Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der
Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Unsicherheit über die weitere Entwicklung der Bundeswehr nach der Rede des Bundeskanzlers vor der Kommandeurstagung
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia Nolte, Birgit
Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU: Alte Versprechen nicht
erfüllt und neue Wege nicht gegangen - Bilanz der Behindertenpolitik - Drucksache 14/2234 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({0})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Friedrich
({1}), Angelika Volquartz, Thomas Rachel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Eckpunkte für
eine BAföG-Reform - Drucksache 14/2031 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß
4. Erste Beratung des von den Abgeordneten Cornelia Pieper,
Jürgen W. Möllemann, Detlef Parr, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Bundesausbildungsförderungsgesetzes ({3}) - Drucksache 14/2253 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4})
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsauschuß gemäß § 96 GO
5. Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
({5})
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Eigentumsfristengesetzes ({6})
- Drucksache 14/2250 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
({7})
Rechtsausschuß
b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Fortsetzung der Berichterstattung der Bundesregierung zum Stand der Deutschen
Einheit - Drucksache 14/2238 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
({8})
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuß
6. Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
({9})
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsauschusses
({10}) zu dem Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2000
({11}); hier: Abstimmung einer Entschließung unter Nr. 2 der Beschlußempfehlung - Drucksachen
14/1400, 14/1680, 14/1923 7. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Entbindung von der Schweigepflicht gegenüber dem Untersuchungsausschuß - Drucksache 14/2236 8. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Regierungskonferenz 2000 und Osterweiterung - Herausforderungen für die Europäische Union an der Schwelle zum
neuen Millennium - Drucksache 14/2233 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
({12})
Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuß
9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Hildebrecht Braun ({13}), Ernst Burgbacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Europäi-
scher Rat in Helsinki: EU-Erweiterung voranbringen,
politische Union vertiefen - Drucksache 14/2246 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Hierbei mache ich insbesondere darauf aufmerksam,
daß das ursprünglich vorgesehene zweite Kernzeitthema
zur Energiepolitik abgesetzt und durch ein die BAföG-
Reform betreffendes Kernzeitthema ersetzt werden soll.
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll - so-
weit erforderlich - abgewichen werden. Außerdem soll
der Tagesordnungspunkt 6a, der einen Gesetzentwurf
der Koalitionsfraktionen zur Förderung des Stiftungswe-
sens vorsah, abgesetzt werden. Sind Sie mit den Verein-
barungen einverstanden? - Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3a bis 3c sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
3. a) Vereinbarte Debatte zur Behindertenpolitik
b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Integration von Menschen mit Behinderungen ist eine dringliche politische und gesellschaftliche Aufgabe
- Drucksache 14/2237 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({14})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 94 zu Petitionen
({16})
- Drucksache 14/1982 ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Nolte, Birgit Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Alte Versprechen nicht erfüllt und neue Wege
nicht gegangen - Bilanz der Behindertenpolitik
- Drucksache 14/2234 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({17})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es liegt zu der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Zu diesem Tagesordnungspunkt möchte ich ausdrücklich Gäste mit Behinderung begrüßen, die unsere
Debatte verfolgen. Seien Sie uns herzlich willkommen!
({18})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Bundesminister Walter Riester.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Es ist unser aller Anliegen, die berufliche und gesellschaftliche Eingliederung behinderter
Menschen voranzubringen. Wir haben es immer wieder
betont - trotzdem will ich es hier noch einmal sagen -:
Im Umgang mit behinderten Menschen spiegelt sich der
Zustand einer Gesellschaft, unserer Gesellschaft, wider.
In den letzten Jahren hat sich das Bild des behinderten Menschen gewandelt. Behinderte Menschen wollen
nicht länger Adressat oder gar Objekt von Hilfe sein. Sie
gehen davon aus und streiten dafür, als eigenverantwortliche, mündige Menschen ihre Fähigkeiten so weitgehend wie möglich zu nutzen und ihre Teilnahme an
Gesellschaft so vollwertig wie möglich gestalten zu
können. Es ist unsere Aufgabe als Politiker, Bedingungen herzustellen, die die Initiative und Selbstbestimmung und damit die Fähigkeit zur Selbsthilfe von
behinderten Menschen stärken.
({0})
Ein Anspruch auf Würde und darauf, daß sie unantastbar ist, hat jeder Mensch - unabhängig von seinen
geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeiten. Wir
müssen behinderten Menschen Chancengleichheit einräumen und notwendige Hilfen geben, damit sie ihren
Platz in der Gesellschaft einnehmen können. Es ist eine
Grundüberzeugung in unserem Lande, die von allen
demokratischen Kräften geteilt wird: Behinderte und
von Behinderung bedrohte Menschen verdienen die besondere Solidarität unserer Gesellschaft. Das soll und
muß so bleiben.
Uns allen ist bewußt, daß die Chancengleichheit behinderter Menschen bei weitem noch nicht erreicht ist.
Barrieren - nicht nur auf den Straßen und in den Gebäuden, sondern auch in den Köpfen - behindern die behinderten Menschen, ihre Chancen wahrzunehmen.
Das war ein Grund dafür, daß der Deutsche Bundestag vor fünf Jahren mit großer Mehrheit das Grundgesetz um den Art. 3 Abs. 3 Satz 2 ergänzt hat: „Niemand
darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
Damit wurde nicht nur ein neues individuelles Grundrecht geschaffen, sondern zugleich die Verpflichtung für
Politik und Gesellschaft bekräftigt, sich aktiv um die
volle Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in
Familie, Beruf und im täglichen Leben zu bemühen.
Die neue Bundesregierung will dieser Verpflichtung
gerecht werden. Das hat die Regierungskoalition schon
in der Koalitionsvereinbarung deutlich gemacht. Wir
sind aufgerufen, Behinderten und von Behinderung bePräsident Wolfgang Thierse
drohten Menschen bei der Entwicklung ihrer Fähigkeiten Hilfestellung zu geben.
Dabei dürfen wir nicht auf die Einschränkung der
Leistungsfähigkeit abstellen, sondern müssen uns auf
das Potential dieser Menschen konzentrieren.
({1})
Rehabilitation ist als Chance für einen Neuanfang zu
begreifen. Es ist nicht das Ziel, Menschen, die in ihrer
Leistungsfähigkeit vorübergehend oder dauerhaft eingeschränkt sind, zur passiven Klientel unseres Sozialstaats
werden zu lassen.
Entsprechend unserem Verständnis von Rehabilitation als wichtigem Feld der Sozialpolitik brauchen wir zur
Erfüllung dieser Aufgabe Prävention in jeder Form, um
körperliche, geistige und seelische Schäden möglichst
gar nicht entstehen zu lassen. Wir brauchen auch Rehabilitation in jeder Form, um bei unvermeidbaren Schäden möglichst wenig an Funktionseinschränkungen und
sozialer Benachteiligung entstehen zu lassen.
({2})
Schließlich brauchen wir dauerhafte Sozialleistungen
bei einer Behinderung, wie zum Beispiel Rente und
Pflege - aber erst dann, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, die den Betroffenen ein sozial
und wirtschaftlich eigenverantwortliches Leben sichern
können.
An den Grundsätzen der Rehabilitationspolitik werden wir nichts ändern. Hier ist uns Kontinuität wichtig.
Es gelten auch weiterhin die Grundsätze: Prävention vor
Rehabilitation, Rehabilitation vor Rente und Pflege,
Selbsthilfe vor Fremdhilfe, ambulant vor stationär. Dabei streben wir eine weitestgehende Normalität für die
Betroffenen an.
({3})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert,
PDS-Fraktion?
Ja.
Herr Minister, vielen Dank, daß
Sie gleich am Anfang deutlich gesagt haben, daß Sie die
Fähigkeiten von behinderten Menschen in den Vordergrund stellen wollen. Aber wäre es nicht an der Zeit, diese
Formeln Reha vor Rente, Reha vor Pflege usw. zu ergänzen durch Reha plus Rente oder Reha plus Assistent?
Denn es kann doch nicht sein, daß das eine gegen das andere ausgespielt wird. Behindertenpolitik kann sich doch
nicht in Rehabilitationspolitik erschöpfen. Es muß endlich
als Teil des Ganzen begriffen werden. Sehen Sie das nicht
auch so? Ich habe Befürchtungen, daß die Diskussion auf
die Reha-Politik begrenzt wird, obwohl wir eigentlich
über Behindertenpolitik reden müßten.
Ich verstehe das als Vorrangprinzip und nicht
als Ausschluß. Natürlich haben wir auch Rehabilitation
in unserem Rentensystem. Ich möchte Rehabilitation
nicht ausgeschlossen sehen, sondern in dem Sinne eines
Grundsatzes des Vorrangs und Nachrangs, nicht des
Ausschlusses.
Wir wollen die angesprochenen Grundsätze noch besser, noch wirkungsvoller und mit noch besseren Ergebnissen für die Betroffenen umsetzen. Aus unserer Sicht
können die vorhandenen Ressourcen noch besser eingesetzt werden. Mit Ressourcen meine ich vor allem die
menschlichen Fähigkeiten, in erster Linie die der Betroffenen, aber ebenso die von der Gesellschaft bereitgestellten Mittel in Form von Arbeit und Geld.
Es muß eine Hinwendung zu einer frühzeitigeren und
umfassenden Rehabilitation erfolgen. Rehabilitation darf
nicht als Phase, die erst nach Abschluß der Akutbehandlung einsetzt, sondern muß als eine übergreifende
Zielsetzung angesehen werden.
Fachübergreifende Frührehabilitation ist notwendig,
um die physischen und psychischen Lebensqualitäten
der Betroffenen schnell zu verbessern, die Rückkehr in
das soziale Umfeld rascher zu ermöglichen, Pflegebedürftigkeit zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern, den Aufenthalt im Krankenhaus und in der RehaEinrichtung insgesamt zu verkürzen - auch, um Kosten
zu senken. Zeit ist kostbar, und zwar im wahrsten Sinne
des Wortes für die Betroffenen, für die Gesellschaft und
im Sinne einer Kostenersparnis im Gesundheitswesen.
Entsprechendes gilt natürlich auch für die ambulante
Gesundheitsvorsorge, nicht zuletzt dort, wo sich ambulante und stationäre Dienste und Einrichtungen noch
immer als zwei getrennte Welten verstehen, nicht als zusammengehörige Teile eines umfassenden, kundenorientierten Dienstleistungsangebotes.
Nicht nur in medizinischer, sondern auch in beruflicher Hinsicht ist es unstrittig, daß Rehabilitation so
schnell wie möglich einsetzen muß. Sie ist um so wirksamer, je eher sie tatsächlich erbracht wird.
({0})
Internationale Studien gehen davon aus, daß die
Chancen, wieder in Arbeit zu kommen, nach sechs Monaten Abwesenheit von der Arbeit bei 50 Prozent liegen.
Nach einem Jahr liegen die Chancen nur noch bei
20 Prozent und nach zwei Jahren bei 10 Prozent. Hier
muß sich viel ändern. Lange Wartezeiten, lange Bearbeitungszeiten von Anträgen zur beruflichen Wiedereingliederung behinderter und von Behinderung bedrohter
Arbeitnehmer sind Hürden, die rasch abgebaut werden
müssen - zum Nutzen der betroffenen Menschen, zum
Nutzen für die Gesellschaft, auch aus Kostengründen.
Eng damit verbunden ist die Organisation eines zielgerichteten Eingliederungsmanagments. Ein solches
Eingliederungsmanagement muß Ausgliederungen aus
dem Arbeitsleben wirksam verhindern. Unsere Instrumente wirken heute nur für einen engen Personenkreis
und leider oft zu spät, um behinderten und von BehindeBundesminister Walter Riester
rung bedrohten Menschen ihre berufliche Eingliederung
zu erhalten.
Ziel muß es sein, Behinderten und von Behinderung
bedrohten Menschen ihre Arbeitsplätze zu erhalten.
Wenn das nicht gelingt, muß mit allen geeigneten Mitteln ein neuer Anlauf zur Wiedereingliederung in das
Arbeitsleben gefördert werden.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit bin
ich an einem Punkt angekommen, der mir große Sorge
bereitet: die in den letzten Jahren angewachsene überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen. Im Oktober waren es bundesweit rund
190 000 Schwerbehinderte, die arbeitslos waren. Die
Arbeitslosenquote Schwerbehinderter lag bei 17,7 Prozent. Im Westen war sie mit 16,6 Prozent etwas günstiger, in den neuen Ländern mit 24,3 Prozent erheblich
schlechter.
Die Entwicklung in den letzten zehn Monaten 1999
hat zwar einen Rückgang der spezifischen Arbeitslosenquote von 18,5 Prozent im Januar auf 17,7 Prozent im
Oktober 1999 erbracht. Das ist aber natürlich bei weitem
nicht zufriedenstellend.
