-Berlin, und zweitens kann das erledigt
werden, indem Herr Müntefering sagt „Jetzt geht's los“?
Was spricht dagegen, das aufzuheben?
Es spricht dagegen, daß wir eine intelligente
Lösung gefunden haben, eine Lösung nämlich, die beiden Partnern gerecht wird und ganz klar sagt: eine beliebige Kostensteigerung ist nicht vertretbar. Der Trichter,
auf den jetzt die Magnetbahnplanungsgesellschaft und
das Konsortium zu kommen glauben, indem sie sagen,
man könnte ja jetzt vielleicht mal abschnittsweise nur
eingleisig bauen, um die Kosten zu senken, oder den
Halt in Schwerin weglassen - das wollen die sowieso
nicht -, um Kosten zu senken, oder man könnte vielleicht die Takte verlängern, um Kosten zu senken, dieser
Trick funktioniert nicht. Denn das Eckpunktepapier und das ist ja das Gute daran, daß das in dem Koalitionsvertrag steht - gilt natürlich in allen Teilen, inklusive
der ganzen Parameter, die darin enthalten sind hinsichtlich Vertaktung, hinsichtlich der Zweigleisigkeit und
hinsichtlich der Haltepunkte. Genau das ist der Punkt,
warum die Strategie des Konsortiums an dieser Stelle
nicht aufgehen wird.
Herr Kollege
Schmidt, es gibt einen weiteren Wunsch zu einer Zwischenfrage, nämlich des Kollegen Niebel von der F.D.P.
Er möchte etwas fragen. - Rechts!
Aha! - Der Kollege Niebel ist mir noch
nicht bekannt; deswegen habe ich jetzt in die falsche
Richtung gesehen.
Ich hoffe, das wird sich ändern.
- Stimmen Sie mir zu, daß, gesetzt den Fall, alles das,
was Sie soeben geschildert haben, tritt nicht ein und die
Finanzierung ist gesichert, daß es sich dann nicht mehr,
wie Sie uns glauben zu machen versuchen, um einen
Sieg der Bündnisgrünen handeln würde, und stimmen
Sie mir weiter darin zu, daß Sie im Endeffekt den Transrapid nicht wollen?
Ich stimme Ihnen in dem zweiten Punkt
vollständig zu. Das ist für uns eine Verkehrstechnik wie
jede andere Verkehrstechnik auch. Sie muß sich entlang
den Kriterien der Wirtschaftlichkeit und der Umweltverträglichkeit ausweisen, die wir bei dieser Technik
noch nie gegeben sahen und auch weiterhin nicht gegeben sehen. Das ist überhaupt nicht der Punkt.
({0})
Zur ersten Frage, die Sie gestellt haben, was denn nun
geschähe, wenn diese Kosten durch ein Wunder Gottes
irgendwie bei 6,1 Milliarden DM gedeckelt werden
könnten: Das ist für mich so, als würden Sie fragen: Was
werden Sie tun, wenn in diesem Jahr am 24. Dezember
Weihnachten nicht eintritt? Ich verspreche Ihnen: Weihnachten wird eintreten. Diese Kostensteigerungen, mit
denen wir es jetzt zu tun haben, sind eben nicht, wie
vorhin gesagt worden ist, nichtamtliche Zahlen. Das sind
amtliche Zahlen. Ich will es Ihnen präzise sagen, Herr
Kollege Niebel. Es war die Magnetbahnplanungsgesellschaft selbst, die bereits im August Fahrwegkosten von
7,2 Milliarden DM statt 6,1 Milliarden DM ausgerechnet
hat. Es war das Eisenbahnbundesamt, die nachgeordnete
Behörde des Bundesverkehrsministers, das im Oktober
darauf hingewiesen hat: Die Kosten explodieren auf 7,7
bis sogar 8,9 Milliarden DM. Und wissen Sie, woher
diese Kostensteigerungen stammen? Aus Ausschreibungsergebnissen, Herr Kollege Dr. Wolf! Das sind keine Plandaten, sondern man hat ausgeschrieben und bei
der Ausschreibung festgestellt, daß es noch teurer wird.
Deshalb sehe ich weiteren Ausschreibungen gelassen
entgegen. Ich bitte sogar darum auszuschreiben, denn
das wird zeigen, daß das Ganze noch viel, viel teurer ist,
als wir bisher annehmen.
({1})
Herr Kollege
Schmidt, es gibt noch einen weiteren Zwischenfragewunsch. Herr Brunnhuber möchte etwas fragen.
