Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/3/1999

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Sitzung ist eröffnet. Vor zehn Jahren, am 7. Dezember 1989, trafen sich zum erstenmal die Teilnehmer des Zentralen Runden Tisches der DDR im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Berlin. Die Idee des Runden Tisches lag zu diesem Zeitpunkt gewissermaßen in der Luft; in Polen und in Ungarn hatte es bereits Monate zuvor solche Runden Tische gegeben. Auf Verlangen der Bürgerrechtsbewegungen traten auch in der DDR an vielen Orten Runde Tische zusammen. Daß diese Runden Tische im Dezember 1989 als wohl wichtigste Institutionen des Übergangs in Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zusammentraten, war neben dem Einsatz für die friedlichen Demonstrationen in den Monaten zuvor das zweite große Verdienst der verschiedenen Gruppen der Bürgerbewegung. Dafür gebührt ihren Repräsentanten, die heute nicht selten in Vergessenheit geraten sind, unser Dank und unsere Anerkennung. ({0}) Durch ihr Drängen und unterstützt durch die Kirchen entwickelte sich der Zentrale Runde Tisch zu einem wichtigen öffentlichen Ort der politischen Mitbestimmung und Entscheidung, der Kontrolle der von der SED bzw. SED/PDS geführten Regierung, der Offenlegung alter Staatspraktiken und der Auseinandersetzung mit dem Umgang und dem Erbe des Überwachungsstaates DDR. Doch die Runden Tische waren für eine kurze Zeit weit mehr: Viele sich erstmals oder neu engagierende Bürgerinnen und Bürger, Mitglieder neu entstandener Gruppen, nutzten oder fanden mit ihnen eine neue politische Autonomie, erlernten und praktizierten die Kultur des politischen Streits, der Suche nach dem besten Argument, der besten Lösung. Sie erlebten die Runden Tische als Schulen der freien politischen Meinungsbildung auf dem Weg von der Diktatur in die parlamentarische Demokratie. Als mit den ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 dieser Übergang geschafft, im Laufe des Jahres 1990 neue demokratische Institutionen gebildet und funktionsfähig waren, hatten die Runden Tische ihre wichtigste Aufgabe erfüllt. Geblieben aber ist, daß das freie Engagement vieler in sozialen und gemeinwohlorientierten Projekten mitwirkender Bürgerinnen und Bürger sowie von Abgeordneten in den kommunalen und Landesparlamenten oder auch hier im Deutschen Bundestag in der einen oder anderen Weise 1989/90 an einem Runden Tisch begann daß oder von dieser Arbeit ein wichtiger Impuls für das Engagement ausging. Die Runden Tische der Jahre 1989/90 in der DDR bedeuteten also auch ein Stück Vorleben von Zivilgesellschaft, ein Symbol für Einmischung und Mitgestaltung, für die Übernahme von Verantwortung. Hierin liegt wohl ihr wichtigstes Vermächtnis. Die kurze Geschichte der Runden Tische in der DDR gehört zu den wichtigen und erinnerungswerten Traditionen der parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Daran soll heute erinnert und allen Initiatoren und Beteiligten für ihre demokratiebildende Arbeit gedankt sein. ({1}) Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen wir zu unserer heutigen Tagesordnung. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll das vom Bundesrat eingebrachte Zweite Eigentumsfristen- gesetz abweichend von der gestrigen Überweisung nunmehr dem Rechtsausschuß zur federführenden Be- ratung und dem Ausschuß für Angelegenheiten der neu- en Länder zur Mitberatung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13a bis g sowie die Zusatzpunkte 8 und 9 auf: 13.a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bun- deskanzlers zum bevorstehenden Europäischen Rat in Helsinki am 10./11. Dezember 1999 b) Beratung des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) gemäß § 93a Abs. 4 der Geschäftsordnung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Zusammensetzung und Arbeitsverfahren des mit der Ausarbeitung des Entwurfs einer EU-Charta der Grundrechte zu beauftragenden Gremiums und einschlägige praktische Vorkehrungen - Drucksachen 14/1579 Nr. 3.1, 14/1819 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer ({3}) Peter Altmaier Claudia Roth Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Manfred Müller ({4}) c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({5}) zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament Entschließung des Europäischen Parlaments zur Ausarbeitung des Entwurfs für ein Wahlverfahren, das auf gemeinsamen Grundsätzen für die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments beruht - Drucksachen 14/74 Nr. 1.9, 14/685 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Roth ({6}) Claudia Roth ({7}) Manfred Müller ({8}) d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({9}) zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU Festigung und Fortentwicklung der Europäischen Union während der deutschen Ratspräsidentschaft im 1. Halbjahr 1999 - Drucksachen 14/159, 14/845 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Norbert Wieczorek Peter Hintze Dr. Helmut Haussmann Manfred Müller ({10}) e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Beschäftigungspolitischer Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland ({11}) - Drucksache 14/1000 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({12}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Tourismus Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Schnieber-Jastram, Wolfgang Meckelburg, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Umsetzung der Empfehlungen der Europäischen Kommission zur Beschäftigungspolitik durch die Bundesregierung - Drucksache 14/1955 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({13}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({14}) zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zur Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur aktuellen Lage im Kosovo nach dem Eingreifen der NATO und zu den Ergebnissen der Sondertagung des Europäischen Rates in Berlin - Drucksachen 14/675, 14/1288 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Norbert Wieczorek Peter Hintze Dr. Helmut Haussmann Manfred Müller ({15}) ZP8 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU Regierungskonferenz 2000 und Osterweiterung - Herausforderungen für die Europäische Union an der Schwelle zum neuen Millennium - Drucksache 14/2233 ZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Hildebrecht Braun ({16}), Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Europäischer Rat in Helsinki: EU-Erweiterung voranbringen, politische Union vertiefen - Drucksache 14/2246 Zur Regierungserklärung liegen verschiedene Entschließungsanträge der Fraktionen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P. und PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache nach der Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder. Präsident Wolfgang Thierse

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der nächsten Woche wird der Europäische Rat zum Abschluß der erfolgreichen finnischen Ratspräsidentschaft in Helsinki zusammentreten. Auch bei diesem Rat, dem mittlerweile sechsten Treffen der Staats- und Regierungschefs in diesem Jahr, stehen wieder Themen im Mittelpunkt, die für das künftige Gesicht unseres Kontinents von entscheidender Bedeutung sein werden. Ich begrüße es daher außerordentlich, daß wir uns im Deutschen Bundestag vor dem Gipfel in Helsinki und zugleich zum Abschluß eines, wie ich meine, sehr erfolgreichen Jahres noch einmal intensiv mit den aktuellen Fragen und den Perspektiven des europäischen Integrationsprozesses befassen. ({0}) Die Beratungen in Helsinki werden auf den Beschlüssen und den Impulsen aufbauen, die wir während der deutschen Präsidentschaft beeinflußt, mitformuliert und mit erheblichem Einsatz nach vorn gebracht haben. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, daß die Bundesregierung die Zeit der deutschen Präsidentschaft nicht nur zur erfolgreichen Bewältigung der aktuellen Herausforderungen genutzt hat, sondern daß es ihr darüber hinaus gelungen ist, gemeinsam mit den Partnern für die weitere Entwicklung des europäischen Einigungsprozesses wichtige und vor allen Dingen zukunftsweisende Orientierungen zu geben. ({1}) Ich möchte an dieser Stelle dem finnischen Präsidenten Ahtisaari und Ministerpräsident Lipponen, die an der Spitze der Ratspräsidentschaft Finnlands standen, für ihre sehr zielorientierte und alles in allem auch erfolgreiche Arbeit ausdrücklich danken. ({2}) Meine Damen und Herren, zur Integration in das vereinte Europa und zur konsequenten Fortsetzung des Integrationsweges gibt es keine rationale Alternative. ({3}) Auch der Umzug nach Berlin bedeutet übrigens keine Abkehr von den außenpolitischen Grundorientierungen der Bundesrepublik Deutschland. Die feste Integration und Verankerung in Europa, aber eben auch in der Atlantischen Allianz bleiben die Grundlagen deutscher Außenpolitik. Europa steht heute mehr denn je als Rahmen für unser Handeln zur Verfügung. Die Chancen der Globalisierung können die Europäer nur gemeinsam und nicht gegeneinander nutzen. ({4}) Glaubhafte und wirkungsvolle Interessenvertretung nach außen ist vor diesem Hintergrund ebenfalls nur auf europäischer Basis möglich. Die Bundesregierung wird deshalb auch in Zukunft treibende Kraft der europäischen Einigung sein. Sie wird dabei eng und vertrauensvoll mit ihren Partnern, allen voran mit Frankreich, zusammenarbeiten. Die tiefe Freundschaft und Partnerschaft mit Frankreich ist und bleibt Angelpunkt deutscher Außenpolitik. ({5}) Die deutsch-französische Kooperation ist für Europa unverändert von elementarer Bedeutung. Der deutsch-französische Gipfel vor wenigen Tagen und meine Begegnung mit der französischen Nationalversammlung auf Einladung von Parlamentspräsident Fabius haben einmal mehr den besonderen Charakter der deutsch-französischen Beziehungen und die enge Freundschaft zwischen beiden Völkern unterstrichen. ({6}) Das hat gezeigt, daß entgegen dem, was gelegentlich zu lesen ist, die deutsch-französische Zusammenarbeit fruchtbar ist und vor allen Dingen gut funktioniert. ({7}) Gleichwohl: Hier steckt noch viel Potential, das wir gemeinsam für Deutschland, für Frankreich, vor allem aber für Europa nutzen wollen. Wie schon in den vergangenen Monaten werden wir auch in Helsinki in enger Abstimmung auf Fortschritte drängen, die für die weitere Stärkung der Union unverzichtbar sind. Im Mittelpunkt des Europäischen Rates wird das Thema Erweiterung der Europäischen Union stehen. Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, des Symbols des kalten Krieges, sind wir heute im Begriff, die letzten Relikte dieser Epoche beiseite zu räumen und die Spaltung des ganzen Kontinentes endgültig zu überwinden. ({8}) Mit der absehbaren Aufnahme der mittel- und südosteuropäischen Beitrittskandidaten in die Europäische Union wird in Europa ein neues Zeitalter beginnen. Nach Deutschlands Wiedervereinigung steht gleichsam Europas Wiedervereinigung auf der geschichtlichen Tagesordnung. Dieses Ziel möglichst rasch zu erreichen liegt in unser aller Interesse und wird von unseren Partnern in der Europäischen Union geteilt. In Helsinki wollen wir uns über die weiteren Schritte zur Vollendung dieser Entwicklung verständigen. Zunächst wird es darum gehen, die Fortschritte der einzelnen Kandidaten auf ihrem Weg in die Europäische Union zu prüfen. Hierzu hat die Europäische Kommission bereits im Oktober Berichte vorgelegt, die nach Einschätzung der Bundesregierung eine zutreffende Analyse dessen darstellen, was Realität ist, und die auch zutreffende politische Folgerungen enthalten. Wir werden deshalb in Helsinki dafür eintreten, die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen auch mit Lettland, Litauen, der Slowakei, Bulgarien und Rumänien zu beschließen. ({9}) All diese Länder haben in den letzten zwölf Monaten große Reformschritte unternommen. Dabei ist ganz klar, daß der Vorbereitungsstand der einzelnen Länder für einen Beitritt sehr unterschiedlich ist. Dieser Tatsache muß in den konkreten Verhandlungen ab Anfang nächsten Jahres durch eine klare Differenzierung im Verhandlungsprozeß Rechnung getragen werden. Wir wollen mit einem Beschluß zur Verhandlungsaufnahme mit diesen Ländern ein klares politisches Signal geben, das Signal nämlich, daß Reformbemühungen von der Europäischen Union auch honoriert werden. Darüber hinaus werden wir in Helsinki eine Entscheidung über die Verhandlungsaufnahme mit Malta zu treffen haben, nachdem die maltesische Regierung den Beitrittsantrag Maltas erneuert und die Kommission hierzu positiv Stellung genommen hat. Europa steht auch gegenüber der Türkei in der Verantwortung. Wir können nicht einerseits die strategische Bedeutung der Türkei für Europa immer wieder hervorstreichen, ihr innerhalb der NATO große Lasten aufbürden, sie als wichtige Regionalmacht hofieren und sie auf europäische Standards verpflichten, wenn wir nicht andererseits bereit sind, ihr eine klare europäische Perspektive zu eröffnen, die über die Zollunion hinausgehen muß. ({10}) Die Bundesregierung tritt deshalb mit Nachdruck dafür ein, der Türkei den Status eines Beitrittskandidaten für die Aufnahme in die Europäische Union zu verleihen. ({11}) Aber zugleich gilt: Diese Beitrittsperspektive ist - das habe ich gegenüber Premierminister Ecevit in aller Deutlichkeit hervorgehoben - kein Blankoscheck. Wie alle anderen EU-Mitgliedstaaten erwartet die Bundesregierung von der Türkei im Gegenzug, daß sie die politischen Kriterien von Kopenhagen und natürlich den Art. 6 des Vertrages von Amsterdam über die Europäische Union erfüllt. ({12}) Erst wenn die politischen Kriterien von Kopenhagen und Art. 6 des EU-Vertrages - das heißt, Wahrung der Menschenrechte, Achtung und Schutz von Minderheiten sowie eine stabile und rechtsstaatliche Ordnung - erfüllt sind, stellt sich die Frage nach dem Beginn von tatsächlichen Beitrittsverhandlungen. ({13}) Hier kann es keine Abstriche geben, denn wer zur Europäischen Union gehören will, der muß auch den Besitzstand dieser Union und vor allen Dingen deren Werte voll anerkennen. ({14}) Die Europäische Union war immer mehr als eine bloße Wirtschaftsgemeinschaft; sie ist von Anbeginn auch eine Wertegemeinschaft gewesen. Das gilt umfassend: Schon im Vorfeld zum Europäischen Rat in Köln habe ich in einem ausführlichen Briefwechsel mit Premier Ecevit die Rahmenbedingungen für das künftige Verhältnis zwischen der EU und der Türkei entwickelt. Sie gelten unverändert fort. Der türkische Premierminister hat sich mir gegenüber eindeutig zu den gemeinsamen Werten der Europäischen Union bekannt. Ich meine, dies muß Grundlage dafür sein, daß die Europäische Union die Türkei als Kandidaten für den Beitritt anerkennt und mit ihr gemeinsam die weiteren Schritte auf dem Weg zur Konkretisierung der Beitrittsperspektive ausarbeitet. Wir wollen eine europäische Türkei. Deshalb wollen wir der Türkei eine glaubhafte europäische Perspektive eröffnen. ({15}) In den vergangenen Monaten ist viel darüber gesprochen worden, daß es in Helsinki an der Zeit sei, Zieldaten für den Abschluß der Beitrittsverhandlungen mit ersten Ländern festzulegen oder sich gar schon auf konkrete Beitrittstermine zu verständigen. Die Europäische Union sollte indessen keine Illusionen nähren; wir sollten vielmehr realistisch sein. Als Realisten können wir uns nur auf das festlegen, was wir selbst auch einlösen können. Deshalb wollen wir in Helsinki klarstellen, wann die Europäische Union für die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten bereit ist. Nach dem erfolgreichen Abschluß der Agenda 2000 unter deutscher Präsidentschaft und nach der Festlegung des Europäischen Rates in Köln, die Regierungskonferenz zur institutionellen Reform bis Ende 2000 abzuschließen, können wir den Beitrittsländern jetzt ein deutliches Signal geben: Die Europäische Union wird im Jahre 2003 nach der Ratifizierung der Ergebnisse der Regierungskonferenz zu den institutionellen Reformen für die Aufnahme neuer Mitglieder bereit sein. Das ist eine klare und deutliche Botschaft an die Beitrittsländer, eine Botschaft, daß die EU zu ihren Worten steht, offen für neue Mitglieder zu sein. ({16}) Dies ist aber zugleich ein Zeichen der Ermutigung für die Beitrittsländer, ihrerseits alles zu tun, um für einen raschen Beitritt bestehende Hindernisse in ihren Ländern zu überwinden. Auf diesem Wege wird die EU die Beitrittsländer mit aller Kraft und mit vielfältigen Hilfen unterstützen. Wir wollen das erweiterte Europa, wir brauchen es, um Frieden, Freiheit, Stabilität und Wohlstand auf unserem Kontinent auf Dauer zu sichern. Beim Europäischen Rat in Köln haben wir uns darauf verständigt, im Jahre 2000 eine Regierungskonferenz zu den institutionellen Reformen durchzuführen. Mit Blick auf die angestrebte Erweiterung der Union und auf die berechtigten Erwartungen der Beitrittsländer auf einen raschen Beitritt erwarte ich einen Konsens der Staats- und Regierungschefs für ein begrenztes Mandat für die kommende Regierungskonferenz. Nur wenn wir uns auf die wesentlichen Fragen der Stimmgewichtung, der Größe und Struktur der Kommission, der Ausweitung der Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit sowie einige andere wichtige Fragen beschränken, werden wir die Regierungskonferenz rechtzeitig bis zum Ende des Jahres 2000 abschließen können. Zugleich sind wir uns bewußt - darüber war ich mir mit Präsident Chirac und Premierminister Jospin völlig einig -, daß wir uns der Frage nach der rechtlichen und der politischen Gestalt der Europäischen Union in den nächsten Jahrzehnten verstärkt stellen müssen. ({17}) Deutschland und Frankreich werden in diesen Fragen gemeinsam Definitionen und Ziele entwickeln. Beide Seiten sind fest entschlossen, auch auf diesem Gebiet dem vereinten Europa entscheidende Impulse zu geben. ({18}) Ich betrachte es in diesem Zusammenhang als ein gutes Omen, daß sowohl die Konferenz zur institutionellen Reform wie auch die Arbeiten an der Ausgestaltung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und das Projekt „Grundrechtscharta“ den Bogen von der deutschen zur französischen Präsidentschaft schlagen. Eindringlicher als dies könnte unsere besondere Verantwortung für die Zukunft Europas, die wir gemeinsam wahrzunehmen gewillt sind, nicht zum Ausdruck gebracht werden. Die künftige Verfaßtheit Europas wird Thema eines intensiven Diskussionsprozesses sein, den wir in Köln in Gang gesetzt haben. Denn der Auftrag an ein eigenständiges Gremium, den Entwurf für die Grundrechtcharta der EU auszuarbeiten, ist der erste Schritt auf dem Weg zur Entwicklung stärkerer und damit belastbarer europäischer Verfassungsgrundlagen. Ich freue mich sehr, daß der Startschuß zu dieser Entwicklung unter deutscher Präsidentschaft erfolgt ist. Meine Damen und Herren, ich freue mich auch, daß ich mit dem früheren Bundespräsidenten Roman Herzog eine ganz herausragende Persönlichkeit als meinen persönlichen Beauftragten für dieses Gremium gewinnen konnte. ({19}) Ich bin sicher, daß Altbundespräsident Herzog mit seiner außerordentlichen politischen Erfahrung, seiner Persönlichkeit und seiner immensen fachlichen Qualifikation die Arbeit dieses Gremiums prägen wird. Die Bundesregierung jedenfalls würde es sehr begrüßen, wenn das Gremium ihn auch zum Vorsitzenden berufen würde. Meine Damen und Herren, in Helsinki werden wir zum weiteren Vorgehen und zu den anstehenden Fragen der Regierungskonferenz über die institutionellen Reformen notwendige Entscheidungen treffen. Für uns gilt in Helsinki wie in der Regierungskonferenz selbst die Maxime, daß wir Handlungsfähigkeit und Effizienz, demokratische Legitimität, Bürgernähe und Transparenz auch in einer erweiterten Europäischen Union sicherstellen müssen. Hierzu ist es unverzichtbar, daß wir zu klaren und nachvollziehbaren Entscheidungsverfahren kommen, bei denen eine bessere Ausgewogenheit zwischen dem Stimmengewicht der größeren und der kleineren Staaten gewährleistet sein muß. Darüber hinaus gilt es, eine vernünftige Regelung für die Struktur und Größe der Europäischen Kommission zu finden, eine Struktur und Größe, die die Interessen aller Mitgliedstaaten wahrt und eine sinnvolle Arbeitsaufteilung ermöglicht. Aus der Sicht der Bundesregierung stellt der vermehrte Übergang zu Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit im Rat unter gleichzeitiger Mitbestimmung des Europäischen Parlaments einen der Kernpunkte der anzustrebenden Reform dar. ({20}) Natürlich gibt es Bereiche, bei denen das Festhalten an der Einstimmigkeit unbestritten ist. Das gilt zum Beispiel für Vertragsänderungen und andere ratifizierungsbedürftige Entscheidungen. Es gilt auch für Kernfragen des nationalen Interesses. Ich setze dabei, meine Damen und Herren, auf die konstruktive Mitarbeit der Länder, die wir an den Arbeiten nach dem bewährten Verfahren der letzten Regierungskonferenz beteiligen wollen und beteiligen werden. Noch ein Punkt erscheint mir für wichtig für den Erfolg der Regierungskonferenz: die enge Beteiligung des Europäischen Parlaments an der Konferenz. Auf seine Ideen, seinen Sachverstand und auf seine demokratische Legitimation können und wollen wir nicht verzichten. ({21}) Meine Damen und Herren, das Europa der Zukunft muß weltweit seine Interessen und Werte wirkungsvoll vertreten können. Dies setzt voraus, daß wir Europäer in der Welt mit einer Stimme sprechen und unseren Anliegen gemeinsam wirkungsvoll Geltung verschaffen. Mit der Berufung Javier Solanas zum Hohen Beauftragten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und mit seiner zusätzlichen Betrauung mit dem Amt des WEUGeneralsekretärs ist uns ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung gelungen. In einem nächsten Schritt müssen wir nun darangehen, die Grundlagen für ein wirksames europäisches Krisenmanagement und für eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu schaffen. Unter deutscher Präsidentschaft haben wir beim Europäischen Rat in Köln im Juni die Weichen in diese Richtung gestellt. Nicht zuletzt die Krise im Kosovo, meine Damen und Herren, hat gezeigt, daß wir Europäer sowohl im Bereich der Aufklärung als auch beim Lufttransport Defizite haben. In einem ersten Schritt habe ich mit Präsident Chirac deshalb eine deutsch-französische Initiative vereinbart, die die Schaffung eines europäischen Lufttransportkommandos zum Ziel hat. Beim Europäischen Rat in Helsinki werden wir wichtige Orientierungen für die weitere Ausgestaltung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geben und erste Entscheidungen treffen. Ziel bleibt es, die Arbeiten auch auf diesem Feld unter französischer Präsidentschaft bis Ende 2000 abzuschließen. Dabei steht neben der Schaffung krisentauglicher Entscheidungsmechanismen vor allem die Verbesserung der militärischen Fähigkeiten der Europäischen Union durch die Integration der WEU in die Europäische Union im Vordergrund. In Helsinki geht es auch darum, durch einen Interimsbeschluß schnellstmöglich die Strukturen für ein europäisches Krisenmanagement zu schaffen. Wir brauchen in Brüssel ein ständiges politisches und sicherheitspolitisches Komitee sowie einen Militärausschuß. Die endgültige Verankerung dieser notwendigen institutionellen Strukturen könnte dann im Rahmen der Regierungskonferenz im nächsten Jahr erfolgen. Ferner ist es wichtig, Zielvorgaben für die Bereitstellung der notwendigen Kapazitäten für die militärische und zivile Krisenbewältigung zu verabschieden. Die britischen Vorschläge dazu finden unsere ungeteilte Unterstützung. Außerdem müssen die Grundparameter für die Einbeziehung der assoziierten WEU-Mitglieder - also derjenigen europäischen Staaten, die der NATO, aber nicht der Europäischen Union angehören - vereinbart werden. Niemand soll sich ausgegrenzt fühlen; niemand soll Nachteile erleiden. Nicht weniger wichtig ist natürlich eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union einerseits und der NATO andererseits. Es kann und es wird hier kein Konkurrenzdenken geben. Neben der Politik der europäischen Einigung bleibt die transatlantische Zusammenarbeit im Rahmen der NATO weiterhin tragender Pfeiler unserer Außenpolitik. Dabei spielen die enge Partnerschaft und Freundschaft mit den Vereinigten Staaten und mit Kanada eine zentrale Rolle. Ihre Mitwirkung in Europa bleibt auch in Zukunft von entscheidender Bedeutung für Sicherheit und Stabilität auf unserem Kontinent. ({22}) Meine Damen und Herren, in Helsinki müssen wir uns ebenfalls mit einem aus deutscher Sicht ausgesprochen wichtigen Thema befassen, das unter den Mitgliedstaaten schon seit geraumer Zeit diskutiert wird: das vom Europäischen Rat in Wien vor einem Jahr in Auftrag gegebene Steuerpaket zur Eindämmung schädlichen Steuerwettbewerbs. Für Europa ist es im globalen Wettbewerb von großer Bedeutung, daß wir uns nicht untereinander Nachteile durch unfairen Steuerwettbewerb zufügen. ({23}) Deshalb halten wir die baldige Einigung auf ein Steuerpaket mit folgenden drei Elementen für unverzichtbar: erstens ({24}) dem Richtlinienentwurf zur Besteuerung von Zinserträgen, der die steuerliche Erfassung grenzüberschreitender Zinszahlungen an natürliche Personen sicherstellen soll, ({25}) zweitens dem Verhaltenskodex zur Unternehmensbesteuerung, der auf die Vermeidung bzw. Beseitigung unfairer Steuerpraktiken abzielt, ({26}) sowie drittens dem Richtlinienentwurf zur Zahlung von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten, womit die steuerliche Benachteiligung zwischenstaatlicher Unternehmenszusammenschlüsse gegenüber rein nationalen Unternehmenszusammenschlüssen verhindert werden soll. ({27}) Während die Beratungen zum Verhaltenskodex und zur Lizenzrichtlinie weit vorangebracht werden konnten, sind die Verhandlungen zur Besteuerung von Zinserträgen wegen der unnachgiebigen Haltung eines Mitgliedsstaates blockiert. ({28}) - Herr Glos, ich denke, in den nächsten Tagen und Wochen sollten Sie beim Thema Finanzen etwas zurückhaltender sein. Das ist sicher nötig. ({29}) Ich mache, meine Damen und Herren, keinen Hehl daraus, daß ich für eine solche Blockadehaltung, die nationale Eigeninteressen über die notwendige europäische Solidarität stellt, wenig Verständnis habe. ({30}) Diese Politik schadet Europa und längerfristig auch den eigenen nationalen Zielen. ({31}) Für die Bundesregierung ist es entscheidend, daß wir eine Einigung über das Gesamtpaket erzielen, denn alle drei darin enthaltenen Elemente zielen auf die Eindämmung jeweils unterschiedlicher Aspekte des schädlichen Steuerwettbewerbs. Sie bilden deshalb eine Einheit, die wir nicht aufgelöst sehen wollen. Wir müssen und werden aus diesem Grunde hierüber in Helsinki einen intensiven Meinungsaustausch führen. Ich hoffe, daß sich Großbritannien in dieser Frage entscheidend bewegt. ({32}) Meine Damen und Herren, ein weiteres wichtiges Thema in Helsinki wird die Beschäftigungspolitik sein. Grundlage der Beratungen zur Beschäftigungspolitik bilden die beschäftigungspolitischen Leitlinien 2000, der gemeinsame Beschäftigungsbericht sowie die Empfehlungen der einzelnen Mitgliedstaaten. Wir können feststellen: Die europäische Beschäftigungsstrategie beginnt Früchte zu tragen. Die Arbeitslosenquote in der Europäischen Union ist nach Angaben des Statistischen Amtes der Gemeinschaft von 10,8 Prozent Mitte 1997 auf 9,1 Prozent im September 1999 zurückgegangen. ({33}) Trotz dieser erfreulichen Entwicklung liegt die Arbeitslosigkeit auf europäischer Ebene bei weitem zu hoch. Der Europäische Rat wird deshalb diesem Thema auch weiterhin besondere Aufmerksamkeit schenken. Die Bedeutung, die wir der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Schaffung neuer Arbeitsplätze beimessen, macht auch die Tatsache deutlich, daß wir diese Fragen am 23. und 24. März 2000 auf einem Sondergipfel in Lissabon beraten werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der heute bereits erreichte europäische Integrationsstand und die anstehende Erweiterungsrunde markieren eine tiefgreifende Zäsur in der Geschichte der europäischen Integration. Europa wächst über den früheren Eisernen Vorhang hinweg zusammen. Europa muß in den kommenden Monaten eine große Zahl sehr unterschiedlicher, aber in jedem Einzelfall wichtiger Aufgaben bewältigen. Die Bundesregierung wird sich diesen Aufgaben stellen. Sie wird dabei in enger Abstimmung mit den Partnern, insbesondere mit Frankreich, nach geeigneten Strategien und Konzepten suchen, um die Europäische Union zu festigen und zu stärken. Wir sind der Auffassung, daß es dazu keine wirklich rationale Alternative gibt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({34})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Edmund Stoiber, Ministerpräsident des Freistaates Bayern. Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Europäische Rat von Helsinki wird einen wichtigen Meilenstein setzen. Aus der einst auf Westeuropa beschränkten Gemeinschaft soll ja nun eine gesamteuropäische Union werden. Damit wird ein Prozeß konsequent fortgesetzt, der auf deutscher Seite untrennbar - daran möchte ich heute erinnern - mit der Union und hier wiederum untrennbar mit den Namen Konrad Adenauer und Helmut Kohl verbunden ist. ({1}) Dieses Werk gilt es zu bewahren. Ich kann vielen der von Ihnen, Herr Bundeskanzler, aufgezeigten Positionen zustimmen. ({2}) Sie zeigten aber in besonderem Maße nur die schönen Seiten. Von den Problemen, den Herausforderungen und den Auswirkungen der Osterweiterung für Deutschland habe ich wenig, um nicht zu sagen: nichts gehört. ({3}) Die Osterweiterung wird nur gelingen, wenn Sie die Menschen in Deutschland mitnehmen, wenn die Menschen in Deutschland diese Erweiterung genauso akzeptieren wie die überwältigende Mehrheit in diesem Hohen Hause. Der europäische Gipfel wird kein gewöhnlicher Gipfel sein. Der frühere Vizepräsident der Europäischen Kommission, Sir Leon Brittan, hat es sehr treffend formuliert: „Die Bedeutung der Osterweiterung ist nur vergleichbar mit dem Abschluß der Römischen Verträge im Jahre 1957.“ Wir sind uns alle einig - das möchte ich nachdrücklich unterstreichen -, daß die Osterweiterung der Europäischen Union politisch, wirtschaftlich, historisch und kulturell notwendig ist. Sie bietet die Chance zur langfristigen Garantie von Frieden, Freiheit und Wohlstand in ganz Europa. Der Kosovo-Konflikt hat die Notwendigkeit einer generellen Stabilisierung von Mittel- und Osteuropa verdeutlicht. Der Wunsch nach einer Beschleunigung des Erweiterungsprozesses ist daher verständlich und richtig. Doch machen wir uns nichts vor: Nicht überall - das wiederhole ich - stößt die Osterweiterung auf helle Begeisterung, auch nicht in Deutschland. Deshalb müssen wir nicht über das „Ob“, sondern über das „Wie“ diskutieren. Wir müssen die Akzeptanz der Menschen dafür gewinnen, und zwar nicht durch Werbesprüche, sondern durch Aufklärung, Fakten, Konzepte und auch durch leidenschaftliche Auseinandersetzungen. ({4}) So wie wir hier über die Auswirkungen der Globalisierung diskutieren, so wie wir um Steuer-, um Sozialreformen und um Sparkonzepte ringen, so müssen wir offen über die weitere Integration Europas leidenschaftlich diskutieren. Die Lösungen, die wir erarbeiten, die Entscheidungen, die Sie diesen Monat in Helsinki treffen werden, müssen nicht nur in den nächsten zehn Jahren, sondern auch in den nächsten 20, 30 Jahren stimmen. Es handelt sich in der Tat um eine enorme Weichenstellung. Durch den Beitritt von zwölf Staaten entsteht eine andere Europäische Union: nahezu doppelt so viele Mitglieder, Vergrößerung der Fläche um die Hälfte, Anstieg der Bevölkerung um ein Drittel, 20 und mehr Amtssprachen, ein Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt der beitretenden Staaten, das teilweise unter 30 Prozent des EU-Durchschnittes liegt - wie im Fall von Bulgarien, Lettland und Rumänien -, Erhöhung des landwirtschaftlichen Produktionspotentials um 50 Prozent. Von den Auswirkungen werden auch wir Deutsche massiv betroffen sein. Natürlich gewinnen wir auf der einen Seite neue Absatzmärkte, aber auf der anderen Seite drohen finanzielle Mehrbelastungen, ein verstärkter Druck auf unseren Arbeitsmarkt und Probleme für die Sicherheit an den Außengrenzen. Die geplante Erweiterung um zwölf Staaten übersteigt bei weitem die Dimension der früheren Süderweiterung um Griechenland, Portugal und Spanien. In Spanien, das noch heute Leistungen aus dem Kohäsionsfonds bezieht, lag zur Zeit seines EU-Beitritts, im Jahre 1986, das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt bei immerhin 67 Prozent des Durchschnitts der damaligen Zehner-EG. Im vergleichbar großen Polen liegt es heute bei 39 Prozent, in Rumänien und Bulgarien bei 27 bzw. 23 Prozent. Meine Damen, meine Herren, um es noch einmal zu unterstreichen: Wir sind für die Entscheidung, den Kreis der Beitrittskandidaten von sechs auf zwölf auszuweiten. Aber die Erweiterung muß solide geplant und durchgeführt werden. Ansonsten würden wir nicht den Osten stabilisieren, was wir bewirken wollen, sondern Gefahr laufen, durch ihn destabilisiert zu werden. Deswegen ist dies eine ganz entscheidende Weichenstellung. ({5}) Deshalb sind die Beitrittskriterien des Kopenhagener Gipfels von 1993 von so entscheidender Bedeutung. Um sich nicht in ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang zu stürzen, haben damals alle EU-Mitglieder politische und wirtschaftliche Voraussetzungen für die EUMitgliedschaft formuliert. Darunter besonders wichtig: die Garantie - das haben Sie erwähnt - von Demokratie und Rechtsstaat einschließlich Menschenrechte und Minderheitenschutz. Aber es gibt noch andere Kriterien, nämlich eine funktionsfähige Marktwirtschaft, die den Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten vermag, und die Fähigkeit, die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen zu übernehmen. Wenn nun Beitrittsverhandlungen auch mit Staaten aufgenommen werden, die von der Erfüllung dieser Kriterien noch weit entfernt sind, so darf das nicht dazu führen, die Kopenhagener Beitrittskriterien „intelligent zu interpretieren“, wie das Romano Prodi vor kurzem ausgedrückt hat. Das heißt, die Kriterien, vor allem die zweiten und dritten Kriterien, die wirtschaftlichen Kriterien, will man anscheinend innerhalb der Kommission lockerer angehen. Das halte ich für außerordentlich gefährlich. Hier erwarte ich auch ein klares Wort, daß das mit Sicherheit nicht geht. Denn das würde letzten Endes die europäische Integration nicht fördern, sondern sie langfristig geradezu schwächen. ({6}) Ein Beitritt von Staaten, deren Volkswirtschaften für den Konkurrenzkampf im Binnenmarkt noch nicht ausreichend gerüstet sind, hätte in der Tat dramatische Schwierigkeiten für diese Staaten zur Folge, aber nicht nur dort. Er könnte auch das großartige Einigungswerk in einem Jahrzehnt gefährden. Gerade wir in Deutschland wissen doch, was es bedeutet, wenn völlig unterschiedliche Wirtschaftssysteme vereinigt werden sollen. Zweitens. Bei den Verhandlungen ist Sorgfalt wichtiger als Geschwindigkeit. Einen konkreten Beitrittstermin lehnen auch wir ab. Schon bei den laufenden Beitrittsverhandlungen mit den Staaten der sogenannten ersten Welle drückt die Kommission zunehmend auf das Tempo. Zwischen den Vorschlägen der Kommission an den Rat für eine gemeinsame Verhandlungsposition und den Verhandlungssitzungen mit den Beitrittskandidaten liegt oft nicht einmal eine Woche. Da haben die Mitgliedstaaten im Rat kaum noch die Gelegenheit, die Verhandlungsvorschläge der Kommission gründlich zu prüfen und eigene Interessen einzubringen. Das machen sie meines Erachtens mit, wenn ich mir die Verhandlungen anschaue. Deswegen stimme ich auch Helmut Schmidt zu, der vor wenigen Tagen, am 1. Dezember 1999, in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ einen bemerkenswerten Leserbrief geschrieben hat. Er schreibt: Ich sehe mit einer gewissen Sorge, daß der Ministerrat der Europäischen Union und die Kommission in Brüssel ziemlich gleichzeitig mit einer großen Zahl von beitrittswilligen Ländern verhandeln, zugleich sehr optimistisch zeitliche Daten anvisieren, ohne sich über die ökonomischen Anpassungsprobleme ausreichend Klarheit verschafft zu haben. Wer glaubt, daß nahezu eine Verdopplung der Zahl der Mitgliedstaaten und eine institutionelle Reform der Europäischen Union in wenigen Jahren bewältigt werden kann, der kann für alle Beteiligten schwere Schäden anrichten. ({7}) Ich glaube, daß dies genau den Kern der Sorgen trifft, die wir haben, um das Ganze zu einem großen Erfolg zu bringen. Mich konnten Sie lange Zeit als einen sogenannten Europagegner darstellen, aber das können Sie jetzt nicht mehr, weil man sich zunehmend bewußt wird, daß es gewaltige Anforderungen erfordert, um diese Bewältigung zu erreichen. Meine Damen, meine Herren, „Zeitplan vor Kriterien“ lehnen wir ab. Jeder Beitrittskandidat bestimmt das Tempo durch die Erfüllung der Kriterien für sich selbst. ({8}) Drittens. Wo nötig, brauchen wir Übergangsfristen für die Beitrittskandidaten, aber auch für uns. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schätzt, daß bis zu 1,2 Millionen Personen in der heutigen Europäischen Union eine Arbeitsstelle suchen werden. Eine solche Entwicklung wäre vor allem für unsere Grenzregionen dramatisch, aber nicht nur für sie. Daher brauchen wir angemessene Übergangsfristen. Das ist weder anstößig noch neu. Ich weise darauf hin, daß 1986 beim Beitritt von Spanien und Portugal immerhin eine siebenjährige Übergangsfrist für die Arbeitnehmerfreizügigkeit vereinbart worden war. Das war sicherlich noch eine geringere Problematik, als wir sie heute haben. Deswegen glaube ich, daß die Bundesregierung auch dafür sorgen muß, daß in diesen Punkten auch deutsche Interessen wirkungsvoll in die Verhandlungen eingebracht werden. Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({9}) Beherzigen Sie auch das, was Ihnen Ihre neue europapolitische Beraterin, Frau Wulf-Mathies, ins Stammbuch schreibt! Sie sagt: Wir Deutsche treffen vielfach europapolitische Entscheidungen, ohne das deutsche Interesse auch nur definiert zu haben … Auch der neuen Regierung fehlt es noch an einem Kompaß. Wenn das Ihre Beraterin sagt, dann habe ich dem nichts mehr hinzuzufügen. ({10}) Aber nicht nur die Beitrittskandidaten sind gefordert. Auch die Europäische Union selbst muß sich beitrittsfähig machen. Für eine Erweiterung der Europäischen Union auf bis zu 27 Staaten brauchen wir substantielle, institutionelle und inhaltliche Reformen. Da kann man sich nicht wegen angeblichen Zeitdrucks im wesentlichen auf einige institutionelle Fragen beschränken. Sie haben auch heute wieder gesagt, man könne im Grunde nur die drei wichtigsten, die „leftovers“, angehen. Lediglich eine neue Stimmengewichtung im Rat, eine Änderung der Größe der Kommission und verstärkt Mehrheitsentscheidungen werden nicht ausreichen, damit die Europäische Union auch nach der Osterweiterung noch funktioniert. ({11}) Wissen Sie, Sie können sich nicht darum herummogeln. Es ist in der Tat ein Problem, wenn man es auf diese drei wichtigen Dinge begrenzt und nicht weitergeht. Das kommt mir so vor wie bei Mika Häkkinen, der bei einem Rennen mit großer Schnelligkeit an die Boxen herangefahren und dann auf drei Reifen gestartet ist. Man hat ja gesehen, was aus ihm in diesem Rennen geworden ist. (Beifall bei der CDU/CSU -