Gleichzeitig ist der Anteil der beschäftigten Schwerbehinderten an den Belegschaften in den vergangenen
Jahren immer weiter gesunken. Die Beschäftigungsquote liegt mittlerweile bei nur noch 3,9 Prozent. Überhaupt nicht zufriedenstellend ist der Beschäftigungsanteil Schwerbehinderter bei den privaten Arbeitgebern,
der mit 3,4 Prozent im Jahr 1997 seinen tiefsten Stand
seit Jahren erreicht hat.
Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter wird damit zu einer besonderen politischen Herausforderung. Der Trend der letzten Jahre zu einer immer geringer werdenden Bereitschaft, Schwerbehinderte
zu beschäftigen, muß umgedreht werden.
({2})
Unter den beschäftigungspflichtigen Arbeitgebern
gibt es inzwischen einen Anteil von 37,5 Prozent, die
nicht einen einzigen Schwerbehinderten beschäftigt haben. Es gibt zwar auch Arbeitgeber, die gewissenhaft
und vorbildlich sind. Die Zahl derer, die ihr Beschäftigungssoll erfüllt oder übererfüllt haben, ist aber leider
mit 24 100 viel zu gering. Das kann nicht so bleiben.
Das darf nicht so bleiben.
({3})
Die Verpflichtung, im Rahmen solidarischer Verantwortung einen bestimmten Teil der Arbeits- und Ausbildungsplätze für schwerbehinderte Menschen bereitzustellen, muß wieder ernst genommen werden. Nirgendwo anders hat der Satz, daß Solidarität mit Schwächeren ein unverzichtbarer Kitt ist, der unsere Gesellschaft zusammenhält, größere Berechtigung als genau an diesem Punkt.
({4})
Dabei erscheint das Problem, Arbeitslosigkeit
Schwerbehinderter zu lösen, durchaus lösbar. Wenn jeder der 71 200 beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber,
die heute keinen Schwerbehinderten beschäftigen, nur
einen beschäftigen würde, wäre das Problem schon entschärft. Wenn jeder der 189 300 beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber nur einen Schwerbehinderten zusätzlich
einstellen würde, wäre das Problem zumindest rechnerisch gelöst.
Schwerbehinderte sind leistungsbereit und leistungswillig. Wer die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter
tatenlos hinnimmt, wer meint, sich durch die Zahlung
einer Ausgleichsabgabe von seiner Verantwortung gegenüber den Schwerbehinderten freikaufen zu können,
der verweigert diesen behinderten Menschen die Teilnahme am Arbeitsleben und damit auch ein Stück weit
die Teilhabe am Leben in dieser Gesellschaft.
({5})
Schwerbehinderte Menschen, ich sagte es, sind leistungsfähig und nicht weniger qualifiziert als Nichtbehinderte. Wenn der Arbeitsplatz richtig ausgewählt oder
der Behinderung angepaßt ist, wenn Gebrauch gemacht
wird von den technischen Möglichkeiten, um einen Arbeitsplatz oder das Arbeitsumfeld behindertengerecht
auszustatten, dann können Schwerbehinderte die gleiche
Leistung erbringen wie Nichtbehinderte.
({6})
Viele Behinderte - wir wissen es - sind gerade auf
Grund ihrer Behinderung besonders motiviert, ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und auch hohe
berufliche Anforderungen zu erfüllen.
Meine Damen und Herren, der Abbau der Arbeitslosigkeit ist das oberste Ziel der Bundesregierung. Ein
Schwerpunkt dabei ist, die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter zu bekämpfen. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung festgelegt, daß die spezifischen beschäftigungsfördernden Instrumente zur Eingliederung der
Schwerbehinderten verbessert und weiterentwickelt
werden sollen. Dabei geht es aus meiner Sicht um eine
ganze Reihe von Instrumenten.
Es geht erstens darum, die Erhöhung der Wirksamkeit
des Systems von Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe zu erreichen, zweitens um die Schaffung von
Anreizen zur Beschäftigung Schwerbehinderter, drittens
um die Stärkung der Rechte der Schwerbehinderten und
ihrer Vertretungen, viertens um eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Personalverantwortlichen und
den Betriebs- und Personalräten, fünftens um den Ausbau der Dienstleistungen der Bundesanstalt und der
Hauptfürsorgestellen und sechstens um die Vermeidung
von Kündigungen durch möglichst frühzeitige präventive Maßnahmen.
Wir wollen auf diesem Gebiet mit allen Beteiligten
ein möglichst hohes Maß an Gemeinsamkeiten für eine
unverzügliche Gesetzesinitiative erzielen, die die Beschäftigungssituation Schwerbehinderter verbessern helfen soll.
Meine Damen und Herren, es ist unser Ziel, möglichst rasch den Entwurf eines Neunten Buches des Sozialgesetzbuches vorzuschlagen. Das Schwerbehindertenrecht wird ein Teil dieses Gesetzbuches sein. Zur
Vorbereitung des Sozialgesetzbuchs IX haben wir von
Beginn an den Kontakt zu den Betroffenen und ihren
Verbänden gesucht. Viele wertvolle Anregungen stammen von den Betroffenen selbst. Wenn wir heute feststellen können, daß die zum Sozialgesetzbuch IX vorgelegten Eckpunkte auf breite Zustimmung stoßen, so ist
das auch Resultat der guten und vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den Behinderten selbst und ihren
Verbänden.
({7})
Dafür möchte ich mich bedanken und möchte gleichzeitig sagen: Das soll und muß auch so bleiben. Diese Zusammenarbeit wollen wir fortsetzen und dabei insbesondere auch eine enge Kooperation mit den Ländern suchen, damit es bei der Fortentwicklung der Behindertenpolitik zu einem breiten gesellschaftlichen Konsens
kommt.
({8})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie
uns in der Behindertenpolitik parteiübergreifend zusammenarbeiten!
({9})
Dieses Politikfeld eignet sich nicht zur separaten politischen Profilierung. Es sollte vielmehr unser gemeinsames Interesse sein, behinderten Menschen zu einem
Maximum an Solidarität und Lebensqualität zu verhelfen.
Der Weltbehindertentag ruft uns ins Gedächtnis,
daß es in dieser Hinsicht noch viel zu tun gibt. Wir alle
sollten es uns zur Aufgabe machen, den Handlungsbedarf unabhängig von diesem Tag auch weiterhin zu
erkennen und dementsprechend zu agieren. So sehe ich
eine Chance, für viele Probleme, mit denen unsere
behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger heute zu
kämpfen haben, auch eine Lösung zu finden.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Claudia Nolte, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, Herr Minister
Riester, ist die Behindertenpolitik kein Thema für parteipolitische Profilierung. Wir wollen im Bereich der
Behindertenpolitik mit Ihnen gemeinsam etwas bewegen. Denn wir müssen etwas bewegen; das ist ein Thema, das uns allen am Herzen liegt. Deshalb begrüße ich
ausdrücklich, daß wir heute - wenn auch einen Tag vor
dem UN-Welttag für den behinderten Menschen - diese
Debatte führen. Ich freue mich auch, daß Vertreterinnen und Vertreter von Behindertenverbänden und
-organisationen anwesend sind und wir sie bei uns als
Gäste begrüßen können.
({0})
Sie sind uns ganz wichtige Ansprechpartner, gerade weil
sie oft selber betroffen sind und von den Problemen besser wissen. Manches haben wir heute in der politischen
Diskussion, weil sie es an uns herangetragen haben.
Ich freue mich auch sehr, morgen erleben zu können,
daß sich der Deutsche Behindertenrat konstituiert. Das
ist ein Vorhaben, das schon länger währt. Ich danke allen, die sich zusammengesetzt und sich engagiert haben,
so daß es möglich ist, Selbsthilfegruppen und Behindertenorganisationen unter einem Dach zu vereinen. Ich
glaube, es wird ein gutes, es wird ein schlagkräftiges
Sprachrohr für die Behindertenbelange sein - auch gegenüber der Politik.
({1})
Viele von Ihnen haben sich an der sehr erfolgreichen
„Aktion Grundgesetz“ beteiligt, die uns in großartiger
Weise auf die Situation von Behinderten aufmerksam
gemacht hat. Sie haben dabei den richtigen Ausgangspunkt gewählt. Das Grundgesetz sagt uns ausdrücklich:
Die Menschenwürde ist unantastbar, und jeder Mensch
hat die gleiche Würde. Das muß unser Ausgangspunkt
sein. Deshalb ist im Grundgesetz ausdrücklich verankert
worden, daß niemand auf Grund einer Behinderung benachteiligt werden darf.
Daher ist diese Debatte für mich wichtig, denn wir
zeigen damit, daß die Situation von Menschen mit Behinderung uns Politikerinnen und Politikern nicht
gleichgültig ist. Wir setzen damit quasi ein Zeichen dafür, daß wir uns bemühen wollen, daß Chancengleichheit und die Beteiligung von Menschen mit Behinderung
in dieser Gesellschaft möglich sind. Diese Debatte ist
sozusagen ein Symbol für unser Bemühen. Ich finde das
wichtig, denn Politik lebt auch von Symbolen.
Problematisch wird es allerdings dann, wenn Politik
nur aus Symbolen besteht. Aber, liebe Kolleginnen und
Kollegen, gerade dieses Gefühl beschleicht mich in der
heutigen Debatte schon so ein bißchen. Denn man muß
einfach feststellen: Wir haben nichts Konkretes vorliegen; wir haben nichts, worauf wir verweisen können,
wenn es darum geht, was wir im letzten Jahr geschafft
haben, wo etwas passiert ist, wo es einen Schritt vorwärts gegeben hat.
({2})
Wenn wir extra eine solche Debatte führen, dann würde
es uns, denke ich, gut anstehen, wenn wir heute beiBundesminister Walter Riester
spielsweise über ein konkretes Gesetz diskutieren
könnten oder wenn wir beispielsweise darauf verweisen
könnten, in der Arbeitsmarktsituation für Schwerbehinderte habe sich etwas zum Positiven entwickelt.
Frau Schmidt-Zadel, ich verstehe Ihre Aufregung.
Nun weiß ich auch, daß alles seine Zeit braucht. Es ist
eben so, daß die Wünsche oft größer als das Machbare
sind. Ich sage das auch selbstkritisch. Sie haben ja recht:
So manches von dem, was wir vorhatten, haben wir in
den 16 Jahren auch nicht geschafft. Ich bedaure das ausdrücklich.
({3})
Dabei muß man aber eines sagen: Wir hatten viel damit
zu tun, in den neuen Bundesländern eine vergleichbar
gute Situation für behinderte Menschen, wie wir sie im
Westen haben, zu schaffen.
({4})
Das hat große Anstrengungen erfordert. Wenn man einmal vergleicht, wie die Situation für Menschen mit Behinderungen zu DDR-Zeiten war, dann stellt man fest,
daß wir sehr erfolgreich waren. Uns ist also schon eine
ganze Menge gelungen.
Dennoch bleibt - da haben Sie recht - Handlungsbedarf. Deshalb will ich Sie jetzt gar nicht pauschal kritisieren und Sie auch nicht an dem messen, was wir alles
hätten machen wollen und können. Vielmehr will ich Sie
nur an Ihren eigenen Ansprüchen, an Ihren eigenen Versprechen messen - an nichts anderem.
({5})
Schauen wir doch in die Koalitionsvereinbarung! Sie
haben sich doch ein ehrgeiziges Programm vorgenommen, in dem alles schön drinsteht. Wir haben also nicht
den Streitpunkt, überlegen zu müssen, was es zu tun
gibt. Vielmehr kennen Sie den Handlungsbedarf; Sie
haben das aufgelistet. Dazu kommt noch: Sie waren
doch lange Jahre in der Opposition und haben sehr viele,
sehr weitreichende Vorschläge gebracht.
({6})
Man muß doch die Frage stellen: Sind diese Vorschläge
es heute gar nicht mehr wert, eingebracht zu werden?
Wo bleiben sie denn? Warum werden sie nicht im Plenum behandelt?
({7})
Ich meine, dieses Jahr mit Rotgrün war auch bezogen
auf die Behindertenpolitik ein verlorenes Jahr.
({8})
Dabei könnten Sie sich - Herr Minister, da haben Sie
vollkommen recht - auf eine breite Unterstützung im
Parlament verlassen. Ich habe für meine Fraktion bei jeder Debatte zu diesem Thema deutlich gemacht, daß wir
Sie unterstützen wollen. Wir können den Weg gemeinsam gehen, wenn es um die Verbesserung der Belange
von Menschen mit Behinderungen geht.
Was steht konkret an? Ganz oben auf Ihrer Agenda
steht die Schaffung eines Sozialgesetzbuches IX. Keine
Frage, das ist kein einfaches Unterfangen; wir sagen das
aus Erfahrung. Aber es ist notwendig, das Rehabilitations- und Schwerbehindertenrecht neu zu kodifizieren,
um die Leistungen und auch das Verfahren der Leistungserbringung anzugleichen und besser zu verzahnen.
Immerhin gibt es hierfür schon Eckpunkte. Ich denke,
sie sind in den Zielvorstellungen durchaus konkret. Um
so wichtiger wäre es, zu wissen, wie es im Gesetz konkret formuliert sein soll.