Ja, immer, Herr Brunnhuber. Es ist immer
witzig, wenn sich die Bayern und die Württemberger
über den Transrapid unterhalten.
Herr Kollege
Schmidt, würden Sie mit Ihrer Ausführung, daß diese
neuen Zahlen auf Ausschreibungsergebnissen beruhen,
sagen wollen, daß der Herr Minister gestern den Ausschuß belogen hat?
Der Herr Minister hat nichts anderes gesagt.
Ich war wie Sie in der Ausschußsitzung.
Der Herr Minister
hat in einer amtlichen Presseerklärung darauf hingewiesen
({0})
- Minister Müntefering -, daß diese Zahlen schon deshalb absurd seien, weil noch keine Ausschreibungen erfolgt seien.
Diese Aussage, Herr Brunnhuber, habe ich
so nicht gehört, obwohl ich in derselben Ausschußsitzung war. Ich weiß aber aus dem Ministerium, daß diese
Zahlen genauso, wie ich sie vorgetragen habe, dort vorliegen. Insofern sehe ich den weiteren Entwicklungen
dort sehr gelassen und beruhigt entgegen. Ich glaube,
auch Sie können sich da ganz entspannt zurücklehnen.
({0})
- Er hat eine Behauptung seitens des Ministers unterstellt, die ich nicht bestätigt habe.
Ich finde übrigens, der Minister hat auch noch in einem anderen Punkt völlig recht, nämlich wenn er sagt:
Das einzige Projekt, um das wir noch ernsthaft und seriös diskutieren sollten, ist Hamburg-Berlin. Wenn ich
höre, was da alles inzwischen auf dem Markt gehandelt
wird: Berlin-Schönefeld oder jetzt Köln-Düsseldorf, wo
doch gerade die ICE-Verbindung im Bau ist und der
Transrapid seine Geschwindigkeitsfeatures überhaupt
nicht entfalten kann, dann muß ich sagen: Das ist wirklich nicht seriös. Wenn schon, dann sollten wir über die
Strecke sprechen, die ernsthaft zur Diskussion steht,
nämlich Hamburg-Berlin, und über nichts anderes.
({1})
Aber eine Transrapidverbindung Hamburg-Berlin - das wird die abschließende Bewertung erweisen,
die nach Ziffer 10 des Eckpunktepapiers vorgesehen
ist - ist die falsche Antwort auf eine richtige Frage. Die
richtige Frage lautet: Wie bekommen wir eine moderne
Hochgeschwindigkeitsverbindung zwischen Hamburg
und Berlin? Im Rahmen dieser weiteren Beratungen
wird sich als richtige Antwort erweisen - da bin ich sehr
gelassen -, daß wir eine ICE-Verbindung von Hamburg
nach Berlin brauchen. Diese führt am besten über Uelzen und Stendal, denn im ersten Drittel und im letzten
Drittel haben wir fertige ICE-Strecken, und nur die 103
Kilometer zwischen Uelzen und Stendal müßten noch
hochgeschwindigkeitstauglich ausgebaut werden. Das
verursacht einen Bruchteil der Kosten, die für den
Transrapid nötig sind, bringt auch Arbeitsplätze und
verkürzt die Fahrzeit zwischen Hamburg und Berlin auf
82 Minuten.
Diese Lösung wird sich von alleine durchsetzen, denn
bei allen Unterschieden in den Positionen, die es noch
geben mag, liebe Kolleginnen und Kollegen in der SPD,
eint uns alle die Tatsache, daß wir sehr wenig Geld zu
verteilen haben. Deshalb sollten wir die Verkehrsinvestitionen dort bündeln und konzentrieren, wo es Sinn
macht, und uns finanzielle Abenteuer unkalkulierbarer
Art schenken. Ich bin überzeugt, daß sich diese Position
letztlich auch in der Bundesregierung durchsetzen wird.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort für die
F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Hans-Michael Goldmann.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie können sich sicherlich vorstellen, daß ich mich als Emsländer, der fast
aus Lathen bzw. Dörpen kommt, besonders freue, daß
ich meine erste Rede über den Transrapid halten kann.
Ich will hier auch überhaupt keinen Hehl daraus machen, daß ich ein großer Fan dieser Technologie und ihrer Anwendung bei uns vor Ort bin. Ich kann Ihnen, geschätzter Kollege Wolf, nur sagen: „Kommen Sie mal,
schauen Sie es sich mal an, steigen Sie mal ein, und fahren sie mal mit! Hinterher werden Sie das Glücksgefühl
des Schwebens erlebt haben und bekehrt sein.“
({0})
Wissen Sie, Herr Kollege Wolf, Ihre Vergleiche gehen nicht nur haarscharf an der Sache vorbei, sondern es
fehlen Transrapidbreiten zwischen dem, was Sie sagen,
und dem, was der Realität entspricht.