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Der ist Weltmeister geworden! - Heiterkeit) Auch die Kommission und das Europäische Parlament treten dafür ein, den Auftrag der Regierungskonferenz auszuweiten. Die von der Kommission befragten „drei Weisen“ haben eine umfassendere Reform vorgeschlagen, aber leider in die falsche Richtung. Sie wollen das EG-Vertragssystem zweiteilen. Im ersten Teil sollen die Grundsätze niedergelegt werden, im zweiten Teil die einzelnen Politikbereiche. Dieser zweite Teil, der letztlich die Einzelkompetenzen der Europäischen Union enthält, soll in einem gemeinschaftsautonomen Verfahren geändert werden können. Das heißt, allein die Gemeinschaftsorgane würden dann zum Beispiel mehrheitlich bestimmen, ob die Europäische Union gemeinschaftsweite Steuern erheben darf. Ich glaube, daß das viel zu wenig debattiert wird. Das wäre in der Tat die Entmachtung der nationalen Parlamente. Das wäre die Entmachtung des Deutschen Bundestages. Die Kompetenzkompetenz läge dann bei der Europäischen Union. Das wäre meines Erachtens ein Stück europäischer Staat durch die Hintertür. ({0}) - Dann müssen Sie auch etwas dazu sagen, ob Sie akzeptieren, daß künftig in wichtigen Bereichen nur noch der Ministerrat und das Europäische Parlament entscheiden. Dann müssen Sie etwas dazu sagen, ob Sie akzeptieren, was Dehaene will, ({1}) nämlich daß es letzten Endes keine Ratifizierungspflicht der nationalen Parlamente mehr gibt. Dann entledigen Sie sich großer Aufgaben. Ich halte das in der Tat für ein Problem. ({2}) Eine gewaltig vergrößerte Europäische Union und eine gleichzeitig fortschreitende Vertiefung hin zu einem Bundesstaat Europa, das paßt für mich nicht zusammen. Das ist - ich sage das ganz offen -, als ob zwei Züge mit vollem Tempo aufeinander zurasen, aber leider auf dem gleichen Gleis. In einer so enorm erweiterten und so heterogenen Europäischen Union der 27 können zwangsläufig nicht alle Aufgaben erledigt werden, wie es in einer Europäischen Union der 6 oder 15 noch denkbar war. Die Osterweiterung wird die Europäische Union dazu zwingen, sich auf die Aufgaben zu konzentrieren, die nur von Europa erledigt werden können. Sie wird uns dazu zwingen, das Subsidiaritätsprinzip endlich ernst zu nehmen. ({3}) Der Konflikt zwischen Vertiefung und Erweiterung läßt sich nur dadurch lösen, daß sich Europa auf die wesentlichen Aufgaben beschränkt, für diese aber das notwendige Instrumentarium erhält. Das ist für mich der entscheidende Punkt, Herr Bundeskanzler. Ich bedauere es außerordentlich, daß in Helsinki nur über die drei institutionellen Fragen diskutiert und entschieden werden soll. Denn neben einer Definition der europäischen Aufgaben und Interessen brauchen wir zuallererst eine klare Beschreibung der europäischen Kompetenzen. Wenn die Mitgliedsstaaten Mehrheitsentscheidungen akzeptieren sollen, dann müssen sie wissen, worüber eigentlich entschieden werden soll. ({4}) Ich möchte einmal ein aktuelles Beispiel nennen: Hätte sich jemand im Deutschen Bundestag bei der Zustimmung zu den EG-Verträgen vorstellen können, daß der Europäische Gerichtshof für Europa in Anspruch nimmt, das nationale Thema „Frauen in der Bundeswehr“ allein unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit von Mann und Frau im Arbeitsleben zu regeln? Wir würden in dieser Frage hier im Deutschen Bundestag mit Sicherheit eine leidenschaftliche Debatte führen. Ich bin mir nicht sicher, ob es dabei verfassungsändernde Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat gäbe. Aber wenn der Generalanwalt das so vertritt und der Europäische Gerichtshof das letztlich so entscheidet, Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({5}) dann zeigt das, daß Kompetenzen auf Europa übergegangen sind - ohne daß man sich groß damit befaßt hat -, die man so eigentlich nicht auf Europa übertragen wollte. Denn dies zu entscheiden ist zunächst einmal eine nationale Aufgabe, die nur vor dem Hintergrund der Geschichte Deutschlands verständlich ist. Verfassungsbestimmungen sollten nicht so ohne weiteres über eine Vertragsbestimmung auf europäischer Ebene, die sehr weit ausgelegt wird, ausgehebelt werden. Das ist genau der Punkt, um den es geht. ({6}) Herr Bundeskanzler, Sie loben das Ergebnis des Berliner Gipfels ({7}) und verschweigen, was heute schon allgemeine Meinung ist: daß nachgebessert werden muß, was in Berlin bei der Verabschiedung der Agenda 2000 versäumt worden ist, nämlich die gemeinsame Agrarpolitik und die EGStrukturpolitik so zu reformieren, daß die Osterweiterung kein finanzielles Hasardspiel wird. Sie vertreten hier mit großer Verve die Osterweiterung. Da sind wir nicht auseinander. Aber wie paßt das zusammen mit dem, was damals in Berlin beschlossen worden ist? Nach dem Beschluß von Berlin belaufen sich die Gesamtausgaben für die Europäische Union der 15 im Zeitraum von 2000 bis 2006 auf 682 Milliarden Euro. Für die Osterweiterung werden demgegenüber nur 68,5 Milliarden Euro angesetzt. Mit diesen Beträgen können Sie das Ziel einer raschen Erweiterung um zwölf Staaten sicherlich nicht oder nur unter größten Belastungen erreichen. Es geht aber darum, die Belastungen zu minimieren, damit das Ziel nicht zerbröselt wird. Das ist die entscheidende Frage. ({8}) Sie haben hier gerade noch einmal angekündigt, in Helsinki die Schaffung eines wirksamen europäischen Arms in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik als bedeutsame Aufgabe Europas in Angriff zu nehmen. ({9}) - Das ist richtig. - Aber dieses Ziel steht wiederum in einem fundamentalen Kontrast zur Realität Ihrer Sicherheitspolitik. Sie tragen mit Ihren Milliardenkürzungen bei den Investitionen der Bundeswehr natürlich die Verantwortung dafür, daß der technologische Rückstand der Bundeswehr gegenüber anderen NATO-Partnern, vor allen Dingen den Vereinigten Staaten und Großbritannien, in den nächsten Jahren immer größer wird. Sie sprechen von neuen Strukturen für ein europäisches Krisenmanagement und einer europäischen Eingreiftruppe. Aber mit Ihrer Sicherheitspolitik werden wir in 20 Jahren immer noch die Amerikaner brauchen, um deutsche Soldaten aus den Krisenherden wieder herauszuholen. Es paßt nicht zusammen: hehre Worte in der französischen Nationalversammlung, hehre Worte auf der europäischen Ebene, hehre Worte auf dem Gipfel, aber hier das Gegenteil zu tun, die technologische Ausrüstung der Bundeswehr weiter ganz entscheidend zu schwächen. ({10}) Zwischen Worten und Taten, zwischen dem, was man sagt, und dem, was man tut, sollte immer eine Dekkungsgleichheit bestehen. ({11}) Ich glaube, daß Sie im Grunde genommen ein bißchen verkennen, welche Probleme gerade für die nationalen Parlamente entstehen. Ich glaube, daß Mehrheitsentscheidungen in Europa - ich bleibe dabei -, die wir brauchen, nur getroffen werden können, wenn man genau weiß, welche Kompetenz das Europäische Parlament, welche Kompetenz die Europäische Kommission und welche Kompetenz die nationalen Parlamente haben. ({12}) Hier gibt es gegenwärtig eine sehr wuchernde Entwicklung. Ich glaube, daß ernsthaft darüber debattiert werden muß, ob es einen Sinn macht, daß im Prinzip immer mehr Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffen werden, ohne daß man den Rahmen genau festgelegt hat, die die Menschen im Grunde genommen nicht nachvollziehen können. ({13}) Ich glaube, daß wir eine genaue Abgrenzung brauchen. Das ist für mich der entscheidende Punkt. Auch Sie wollen ein Europa der Subsidiarität. Aber der Begriff der Subsidiarität wird in Europa natürlich unterschiedlich ausgelegt. Die Briten und die Franzosen verstehen unter Subsidiarität etwas anderes als wir Deutschen. Deswegen können wir den Begriff der Subsidiarität letzten Endes nur konkretisieren, wenn wir in Europa über die „leftovers“ hinaus wirkliche Kompetenzabgrenzungen erreichen und deutlich machen, welches eine regionale, welches eine nationale und welches eine europäische Aufgabe ist. Ich bin für Erweiterungen der europäischen Kompetenz - ich glaube, darüber gibt es hier keine Meinungsverschiedenheiten - in der Asylpolitik, in der Sicherheitspolitik, in der Außenpolitik und in der Verteidigungspolitik. Hier brauchen wir zweifelsohne ein Mehr an Europa. Aber in der Frage des Katastrophenschutzes und der Fremdenverkehrspolitik brauchen wir ein Weniger an Europa. Wir brauchen eine vernünftige Abgrenzung und keinen Mischmasch. Darum geht es. ({14}) Es geht um die Frage: Wie bauen wir dieses neue Europa, das mit viel mehr Staaten eine wuchtige Ebene sein soll, und zwar eine Ebene, die zusammenwächst und unsere Interessen über Europa in der Welt deutlich Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({15}) machen kann? Aber dieses Gebilde muß in sich einigermaßen homogen sein. Es muß klar sein, wer was entscheidet. Dies habe ich sehr vermißt. Ich bedaure sehr, daß Sie all das, was im Parlament und auch im Bundesrat von allen Ministerpräsidenten gefordert wird, nämlich eine deutliche Kompetenzabgrenzung zu erreichen, überhaupt nicht angehen. Ich weiß, daß die Europäische Kommission von einer Kompetenzabgrenzung überhaupt nichts hält. Ich weiß, daß die meisten Mitgliedstaaten von einer Kompetenzabgrenzung überhaupt nichts halten. Aber ich glaube, daß eine solche notwendig ist, damit man weiß, was in diesem Parlament Sache ist, was in diesem Parlament entschieden wird und was im Europäischen Parlament entschieden wird. ({16}) Dieses Durcheinander ist eine schlechte Ausgangslage für eine weitere Integration Europas. In diesem Sinne bitte ich Sie und fordere Sie auf, in Helsinki dafür einzutreten. Danke schön. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Joachim Poß, SPD-Fraktion, das Wort.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben hier heute morgen Herrn Stoiber in seiner Lieblingsrolle als europapolitische Kassandra erlebt. ({0}) Die heutige Aufführung war nicht überzeugender als die Aufführung, die wir hier im Deutschen Bundestag schon erlebt haben. Herr Stoiber, die Presse war sich bei einem Ihrer letzten Auftritte einig, daß Sie hier, wo Sie sich nicht auf heimischem Boden befinden, eingegangen sind. Sie sind mit Ihrer Rede Ihrem Ruf als Vertreter der Provinzialität wieder voll gerecht geworden. Das muß man schon deutlich sagen. ({1}) So steigen Sie nicht in die Bundesliga auf. Da ist selbst Herr Schäuble noch überzeugender, der es heute bis jetzt vorgezogen hat, nicht zu sprechen. ({2}) Ich finde es wirklich verwerflich, eine Position zu beziehen, die so schamlos mit den Ressentiments der Menschen, ob der Bauern oder von wem auch sonst, spielt und diese ausnutzt, wie Sie das getan haben. ({3}) Mit den Ressentiments zu spielen ist kennzeichnend für Ihre Art, die noch „konservativ“ genannt wird. So kann man Europa nicht überzeugend bauen, wenn man auf diesem Gebiet Fortschritte machen will. ({4}) Wenn Sie den Bundeskanzler kritisieren und ihn auffordern, deutsche Interessen zu vertreten, dann frage ich Sie: Von wem wurde Gerhard Schröder denn hier in diesem Parlament kritisiert, daß er vielleicht zu kurzsichtig deutsche Interessen formuliert? - Das kam doch aus Ihren Reihen, von CDU/CSU. Herr Stoiber, für wen reden Sie hier eigentlich? ({5}) Im Entschließungsantrag Ihrer Fraktion steht doch etwas von der zügigen Erweiterung. ({6}) Mir schien das an dieser Stelle überhaupt nicht konsistent zu sein. Das erinnert mich an dieses Beispiel aus der Steuerpolitik. Sie fordern an einem Tag eine Nettoentlastung von 50 Milliarden DM, Herr Schäuble fordert eine Nettoentlastung von 30 Milliarden DM. Der Unterschied beträgt nur 20 Milliarden DM. Sie beweisen also auf jedem Felde, wie unseriös Sie in der Politik sind, ({7}) ob in der Steuerpolitik oder hier in der Europapolitik. ({8}) Nein, der Bundeskanzler, die Bundesregierung gehen richtig vor; sie gehen realistisch vor. Es war eben Gerhard Schröder, und es war diese Bundesregierung, ({9}) die von den realistischen Konsequenzen ökonomischer und sozialer Art gesprochen hat und sie nie ausgeblendet hat. ({10}) Das war immer unsere Herangehensweise. Auch ich schätze Helmut Schmidt. Er muß aber auch zur Kenntnis nehmen, daß die Fortschrittsberichte der Beitrittskandidaten schonungslos die ökonomischen Schwächen aufzeigen, Herr Stoiber. Wir sollten nicht jetzt schon von Interpretationskünsten zu reden beginnen, dieses Zitat von Prodi anführen und damit Verunsicherung in diesen Prozeß hineintragen. Nein, wir bleiben bei den Kriterien, die wir festgelegt haben, und lassen daran nicht rütteln. ({11}) Meine Damen und Herren, der nächste Europäische Rat wird an einem Ort stattfinden, an dem vor einem Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({12}) Vierteljahrhundert europäische Geschichte geschrieben wurde. Am 1. August 1975 wurde die Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa verabschiedet. Unter der Schirmherrschaft der europäischen Flügelmächte - USA und Sowjetunion wurde an die Stelle des Konflikts die Kooperation gesetzt. Damit wurde auf außenpolitischem Felde das Ende des Ost-West-Konflikts eingeleitet. Heute ist Europa zum politischen Subjekt geworden, schreibt seine Geschichte selbst und hat etwas Neues geschaffen - die politische Union Europas. Darin sind ihre Mitgliedstaaten bereit, freiwillig und demokratisch legitimiert, Souveränität aufzugeben. Dies ist kein Verzicht, sondern ein Gewinn. Die Staaten Europas schließen sich mehr und mehr zusammen. So können sie im rauhen Wind des Weltmarktes bestehen. So wollen sie eine politische Gegenmacht zu den ökonomischen Megafusionen aufbauen. So schaffen sie die Voraussetzungen für Frieden und Stabilität über Europa hinaus. So können auch grenzüberschreitende Folgen der Globalisierung beherrscht werden. Geleitet von der Erkenntnis, daß sie Frieden und weltpolitische Gestaltungsmacht nur noch gemeinsam erreichen können, wollen die Staaten Europas die Integration als höchste Form der Kooperation zu einem Schlüsselinstrument ihrer Europapolitik machen. Das heißt, Vision und praktische Erfordernisse gehen Hand in Hand. Der europäische Binnenmarkt erschloß für alle Beteiligten zusätzliche Wachstumspotentiale. Die Einführung einer gemeinsamen Währung erleichtert den grenzüberschreitenden Handel und schützt zugleich vor den Wechselfällen des internationalen Finanzmarktes. Ich sage zu der aktuellen Diskussion um den Euro: Lassen Sie uns sehr vorsichtig damit umgehen und nicht noch zusätzlich Öl ins Feuer gießen und damit möglicherweise die Schwierigkeiten noch vergrößern. ({13}) Im übrigen wäre das eine Debatte für sich, die wir zu diesem Thema führen müßten. Mit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik wollen die Staaten Europas den Frieden innerhalb der EU vertiefen und zugleich die Voraussetzungen schaffen, um einem weiteren „Kosovo“ in Europa vorzubeugen. Der angestrebte europäische Rechtsraum unterstützt die Herausbildung europäischer Identitäten. Er bietet gemeinsame Handlungsvollmachten zur Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität und ist ein Mittel zur Heranbildung einer gemeinsamen Migrations- und Asylpolitik. Meine Damen und Herren, an all diesen Vorhaben hatten deutsche Bundesregierungen - ich betone: Bundesregierungen! - maßgeblichen Anteil. Aber die deutsche Ratspräsidentschaft stand unter dem Vorzeichen gewachsener Verantwortung des vereinten Deutschlands. Das war eine Bürde und Herausforderung zugleich. Die neue Bundesregierung mußte in einem außerordentlich schwierigen außen- wie europapolitischen Umfeld Handlungsfähigkeit und unbeirrbaren Gestaltungswillen dokumentieren. Wer, meine Damen und Herren von der Opposition, wollte bezweifeln, daß diese Bundesregierung - gerade gebildet - diesen Test europapolitischer Zuverlässigkeit und Innovationsfähigkeit mit großem Erfolg bestanden hat? ({14}) Sie hat es mit großem diplomatischen Geschick verstanden, nationale und europäische Interessen miteinander zu verbinden. Im Gegensatz zu dem, was Herr Stoiber hier sagte, behaupte ich: Die Verabschiedung der Agenda 2000 brachte Ausgabenstabilität und mehr Beitragsgerechtigkeit unter den Mitgliedstaaten. Nach Berechnungen des Europäischen Rechnungshofes wird allein die Absenkung des deutschen Anteils in den nächsten Jahren bis zu 12 Milliarden DM betragen. Bundeskanzler Schröder, der Außenminister und andere haben eine Trendwende bei den Nettozahlungen erreicht - ebenso wie wir national eine Trendwende in der Haushalts- und Steuerpolitik erreicht haben. ({15}) Mit den Ergebnissen auf europäischer Ebene ist gleichzeitig ein Beitrag zum Konsolidierungskurs in der Bundesrepublik geleistet worden. Erinnern wir uns doch einmal, wie es in der Vergangenheit war. Helmut Kohl war zu einem solchen Handeln außerstande. Er sorgte für hohe Ausgabensteigerungen im europäischen Haushalt. Für Einsparungen fühlte er sich nicht besonders zuständig. Vorhin war Herr Waigel hier noch zu sehen. Wir alle erinnern uns doch noch, wie Herr Waigel nach jedem Gipfel von den „Staatsmännern de Luxe“ sprach, die ihm so große Sorgen bereiteten, und er müsse all das ausbügeln, was ihm Helmut Kohl zurückgelassen habe. Das war doch die Realität. - Wir haben eine Trendwende erreicht. Der Bundeskanzler und andere haben erfolgreicher als Sie verhandelt. ({16}) Diese Bundesregierung hat zusammen mit ihren europäischen Partnern und gegen den Widerstand der abgewählten Koalition den europäischen Beschäftigungspakt beschlossen. Die beschäftigungspolitischen Leitlinien wurden in diesen Tagen festgelegt. Der Bewahrung und Vertiefung europäischer Handlungsfähigkeit dienten auch weitere Initiativen der Bundesregierung. Ich nenne die Vorschläge für eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungsidentität und den Fahrplan für institutionelle Reformen. Der Schlüssel für die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union, vor allem in der Weltwirtschaft, ist die Einigkeit über gemeinsame Regeln für den innereuropäischen Standortwettbewerb. Ein Wettlauf um die jeweils geringsten Steuern führte zu einer ökonomischen Schwächung der EU, an der kein europäischer Mitgliedstaat ein Interesse haben kann. Wir unterstützen daher ausdrücklich Finanzminister Hans Eichel in seinem Bemühen, eine einheitliche Zinsbesteuerung in der Europäischen Union zu erreichen. Eine effektive und gleichmäßige Besteuerung der Zinseinkünfte tut not. ({17}) Um es mit den Worten des bekannten Verfassungsrichters Paul Kirchhof zu sagen: Eine unerträgliche Situation ist, dass die Reichen im Land Einkünfte in Milliardenhöhe am Fiskus vorbeischleusen können. Daß das so ist, kann hier niemand ernsthaft bestreiten. Eine europäische Lösung wäre der Königsweg. Mir ist bewußt, daß die Chancen für eine Einigung nicht gerade groß sind. Ich bin Finanzminister Eichel deshalb sehr dankbar, daß er trotz der britischen Blockade nichts unversucht läßt, hierbei doch noch zum Ziel zu kommen. ({18}) Bundeskanzler Schröder wünsche ich in Helsinki eine glückliche Hand - auch für die Vereinbarung des Code of Conduct, des Maßnahmenpakets gegen unfairen Steuerwettbewerb. ({19}) All diese Vorhaben dienen nicht nur dem Eigenzweck der vertieften Zusammenarbeit, um dem Ziel europäischer Vergemeinschaftung näher zu kommen. Sie dienen zugleich als Voraussetzung für die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union, die in Helsinki beraten wird. Lassen Sie mich daher aus unserer Sicht einige strategische Grundsätze hervorheben. Erstens. Um bei einer erweiterungsbedingten Erhöhung der Zahl der Mitgliedstaaten entscheidungsfähig zu bleiben, wird es bei den institutionellen Reformen maßgeblich darauf ankommen, das Prinzip der Abstimmung mit Mehrheit auszubauen. Von ebenso großer Bedeutung sind die Größe und die Zusammensetzung der Europäischen Kommission und die Stimmgewichtung im Rat. Wir brauchen diese Regierungskonferenz jetzt. Ihr Abschluß Ende 2000 darf nicht gefährdet werden. Herr Stoiber, die Vorstellungen der Union gefährden den Abschluß der Regierungskonferenz 2000. Das wollen wir nicht. ({20}) Eine Ausweitung des Mandats würde die Zustimmungsfähigkeit bei den Mitgliedstaaten enorm erschweren. Mit dem erfolgreichen Abschluß der Regierungskonferenz kann die Europäische Union ihre Zusicherung erfüllen, daß sie 2003 in der Lage sein wird, neue Mitgliedstaaten aufzunehmen. Der Bundeskanzler hat recht: Diese Botschaft ist klar und muß auch herüberkommen. Zweitens. Hinsichtlich Umfang der Erweitung und Auswahl der beitrittsuchenden Staaten müssen die Kopenhagener Kriterien konsequent angewendet werden. Dies gilt sowohl für die inneren wirtschaftlichen und politischen Bedingungen jener Staaten, als auch für den Erhalt der „Stoßkraft der Integration“. Gründlichkeit geht hier vor Schnelligkeit. Drittens. Mit Blick auf die nachlassende Zustimmung der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten und in den Beitrittsländern zum Erweiterungsprozeß bedarf es noch aktiver Überzeugungsarbeit. Aber ich bin mir ziemlich sicher, Herr Ministerpräsident Stoiber, daß man diese Überzeugungsarbeit nicht in dem Geiste leisten kann, den Sie heute morgen hier an den Tag gelegt haben. Dies würde geradewegs zum Gegenteil führen. ({21}) In der Herstellung einer europäischen Öffentlichkeit kann die Charta europäischer Grundrechte von Bedeutung sein. Viertens. Die gemeinsame Außen-, Sicherheitsund Verteidigungspolitik ist neben der Erweiterung und vor dem Hintergrund europäischer Krisen und Konflikte außerhalb der EU das zweite bedeutende Integrationsvorhaben der EU, aber nicht jenseits der NATO, sondern als Verstärkung des europäischen Pfeilers in der Allianz. Eine europäische Verteidigung braucht die Konzentration und Zusammenlegung militärischer Mittel. Es führt kein Weg daran vorbei - dies hörte sich bei Ihnen, Herr Stoiber, so an -, daß wir angesichts der Einsparungen in unserem nationalen Haushalt den Verteidigungshaushalt davon nicht ausnehmen können. Dies war wieder typisch: Ich verstehe ja, bei Ihnen in Bayern gibt es eine Konzentration der Rüstungsindustrie. Aber man kann doch nicht ungeprüft deren Interessen hier vertreten. Dies ist doch verantwortungslos. Wir müssen an der Konsolidierungspolitik festhalten und können deshalb den Verteidigungshaushalt davon nicht ausklammern. Dies geht leider nicht anders, Herr Stoiber. Im Grunde genommen wissen Sie dies auch. Ich möchte Ihnen jetzt keinen Vortrag über die Erblast halten. Die europäische Verteidigung braucht also die Konzentration und Zusammenlegung militärischer Mittel, weil dies langfristig zu einer Einsparung finanzieller Ressourcen führen kann. Wie Sie sehen, meine Damen und Herren von der Opposition: Europa ist bei uns, bei dieser Bundesregierung, aber auch bei dieser Koalition in besten Händen. Vielen Dank. ({22})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000836, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeskanzler hat vor der französischen Assemblée Nationale zu Recht ausgeführt: Europa darf im nächsten Jahrhundert nicht passiver Beobachter sein, sondern muß starker Akteur, muß bei der Schaffung einer neuen globalen Ordnung entscheidend mitbestimmen. Wir von der F.D.P. sind nicht die Besserwisser in der Opposition. Wir beteiligen uns konstruktiv an einer Europapolitik, die Europa die Rolle zubilligt, die wir im nächsten Jahrhundert benötigen. Dies erfordert drei Dinge: Erstens. Europa muß sich kontinental organisieren. Zur Osterweiterung gibt es keine Alternative. ({0}) Auch ich möchte dem verehrten Ministerpräsidenten aus Bayern zurufen und die Begleitstrategie für die Osterweiterung deutlich machen: Wir haben Übergangsprobleme. Die Chancen sind größer als die Risiken. Wir sollten allerdings nicht dieselbe Strategie wie beim Euro wählen: eine tolle Sache, aber tausend Einwände. ({1}) Es darf kein „Ja, aber“ geben. Wir sind für die Osterweiterung und erleichtern den beitrittwilligen Staaten den Weg. Zweitens. Wir brauchen die Unterstützung der Bevölkerung. Drittens. Wir müssen zu einer Stärkung der europäischen Währung zurückkehren, Herr Bundeskanzler. ({2}) Die Euroschwäche am heutigen Tag - es mag Zufall sein - ist kein gutes Testat für die deutsche Wirtschaftspolitik. ({3}) Zehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung ist es an der Zeit, daß sich Europa vereinigt. Es ist und bleibt strategisches Ziel deutscher Politik, gemeinsam mit Frankreich an dieser Vereinigung Europas zu arbeiten. Wir unterstützen das Ziel, die internen institutionellen Reformen der Europäischen Union in einem sehr ehrgeizigen Plan bis Ende 2000 abzuschließen, um in Ruhe das Ratifizierungsverfahren beginnen zu können, damit das Datum, das ich hier immer eingefordert habe, eingehalten werden kann: Zum 1. Januar 2003 muß es reformwilligen osteuropäischen Staaten möglich sein, beizutreten, meine Damen und Herren. ({4}) Das bedarf aber der gemeinsamen Unterstützung. Die Liberalen im Deutschen Bundestag wie auch die Liberalen im Europäischen Parlament, die ich von hier aus herzlich grüße, können sich eine erste Beitrittswelle ohne Polen nicht vorstellen. Deshalb ist es vorrangige Politik zwischen Deutschland und Frankreich, Polen zu helfen, den Weg schneller zurückzulegen. Wir müssen dazu beitragen, daß der Strukturwandel in Polen von der kleinräumigen Landwirtschaft zum Mittelstand schneller vollzogen wird, weil wir ansonsten auch zusammen mit Frankreich nicht erreichen können, daß Polen in der ersten Beitrittsgruppe dabei ist. ({5}) Meine Damen und Herren, die Einräumung eines Kandidatenstatus für die Türkei, Wirtschaftshilfen für bedrohte deutsche Bauunternehmen, Proteste in Seattle zeigen, daß der Strukturwandel, daß die schnelle Osterweiterung, daß der Eintritt in die nächste Welle der Globalisierung einer neuen, besseren Kommunikations- und Begleitstrategie bedürfen. Dies betrifft nicht nur die Europäische Union, sondern auch die Bundesregierung. Wir müssen die Menschen aufklären, daß die Osterweiterung mehr Chancen durch neue Märkte als Gefahren durch internen Wettbewerb bietet. ({6}) Das ist nicht leicht. Aber es ist von allergrößter Wichtigkeit. Es ist eine Frage der politischen Führung. Die Diskussion über die Einführung der europäischen Währung hat gezeigt: Nur wenn die politische Führung von Anfang an ein klares Ziel verfolgt, wenn sie auch gegen anfängliche Widerstände fest bleibt, wird sie am Schluß auch die Unterstützung der Bevölkerung bekommen. Aus der europäischen Begleitstrategie für den Euro sollten wir lernen, was die schnelle Osterweiterung angeht. ({7}) Dazu paßt nicht - Herr Fischer, mehr möchte ich Ihnen heute nicht sagen, weil Sie die Opposition in der letzten Parlamentsdiskussion nicht sehr kollegial behandelt haben; das ist eine Stilfrage -, daß man einerseits der Türkei im Rahmen der NATO-Zusammenarbeit mißtraut, andererseits der Türkei aber einen EUKandidatenstatus einräumt. Da muß man sich klar entscheiden; beides paßt nicht zusammen. ({8}) Kandidatenstatus ohne Verhandlungen mit der Türkei bei gleichzeitigen Verhandlungen mit Ländern wie Bulgarien und Rumänien wird in der Türkei die internen Reformen nicht beschleunigen. ({9}) In der nationalen Diskussion zu sagen, wir wollten die schnelle Osterweiterung, wir hätten selbst Probleme in der Bauindustrie und wir wollten, daß die Türkei Kandidatenstatus bekommt, bringt die Gefahr mit sich, die Menschen zu überfordern. Vorrangig aus Sicht der F.D.P. ist die Osterweiterung und nicht die endgültige Entscheidung, welchen Status die Türkei letztlich in einem lange andauernden Prozeß erhält. Darüber kann man trefflich streiten. ({10}) Herr Bundeskanzler, ein Jahr nach Einführung des wichtigsten europäischen Projektes, des Euro, müssen wir heute in einer Europa-Debatte Bilanz ziehen. Wir - Herr Waigel, den ich leider nicht sehe, der seinerzeitige Bundeskanzler Kohl, Herr Kinkel und die F.D.P. - haben damals vehement für den Euro gekämpft. Wir haben ihn immer als starke Währung gepriesen. Ich sage ganz offen, daß ich mir nie hätte vorstellen können, daß lediglich nach einem Jahr durch rotgrünes Durcheinander, durch Reformunfähigkeit in Deutschland und durch Eingriffe in die Marktwirtschaft, wie etwa bei Holzmann, der Euro auf einem absoluten Tiefpunkt angekommen ist. Wer gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika global eine wichtige Rolle spielen will, dem darf auch der Kurs der europäischen Einheitswährung nicht gleichgültig sein. ({11}) Die Euro-Schwäche ist die Quittung der Märkte für unterlassene Reformen in Deutschland, für Mißachtung marktwirtschaftlicher Gesetze - siehe Holzmann - und auch für überholte nationalistische Töne, wie wir sie ja im Fall Mannesmann gehört haben. Kapital geht nicht in einen Währungsraum, in dem ausländisches Kapital - wie im Fall Mannesmann - unerwünscht ist. Der Fall Holzmann zeigt ja, wie schnell eine Lösung medienwirksam gestrickt wurde. Inzwischen streiten sich die Gewerkschaften über den Haustarif. Inzwischen höre ich von Herrn Monti, daß die Beihilfe noch nicht gezahlt werden kann, weil die sorgfältige Prüfung der Hilfen für Holzmann noch aussteht. Inzwischen erleben wir eine tiefe Frustration des deutschen Mittelstandes, weil einem bankrotten Unternehmen mit Steuermitteln des Mittelstandes geholfen wurde. Auch das trägt nicht zu unserem internationalen Ansehen bei. ({12}) Herr Bundeskanzler, wer in der Assemblée Nationale zu Recht „l'Europe puissance“, also ein starkes und mächtiges Europa, fordert, der muß zunächst in Deutschland seine Hausaufgaben erledigen, weil Deutschland das wichtigste Euro-Land ist. Herr Struck hatte einmal einen richtigen Einfall, als er das Steuermodell der F.D.P. mit Steuersätzen von 15, 25 und 35 Prozent gefordert hat. Danach wurde er von seiner eigenen Fraktion fast massakriert. ({13}) Statt dessen basteln die Sozialdemokraten vor ihrem Parteitag erneut an einer Neidsteuerdiskussion. Auch das wird zu einer weiteren Schwächung der europäischen Währung beitragen. ({14}) Die Wahrheit ist: Nur durch eine echte Steuerreform und durch eine moderne Tarifpolitik, die dem Mittelstand Öffnungsklauseln bietet, schafft man neue Arbeitsplätze, beseitigt man strukturelle Defizite und stärkt damit auch die europäische Währung. Europa ist sehr viel mehr als ein Binnenmarkt mit einer gemeinsamen Währung. Europa lebt von einer gemeinsamen Vision. Die Einführung des EuroBargeldes für die Europäer Anfang 2002 wird zur Vollendung des Binnenmarktes beitragen. Die Politische Union mit einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und einem einheitlichen Raum für Freiheit und Recht wird zwar noch etwas auf sich warten lassen; aber sie wird es zwangsläufig geben. Eine wirtschaftliche Supermacht wie die Europäische Union kann aber nicht ohne eine kulturelle und politische Dimension überleben. Auf die Dauer kann Europa nur erfolgreich sein, wenn es eben auch in den Herzen und Köpfen der Menschen stärker als bisher verankert ist. Dies ist eine Aufgabe, der sich alle Parteien im Deutschen Bundestag stellen müssen. ({15}) Es geht letztlich darum, ein Leitbild vom künftigen Europa zu entwickeln. Wir brauchen eine breite öffentliche Diskussion über Sinn und Zweck dieses Europas. Ich unterstütze die Meinung des Bundeskanzlers, die er vor der Assemblée Nationale geäußert hat. Europa leitet sich heute nicht mehr nur von der Verhinderung von Kriegen ab. Europa bedarf vielmehr einer neuen Legitimation. Diese liegt vor allem darin, daß Europa die Ebene zwischen dem Nationalstaat, der in seinen Steuerungsmöglichkeiten eingeschränkt ist, und internationalen Organisationen, wie WTO und UNO, darstellt, die aber nur in Ansätzen globale Regelungen anwenden. Die Europäische Union ist also die mittlere Ebene. Sie gibt den Weg der nationalen Volkswirtschaften in die globale Wirtschaft vor. Diese neue und wichtige Bedeutung für Europa muß insbesondere mit der jungen Generation stärker diskutiert werden. ({16}) Wir Liberalen sind der Auffassung, daß die jetzt begonnene Diskussion über eine europäische Grundrechtscharta der erste Schritt auf dem richtigen Weg zu einer künftigen Verfassung sein kann. Wir setzen zunächst auf die Weiterentwicklung der europäischen Verträge zu einer späteren Verfassung. Neben den Freiheits- und Schutzrechten für die Bürger muß es aber auch zu einer klareren Kompetenzaufteilung zwischen den einzelnen Ebenen kommen. Dabei muß dem Prinzip der Subsidiarität eine entscheidende Bedeutung zukommen. Subsidiarität ist aus unserer Sicht Ausdruck des Prinzips der Freiheit. Europa darf nur das entscheiden, was Nationalstaat, Bundesländer, Kommunen und der Bürger selbst nicht entscheiden können. Die europäischen Bürger brauchen diese Vision von Europa. Europa muß bürgernah sein und dem Bürger den Eindruck verschaffen, daß europäische Lösungen der richtige Weg sind, um die Herausforderungen der Globalisierung zu bestehen. Vielen Dank. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Christian Sterzing, Bündnis 90/Die Grünen.