({9})
- Es wäre mir lieb, wenn wir dies heute klären könnten.
- In den Eckpunkten wird unter anderem die Einrichtung von gemeinsamen Auskunfts- und Beratungsstellen aller Rehabilitationsträger in Aussicht gestellt.
Ich denke, angesichts der jetzigen Beratungssituation ist
dies ein höchst sinnvolles, ein notwendiges Ansinnen;
denn oft erleben wir, daß die Betroffenen von Pontius zu
Pilatus geschickt werden, wenn es um Fragen der Rehabilitationsleistungen geht.
Offen bleibt allerdings die Konkretisierung: Wer wird
dort sitzen? Sind nur die Leistungsträger beteiligt? Welche Mitsprachemöglichkeiten haben die Betroffenen?
Gibt es Selbsthilfeorganisationen?
Nicht außer acht lassen sollte man auch die Frage der
Finanzierung. Wenn die Beratungsstellen ihrer Aufgabe
gerecht werden wollen, müssen sie professionell arbeiten. Das ist nicht umsonst zu haben. Sicherlich wird es
irgendwann Effizienzgewinne geben; aber das wird
zeitlich verlagert eintreten. Das heißt: Irgend jemand
wird zunächst einmal diese Kosten tragen müssen.
In diesem Zusammenhang komme ich auf den
Finanzierungsvorbehalt insgesamt, der in Ihren Eckpunkten genannt wird. In Anbetracht der Haushaltssituation ist dies verständlich. Trotzdem, so denke ich,
müssen wir uns klarmachen, um was es eigentlich geht.
Es geht um Leistungen, die die Menschen mit Behinderungen nötig haben, die sie brauchen. Es sind existentiell
notwendige Hilfen. Es geht also nicht um einen Leistungskatalog mit Luxusgütern, zwischen denen man
auswählen kann, sondern um Leistungen, die sich am
Bedarf dieser Menschen orientieren.
Außerdem sprechen Sie selber von Effizienzreserven
in dem Rehabilitationssystem und davon, daß durch eine
bessere Verzahnung und Harmonisierung Einsparungen
möglich sind. Vor diesem Hintergrund erscheint mir der
Finanzierungsvorbehalt als nicht sachgerecht.
Ein Weiteres, was ich in dem Eckpunktepapier für
unbefriedigend gelöst halte, ist der Umgang mit der
Eingliederungshilfe. Sicherlich ist der Ansatz, daß der
Sozialhilfeträger, wenn er Leistungen für Rehabilitation
erbringt, mit den Rehabilitationsträger gleichzustellen
ist, anzuerkennen. Das ist ein guter Schritt. Trotzdem
aber erfolgt die Leistungserbringung für Rehabilitation
unter den Prinzipien des Bundessozialhilfegesetzes. Das
heißt, Sie bleiben bei der inkompatiblen Konstruktion,
die wir heute haben: Einerseits soll der EingliederungsClaudia Nolte
hilfe ein Vorrang eingeräumt werden, aber andererseits
gelten die Prinzipien der Sozialhilfe, zum Beispiel die
Nachrangigkeit.
({10})
Dieses Problem zeigt sich heute doch besonders
deutlich bei den Versuchen der Sozialhilfeträger, Einrichtungen der Eingliederungshilfe in Pflegeeinrichtungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz umzuwandeln,
wo eben keine Eingliederung mehr stattfindet. Wir haben im Bundestag deutlich gemacht, daß dies nicht dem
Sinn und dem Ziel des Gesetzgebers entspricht. Aber
trotzdem wird dies gemacht. Hier besteht also Handlungsbedarf, um eine deutliche Abgrenzung der Eingliederungshilfe von der Pflegeversicherung sicherzustellen.
Ebenso unbefriedigend ist es, daß auf Grund der doppelten Nachrangigkeit Einkommen und Vermögen herangezogen werden. Für betroffene Eltern bedeutet dies
beispielsweise, daß sie auch für 60- oder 70jährige Kinder noch aus ihrem eigenen Einkommen und Vermögen
aufkommen müssen, weil sie diese Lasten nach dem
Prinzip der Nachrangigkeit gemäß dem Bundessozialhilfegesetz zu tragen haben.
Ich komme zu keinem anderen Schluß, als daß die
Eingliederungshilfe aus dem Bundessozialhilfegesetz
herauszulösen ist.
({11})
Meines Erachtens bietet sich das Sozialgesetzbuch IX
an. Man könnte sie dort einbeziehen.
Es wundert mich wirklich, daß vollkommen vergessen wird, daß Sie bis vor einem Jahr diejenigen waren,
die ein Leistungsgesetz gefordert haben.
({12})
Heute findet nicht einmal eine Diskussion darüber statt.
Es ist nicht einmal zu merken, daß es Kämpfe in der
Fraktion gibt. Es wird sich selbstverständlich dem Diktat
des Bundeskanzlers untergeordnet, keine Leistungsgesetze in dieser Legislaturperiode einzubringen. Ich finde
das schon erstaunlich. Ich sage Ihnen: Das rächt sich. Es
rächt sich, daß Sie früher den Mund etwas voll genommen haben und daß unser Gedächtnis noch recht gut
funktioniert.
({13})
Deshalb möchte ich jetzt nicht den gleichen Fehler
machen. Ich sage ganz offen: Ich bin mir nicht sicher, ob
ich in meiner Fraktion die Mehrheit für ein Leistungsgesetz bekommen würde. Aber ich werbe dafür, einen
Weg zu finden, damit wir die Eingliederungshilfe vom
BSHG trennen können. Die Ausgaben für die Eingliederungshilfe erfolgen doch schon heute. 15 Milliarden DM
jährlich sind kein Pappenstiel. Das heißt, es geht gar
nicht um die Ausweitung von Leistung und mehr Geld,
sondern es geht um die Frage der Zuordnung. Wo, auf
welcher Ebene, müssen die Ausgaben getätigt werden?
Es geht eventuell um die Verlagerung der Zuständigkeit
von kommunaler Ebene auf Bundesebene. Man muß
einfach den Versuch unternehmen, zu fragen, ob die
Kommunen und Länder bereit sind, die Eingliederungshilfe auf den Bund zu verlagern - natürlich mit dem dazugehörenden Finanzvolumen; das ist gar keine Frage.
Zwischen Bund und Ländern sind schon ganz andere
Summen transferiert worden als 15 Milliarden DM. Lassen Sie uns das in Angriff nehmen, Herr Riester! Versuchen Sie, hier vorwärts zu kommen!
Zu Ihrem zweiten Vorhaben, dem Gleichstellungsgesetz, liegt uns gar nichts vor. Man hört ab und zu: Das
Justizministerium arbeitet daran. - Aber was letztendlich
in dem Gesetz stehen wird, wissen wir nicht. Das bleibt
vorerst ein Geheimnis.
Die Fragen, ob ein Gleichstellungsgesetz die Erwartungen, die wir heute an ein solches Gesetz knüpfen, jemals erfüllen kann, ob es klug ist, alles in einem Artikelgesetz regeln zu wollen, und ob es nicht einfacher
wäre, notwendige Änderungen in Einzelgesetzen, die
wir heute haben, vorzunehmen, finde ich berechtigt.
Diese Fragen sollten Sie sich selber noch einmal stellen.
Ich will das aber nicht vertiefen. Wenn Sie den großen
Wurf schaffen, ist es um so besser. Niemand hat etwas
dagegen.
Ich möchte deutlich machen, was für mich in diesem
Zusammenhang oberste Priorität hat. Wir müssen es
schaffen, sicherzustellen, daß Menschen mit Behinderung im Alltag nicht überall Barrieren gegenüberstehen,
ob sie im öffentlichen Raum sind, ob sie auf der Straße
sind, ob sie in ein Gebäude wollen, ob sie eine Straßenbahn oder einen Bus benutzen wollen. Wir können es
nicht zulassen, daß solche Dinge neu angeschafft und
neu gebaut werden, die nicht zugänglich sind, die nicht
barrierefrei sind, weil damit Ausgrenzung stattfindet.
({14})
Daß es möglich ist, in diesem Bereich etwas zu schaffen, zeigen uns die USA mit ihrem ADA. Wir haben
dort in vielen Städten sehr gute Zugänglichkeiten; ich
finde das beeindruckend. Die Erfahrung von dort lehrt,
daß erst dann Veränderungen möglich werden, wenn der
einzelne die Gelegenheit hat, sich einen barrierefreien
Zugang einzuklagen. Auch wir sollten darüber nachdenken, inwieweit man dem einzelnen eine solche Rechtsposition zukommen läßt, damit er sich selber im Zweifel
Barrierefreiheit verschaffen kann. Wir wissen inzwischen - das ist mehrfach belegt -, daß Barrierefreiheit
bei Neuanschaffung oder Neubau - ob es Verkehrsmittel
sind, ob es Gebäude sind - nicht wesentlich teurer ist,
daß die Kosten erträglich sind.
Ein dritter großer Bereich liegt mir am Herzen - den
haben Sie, Herr Minister Riester, dankenswerterweise
auch angesprochen -: Das ist die Eingliederung Schwerbehinderter in den Arbeitsmarkt. Auch hier haben Sie
angekündigt, die Vermittlung von Schwerbehinderten
auf den ersten Arbeitsmarkt voranzutreiben und bewährte wie neue Instrumente der Arbeitsmarktpolitik
einzusetzen und auszubauen. Sie haben das Problem
unter Berücksichtigung der Gründe, die aus unserer
Sicht ein Handeln erforderlich machen, ausführlich beschrieben. Aber Sie haben es erst einmal nur beschrieben. Falls Aktivitäten stattgefunden haben sollten, muß
das sehr im verborgenen geschehen sein. Wir haben es
einfach nicht registrieren können.
Im Ausschuß wurde auf meine Anfrage dazu gesagt,
man wolle jetzt die Ideen sammeln - das haben Sie hier
auch noch einmal deutlich gemacht; Sie haben auch
einige Ideen genannt - und die Arbeitgeber um Selbstverpflichtung bitten. Ich kann nur hoffen, daß Sie damit
Erfolg haben; denn die Arbeitslosenstatistik spricht eine
deutliche Sprache. Schwerbehinderte sind mit 17 Prozent überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen.
Kaum ein privatwirtschaftliches Unternehmen erfüllt
die Beschäftigungsquote. Im Durchschnitt liegt sie bei
3,4 Prozent. Viele Unternehmen beschäftigen keinen
Behinderten. Ich finde das beschämend. Auch hier findet
Ausgrenzung statt. Deshalb müssen wir da neue Wege
gehen.
Es liegen bereits einige Erfahrungen vor. Wir haben
inzwischen gute Erfahrungen beispielsweise mit den Integrationsfachdiensten gemacht, die sich sehr gezielt
und engagiert in Zusammenarbeit mit der freien Wirtschaft um Integration bemühen. Aber deren finanzielle
Basis ist bis heute noch nicht geklärt. Wir haben bis
heute noch keine gesetzliche Absicherung dieser Dienste. Es ist für sie nirgendwo eine Perspektive gesetzlich
verankert. Ich meine, dem könnte relativ kurzfristig abgeholfen werden. Gerade wenn sich abzeichnet, daß man
für die Arbeit am SGB IX länger braucht, sollte man
überlegen, ob man nicht jetzt schon im Schwerbehindertengesetz die Absicherung der Integrationsfachdienste vornimmt.
({15})
Ich halte es für wichtig, dabei auch Entwicklungen
aus dem europäischen Raum zur Kenntnis zu nehmen
und gegebenenfalls das, womit dort positive Erfahrungen gemacht werden, zu übernehmen. Gerade weil es
unser Ziel sein muß, daß Menschen mit Behinderung
selbstbestimmt leben können, müssen wir die Ansätze
unterstützen, die genau das fördern.
Zu einem selbstbestimmten Leben gehört für mich
zum Beispiel ganz selbstverständlich dazu, daß der Betroffene Wahlmöglichkeiten hat, daß er zum Beispiel
im Bereich der beruflichen Integration auswählen kann,
ob er lieber in eine Werkstatt für Behinderte, in einen
Integrationsbetrieb oder in einen Integrationsfachdienst
möchte oder ob er vielleicht doch besser eine Arbeitsassistenz in einem normalen Betrieb übernehmen möchte.
Inwieweit eine solche Wahlfreiheit durch ein persönliches Budget unterstützt werden kann, finde ich
schon prüfenswert. Nicht jemand anders würde festlegen: „Für dich ist die Werkstatt für Behinderte das beste;
dort paßt du hin“, sondern der einzelne könnte im Rahmen seines Budgets, das ihm zur Verfügung steht, selbst
zwischen unterschiedlichen Anbietern entscheiden und
sagen: Das ist das, was ich mir vorstelle. Dort will ich
hin. Das kann ich mir mit meinem persönlichen Budget
quasi kaufen.