({1})
Er zuckelt nicht, er schwebt bei 450 Kilometer pro
Stunde. Das macht er jede Woche in der Erprobung und
jede Woche in der Anwendung. Hunderttausende kommen jedes Jahr in das Emsland, um mitzufahren.
({2})
Es hat Probleme gegeben. Es ist wohl völlig normal, daß
in einer neuen Technologie - deswegen wird er ja erprobt - auch Kinderkrankheiten stecken. Aber das, was
Sie beschreiben, ist lange her. Was Sie in Ihrem Antrag
zum Ausdruck bringen, ist schlicht und ergreifend
falsch.
Herr Kollege Goldmann, Sie werden schon bei Ihrer ersten Rede mit einer
Zwischenfrage beehrt. Genehmigen Sie diese?
({0})
Es ist mir eine
Ehre, wie Sie sagen.
Herr Kollege Goldmann,
zunächst danke ich Ihnen. Es stimmt, mein Wunsch, eine Frage zu stellen, ist etwas frech, aber Sie haben es
genehmigt.
Ist Ihnen bekannt - das kann Ihnen zwar nicht bekannt sein, aber ich muß den Satz als Frage formulieren
-, daß ich zweimal versucht habe, mit dem Transrapid
zu fahren, davon einmal im Auftrag des „Spiegel“; beide
Male wurde die Probefahrt kurzfristig abgesagt, weil der
Transrapid nicht fuhr,
({0})
und ist Ihnen bekannt, daß noch vor einem Jahr, am 17.
Mai 1997, ein Transrapid-Befürworter, ein Ingenieur, in
der „Frankfurter Rundschau“ feststellte:
Mit dem Auftrag, einen neuen, besseren Fahrweg
für den Transrapid [im Emsland] zu entwickeln,
hatte unser Team die Möglichkeit, eine Probefahrt
auf der Versuchsstrecke mitzumachen. Die Fahrt ...
mußte bei Tempo 220 km/h abgebrochen werden,
da am Fahrwerk Probleme aufgetreten waren.
Deswegen sprach ich von „zuckeln“.
({1})
Herr Kollege
Wolf, natürlich hat es solche Fälle gegeben. Das ist doch
überhaupt kein Thema. Wer würde das denn bestreiten
wollen? Allerdings hat es eine Entwicklung dieser
Technologie vor Ort gegeben, die meiner Meinung nach
außerordentlich beeindruckend ist. Die Zahl derjenigen,
die mittlerweile schon vom Transrapid transportiert
wurden und von dieser Technologie begeistert sind, ist
wirklich riesengroß. Lassen Sie uns über Dinge reden,
die sicherlich noch zu lösen sind, bis der Transrapid
wirklich von Hamburg nach Berlin fährt! Lassen Sie uns
aber nicht über Dinge reden, die einfach an der Sache
vorbeigehen!
({0})
Die Beschreibung in Ihrer Begründung ist absolut
realitätsfremd. Ich nehme sonst die Ausführungen der
PDS sehr wohl wahr und ernst. Es hat mir schon imponiert, wie Sie bei bestimmten Dingen argumentiert haben. Aber hier liegen Sie schlicht und ergreifend völlig
daneben.
Ich will, gerade weil es Ihr Antrag ist, auf einen besonderen Sachverhalt eingehen und Ihnen sagen: Ich
kann nicht mehr verstehen, was Sie machen. Ich habe
hier eine Skizze der Bietergemeinschaft Mittelstand zur
Realisierung der Transrapidstreckenführung. Sie können
dieser Skizze entnehmen, daß es bezüglich der Betonelemente, die in dieser Trassierung realisiert werden
können, eine mittelständische Bietergemeinschaft gibt,
die das gesamte Konzept ungefähr 1 Milliarde DM günstiger anbietet. Lieber Kollege von den Grünen, Sie
wissen wahrscheinlich, daß für die ICE-Strecke KölnFrankfurt ein Angebot in Höhe von 11 Milliarden DM
vorlag und daß diese Strecke für 7,7 Milliarden DM
durch mittelständische Unternehmen realisiert wird. Es
sind also noch Kostenreserven vorhanden.