Christian Sterzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002810, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Tatsache, daß sich Herr Haussmann hier wieder als ein überzeugter Europäer dargestellt hat, hat uns nicht überrascht. ({0}) Wir glauben Ihnen das alles. Daß aber Herr Stoiber hier den Versuch unternommen hat, als „bayerischer Häkkinen“ des europäischen Integrationsprozesses aufzutreten, war für uns heute morgen ein neues Erlebnis. ({1}) Ich glaube, man muß ihm sagen, daß man Formel-1Rennen auch im schnellsten Auto nicht gewinnen kann, wenn man ständig auf der Bremse steht. Das hat er nämlich wieder sehr deutlich dokumentiert. ({2}) In den letzten Jahren zehrte die CDU/CSU von dem guten europapolitischen Ruf ihres Altkanzlers. Aber seitdem dieser Lotse von Bord gegangen ist - nach der Spendenaffäre muß man vielleicht sagen: über Bord gegangen ist -, wird deutlich, daß sich hinter diesen vollmundigen Bekenntnissen zur europäischen Integration doch ein ziemliches konzeptionelles Durcheinander und konzeptionelle Widersprüche verbergen. ({3}) Dies wird sehr deutlich, wenn man sich genauer anschaut, was hier zur Osterweiterung und zu den institutionellen Reformen gesagt worden ist. Helsinki wird ein Erweiterungsgipfel sein. Ich glaube, wir sind uns durch die Bank darin einig, daß diese Entscheidung, den Kreis der Beitrittsländer, mit denen jetzt konkret verhandelt werden soll, zu erweitern, eine gute Entscheidung sein wird. Damit wird nicht zuletzt ein Beschluß des Luxemburger Gipfels von 1997 korrigiert. Denn dieser Beschluß hat dazu geführt, daß sich viele Länder der sogenannten zweiten Gruppe diskriminiert fühlten. Natürlich wird es notwendig sein, auch in Zukunft im Beitrittsprozeß zu differenzieren, je nach den Fortschritten, die die einzelnen Länder im Reformprozeß bei der Übernahme des Acquit machen. Es muß jedoch deutlicher als bisher sein, daß das Leitmotiv lauten muß: differenzieren, aber nicht diskriminieren. Was sich jetzt an Beschlüssen in Helsinki abzeichnet, wird, so hoffen wir, die Länder der sogenannten zweiten Gruppe motivieren, sich in diesem schwierigen Prozeß der Heranführung an die Europäische Union weiterhin anzustrengen. Sie haben sogar die Chance, andere Länder zu überholen. Natürlich gibt es keine Rückkehr zum alten Startlinienmodell. Die Länder der ersten Gruppe stehen nicht mehr an der Startlinie, sie sind gestartet. Die sechs neuen Länder haben jetzt die Chance, auch loszurennen, die anderen Länder einzuholen, ja vielleicht sogar zu überholen. Dafür verdienen sie alle unsere Unterstützung. ({4}) Aber man muß deutlich sehen: Sie haben das Handicap eines Verhandlungsrückstandes von fast zwei Jahren. Vielleicht ergibt sich aber die Chance, daß sie von den Erfahrungen, die bisher gesammelt worden sind, profitieren können und diese Erfahrungen in ihren Heranführungsprozeß einbringen. Die Widersprüchlichkeit dessen, was Herr Stoiber gesagt hat, besteht darin, daß das Bekenntnis zum Erweiterungsprozeß zwar immer wieder erfolgt, danach aber im Grunde nur noch die Mängel, die Fehler, die Risiken und die Gefahren aufgezählt wurden. Man muß sich fragen, warum Herr Stoiber nicht deutlich sagt, von welch fundamentaler Bedeutung diese Erweiterung gerade auch für Deutschland ist. ({5}) Man sollte nicht nur vor den Gefahren drohender Migration, billiger Arbeitskräfte, billiger Waren und ähnlichem warnen, sondern sollte hier auch erwähnen, daß dieser Beitrittsprozeß schon heute dazu beiträgt, daß in Bayern und auch in den neuen Ländern viele Arbeitsplätze gesichert werden. ({6}) Wir erwarten vom Europäischen Rat in Helsinki die Aufwertung des Status der Türkei. Ich glaube, daß wir hier einen sehr wichtigen Schritt tun. Er ist auch eine Korrektur der Beschlüsse von Luxemburg, die zu einer verheerenden Verschlechterung im europäisch-türkischen Verhältnis geführt haben. ({7}) Wir haben die Hoffnung, daß die Türkei durch diese glaubwürdige Beitrittsperspektive einen Anstoß erhält, die dringend notwendigen inneren Reformen durchzuführen. Wir wollen damit gerade die Kräfte in der Türkei unterstützen, die diese Orientierung hin auf Europa durchführen und in der Türkei dafür kämpfen. ({8}) Wir machen damit Schluß mit einer sehr doppelbödigen, ja teilweise verlogenen Politik gegenüber der Türkei, wie wir sie in den letzten Jahren beobachtet haben. Wir wissen, daß diese doppelbödige Politik der letzten Jahre in der Türkei eben nichts an Reformen bewirkt hat, die wir alle so sehr gewünscht haben. Natürlich ist nicht sicher, ob wir mit unserer neuen Politik das anstoßen können, was wir uns erhoffen. Wir geben aber doch ein sehr deutliches Signal. ({9}) Mit dieser Aufwertung des Status der Türkei ist natürlich keine Aufweichung der politischen Kriterien von Luxemburg verbunden. Wir machen vielmehr sehr deutlich, welche Reformen in den Bereichen Demokratie und Menschenrechte, welche Änderungen in der türkischen Haltung zum Kurdenproblem und zum Zypernproblem notwendig sind, damit die Türkei den Status erreicht, der es der EU möglich macht, die Türkei zu konkreten Beitrittsverhandlungen einzuladen. Aber davon sind wir - das wissen wir alle - noch weit entfernt. Von Helsinki soll folgendes Signal an die Türkei ausgehen: Ihr könnt dazugehören - wenn ihr wollt und wenn ihr die notwendigen Anstrengungen unternehmt. Ihr müßt aber selber entscheiden, ob ihr euch mehr nach Osten oder mehr nach Westen orientiert, mehr nach Beirut und Bagdad oder mehr nach Brüssel. Das ist das Signal, das von Helsinki ausgehen soll. ({10}) Im Zusammenhang mit den Entscheidungen über die weitere Gestaltung des Erweiterungsprozesses steht natürlich auch die Frage, wie die Regierungskonferenz im nächsten Jahr durchgeführt werden und welche Aufgaben sie haben soll. In Köln erfolgten dafür wichtige Weichenstellungen. Ich will hier aber deutlich sagen, daß auch wir glauben, daß das in Köln beschlossene Mandat für die Regierungskonferenz etwas sehr bescheiden ausgefallen ist. Der Reformstau in der EU ist sehr groß. Da muß man von den beteiligten Regierungen schon etwas mehr Ehrgeiz erwarten können. Deshalb fordern wir durchaus eine Erweiterung der Tagesordnung, allerdings unter der Bedingung - das muß deutlich gesagt werden -, daß der Abschluß der Regierungskonferenz Ende des Jahres 2000 unter französischer Präsidentschaft nicht gefährdet wird. Sicherlich lohnt sich hier noch einmal der Hinweis auf die Position von CDU/CSU, die auf der einen Seite ebenfalls die Notwendigkeit des rechtzeitigen Abschlusses betont, auf der anderen Seite aber die Tagesordnung völlig überfrachten will. Denn es muß nach den Erfahrungen der letzten Jahre doch schon klar sein, daß die Realisierung der Forderungen aus dem Dehaene-Bericht, eine Realisierung der Reformvorstellungen des Europäischen Parlaments innerhalb eines Jahres, nun wirklich nicht möglich ist. ({11}) Man muß natürlich auch fragen, wieso diese neue Regierung nun in einem Jahr in der Regierungskonferenz all das an Reformen schaffen soll, was die alte Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. in den 16 Jahren ihrer Regierungszeit und während dreier Regierungskonferenzen nicht hat durchsetzen können. ({12}) Und da ist der berühmte Kompetenzkatalog nur ein Beispiel. Also, das Motto für die Regierungskonferenz sollte nicht sein: So wenig wie nötig. Das kann nicht gelten. Wir müssen dieses Motto umformulieren und sagen: So viel wie möglich, damit wir aus dem Reformstau herauskommen und auch den Erweiterungsprozeß beschleunigen. Denn der von Herrn Stoiber konstruierte Gegensatz zwischen Vertiefung und Erweiterung besteht nicht. Wir haben in den letzten Jahren doch alle sehr stark dafür gearbeitet, deutlich zu machen, daß sich Vertiefung und Erweiterung gegenseitig bedingen und daß nur auf diese Art und Weise der europäische Integrationsprozeß weitergebracht werden kann. Schließlich noch zwei Randbemerkungen zur Regierungskonferenz. Die erste Bemerkung. Die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen im Rat steht auf dem Programm. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Handlungsfähigkeit der EU, aber auch zur Demokratisierung, weil mit der Mehrheitsentscheidung dann auch das Mitentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments verbunden ist. Wir wollen hier aber auch deutlich sagen, daß wir von den Ressortministern dieser Regierung eine wesentlich größere Bereitschaft und konstruktive Vorschläge für diese Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen erwarten, eine weit größere Bereitschaft, als sie die Ressortminister der alten Regierung gezeigt haben. Denn eine Neuaufführung dieses Trauerspiels von lauter Ressortegoisten wollen wir auf der neuen Regierungskonferenz nicht wieder erleben. Die zweite Bemerkung: Wir erwarten natürlich - und dies wurde ja vorhin vom Bundeskanzler auch deutlich gesagt - eine wesentlich stärkere Beteiligung des Europäischen Parlaments an dieser Regierungskonferenz. Es liegt am Ende des Jahres nahe, Bilanz zu ziehen. Es war ein sehr schwieriges Jahr für Europa, ein schwieriges Reformpaket mit der Agenda 2000, der Kommissionskrise, dem Krieg im Kosovo, den Europawahlen. Aber der Integrationsprozeß ist, glaube ich, aus diesem Tief wieder herausgekommen, und wir können deutlich feststellen, daß die deutsche Bundesregierung während ihrer Präsidentschaft, aber auch über das ganze Jahr hinweg sehr deutlich daran mitgewirkt hat, der Integration neue Perspektiven aufzuzeigen. Wir werden in dieser Regierung alle gemeinsam diesen Weg weitergehen. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Uwe Hiksch, PDS-Fraktion.

Uwe Hiksch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002677, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Europa ist für viele Menschen eine große politische Vision. Es ist eine politische Vision, weil die Menschen mit Europa die Werte von Frieden, von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit verbinChristian Sterzing den. Damit die Menschen diese Werte aber auch als Zentrum der europäischen Integration sehen können, müssen die Politiker in Europa, müssen die Regierungen in Europa den Schwerpunkt auf die Durchsetzung dieser Werte legen. Ich glaube, es ist wichtig, daß die Politiker bei allen Diskussionen über Europa - die reaktionäre Rede von Herrn Stoiber hat ja deutlich gemacht, wie Mißstände, die es in Europa gibt, dafür benutzt werden sollen, Ängste zu schüren und die europäische Integration kaputtzumachen - klarmachen, daß die europäische Vision darin bestehen muß, einen Beitrag zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit zu leisten, ({0}) einen Beitrag dafür zu leisten, daß soziale Standards in Europa durchgesetzt werden, und einen Beitrag dafür zu leisten, daß in Europa der Ausbau von Demokratie und der Ausbau von Menschenrechten im Mittelpunkt europäischer Politik stehen. Deshalb ist die Forderung der PDS, daß auf dem Gipfel in Helsinki auch über die Beschäftigungspolitik und darüber diskutiert werden muß, wie Massenarbeitslosigkeit bekämpft und wie für Europa eine beschäftigungspolitische Strategie entwickelt werden kann, eine richtige Forderung, weil sie auf der einen Seite die positive Vision für Europa aufnimmt und auf der anderen Seite deutlich macht, daß die Ängste und Sorgen der Menschen gesehen werden und daß sich die Politik dieser annimmt. ({1}) Europa ist für die politische Linke, ist für Sozialistinnen und Sozialisten aber auch ein Beitrag dafür, daß der Internationalisierung von Kapital- und Finanzströmen auf der einen Seite, der Internationalisierung von Unternehmensstrukturen auf der anderen Seite eine zivilgesellschaftliche, eine demokratische, eine politische, eine humanistische Perspektive entgegengesetzt wird und daß die Menschen spüren, daß es nicht angehen kann, daß sich nur undemokratische Kapitalströme durchsetzen und daß demokratische Strukturen auf der Strecke bleiben. Deshalb sehen wir vom Gipfel von Helsinki ganz wichtige Weichenstellungen ausgehen. Wir als Partei des Demokratischen Sozialismus glauben, daß Europa in zwei Richtungen reformbedürftig ist. Zum einen ist es reformbedürftig, weil wir glauben, daß demokratische Institutionen wie das Europäische Parlament vorangebracht werden müssen, und weil wir glauben, daß über die Frage der Macht der Kommission und der Stimmengewichtung der Kommission geredet werden muß. Zum anderen ist es reformbedürftig, weil wir glauben, daß in Europa die Diskussion über Beschäftigung und Massenarbeitslosigkeit im Mittelpunkt stehen muß. ({2}) Deshalb glauben wir, daß bei der Diskussion über die Frage, wie eine Beitrittsstrategie aussehen muß, immer wieder deutlich gemacht werden muß, daß der Acquis communitaire, nämlich die Übernahme der in Europa erkämpften und durchgesetzten Normen und gesetzlichen Grundlagen, im Mittelpunkt der Beitrittsstrategien stehen muß, weil wir nicht glauben, daß Europa in den Köpfen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Menschen mehrheitsfähig wird, wenn wir nicht die ökologischen und sozialen Standards, die wir gemeinsam in Europa erkämpft haben, wenn wir nicht die Sicherheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und wenn wir nicht die Rechte der freien Gewerkschaften in den Mittelpunkt eines Beitrittsprozesses der Kandidaten stellen. ({3}) Deshalb betonen wir, daß wir glauben, daß Beitrittskandidaten die Kopenhagener Kriterien erfüllt haben müssen und daß Beitrittskandidaten Werte wie Menschenrechte, Werte wie Demokratie und Werte wie Schutz von Minderheiten erfüllt haben müssen, damit in konkrete Beitrittsverhandlungen eingetreten werden kann. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die PDS möchte, daß die Türkei eine klare europäische Perspektive bekommt, weil wir glauben, daß das Gerede mancher Konservativer vom christlich-abendländischen Bollwerk Europas eine falsche Perspektive für Europa gewesen ist ({4}) und viele Staaten Europas verunsichert hat. Wir wollen aber, daß die Kopenhagener Kriterien als Voraussetzung für einen solchen Kandidatenstatus gesehen werden. Deshalb glauben wir, daß es in einer Türkei, die wir ausdrücklich als Mitglied der Europäischen Union haben wollen, in der aber eine Unterdrückung von Gewerkschaften und eine Unterdrückung von Demokraten zu erleben sind, in der die Demokratie nicht funktioniert und in der das Militär faktisch herrscht, ein falsches Signal wäre, wenn man der politischen Klasse andeuten würde, daß man sie schon heute - zu einem Zeitpunkt, in dem sie die Kopenhagener Kriterien nicht erfüllt hat zu einem Beitrittskandidaten macht. ({5}) Die PDS tritt deshalb dafür ein, daß man der Türkei ein deutliches Signal in Helsinki gibt, daß sie in Europa willkommen ist, daß die Entscheidung in der Frage des Kandidatenstatus aber noch einmal verschoben werden sollte. ({6}) Die PDS möchte ein Europa des Friedens. Wir glauben, daß ein Europa, das auf wirtschaftliche, ein Europa, das auf soziale Entwicklung ausgerichtet war, ein richtiges Europa war. Jetzt aber soll in Helsinki und im nachfolgenden Prozeß ein neues Europa gestaltet werden. Es soll nämlich die Westeuropäische Union in die Europäische Union integriert werden. Damit wird in Europa faktisch eine Militarisierung in Gang gesetzt. ({7}) Durch diese Militarisierung der Europäischen Union wird der globale Rüstungswettlauf noch einmal vorangetrieben, werden materielle und geistige Ressourcen, die in Europa eher dafür gebraucht würden, um SozialUwe Hiksch politik voranzubringen, in militärischen Projekten gebunden. Wir glauben, daß es falsch ist, in Europa militärische Komponenten zu integrieren. Wir treten ausdrücklich dafür ein, Europa auf eine ausschließlich zivilgesellschaftliche und menschliche Orientierung auszurichten. ({8}) Deshalb ist die PDS der tiefen Überzeugung, daß die Schritte zur Militarisierung - diesen Weg geht Europa ja - dazu führen werden, daß die guten Beziehungen, die die Europäische Union zu Rußland aufgebaut hat, indem sie einen Beitrag dazu geleistet hat, daß Rußland die Angst vor einer Umschnürung genommen wurde, sich verschlechtern werden. ({9}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, für die PDS ist Europa ein Europa der Menschen. Aus diesem Grunde wollen wir ein ziviles Europa, ein Europa für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ein Europa, das den Ausbau des Sozialstaates in den Mittelpunkt stellt. Ein Europa des Militärs lehnen wir ab. Danke schön. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Günter Gloser, SPD-Fraktion.

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! „Das jetzige Haus … - das europäische Haus genügt nicht in der Reichweite“, Europa brauche „eine Verjüngung“, eine Erweiterung - und er meint eine Verjüngung der Ideen, der Kultur, der Modernität und der Stimmung. So ein Politiker aus der Provinz - das meine ich in keinster Weise negativ. Es handelt sich um den Präsidenten der autonomen Landesregierung von Katalonien. Mit solchen Aussagen befördert man eine pro-europäische Stimmung, Herr Ministerpräsident. Mit Ihrer Rede haben Sie gerade das Gegenteil bewirkt. ({0}) Es ist wichtig, was in diesem Zusammenhang in dieser Debatte gesagt wird, aber auch das, was die CSU, Sie an erster Stelle, sowie andere Kolleginnen und Kollegen über den laufenden Prozeß der Erweiterung sagen. Ihr Europaminister - es war, glaube ich, gestern in Brüssel - sprach von einer Hurra-Erweiterung. Herr Ministerpräsident, ich frage Sie: Sind das richtige Begriffe angesichts eines so sensiblen Themas? Ich kann ja verstehen, daß Sie aus Ihrer bajuwarischen Alpenfestung manches etwas anders betrachten als andere Politikerinnen und Politiker. Angesichts dieses Sprachgebrauches erwarte ich von Ihnen eine Klarstellung in der Richtung, daß zur Fortsetzung des Friedensprozesses eine zügige Erweiterung um die osteuropäischen Länder nötig ist. Der Kollege Joachim Poß hat das noch einmal deutlich gemacht. Es kam mir schon etwas merkwürdig vor, daß vor einem Jahr die neue Bundesregierung - das haben wir zum Teil auch in Gesprächen mit Botschaftern erfahren - einer sehr reservierten Haltung und einer großen Zurückhaltung begegnet ist, nur weil der Bundeskanzler davon gesprochen hat, eine realistische Europapolitik machen zu wollen. Er hatte aber nur gesagt, daß alle konkreten Daten zu überprüfen seien und daß erst dann zu entscheiden sei. Sie von der Union haben doch den osteuropäischen Ländern viel zu frühe Daten genannt. Für Polen hat man einen Beitritt im Jahre 2000 in den Blick genommen. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, all das hat falsche Erwartungen geweckt. Die jetzige Perspektive ist aber ganz eindeutig: Die Europäische Union soll zum 1. Januar 2002 erweiterungsfähig sein. Das ist eine gute Perspektive, um den Ländern die Möglichkeit zu geben, sich auf den Beitritt vorzubereiten. ({2}) Herr Ministerpräsident, ich bin gerade angesichts der Tatsache, daß wir aus demselben Bundesland kommen, immer wieder über die von Ihnen verinnerlichte Doppelstrategie überrascht. Man kann es eigentlich gar nicht besser machen. Sie zeigen sich hier und an entsprechenden Stammtischen oder bei Diskussionen immer skeptisch gegenüber einer zügigen Osterweiterung. Kaum ist aber ein Ministerpräsident eines dieser Länder bei Ihnen zu Gast, oder Sie sind dort zu Gast, höre ich aus der bayerischen Staatskanzlei immer: Herr Stoiber setzt sich für einen zügigen Beitritt ein. ({3}) Bleiben Sie doch einmal bei Ihrer Linie! Vollziehen Sie in europapolitischen Fragen nicht immer eine Geisterfahrt! Das ist mittlerweile nicht mehr zu vertreten. ({4}) Zu einem anderen Aspekt, den Sie immer wieder anführen. Sie haben in einem kürzlich veröffentlichten Interview mit dem „Focus“ - es ist gut, daß man bei uns alles nachlesen kann - Prodi kritisiert, auch heute wieder, und vor Panikmache gewarnt. Aber er hat dies so gar nicht gesagt. Sie sollten sich einmal die entsprechenden Kriterien ansehen; es wird nichts aufgeweicht. Letzten Mittwoch im Europaausschuß, als sämtliche Botschafter der Beitrittsländer zu Gast waren, ist doch deutlich geworden, daß sie selbst um die Schwierigkeiten in ihrem Land wissen, aber auch um die Chancen. Bisher gab es im Bundestag immer den Konsens, sich nicht nur kritisch zu äußern und nicht nur die Probleme zu sehen, sondern auch die Chancen einer OsterweiteUwe Hiksch rung der Europäischen Union. Das sollte deutlich gemacht werden. ({5}) Sie sprechen zu Recht die Probleme an. Darüber, Herr Ministerpräsident, besteht überhaupt kein Dissens: Bei diesem Prozeß muß man die Mitbürgerinnen und Mitbürger mitnehmen. In der Tat geht es nicht nur um die Menschen in den beitrittswilligen Ländern, sondern auch um die Menschen in den Ländern, die bereit sind, die Beitrittskandidaten aufzunehmen. Ich gebe Ihnen recht, daß es Probleme gibt - in Bayern, aber auch in Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg; darauf werden die Kolleginnen und Kollegen noch eingehen. Jetzt aber geht es darum, den Menschen bei uns deutlich zu machen, welche Chancen dies für sie bedeutet, welche Instrumentarien eingesetzt werden, um diesen Prozeß zu bewerkstelligen und zu begleiten. Insofern sollten Sie dem Auftrag, den wir als Politiker haben, nachkommen und mehr Informationen geben, statt zu desinformieren und Panik zu machen; denn genau das haben Sie in den letzten Wochen getan. ({6}) Sie haben zu Recht gesagt, es müsse informiert werden. Ich frage mich aber: Was ist in den letzten Jahren, in der Regierungszeit von CDU/CSU getan worden, um Entsprechendes zu tun, damit die Menschen bei uns nicht verunsichert werden, damit sie bei diesem Prozeß mitgenommen werden können? Sie haben wieder einmal - das ist Ihr Lieblingsthema - die Frage der Subsidiarität angesprochen. Wenn Herr Stoiber dies anspricht, hat es immer eine pikante Note. ({7}) - Nein, lieber Herr Kollege Glos, ich spreche nur den Widerspruch an. - Auf europäischer Ebene stellt er sich als der hundertprozentige Föderalist dar. Wenn er auch zu Hause, in seinem Bundesland Bayern, von diesem Geist geprägt wäre, dann wäre dies gut. Dann wäre auch manches Argument, das Sie, Herr Stoiber, angeführt haben, glaubwürdiger. ({8}) Sehr geehrter Herr Stoiber, Sie haben - das ist allseits bekannt - eine sehr personalintensive Staatskanzlei. Abgesehen davon, daß in den letzten Jahren und Jahrzehnten schon längst konkrete Vorschläge für einen solchen Kompetenzkatalog hätten kommen können, stellen Sie sich doch die Frage - in diesem Punkt möchte ich Herrn Kollegen Sterzing beipflichten -: Was kann ich in dieser Zeit erreichen? Was kann ich regeln? Dies muß doch in den Ländern in Osteuropa als Signal aufgefaßt werden: Hoppla, die beschäftigen sich jetzt wieder mit sich selbst! Wir alle kennen doch das Ratifizierungsverfahren. Dann wird das Zieldatum eben nicht erreicht. Aber genau dann haben wir das Problem: Wir haben bei den Menschen und den Regierungen Erwartungen geweckt und befassen uns jetzt mit uns selbst. Dies sollte realistisch betrachtet werden. ({9}) Wir können gerne eine Debatte darüber führen. Der Anfang ist bereits mit dem Subsidiaritätsprotokoll gemacht worden. Dies wird sicherlich eine spannende Debatte werden. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Jahr geht langsam zu Ende. ({10}) - Wenigstens ein Datum, bei dem Sie mir beipflichten können. - Der Bundeskanzler ist zu Recht auf dieses eine Jahr eingegangen. Ich möchte dieser Regierung deshalb Dank sagen für das, was Sie in ihrer Präsidentschaft erreicht hat. ({11}) - Über Konten sprechen wir gleich noch, Herr Kollege Glos. Die Rahmenbedingungen sind bereits geschildert worden. Wir haben vieles erreicht - das können Sie von der Opposition hin- und herwenden, wie Sie wollen -: im Bereich der Finanzierung, in bezug auf die Eigenmittel der Europäischen Union. Wir haben es geschafft, die Länder aufnahmefähig zu machen. Und noch eines ist erreicht worden - das haben Sie in Ihrer Regierungszeit nicht geschafft -, nämlich eine Nettoentlastung für die Bundesrepublik Deutschland. ({12}) - Daß Sie mit Zahlen nicht gut umgehen können, das haben wir in den letzten Tagen erfahren. ({13}) Wenn ich sehe, daß das Mitglied des Europäischen Rechnungshofes Herr Bernhard Friedmann, der unserer Partei nicht unbedingt nahesteht, darstellt, welche Nettoentlastung auf die Bundesrepublik zukommt, so sollte man das ernst nehmen, und Sie sollten nicht ständig mit falschen Zahlen im Lande herumreisen. ({14}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist heute ein Beitrag des Kollegen Dr. Müller von der CSU erschienen - er ist natürlich ein treuer Vasall seines Ministerpräsidenten -, in dem er von einer Entparlamentarisierung spricht. Ich glaube, nachdem Herr Dr. Müller seit 1994 im Bundestag ist und dem Europaausschuß angehört, sollte er einmal einen Blick - da sind Sie, lieber Herr Kollege - in den entsprechenden Artikel des Grundgesetzes werfen. Sie sollten sich auch einmal die Geschäftsordnung ansehen. Sie wissen ganz genau, wie das Verhältnis zwischen deutschem Parlament und Bundesregierung in bezug auf Vorinformationen und Vorberatungen ist. Sie sollten keine falschen Stichworte in die Welt setzen, um zu suggerieren, daß wir keine Mitspracherechte mehr hätten. Viele andere Länder der Europäischen Union beneiden uns um die Möglichkeit eines gesonderten Ausschusses für Europafragen, aber auch um die Möglichkeit des deutschen Parlaments in Europafragen mitzuwirken. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Gloser, gestatten Sie eine Zwischenfrage des angesprochenen Kollegen Müller?