Natürlich hängt das von der Höhe eines solchen Budgets ab. Es kann sogar daran scheitern; denn wenn es
nicht hoch genug ist, dann kann man im Zweifel nichts
machen. Auf der anderen Seite aber würden dadurch
Regelmechanismen nach dem Prinzip von Angebot und
Nachfrage in Gang gesetzt, durch die beispielsweise
Effizienzsteigerungen, vor allem auch Qualitätsverbesserungen erreicht werden könnten. Das heißt, wir sollten
offen sein für neue Instrumente und für neue Wege und
von den Erfahrungen anderer lernen.
Herr Minister, auch diesmal sage ich Ihnen für meine
Fraktion zu: Wir möchten mit Ihnen zusammenarbeiten
und Sie dort unterstützen, wo wir Verbesserungen erreichen können. Das ist uns ein wichtiges Anliegen.
({16})
Aber vergessen Sie nicht: Die Zeit vergeht schnell - ich
spreche wiederum aus Erfahrung -; ein Jahr ist schon
vergangen, ohne daß sich etwas Konkretes getan hätte.
Deshalb fordern wir Sie auf: Setzen Sie Ihre Versprechen in die Tat um! Sie können mit unserer Unterstützung rechnen.
Vielen Dank.
({17})
Ich erteile nun das
Wort der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Liebe Frau Nolte, die Tatsache, daß Sie uns heute
einen Antrag vorlegen, in dem Sie den Wunsch zum
Ausdruck bringen, daß die Koalition das tut, was in
ihrem Koalitionsvertrag steht, bestärkt uns natürlich in
unseren Vorhaben und freut uns. Aber Sie können sicher
sein, daß wir das alles auch ohne diesen Antrag tun werden, daß wir das, was wir uns vorgenommen haben, tatsächlich umsetzen werden und daß wir nicht nur darüber
reden, wie das in den vergangenen Jahren bei Ihnen der
Fall gewesen ist.
({0})
Daß wir innerhalb eines Jahres nicht alles das umsetzen
können, was wir uns vorgenommen haben, sondern
Schritt für Schritt, aber sehr stringent vorgehen, werden
Sie uns sicherlich zugestehen.
Ich möchte heute vor allen Dingen diejenigen begrüßen, die dieses Parlament nicht so häufig besuchen bzw.
besuchen können. Ich freue mich, daß so viele Betroffene den Weg zu uns nach Berlin in den Bundestag gefunden haben. Ich bin mir sicher, daß der eine oder die andere eine Menge Geschichten erzählen könnte: wie er
Tage vorher die Bahnfahrkarte reservieren mußte, um
mit dem Rollstuhl mitgenommen zu werden, wie sie
viele Wochen vorher eine Gebärdendolmetscherin oder
einen Gebärdendolmetscher gesucht und gebucht hat
und was für ein organisatorischer Aufwand nötig war,
damit heute - leider nur oben auf der Tribüne - gebärdet
werden kann. Ich hoffe, daß dies auch für diejenigen, die
am Fernseher sitzen, deutlich ist, und begrüße insbesonClaudia Nolte
dere die, die heute dieser Debatte auf diese Weise folgen
können. Hoffentlich ist das in Zukunft viel öfter der Fall.
({1})
Kollegin GöringEckardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Seifert, PDS-Fraktion?
Selbstverständlich gern.
Frau Kollegin GöringEckardt, ich freue mich ja, daß Sie begeistert darüber
sind, daß hier so viele Gäste mit Behinderung zuhören.
Aber meinen Sie nicht, daß Sie als Vertreterin der Regierungskoalitionsfraktionen dafür hätten sorgen können, daß zumindest heute ein oder zwei Gebärdendolmetscher unten im Plenum stehen und unsere Reden
dolmetschen?
({0})
- Blind bin ich ja nicht. Ich meine, unten im Plenum,
damit alle sehen, was Gebärdendolmetscher eigentlich
leisten, und sie nicht da oben versteckt sind.
Lieber Kollege Seifert, auch ich hätte mir gewünscht - ich bin sogar davon ausgegangen, daß es so
sein würde -, daß hier unten gebärdet wird. Wenn Sie
nach oben blicken, dann sehen Sie, daß die Kameras
auch auf die Gebärdendolmetscherinnen und Gebärdendolmetscher gerichtet sind. Das ist übrigens nicht
nur einer, sondern es sind vier, wenn ich das richtig
weiß. Wir im Plenum müssen uns zwar die Mühe machen, nach hinten zu schauen, aber die Öffentlichkeit
sieht, daß dies im Deutschen Bundestag möglich ist.
Ich hoffe, daß es in Zukunft sehr viel häufiger der Fall
sein wird.
({0})
All die Betroffenen können - bis auf den Kollegen
Seifert - heute hier nicht sprechen. Deswegen möchte
ich versuchen, soweit mir das möglich ist, mich ein wenig auf das einzulassen, was sie betrifft. Ich freue mich
insbesondere, daß wir im Anschluß an diese Debatte hier
im Reichstag einen Empfang haben werden, bei dem wir
tatsächlich ins Gespräch kommen können.
Die Koalitionsarbeitsgruppe Behindertenpolitik hat
im vergangenen Jahr eine recht stille, aber dennoch erfolgreiche Arbeit geleistet, die von gegenseitigem Respekt und einer Befruchtung der Ideen getragen war.
Das meine ich jetzt gar nicht in bezug auf die beiden
Koalitionspartner, sondern das meine ich in bezug auf
die Kommunikation mit den Betroffenen.
Mit unserem Eckpunktepapier zum SGB IX haben
wir einen Perspektivenwechsel in der Behindertenpolitik
eingeleitet. Dazu gehört nicht nur, daß wir die Debatte
mit Ihnen und nicht über Ihre Köpfe hinweg führen. Dazu gehört auch, daß wir Ihre Kompetenz und Ihre Ideen
künftig im Vorfeld, aber auch bei der Umsetzung einbeziehen. Dazu gehört ferner, daß Ihre Kompetenzen im
gesamten Verlauf der Rehabilitation stärker und vor allen Dingen individuell einbezogen werden.
Von den vier Punkten im Koalitionsvertrag, von dem
bereits meine Vorrednerin und mein Vorredner gesprochen haben, ist unserer Fraktion die Anerkennung der
deutschen Gebärdensprache immer besonders wichtig
gewesen. Unter welchen Kommunikationshemmnissen
ertaubte oder gehörlose Menschen leiden, ist für uns
immer noch nicht deutlich und ist, so glaube ich, auch
schwer nachvollziehbar. Das Gefühl, blind zu sein, kann
man nacherleben, wenn man sich die Augen verbindet,
ein bißchen jedenfalls. Wie es sich anfühlen mag, im
Rollstuhl mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Stadt
zum Wochenendeinkauf zu fahren, das kann man erleben, wenn man sich für einen Tag in den Rollstuhl setzt.
Ich selbst habe das gemacht. Die Erfahrung, wie es ist,
ungefragt irgendwo hingeschoben zu werden, hat mich
über den Unterschied zwischen gut und gutgemeint belehrt. Wie es ist, einen Arm oder ein Bein nicht bewegen
zu können, das erfährt man, wenn man sich einmal Arm
oder Bein gebrochen hat. Spätestens am zweiten Tag
sitzt man fluchend unter der Dusche, weil Wasser unter
den Gips gelaufen ist oder weil man sich mit links nicht
die Zähne putzen kann.
Aber wie ist es wohl, wenn man nichts mehr hören
kann, wenn man die Ironie im Gespräch nicht mehr mitbekommt, wenn man eine Frage nicht erkennt, wenn
man über Witze nicht mehr lachen kann, wenn man fragend in fragende Gesichter blickt, wenn man auch das,
was man selbst sagt, nicht hören kann? Wer von uns
kann sich wirklich vorstellen, was es bedeutet, wenn
Denken und Sprechen auf einmal gleichzeitig und nicht
mehr nacheinander, wie wir Hörende es gewohnt sind,
stattfinden? Versuchen Sie einmal, das zu simulieren.
Ich kann Ihnen sagen: Es geht nicht.
Für gehörlose Menschen sind aus diesem Grund Gebärdendolmetscher eine notwendige Assistenz, die sie
brauchen, um am Leben der Gesellschaft, die immer
noch eine hörende Gesellschaft ist, um an den Aktivitäten, die immer noch „hörende“ Aktivitäten sind, tatsächlich teilzunehmen, denn es ist auch ihre Gesellschaft, an der sie teilnehmen möchten. Wir haben dafür
zu sorgen, daß sie dies auch können.
Aus diesem Grunde haben wir die Anerkennung der
Gebärdensprache in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Die Ausführung wird den beiden großen bedeutsamen Gesetzeswerken obliegen, die sich diese Koalition vorgenommen hat: einmal die Schaffung eines Antidiskriminierungsgesetzes, in dem die deutsche Gebärdensprache als eigenständige Sprache für Gehörlose anerkannt werden soll, und auch das Sozialgesetzbuch IX.
Hierin sollen sozialrechtliche Aspekte wie beispielsweise ein Indikationskatalog für die Gewährung von
Dolmetscherstunden festgeschrieben werden.
An diesem Beispiel wird zudem eines deutlich: Es
gibt nicht den oder die Behinderten. Barrierefreiheit, deren Gewährung aus Art. 3 des Grundgesetzes zwingend
folgt, bedeutet für den einzelnen eben etwas ganz Individuelles. Gehörlose Menschen haben eine eigene Sprache und Kultur. Sie möchten, daß ihre Welt von uns Hörenden anerkannt wird. Sie wollen nicht anders werden,
sie sind anders. Das wollen und müssen wir akzeptieren.
Rehabilitation kann nicht bedeuten, normal zu machen. Rehabilitation kann nur bedeuten, mit Verschiedensein zu leben. Genau das ist eine Aufgabe für uns
alle. Wir alle müssen damit leben, daß niemand in der
Welt dem anderen gleicht, auch wenn das für manche
eine unangenehme Vorstellung sein mag. Aber Blonde
sind nun einmal nicht dunkelhaarig, Große sind nicht
klein, Schüchterne nicht wagemutig und Frauen nicht
Männer. Wir alle sind verschieden. Jede und jeder ist sie
oder er selbst. Dann ist es egal, ob jemand im Rollstuhl
sitzt, wie zum Beispiel Silke Schwarz, die Siegerin bei
den Paralympics im Rollstuhlfechten, die heute unter
uns ist,
({1})
oder ob jemand nicht hören kann wie unsere Fraktionsmitarbeiterin Sabine Schmidt-Brücken, die dort oben auf
der Tribüne sitzt, oder ob jemand geistig behindert ist
wie zum Beispiel mein Freund Jonathan, zwölf Jahre.
Dann ist Behinderung nicht mehr wichtig, sondern es ist
notwendig, daß wir lernen zu verstehen, uns zu verstehen, miteinander zu kommunizieren, daß wir Barrieren
abbauen, die einem beweglichen Menschen in unserer
Gesellschaft entgegenstehen.
Aus diesem Grund wird einer der Eckpfeiler des neuen SGB IX die individuelle Wahlfreiheit in der Lebensgestaltung sein. Jede und jeder soll selbst entscheiden können, welche Form der Unterstützung sie oder er
in Anspruch nehmen will. Barrieren lernt übrigens jede
und jeder von uns kennen. Wir können das mitunter
auch sehr schnell nachvollziehen, wenn jemand alt oder
krank wird, aber vielleicht viel undramatischer, wenn
man einfach nur mit dem Kinderwagen in einer Stadt
unterwegs ist. Barrieren gibt es immer noch viel zu viele, übrigens vor allem in den Köpfen der Menschen.
Statt gegenseitigem Kennenlernen und Verstehen gibt es
Mitleid. So ist es kein Wunder, daß Hemmnisse beim ersten Kontakt entstehen.
Wo ist zum Beispiel die Anerkennung der qualitativ
hochwertigen Arbeit, die die Beschäftigten in den Werkstätten leisten, für die ihnen ein angemessener Lohn zusteht? Wo ist das Verstehen, daß ergotherapeutische
Konzepte in psychiatrischen Kliniken nichts mit Basteln
und Beschäftigen zu tun haben? Wir alle prägen das Bild
einer Gesellschaft. Wir alle sind dafür verantwortlich,
welchen Stellenwert Menschen mit Handicap in unserer
Gesellschaft einnehmen.
Ich habe mich gefreut, daß in der „Sportschau“ vor
einigen Wochen ein Beitrag über Wettkämpfe von Menschen mit Behinderungen gezeigt wurde. Es ist ein
wichtiger Schritt, daß zum Beispiel die Paralympics zusammen mit den Olympischen Spielen stattfinden. Ich
wünsche mir mehr davon. Denn dies alles gehört nicht
in eine Berichterstattung über gesellschaftliche Randgruppen.
({2})
Behindertenpolitik ist nicht losgelöst zu betrachten.