({1})
Ich möchte Ihnen einmal vorlesen, Herr Dr. Wolf,
wo die Produktionsstandorte zum Erstellen der Betonplatten, der Hybridträger sind - sie kennen das wahrscheinlich: das ist ein Element, das Stahlbeton miteinander verbindet und eine unendlich gute Präzision erreicht; es ist mit Blick auf die Umweltverträglichkeit
hochinteressant und unter dem Gesichtspunkt der Kostenminderung toll -: Potsdam, Magdeburg, Dessau,
Leipzig, Dresden, Gera, Erfurt, Schwerin und Rostock.
Das sind die Standorte, an denen die 6,1 Milliarden
DM, von denen Sie vorhin sprachen, nicht in Beton
gegossen werden sollen, sondern in Arbeitsplätze vor
Ort fließen.
({2})
Ich kann Ihnen nur sagen: Diese Technologie ist eine
riesige Chance gerade für einen Bereich, in dem wir uns
besonders um Arbeitsplätze bemühen müssen. Ich kann
überhaupt nicht verstehen, daß die rotrote Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern dieser Zukunftstechnologie in einer Situation, in der dieses Land ohne
jeden Zweifel Probleme hat, nicht positiv und engagiert
gegenübersteht. Das ist eine riesige Chance für dieses
Land. Ich meine, wir sollten diese Chance wirklich gemeinsam nutzen, und wir sollten endlich Nägel mit Köpfen machen.
({3})
Es waren auch andere in Lathen. Die Chinesen waren
da. Sie wollen jetzt eine Kurzstrecke bauen. Die Amerikaner - überlegen Sie das bitte einmal! - bringen 1 Milliarde Dollar in die Planung ein - dazu gibt es einen
Kongreßbeschluß -, um eine Strecke zu bauen. Die Australier waren da und sagten, daß das Verkehrsproblem
um Sydney herum mit dem Transrapid gelöst werden
soll.
({4})
Ich denke, daß da riesige Chancen vorhanden sind, die
wir nutzen sollten. Die Transrapidtechnik ist eine zukunftsorientierte Technik.
Herr Kollege von den Grünen, lassen Sie mich noch
eines sagen. Ich finde es - um ein Wort zu gebrauchen,
das parlamentarisch ist - bescheiden, wenn Ihre Parlamentarische Staatssekretärin bei uns vor Ort erklärt, das
faktische Aus für die Referenzstrecke sei in den Koalitionsvereinbarungen festgeschrieben. Ich finde es zynisch,
wenn Ihre Parlamentarische Staatssekretärin erklärt:
Lathen ist als Demonstrationsstrecke nicht überflüssig,
wenn selbst Bundeskanzler Schröder nach der Fahrt zum
glühenden Befürworter geworden ist. Ich kann mir also
auch eine touristische Vermarktung vorstellen, damit
keine Bauruine übrigbleibt.
({5})
Wenn das die Antwort für die Menschen sein soll, die
in dieser Technologie hochqualifiziert ausgebildet werden bzw. arbeiten,
({6})
wenn die Antwort Ihrer Partei bzw. von Frau Altmann
sein soll, daß Menschen bei einem Gesamtprojekt zu
Freizeitgestaltern im touristischen Bereich werden sollen, von dem Sie genau wissen, daß es über den touristischen Sektor überhaupt nicht zu unterhalten ist, dann
finde ich das zynisch. Ich meine, damit sind Sie von
dem, was Sie in Ihrer Koalitionsvereinbarung festgeschrieben haben - von mir aus: Aufbruch für mehr Arbeit in Deutschland -, zukunftsdumm meilenweit entfernt. Das mache ich Ihnen zum Vorwurf.
({7})
Als letzter Redner in
der Debatte hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Lothar Ibrügger das Wort.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag
der PDS-Fraktion gibt dem Bundesverkehrsministerium
Anlaß, Standpunkte aufzuzeigen und Hinweise zum
Fortgang der weiteren Beratungen, Erörterungen und
Entscheidungen auch des Bundesverkehrsministers
Müntefering zu geben, und zwar einmal, soweit es die
Technologie angeht, zum anderen, soweit es das Projekt
angeht. Da Herr Präsident Thierse hinter mir sitzt, spreche ich von der Strecke Berlin-Hamburg und nicht wie andere Kolleginnen und Kollegen - von der Strecke
Hamburg-Berlin.