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber bitte. Er ist ja gerade erst gekommen. ({0})

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich danke für die lobende Erwähnung und bitte Sie: Können Sie dem Hohen Haus ausführen, in welcher Weise der Deutsche Bundestag in Kernfragen der europäischen Rechtsetzung ein echtes Mitwirkungs- und Mitentscheidungsrecht hat? Ist es nicht vielmehr so, daß wir in Kernfragen der europäischen Rechtsetzung - hier denke ich beispielsweise an die Agenda 2000, an die Strukturreform, an die Finanzstruktur, an die Asylgesetzgebung - nur ein Anhörungsrecht, eine Informationspflicht der Bundesregierung haben? Wir haben bis heute keine Diskussion zu den Agenda 2000-Beschlüssen geführt und keine Abstimmung darüber gehabt. Wir werden damit im Kern unserer Zustimmungsmöglichkeit enthoben. Können Sie dem Hohen Haus die Mitwirkungsrechte darlegen?

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Dr. Müller, ich habe gerade erwähnt, daß Sie wie ich seit 1994 im Deutschen Bundestag sind. Wir gehören beide demselben Ausschuß an. Sie kennen die entsprechenden Regularien, die ablaufen, genau. Wir sind dabei in unseren Auffassungen nicht weit auseinander, denn Sie haben in Ihrer Regierungszeit und wir bei unserer Regierung immer darauf gedrängt, daß wir vor entsprechenden Entscheidungen, vor entsprechenden Gipfeln von der Bundesregierung nicht mehr nur unterrichtet werden, sondern daß wir auch die Möglichkeit haben - erinnern Sie sich an die Diskussion der letzten Legislaturperiode -, entsprechende Auffassungen und Entscheidungen des entsprechenden Ausschusses oder des Parlaments mitzugeben. Ich habe damit überhaupt kein Problem, daß man das alles noch ausgestalten kann. Bei der Frage, wie eine demokratische Komponente auch in bezug auf das Europäische Parlament hergestellt werden kann, befinden wir uns in der Diskussion und haben uns dafür ausgesprochen, mehr Rechte dorthin zu geben und in einem Zusammenspiel zu sein. Aber hier von einer Entparlamentarisierung zu sprechen, ist ein Schritt, den Sie zuviel getan haben. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Schluß eines Jahres zieht man Bilanz. Ich denke, die rotgrüne Bundesregierung kann gerade auch in Sachen europäischer Politik ein Guthaben vorweisen. In den letzten Tagen wurde immer nur über Konten gesprochen. Hierzu kann ich sagen: Das Konto der von der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen geführten Bundesregierung ist positiv. Dieses Konto muß nicht verheimlicht werden. Das Guthaben kann in das Jahr 2000 mitgenommen werden. Ich kann im Namen meiner Fraktion der Bundesregierung für den Gipfel in Helsinki viel Erfolg wünschen. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Schäuble, Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU, das Wort.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Gloser, nicht nur das Jahr geht zu Ende, sondern ein ganzes Jahrhundert geht zu Ende. ({0}) - Ein Jahrtausend auch; wie Sie wollen. Wir stehen an der Schwelle eines neuen Jahrhunderts. Ich finde, mit zum Besten und Wichtigsten, was wir in dieses neue Jahrhundert mitnehmen, gehört die europäische Einigung. ({1}) Die Chance, zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, dem Ende des Ost-West-Konflikts ganz Europa zu einem großen starken Europa zu einen, ist eine so großartige Aufgabe - es ist wahrscheinlich das beste, was wir aus diesem so schwierigen Jahrhundert in das neue mitnehmen -, daß wir in dieser Debatte vor allem das den Menschen in unserem Lande sagen müssen. Wir haben keine größere Chance, als ein großes starkes Europa zu bauen. Daran arbeiten wir. ({2}) Deswegen ist die EU-Erweiterung natürlich eine Chance für alle in Europa, für die Beitrittskandidaten wie für alle Mitglieder der Europäischen Union, vor allem für Deutschland, das mitten in Europa liegt. Dieses Deutschland hat keine bessere Zukunftsperspektive als die, daß wir in Süd und Nord und Ost und West von lauter Freunden und Partnern umgeben sind. Das ist die große Herausforderung, die große Chance der europäischen Einigung. Natürlich wird die Erweiterung für die Kandidaten wie für die Europäische Union auch große Herausforderungen, große Übergangsprobleme mit sich bringen. Wir wissen das in Deutschland auf Grund der Erfahrungen in den letzten zehn Jahren. ({3}) Deswegen ist es völlig richtig - ich habe auch nicht verstanden, was Sie in der Debatte für Buhmänner aufgebaut haben -, daß der bayerische Ministerpräsident gesagt hat, wir müssen die Debatten so führen, daß die Menschen die Chancen begreifen und daß sie sicher sind, daß die Risiken beherrschbar sind und die damit verbundenen Herausforderungen bewältigt werden können. ({4}) - Doch, genauso hat er es gemacht, und so ist es auch richtig. ({5}) Sie können Europa, gerade weil es so wichtig ist und weil es so ungeheuere Veränderungen, so viel Unabsehbares mit sich bringt, nicht gegen die Menschen und über die Köpfe der Menschen hinweg bauen. ({6}) Bei den Debatten, die wir hier führen, auch bei der, die wir in den letzten anderthalb Stunden geführt haben - ich sage das ganz selbstkritisch -, habe ich mich angesichts der Herausforderungen gefragt, ob wir damit die Menschen erreichen, wenn sie uns zuhören. Deswegen sage ich Ihnen: Lassen Sie uns doch nicht die falschen Fronten aufbauen. Wir alle wollen die Erweiterung, und wir wollen sie so rasch wie möglich. Aber wir wissen, die Beitrittskandidaten stehen vor großen Herausforderungen, und auch wir in der Europäischen Union müssen eine Menge leisten. Wir haben eine Menge vor. Was dieses Hin und Her angeht: Natürlich ist es die Aufgabe der Opposition, die Regierung zu kritisieren. Loben tun Sie sich selbst wirklich genügend; das brauchen wir nicht auch noch zu machen. (