Sie hat sehr viele Dimensionen. Sie ist Rechtspolitik, sie
ist Bau- und Verkehrspolitik, sie ist Frauenpolitik, sie ist
Arbeitsmarktpolitik, sie gehört zur Gesundheitspolitik,
wenn die Grenzen zwischen Behinderung und chronischer Erkrankung fließend werden, und sie ist auch
Sozialpolitik.
Solange es eine spezifische Arbeitslosenquote von
rund 18 Prozent für Menschen mit Handicap gibt, so
lange muß es spezifische Instrumente des Arbeitsmarktes geben. Wir werden vor allen Dingen Integrationsfachdienste und Integrationsfirmen fördern, die in den
vergangenen Jahren erfolgreiche Arbeit geleistet haben,
und sie in eine Regelfinanzierung überführen.
Das SGB IX wird sich hinsichtlich des Rehabilitations- und Behindertenbegriffs an dem der WHO orientieren, und damit wird deutlich zum Ausdruck gebracht,
daß „Behinderung“ eine gesellschaftliche Zuschreibung
ist und nicht mit einem individuellen Defizit zu tun hat,
das man etwa reparieren müßte.
Aus diesem Grund, meine Damen und Herren, bitte
ich Sie, dieses Thema weiter zu verfolgen. Ich bitte Sie,
mehr zu tun für Kommunikation und Verstehen, mehr zu
tun für den Abbau von Barrieren, wo immer Sie es können. Ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen und ein
deutliches Zeichen für Integration und gegen Ausgrenzung zu setzen.
Vielen Dank.
({3})
Auf die Zwischenfrage des Kollegen Seifert hin will ich noch einmal ausdrücklich betonen: Wir haben vier Gebärdendolmetscher. Die Tatsache, daß sie dort oben auf der Tribüne
stehen, ist sowohl mit dem Gehörlosenverband wie mit
dem Sender Phoenix verabredet, damit er genau dieses
übertragen kann. Wenn Sie hier unten stünden, hätte
niemand etwas davon, lieber Kollege Seifert.
({0})
Nunmehr erteile ich der Kollegin Irmgard Schwaetzer, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es ist eine
gute Tradition, daß dieses Parlament sich jedes Jahr zum
Weltbehindertentag ganz speziell mit den Fragen der
Integration der Behinderten beschäftigt.
({0})
- Herr Kollege Haack, das ist nicht wahr. Wir haben
immer zum Behindertentag eine solche spezielle Debatte
gehabt.
({1})
Ich glaube nicht, daß es irgend jemanden gibt, der das
Ziel der Integration nicht ganz oben in der Prioritätenskala der Behindertenpolitik festmacht.
Ich meine, daß es wichtig ist, sich immer wieder einmal klarzumachen, was es denn bedeutet, behindert in
dieser Gesellschaft zu sein. Insofern würde ich es begrüßen, wenn die Behindertenverbände regelmäßig, mindestens einmal im Jahr, mit uns gemeinsam solche Tage
durchführen würden, bei denen wir einschlägige Erfahrungen sammeln können, indem wir uns zum Beispiel an
unserem Arbeitsplatz in einem Rollstuhl fortbewegen
oder aber, wie das die Blindenverbände im vergangenen
Jahr getan haben, uns mit einer entsprechenden simulierten Behinderung im Deutschen Bundestag bewegen.
Die Eindrücke, die ich dabei gesammelt habe, werde ich
in meinem Leben sicherlich nicht vergessen: mit einer
Brille, die eine Behinderung durch eine Retinitis pigmentosa simulierte, durch den Deutschen Bundestag zu
gehen und praktisch nicht mehr in der Lage zu sein, ohne fremde Hilfe zum Beispiel zu telefonieren.
Ich denke, liebe Kollegin Göring-Eckardt, daß die
Behinderten, die heute hier im Parlament sind, von uns
und vor allen Dingen natürlich von den Regierungsfraktionen wissen möchten, was denn bitte jetzt konkret in
dieser Legislaturperiode zur Verbesserung der Situation
der Behinderten gemacht werden soll.
({2})
Dafür haben Sie ja, solange Sie noch in der Opposition
waren, immer ganz tolle, weitreichende Anträge gestellt.
Sie hätten bereits ein Jahr lang die Chance gehabt, exakt
diese Anträge in Gesetze umzusetzen.
({3})
- Ich rede gerade von Ihren Forderungen in der Opposition und der Tatsache, daß wir heute,
({4})
auch in dem, was Herr Riester vorgetragen hat, noch
nichts Konkretes gehört haben, wie denn nun Ihr Zeitplan zur Diskussion des Sozialgesetzbuches IX aussieht,
({5})
wobei Sie immerhin auf Vorarbeiten, die die alte Koalition geleistet hat, zurückgreifen können.
({6})
Es ist ja nicht so, daß Sie da bei der Stunde Null anfangen müßten, sondern Vorarbeiten dazu sind ja bereits
geleistet worden. Das ist eine sehr schwierige Materie.
Frau Kollegin Nolte hat auf ein paar spezielle
Aspekte hingewiesen, die ich noch einmal aufgreifen
will. Ich glaube, daß die Formulierung des Sozialgesetzbuches IX wirklich die zentrale Aufgabe dieser
Legislaturperiode sein wird. Insofern frage ich mich, ob
es seitens der Regierungsfraktionen tatsächlich ein erster
Schritt zur Vernunft ist, daß die von Ihnen früher immer
erhobene Forderung nach einem eigenständigen Leistungsgesetz zumindest in der Debatte heute noch keine
Rolle gespielt hat.
({7})
Wir müssen im SGB IX das Schwerbehindertenrecht
und das Rehabilitationsrecht zusammenfassen. Ich kann
das, was Claudia Nolte gesagt hat, nur ausdrücklich unterstreichen: Die derzeit noch im Sozialhilferecht angesiedelte Eingliederungshilfe muß dort dringend mit integriert werden. Das wird sehr schwierig, vor allen Dingen was die Verschiebung der Finanzströme anbetrifft.
Aber es ist einfach die erste Voraussetzung dafür - die
Behindertenverbände sehen das ganz genauso -, daß das
von Ihnen, Herr Riester, eben geforderte „Eingliederungsmanagement“ tatsächlich realisiert werden kann.
Wenn Sie den von Ihnen hier erwähnten Begriff ernst
meinen - wir können ihn unterstreichen -, dann müssen
Sie diese drei Dinge zusammenfassen und kodifizieren.
({8})
Wir warten auf Ihre Vorschläge; denn es muß endlich
damit Schluß sein, daß Zuständigkeitsstreitigkeiten auf
dem Rücken von Behinderten ausgetragen werden. Das
Verschieben von Kosten zwischen Sozialhilfe, Pflegeversicherung und anderen Rehabilitationsträgern degradiert Behinderte zu einer Kostenstelle. Das ist das
Schlimmste, was wir uns in einer humanen Gesellschaft
überhaupt leisten können; deswegen muß damit Schluß
sein.
({9})
Wir wollen eine einheitliche Definition für die verschiedenen Anspruchsgrundlagen, und dafür sollte die
differenzierte Definition der Weltgesundheitsorganisation maßgebend sein. Diese Definition ist gegliedert in
„dauerhafter Schaden“, „funktionelle Einschränkung“
und „soziale Beeinträchtigung“. Ich glaube, daß uns die
Orientierung an diesem internationalen Maßstab einen
guten Schritt weiterbringen würde.
Ich möchte noch zwei andere Prinzipien, die allen
Überlegungen zugrunde liegen sollen, kurz erörtern: das
Normalitätsprinzip und das Prinzip der Flexibilität.
Das Normalitätsprinzip beschreibt doch nichts anderes als das, was wir alle wollen: eine möglichst große
Selbständigkeit und eine möglichst große Eigenverantwortung der Behinderten. Zusammen mit den Behinderten sollen die für sie notwendigen Hilfen geschaffen
werden, damit sie ihr Leben möglichst selbständig und
eigenverantwortlich gestalten können.
Flexibilität bedeutet, daß die zur Verfügung gestellten Hilfen für spezielle Zielgruppen ausgestaltet sein
müssen; zum Beispiel müssen für behinderte Frauen und
Mütter andere Hilfen als für andere Behindertengruppen
zur Verfügung gestellt werden.
Das barrierefreie Bauen ist inzwischen auch in
Deutschland verankert worden. Dennoch warne ich davor, es einfach und ohne jedes Nachdenken überall anzuwenden. Es gibt Lebenssituationen, in denen es sinnvoll sein kann, andere Normen zugrunde zu legen, zum
Beispiel bei bestimmten Arten geistiger Behinderungen.
Andere Formen des Bauens im Wohnbereich können die
Betreuung von Behinderten erleichtern.
Behinderte sind leistungsbereit und leistungsfähig.
Die Integration in den Arbeitsmarkt muß sich exakt an
diesen Kriterien orientieren. Daher ist es mehr als
bedauerlich, daß sich die berufliche Situation Schwerbehinderter in den letzten Jahren weiter verschlechtert hat.
Auch wir finden es betrüblich, daß 37 Prozent der
Arbeitgeber keinen einzigen Schwerbehinderten beschäftigen. Aus der Situation vieler ganz kleiner Betriebe ist das nachvollziehbar; dennoch ist es beklagenswert.
Besonders fragwürdig ist allerdings, daß die Quote
von 6 Prozent auch im öffentlichen Dienst - speziell auf
der Länderebene - immer seltener erfüllt wird. Zwar ist
die Quote von 5,2 Prozent im gesamten öffentlichen Bereich höher als die der privaten Arbeitgeber mit 3,4 Prozent. Aber angesichts der besonderen Bedingungen und
der Notwendigkeit, daß der öffentliche Dienst eine Vorreiterfunktion ausüben sollte, ist dies nicht zufriedenstellend.
Es muß auch gefragt werden, ob durch gutgemeinte
Vorschriften die Integration von Behinderten in die
Arbeitswelt wirklich gefördert wird. Ich denke, wir müssen immer wieder das Kündigungsschutzrecht prüfen
und uns fragen, ob dessen Ausgestaltung tatsächlich den
Zielen der Integration von Behinderten gerecht wird
({10})
oder ob es nicht eher dazu führt, daß Behinderte - gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten - aus dem
Arbeitsmarkt herausgehalten werden. Die Ausgleichsabgabe ist im Moment im wesentlichen ein Finanzierungsinstrument für Beschäftigungsförderungsmaßnahmen zugunsten Schwerbehinderter in der Wirtschaft. In
dieser Funktion wird sie sicherlich auch noch benötigt.
Neue Wege sollten auch im Bereich des Wohnens
von Behinderten gegangen werden. Gerade der Tatsache, daß die Behinderten ihr Leben schon immer
möglichst selbständig gestalten wollten, müssen wir bei
der Zurverfügungstellung von Wohngruppen und bei
Angeboten an betreutem Wohnen mehr als bisher Rechnung tragen. Aber darüber hinaus dürfen wir nicht zulassen, daß gerade diejenigen Eltern, die die Betreuung
ihres behinderten Kindes selbst in die Hand nehmen, im
Rahmen der Sozialhilfe gegenüber denjenigen Eltern
benachteiligt werden, die ihr Kind in ein Heim bringen
müssen, wodurch sie finanziell weniger belastet werden
als dann, wenn sie ihr Kind zu Hause betreuen. Hier
muß es dringend Veränderungen geben.
Frau Kollegin, Sie
haben Ihre Redezeit schon überschritten.
Die Formulierung des Sozialgesetzbuchs IX als wichtigste und zentrale Aufgabe der Behindertenpolitik in dieser Legislaturperiode erfordert auch das Aufeinanderzugehen. Wir
warten auf die Vorschläge der Regierungskoalition, die
sie aber bisher - leider - nicht unterbreitet hat.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun
der Kollege Ilja Seifert, PDS-Fraktion.
Zum Internationalen Betroffenentag
({0})
Einmal jährlich sind wir wichtig.
Kein Kommentar, der uns nicht ehrt.
Kein andres Thema ist mehr wert.
Die Öffentlichkeit ist uns pflichtig.
Wir dürfen sogar selber kommen,
Uns freuen über solche Ehre,
Die längst nicht selbstverständlich wäre.
Das Herzchen klopft uns ganz benommen.
Der Tag soll doch der uns're sein.
Wir können sagen, was wir brauchen,
Im Thema ganz nach unten tauchen. Wieso hebt ihr das Glas mit Wein?
Ihr könnt den Tag für euch verwalten.
Laßt uns den Rest des Jahrs gestalten!
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Freundinnen und Freunde auf der Tribüne!
Wir müssen anerkennen: Die neue Regierung versucht,
die Behindertenbewegung wesentlich ernster zu nehmen
als ihre Vorgängerin.
({1})
Dies ist mehr als nichts, und das sollten wir gebührend
schätzen. Dennoch darf es nicht bei Symbolen bleiben.
Ich selbst befinde mich in einer zwiespältigen Rolle: Ich
darf hier reden, weil ich ein Mandat der PDS habe. Aber
ich fühle mich mindestens genauso stark als Behindertenbewegter, der als solcher nur auf der Tribüne sitzen
und nicht reden dürfte.