Am 16. November sind - das kann ich Ihnen versichern, Herr Kollege Dr. Wolf - Mitglieder einer Kommission des Staates Kalifornien auf der Anlage mit dem
Transrapid bei einer Geschwindigkeit von 350 Kilometern pro Stunde über 60 Kilometer ohne Störungen und
ohne Probleme gefahren.
Ich will die hochentwickelte Technologie des Transrapid kurz erwähnen: das berührungsfreie Schweben auf
dem Trag- und Führungssystem, der berührungsfreie
Antrieb und das berührungsfreie Bremsen sowie das
neue Energiekonzept. Dies sind Verbesserungen gegenüber hergebrachten Technologien, die den Anspruch
verdeutlichen, daß die Magnetschwebebahntechnik eine
hochentwickelte und, wie Herr Minister Müntefering
sagt, auch eine zukunftsträchtige und exportfähige
Technologie ist.
Grundlage für die Bundesregierung - Herr Kollege
Schmidt hat dies schon angesprochen - ist das Eckpunktepapier vom April 1997. Die Koalition - auch
das ist schon häufig gesagt worden - hat zu diesem Papier einen klaren Standpunkt eingenommen. Dieser
Standpunkt ist Grundlage für unsere gemeinsame Arbeit
in der Regierung. Ich nenne einen Satz aus der Koalitionsvereinbarung: Darüber hinausgehende Kosten für Investitionen und Betrieb sind nicht von der Bundesregierung zu tragen. Andererseits wollen wir die Option gegebenenfalls anderer Referenzstrecken offenhalten, falls
sich das Projekt Berlin-Hamburg nicht verwirklichen
läßt.
Die spurgeführte Magnetschwebebahntechnologie
ermöglicht, wie schon zum Ausdruck gebracht wurde,
eine Geschwindigkeit bis zu 500 Kilometern in der
Stunde. Ich räume als früherer Berichterstatter des Deutschen Bundestages für die Magnetschwebebahntechnik
im Jahre 1978 ein - Kollege Catenhusen, der im Moment auf der Regierungsbank sitzt, bekleidete das gleiche Amt -,
({0})
daß es angesichts der Siedlungsstruktur der Bundesrepublik Deutschland schwerfällt, Strecken zu finden, die
für diese hohen Geschwindigkeiten geeignet sind. Die
Fahrgäste müssen in Deutschland schon die Möglichkeit
haben, eine gewisse Strecke zurückzulegen, bevor sie
aussteigen.
Wir sehen den Transrapid als eine zukunftsträchtige
und exportfähige Technologie an. Wir wollen sie im eigenen Land nutzen, wenn - ich wiederhole dies - der
Kostenrahmen so, wie vereinbart, gehalten wird. Über
die Einhaltung kann heute niemand verläßliche Aussagen treffen.
Die Magnetschwebebahntechnik erfüllt Anforderungen an ein modernes, sicheres und umweltfreundliches
Verkehrssystem des 21. Jahrhunderts. Japan hat sich vergleichbar mit der Bundesrepublik Deutschland schon vor Jahrzehnten bemüht, diese Technologie voranzubringen. Das Beispiel USA wurde gerade angesprochen. Eine Milliarde Dollar sind dort vom Kongreß zur
Verfügung gestellt worden.
Ich darf in diesem Zusammenhang Bundeskanzler
Schröder erwähnen, der in seiner Regierungserklärung
die Mobilisierung aller schöpferischen Kräfte für neue
Produkte und neue Märkte erwähnte und zum Ausdruck
brachte: Auch diese Technologie kann schöpferische,
innovative Kräfte für den Export und für die Verbesserung der Verkehrssituation auch in anderen Teilen der
Erde freisetzen.
Mit dem Bau der Strecke in Deutschland sind Chancen und natürlich auch Risiken verbunden. Es gilt jetzt,
die Chancen zu nutzen. Grundlage sind die Vereinbarungen zwischen Bund, der Deutschen Bahn AG und der
Industrie vom April 1997. Auf dieser Basis wollen wir
das Projekt angehen. Es ist völlig klar: Es liegt auch im
Interesse der Industrie, daß der Staatsanteil an einem
solchen Projekt kalkulierbar gehalten wird, um die Exportfähigkeit dieser Technologie im internationalen
Wettbewerb zu behaupten. Diese Kalkulierbarkeit ist
und bleibt der Maßstab, wie im Eckpunktepapier verabredet wurde.
In diesem Sinne wird die Bundesregierung die Gespräche mit der Industrie führen.
Herzlichen Dank.
({1})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/38 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Freitag, den 20. November,
9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.