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Inzwischen!) Im übrigen stammt der Satz: „Es muß damit aufgehört werden, daß in Brüssel das Geld der deutschen Steuerzahler verbraten wird“ von Ihnen, Herr Schröder, und nicht von Herrn Stoiber. Auch daran muß man ja wohl erinnern. ({0}) Da Sie gesagt haben, in den letzten 16 Jahren sei nichts oder wenig geschehen, Herr Kollege Poß: ({1}) Wir haben das Riesenwerk der Europäischen Währungsunion zustande gebracht. Die Beiträge von Herrn Schröder dazu waren so, daß wir sie am besten vergessen wollen. ({2}) - Dann ist es ja gut. Ich meine, wir sollten jetzt noch einige Sätze darüber reden, was geschehen muß, wenn wir ein großes und starkes Europa wollen. Wir werden dieses Europa nur schaffen, wenn wir einige grundlegende Fragen klären, und zwar jetzt. Je schneller wir dies tun, desto besser ist es. Da ist die Subsidiarität das Wichtigste. Das klingt so theoretisch-abstrakt und interessiert die Leute nicht. Aber die Frage, was Europa entscheidet, was die Mitgliedstaaten und was die Regionen entscheiden und was der kommunalen Selbstverwaltung bleibt, ist eine fundamentale Frage, die beantwortet werden muß, wenn es gelingen soll, das große und starke Europa zu bauen. Da, wo Europa zuständig ist, muß es stark sein. ({3}) Aber es muß nicht alles machen. Wenn es sich um zu viele Dinge kümmert, dann wird es vieles machen, aber weniges gut. Deswegen brauchen wir die Konzentration auf ein starkes Europa und mehr Subsidiarität. Wir sagen: - Damit die Subsidiarität funktioniert, bleibt die Klärung dieser Kompetenzfrage von zentraler Bedeutung. Jetzt hört man, wir brauchen eine Art Verfassungsvertrag. Den Begriff mögen nicht alle in Europa. Es geht mir nicht um den Begriff, aber wir brauchen eine Klärung der Frage, wofür Europa und wofür die Mitgliedstaaten zuständig sind. Dieser Tatbestand muß verfassungsfest sein, er darf nicht einseitig geändert werden können. Zudem muß der Europäische Gerichtshof ein neutraler Richter sein und nicht ein Integrationsorgan der Europäischen Union. Das ist er nämlich heute - und damit keine neutrale Instanz. Deswegen brauchen wir diese Klärung. ({4}) Wenn wir das geklärt haben, bekommen wir die Entscheidungsfähigkeit in der Europäischen Union besser hin. Sie muß verbessert werden. Damit sind wir bei der Frage - da stimme ich Ihnen nicht zu, Herr Bundeskanzler -, ob es wirklich reicht, die Regierungskonferenz auf die drei Punkte zu konzentrieren, die Sie genannt haben, die sogenannten „leftovers“, die wenigen Punkte, die übriggeblieben sind. Erstens will ich darauf aufmerksam machen, daß Sie es besser wissen: Es wird für einige Mitgliedsstaaten sehr schwer sein, sich bei einer Einigung auf die drei „leftovers“ zu konzentrieren. Machen Sie das Paket ein bißchen umfangreicher, dann haben Sie eine größere Chance, einen Konsens zu bilden. Zweitens. Natürlich ist der Zeitplan wichtig. Aber man darf die Akteure nicht überfordern. Der Herr Bundeskanzler selber hat in seiner Regierungserklärung sibyllinisch von „einigen wenigen weiteren Fragen“ geDr. Wolfgang Schäuble sprochen, dann aber wohlweislich verschwiegen, welche er meint. Ich sage Ihnen, welche nach unserer Überzeugung ganz dringend sind: die Subsidiarität besser klären, die Kompetenzabgrenzung verfassungsfest machen und Flexibilität gewährleisten. Wir brauchen mehr Flexibilität; sonst werden wir eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht schaffen. Das liegt doch auf der Hand: Wir haben Mitglieder der Europäischen Union, die in der NATO sind; wir haben Mitglieder der Europäischen Union, die nicht in der NATO sind usw. Es gibt also die unterschiedlichsten Formen. Das alles bekommen Sie nur mit Flexibilität unter einen Hut. Ich stimme Ihnen ja zu, daß wir dringend die Harmonisierung der Besteuerung von Kapitaleinkünften brauchen. Sie werden erlauben, daß wir Sie an etwas erinnern: Wenn man schon gemeinsame Papiere verfaßt, wie Mitte des Jahres geschehen, dann wird man den Mitautor - vielleicht kriegen Sie sogar gemeinsame Tantiemen - doch daran erinnern dürfen, daß er die Blockade aufgeben soll. Ich möchte zu erwägen geben, ob wir unseren britischen Freunden nicht sagen sollten: Wenn sie partout nicht wollen, daß wir in der Europäischen Union zu einer Harmonisierung der Besteuerung der Kapitaleinkünfte kommen, dann gehen wir diesen ersten Schritt im Rahmen der Eurozone - das ist flexibles Vorgehen -, dann harmonisieren wir die Besteuerung der Kapitaleinkünfte in der Eurozone. Schauen wir mal, wie lange es dann dauert, bis andere zur Eurozone dazukommen. Jedenfalls: Stillstand durch Blockade eines Mitglieds können wir unter gar keinen Umständen ertragen. ({5}) Deswegen: mehr Flexibilität, klare Kompetenzabgrenzung, Subsidiarität - Aufbau von unten nach oben und nicht andersherum! Ich würde übrigens einen weiteren Punkt angehen: Herr Bundeskanzler, ich möchte dringend an Sie appellieren, beim Europäischen Rat dafür einzutreten, daß die Kommission beauftragt wird, der Regierungskonferenz einen Vorschlag zu unterbreiten. Ich glaube, die Regierungskonferenz hat eine sehr viel größere Chance, im Laufe des Jahres 2000 - also noch während der französischen Präsidentschaft - zum Abschluß zu kommen, wenn die Kommission vom Rat in Helsinki förmlich beauftragt wird, einen Vorschlag dafür zu machen, was in der Regierungskonferenz laufen soll. Die Kommission muß in gewisser Weise die Rolle des Motors haben. Deswegen sollten Sie, so finde ich, diesen Vorschlag machen. Dann wären wir schon einen ganzen Schritt weiter und hätten eine bessere Chance voranzukommen. ({6}) Ich muß eine andere Bemerkung machen: Wenn wir ein großes und starkes Europa wollen, dann müssen wir unsere Beiträge dazu leisten. Man darf nicht schön daherreden - ob in der Assemblée nationale oder anderswo - und zu Hause das Gegenteil dessen tun. Ich glaube, wir brauchen eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. In diesem Zusammenhang muß man das ernst nehmen, was beispielsweise der amerikanische Verteidigungsminister Cohen in dieser Woche auf der Kommandeurstagung der Bundeswehr gesagt hat. ({7}) Ich stehe ja nicht im Verdacht, immer nur zu sagen, daß die Amerikaner in allem recht haben. Aber daß für eine Stärkung der europäischen Krisenreaktionskräfte, der Aufklärungskräfte und der Transportfähigkeit mehr Mittel in den Verteidigungshaushalten der Mitgliedstaaten notwendig sind, weiß jeder, der sich damit beschäftigt. Man kann nicht auf der einen Seite eine stärkere europäische Verteidigungs- und Sicherheitsidentität fordern und gleichzeitig auf der andere Seite im Alleingang den nationalen Verteidigungshaushalt entgegen allen Zusicherungen und Absprachen kürzen. Damit gibt man ein miserables Beispiel für alle anderen Partner in der Europäischen Union wie in der NATO. Das ist auch klar. Das ist der falsche Weg. ({8}) - Nein, das ist kein falscher Gegensatz. Das ist das Problem von Sprüchen und Taten. Wir wissen - wir machen uns nicht größer, als wir sind; das ist auch gut am Ende dieses Jahrhunderts -: Deutschland hat in der Europäischen Union die Verantwortung, eher an der Spitze zu stehen, eher Motor, Lokomotive der europäischen Entwicklung zu sein, als im Bremserhäuschen oder am Ende des Zuges zu sitzen. Das ist unsere Verantwortung. Wir liegen mitten in Europa, wir haben das größte Interesse an Europa, und wir sind eines der größeren Mitgliedsländer. Wenn die Politik der Bundesrepublik Deutschland die falschen Signale sendet - das war es, was der amerikanische Verteidigungsminister Cohen so eindrucksvoll auf der Kommandeurstagung gesagt hat -, hat das nicht nur für Deutschland verheerende Konsequenzen. Dies gibt das genau falsche Beispiel für alle anderen Mitgliedstaaten in der NATO wie in der Europäischen Union. Man kann nicht den Beitrittskandidaten sagen, sie müßten mindestens 2 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts für den Verteidigungshaushalt aufwenden, und gleichzeitig selbst den Verteidigungshaushalt auf nahezu 1 Prozent des Bruttoinlandprodukts zurückfahren. Das ist das falsche Beispiel. Das ist keine verantwortliche Politik. Damit wird Deutschland seiner Rolle und seiner Verantwortung nicht gerecht. ({9}) Im übrigen muß ich Sie nach wie vor fragen: Wie gehen Sie eigentlich mit der Kommission um, die Sie selber eingesetzt haben? Am Beginn Ihrer Regierungszeit haben Sie eine Wehrstrukturkommission unter dem Vorsitz des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker mit der Aufgabe eingesetzt, dies alles zu definieren. Dann haben Sie anschließend die Ergebnisse vorweggenommen, indem Sie den Haushalt einseitig völlig zusammengekürzt haben. ({10}) - Doch, genau so ist es. Übrigens hat Herr Scharping das Amt des Verteidigungsministers nur angenommen so ist es öffentlich gesagt worden, er hat ja einige Wochen lang gezögert, ({11}) bis er gesagt hat, er wolle doch Verteidigungsminister und nicht Fraktionsvorsitzender sein, Herr Kollege Struck, und dann hat er erklärt, warum er gezögert hat -, weil er die Zusage erhalten hat, daß es beim Verteidigungsbudget in Höhe von 47 Milliarden DM bleibt. Das hat auch drei Monate gehalten. Man wird wohl noch daran erinnern dürfen. ({12}) Das ist die falsche Politik, weil wir ein großes und starkes Europa brauchen und wollen. Ich füge hinzu: Ich glaube, ein großes und starkes Europa ist der beste Beitrag, den wir langfristig zur Stärkung der Atlantischen Allianz leisten können und müssen. Das ist kein Gegensatz oder Ersatz, sondern eine notwendige Bedingung. Die Erfahrungen aus dem Kosovo sind die, daß der Unterschied im Atlantischen Bündnis sowohl hinsichtlich der Technologie als auch im strategischen Denken immer größer wird und daß die Lücke sowohl bei den technologischen Möglichkeiten als auch im strategischen Denken zwischen diesseits und jenseits des Atlantiks zunehmend zu einer Gefahr für die Atlantische Allianz und den Zusammenhalt werden kann. Dies könnte im Ergebnis sogar die Tendenzen zum Unilateralismus in den Vereinigten Staaten begünstigen. Wenn wir etwas dagegen tun können, dann ist es das, daß wir den europäischen Pfeiler in der Atlantischen Allianz stärken. Wir brauchen die Atlantische Allianz. ({13}) Sie müssen deswegen in Ihrer Politik die richtigen Prioritäten setzen. Sie aber setzen diese falsch. Das sollten Sie ändern. ({14}) - Das habe ich gerade beschrieben. Ich würde zunächst einmal fragen: Was brauchen wir, was erfordert die Sicherheit? Sie müssen die Fragen schon in der richtigen Reihenfolge stellen. Im übrigen wollen wir hier keine Haushaltsdebatte führen. ({15}) - Das haben wir in der letzten Woche getan. Ich war nicht da. Sie haben mir alle Genesungswünsche übermittelt; ich bedanke mich dafür. Wenn ich in der letzten Woche hier gewesen wäre, hätte ich daran erinnert: Natürlich ist es richtig, daß gespart werden muß. Das ist völlig unstreitig. Insofern ist der Haushalt des Jahres 2000 unter Finanzminister Eichel weniger schlecht als der Haushalt des Jahres 1999 unter Finanzminister Lafontaine. Das ist völlig unstreitig. ({16}) - Bei dem Zwischenruf müssen Sie die Antwort schon hinnehmen. Der Haushalt des Jahres 1998 unter Finanzminister Waigel war im Ausgabeplafond wesentlich niedriger, und die mittelfristige Finanzplanung der Regierung Kohl/Waigel für das Jahr 2000 lag unter dem Ausgabeplafond des verabschiedeten Haushaltes für das Jahr 2000. ({17}) Sie setzen die falschen Prioritäten. ({18}) Ich glaube, die Priorität, ein großes, starkes Europa zu bauen, die Priorität, die Atlantische Allianz durch die Stärkung des europäischen Pfeilers zukunftsfest zu machen, ist wichtiger als das meiste andere, und für diese Priorität werbe ich. Daß Sie hier mit Ihren Zwischenrufen dagegenreden, spricht nicht dafür, daß wir schon den gleichen Erkenntnisstand haben oder daß wir die Prioritäten richtig bewerten. ({19}) Ich mache eine weitere Bemerkung; auch sie hat mit nationaler Politik zu tun, denn man muß für das, wofür man in Europa eintritt, wozu wir vielleicht nicht so unterschiedliche Standpunkte hinsichtlich der Zielsetzungen vertreten wie bei vielen anderen Fragen, natürlich zu Hause seine Beiträge leisten. Nun kann man ja sagen, niedrige Wechselkurse sind für die Exporte nicht so schlecht - eine Auffassung, die auch in anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union gelegentlich vertreten worden ist, auch bei unseren französischen Nachbarn. Ich finde es übrigens gar nicht schlecht, Herr Bundeskanzler, daß Sie jedenfalls bei dem, was Sie heute in Ihrer Regierungserklärung zur Priorität der deutschfranzösischen Beziehungen, der deutsch-französischen Zusammenarbeit gesagt haben, meinen Überzeugungen mehr entsprechen als bei der Politik, die Sie in den letzten Monaten betrieben haben. Ich will jetzt etwas zum Thema Wechselkurs und Euro-Kurs sagen. In einer Welt, in der die Kapitalmärkte so ungeheuer wichtig sind und in der auf den globalisierten Märkten in unglaublich sensiblen, schnellen und reagiblen Prozessen über Standorte von Investitionen, Kapital und Arbeitsplätzen mit ungeheurer Wirkung entschieden wird und in der für die Entwicklung an den Kapitalmärkten Vertrauen und Einschätzung der Investoren das Allerwichtigste sind - das ist ja das ganz Neue, daß die realen Daten, die realen Fakten gar nicht mehr so wichtig sind, sondern das Vertrauen -, in einer solchen Welt ist es ein ziemliches Problem, daß der Euro inzwischen nahezu die Dollarparität erreicht hat - in der vergangenen Nacht war er offenbar sogar einmal für ein paar Minuten unter einem Dollar -, weil sich darin geringer werdendes Vertrauen in Europa widerspiegelt, und das ist gefährlich für die Zukunft an der Schwelle zum neuen Jahrhundert. ({20}) Herr Bundeskanzler Schröder, das können Sie drehen und wenden, wie Sie wollen. Alle internationalen Finanzmärkte machen als Grund für geringeres Vertrauen in den Euro in erster Linie die Politik Ihrer Bundesregierung, der Regierung des größten Mitgliedslandes in der Europäischen Union, verantwortlich. ({21}) - Das mußte natürlich deshalb kommen, Herr Kollege Poß, weil es unbestreitbar ist. ({22}) Es ist unbestreitbar, und es ist unbestritten. Ich wiederhole noch einmal den Satz: Die internationalen Finanzmärkte, also die Einschätzungen der Agierenden auf den Finanzmärkten, die maßgeblich dafür sind, daß der Euro inzwischen nahe bei der Dollarparität angekommen ist, sagen alle - das können Sie überall nachlesen -, der Hauptgrund sei die Schwäche des größten Mitgliedslandes des Euro-Verbreitungsgebietes. So ist das. ({23}) Das größte und wirtschaftsstärkste Mitgliedsland ist nun einmal die Bundesrepublik Deutschland, und der Grund für die Schwäche ist die Einschätzung Ihrer Politik, die als Zickzackkurs, nicht beständig, nicht vertrauensbildend angesehen wird. ({24}) Das beruht gar nicht nur auf einem Ereignis, macht sich manchmal auch in einzelnen Ereignissen und einzelnen Debatten Platz, aber der Kern sind Ihr ständiger Zickzackkurs und die mangelnde Klarheit, zum Beispiel die Tatsache, daß bis heute nicht klar ist, welche Art von Unternehmensteuerreform Sie machen oder nicht, daß Sie keinen klaren Kurs haben, daß Sie ständig die Grundlinie Ihrer Politik verändern. ({25}) Volker Rühe hat in der vergangenen Woche den „Independent“ zitiert: Sie haben mehr Kehrtwendungen gemacht als ein Berliner Taxifahrer während seiner ganzen beruflichen Laufbahn. So hat es in einer englischen Zeitung gestanden. ({26}) - Nein. ({27}) - Ich will Ihnen das erklären; das kann man ganz schnell beschreiben. Angetreten sind Sie vor einem Jahr im Bundestagswahlkampf mit der Linie, nicht alles anders, aber ein bißchen moderner zu machen, ein bißchen mehr Reformen zu machen. Dann war die Wahl vorüber, und Sie haben alle Reformen zurückgenommen. Das war die Ära Lafontaine. Sechs Monate später, nach dem Abschied von Lafontaine, haben Sie gesagt: So, jetzt zurück marsch, marsch! Kehrtwendung, jetzt geht es in die entgegengesetzte Richtung. - Das war die Zeit vor der Sommerpause, einschließlich des Schröder/BlairPapiers. Es folgte in der Sommerpause die bittere Zeit der SPD-internen Diskussionen. Struck hat gesagt: Wir brauchen eine Steuerreform, die den Namen verdient. Dann kamen die Wahlniederlagen im Herbst. Inzwischen haben Sie eine weitere totale Kehrtwende vollzogen. Jetzt machen Sie wieder, wie vor einem Jahr, eine Politik à la Lafontaine. Das verunsichert die internationalen Märkte. Darin besteht der Zusammenhang. ({28})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schäuble, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Poß?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte, Herr Poß.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schäuble, wie beurteilen Sie die Aussage von Herrn Issing, der die Schwäche des Euro gegenüber dem Dollar auf die Differenz zwischen den Leitzinsen in der Euro-Zone und in den USA zurückführt, während der Faktor Wechselkurse eine abnehmende Bedeutung habe? In dem Zusammenhang verweist Herr Issing auf den Umstand, daß der Euro zu Anfang sicherlich überbewertet war. Seiner Ansicht nach - auch Duisenberg meint das - besteht nach wie vor eine Aufwärtstendenz. Das sind die Fakten, um die es hier geht. Es geht hier nicht um Ihre innenpolitischen Spekulationen, die Sie damit verbinden. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Poß, erstens: Herr Issing drückt sich immer sehr viel klarer aus, als es Ihnen in Ihrer Frage gerade gelungen ist. ({0}) Zweitens. Wenn einer von uns beiden Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank wäre, dann dürften auch wir vieles nicht sagen, was frei gewählte Abgeordnete sagen müssen; denn die Mitglieder des Direktoriums der Europäischen Zentralbank haben eine ganz andere Verantwortung. Sie müssen die Auswirkungen ihrer Aussagen auf die Kapitalmärkte in einer ganz anderen Weise bedenken. Drittens. Natürlich spielt die Einschätzung der Stärke der amerikanischen Finanzmärkte eine Rolle. Das ist gar keine Frage. Ich würde gerne darüber streiten, ob der Euro am Anfang überbewertet worden ist. ({1}) Zum Zeitpunkt seiner Einführung war die finanzielle und wirtschaftliche Lage in Deutschland sehr viel robuster, und inzwischen ist sie schwächer geworden. ({2}) Viertens. Sie können im Ernst nicht bestreiten - es handelt sich um ein einhelliges Meinungsbild in allen Äußerungen nationaler und internationaler Sachverständiger; lesen Sie doch bitte noch einmal das Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung -: Die substantielle Schwäche der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik der Regierung der Bundesrepublik Deutschland ist einer der Gründe dafür, daß der Euro weniger stark ist, als er an der Schwelle zum neuen Jahrhundert sein müßte. ({3}) Damit schließt sich der Kreis dessen, was ich gerne sagen wollte: Wir befinden uns an der Schwelle zu einem neuen Jahrhundert. Noch gar nicht lange hängt im Plenarsaal des Deutschen Bundestages neben unserer Fahne Schwarz-Rot-Gold auch die Europafahne. Das hat doch eine wichtige Bedeutung. Deswegen wiederhole ich den Satz, mit dem ich begonnen habe: Ein großes und starkes Europa ist das wichtigste Erbe dieses zu Ende gehenden Jahrhunderts, es ist die beste Voraussetzung für das, was wir in der Vorbereitung für das kommende Jahrhundert erarbeiten müssen. Das ist der Auftrag des Gipfels in Helsinki. Daran müssen wir in Europa wie in Deutschland - jeder an seinem Platz, jeder im Rahmen seiner Verantwortung - arbeiten. Die CDU/CSU wünscht Ihnen für Helsinki jeden Erfolg, weil Europa unsere Chance, unsere Hoffnung und unsere Zukunft ist. Aber wir glauben, daß Sie bessere Chancen haben und daß Sie Ihrer Verantwortung besser gerecht werden, wenn Sie in Deutschland eine bessere Politik machen, und vor allen Dingen, wenn Sie in Helsinki dafür werben, daß wir die fundamentalen Fragen, die in der Europäischen Union geklärt werden müssen, jetzt beantworten. Wir sollten die Chance der Erweiterung - auch den damit verbundenen Druck - nutzen, um die Reformen, die notwendig sind, damit Europa die Hoffnungen erfüllen kann, voranzutreiben. In diesem Sinne begleiten Sie unsere guten Wünsche und unsere Kritik auf dem Weg zum Gipfel nach Helsinki. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Bundesaußenminister Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Haussmann, lassen Sie mich mit einer persönlichen Vorbemerkung beginnen: Sollte ich Sie in der letzten Debatte in der Hitze des Gefechts durch rhetorische Äußerungen persönlich verletzt haben, so möchte ich mich in aller Form dafür entschuldigen, damit nichts Persönliches - trotz aller politischer Kontroversen zwischen uns steht. Die heutigen Reden der Kollegen Schäuble und Stoiber könnten gegensätzlicher nicht sein, wenn man beide Reden ernst nähme. Der Kollege Schäuble hat mit seinen grundsätzlichen Erwägungen und Aussagen über die Probleme, die vor uns liegen und die wir bewältigen müssen, an die überhaupt nicht zu verneinende große europapolitische Tradition der Christlich Demokratischen Union angeknüpft. Dies haben wir in der Opposition anerkannt; dies erkennen wir auch jetzt in der Regierungsverantwortung an. Der Kollege Stoiber hat sich zunächst rhetorisch vor Konrad Adenauer und Helmut Kohl sowie ihrer europapolitischen Tradition verbeugt. Dann hat er sich allerdings in eine scharfe Rechtskurve begeben und mit einem entschiedenen Sowohl-Als-Auch in einem Satz die Notwendigkeit der Osterweiterung betont, zugleich aber in hundert Sätzen deren Gefahren und Risiken beschrieben. Dazu kann ich Ihnen, Herr Kollege Stoiber, nur sagen: So werden Sie die Menschen nicht mitnehmen. Der Anfangssatz des Kollegen Schäuble kann sich doch nur an Sie gerichtet haben, nämlich daß die Osterweiterung der Europäischen Union eine großartige Chance sei, der wir uns stellen müßten. ({0}) Ich denke, mit Ihren heutigen Ausführungen muß man sich nicht weiter auseinandersetzen. Sie haben auf den mißglückten Boxenstopp hingewiesen. Sie haben heute einen Wagenheber gebraucht, um überhaupt aus der rednerischen Box herauszukommen. ({1}) Ich möchte mich vor allen Dingen mit dem auseinandersetzen, was Herr Kollege Schäuble an Bedenkenswertem gesagt hat, aber auch mit den Aussagen, denen klar widersprochen werden muß. Der erste Teil Ihrer Rede, auf den ich später zu sprechen komme, unterschied sich klar vom zweiten Teil, mit dem Sie - es war nicht Ihre Schuld, daß Sie krankheitsbedingt nicht an der Haushaltsdebatte teilnehmen konnten - die Haushaltsdebatte nachholen wollten. Zu Ihrer These, Herr Kollege Schäuble, daß an einem sinkenden Euro-Kurs die Regierung schuld sei und ein steigender Euro-Kurs das Verdienst der Opposition sei, möchte ich Ihnen sagen: So einfach können Sie es sich nicht machen! Darauf ist es in Ihrer Rede aber hinausgelaufen. ({2}) Wenn ich uns einen Fehler vorwerfe - Sie haben vorhin das zu Ende gehende Jahr, das zu Ende gehende Jahrhundert und das zu Ende gehende Jahrtausend beschrieben -, dann den, daß wir nicht eine objektive ErDr. Wolfgang Schäuble öffnungsbilanz über das erstellt haben, was wir vorgefunden haben. ({3}) Herr Kollege Schäuble, wenn Sie in diesem Hause behaupten, die jetzige Schwäche der Wirtschaft sei ein Ergebnis dessen, was wir in dem Jahr unserer Regierungstätigkeit gemacht haben - ich komme noch auf den Verteidigungshaushalt und die Verteidigungspolitik zu sprechen -, dann möchte ich darauf antworten: Wir sind im Herbst 1998 in die Regierung gewählt worden. Was haben wir damals vorgefunden? Wir haben deutlich über 4 Millionen Arbeitslose und eine Staatsverschuldung vorgefunden, die wir jetzt unter größten Anstrengungen mit dem Zukunftsprogramm 2000, mit dem Sparpaket und mit dem Haushalt anpacken und abbauen, damit der Staat wieder handlungsfähig wird. ({4}) Wir haben einen Stau bei der Gesundheits- und der Rentenreform vorgefunden. Wir haben eine allgemeine wirtschaftliche Schwäche vorgefunden. Warum? Wir haben dies alles vorgefunden, weil die Notwendigkeiten der deutschen Einheit und des zu Ende gehenden kalten Krieges zwar angepackt wurden, aber nicht mit der jetzigen Energie. Mit den Reformen wurde nicht ernst gemacht. Wir haben einen Reformstau vorgefunden, den wir jetzt endlich auflösen, damit die Arbeitslosigkeit sinkt und der Staat wieder handlungsfähig wird. Diese Schwäche werfen Sie uns heute vor. ({5}) Sie haben völlig recht: Europa braucht eine deutsche Volkswirtschaft, die ihre Führungsfunktion als größte Volkswirtschaft ernsthaft wahrnehmen kann. Aber dafür die Voraussetzungen nicht geschaffen zu haben ist der Hauptvorwurf, den wir der Regierung Kohl in ihrer Spätphase und ihrer Koalition machen müssen. Dies hat nichts mit Polemik zu tun, sondern ausschließlich mit den Fakten. ({6}) Wenn die PDS gemeinsam mit Richard Cohen Bedenken gegen die sogenannte Militarisierung der Europäischen Union vorträgt, bewegt sie sich in ihrer Kritik immer mehr - das gilt übrigens auch für den Euro; da waren Sie Vertreter des Dollars - außerhalb europäischer Vorstellungen. Dazu kann ich nur sagen - viele in diesem Hause sehen das unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit genauso -, daß wir eine Vollendung der europäischen Integration wollen. Man muß sich vergegenwärtigen, was der historische Kern der Europäischen Union in diesem zu Ende gehenden, zweigeteilten Jahrhundert ist. Etwa zur Jahrhundertmitte änderte sich doch unsere Nationalgeschichte dramatisch, zumindest im Westen. Der Kern ist, daß die Europäische Union die Antwort auf die Jahrzehnte des Europas des Nationalismus und der Kriege ist, nämlich ein Europa der Integration. Die Vollendung dieses Europas der Integration bedeutet aber eine Übertragung der wesentlichen Souveränitätsrechte der Nationalstaaten auf das politische Subjekt Europäische Union. ({7}) Wenn Sie das wollen, dann wird die militärische Ebene nicht nationalstaatlich bleiben und Europa nicht auf die Bereiche beschränkt werden können, die heute als wünschenswert gelten, die aber noch nicht Wirklichkeit sind. Selbstverständlich werden Sie auch die Sicherheitspolitik, die Außenpolitik und auch die militärischen Komponenten auf Europa übertragen müssen, wenn Sie dieses Subjekt Europäische Union wollen. Diesen Schritt halte ich für genauso dringend geboten wie die Entwicklung einer europäischen Demokratie und eines europäischen Rechtsraumes. Ohne diese Entwicklung können wir das politische Subjekt Europäische Union nicht vollenden. ({8}) Herr Kollege Schäuble, Haushaltsdebatten sollten wir immer noch in den Parlamenten führen - dort gehören sie hin - und nicht mit Verteidigungsministern, und seien sie von noch so wichtigen Bündnispartnern. Ich habe hier eine klare außenpolitische Priorität: Die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland wiederzugewinnen muß an erster Stelle stehen, so schmerzhaft das auch für mich als Ressortminister ist. ({9}) Ich hätte mir vom Oppositionsführer gewünscht, daß Sie auch einmal in Richtung Amerikas die Leistungen ansprechen, die Deutschland für die europäische Sicherheit unter anderem durch die Erweiterung erbringt. Sie wissen doch so gut wie ich, daß ein wesentlicher Teil der Osterweiterung der Europäischen Union gleichzeitig präventive Sicherheitspolitik ist, für die wir unsere Leistungen erbringen. ({10}) Ich erinnere Sie nur an die Süderweiterung der Europäischen Union. Herr Stoiber hat so getan, als wäre sie eine Kleinigkeit gewesen. Griechenland hatte in den 60er Jahren und Anfang der 70er Jahre eine Militärdiktatur, Spanien die Diktatur von Franco, Portugal die Diktatur von Salazar und seinem Nachfolger, und in Italien drohte in den 70er Jahren ein Umsturz. Das alles ist definitiv Vergangenheit. Heute reden wir, wenn wir über Südeuropa reden, über einen Teil der Europäischen Union, der sich hinsichtlich der Sicherheit, der Stabilität, der Demokratie und der Menschenrechte in nichts mehr von Nord- oder Westeuropa unterscheidet. Darin liegt ein bedeutender Sicherheitsgewinn der Europäischen Union. ({11}) Schauen wir uns das langfristige Engagement im Rahmen des Stabilitätspaktes und die Leistungen an, die die Europäer und auch die Bundesrepublik Deutschland dort übernehmen, dann muß uns klar sein, daß das Heranführen Südosteuropas an das Europa der Integration - das ist ein langwieriger Prozeß - nicht umsonst zu haben ist. Auch das müssen wir unseren amerikanischen Freunden sagen: Wir sind bereit, durch das Heranführen dieser Region an das Europa der Integration in präventive Sicherheitspolitik zu investieren. Auch die Türkeipolitik ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Herr Schäuble, Sie haben diesen Punkt bewußt ausgespart. Aber auch er ist unter dem Gesichtspunkt einer Investition in präventive Sicherheitspolitik zu sehen. ({12}) Wir haben verschiedene Interessen an diesem Punkt, die ich Ihnen nochmals erläutern möchten, weil wir uns da vielleicht annähern können oder uns von dem einen oder anderen in Ihrer Fraktion gar nicht unterscheiden. ({13}) Der entscheidende Punkt ist nicht nur, daß hier über 2 Millionen Menschen dauerhaft leben - viele von ihnen haben mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft, und noch mehr werden die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen -, die persönlich, familiär und von ihrer Abstammung her mit der Türkei verbunden sind. Ich verstehe Union so, daß die Probleme eines Mitgliedslandes - dazu gehören auch die Probleme Griechenlands, auch wenn wir in der Bewertung unterschiedlicher Meinung sind - immer auch die Probleme der Union sind, weil die Union eine Solidargemeinschaft ist. Union bedeutet für mich Solidarität auf Gegenseitigkeit. Auf diese Solidarität können sich unsere griechischen Freunde verlassen. Wir nehmen ihre Probleme sehr ernst. Ich sage umgekehrt aber auch: Wenn es zu einer dauerhaften Entspannung des Verhältnisses zur Türkei, ja wenn es zu einer Europäisierung der Türkei kommen wird, wird Griechenland der Hauptgewinner einer solchen politischen Entwicklung sein, die von uns gewünscht wird. ({14}) Darüber hinaus muß man sehen, daß sich die Türkei - das ist nicht eine Frage der militärischen Aufrüstung in einer sicherheitspolitisch und strategisch bedeutsamen Situation befindet, in der wir ein Interesse daran haben müssen, daß sich die Türkei zu einem stabilen Partner - ich komme gleich noch zur Definition von Stabilität entwickelt. Der Nahost-Friedensprozeß hängt im wesentlichen von dieser Stabilität ab. ({15}) - Lassen Sie mich diesen Punkt erläutern, auch wenn er unstreitig ist. Das Parlament kann doch auch Punkte, über die Konsens besteht, ausdiskutieren. Wir müssen uns doch nicht immer unterschiedliche Auffassungen in polemischer Weise um die Ohren hauen. Es ist doch hervorragend, wenn in einigen Punkten Einigkeit besteht. Auch im Kaukasus und in Zentralasien wird die Stabilität der Türkei eine wichtige Rolle spielen. Sie hängt aber heute nicht von den militärischen Fähigkeiten der Türkei, sondern von der inneren Stabilität des türkischen Staates und der türkischen Demokratie ab. ({16}) Das heißt: Wenn man ja zu dieser Stabilitätsfunktion der Türkei in der Region sagt, dann stellt sich in der Tat die entscheidende Frage, welche Türkei in Zukunft dieser Partner sein wird. Ist es eine Türkei, die sich über ihren Weg selbst im unklaren ist und die isoliert ist, oder ist es eine europäisch ausgerichtete Türkei, die den Weg in Richtung Demokratie, Marktwirtschaft, Minderheitenschutz und Achtung der Menschenrechte gemäß den Kopenhagener Kriterien geht? Das ist die entscheidende Frage. ({17}) Ich sage Ihnen: Darin liegt der Sicherheits- und Stabilitätsgewinn. Deswegen wollen wir die Blockade von Luxemburg auflösen. Wir sehen das Verhältnis zur Türkei - der Bundeskanzler hat sich heute schon dazu geäußert - völlig realistisch. Die Türkei erfüllt zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Kopenhagener Kriterien nicht. Die Kommission hat sehr gute Vorschläge hinsichtlich der Sonderrolle der Türkei als Beitrittskandidat gemacht. Sie ist ja bereits durch die Gipfel in Cardiff und Luxemburg als Kandidat benannt worden. Ihr wurde aber ein Sonderstatus zugewiesen, damit sie an der Europakonferenz aller Mitgliedstaaten und Kandidaten teilnehmen konnte. Der einzige Stuhl aber, der immer leer blieb, war der der Türkei. Es ist also eine unsinnige Konstruktion: Man trifft sich - Mitgliedstaaten und Kandidaten - auf diesen Konferenzen, um eigentlich mit der Türkei zu sprechen; aber das einzige Land, das nicht daran teilnimmt, ist die Türkei. Wenn man die Türkei aus dieser Isolation herausholen will, dann muß man diesen von der Türkei als diskriminierend empfundenen Sonderstatus auflösen, ({18}) allerdings unter Beachtung der Verhältnisse in der Türkei. Die Türkei will der Europäischen Union beitreten und nicht wir der Türkei. ({19}) Das heißt: Die Türkei muß die Kopenhagener Kriterien akzeptieren. Dieser Punkt ist völlig klar und ist von Premierminister Ecevit in dem Schreiben an den Bundeskanzler bestätigt worden. ({20}) Dennoch muß ich sagen, daß die letzen Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang noch nicht ausgeräumt sind. Ich hoffe aber, daß wir mit der griechischen Seite noch einen Konsens erzielen können. Sie haben weitere Punkte angesprochen, die es wert sind, hier vertieft zu werden. Herr Kollege Schäuble, ich denke - das hängt auch mit unserer Verfassungs- und Rechtstradition zusammen -, daß es in diesem Punkt keinen Dissens gibt. Ich unterstützte eine Abgrenzung analog etwa der Abgrenzung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Sie müssen aber beachten, daß wir mit dieser Erfahrung ziemlich singulär in der Europäischen Union dastehen. Entweder sind die Länder kleiner als wir - das heißt, sie kennen dieses Abgrenzungsproblem nicht, das wir alltäglich erfahren und das uns in Fleisch und Blut übergegangen ist -, oder es handelt sich um die größeren Länder, die zentral staatlich verfaßt sind und daher dieses Abgrenzungsproblem ebenfalls nicht kennen. Aus meiner Sicht wird sich diese Frage in Helsinki nicht lösen lassen, weil wir in diesem Punkt singularisiert sind, nicht etwa, weil wir nicht wollen. Ich befinde mich in diesem Zusammenhang überhaupt nicht in einem Dissens zu dem, was Sie vorgetragen haben. Ich bin allerdings der Meinung, daß im Rahmen einer Verfassungsdebatte - diese Debatte, die jetzt langsam beginnt, ohne daß sie so genannt wird, wird noch einige Zeit andauern - diese Fragen definitiv zu klären sein werden, weil das Hauptproblem in der Klärung des Verhältnisses der Nationalstaaten zur europäischen Ebene im Rahmen weiterer Souveränitätsübertragungen und der damit verbundenen Abgrenzungsproblematik liegt. Gestatten Sie mir, in diesem Zusammenhang einige Punkte, die Sie angesprochen haben, zu vertiefen. Sie nennen die "leftovers". Beim bayerischen Ministerpräsidenten hörte sich das ein bißchen nach „Peanuts“ an. Es wird sehr schwierig, bei der Regierungskonferenz zu einem Einvernehmen zu gelangen. Wir brauchen das Einvernehmen, weil die neuen Gewichtungen erheblich sein werden. Das Prinzip der Mehrheitsentscheidungen etwa wird nur bei einer gleichzeitigen Ausdehnung der Rechte des Europäischen Parlaments funktionieren, was für uns einfacher ist als für andere Mitgliedstaaten. ({21}) - Das Problem, Herr Stoiber, ist gar nicht so sehr, daß Sie uns überzeugen müssen: Vielmehr sind wir in einer besonderen Position, die sich daraus ergibt, daß uns, die wir in einem föderalen Staatswesen leben, diese Traditionen geläufig sind. Da gibt es, denke ich, keinen Unterschied zwischen den Parteien, daß wir darauf stolz sind und diese Traditionen auch für europafähig halten, ohne jeden Zweifel. ({22}) Der Punkt ist ein anderer: Bei der Erweiterung hätte ich mir vom Bayerischen Ministerpräsidenten mehr Engagement gewünscht, statt dauernd diese düsteren Szenarien von der Überfremdung, die aus dem Osten droht, zu hören. Herr Stoiber, Sie müssen Ihren Wählerinnen und Wählern sagen, daß der Einwanderungsdruck, wenn die neuen Demokratien nicht beitreten, höher sein wird. ({23}) Die Erfahrung des Beitritts von Spanien, Portugal und Griechenland hat gezeigt, daß der Einwanderungsdruck in Richtung Zentraleuropa zurückgegangen ist und nicht zugenommen hat. Dasselbe werden wir bei Polen erleben, dessen bin ich ganz sicher. ({24}) Die Erfahrung zeigt dies, Herr Stoiber. Deswegen sage ich Ihnen nochmals: Für uns ist der Gipfel als Erweiterungsgipfel von zentraler Bedeutung. Wir müssen diesen Erweiterungsgipfel jetzt zum Erfolg machen, weil sonst die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union in ihrem Kernbereich, nämlich der europäischen Idee, schweren Schaden nehmen würde. Insofern müssen wir in Helsinki bei der Beitrittsfähigkeit der Europäischen Union einen Erfolg erzielen, und ich denke, wir werden ihn auch erzielen. Damit die Prioritäten klar sind: Die Voraussetzung für die Erweiterung ist die Vertiefung. Es nützt nichts, einer handlungsunfähigen Union beizutreten. Insofern muß an erster Stelle immer die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union stehen, damit wir unseren Integrationsaufgaben auch in Zukunft gerecht werden können. ({25}) Als zweites muß man die Barrieren abbauen, die zwischen den unterschiedlichen Gruppen der Beitrittsländer existieren. Insofern unterstützen wir mit allem Nachdruck die Position der Kommission, hier eine Gruppe zu formieren und die Differenzierung dann entlang der realen Fortschritte vorzunehmen. Diesen Zahn, Herr Stoiber, kann ich Ihnen gleich ziehen, auch im Namen von Romano Prodi. ({26}) - Ein paar europapolitische Schmerzen würde ich dem Bayerischen Ministerpräsidenten in diesem Zusammenhang durchaus gönnen; ich denke, das kann ich auch im Namen der CDU sagen. ({27}) Lesen Sie den letzten Fortschrittsbericht der Kommission, Herr Stoiber. Auf ihn wurde zu Recht hingewiesen. Sie können nun wirklich nicht sagen, daß da irgend etwas geschminkt, schöngeredet oder schöngeschrieben worden wäre. ({28}) Das ist ein sehr nüchterner, ein sehr realistischer und, wie ich finde, ein sehr guter Fortschrittsbericht genau entlang dieser Linie. Wir wissen, wie schwierig es ist, Volkswirtschaften, soziale Systeme, Infrastrukturen, Wissenschaftskulturen und Traditionen zusammenzufügen, sie nicht nur in einen gemeinsamen Markt, sondern mehr und mehr auch in einen gemeinsamen institutionellen Rahmen einzufügen. Weil wir das wissen, werden wir mit aller Sorgfalt darauf achten, daß die Fortschritte realistisch gesehen werden. So war die Haltung dieser Bundesregierung von Anfang an, und so hat es der Bundeskanzler zu Beginn der Regierungszeit im letzten Jahr in Warschau gesagt. Er hat es eingehalten. Heute müssen Sie einmal nach Warschau gehen und fragen, ob dort noch Sorgen bestehen, daß die neue Bundesregierung die Interessen der Beitrittsländer nicht mindestens so gut vertritt wie die alte Bundesregierung. Wir tun dies nur mit mehr Realismus, und das hat Anerkennung gefunden. ({29}) Ich muß Ihnen sagen: Volksparteien sind bisweilen merkwürdig. Sie erleben das ja gerade, Herr Schäuble, in einem anderen Zusammenhang. ({30}) - Wir sind keine. Manchmal sage ich aber: Gott sei Dank, wenn ich mir das so anschaue. ({31}) - Ach ja. Aber nachdem ich heute Herrn Stoiber gehört habe, wie er versucht hat, sozusagen ein bemühtes Ja zu Europa hinzubekommen ({32}) - das war nicht nur ein Eiertanz, sondern ein Balancieren auf rohen Eiern -, aber hinter diesem Ja die üblichen Verdächtigungen formuliert hat, weiß ich um die Mühsal. Einer der wichtigen Punkte in diesem Haus war immer, daß es einen breiten europapolitischen Konsens gegeben hat. ({33}) Herr Kollege Schäuble, bei aller Kritik, die Sie zu Recht hatten: Die Opposition ist dazu da, daß sie die Regierung kritisiert. Abgeordnete dürfen das sagen, was andere nicht sagen dürfen. Sie könnten demnächst gefragt werden, ob sie tatsächlich diese Positionen vertreten. Die Abgeordneten dürfen das freie Wort führen. Wir freuen uns darauf und hoffen, daß sie dieses tun werden. Angesichts der Gemeinsamkeiten, die heute zwischen der großen Oppositionspartei, der F.D.P., der Bundesregierung und der Koalition deutlich geworden sind, möchte ich mich für die Unterstützung bei der vor uns liegenden Arbeit auf dem Gipfel bedanken. Ich hoffe, daß wir das Unsere dazu beitragen können, das gemeinsame Haus Europa konkret weiterzubauen, die Europäische Union wirklich zu einem politischen Subjekt zu machen und zur vollen Integration zu bringen, was im Interesse unseres Landes ist. Ich denke, das muß der Kernsatz sein. In dem Punkt kann ich Wolfgang Schäuble nur zustimmen. ({34}) Die europäische Einheit ist das Wichtigste. Diese Erkenntnis nehmen wir aus der alten Bundesrepublik und als Konsequenz aus unserer Nationalgeschichte, die in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts katastrophal danebengegangen ist, mit. Die Vollendung der europäischen Einheit ist nicht nur eine historische Verpflichtung; sie liegt vielmehr auch im Interesse der Zukunft unseres Landes. Deutschland hat nicht nur große Lasten zu übernehmen, sondern wir sind auch die großen Gewinner des europäischen Einigungsprozesses - nicht nur ökonomisch, sondern auch sicherheitspolitisch, kulturell und unter vielen anderen Gesichtspunkten. Deswegen denke ich, wird der Gipfel in Helsinki ein entscheidender Schritt nach vorne zur Vollendung der europäischen Integration werden. ({35})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Burgbacher von der F.D.P.-Fraktion.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Außenminister, in einem Punkt stimmen wir Ihnen zu - ich denke, das hat die Rede von Helmut Haussmann gezeigt -: Wir brauchen in der Europapolitik den Konsens, den wir auch von Ihrer Seite in unserer Regierungszeit verspürt haben. Das schließt aber nicht aus, daß wir den Weg kritisch begleiten und auf Dinge hinweisen, bei denen wir andere Akzente setzen und bei denen wir skeptisch sind. Ich möchte an dieser Stelle nicht verschweigen, Herr Bundeskanzler, daß ich in Ihrer Rede vergeblich auf das innere Engagement gewartet habe, auf die Vision, die dieser europäische Prozeß erfordert und die wir von früheren Regierungen - von den Kanzlern, aber auch von den liberalen Außenministern - immer gewohnt waren. ({0}) Herr Außenminister, Sie haben beklagt, Sie hätten den Fehler gemacht, keine Eröffnungsbilanz vorzulegen. In dieser Eröffnungsbilanz hätte als positiver Posten die hervorragende Entwicklung des deutsch-französischen Verhältnisses gestanden. Ich erlaube mir, Sie, Herr Bundeskanzler, zu zitieren. Sie sagten vor der Assemblée Nationale am vergangenen Dienstag: Europa zählt auf Deutschland und Frankreich. Keine der großen europäischen Aufgaben ist je gelöst worden, wenn Deutschland und Frankreich nicht einig waren. Keines der großen europäischen Integrationsprojekte wäre jemals verwirklicht worden, hätten nicht Frankreich und Deutschland den Anstoß gegeben. Am Ausgang dieses Jahrtausends kommt es wiederum auf Deutschland und Frankreich an. Wie wahr, Herr Bundeskanzler! Selten haben wir die gemeinsame Rolle Deutschlands und Frankreichs mehr gebraucht als gerade in dieser Phase der Osterweiterung. ({1}) Nur: Das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland ist im Moment zumindest angespannt. Eine Menge Ungeschicklichkeiten und Fehler wurden begangen. Ich erinnere an die Absage des Bundeskanzlers bei der Einladung zu den Feiern zum Jahrestag des Waffenstillstandes, an die Position der Bundesregierung bei der Agenda 2000, an das Schröder-Blair-Papier, das unsere französischen Partner tief verunsichert hat, aber auch an den unsäglichen Auftritt des Umweltministers Trittin, der unsere französischen Partner nun wirklich vor den Kopf gestoßen hat. ({2}) Das deutsch-französische Verhältnis ist belastet. Die „Berliner Zeitung“ schrieb in dieser Woche: „Schröder und Jospin haben von Anfang an große Probleme gehabt, sich zu verstehen.“ Ich muß hinzufügen: In vielen Gesprächen mit französischen Politikern wird diese Sorge immer wieder zum Ausdruck gebracht. Es wird gesagt, daß dieses Verhältnis ein Stück weit unter den von mir genannten Vorgängen gelitten hat. Wen wundert es also, daß auch der deutschfranzösische Gipfel nur vom Nachbessern geprägt war und daher nur magere Ergebnisse bringen konnte? Wer wenige Tage vor dem Europäischen Rat von Helsinki entscheidende deutsch-französische Impulse für die Erweiterung erwartet hatte, wurde enttäuscht. Gemeinsame Spaziergänge ersetzen keine gemeinsamen Initiativen, mit denen die Weichen gestellt werden könnten. ({3}) Herr Außenminister, meine Damen und Herren, ich betrachte es als eine der größten Leistungen in dieser Nachkriegszeit, daß die deutsch-französische Erbfeindschaft überwunden wurde in einer Weise, von der unsere Väter und Großväter nicht einmal träumen konnten. Da waren viele beteiligt, und das ging nicht nur auf der politischen Schiene, sondern es wurde etwas ins Werk gesetzt, was aus heutiger Sicht nicht hoch genug einzuschätzen ist: das Deutsch-Französische Jugendwerk, die zahlreichen Städtepartnerschaften. Ich komme aus einer Region in der Nähe der französischen Grenze und weiß, wieviel dort heute gemeinsam geplant und ausgeführt wird, wo über die Grenzen hinweg gedacht wird und wo langsam - und das begrüße ich auch sehr eine Neuorientierung stattfindet, wo zum Teil alte historische Räume wieder neu entdeckt werden ({4}) und wo vor allem Freundschaften über die Grenzen hinweg bestehen. Das deutsch-französische Verhältnis lebt von diesen Freundschaften. Freundschaft heißt nicht, daß man immer derselben Meinung ist. Deutschland und Frankreich haben es aber bisher immer geschafft, unterschiedliche Positionen im Vorfeld zu vereinen, und haben es damit geschafft, Europa insgesamt weiterzubringen. Wir, die Deutschen, sind vielleicht ein Stück weit mehr nach Osten orientiert, weil wir näher dran sind. Frankreich hat traditionelle Bindungen nach Süden. Wenn wir die Erweiterung wirklich packen wollen und wenn die Erweiterung gelingen wird in dieser Integration Europas, dann nur, wenn das deutsch-französische Verhältnis lückenlos funktioniert. Deshalb sage ich dem Bundeskanzler: Machen Sie das deutsch-französische Verhältnis wieder zur Chefsache! Deshalb bitte ich Sie, Herr Außenminister, alles zu tun, damit das deutschfranzösische Verhältnis zu dem zurückfindet, was es über viele Jahre hinweg war. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Markus Meckel von der SPD-Fraktion das Wort.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Kollege Burgbacher, ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, was Sie uns hier jetzt dargestellt haben, weil wir doch einfach sehen müssen, was gerade in den letzten Tagen im deutsch-französischen Verhältnis passiert ist. Sie haben soeben den Gipfel angesprochen. Wir haben ja alle verfolgen können, daß der Kanzler als der erste deutsche Kanzler vor der französischen Nationalversammlung geredet hat - ein Wunsch, der vielleicht lange gehegt wurde, dessen Erfüllung aber dem Kanzler Kohl nicht zuteil geworden ist. ({0}) Wenn Sie uns auffordern, dieses Verhältnis zu pflegen, so sage ich: Da stimme ich Ihnen zu. Das ist gar keine Frage. Das gilt übrigens für das Verhältnis zu allen Nachbarn. Es ist ein Verhältnis, das sensibel ist, das wir pflegen müssen und auf das wir konkret achten müssen. Aber hier irgendeinen Vorwurf abzuleiten, halte ich für völlig abwegig. Ich möchte eher die Frage an Sie richten, wie Sie sich das vorstellen, wenn ich von seiten der Opposition im Zusammenhang mit der Diskussion um die Agenda 2000 höre und gleichzeitig auch in einem Antrag - in diesem Falle der CDU - lese, daß bei der Agenda 2000 nachgebessert werden soll. Auch in Ihrem Antrag steht ähnliches. Die Frage ist aber, wie Sie dieses durchführen wollen. Sie wissen ganz genau, daß es bei der Agenda 2000 Probleme mit Frankreich gab. Wie wollen Sie da nachbessern? Das heißt doch, zu Lasten Frankreichs nachbessern und dadurch natürlich im Grunde das europäische Projekt gefährden. Ich denke, was in diesem Jahr gelungen ist - gerade auch, in schwierigen Punkten mit Frankreich zu einem Ergebnis zu kommen -, kann sich wahrhaftig sehen lassen. Es ist übrigens kein Zufall, daß die Staaten, um die es dabei geht, dies auch anerkennen. Ich möchte zum Grundsätzlichen zurückkommen. Es ist schon angesprochen worden: Die wichtigste Errungenschaft dieses Jahrhunderts ist die europäische Integration, die mit den Römischen Verträgen begonnen hat. Vor wenigen Tagen haben wir den zehnten Jahrestag des Mauerfalls und damit das Ende des kalten Krieges und der Teilung Europas gefeiert. Was in diesen zehn Jahren geschehen ist, ist überwältigend. ({1}) Niemand, denke ich, hätte erwarten können, daß Europa sowohl in der Dimension der Vertiefung als auch in der Dimension der Erweiterung in diesen zehn Jahren so weit vorankommen würde. Ich denke an den Binnenmarkt, ein wesentliches Projekt, das zu Ende geführt worden ist, und an die Verträge von Maastricht und Amsterdam. Der Vertrag von Amsterdam ist in diesem Jahr in Kraft getreten. Ich denke an die Währungsunion, bei der es zwar heute die Diskussion gibt, wie stark oder wie schwach der Euro ist; aber daß wir sie brauchen und daß sie ein ganz wesentlicher Faktor der Weltwirtschaft und für uns eine zentrale Bedingung für unsere eigene wirtschaftliche Kompetenz ist, ist doch von niemandem in Abrede zu stellen. Oder denken wir an die Erweiterung! Die Staaten Mittel- und Osteuropas haben zunächst auf die Europäische Gemeinschaft und später auf die Europäische Union - sie war für diese Staaten wie ein Magnet - geschaut. 1993 kam dann - vielleicht mit etwas Verzögerung, wie man durchaus sagen muß, weil es drei Jahre gedauert hat, bis man diese Herausforderung in der Europäischen Union angenommen hat - die Einladung mit den klaren Kriterien, die für uns heute nach wie vor Gültigkeit haben. Daß wir heute soweit sind, ist natürlich auch ein Verdienst des alten Bundeskanzlers. Niemand wird das abstreiten. Ich denke aber, daß es für unsere Debatte ganz wichtig ist, festzustellen, daß wir eine gemeinsame Grundlage und ein gemeinsames Ziel haben. Es geht doch darum, die jeweiligen Schritte mit Bedacht, aber auch mit dem notwendigen Engagement und der entsprechenden Vision zu vollziehen. Sie sagen, daß eine solche Vision nicht da ist. Schauen Sie sich doch einmal die Reden an, die Sie heute gehört haben! Sie enthielten doch eine klare Perspektive für das Zusammenwachsen Europas unter den Kriterien und den Bedingungen, die im Westen entstanden sind und die Magnet, Anziehungspunkt und damit Modell für die Einigung Europas sind. ({2}) Beim nächsten Gipfel - wir haben schon von den Entscheidungen, die anstehen, gehört - wird beschlossen werden, mit sechs weiteren Staaten Verhandlungen aufzunehmen: Lettland, Litauen, die Slowakei, Bulgarien, Rumänien und Malta. Jeder, der in den letzten Jahren in diesen Staaten war, weiß, daß es ein großer Wunsch dieser Staaten - jedenfalls für die fünf ost- oder südosteuropäischen Staaten; bei Malta ist es umstritten, das wissen wir - ist, endlich dazuzugehören; und dieser Wunsch wird nun in Erfüllung gehen. Dazu muß ich allerdings eines sagen: Ich halte die Entscheidung, daß jetzt mit diesen Staaten Verhandlungen aufgenommen werden sollen, für ausgesprochen richtig und auch wichtig. Man muß aber gleichzeitig vorsichtig sein, daß die Erwartungen in diesen Staaten selbst nicht zu hoch geschraubt werden. Denn zu verhandeln heißt noch lange nicht, daß dieser Prozeß schnell geht, heißt noch lange nicht, daß damit eine für die Bürger erfahrbare Stufe erreicht wird. Deshalb muß sehr deutlich sein, daß die Verhandlungen nur so schnell vorangehen können, wie - das wird sehr unterschiedlich sein - auch wirklich Fortschritte in den jeweiligen Ländern gemacht werden. Natürlich sind die Herausforderungen in diesen Ländern ungeheuer groß. Wir erleben ja in Ostdeutschland, wie schwierig Transformationsprozesse sind. Dabei haben wir im geeinten Deutschland ideale Bedingungen; denn es werden viele Milliarden DM nach Ostdeutschland transferiert, um eine tragfähige Entwicklung zu erreichen. Die neuen Beitrittskandidaten erwarten Hilfe der Europäischen Union und sie bekommen sie - für denjenigen, der sie erwartet, natürlich immer zuwenig auch. Wir sollten ihnen zusagen, daß diese Hilfen weiter gewährt werden. Gerade mit der Agenda 2000 und mit den Heranführungshilfen ist sichergestellt worden, daß diese Mittel vorhanden sind. Gleichzeitig muß aber klar sein: Die eigentlichen Aufgaben liegen in den Ländern selbst. Wie schwierig es für ein Land ist, das keine demokratische Tradition hat, ganz schwerwiegende und wichtige Transformationsprozesse und Reformvorhaben umzusetzen, kann sich jeder vorstellen, der miterlebt, welche Schwierigkeiten eine schon so entwickelte Demokratie wie die unserige mit konkreten Reformprojekten hat. Diese sind ja auch bei uns nötig, nachdem viele Jahre in wichtigen Bereichen nichts passiert ist. ({3}) Es ist wichtig, daß die Verhandlungen künftig individueller geführt werden. - Ein Kollege von mir wird darüber noch Weiteres sagen. - Wir sollten die Erweiterungsvorhaben mit großem Engagement und mit Nachdruck verfolgen. In diesem Jahr ist auch deutlich geworden, daß die Ängste mancher ost- und mitteleuropäischer Länder, daß Deutschland als Motor des Erweiterungsprozesses nicht mehr genügend Kraft aufbringt, unbegründet waren, insbesondere dank der Verabschiedung der Agenda 2000, die Sie verschieben wollten. Deutschland hat sich gerade dadurch als Motor erwiesen, daß es klargemacht hat, daß es diesen Prozeß realistisch voranbringen will. ({4}) Wir haben beim Helsinki-Prozeß und bei den Erweiterungsüberlegungen natürlich auch Zypern zu berücksichtigen; von der Türkei wurde hier ja schon gesprochen. Zypern stellt gerade wegen des besetzten nördlichen Teils ein Problem dar. Gerade deshalb ist es wichtig, daß die Türkei den Status als Beitrittskandidat erhält. Dann können die Gespräche intensiviert werden und ein freundschaftlicher Druck darauf ausgeübt werden, die Verhältnisse im eigenen Land zu ändern. Nicht nur die Frage der Menschenrechte, der fehlenden Rechtsstaatlichkeit und das Kurdenproblem, sondern auch die Tatsache, daß eigene Truppen auf fremdem Territorium stehen, sind große Hindernisse auf dem Weg nach Europa. Diese Punkte müssen klar angesprochen werden. Ich würde es sehr befürworten, wenn man mit Zypern genauso verfährt, wie man mit Deutschland verfahren ist. Auch die alte Bundesrepublik konnte damals Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden, ohne daß die Einbeziehung des Ostens Deutschlands, der nicht dazugehören konnte, weil er damals noch ein eigener Staat war, zur Bedingung gemacht wurde. Im Zuge der Vereinigung war es dann möglich, ohne Verhandlungen auch diesen Teil Deutschlands in die Europäische Union einzugliedern. Bei den Verhandlungen mit Zypern sollte ähnlich verfahren werden. Diese Frage darf jedenfalls kein Hindernis für Zypern auf dem Weg in die Europäische Union sein. Noch einen anderen wichtigen Punkt möchte ich zum Schluß wenigstens noch kurz aufgreifen: In der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wurde im letzten Jahr ein ungeheurer Fortschritt erzielt. Der Amsterdamer Vertrag ist - ich sagte es schon - am 1. Mai 1999 in Kraft getreten. ({5}) - Der Amsterdamer Vertrag hatte mit den Engländern überhaupt nichts zu tun. Die Engländer haben ihre Position Ende letzten Jahres geändert und sich in Saint Malo auf diesen Weg begeben. Es war nicht zuletzt das Verdienst Deutschlands, daß auf dem Kölner Gipfel die Personalentscheidung zugunsten von Herrn Solana gefallen ist. Ich glaube, daß gerade diese Personalentscheidung für die Entwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine ganz zentrale Rolle spielen wird. Dabei müssen die europäischen NATO-Staaten, die noch nicht der Europäischen Union angehören - drei von ihnen werden in wenigen Jahren beitreten -, ({6}) an Gesprächen über diese Themen beteiligt werden. Insbesondere, weil die Türkei diese Entwicklung mit äußerster Skepsis betrachtet, ist es wichtig, einen Generalsekretär zu haben, der die NATO kennt und kompatible Strukturen aufbauen kann. Wir sollten Javier Solana dabei unterstützen und dafür sorgen, daß er der Vorsitzende des sicherheitspolitischen Ausschusses wird, der jetzt gebildet werden soll. Außerdem wird ein Militärausschuß gebildet werden, um der Europäischen Union zu einer wirklichen Handlungsfähigkeit zu verhelfen. Dieses Integrationsmoment, das der Europäischen Union bisher fehlte, muß weiterentwickelt werden. Es ist eben schon deutlich gesagt worden: Dies alles richtet sich nicht gegen die NATO, sondern bedeutet eine Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO und macht uns handlungsfähiger. Der NATO tut es nicht gut, wenn die Vormacht USA so stark ist und die anderen Staaten so schwach, wie sich an unseren Kompetenzen und Fähigkeiten im Kosovo-Krieg gezeigt hat. Dies stellt für uns eine zentrale Herausforderung dar; sie wird Ende nächsten Jahres ihre Vollendung finden. Ich denke, daß dafür alles getan werden sollte - auch im Rahmen der Regierungskonferenz; dort werden die notwendigen Vertragsänderungen beschlossen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Meckel, bitte kommen Sie zum Schluß.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Man kann uns und der Europäischen Union nur viel Glück auf diesem Weg wünschen; denn dies ist nicht nur für Europa wichtig, sondern weltweit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Klaus Grehn von der PDS-Fraktion das Wort.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein sehr wichtiger Fortschritt, daß sich dank französischer Beharrlichkeit und gegen den Widerstand unter anderem der vormaligen deutschen Regierung heute jede nationale Regierung für unzureichende Anstrengungen oder ausgebliebene Maßnahmen im Kampf um mehr Beschäftigung und den Abbau sowie die Verhinderung der Arbeitslosigkeit vor den anderen Mitgliedstaaten und der Union als Ganzes verantworten muß. Ebenso ist die ursprünglich französische Erkenntnis zu unterstützen, daß solche Maßnahmen und Anstrengungen auch den Arbeitsmarkt und die soziale Lage der Beschäftigten und Erwerbslosen betreffen müssen, ({0}) der Arbeitsmarkt also nicht länger von Unternehmerinteressen dominiert wird. Der Bundeskanzler hat in wenigen Worten festgestellt, daß die europäische Beschäftigungsstrategie Früchte zu tragen beginnt. Die Bäume aber, die diese Früchte tragen, Herr Bundeskanzler, wachsen wahrlich nicht in den Himmel, und die Früchte sind entsprechend klein. Arbeitslosigkeit bleibt das Problem Nummer eins in Europa. Deshalb hoffen die Menschen, insbesondere die Betroffenen, daß es bei der Bekämpfung des Problems Arbeitslosigkeit nicht nur Brosamen sein werden, die in Helsinki vom Tisch fallen. ({1}) Kritisch bleibt festzustellen, daß das Instrumentarium aus beschäftigungspolitischen Leitlinien der Europäischen Union, nationalen Aktionsplänen und bilanzierenden Berichten allein noch nicht für einen UmMarkus Meckel schwung auf dem deutschen Arbeitsmarkt gereicht hat. Die relative Unverbindlichkeit der Leitlinien und der nationalen Aktionspläne, das Fehlen von Standards und verbindlichen Normen und das Vermeiden von Auflagen an die Wirtschaft sind wichtige Ursachen dafür. Nur an wenigen Stellen erhalten die arbeitslosen Bürgerinnen und Bürger wenigstens auf dem Papier mehr Rechte. So stellen die Pflicht zur Arbeitsplatz- oder Weiterbildungsvermittlung an Jugendliche nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit und die Pflicht, das gleiche auch für erwerbslose Erwachsene nach zwölf Monaten Arbeitslosigkeit zu tun, ein Bekenntnis zur Verantwortung des Staates für seine arbeitslosen Bürgerinnen und Bürger dar. Diese Verpflichtung war unter der Regierung Kohl so nicht zu registrieren. Aber einen einklagbaren Rechtsanspruch auf die Erfüllung dieser Pflicht hat ein Arbeitsloser auch heute nicht. Und erfüllt wird diese Pflicht in keiner Weise. ({2}) Im beschäftigungspolitischen Aktionsplan wird immer wieder von „Problemgruppen“ gesprochen. Menschen, die nicht den Verwertungsvorstellungen des Unternehmens entsprechen, werden diesen Gruppen zugeordnet. Im Grunde genommen ist es ein Skandal, wenn Frauen, Jugendliche, über 55jährige, Schwerbehinderte, Geringqualifizierte oder Ausländer diesen Problemgruppen zugeordnet werden. Wer bleibt denn eigentlich noch übrig? Wer gehört nicht zu den „Problemgruppen“? ({3}) Ist denn der Mensch an sich das „Problem“ der Wirtschaft? In der Zusammenfassung des Aktionsplans hat die Bundesregierung unter sieben Anstrichen Maßnahmen aufgelistet, die auf Beschäftigungszuwachs gerichtet sind. Sieht man von dem Jugendprogramm ab, so bleibt die Frage, wo die beschäftigungspolitischen Wirkungen in Form des Abbaus von Arbeitslosigkeit geblieben sind? Ökosteuer, unsoziale Einkommensbesteuerung und Sparpaket haben das Ziel, mehr Arbeitsplätze zu schaffen und damit zum Abbau der Arbeitslosigkeit beizutragen, bisher verfehlt. Einer „Richtschnur soziale Gerechtigkeit“ - so die Leitlinie 4 - folgen diese Maßnahmen wahrlich nicht. Auch in der Koalition muß sich endlich die Erkenntnis durchsetzen, daß eine wirksame, energische und zielgerichtete - nicht nur verbale und zufällige - Bekämpfung der Arbeitslosigkeit der wichtigste Beitrag zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen und zur Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit ist. ({4}) Völlig zu Recht wird die Bundesrepublik von der Europäischen Union für diese unausgewogene und beschäftigungsfeindliche Politik gerügt. Zwar sind die vorliegenden Anträge von CDU/CSU und F.D.P. erstaunlich, weil auch sie in ihrer Regierungszeit beim Abbau der Arbeitslosigkeit nicht sonderlich erfolgreich waren, aber im Kern ist diese Kritik berechtigt. In Stichworten: Langzeitarbeitslosigkeit, Anwachsen des prozentualen Anteils der älteren Arbeitslosen, Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern, West-OstUnterschiede bei der Beschäftigung und der Arbeitslosigkeit. Mit Nachdruck weisen wir in diesem Zusammenhang auf die Vorschläge unserer Fraktion zur Schaffung eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors hin. ({5}) Einzelne Sektoren, etwa den Dienstleistungssektor, in den Mittelpunkt zu stellen und davon eine wundersame Genesung zu erwarten, das löst das Beschäftigungsproblem nicht. Beschäftigungspolitik, meine Damen und Herren - lassen Sie mich das zum Abschluß sagen -, muß in den Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union eine wichtige Rolle spielen. Da die wirtschaftlichen und sozialen Folgen eines Beitritts für jedes einzelne beitretende Land exakt berechenbar und voraussehbar sind, sollte sich die deutsche Bundesregierung dafür einsetzen, daß auf diesen Gebieten Beitrittskriterien gelten. Die Vorlage konkreter und kontrollierbarer beschäftigungspolitischer Aktionspläne für die Zeit vor und nach dem Beitritt sowie soziale Auffangstrukturen sollten mit Hilfe der Europäischen Union geschaffen und für den Beitritt verbindlich gemacht werden. ({6}) Nur dann wäre zu gewährleisten, daß Europa zu dem wird, wofür wir alle eintreten: ein Europa der Bürgerinnen und Bürger, die Freiheit, Demokratie und Wohlstand dazugewinnen. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Michael Roth von der SPD-Fraktion das Wort.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir macht die heutige Debatte wirklich Spaß, weil es nicht der 27. Aufguß dessen ist, was wir hier im Hause schon immer gehört haben, sondern weil es ein offener und spannender Prozeß hinsichtlich der Frage ist, welches Europa wir wollen. Da muß auch der Deutsche Bundestag Flagge zeigen. Wir bräuchten eigentlich öfter solche grundsätzlichen Debatten - auch hier im Hohen Hause -, um deutlich zu machen, mit welchem Ziel, mit welchen Ansprüchen und mit welchen Vorstellungen über die Wege wir in die nächsten Jahre gehen. Ich habe - da ich etwas jünger bin - das Glück, daß ich wahrscheinlich das eine oder andere dessen, was auf den zukünftigen Gipfeln von den Staats- und Regierungschefs beschlossen wird, erleben werde. ({0}) - Ich wünsche es Ihnen. Ich bin erstaunt, mit welchem Engagement auf diesen Ansatz reagiert wird. Es gibt nun einmal ein paar biologische Unterschiede, die in diesem Fall etwas mit dem Alter zu tun haben. Ich meine, wir sollten die europapolitische Debatte aus dem akademischen Hinterstübchen herausholen und sie in die Mitte der Gesellschaft stellen. Sie gehört in den Bundestag. Das ist wichtig. Deswegen ist die heutige Debatte von großer Bedeutung. ({1}) Ich will noch auf einen Zusammenhang hinweisen, der heute etwas zu kurz gekommen ist: auf den Zusammenhang zwischen der Vertiefung einerseits und der Erweiterung andererseits. Wenn wir die Reformen auf der Regierungskonferenz nicht so erfolgreich abschließen, wie wir es uns alle wünschen, dann wird es auch keine Erweiterung geben. Ich verstehe deshalb die Unstimmigkeiten innerhalb der CDU/CSU-Fraktion überhaupt nicht. Noch vor wenigen Monaten ist die SPD von Ihnen wie die Sau durchs Dorf getrieben worden, weil Sie ständig ein festes Datum für die Erweiterung haben wollten. ({2}) Wir haben aus wohlerwogenen Gründen gesagt, daß es kein festes Datum geben kann, weil die EU erst einmal intern ihre Hausaufgaben erledigen muß. Das, was wir jetzt - auch auf die Initiative von Außenminister Fischer hin - auf den Weg gebracht haben mit dem Ziel, die EU bis zum 1. Januar 2003 erweiterungsfähig zu machen, ist meines Erachtens der richtige Ansatz. Aber da müssen wir noch eine ganze Menge tun. Die Left-overs werden auf der anstehenden Regierungskonferenz nur deshalb die entscheidende Rolle spielen, weil sie in Amsterdam nicht gelöst worden sind. Wir sollten jetzt nicht zuviel in die Regierungskonferenz hineinpacken; denn Zusammensetzung und Größe der Kommission, Stimmengewichtung im Rat und vor allem die grundsätzliche Mehrheitsentscheidung im Rat sind ganz zentrale und wichtige Anliegen, die in Amsterdam gescheitert sind. Ich komme nicht auf die Idee, Ihnen oder Helmut Kohl das vorzuwerfen; der Arme hat im Augenblick wahrlich genug Probleme. So sollten wir die Debatte nicht führen. Sie sollte schon etwas fairer sein. ({3}) Ich meine, daß die grundsätzliche Einführung von Mehrheitsentscheidungen, wenn sie denn mit den Mitentscheidungsbefugnissen des Europäischen Parlaments verknüpft wird, auch eine Stärkung der demokratischen Legitimität ist. ({4}) Wir brauchen eine viel stärkere Partnerschaft der Parlamente: des Europäischen Parlaments auf der einen Seite und auch des Deutschen Bundestages auf der anderen Seite. Ihr Antrag enthält einige Aspekte dazu, wie wir diese Zusammenarbeit, diese Partnerschaft vertiefen sollten. Darüber sollten wir im Europaausschuß oder auch im Plenum des Deutschen Bundestages noch einmal reden. Ich halte das für wichtig, weil die COSAC, ein Gremium, das eigentlich niemand kennt, dazu nicht ausreicht. Wir müssen bei dem Verfassungsgebungsprozeß aber auch zur Kenntnis nehmen, daß es erhebliche Empfindlichkeiten bei bestimmten Mitgliedstaaten gibt. Ich nehme nur einmal den Begriff „Verfassung“. Ich hatte kürzlich Gelegenheit, in London und Paris an Konferenzen teilnehmen zu dürfen. Über „Verfassung“ braucht man mit den Engländern gar nicht zu reden. Deshalb sollten wir bestimmte Begrifflichkeiten nicht in die Regierungskonferenz hineinpacken; denn dann würde es noch schwieriger, bei den sogenannten Left-overs zu Lösungen zu kommen, die uns alle zufriedenstellen. Man sollte Herrn Stoiber manchmal in die anderen Mitgliedstaaten, in die Partnerländer schicken. Dann würde er feststellen, daß er dort überhaupt keine Zustimmung findet. ({5}) - Daß er das weiß, ist eine ganz andere Geschichte. Er weiß vieles, sagt es aber dann doch anders. Ich stimme auch vielen Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause darin zu, daß noch weitere Reformen notwendig sind. Ich denke etwa an die Zusammensetzung des EuGH und der anderen Organe; da muß noch eine Menge gemacht werden. Ich habe deshalb auch viel Sympathie für manche Vorschläge der Opposition. Das war in diesem Hause immer so. Meines Erachtens hatten wir bei der strukturellen Ausgestaltung der EU immer ein großes Einvernehmen. Ich glaube, daß der Kommissionspräsident Prodi in einem Punkt irrt. Er hat nämlich behauptet, daß ein permanenter Reform- und Verfassungsgebungsprozeß innerhalb der EU Verdrossenheit bei den Bürgerinnen und Bürgern erzeugen werde. Ich glaube das nicht; denn diesen Verfassungsgebungsprozeß gibt es schon seit Jahren. Wir müssen einfach einmal anerkennen, daß nicht alles, was im Deutschen Bundestag beschlossen wird, in den 14 anderen Mitgliedsländern genauso gesehen wird. ({6}) Das ist auch ein Stückchen Selbstbescheidung. Wir dürfen nicht diese nationalstaatliche Arroganz nach außen tragen. Das müssen wir uns einmal deutlich vor Augen führen. Es liegt nicht an dem ständigen Reformprozeß, daß viele Bürgerinnen und Bürger auch in bezug auf das Thema Europa verdrossen sind, sondern es liegt eher daran, daß wir oftmals noch zaudern und zögern beim Anpacken von Problemen. Ich möchte auf einen kontroversen Punkt hinweisen, der uns als Bundestagsabgeordnete fraktionsübergreifend massiv beschäftigt: der mühsame Prozeß der Akzeptanz eines politisch starken Europa. Wir haben uns in dieser und in der vergangenen Woche mit einigen politisch höchst umstrittenen Fragen beschäftigt, bei denen die EU auf einmal nicht nur mitwirkt, sondern maßgeblich mitentscheidet. Das müssen wir den Menschen aber auch sagen. Wenn wir bestimmte Kompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch in bestimmten Fragen der Wettbewerbspolitik auf EU-Ebene haben, dann müssen wir anerkennen, daß die eine oder Michael Roth ({7}) andere Frage kontrovers diskutiert wird. Und dann müssen wir eben auch - das ist die andere Seite der Medaille - engagiert unsere Position vertreten. Ich habe nicht verstanden, warum die CDU/CSU auf der einen Seite - das kommt auch in Ihrem Antrag zum Ausdruck - den Bericht der drei Weisen massiv unterstützt, aber auf der anderen Seite Ihr Ministerpräsident von der CSU ganz zentrale Punkte in Frage stellt. Man kann sich aus dem Dehaene-Bericht nicht das herauspflücken, was einem gerade ins politische Kalkül paßt. ({8}) Man muß den Bericht schon in Gänze sehen - und ihn entweder unterstützen oder kritisch einige Fragen stellen, wie das die Bundesregierung, wie das meine Fraktion und die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen tun. Unser Ziel auf der nächsten Regierungskonferenz muß sein - der Gipfel von Helsinki wird da wichtige Vorentscheidungen treffen -: ein handlungsfähiges Europa, ein klarer strukturiertes Europa und ein demokratischeres Europa. Gemeinsam mit dem Europäischen Parlament und den anderen nationalstaatlichen Parlamenten können wir eine ganze Menge tun. Zuvor sollten wir unserer Bundesregierung für Helsinki aber alles Gute und ein herzliches „Glückauf!“ wünschen. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Friedbert Pflüger von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Außenminister Fischer hat zu Beginn seiner Rede gefragt, was er beim Regierungswechsel in der Europapolitik vorgefunden hat. Herr Fischer, Sie haben vorgefunden: ein Land, das einig war - Deutschland -, eine europäische Einheit, Frieden und Freiheit in Europa, eine gemeinsame Währung, den Euro. Das ist die beste Bilanz, die man überhaupt vorfinden kann. Die Frage ist nicht, was gewesen ist, sondern die Frage ist, was Sie in diesem Jahr aus dieser Bilanz, aus dem Gewicht Deutschlands gemacht haben. Das ist die Frage, die wir heute zu klären haben. ({0}) Deutschland ist zusammen mit Frankreich in den letzten Jahrzehnten immer der Motor der europäischen Einigung gewesen. ({1}) Vor jedem Gipfel haben wir uns bemüht, mit den Franzosen eine gemeinsame Linie zu finden. ({2}) Wenn Paris und Bonn - jetzt Paris und Berlin - sich einig waren, dann, so zeigt die Erfahrung, konnten wir in ganz Europa substantielle Fortschritte erreichen. ({3}) Der Berliner Gipfel wäre fast gescheitert, weil sich Deutschland und Frankreich nicht einig waren. Das ist nun nicht nur ein Fehler der Deutschen. Natürlich haben auch die Franzosen ihren Anteil an diesem Streit. Aber durchweg lauteten die Kommentare im letzten Jahr: Der deutsch-französische Motor hat eine Panne. Es geht nicht mehr zwischen Paris und Berlin, so wie es früher zwischen Paris und Bonn gegangen ist. ({4}) Das, was wir in dieser Woche bei den deutschfranzösischen Konsultationen erlebt haben, ist ohne jeden Zweifel ein Fortschritt. Es ist ein Versuch der Reparatur dessen, was ein ganzes Jahr lang versäumt worden ist, nämlich ein Vertrauensverhältnis zu den Franzosen aufzubauen. ({5}) - Herr Kollege Schmidt, lesen Sie doch einmal, was führende französische Intellektuelle in den Zeitungen schreiben! ({6}) Da kommt wieder die alte Angst vor Deutschland zum Ausdruck, zum Beispiel dann, wenn der Eindruck entsteht - so ein bißchen war das auch in der Innenpolitik zu beobachten -, die Deutschen würden gar keine Rücksicht mehr auf das nehmen, was man in Frankreich denkt. ({7}) Man geht einfach drauflos, kündigt plötzlich einen Vertrag über nukleare Zusammenarbeit, veröffentlicht plötzlich das Schröder-Blair-Papier. Diese Art und Weise des Umgangs mit unserem französischen Partner ist eine Katastrophe für das Verhältnis zu Frankreich und eine Katastrophe in Europa. ({8}) Aber wir nehmen ja zur Kenntnis, daß es Versuche gibt, dieses Verhältnis zu verbessern. Wir hoffen und wünschen sehr, daß Sie in Helsinki dieses deutschfranzösische Gewicht wieder stärker entfalten. Was ist die größte und wichtigste strategische Aufgabe für Europa in den nächsten Jahren? Das ist ohne Zweifel die Erweiterung - ich würde eher sagen: die Wiedervereinigung - Europas. ({9}) Deshalb begrüßen wir es, daß jetzt in Helsinki mit insgesamt zwölf Staaten verhandelt werden soll; sechs Michael Roth ({10}) weitere Staaten sollen dazukommen. Das ist der auf breiter Grundlage stehende Versuch, die Länder in Mittel- und Osteuropa sowie Zypern und Malta an die Europäische Union heranzuführen. Das ist gut, und das ist richtig. Die Frage ist nur, ob dieser Prozeß richtig vorbereitet ist, ob jemand die Führung übernimmt in diesem Prozeß. Die Frage ist, ob die Beitrittsperspektive nicht dadurch, daß man die Union jetzt so schnell erweitern will - auch die Türkei kommt noch hinzu -, verwässert wird. Meine Sorge ist, daß wir die Prioritäten im Rahmen des Beitrittsprozesses nicht richtig setzen. Diese Sorge hören Sie aus Polen, Ungarn und Tschechien. Diese Länder sagen: Die Erweiterung um andere Beitrittskandidaten könnte dazu führen, daß diejenigen, die sich besonders angestrengt haben, darunter zu leiden haben und auf der Strecke bleiben. Ich schlage vor, daß Sie das sehr ernst nehmen. Es macht keinen Sinn, die Erweiterung zu betreiben, immer mehr Länder einzuladen, auch der Türkei den Status eines Beitrittskandidaten zu geben, aber den Ländern, die für uns am wichtigsten sind - ich nenne Polen -, oder denjenigen Ländern, die die meisten Fortschritte gemacht haben, zum Beispiel Ungarn, keine klare Perspektive zu geben. Diese Länder müssen dabeisein und an erster Stelle stehen. Das ist unser Anliegen in diesem Zusammenhang. Ich glaube, Europa - die Wiedervereinigung, die Überwindung der europäischen Krise - ist noch aus einem anderen Grund sehr wichtig, nämlich mit Blick auf das transatlantische Verhältnis. In Amerika - der Vorsitzende Schäuble hat darauf hingewiesen - gibt es eine gewisse Tendenz, die Welt unilateralistisch zu betrachten, also nicht mehr so sehr aus der Sicht der Partner, sondern ausschließlich aus der nationalen Interessenlage Amerikas. Bisher ist die amerikanische Macht überall dort, wo sie auf der Welt eingesetzt wird, positiv und gut. Sie balanciert: im Pazifik, in Südostasien und auch in Europa. Aber wenn man sich zum Beispiel die Reden des Präsidentschaftsbewerbers George Bush jr. anhört, ({11}) hat man den Eindruck, daß sich Amerika vom Multilateralismus verabschiedet, ihn jedenfalls weniger ernst nimmt. Man hat den Eindruck, daß der ABM-Vertrag, einer der großen Abrüstungsverträge zwischen Moskau und Washington, 1972 geschlossen, das Rückgrat des gesamten Abrüstungsprozesses, einseitig aufgekündigt wird. Ich glaube, es ist sehr wichtig, Herr Außenminister, daß wir das, was in Amerika eventuell passiert, sehr ernst nehmen. Es gibt in Europa heute niemanden - das ist die große Sorge, die wir haben -, der wirklich Gewicht, Ansehen und den notwendigen Führungswillen hat, um in Washington mit einer gewissen Chance auf Erfolg aufzutreten. Herr Schröder jedenfalls wird auf dem Capitol Hill nicht sehr ernst genommen. Herr Schröder hat keine Möglichkeiten, dort Einfluß zu nehmen. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Pflüger, denken Sie bitte an die Redezeit.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Er hat dort kein großes Gewicht, und das ist ein großes Problem. Ich sage ganz deutlich: Wir brauchen dieses vereinte Europa und sollten es als Chance auch für das transatlantische Verhältnis begreifen. Gemeinsam mit Amerika müssen wir in Zukunft die globalen Gefahren und Risiken der kommenden Jahre auf uns nehmen und Lösungen zuführen. Das machen wir zusammen. Ich darf noch einmal sagen, Herr Außenminister: Wir wünschen Ihnen für Helsinki viel Erfolg und viel Glück. Machen Sie es richtig - und machen Sie es vor allen Dingen ein bißchen besser als im vergangenen Jahr! ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner in dieser Aussprache hat der Kollege Winfried Mante von der SPD-Fraktion das Wort.