Wir verhandeln hier über Menschenrechtspolitik. So
freue ich mich, daß sich der Deutsche Bundestag - ich
kann mich nicht entsinnen, daß das in den letzten Jahren
so gewesen ist, aber Frau Schwaetzer ist schon länger im
Parlament als ich - am Vortage des Weltbehindertentages in der Kernzeit zwei Stunden Zeit nimmt, um über
Grundsätze der Behindertenpolitik zu reden. Allerdings
bedaure ich, daß im vorliegenden Antrag der Koalition
wieder ausschließlich von Rehabilitationspolitik die Rede ist. Rehabilitation macht wirklich nur einen kleinen
Teil der Lebensbedingungen von behinderten Menschen
aus.
({2})
Wenn wir nicht begreifen, daß Behindertenpolitik
wesentlich mehr als nur die Zusammenfassung von Rehabilitations- und Schwerbehindertenrecht umfaßt - die
Behindertenpolitik sollte nämlich jedem den ihm gebührenden Platz einräumen -, dann werden wir nicht wirklich vorankommen. Insofern finde ich, daß Sie im
Grundansatz mit Ihren Eckpunkten zur Novellierung des
SGB IX, denen außerdem noch ein ziemlich überkommener Rehabilitationsbegriff zugrunde liegt, viel zu
kurz greifen. Sie sagen zwar, Sie wollten die WHOKriterien anlegen, in vielen konkreten Punkten geht es
aber ausschließlich um die berufliche Rehabilitation
und, wenn man Glück hat, noch ein wenig um die medizinische; von sozialer Rehabilitation ist kaum die Rede.
Daß die soziale Rehabilitation den eigentlichen Kristallisationspunkt der Rehabilitation ausmacht, kommt in
Ihren Eckpunkten nicht zum Tragen. Daß dieser Begriff
irgendwo steht, hat noch keinerlei inhaltliche Bedeutung. Insofern handelt es sich in den meisten Fällen nur
um Absichtserklärungen, die leider alle unter dem Kostenvorbehalt stehen, der wie ein Damoklesschwert alles
zu zerschlagen droht, was Sie in den voranstehenden,
durchaus positiv zu bewertenden Sätzen erklären.
Noch witziger finde ich allerdings den vorliegenden
CDU/CSU-Antrag. Ihre Rede, Frau Nolte, griff ja wesentlich weiter als Ihr Antrag. Wenn Sie im ersten Satz
Ihres Antrages schreiben, daß viele behinderte Menschen enttäuscht sind, daß sich seit dem Regierungswechsel nichts verändert hat, im übernächsten Satz aber:
„Geblieben sind enttäuschte Erwartungen“, dann muß
man zumindest sagen, daß es Ihre Regierung war, die in
erster Linie dafür gesorgt hat, daß die Erwartungen enttäuscht wurden.
({3})
- Ich freue mich, daß sie es zugeben. Sie sind ja auch
lernfähig, und wir wollen gemeinsam etwas bewegen.
Ich freue mich allerdings, daß Sie inhaltlich, Frau
Nolte, viele Punkte unseres Teilhabesicherungsgesetzes, das wir schon im April einbrachten, aufgegriffen
und in Ihrem Antrag weiterverarbeitet haben. Durch eine
solche parteiübergreifende Zusammenarbeit könnte man
die Behindertenpolitik ziemlich weit voranbringen. Das
sollte positiv vermerkt werden. Es wird den Besuchern
auf der Tribüne vielleicht auch Hoffnung geben.
({4})
Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sich
den von der PDS eingebrachten Änderungsantrag genau
anzusehen. Wir wollen hier nicht die Weltrevolution
ausrufen, sondern wir wollen, daß Sie eine Petition, die
sich mit Fragen der Behindertenpolitik und mit Behinderten in Heimen befaßt, der Regierung zur Berücksichtigung empfehlen und nicht bloß zur Kenntnisnahme.
Wir verfolgen mit unserem Antrag keine besonders
weitreichenden Absichten; deshalb bitte ich Sie, uns in
diesem Punkte zu folgen. Die Eingaben der Betroffenen
sollten von der Regierung viel ernster genommen und
stärker berücksichtigt werden.
Worum geht es nun inhaltlich in der Behindertenpolitik, wenn wir von einer Behindertenpolitik im größeren Rahmen, bei der die Rehabilitation nur einen kleinen
Teil ausmacht, reden?
Erstens muß man begreifen - das ist hier schon mehrfach gesagt worden -, daß es sich hierbei um eine Querschnittsaufgabe handelt, die alle Politikbereiche umfaßt.
Insofern ist schon die Ansiedlung des Behindertenbeauftragten im Sozialministerium falsch. Als Beauftragter des Sozialministeriums kann man nicht darauf
hinwirken, daß § 1 des Baugesetzbuches durch den Satz
ergänzt wird: „Gebäude und Einrichtungen sind barrierefrei zu gestalten.“ Eine solche für alle verbindliche
und bindende Vorschrift kann man vom Sozialressort
aus nicht festschreiben lassen. Vom Sozialressort aus
kann man auch nicht dafür sorgen, daß in Zukunft keine
behindertenfeindlichen und damit menschenfeindlichen
Busse, Straßenbahnen, Eisenbahnen und dergleichen in
Betrieb genommen werden.
Es geht also darum, Behindertenpolitik als Querschnittsaufgabe zu erkennen und institutionell abzusichern. Das betrifft natürlich alle anderen Ebenen vom
Land über die Kreise bis zu den Kommunen genauso.
Zweitens. Wir brauchen ein bindendes Gleichstellungsgebot. Darum kommen wir nicht herum. Seit
einem Jahr reden Sie davon, daß das Justizministerium
eine diesbezügliche Initiative ergreifen wird. Solange
ich nicht eine einzige konkrete Zeile lesen kann, sind
diese Ankündigungen wesentlich weniger wert, als es
aussieht.
({5})
Drittens brauchen wir Verbandsklagerechte.
({6})
Welcher behinderte Mensch hat überhaupt die Kraft, die
Zeit und das Geld, die Rechte, die ihm zustehen, einzuklagen? Was nützt es jemandem, wenn er vielleicht in
der letzten Instanz nach drei oder fünf Jahren recht bekommt? Dann ist er längst im Heim oder tot.
Schließlich brauchen wir endlich die Gültigkeit des
Finalitätsprinzips. Bis jetzt gilt es nicht. Wenn wir die
Eingliederungshilfe aus dem BSHG herausnehmen
wollen, kann man sie hervorragend mit den Leistungen
des Bundesversorgungsgesetzes und der Beamtenversorgung zusammenfassen. Das alles sind steuerfinanzierte Leistungen. Wir brauchen überhaupt nicht mehr
Geld. Wir brauchen nur das Geld, das vorhanden ist, so
zu verteilen, daß es keinen Unterschied mehr macht, ob
man von Geburt an behindert ist oder das „Glück“ hatte,
einen Arbeitsunfall zu haben. Insofern braucht die Teilhabe, um die es geht, eine Sicherung, die auch eine materielle Komponente hat. Diese ist das Leistungsgesetz,
das wir brauchen.
Daß die Regierung jetzt sagt, daß sie es in dieser Legislaturperiode nicht mehr will, halte ich für einen nicht
zu akzeptierenden Rückschritt. Der Maßstab, der an Behindertenpolitik angelegt werden muß, ist, wieviel Teilhabe am Leben der Gemeinschaft sie jedem einzelnen
behinderten Menschen bringt.
({7})
Ich will nicht verhehlen, daß ich mich auch über einige Punkte in diesen SGB-IX-Eckpunkten freue, seien es
die Beratungsstellen, sei es die besondere Berücksichtigung der Probleme von behinderten Frauen. Auch die
Tatsache, daß die deutsche Gebärdensprache endlich
anerkannt werden soll, ist ein gewaltiger Fortschritt, den
wir Behinderte alle begrüßen. Dennoch: Wo bleibt die
finanzielle Absicherung der Selbsthilfearbeit, damit wir
unsere Kompetenz auch so einbringen können, wie es
möglich wäre? Sie alle sagen ja, daß sie da sei. Das ist
ein Punkt, auf dem wir aufbauen können.
Meine Redezeit geht zu Ende. Ich hätte gern wesentlich länger geredet. Erlauben Sie mir zum Abschluß
noch einen lyrischen Beitrag:
Die Alpen sind
Nicht für mich gefaltet. Berge
Verweigern
Dem Rollstuhl
Den Weg. Aufwärts
Nicht anders
Als abwärts. - Trotzdem
War ich da.
Venedig ist
Nicht für mich gebaut. Die Kanäle
Tragen
Den Rollstuhl
Nicht. Und viele Brücken
Sind stufig. - Dennoch
War ich da.
Freunde
Traf ich und
Weniger
Erfreute. Die Welt ist
Nicht eingestellt
Auf mich, auf
Meine Lebensweise. Aber:
Wir
sind
da!
Danke schön.
({8})
Ich erteile dem Kollegen Karl-Hermann Haack, SPD, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute, am
Vortag des Welttages für Behinderte, eine solche
Grundsatzdebatte zu Lebensentwürfen von Menschen
mit Behinderungen hier im Deutschen Bundestag führen, so ist dies, Frau Schwaetzer, ein Novum. Erstmalig
tritt anläßlich eines solchen Tages der Deutsche Bundestag zusammen. Das hat nichts damit zu tun, daß wir
in den letzten Jahren auch behindertenpolitische Debatten geführt haben. Dies war eine bewußte Entscheidung
der Bundesregierung, um deutlich zu machen, daß sich
ein Politikwechsel inhaltlicher Art in der Behindertenpolitik vollzieht.
({0})
In diesem Zusammenhang bedaure ich es außerordentlich, daß anläßlich dieser Debatte des Deutschen
Bundestages, bewußt in die Kernzeit gelegt, eine elektronische Barriere aufgebaut worden ist. Denn diese
Debatte wird lediglich im „Phoenix“-Kanal übertragen;
„ZDF“ und „ARD“ zeigen nur Seifenopern. Menschen
mit Behinderungen, die von ihren Verbänden auf diese
Debatte hingewiesen worden sind, sind durch diese
elektronische Barriere gehemmt, heute morgen etwas
darüber zu erfahren, wie Politiker mit diesem Thema
umgehen. Ich finde das nicht in Ordnung.
({1})
Wir wollen aus Anlaß des Welttages der Behinderten
heute darlegen, was der Bundestag zu diesem Thema zu
sagen hat. Die heutige Situation ist deshalb anders als
die früherer Jahre, nicht nur weil am morgigen Tag der
Deutsche Behindertenrat durch die deutschen Behindertenverbände und Selbsthilfeorganisationen gegründet
wird, sondern auch weil die Zeit für die Neugestaltung
der Behindertenpolitik reif ist. In den letzten Jahren war
dieser Tag Anlaß - so auch 1998 -, daß die Organisationen uns Politiker eingeladen bzw. vorgeladen und uns
befragt haben, welche Konsequenzen wir aus der
Grundgesetzänderung von 1994 zu ziehen gedenken.
In Art. 3 steht nämlich geschrieben: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
In der Tat ist es so, Frau Nolte und Frau Schwaetzer,
daß diese Klage und die Frage der Behindertenorganisationen berechtigt war; denn trotz mehrfacher Zusagen in
Regierungserklärungen und Koalitionsvereinbarungen
hat sich nichts getan. Frau Nolte und Frau Schwaetzer,
ich finde es charmant, daß Sie nach nur einem Jahr Regierungszeit etwas Konkretes fordern. Sie hatten 16 Jahre Zeit, das Thema „Menschen mit Behinderungen“ in
den Mittelpunkt einer politischen Querschnittsaufgabe
zu stellen.
({2})
Dies haben Sie nicht getan.
Wenn ich Ihren Antrag lese, dann komme ich zu dem
Ergebnis, daß ein Teil aus unseren Vorlagen von Ihnen
abgeschrieben wurde und daß ein Teil aus Polemik gegen rotgrüne Vorhaben besteht.
({3})
Frau Schnieber-Jastram, weil Sie sich so empören,
will ich unter anderem darauf hinweisen, daß der Spitzenkandidat der CDU in Schleswig-Holstein, Rühe, im
Frühjahr dieses Jahres erklärt hat, daß das Beauftragtenwesen beendet werden müsse.
({4})
Der Behindertenverband von Schleswig-Holstein fragte
in diesem Zusammenhang, ob auch der Behindertenbeauftragte davon betroffen sei.
({5})
- Sie sprechen von Alibifunktion. Damit wissen wir also, daß eine Politikerin, die in Schleswig-Holstein das
Amt der Ministerin für Arbeit, Gesundheit und Soziales
anstrebt, erklärt, es handele sich um eine Alibifunktion.
Schönen Dank! Damit sind wir am Ende der Gemeinsamkeit angelangt.
({6})
Wie sieht die Bilanz aus?
({7})
Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSUFraktion, haben sich gegen alle Ansätze gewehrt, ein
Gleichstellungsgesetz zu machen. Sie haben das Projekt
„Eingliederung von Menschen mit Behinderungen“ im
Rahmen des Sozialgesetzbuches IX zwar 1987, 1990
und 1994 in Ihre Koalitionsabkommen aufgenommen,
aber Sie haben es nie umgesetzt. Nein, Sie haben dieses
Gesetz zur Eingliederung von Menschen mit Behinderungen in Ihren politischen Schubladen verschimmeln
lassen.
Da Sie auf einen Referentenentwurf aus Ihrer Regierungszeit abheben, will ich sagen: Wir haben uns diesen
Referentenentwurf angesehen. Wir alle waren aber der
Meinung, daß wir ihn auf Grund seiner Qualität sozusagen in die politische Tonne treten können.
Des weiteren haben Sie nicht einmal Ansätze zu einer
europäischen Beschäftigungspolitik für Menschen mit
Behinderung entwickelt. Der jetzige Arbeitsminister hat
im Frühjahr dieses Jahres in Dresden einen internationalen Kongreß veranstaltet. Bei dieser Gelegenheit hat
er gesagt: Menschen mit Behinderungen müssen in Europa überall arbeiten können. - Unter welchen Voraussetzungen muß dies geschehen? Da ist eine Konvention
verabschiedet worden, die heute Bestandteil europäischer Beschäftigungspolitik ist.
({8})
Das ist die Bilanz eines Jahres.
Wir haben uns vorgenommen, es auf jeden Fall besser zu machen. Wir wollen den Verfassungsgrundsatz
„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt
werden“ durch Gesetze für den Alltag verbindlich machen. Wir haben uns vorgenommen, ein Sozialgesetzbuch IX als Gesetzbuch zur Eingliederung von Menschen mit Behinderungen auf den Weg zu bringen. Wir
haben uns vor allen Dingen vorgenommen, unsere Vorhaben nicht gegen die, sondern mit den Menschen mit
Behinderungen zu erarbeiten und umzusetzen.
({9})
Insofern haben wir ein gutes Jahr politischer Arbeit
hinter uns. Wenn wir heute die Kolleginnen und Kollegen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, als Besucher hier auf der Tribüne und beim anschließenden
Empfang durch den Bundestagspräsidenten Wolfgang
Thierse begrüßen dürfen, meine ich, daß das auch ein
Ausdruck dafür ist, Ihnen allen, meine sehr verehrten
Damen und Herren, für das Vertrauen, das Sie uns entgegengebracht haben, ein herzliches Dankeschön zu sagen.
({10})
Wir befinden uns in der Auseinandersetzung um
einen Paradigmenwechsel; denn es gibt ein neues
Selbstverständnis und daraus resultierend neue Lebensentwürfe für Menschen mit Behinderungen. Auf diesen
Paradigmenwechsel gilt es zu reagieren. Fakt ist: Sozialpolitik, Verbände sowie Einrichtungen der Behindertenhilfe mit den dort Beschäftigten, nicht zuletzt die
vielen ehrenamtlich Tätigen haben in den vergangenen
50 Jahren dazu beigetragen, den Begriff Sozialstaat
Bundesrepublik Deutschland auch für Menschen mit
Behinderungen erfahrbar zu machen.
Wir wollen diesen humanen und gesellschaftlichen
Fortschritt und diese positiven Ergebnisse der Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland, gerade
vor dem Hintergrund unserer geschichtlichen Erfahrungen von 1933 bis 1945 - ich erwähne das Wort Euthanasie -, zur Grundlage weiterer Gestaltung und zur
Grundlage, einen neuen Pfad zu finden, machen.
In Richtung der ehemaligen DDR will ich sagen:
Auch dort gibt es sicherlich einiges aufzuarbeiten.
Kollege Haack, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hüppe?
Ja.
Wenn Sie gerade bei
der Bilanz sind: Wie können Sie sich erklären, daß in Ihrer Fraktion der Beschluß gefaßt worden ist, eine Bioethik-Enquete-Kommission nicht einzurichten, bei der
es zum Beispiel um die Versuche mit Nichteinwilligungsfähigen gehen sollte? Und wenn Sie das Thema
Euthanasie ansprechen, darf ich Sie fragen: Welche
Karl-Hermann Haack ({0})
Maßnahmen plant die Bundesregierung, die Tötung von
behinderten Kindern vor der Geburt gesetzlich einzuschränken?
Zum ersten
Teil Ihrer Frage will ich Ihnen sagen: Als Mitglied des
Europarates bin ich der Auffassung - diese vertrete ich
dezidiert -, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland,
aber auch international das Thema Vor- und Nachteile
der Bioethik-Konvention hinreichend diskutiert haben
und zu Ergebnissen gekommen sind. In dem Arbeitskreis der letzten Legislaturperiode haben wir uns unter
dem vormaligen Minister Schmidt-Jortzig verabredet,
uns erst die amtlich übersetzte Fassung sämtlicher Protokolle vorlegen zu lassen und dann weiterzusehen.
Wenn wir jetzt eine Enquete-Kommission für Bioethik
oder Biotechnologie einsetzen würden, stünden wir gewissermaßen auf einer Stufe, auf der nichts Weiteres geschieht. Aus meinen Erfahrungen im Europarat weiß
ich: Ein bestimmtes Quorum reicht, um die BioethikKonvention verbindlich zu machen.
Ich sage Ihnen, welche Auffassung ich intern hinsichtlich des Verfahrens vertrete. Man muß die gegenseitigen Argumente sortieren, wie wir es auch damals
beim Transplantationsgesetz in bezug auf die Festlegung
des Todeszeitpunktes gemacht haben. Damals gab es
mehrere Versionen, von denen wir uns auf drei geeinigt
haben. Über diese Versionen hat jeder im Deutschen
Bundestag nach seinem Ethikverständnis abgestimmt.
So, stelle ich mir vor, wollen wir das auch bei der Bioethik-Konvention machen.
Ich möchte jetzt in meiner Rede fortfahren. Wir entwickeln heute generell neue Fragestellungen und Perspektiven. Das gilt an der Schwelle zum neuen Jahrtausend ebenso in der Behindertenpolitik. Das wird uns
auch in der öffentlichen Debatte durch die Betroffenen
selber deutlich gemacht.
Es gibt eine Debatte über das Thema: Soll ein
Mensch mit Behinderungen ein Objekt der Fürsorge
sein, oder muß er sich nicht selbst definieren in einem
Konzept von selbstbestimmtem Leben? Ich habe die Situation sehr persönlich erfahren in einem Gespräch mit
einer promovierten Biologin, die Rollstuhlfahrerin ist
und keine Arbeit findet. Sie muß heute bei der Hauptfürsorgestelle um eine Arbeitsassistenz betteln. Dem wollen wir eine Ende machen. In einem Sozialgesetzbuch
IX wollen wir versuchen, den Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz einzulösen.
({0})
Wir kommen, meine Damen und Herren, aus unterschiedlichen Welten, wenn wir uns diesem Thema nähern. Es sind gewissermaßen drei Welten, die wir miteinander verbinden wollen. Zum einen, resultierend aus
den zwei Weltkriegen, entstand die Kriegsopferversorgung. Das Schwerbehindertengesetz ist eine Folge von
Behinderungen, die im Arbeitsleben erworben worden
sind. Zum anderen gibt es Menschen, die seit der Geburt
Behinderungen haben und seitdem von Sozialhilfe leben
und deren Lebensperspektive von der Sozialhilfe bestimmt ist. Schließlich rückt der Anspruch von Menschen mit Behinderung in den Vordergrund, die selbstbestimmt leben wollen.
Allen gemeinsam, meine Damen und Herren, ist der
Anspruch, daß sie sagen: Niemand darf wegen seiner
Behinderung benachteiligt werden. Sie wollen mit uns
darüber reden.
Konkret bedeutet dies: Behindertenpolitik, ein
Gleichstellungsgesetz ist ein Bürgerrecht. Die Sozialpolitik, hier das Gesetz zur Eingliederung von Menschen
mit Behinderungen, ist dann die sozialpolitische Ergänzung. Es ist linke Verfassungstradition - das will ich
sehr deutlich sagen -, den Anspruch auf das Bürgerrecht
mit sozialpolitischen Maßnahmen zu verknüpfen. Sonst
realisiert sich das Bürgerrecht nicht.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Menschenbild ist das der Chancengleichheit. Jeder soll die
Möglichkeit haben, sein Leben selbstbestimmt zu gestalten. Das heißt, nicht mehr der fürsorgliche Staat,
sondern das Bürgerrecht der Teilhabe soll im Selbstverständnis der Menschen ihre Lebensbedingungen
bestimmen.
Um Mißverständnisse zu vermeiden: Dieser Grundsatz benachteiligt nicht die Menschen, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe leben und betreut werden.
Er stellt auch nicht in Frage, was dort von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der freien Wohlfahrtspflege, in
den kirchlichen Organisationen und von anderen Trägern geleistet wird. Wir brauchen deren Arbeit auch in
Zukunft. Für unsere politische Praxis bedeutet dies vor
allem: Die gesetzliche Umsetzung des Benachteiligungsverbotes des Grundgesetzes und die Schaffung eines effizienten Instrumentenkastens stehen in einem inneren Zusammenhang.
Insofern, Herr Seifert, können Sie getrost sein: Das,
was Sie als Leistungsgesetz einfordern, wollen wir in
das Sozialgesetzbuch, in das Gesetz zur Eingliederung
von Menschen mit Behinderungen, einbringen. Derzeit
sind für Menschen mit Behinderungen und deren Eingliederung, ungefähr sieben soziale Sicherungssysteme
zuständig, es gelten unzählige Gesetze und eine Menge
Verordnungen. Dieses Elend muß ein Ende haben.
({2})
Sozialstaatliche Akzeptanz bedeutet auch, meine sehr
verehrten Damen und Herren, daß man sich nicht nur
inhaltlichen Fragen hingibt, sondern auch der bürokratischen Frage: Folgt die Dienstleistung dem Menschen
oder folgt der Mensch der Dienstleistung? Das ist die
Kernfrage, die wir im Sozialgesetzbuch IX zu lösen versuchen, indem wir mehrere - insgesamt sieben - soziale
Sicherungssysteme zusammenfassen, um zu einem vernünftigen Ergebnis zu kommen.
Wir kommen noch einmal zu dem Thema der Umsetzung des Benachteiligungsverbotes. Es steht für uns
außer Frage: Es gibt nach wie vor in deutschen Gesetzen
diskriminierende Bestimmungen, etwa gegenüber Gehörlosen, die dort als Taubstumme und als nicht voll geschäftsfähige Personen eingestuft werden. Das Netzwerk
behinderter Juristinnen und Juristen, meine Damen und
Herren, mit dem wir hervorragend zusammenarbeiten,
hat uns einen ganzen Katalog diskriminierender Vorschriften in Landesgesetzen, Bundesgesetzen, Rechtsverordnungen und Geschäftsbedingungen von Versicherungen vorgelegt, mit der Bitte, uns um deren Beseitigung zu bemühen.
Noch immer ist es nicht planerische und bauliche
Normalität, den Belangen von Menschen mit Behinderungen gerecht zu werden. Gute Beispiele, die es durchaus gibt, zeigen, wie unsinnig und unbedacht in vielen
Fällen gehandelt wird.
Mobilität ist in unserer Gesellschaft fast zu einem
Menschenrecht erkoren; sie ist aber für Menschen mit
Behinderungen oft ein schwieriges Unterfangen. Reisen
sind damit verbunden, Hürden und Hemmnisse überwinden zu müssen, und man hat Hemmungen, eine Reise überhaupt anzutreten.
Wir glauben, meine Damen und Herren, daß diese
Gesellschaft es nicht länger rechtfertigen kann, Menschen aus Gründen juristischer Komplexität der Materie
in Rechten und Bewegungsfreiheiten einzuschränken.
({3})
Dazu bedarf es eines Instrumentariums, das sich aus
dem Grundrechtsartikel 3 Abs. 3 ableitet.
Ein Beispiel, wie dieser Artikel jetzt schon eine
Eigendynamik entwickelt: Es gibt Gerichtsurteile zum
Einbau von Treppenliften. Da sagt das eine Gericht, daß
das in einem Mietshaus geschehen muß, und ein anderes
Gericht sagt, daß das nicht geschehen darf. Nun geht es
zur nächsten Instanz. Es wird deutlich, wie dieser Artikel 3 Abs. 3 - „Niemand darf wegen seiner Behinderung
benachteiligt werden“ - eine Eigendynamik entwickelt.
Daneben gibt es das Sozialgesetzbuch IX. Wir wollen
das Recht so vereinheitlichen, daß die Menschen mit
Behinderungen bei der Beantragung von Leistungen
nicht mehr zu Pfadfindern ihrer eigenen Situation werden müssen, sondern daß die Dienstleistung auf den
Menschen zugeht. Hier sehen wir eines der größten Akzeptanzprobleme unserer Sozialstaatlichkeit.