Winfried Mante (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Pflüger, Freund Europas, etwas weniger Polemik wäre am Ende dieser Debatte vielleicht hilfreicher und nützlicher gewesen. ({0}) Wir hätten angesichts der großen Übereinstimmung, die bei diesem Thema in diesem Hause herrscht, dann etwas zufriedener nach Hause gehen können. Das war eine Rolle rückwärts und gleichzeitig eine Rolle vorwärts. Meine Damen und Herren, der Gipfel von Helsinki - darauf wollen wir uns konzentrieren - wird vielleicht das einzige Ereignis am Ende dieses Jahrtausends sein, das die inzwischen schon etwas abgenutzte Wortschöpfung „Millennium“ wirklich verdient. Dieser Jahrtausendgipfel wird das Tor in eine europäische Zukunftspolitik weiter aufstoßen, die die geographischen Grenzen Europas und die politischen Grenzen der Europäischen Union in absehbarer Zeit weitgehend deckungsgleich machen wird. Sicher unterscheidet sich die Osterweiterung in wesentlichen Aspekten von den bisherigen Beitritten: Die Anzahl der Beitrittskandidaten ist ungleich höher, der Besitzstand der Union hat sich wesentlich erweitert, die Qualität des EG-Rechts hat zugenommen, die Beitrittsstaaten selbst befinden sich in einem Prozeß der politischen und wirtschaftlichen Transformation. Aber - das sage ich mit allem Nachdruck - auch die politische und die strategische Situation in Europa ist anders als bei den vorherigen Beitritten. Daher ist eine gewisse Dringlichkeit und eine höhere Geschwindigkeit bei der Gestaltung des Beitrittsprozesses nicht nur geboten, sondern sogar unverzichtbar. ({1}) Meine Damen und Herren, die vorliegenden Fortschrittsberichte der Kommission tragen nicht nur den politischen Entwicklungen in den Beitrittsländern Rechnung. Sie erhalten auch auf Grund ihrer Sachlichkeit und Realitätsnähe bei der Einschätzung der Wirtschaftsstrukturen allgemein Beifall und Zustimmung. Das läßt auch darauf schließen, daß sowohl die positiven Aspekte als auch die Problempunkte von den Beitrittsländern akzeptiert und auch die vollständige Einhaltung aller Kopenhagener Kriterien als Grundvoraussetzung für den Beitritt nicht in Frage gestellt werden. Am Mittwoch haben wir im Europaausschuß von den Botschaftern aller 12 Länder die Bestätigung dafür erhalten, daß die von der Kommission vorgeschlagene Öffnung des Beitrittsprozesses für die Länder der sogenannten zweiten Gruppe akzeptiert und auch befürwortet wird. Die Besorgnisse und Befürchtungen der ersten Gruppe, daß der Beitrittsprozeß dadurch verlangsamt werden könnte, scheinen mir allerdings nicht ganz unbegründet zu sein. Aber gerade hier kommt dem Helsinki-Gipfel die Aufgabe zu, die Dynamik des europäischen Entwicklungsprozesses neu zu formulieren und die Akzente neu zu setzen. Der offene Charakter des Beitrittsprozesses sowie das vorgeschlagene Differenzierungsprinzip sollen und werden den Beitrittsverhandlungen eine neue Qualität und Dynamik verleihen. Meine Damen und Herren, die Mitgliedsländer ihrerseits stellen sich mit dem Datum der Aufnahmebereitschaft, dem 1. Januar 2003, ein großes Ziel. Bis dahin sind in den 15 Ländern - das wurde heute schon mehrfach gesagt - noch einige Hausaufgaben zu machen, die nicht gerade leicht sind. Mit dem Berliner Gipfel im März wurde ein solider Finanzrahmen für die Europäische Union bis 2006 geschaffen. Damit würde auch und vor allem der Weg für die Erweiterungsfähigkeit der Union und die Aufnahme weiterer Länder geebnet. Wer heute verlangt, meine Damen und Herren, daß die Ergebnisse der Agenda 2000 neu zu verhandeln oder nachzuverhandeln sind, gleichzeitig aber fordert, die zügige Umsetzung der Erweiterung durchzusetzen, der muß auch sagen, wie dieser Widerspruch aufzulösen ist. ({2}) Mit der Intensivierung und Stärkung der Heranführungsstrategien und der Schaffung neuer Instrumente neben den bewährten Programmen wie PHARE werden ausreichende Mittel bereitgestellt: 22 Milliarden Euro für die Heranführung, 58 Milliarden Euro für erweiterungsbedingte Aufgaben. Das ist auch angesichts der Absorptionsfähigkeit der Beitrittsländer sowie der Maßgabe der hohen Eigenverantwortung der Beitrittsländer zur Erreichung ihrer Beitrittsfähigkeit eine ganze Menge. Ein Aufschnüren des Finanzkonzeptes insgesamt kann deswegen nur eine Verzögerung des Gesamtprozesses bedeuten. Ich sehe eigentlich niemanden hier, der das wirklich will. Außerdem kann ich nur empfehlen, den Beitritt nicht nur unter Kostenaspekten zu sehen. Die Mitgliedsländer der Europäischen Union werden nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch einen erheblichen Nutzen aus einer Erweiterung ziehen, der sich nicht in Zahlen und Beträgen messen läßt. Darüber hinaus wird der Prozeß der europäischen Erweiterung mit seinen Assoziierungen, mit den Heranführungsstrategien und mit den Instrumenten der Beitrittspartnerschaft und dem Beitritt selbst die jungen Demokratien politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich stabilisieren und weiter an Europa binden. Die Erweiterung ist also weder wirtschaftlich noch politisch eine Einbahnstraße. Meine Damen und Herren, ich bin Brandenburger und komme aus der unmittelbaren Grenzregion zu Polen. Ich haben also sozusagen die erste Stufe der Osterweiterung der Europäischen Union bereits seit 10 Jahren miterleben dürfen, und ich habe auch versucht, sie ein wenig mitzugestalten. Die Menschen in den neuen Bundesländern und wir alle kennen inzwischen die Probleme des notwendigen Strukturwandels sowie die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die gesellschaftlichen Verwerfungen als dessen Folgen. Vor diesem Hintergrund und vor dem Hintergrund von 15,4 Millionen Arbeitslosen in der Europäischen Union, davon knapp 3,9 Millionen allein in Deutschland, wird auch die Sorge der Menschen gerade in den Grenzregionen verständlich, daß insbesondere die Freizügigkeit des Binnenmarktes bei der Erweiterung zu weiteren Problemen auf dem Arbeitsmarkt führen kann. Diese Sorge müssen wir sehr wohl ernst nehmen und dürfen sie nicht geringschätzen. Meine Mitbürgerinnen und Mitbürger im grenznahen Raum erleben täglich die Probleme einer europäischen Außengrenze, die noch immer mehr trennt als verbindet, und zwar nicht nur, weil uns Brücken und Übergänge fehlen, sondern auch, weil noch zu viele Vorurteile prägend sind und weil oberflächliche Eindrücke Meinungen bilden. Aber wir haben auch zahlreiche positive Beispiele guter Nachbarschaftsbeziehungen: Die Euroregionen werden zunehmend zu einem Motor der grenzüberschreitenden Entwicklung. Der Export Brandenburger Firmen nach Mittel- und Osteuropa entwickelt sich seit Jahren positiv. Die zunehmende Kaufkraft in Polen fließt sichtbar in den Einzelhandel, nicht nur in den der Grenzstädte. Junge Deutsche und Polen lernen, forschen und gestalten ihre Zukunft gemeinsam. Das Verständnis füreinander wächst. Deswegen sage ich Ihnen: Die Chancen der grenzüberschreitenden Entwicklung sind größer als ihre Risiken. ({3}) Die Osterweiterung der Europäischen Union wird nicht nur im grenznahen Raum Impulse für Wachstum und Beschäftigung geben. Sie wird sich gesamteuropäisch auswirken, und zwar positiv: Ängste und Vorbehalte werden abnehmen; die Kulturen werden sich vermischen; die Wirtschaft wird gestärkt; das Lebensniveau wird sich erhöhen. ({4}) Genau das müssen wir den Menschen in Deutschland und in Europa vermitteln, damit die Akzeptanz für die europäische Sache zunimmt und Europa nicht nur ein Thema für Politiker wird. ({5}) Ich sage zum Abschluß: Es gibt zur europäischen Integration keine vernünftige Alternative. Deshalb wird - um mit Willy Brandt zu sprechen - „zusammenwachsen, was zusammengehört“. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Mit Ihrem Einverständnis nehme ich eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung des Kollegen Dr. Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion, zu Protokoll.*) Wir kommen jetzt zu einer Reihe von Abstimmun- gen. Anschließend wird die Sitzung auf Antrag der SPD- Fraktion unterbrochen. Wir kommen zuerst zu den Vorlagen, über die wir in der Sache abstimmen. Die Abstimmungen über die Überweisungen werden wir anschließend vornehmen. Wir stimmen zunächst über drei Entschließungsanträge zur Regierungserklärung ab. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/2248. Wer stimmt für diesen Entschlie- ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der anderen Fraktionen angenommen. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2245. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dage- gen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser Entschlie- ßungsantrag mit den Stimmen aller anderen Fraktionen gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2280. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Damit ist der Ent- schließungsantrag mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor abgelehnt. Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 13 b: Be- richt des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu der Unterrichtung der Bundes- regierung über die EU-Charta der Grundrechte, Druck- sache 14/1819. Ich gehe davon aus, daß Sie den Bericht des Ausschusses zur Kenntnis genommen haben. - Das ist der Fall. Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 13 c: Be- schlußempfehlung des Ausschusses für die Angelegen- ----- *) Anlage 2 heiten der Europäischen Union zu der Entschließung des Europäischen Parlaments zum Wahlverfahren für die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments, Drucksache 14/685. Der Ausschuß empfiehlt, die Entschließung des Europäischen Parlaments auf Drucksache 14/74 Nr. 1.9 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 13 d: Antrag der Fraktion der CDU/CSU „Festigung und Fortentwicklung der Europäischen Union während der deutschen Ratspräsidentschaft im 1. Halbjahr 1999“. Der Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt auf Drucksache 14/845, den Antrag auf Drucksache 14/159 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Dann ist diese Beschlußempfehlung des Ausschusses bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und der PDS bei Gegenstimmen der CDU/CSU und einer Gegenstimme der F.D.P. bei Enthaltung der F.D.P. im übrigen angenommen worden. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 13 g: Entschließungsantrag der Fraktion CDU/CSU zur Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur aktuellen Lage im Kosovo nach dem Eingreifen der NATO und zu den Ergebnissen der Sondertagung des Europäischen Rates in Berlin, Drucksache 14/675. Der Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt auf Drucksache 14/1288, den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/675 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Diese Beschlußempfehlung ist bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung von F.D.P. und PDS angenommen worden. Zusatzpunkt 9: Abstimmung über den Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Europäischer Rat in Helsinki: EU-Erweiterung voranbringen, politische Union vertiefen“. Wer stimmt für diesen Antrag auf Drucksache 14/2246? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser Antrag bei Zustimmung der F.D.P.-Fraktion gegen die Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS bei Enthaltung der CDU/CSUFraktion abgelehnt worden. Wir kommen nun zu den Überweisungen, zunächst zu Tagesordndungspunkt 13 a. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Entschließungsanträge der Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und F.D.P. auf Drucksache 14/2279 und der PDS auf Drucksache 14/2289 zur Regierungserklärung zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Tagesordnungspunkte 13 e und 13 f: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/1000 und 14/1955 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Zusatzpunkt 8: Weiterhin wird interfraktionell vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 14/2233 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, den Innenausschuß, den Rechtsausschuß, den Finanzausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, den Verteidigungsausschuß, den Ausschuß für die Angelegenheiten der neuen Länder und den Haushaltsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Dies ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen. Ich unterbreche jetzt die Sitzung auf Antrag der SPDFraktion für zirka eine Stunde. Der Wiederbeginn der Sitzung wird rechtzeitig durch Klingelsignal angekündigt. Die Sitzung ist unterbrochen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die unter- brochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich rufe die Punkte 14a bis 14c auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs - Drucksache 14/1928 ({0}) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Fernmeldeanlagen - Drucksache 14/1315 ({1}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2}) - Drucksache 13/2258 - Berichterstattung: Abgeordnete Hedi Wegener Jörg van Essen b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers, weiteren Abgeordneten der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung - § 100 a StPO - Drucksache 14/162 ({3}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({4}) - Drucksache 14/2192 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer ({5}) Volker Beck ({6}) Sabine Jünger c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und des Versammlungsgesetzes und zur Einführung einer Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten ({7}) - Drucksache 14/1107 ({8}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({9}) - Drucksache 14/2259 Berichterstattung: Abgeordnete Alfred Hartenbach Jörg van Essen Zu dem Gesetzentwurf zur Verankerung des TäterOpfer-Ausgleichs und zum Kronzeugen-VerlängerungsGesetz liegt je ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Hedi Wegener.

Hedi Wegener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zu dem Gesetzentwurf ist schon sehr viel gesagt worden. Deshalb möchte ich mich auf einige Anmerkungen beschränken. Der Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat mich gebeten, noch einige Punkte zur Täterorientierung bzw. zur Opferorientierung zu sagen. Täterorientiert ist dieses Gesetz ganz sicherlich nicht. ({0}) Der Gesetzentwurf beinhaltet weder therapeutische noch Beratungsinhalte und enthält auch keinerlei erzieheriVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms schen Aspekte, so daß man von einem täterorientierten Gesetz nicht reden kann. ({1}) Sie wissen, daß es sich bei den Beratungsstellen, die den Täter-Opfer-Ausgleich durchführen, ausschließlich um professionelle Kräfte handelt. Das Bild dieser Mitarbeiter ist das selbstbestimmter Menschen, die von der Ideologie und Philosophie ausgehen, daß die kreativen Anlagen grundsätzlich eine Selbstheilung und auch Veränderung der Menschen zulassen. Zu dem Beratungsprozeß gehört auf jeden Fall, daß er freiwillig und vertraulich ist und die Handlungsautonomie der Betroffenen selbst unterstützt. Das sind explizite Voraussetzungen für den Täter-Opfer-Ausgleich. In einem angstfreien Raum werden - gegebenenfalls in Anwesenheit des Täters, des Verletzten, des Geschädigten, des Opfers - die Vorgänge aus der Sicht des Opfers, werden die Verletzlichkeiten, die Schädigungen, die Wünsche und die Forderungen vorgebracht. Darüber hinaus bin ich auch der Meinung, daß sich der Täter-Opfer-Ausgleich für jede Tat eignet. Die hohe Zahl der Körperverletzungen bestätigt allerdings, daß der Täter-Opfer-Ausgleich vor allen Dingen bei diesen Delikten geeignet ist, weil es bei den Opfern einen hohen Grad der Betroffenheit gibt. Die Selbstbestimmtheit der Beteiligten läßt es jedoch zu, daß jeder/jede sich entscheiden kann, ob er/sie sich in diesen Prozeß begibt oder nicht. Die bisherigen Erfahrungen haben allerdings gezeigt, daß 71 Prozent der Opfer bereit sind, sich an einem Täter-Opfer-Ausgleich zu beteiligen. Ich sage es noch einmal: Wir sollen davon ausgehen, daß die Täter nicht unbedingt daran interessiert sind, ihren Opfern oder den Verletzten zu begegnen. Starke Muskeln, die große Klappe und die geballte Faust sind nämlich dann nicht mehr gefragt. Beim Täter-Opfer-Ausgleich müssen kleine Brötchen gebacken werden, sind Nachgeben und das Übernehmen der Sichtweise des Opfers, das Erfassen von dessen Perspektive - das sagte ich schon in meinem ersten Beitrag - von seiten des Opfers gefragt. Es muß also hinsichtlich der Perspektive des Täters eine Veränderung geben. Die jeweils unterschiedlichen Taten und die Bedürfnisse der Betroffenen machen in der Praxis auch unterschiedliche Beratungsformen, unterschiedliche Räume und unterschiedliche Situationen erforderlich. Es macht einen Unterschied, ob mediiert wird, wenn eine Gruppe junger Männer eine andere Gruppe junger Männer drangsaliert hat, ob ich in einem Prozeß mediiere, in dem es darum geht, daß ein besoffener Mann in den frühen Morgenstunden bei Edeka mit dem gerade gelieferten Joghurt herumgeschmissen hat, oder ob ich im sozialen Nahraum bei Körperverletzungen mediiere. Das ist auch für den Prozeß, der dann stattfindet, ein gewaltiger Unterschied. Aus den Ausführungen entnehmen Sie, daß es sich also um einen Prozeß handelt, in dem das Opfer zu jeder Zeit ein- und aussteigen kann. Es besteht erstmalig die Chance, daß ein Opfer durch eigenes Handeln in einen Prozeß eingreifen kann und nicht dadurch, daß der Rechtsanwalt des Opfers dem Rechtsanwalt der Gegenpartei irgendein Schriftstück mit einer Forderung zukommen läßt. Wie gesagt, die Erfolgsquote ist relativ hoch. Es kommt in 76 Prozent der Fälle nach bisheriger Erfahrung zu einem Abschluß in Form des Täter-Opfer-Ausgleichs. Nur 20 Prozent der bisher zugewiesenen Fälle lassen keinen Täter-Opfer-Ausgleich und die Bemühungen dazu zu. Aber auch die Möglichkeit, am Widerstand der Opfer zu arbeiten, ist eine Chance. Manche begeben sich erst nach den Kontaktaufnahmen und nach dem Gespräch darüber, was eigentlich mit ihnen passiert ist, in weitere Beratungen. Nach einer Untersuchung der Universität Tübingen gibt es im übrigen bei der Geschlechteraufteilung folgendes Bild: Täter bzw. Beschuldigte sind zu rund 82 Prozent Männer und zu 17 Prozent Frauen, Opfer wiederum zu 67 Prozent Männer und zu 33 Prozent Frauen. Je bedeutsamer der Eingriff in die persönliche und psychische Identität ist, um so höher ist die Anzeigebereitschaft. Die Länder sind nach Inkrafttreten dieses Gesetzes nun also gefordert. Die Gerichte sollen ausufernde Verhandlungen eindämmen. Die Richter sollen Akzeptanz und Rechtsfrieden schaffen. Es muß in ihren Köpfen verankert werden, daß der Täter-Opfer-Ausgleich ein Instrument dazu ist. Die Beratungsstellen müssen Qualifikation, Weiterbildung und Praxisberatung zur Verfügung stellen. Ich verhehle allerdings nicht, daß mir die Formulierung „soll die Eignung nicht angenommen werden“ im geplanten § 155a StPO einige Probleme macht. Bei allen Opferinteressen kann das Opfer nicht Herr des Verfahrens werden. Den Richtern muß die Entscheidung überlassen bleiben, ob sie eine Einstellung vornehmen oder nicht. Vielen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Götzer.

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, daß ich mich als Mitglied des Rechtsausschusses hauptsächlich mit den juristischen Gesichtspunkten des Täter-Opfer-Ausgleichs befasse. Ich glaube, wir alle stimmen im Grundsatz darin überein, daß der Täter-Opfer-Ausgleich, wenn er richtig praktiziert wird, eine gute Sache ist. Deswegen hat ihn die alte Koalition 1994 auch mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz im Strafrecht verankert. Aber der Täter-Opfer-Ausgleich und seine Akzeptanz in der Rechtsgemeinschaft steht und fällt mit der Wahrung der Opferbelange. Das heißt, die Interessen des Opfers müssen an erster Stelle stehen. Der Grundgedanke des Täter-Opfer-Ausgleichs ist es, durch individuellen Ausgleich zwischen Täter und Opfer Rechtsfrieden zu schaffen. Diesem Anspruch ist der bisherige Entwurf nicht gerecht geworden. Deswegen haHedi Wegener ben wir im Rechtsausschuß darüber sehr intensiv diskutiert. ({0}) Es gab aus der Sicht der Union vor allem zwei Kritikpunkte, Herr Kollege Ströbele. Zum einen haben wir kritisiert, daß es gemäß dem bisherigen Entwurf nach § 155 a Satz 3 StPO möglich war, gegen den Willen des Opfers einen Täter-Opfer-Ausgleich durchzuführen. Ich weiß nun nicht, Frau Kollegin Wegener, wie ich Ihre letzten Worte verstehen soll. Haben Sie die neue Version des Entwurfs nicht gelesen, wollen Sie sich damit nicht anfreunden oder wollen Sie dem Entwurf nicht zustimmen? Es steht nicht mehr drin, ein Täter-OpferAusgleich „soll“ nicht gegen den Willen des Opfers durchgeführt werden, sondern jetzt steht drin, er „darf“ nicht durchgeführt werden. So steht es in der Beschlußvorlage - wenn es denn drucktechnisch geklappt hat. ({1}) Wir haben in letzter Zeit ja schon anderes erlebt. Das scheint ja fast schon zur Gewohnheit bei dieser Koalition geworden zu sein. ({2}) Ich hoffe, daß jetzt drinsteht, daß er nicht gegen den Willen durchgeführt werden darf. Frau Kollegin, Sie müssen sich, wie gesagt, wenn Sie gegen diese Formulierung sind, überlegen, ob Sie dem Entwurf in der jetzt vorliegenden Fassung überhaupt zustimmen können. ({3}) Der zweite Kritikpunkt aus der Sicht der Union war der neu im § 153 a StPO aufgenommene Tatbestand, daß das Bemühen des Täters um einen Täter-OpferAusgleich ausreichend sein solle. Wir waren der Meinung, daß diese beiden Gesichtspunkte eindeutig die Interessen des Täters in den Vordergrund stellen und die Opferbelange vernachlässigen. Deswegen haben wir entsprechende Änderungsanträge während der Beratungen im Rechtsausschuß gestellt. Übrigens befinden wir uns mit unserer Kritik in interessanter Gesellschaft. Zum einen hat der Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend eine Anregung an den Rechtsausschuß gegeben - ich zitiere -: Weiterhin ist aus Sicht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend klarzustellen, dass in der Begründung die Interessen des Opfers beim Täter-Opfer-Ausgleich im Vordergrund zu stehen haben. Der Ausschuß war wohl bei dieser Entschließung mit den Stimmen aus der Regierungskoalition der Meinung, daß das bisher nicht der Fall ist. ({4}) - Ach ja, dann hätten Sie es ja gleich so formulieren können. Wir freuen uns über jeden Fortschritt. ({5}) - Herr Kollege Hartenbach, Sie regen sich vielleicht noch mehr auf, wenn ich jetzt auch noch den Zwischenbericht der Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems erwähne. Diese Kommission, die ja nicht von uns, sondern vom BMJ eingesetzt wurde, stimmt mit unseren Kritikpunkten überein, ({6}) indem sie die alte Fassung des § 155 a StPO ablehnte und eine Änderung des § 153 a Abs. 1 Satz 5, wo es um das Bemühen geht, verlangte. Die beiden von uns angesprochenen Punkte werden also in dem Zwischenbericht der vom BMJ eingesetzten regierungsnahen Kommission aufgegriffen, und es wurde für eine Änderung in unserem Sinne votiert. Auf Grund unserer Kritik hat - das sage ich mit Freude - offensichtlich ein Umdenken bei der SPD eingesetzt. Wir haben die Hoffnung, daß das bei vernünftigen Vorschlägen in Zukunft häufiger der Fall ist. Gerade in der Weihnachtszeit sind wir ja alle voll der Hoffnung. Ich hoffe, daß das nicht mit dem Ende der Weihnachtszeit wieder vorbei ist, sondern auch in Zukunft öfter der Fall sein wird. ({7}) Ich möchte hier vor allen Dingen auch dem Kollegen Stünker dafür danken, daß er im Rechtsausschuß die Änderung der Formulierung von „soll“ in „darf“ vorgeschlagen hat. Im nunmehr vorliegenden Entwurf sind entscheidende Verbesserungen enthalten. Nach der jetzt zu beschließenden Regelung darf der Täter-OpferAusgleich nicht gegen den Willen des Opfers durchgeführt werden. Ein bloßes Bemühen des Täters ohne die Zustimmung des Opfers läuft ins Leere, weil die Regelung in § 153 a StPO nicht in Betracht kommt, wenn das Opfer dem Täter-Opfer-Ausgleich nicht zustimmt. Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen, da es uns gelungen ist, diese entscheidenden Verbesserungen im Interesse des Opferschutzes durchzusetzen - darüber freut sich die CDU/CSU-Fraktion natürlich -, stimmen wir heute diesem Gesetzentwurf zu. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Heute hören Sie von mir nur Gutes. ({0}) - Wir sammeln die guten Tage in diesem Jahrtausend. Ich denke, heute ist ein guter Tag für die Justizpolitik in diesem Lande. Wenn ich es richtig sehe, werden auch Sie gleich zustimmen. ({1}) Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unter dem Täter-Opfer-Ausgleich, dem sogenannten TOA, können sich nicht viele Leute etwas vorstellen. Durch den Täter-Opfer-Ausgleich - das ist richtig und wichtig - können in Zukunft Strafprozesse vermieden oder verkürzt werden, können im voraus Schlichtungen herbeigeführt werden, nämlich dann, wenn sich der Täter bemüht - das steht nach wie vor im Gesetz, Herr Kollege -, sich mit dem Opfer zu einigen und die Tat sowie die Folgen der Tat wiedergutzumachen. Das Bemühen allein ist wesentlich, auch wenn es nicht immer zum Erfolg führen wird. Richtig ist, daß das niemals gegen den Willen des Opfers geschehen soll. Ich halte das für völlig in Ordnung, weil zum Beispiel die Vorstellung, daß eine Frau, die von einem Mann verprügelt worden ist, gegen ihren Willen dazu gezwungen wird, sich mit dem Täter zusammenzusetzen, Händchen zu halten und zu sagen: „Wir sind uns wieder einig.“ grauenhaft ist. Das wollen wir nicht Wirklichkeit werden lassen, und aus diesem Grund haben wir dies im Gesetz klargestellt. Das Wort „soll“ bedeutet für den Richter und auch für den Staatsanwalt, daß eine Einigung in solchen Fällen überhaupt nicht in Betracht kommt. Es handelt sich also lediglich um eine Klarstellung der Intention der Koalitionsfraktionen, Herr Kollege Geis. ({2}) Wir haben dies getan, weil wir dachten, daß diejenigen, die diesen Text lesen und keine Juristen sind, vielleicht Irrtümern unterliegen könnten. In Zukunft also wird der Staatsanwalt, wird der Richter zu jeder Zeit des Verfahrens zu prüfen haben: Ist das ein Fall für einen Täter-Opfer-Ausgleich? Trifft dies zu, wird er die Initiative zu ergreifen haben. Das kann in Verfahren wegen Diebstahls, in Verfahren wegen Sachbeschädigung, etwa beim Sprayen an Hauswänden, in Verfahren wegen Körperverletzung, eigentlich bei allen Taten, die als Vergehen zu qualifizieren sind, geschehen. Wir erhoffen uns dadurch erstens eine verbesserte Situation für die Opfer. Für viele ist es wichtiger, daß der Täter erscheint und sagt: „Es tut mir leid!“ oder: „Ich habe eingesehen, das war nicht in Ordnung! Wie kann ich das wiedergutmachen?“ und den Schaden tatsächlich materiell oder ideell wiedergutmacht. Zweitens wäre es für den Täter besser: Er braucht keine Geldstrafe zu zahlen. Er ist nicht vorbestraft. Er muß unter Umständen nicht in das Gefängnis. Auch für die Gesellschaft wäre es besser; denn der Rechtsfrieden wird eher dadurch hergestellt, daß jemand einsieht, daß er etwas falsch gemacht hat, und sich bemüht, dies wiedergutzumachen, als daß er in das Gefängnis geht, dem Staat Kosten verursacht und möglicherweise die Konfrontation nach der Entlassung aus dem Gefängnis oder nach der Zahlung der Geldstrafe ansteht. ({3}) Es ist also insgesamt eine gute und wichtige Regelung. Diese wollen wir, ich glaube: unisono verabschieden. Wir unterhalten uns heute aber auch über einige andere Gesetze. Richtig und gut ist der Kompromiß - wir haben ihn nach langen Diskussionen gefunden - über die Fortgeltung des § 12 des Fernmeldeanlagengesetzes. Auch darunter kann sich keiner etwas vorstellen. Es handelt sich um die Befugnis des Richters, beim Fernmeldeamt zum Beispiel nachzufragen: Wer hat gestern abend diese Telefonnummer gewählt und eine Frau oder einen Mann beschimpft, beleidigt, oder in sexueller Weise übel belästigt? Diese Vorschrift gibt es schon lange; wir wollen sie auch grundsätzlich erhalten. Sie leidet aber unter erheblichen datenschutzrechtlichen Mängeln, weil nicht sichergestellt ist, daß von dieser Möglichkeit auch in den Fällen Gebrauch gemacht wird, in denen sich nachher herausstellt, daß nichts war oder daß der Falsche festgestellt wurde, weil jemand anderes das Telefon benutzt hat. Wir wollen deshalb die ersten datenschutzrechtlichen Verbesserungen in das Gesetz aufnehmen und haben nur unter dieser Voraussetzung einer Verlängerung dieser Vorschrift zugestimmt. In Zukunft ist es vor allem wichtig, daß die von solchen Feststellungen durch das Gericht, durch einen Richter, Betroffenen nachträglich unterrichtet werden und sich dagegen zur Wehr setzen können. Das ist aber nicht genug. Wir haben weiterhin eine nochmalige Befristung bis zum Jahre 2001 abgesprochen. Dies bedeutet, daß die Koalitionsfraktionen - Sie sind aufgerufen, hier mitzumachen -, daß die Regierung bis zum Jahre 2001 - wir haben die Zusicherung, daß es möglichst bis zum Beginn des Jahres 2001 geschehen soll - eine weitere datenschutzrechtliche Regelung in das Gesetz aufnehmen wird und daß eine grundsätzliche Reformierung erfolgt. Das ist wichtig und richtig. Denn wir wollen, daß zum Beispiel die Berufsgeheimnisträger, also Rechtsanwälte, Ärzte, Geistliche, Journalisten, in Zukunft einen Schutz haben, damit sie in ihrer Berufsausübung nicht behindert und belästigt werden, wenn die Telefonnummern festgestellt werden. ({4}) Lassen Sie mich noch etwas zum dritten Gesetzentwurf der Union sagen, der heute beraten werden soll und den wir ablehnen. Wir wollen, daß die Kronzeugenregelung, die von Anfang an ein befristetes Sonderrecht gewesen ist, entstanden aus einem angeblichen Fahndungsnotstand 1989 in der Bundesrepublik Deutschland, zum Ende des Jahres 1999 ausläuft und ersatzlos wegfällt. Diese Kronzeugenregelung war unserem Recht fremd. Sie hat den Zweck, zu dem sie erlassen worden ist, nie erreicht. Es gibt keinen einzigen Fall, in dem das erreicht wurde, was der Gesetzgeber 1989 erreichen wollte, nämlich Menschen aus dem Kern terroristischer Vereinigungen zu lösen, um dadurch für die Zukunft Straftaten zu verhindern oder Straftaten aufzuklären. Das Gesetz ist lediglich in Fällen angewandt worden, in denen auf andere Art und Weise eine Aufklärung möglich gewesen ist und wo sich die Leute aus anderen Gründen zur Aussage bereit erklärt haben. Deshalb ist die Vorschrift nicht nur gefährlich - das war sie auch in der Vergangenheit -, sondern sie hat sich als überflüssig erwiesen. Darum wollen wir sie nicht fortsetzen. Lassen Sie uns diesen guten Tag am Ende des Jahrtausends damit schließen, indem wir den Täter-OpferAusgleich beschließen, die Fortgeltung des FAG befristet beschließen und die Kronzeugenregelung endlich auslaufen lassen. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin immer hoch alarmiert, wenn der Kollege Ströbele sagt, daß es einen guten Tag für den Rechtsstaat gibt. Denn dann gibt es Gelegenheit, darüber nachzudenken, ob das wirklich der Fall ist. Viele der Auffassungen, die er vertritt - das hat der gestrige Tag gezeigt -, lassen sich nicht unbedingt mit dem Rechtsstaat vereinbaren. ({0}) Ich möchte deshalb mit den erfreulichen Dingen beginnen, und zwar mit dem Täter-Opfer-Ausgleich. Auch hier ist die grüne Sicht deutlich geworden. Ich bin dem Kollegen Ströbele dankbar, daß er ausführlich darauf hingewiesen hat, welche Dinge gut für den Täter sind. Das ist der Schwerpunkt der grünen Rechtsüberlegung. Wir haben einen anderen Schwerpunkt, nämlich den, was gut für das Opfer ist. ({1}) Ich denke, daß wir gut beraten sind, das tatsächlich zum Schwerpunkt unserer Überlegungen zu machen. Ich stimme meinen Vorrednern zu, daß es hier gelungen ist, zu einer Verbesserung für das Opfer zu kommen, denn der Täter-Opfer-Ausgleich darf dem Opfer nicht aufgezwungen werden. Es tritt nämlich nur dann eine Befriedung ein, wenn auch das Opfer das Gefühl hat, daß seine Interessen berücksichtigt worden sind. Auf der anderen Seite stimme ich zu, daß der TäterOpfer-Ausgleich positive Wirkungen haben kann, insbesondere auf die Täter, die auf diese Weise erleben, welche Wirkungen ihre Tat beim Opfer gehabt hat. ({2}) Wer einmal erlebt hat, welche Wirkungen ein Handtaschendiebstahl auf eine ältere Frau hat, die sich auf einmal unsicher fühlt und deren Freiheit beeinträchtigt ist, weil sie sich zu bestimmten Zeiten nicht mehr traut, auf die Straße zu gehen, weil sie zum Beispiel in der Dunkelheit Angst hat, bestimmte Wege zu gehen, der versteht, daß es einem Täter sehr gut tut, wenn er einmal die Auswirkungen seiner Tat sieht. Ich finde es auch gut, daß Täter zum Beispiel dazu angehalten werden, die Folgen ihrer Tat zu beseitigen, ({3}) also zum Beispiel die Graffitis, die an einem Haus angebracht worden sind, zu entfernen. ({4}) Von daher sagen wir ein klares Ja dazu. Zu den anderen Punkten, die heute eine Rolle spielen, haben wir differenzierte Auffassungen. Zunächst einmal lehnen wir den Antrag der CDU/CSU, die Vorschriften für die Telefonüberwachung um weitere zu ergänzen, ab; denn wir möchten eine Überprüfung, in welchen Fällen die Telefonüberwachung notwendig ist. In manchen Bereichen der Kriminalität - Sie wissen, ich bin Oberstaatsanwalt und weiß es deshalb genau -, etwa bei der Drogenkriminalität, können wir auf die Telefonüberwachung nicht verzichten. Da brauchen wir sie dringend, um insbesondere die Dealer zu überführen. Von daher sagen wir ein klares Ja. Aber wir möchten gern eine Überprüfung, um zu klären, in welchen Fällen die Telefonüberwachung tatsächlich erforderlich ist und in welchen Fällen nicht. Wir haben bisher dafür keine Grundlage geliefert bekommen. Ich bedauere das außerordentlich; denn wir beobachten auf der anderen Seite - Sie wissen, daß ich mir jedes Jahr die entsprechenden Zahlen vom Bundesjustizministerium geben lasse - einen erheblichen Anstieg der Zahl der Telefonüberwachungen. Deshalb muß es eine Überprüfung des Kataloges geben und darf es kein blindes Erweitern geben, wie es in dem Antrag der CDU/CSU gefordert wird.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege van Essen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, ich soll es kurzmachen; das will ich auch tun. Können Sie mir erklären, warum Sie in den letzten zehn Jahren nicht all diese Arbeit geleistet haben und uns einen Gesetzesvorschlag vorgelegt haben, den wir bereits Ende 1998 oder spätestens Anfang 1999 hätten verabschieden können? ({0})

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Ströbele, ich weiß, daß die neue Koalition die alte Leier, es hätte in 16 Jahren irgend etwas geschehen können, besonders gerne spielt. ({0}) Dadurch wird die Leier aber überhaupt nicht besser. Sie wissen, daß in einer Koalition nicht alle Punkte umzusetzen sind. Die Grünen sind ein typisches Beispiel dafür. Deshalb würde ich gern in meiner Rede fortfahren, zumal ich gerade zu einem Punkt kommen möchte, bei dem ich wirklich betroffen darüber bin, daß die Grünen eingeknickt sind, nämlich zu der Frage des Fernmeldeanlagengesetzes. ({1}) Ich bin der Auffassung, daß wir diese Vorschrift brauchen, aber in geänderter Form. Daß wir sie brauchen, ist klar. Wer zum Beispiel erlebt hat, welche Konsequenzen der Telefonterror, der sich insbesondere gegen Frauen richtet, bei den betroffenen Frauen hat, die Nacht für Nacht aus dem Bett geschellt werden und nicht mehr durchschlafen können, der weiß, daß wir diese wichtige Ermittlungsmaßnahme brauchen. Trotzdem bedarf es hier einiger Ergänzungen. Wir müssen hierbei zu einem besseren Datenschutz kommen. Ich denke, daß das eine Aufgabe ist, die die neue Bundesregierung in diesem Jahr hätte erledigen können. ({2}) - Nein, Sie haben einen ersten Schritt getan. Sie haben keine wirklich vernünftige, umfassende Regelung getroffen. ({3}) Es wäre innerhalb eines Jahres möglich gewesen. Die Bundesregierung wußte, daß die Regelung Ende des Jahres auslaufen würde. Sie hätte innerhalb eines Jahres eine entsprechende Neuregelung vorlegen können. Wir bedauern es ganz außerordentlich, daß das nicht geschehen ist, und schlagen vor, die Regelung lediglich um ein Jahr zu verlängern, um die Bundesregierung endlich zum Tätigwerden zu zwingen. ({4}) Das gleiche sehen wir bei der Kronzeugenregelung vor. - Ich wiederhole den Satz, damit auch die Kollegen der SPD, die ständig dazwischenreden, ihn verstehen können. Wir sagen ein klares Nein zum Auslaufen der Kronzeugenregelung Ende dieses Jahres. Sie haben keine wirkliche Begründung vorgetragen, Herr Kollege Ströbele. ({5}) Sie haben keine wirkliche Begründung vorgetragen, wenn Sie ehrlich sind. Sie wissen, daß es dazu eine Untersuchung durch den hochangesehenen Chef des Kriminologischen Forschungsinstituts in Niedersachen, den Professor Pfeiffer, gibt, der Praktiker und andere Personen befragt hat, die mit dieser Regelung zu tun hatten, und klar gesagt hat, daß es insoweit einer Neuregelung bedarf. Genau das fordern wir als F.D.P. Wir wollen eine kurzfristige Verlängerung und dann eine Bestandsaufnahme, die leider auch hier durch die Bundesregierung nicht erfolgt ist. ({6}) Daß wir eine Kronzeugenregelung wirklich brauchen und daß all die Vorwürfe völlig unberechtigt sind, zeigt die Tatsache, daß Richter und Staatsanwälte tagtäglich den § 31 Betäubungsmittelgesetz in Deutschland anwenden, der sich außerordentlich bewährt hat. ({7}) - Sie selbst, Herr Ströbele, haben bei der Sitzung des Rechtsausschusses zu erkennen gegeben, daß auch Sie offen sind für eine Neuregelung. ({8}) Wenn das so ist, wenn wir tatsächlich eine Regelung der Kronzeugeneigenschaft brauchen, dann sollten wir jetzt dafür sorgen, daß es hier keinen abrupten Schluß gibt, sondern wir zu einer vernünftigen Neuregelung kommen. Die F.D.P. setzt sich dafür ein. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine Jünger.

Sabine Jünger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003156, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit fünf Jahren ist mit dem § 46 a des Strafgesetzbuches die Möglichkeit des Täter-OpferAusgleichs nicht mehr nur im Jugendstrafrecht, sondern auch im allgemeinen Strafrecht vorgesehen. Bisher wurde diese Maßnahme allerdings nicht so häufig und nicht so breit angewandt, wie auch wir uns das wünschen würden. Wir begrüßen es nachdrücklich, daß der Täter-OpferAusgleich jetzt auf eine breitere Grundlage gestellt wird. Er zwingt aus unserer Sicht den Täter, die Verantwortung für seine Tat zu übernehmen und sich den Folgen dieser Tat für das Opfer zu stellen. Der Täter muß sich selbst Gedanken über eine mögliche Wiedergutmachung machen und aktiv darauf hinwirken. Dem Resozialisierungs- und Erziehungsgedanken des Strafrechts wird dadurch besser entsprochen als durch von außen bzw. von oben ausgesprochene Strafen. Gleichzeitig ist der Ausgleich aber auch eine Maßnahme, die das Opfer und dessen Interessen in den Mittelpunkt stellt und sich nicht alleine mit der Sanktionierung des Täters begnügt. Häufig finden sich Opfer in Strafverfahren ja lediglich in der Rolle des Zeugen oder der Zeugin wieder. Die möglichen physischen oder emotionalen Folgen einer Tat finden im herkömmlichen Rahmen relativ wenig Beachtung. Jetzt gibt es immerhin die Möglichkeit, daß einige dieser Folgen für das Opfer durch die Auseinandersetzung mit dem Täter abgemildert oder zumindest besser bewältigt werden können. Wir halten die Ausweitung des Täter-Opfer-Ausgleichs für ein rechtspolitisch und gesamtgesellschaftlich bedeutsames Projekt. Aber bei aller Bedeutung dieser Maßnahme: Opfer dürfen selbstverständlich nicht unter Druck gesetzt werden, einem Ausgleich mit dem Täter zuzustimmen. Es ist wichtig, daß diese Tatsache jetzt in § 155 a der Strafprozeßordnung eindeutig geregelt ist. Daß der Gesetzentwurf der Regierung um Art. 3 a erweitert wurde, trübt unsere eindeutig zustimmende Haltung allerdings merklich. Der Art. 3 a bezieht sich - darauf hat der Kollege Ströbele schon hingewiesen - auf § 12 des Fernmeldeanlagengesetzes. Wir halten die darin enthaltenen Änderungen für unnötig und schädlich. Sie machen einen weitgehenden Eingriff ins Fernmeldegeheimnis möglich und stellen damit eine weitere Beschränkung der Rechte von Bürgerinnen und Bürger dar. Diese Problematik sehe ich übrigens auch in der Erweiterung des Deliktkatalogs des § 100 a der Strafprozeßordnung, die die CDU/CSU-Fraktion fordert. Wir werden diesen Antrag selbstverständlich ablehnen. Abschließend komme ich noch ganz kurz zur Kronzeugenregelung. Es ist Zeit, daß diese unsägliche Regelung endlich ausläuft. Sie hat dem Rechtsstaat mehr Schaden zugefügt, als sie jemals zur Aufklärung von Straftaten hätte beitragen können. Die Kronzeugenregelung durchbricht das Rechtsstaats- und das Legalitätsprinzip. Außerdem verletzt sie den Gleichheitsgrundsatz, indem sie Strafverdächtige oder überführte Täter ganz oder teilweise von einer Bestrafung ausnimmt. Schon bei ihrer Einführung 1989 - gegen die Kritik fast der gesamten Fachwelt - war klar, daß die versprochenen Strafminderungen einen Anreiz schaffen, andere zu bezichtigen, um sich selber Vorteile zu verschaffen. So etwas birgt immer die Gefahr, daß der Zeugenbeweis entwertet wird. Außerdem wird der Bezichtigung Unschuldiger Tür und Tor geöffnet. Ein gerade wieder aktuelles Beispiel dafür ist der ehemalige V-Mann und Kronzeuge Siegfried Nonne, dem psychiatrische Gutachten erneut jede Glaubwürdigkeit absprechen. Die Aussagen von Nonne haben dazu geführt, daß Christoph Seidler jahrelang als Terrorist gesucht wurde. Seidler hat sich vor drei Jahren gestellt, weil er nicht mehr länger auf der Flucht und in der Illegalität leben wollte. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird das Verfahren gegen ihn in Kürze eingestellt. Es wäre aus unserer Sicht dringender, Christoph Seidler zu rehabilitieren, als hier erneut eine Verlängerung einer so unsäglichen und schädlichen Regelung wie der Kronzeugenregelung zu debattieren. Es wird Zeit, sich von ihr zu verabschieden. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Parlamentarische Staatssekretär Pick.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, daß heute unabhängig von den unterschiedlichen politischen Einschätzungen Übereinstimmung darin besteht, daß dies ein guter Tag - hier knüpfe ich an Herrn Ströbele an - gerade für die Opfer von Straftaten und nicht in erster Linie für die Täter ist. ({0}) Wir setzen heute den Schlußpunkt unter die Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs. Ich freue mich, daß im Rechtsausschuß bei aller Zügigkeit der Beratungen gemeinsam ein Ergebnis gefunden worden ist, das zeigt, daß die Opferinteressen sehr ernst genommen werden. Vor allen Dingen stand die Rechtsstellung der Opfer im Vordergrund. Ich denke, der Täter-Opfer-Ausgleich stärkt die Opferinteressen in vielfacher Weise. Wir wissen, daß er zwei Hauptanliegen erfüllen muß, nämlich auf der einen Seite einen Ausgleich für das erlittene Unrecht zu schaffen. In diesem Zusammenhang ist auch das Interesse der Opfer an Genugtuung sowie daran sehr wichtig, daß der Täter mit den Folgen seiner Tat wirkungsvoll konfrontiert wird. Auf der anderen Seite erwarten wir vom Täter-OpferAusgleich eine verbesserte Akzeptanz der Arbeit der Justiz. Dies ist auch ein Gesichtspunkt, der aus unserer Sicht sehr wichtig ist. Das Opfer tritt aus seiner Nebenrolle als Zeuge heraus, die es bisher in vielen Fällen spielte, und wird aktiv in die Aufarbeitung der Folgen des Unrechts einbezogen. Ich denke, das ist ganz wichtig. Insofern erwarten wir, daß auch die Justiz von den nun eröffneten Möglichkeiten mehr Gebrauch macht als bisher. Diese Möglichkeiten gab es im materiellen Recht auch bisher schon. Vor allen Dingen die Beispiele aus dem Jugendstrafrecht lassen erwarten, daß der TäterOpfer-Ausgleich an Bedeutung gewinnen wird. Ich möchte noch auf den Vorwurf zu sprechen kommen, der erste Entwurf habe zu Zweifeln Anlaß gegeben, daß hier gegen den Willen des Opfers gehandelt werden könne. Es mag eine typisch juristische Betrachtungsweise sein, daß wir das Wort „soll“ etwas mehr schätzen und insofern anders interpretieren als die Allgemeinheit. Es war nie beabsichtigt, daß ein Täter-Opfer-Ausgleich gegen den Willen des Opfers durchgeführt wird, denn dann funktioniert er nicht. Insofern sind wir mit der getroffenen Klarstellung durchaus einverstanden. Ich will noch etwas zum § 12 des Fernmeldeanlagengesetzes sagen. Herr van Essen, Sie haben uns ein ganzes Bündel von Gesetzen hinterlassen, die alle zum 31. Dezember dieses Jahres enden. ({1}) - Es geht nicht nur um dieses Gesetz. Es gibt viele Gesetze, die auslaufen, so das Eigentumsfristengesetz, über das wir uns möglicherweise noch unterhalten, und auch die Kronzeugenregelung. Ich habe fast den Verdacht, daß Sie geahnt haben, daß jetzt die neue Koalition, die neue Bundesregierung vor der Aufgabe steht, ({2}) das alles bis zum Ende des Jahres 1999 so zu regeln, daß es dann auch Dauerrecht werde könnte. Selbst diese Regierung und dieses Haus sind nicht in der Lage, all dies sofort dauerhaft in Ordnung zu bringen. Eine Verlängerung des § 12 FAG um weitere zwei Jahre kann nur den Sinn haben, ({3}) hier eine Regelung zu finden, die sicher auch Ihren Beifall findet. Herr van Essen, Sie sind dazu herzlich eingeladen. Diese Zwischenregelung, die ja immerhin auch schon Verbesserungen im rechtsstaatlichen Sinne bringt - das haben Sie anerkannt -, werden wir jetzt in der Tat nicht zum Anlaß nehmen, zwei Jahre zu warten, sondern wir wollen möglichst bald, aber im Rahmen dessen, was wir von der Kapazität her leisten können, zu einer endgültigen Lösung kommen. ({4}) Ich will noch eine Bemerkung zu dem Gesetzentwurf der CDU/CSU zur Erweiterung des Katalogs der Straftaten in § 100 a StPO machen. Sie wissen, daß wir uns über das Problem der telefonischen Abhörmaßnahmen im Rechtsausschuß schon oft unterhalten haben. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht - der Bundesregierung und auch der Koalition macht der Anstieg der Zahl der telefonischen Überwachungen große Sorgen, meine Damen und Herren. ({5}) Wenn in diesem Jahr ein Anstieg um 30 Prozent festzustellen ist, dann müssen wir genau prüfen, was eigentlich dahintersteckt. Welche Tatbestände geben für die Verfolgungsbehörden Anlaß zu telefonischen Abhörmaßnahmen? Man muß sich in der Tat ganz genau überlegen, was man hier eventuell neu einführt. Wir werden allerdings überprüfen, ob die Ergebnisse, die die letzten Reformen im Strafrecht gebracht haben, Anlaß geben, hierzu neue Entscheidungen zu fällen, allerdings dann nur in Ruhe und unter Zugrundelegung der Fakten. Eine letzte Bemerkung zur Kronzeugenregelung. Gutachten haben das Schicksal, daß sie von allen sozusagen als Steinbruch für die Argumentation benutzt werden. ({6}) Nach meiner Interpretation - ich trete da dem Verfasser des Gutachtens ({7}) gar nicht zu nahe - ist es eine Arbeit, die auf Grund von Befragungen der Beteiligten angefertigt wurde, die aber nicht in der Lage war - das ergibt sich wohl auch nicht aus dem Auftrag -, einmal wirklich zu hinterfragen, in welchen Fällen die Kronzeugenregelung denn tatsächlich etwas gebracht hat. Dazu muß man Akten studieren. Das zu untersuchen, was Herr Ströbele gesagt hat, daß in vielen Fällen wohl andere Gründe entscheidend dafür sind, daß sich jemand den Ermittlungsbehörden öffnet, ist natürlich in diesem Gutachten gar nicht zu leisten gewesen. Nach unseren Erkenntnissen hat die Kronzeugenregelung erstens im Bereich des Terrorismus überhaupt nichts gebracht - weder ist eine Tat verhindert worden, noch sind die Organisationen deswegen zerschlagen worden, weil sich etwa Mitglieder offenbart hätten -, ({8}) und zweitens sind auch im Bereich der organisierten Kriminalität die Erfolge sehr, sehr bescheiden. Insofern erwarten wir von einer Novellierung etwa des § 46 des Strafgesetzbuches, daß dem Täter entsprechende Zusagen gemacht und damit auch Privilegierungen verschafft werden können. Dem sollte allerdings eine Diskussion vorausgehen, die tatsächlich auch die Grundlagen beachtet und die Rechtstatsachen mit einbezieht. Vielen Dank. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Geis. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Herr Staatssekretär! Wenn Sie an eine Novellierung denken - ich kann Ihnen jetzt schon prophezeien: es wird schwierigste Verhandlungen mit den Grünen dazu geben; und ich weiß nicht, ob Sie überhaupt dazu kommen werden -, dann ist es doch überhaupt nicht einzusehen, daß Sie dem Vorschlag dieses Gutachtens, wie immer man dazu stehen mag, nicht folgen, nämlich so lange, bis die Reformvorstellungen auf dem Tisch liegen, die Kronzeugenregelung gelten zu lassen, ihre Geltungsdauer also heute zu verlängern - für ein Jahr, für zwei Jahre - und dann in dieser Frist einen neuen Vorschlag zur Verbesserung der Kronzeugenregelung vorzulegen. Ich weiß gar nicht, wie Sie das der Bevölkerung klarmachen wollen und wie Sie ernsthaft argumentieren wollen. Es gibt doch überhaupt kein ernsthaftes Argument, wenn Sie schon verändern, wenn Sie schon verbessern wollen, gegen eine Verlängerung bis zur Verbesserung - so, wie der Sachverständige das vorgeschlagen hat. ({0}) Wir haben die Kronzeugenregelung seit zehn Jahren, seit 1989 im terroristischen Bereich, 1994 ausgedehnt auf den Bereich der organisierten Kriminalität. Kern der Kronzeugenregelung ist, daß der Mittäter, der ausgestiegen ist, seine Kenntnisse von der Struktur, von der Strategie, von den Zielen, von den verbrecherischen Vorhaben, von den Verbrechern selbst der Polizei, dem Staatsanwalt, dem Richter weitergibt. Weil er sie weitergibt, begibt er sich in Lebensgefahr; denn er muß damit rechnen, daß er von seinen ehemaligen Komplizen ermordet wird. Deswegen wird er nur dann etwas weitergeben, wenn er dafür eine Gegenleistung des Staates erhält. Diese erhält er in der jetzigen Kronzeugenregelung und offenbar auch in der von Ihnen gedachten Reform dadurch, daß man ihm Strafmilderung oder Straferlaß verspricht. Das kommt auf die Schwere seiner eigenen Tat an. Natürlich weiß ich, daß hier ein Deal geschieht und daß dies das eigentliche rechtsstaatliche Problem ist. Das wollen wir nicht verniedlichen. Wir haben dieses Problem in den vergangenen Jahren, 1989 und 1994, diskutiert. Das war der Grund, weshalb wir uns in der Koalition letztendlich nie zu einer Reform entschließen konnten. Wir von der CDU/CSU wollten das, während die F.D.P. größere rechtsstaatliche Bedenken hatte. Das will ich überhaupt nicht hintanstellen. Das ist keine Kritik, sondern durchaus lobenswert. Wegen der Bedenken der F.D.P. haben wir die Geltung der bestehenden Regelung immer wieder verlängert. Wir wollten die ganze Entwicklung und die Wirkungsweise der Kronzeugenregelung einmal abwarten. In der Abwägung zwischen Legalitätsprinzip, das ein wichtiges Verfassungsprinzip ist, und der inneren Sicherheit der Bevölkerung, der Sicherheit des einzelnen Bürgers vor einem Verbrechen, haben wir uns für die Kronzeugenregelung entschieden. Wir haben uns also dazu entschlossen, demjenigen, der sich offenbart und Informationen gibt, einen Vorteil zu gewähren. Anders bekommen wir diese Informationen nicht. Wir brauchen die Kronzeugenregelung. Sie hat sich im Gegensatz zu dem, was hier gesagt worden ist, durchaus bewährt. Ich werde Ihnen einige Beispiele dafür nennen. ({1}) - Herr Ströbele, ich finde es in höchstem Maße peinlich, daß sich ausgerechnet Sie mit Ihrer Vergangenheit - wir alle kennen die Ereignisse aus den Jahren 1982 und 1983 - zum Wortführer derer machen, die die Kronzeugenregelung abschaffen wollen. Das empfinde ich als in höchstem Maße schlimm und peinlich. Sie sollten ganz still sein und sich nicht so laut vorwagen. ({2}) Wir halten die Kronzeugenregelung im Interesse der inneren Sicherheit für eminent wichtig. Es ist völlig ausgeschlossen, in einen so abgeschotteten Kreis wie den einer terroristischen Vereinigung oder einer mafiosen Gruppierung hineinzukommen, ohne daß sich die Mitglieder der terroristischen Vereinigung selbst äußern. Die Telefonüberwachung ist wichtig. Auch der Lauschangriff, also die elektronische Wohnraumüberwachung, ist wichtig. Aber mit diesen Mitteln hat man beim Kampf gegen diese abgeschotteten Gangster keine Chance. Diese Verbrecher haben Geld genug, um sich in abhörsichere Räume zu begeben, wenn sie verhandeln. Deswegen haben diese Instrumente bislang wenig Wirkung gezeigt, deswegen sind wir zur Kronzeugenregelung gekommen, und deswegen wollen wir sie auch beibehalten. Natürlich - das gebe ich zu - waren es nicht zu viele Fälle: Es waren im terroristischen Bereich 25 und auch in der organisierten Kriminalität exakt 25. Aber immerhin: Von zehn ausgestiegenen ehemaligen Terroristen waren sieben bereit, im Rahmen der Kronzeugenregelung auszusagen. Dadurch war es möglich, Strafverfolgungen einzuleiten. Es ist für einen Rechtsstaat nicht gerade wenig, wenn er begangene Straftaten verfolgt; denn die Verfolgung von Straftaten hat immer auch eine präventive Note. Sie müssen noch eines bedenken: Diese Kronzeugenregelung hat zweifellos einen sehr stark präventiven Sinn. Diese Ansicht vertrete ich nicht allein. Der ehemalige Generalbundesanwalt Dr. Kurt Rebmann hat erklärt, daß einer der wichtigen Gründe für die Tatsache, daß der Terrorismus bei uns auf Null herabgesunken ist und keine gesellschaftliche Bedeutung mehr hat - darüber freuen wir uns alle -, die Kronzeugenregelung ist. Sie hat eine Verunsicherung dieser Banditen bewirkt, die in einem engen Kreis ganz abgeschottet zusammenleben und sich austauschen. ({3}) Allein die Furcht dieser Banditen, daß sich der Mittäter eines Tages offenbaren kann, hält sie ganz offenbar davon ab, die eine oder andere Straftat zu begehen. ({4}) Zumindest wirkt die Kronzeugenregelung wie ein Keil, der in mafiose Strukturen und in terroristische Vereinigungen hineingetrieben wird und der sie zerschlägt. Nur durch diese Möglichkeiten hat die Polizei die Chance, solche mafiosen Gruppierungen auseinanderzusprengen, sie zu zerschlagen, Straftaten zu verfolgen und Verbrechen zu verhindern. ({5}) Dies gilt ganz sicher für den Bereich des Terrorismus. Dies gilt auch für den Bereich der organisierten Kriminalität, ({6}) wiewohl ich zugebe, daß die Kronzeugenregelung in diesem Bereich nicht die Wirkung erzielt hat, die sie eigentlich hätte erzielen sollen. ({7}) Das ist wahr. Dies hängt damit zusammen, daß die jetzige Kronzeugenregelung an § 129 des Strafgesetzbuches - Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung - gebunden ist. Diese kriminelle Vereinigung muß erst einmal nachgewiesen werden. Alle Staatsanwälte sagen uns: Wir haben keine Chance, kriminelle Vereinigungen nachzuweisen. Sie schotten sich ja ab, damit wir nichts nachweisen können. Deswegen müßt ihr die Kronzeugenregelung an den Straftatenkatalog und nicht an § 129 des Strafgesetzbuches, also nicht an den Nachweis einer kriminellen Vereinigung binden. So lautet der Vorschlag der Staatsanwälte. Dieser Vorschlag wird auch in dem Gutachten gemacht, das schon vorhin erwähnt worden ist. Dies sollten wir uns vornehmen. Wir sollten die Kronzeugenregelung gelten lassen, weil sie nach meiner Meinung ein wichtiges Instrument gegen die organisierte Kriminalität und auch gegen den Terrorismus ist. Sie ist kein so schwerwiegendes Instrument wie der Lauschangriff. Verehrte Damen und Herren von der SPD, es ist mir unerklärlich, wie Sie dem Lauschangriff, also der elektronischen Wohnraumüberwachung, zustimmen konnten, mit der ja viel weiter in die Rechte des einzelnen eingegriffen wird als mit der Kronzeugenregelung, und jetzt die Kronzeugenregelung abschaffen wollen. Dies ist ein Widerspruch. Sie müßten eigentlich beides abschaffen. Der Lauschangriff hat einen viel engeren Wirkungsgrad; dies wollen wir auch so. Aber die Kronzeugenregelung ist ein viel wichtigeres Instrument. Deswegen ist es mir völlig unverständlich, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, daß Sie die Kronzeugenregelung abschaffen und den Lauschangriff beibehalten wollen. Dies können Sie einem Normalsterblichen überhaupt nicht klarmachen. Geben Sie zu: Sie sind Opfer Ihres Koalitionspartners! Hier wackelt der Schwanz mit dem Hund! ({8}) Herr Ströbele hat sich durchgesetzt. Die Grünen haben schon immer die großen Überschriften Ihrer politischen Agitation bestimmt. Die Grünen, die kein Verständnis für die innere Sicherheit haben - dies möchte ich Ihnen nicht im geringsten absprechen -, haben Sie in dieser Frage einfach über den Tisch gezogen. Man muß hier laut aussprechen: Die Grünen haben sich zu ihren eigenen Lasten, aber auch zu Ihren Lasten durchgesetzt. ({9}) - Die Altachtundsechziger und die Grufties haben sich hier durchgesetzt. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Geis, Ihre Redezeit ist leider abgelaufen.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe nur noch einen Satz.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Sie dürfen noch einen Satz zum Schluß sagen. Aber ich bitte darum, keinen neuen Punkt anzuschneiden. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Ausdehnung der Telefonüberwachung auf Korruptions- und schwere Sexualdelikte halte ich für dringend erforderlich. Dies haben wir vor zwei Jahren gemeinsam vereinbart, als wir den Lauschangriff eingeführt haben und als wir gemeinsam die Verfassung geändert haben. Jetzt müßten Sie soweit sein, mit uns zu stimmen. Unser Gesetzentwurf liegt seit einem Jahr auf dem Tisch. Sie können nicht ewig das gesamte Konzept überdenken. Irgendwann müssen Sie zu dem Ergebnis kommen, ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Geis, bitte. Ich muß Sie jetzt bitten, zum Schluß zu kommen.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- daß Sie zustimmen müssen. Danke schön. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Nein, dies wird Ihnen nicht von der Redezeit abgezogen. Leider haben auch Sie nur vier Minuten zur Verfügung. Bitte schön, Herr Kollege Hartenbach.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe interessierte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe gar nicht gewußt, daß Norbert Geis den TäterOpfer-Ausgleich auf SPD und Grüne ausdehnen will. Wir fühlen uns nicht als Opfer. ({0}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich gleichwohl - nicht nur, aber auch weil morgen der zweite Advent ist - einige Worte ({1}) - übermorgen ({2}) des Dankes aussprechen. Ich bedanke mich sehr herzlich bei den Praktikerinnen und Praktikern meiner Fraktion, bei den Fachleuten im Bundesjustizministerium und bei Ihnen, Herr Staatssekretär, daß wir nach einer gemeinsamen Beratung über viele Stunden diesen Gesetzentwurf so vorlegen konnten und heute beraten können. Dies war ein sehr guter Akt der Gemeinsamkeit. Ich bedanke mich auch sehr herzlich bei den anderen Kolleginnen und Kollegen des Rechtsausschusses. Ich habe gar nicht gewußt, daß man der CDU/CSU mit einem Wort mit vier Buchstaben - es geht darum, daß man „soll“ durch „darf“ ersetzt - eine solche Freude machen kann. Aber wenn das so sein sollte, werden wir Ihnen diese Freude des öfteren machen. ({3}) Im übrigen haben uns die Petitionen des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend davon überzeugt, das Wort „soll“ durch „darf“ zu ersetzen. Wenn es nun ein gemeinsamer Antrag ist, ist es auch gut. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen hinsichtlich § 12 FAG, in dem es um die Möglichkeit geht, Auskünfte über geführte Telefongespräche zu bekommen, eine vernünftige Regelung in den §§ 100 ff. der Strafprozeßordnung. Bis es soweit ist, müssen wir etwas mehr Rechtsstaatlichkeit schaffen, was Sie, meine lieben Kollegen von der CDU/CSU und der F.D.P. - von Ihnen sind ja nur noch Männer da ({4}) bisher versäumt haben. Es ist schon ein richtiges Stück Dreistigkeit, Herr van Essen, wenn Sie uns hier vorwerfen, wir müßten endlich etwas tun. Sie hatten 16 Jahre lang nicht die Kraft, etwas zu tun. ({5}) Alles, was in den letzten vier Jahren an vernünftigen Gesetzen in der Justizpolitik gemacht worden ist, hat nur deswegen geklappt, weil wir mitgeholfen haben. Das stecken Sie sich einmal hinter die Ohren! ({6}) Es ist gut, daß wir hier eingeführt haben, daß nach Beendigung der Maßnahme der Betroffene unterrichtet wird und die Aufzeichnungen gelöscht werden. ({7}) Selbst der Datenschutzbeauftragte lobt uns. ({8}) Wir werden in den nächsten beiden Jahren, Kollege van Essen, einen vernünftigen Gesetzentwurf erarbeiten. Wir werden der von Ihnen beantragten Ausdehnung der Abhörung des Telefonverkehrs im Moment so nicht zustimmen. Zum einen glaube ich ohnehin nicht, daß hinsichtlich des sexuellen Mißbrauchs von Kindern über das Telefon sehr viel zu erfahren sein wird. Außerdem brauchen wir erst einmal eine vernünftige Beratungsgrundlage, in welchen Fällen überhaupt noch abgehört werden kann. So kann heute immer noch abgehört werden, wenn gegen den Viermächtestatus in Berlin verstoßen wird. Das muß doch einmal geändert werden. ({9}) - Dann werden wir nach einer vernünftigen Beratung, lieber Norbert, auch hier einen ordentlichen Gesetzentwurf vorlegen. Nun zu Ihrer Kronzeugenregelung: Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der Kronzeuge ist dem deutschen Recht ziemlich fremd. ({10}) Wir haben ihn in einer Situation eingeführt, wie es Herr Ströbele dargestellt hat, als es darum ging, gegen den Terrorismus anzugehen. Wir alle wissen, daß wir mittlerweile keine Erfolge damit mehr haben. Selbst das Land mit der klassischen Kronzeugenregelung, Italien, will, wenn es um die Bekämpfung der Mafia-Kriminalität geht, diese Regelung so einschränken, daß neben der Aussage des Kronzeugen auch noch andere Beweismittel vorhanden sein müssen. Herr van Essen, ich bin zwar kein Oberstaatsanwalt gewesen; ich habe es nur bis zum Staatsanwalt gebracht. Aber ich habe in dieser Zeit auf Anordnung meiner Behördenleitung in zwei Fällen die Kronzeugenregelung auf Verbrecher anwenden müssen, Deals machen müssen. Wer das einmal gemacht hat, geht an diese Regelung sehr vorsichtig heran; denn unser Rechtsstaat darf nicht davon abhängen, daß er nur dann funktioniert, wenn wir mit Verbrechern zusammenarbeiten, Deals machen. Wir sind absolut dagegen. ({11}) Nun habe ich meine Redezeit gleich um eine Minute überzogen, und ich möchte die Frau Präsidentin nicht verärgern. Daher beschränke ich mich auf eine kurze Bemerkung: Seien Sie doch dankbar, daß wir die Kronzeugenregelung abschaffen. Stellen Sie sich einmal vor, Herr Schreiber und Herr Leisler Kiep würden von der Kronzeugenregelung, wie Sie sie vorhaben, Gebrauch machen! Vielen Dank. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs. Die Fraktion der F.D.P. verlangt getrennte Abstimmung. Ich rufe zunächst Art. 1 bis Art. 3 in der Ausschußfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Art. 1 bis 3 sind einstimmig angenommen worden. Ich rufe jetzt Art. 3 Buchstabe a in der Ausschußfassung auf. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/2260 vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der F.D.P. abgelehnt. Wir kommen damit zur Abstimmung über Art. 3 Buchstabe a in der Ausschußfassung. Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Art. 3 Buchstabe a in der Ausschußfassung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU gegen die Stimmen von F.D.P. und PDS angenommen. Ich rufe Art. 4, Einleitung und Überschrift, in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Art. 4, Einleitung und Überschrift sind angenommen. Damit ist der Gesetzentwurf insgesamt in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in der dritten Lesung mit den Stimmen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und PDS bei Enthaltung der F.D.P. angenommen. Wir kommen jetzt zur Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung des Gesetzes über Fernmeldeanlagen. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf auf Drucksache 14/1315 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung der Strafprozeßordnung auf Drucksache 14/162. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/2192, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse jetzt über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU abstimmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entwurf eines Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetzes der Fraktion der CDU/CSU. Der Rechtsausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf abzulehnen. Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/2261 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt. Ich lasse jetzt über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU abstimmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen von CDU/CSU abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit - Drucksache 14/1831 ({0}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({1}) - Drucksache 14/2254 - Berichterstattung: Abgeordnete Renate Rennebach Die Abgeordneten Rennebach, Schemken, Meckel- burg, Dückert, Schwaetzer, Balt und der Parlamentari- sche Staatssekretär Andres haben darum gebeten, ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie einverstanden? ({2}) Das ist der Fall. ----- *) Anlage 3 Wir kommen damit gleich zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Fortentwicklung der Altersteilzeit. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, CDU/CSU und PDS gegen die Stimmen der F.D.P. angenommen worden. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Gibt es keine. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen worden. Wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 15. Dezember, 13 Uhr ein. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und den letzten Besuchern auf der Tribüne einen schönen zweiten Advent. Die Sitzung ist geschlossen.