Zum Schluß zu den Finanzen. Ich bin ganz deutlich:
Wir haben das Gespräch mit den Verbänden behinderter
Menschen und anderen Organisationen gesucht. Ich habe
eindeutig gesagt: Wir werden uns in dem Finanztableau,
das sich aus dem Ergebnis vom 31. Dezember 1998 ergibt, bewegen. Wir haben in der Pflegeversicherung einen
Deckel bei 1,7 Prozent. Wir haben in der Rentenversicherung als Fortschreibung entweder die Steigerung auf
Grund der Nettogrundlohnsumme oder aber den Inflationsausgleich. Darum geht der politische Streit. Im Gesundheitswesen diskutieren wir das Globalbudget, das zur
Zeit nicht durchsetzbar ist, das ich aber aus prinzipiellen
Gründen für richtig halte. Wir werden einen anderen Parameter der finanziellen Steuerung finden. Aber dann
kann es nicht sein, daß ein soziales Sicherungssystem,
nämlich das SGB IX, mit einem Ausgabenvolumen von
55 Milliarden DM, davon 15 Milliarden DM Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen, sich der
Finanzfrage nicht stellt. Denn die Solidarität gegenüber
Menschen mit Behinderungen bedeutet auch, Akzeptanz
bei denen zu erzeugen, die diese Solidarität bezahlen. Das
sind diejenigen, die Steuern und Abgaben bezahlen. Das
dürfen wir nicht als Gegensatzpaar sehen, sondern müssen versuchen, das in einem gesellschaftlichen Diskurs im
Ergebnis als Symbiose darzustellen.
Herzlichen Dank.
({4})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Birgit Schnieber-Jastram, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Haack, ich möchte gern auf das
eingehen, was Sie soeben gesagt haben,
({0})
und sehr deutlich machen, daß ich überhaupt kein Problem mit Behindertenbeauftragten habe - dort, wo sie
Kompetenz haben und nicht nur Symbolfigur sind, um
auch das sehr deutlich zu sagen.
({1})
Ich will Ihnen auch noch einmal klarmachen, welche
Erwartungen wir an einen sehr guten Behindertenbeauftragten haben. Ich finde schon, daß er über die Parteigrenzen hinweg die Interessen der Behinderten bündeln
muß und nicht polarisieren darf.
({2})
Gerade am Beispiel Schleswig-Holstein möchte ich
Sie daran erinnern, daß aus Ihren Reihen der erste und
ein ausgesprochen guter - von Ihnen vielleicht nicht so
sehr geliebter - Behindertenbeauftragter hervorgegangen ist, nämlich damals Eugen Glombig, der in Schleswig-Holstein eine ganz wichtige Arbeit geleistet hat.
Ich will deutlich machen: Behindertenpolitik heißt
nicht nur, einen Behindertenbeauftragten zu benennen,
der auf Veranstaltungen auftritt, sondern Behindertenpolitik heißt, daß man überall dort, wo Anliegen diskutiert werden, auch Menschen mit Kompetenz hat, die
diese Anliegen vertreten. Das gilt nicht nur für die Sozialpolitik, das gilt für die Arbeitsmarktpolitik, für die Gesundheitspolitik, für den Wohnungsbau und viele andere
Bereiche, nicht zuletzt auch für die Finanzpolitik. Vor
diesem Hintergrund wundere ich mich schon ein bißchen, daß auf der Regierungsbank kaum Vertreter dieser
Ressorts anwesend sind, die die Interessen und die Belange Behinderter genauso angehen wie Sie als Behindertenbeauftragten.
({3})
Karl-Hermann Haack ({4})
Noch einmal ganz deutlich: Behindertenbeauftragte
brauchen wir überall da, wo sie große Kompetenz haben.
Eins werden Sie mir zugestehen - jedenfalls denke
ich nicht, daß Sie mir das absprechen werden, Herr
Haack -: Ich kann ein langjähriges Engagement in diesem Bereich vorweisen. Überall dort, wo ich politisch
gearbeitet habe, habe ich auf diesem Feld gearbeitet. Ich
freue mich, daß ich mit Kompetenz sehr viel für Behinderte tun werde.
({5})
Kollege Haack.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau SchnieberJastram, ich finde es ja sehr gut, daß Sie sagen, ein Behindertenbeauftragter müsse kompetent sein.
({0})
Zu der Zeit, als der Kollege Rühe das leichtfertig gesagt
hat, war der Präsident des Deutschen GehörlosenBundes, Dr. Hase, als Landesbehindertenbeauftragter in
Schleswig-Holstein im Amt. Das ist ein hochkompetenter Mann.
({1})
- Ich rede über Schleswig-Holstein. Frau SchnieberJastram ist in dem Kabinett von Herrn Rühe als Arbeits-,
Gesundheits- und Sozialministerin vorgesehen.
({2})
Deshalb reden wir darüber.
Zudem will ich sehr deutlich machen: Ich bin Ihrer
Auffassung,
({3})
daß man sagen kann, die Frage der Neugestaltung von
Lebensentwürfen von Menschen mit Behinderungen sei
kein Gegenstand politischen Streites. Ich verstehe mein
Amt aber so: Wenn Moderation durch Vorurteile und
durch Ideologie
({4})
im Endergebnis gehindert wird, dann werde ich streitbar; dafür bin ich benannt. Sie kennen mich: Diesen
Streit stehe ich durch.
({5})
Ich erteile dem Kollegen Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Behindertenbeauftragter Karl-Hermann Haack, ich hätte mir von dir
heute eigentlich eine Rede gewünscht, in der du dich was du auch oft tust - als Anwalt der Behinderten dargestellt hättest,
({0})
in der du aber auch ein bißchen Wert auf die Feststellung gelegt hättest, daß sich die Politiker von allen Parteien im Deutschen Bundestag doch einig sind, daß wir
uns um die Behinderten sorgen, daß wir möchten, daß
Behinderte - soweit sie es auf Grund ihrer Behinderung
können - in unserem Land ein normales Leben führen,
({1})
daß sie mitten in der Gesellschaft ihren Platz haben und
daß man mit ihnen ganz normal umgeht. Viele Behinderte - ich glaube, ich kann mir auf Grund einer in meiner Familie vorhandenen Situation ein Urteil erlauben wollen gar keine Sonderbehandlung, sondern wollen
ganz normal angenommen werden und dabeisein - wie
wir auch. Ich hätte mir gewünscht, daß du das dargestellt
hättest und daß du nicht gemeint hättest, wegen weniger
Punkte spalten zu müssen und sagen zu müssen, daß
jetzt die SPD und die Grünen - die neue Koalition - das
Rad neu erfindet.
({2})
Ich finde es auch ungerecht, daß in dieser Debatte
gesagt wird, in den 16 Jahren, in denen Union und
F.D.P. Verantwortung getragen haben, sei für Behinderte nichts getan worden.
({3})
Das ist doch nicht wahr. Gegen ganz viele Widerstände
in dieser Gesellschaft haben Union und F.D.P. - und in
der Endphase doch mit der SPD zusammen - die Pflegeversicherung durchgesetzt. Das ist doch wahr. Mit
der Pflegeversicherung haben wir die Situation von
Hunderttausenden von Menschen vor allen Dingen in
der häuslichen Pflege - aber auch in der stationären grundlegend verbessert.
({4})
Lieber Kollege Seifert, bei allem Respekt davor, daß
Sie Ihre Aufgabe als Abgeordneter auch mit einer Behinderung wahrnehmen: Ich habe gerade in das Handbuch des Deutschen Bundestages geschaut. Sie waren
SED-Parteisekretär.
({5})
Wenn Sie das waren, dann ist es gut, daß Sie das offen hineinschreiben. Ich habe 1990 bei meinen ersten
politischen Einsätzen in den neuen Ländern eine Behinderteneinrichtung in der Nähe von Schwerin besucht. In
diesem Behindertenheim herrschte eine Situation vor,
wie wir sie uns in unseren Heimen überhaupt nicht mehr
vorstellen können.
({6})
Wenn etwas wahr ist, dann dies: Wie sozial eine Gesellschaft ist, welche inneren Werte eine Gesellschaft
hat, erkennt man immer daran - ich glaube, da sind wir
uns alle einig -, wie sie mit den Schwächsten der Gesellschaft umgeht.
({7})
Dazu gehört der Umgang mit Kindern, mit älteren Leuten und insbesondere mit behinderten Menschen. Deswegen sage ich Ihnen: Das System, dem Sie als SEDParteisekretär gedient haben, war ein unsoziales und inhumanes System.
({8})
Ich lasse mich nicht gerne von Menschen wie Ihnen im
Bereich der Sozialpolitik belehren.
Kollege Laumann,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Gut, das können
wir machen.
({0})
Herr Kollege Laumann, ich
möchte Sie fragen, ob es nicht vielleicht auch in Ihrer
Biographie den einen oder anderen Bruch gibt. Darf ich
Sie bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, daß ich
Parteisekretär in einer kleinen kulturpolitischen Einrichtung war, mehrfach nicht gewählt wurde, dann aber
- nachdem ich vielleicht etwas für die Mitglieder getan
hatte - doch gewählt wurde, und daß ich die Behindertenpolitik der DDR schon seinerzeit in vielen Punkten
kritisiert habe? Darf ich Sie fragen, ob Sie das schon
wissen?
Ich habe noch eine Frage: Wie vereinbaren Sie die
scharfe Kritik an der Behindertenpolitik und insbesondere an den Behinderteneinrichtungen der DDR mit
dem, was wir immer wieder hören - Stichwort: Gewalt
gegen Alte, Gewalt in der Pflege -, insbesondere aus
München und anderen westdeutschen Großstädten?
Lieber Kollege
Seifert, zunächst einmal entspricht es meinem Menschenbild als Katholik, daß ich jedem Umkehr, Buße
und Neuanfang zugestehe.
({0})
Dazu gehört aber, daß man zu dem, was man vorher getan hat, steht.
({1})
Wenn Sie heute in Ihrer Rede etwas zu Ihren Erfahrungen, die Sie dort gemacht haben, gesagt und nicht nur
kritisiert hätten, dann wären Sie viel glaubwürdiger gewesen.
({2})
Zu Ihrer Frage hinsichtlich der Gewalt in der Pflege:
Seitdem ich dem Deutschen Bundestag angehöre, beschäftige ich mich sehr intensiv - viele wissen das - mit
der Pflegeversicherung. Alle Gesetze sind eindeutig. Sie
wissen, daß die staatlichen Kontrollen immer irgendwo
ein Ende haben. Ich finde, man kann am besten gegen
Gewalt in der Pflege vorgehen, wenn man dieses Thema nicht tabuisiert, wenn man ganz oft darüber redet
und wenn man versucht, ein gesellschaftliches Bewußtsein dafür zu schaffen. Man sollte nicht weggucken. Das
ist es, was wir gemeinsam dagegen tun sollten.
Es gibt aber nicht nur Gewalt in der Pflege. Es muß
auch gesagt werden, daß in den vielen Einrichtungen unseres Landes jeden Tag Tausende von Menschen damit
beschäftigt sind, die Pflegebedürftigen und Behinderten
aufopferungsvoll, mit Kompetenz und Herz zu betreuen,
zu pflegen und zu versorgen.
({3})
Ich meine, in einer solchen Debatte sollte man sagen,
daß wir diesen Menschen sehr dankbar sein können.
Ich will noch einen Punkt ansprechen. In dieser Debatte wurde gesagt: In eurer 16jährigen Regierungszeit
hättet ihr doch alles machen können: das Sozialgesetzbuch IX, die Leistungsgesetze! Ich war damals in der
Arbeitsgruppe meiner Fraktion „Kodifizierung Sozialgesetzbuch IX“. Wir hatten damals eine Vorlage, von der
Sie gesagt haben: Die schmeißen wir jetzt in die Tonne.
Wir waren in der Lage - das will ich ganz offen sagen -,
die verschiedenen Gesetze für Behinderte, die zur Zeit
völlig unübersichtlich auf mehrere Gesetzbücher verteilt
sind, in einem Gesetzbuch, nämlich dem Sozialgesetzbuch IX, zusammenzufassen. Wir hatten damals aber
keine finanziellen Möglichkeiten, Leistungen zu verbessern, und zwar auch deswegen, weil wir nach 1990 im
Eiltempo unser Geld für die Behinderten- und Sozialpolitik eingesetzt haben, um die Strukturen in Ostdeutschland nachhaltig zu verbessern.
({4})
Was wir damals alle gemeinsam unter Verantwortung
von Norbert Blüm und Helmut Kohl in der Behindertenpolitik in Ostdeutschland gemacht haben, war, ein Tempo vorzulegen, wie es Menschen einer ganzen Generation in anderen Gebieten nicht erlebt haben. Ich finde,
das festzustellen, gehört auch dazu.
({5})
Ich stehe dafür ein, daß es mir - wie uns allen wichtiger war, dort die schlimmsten Strukturen zu verbessern, bevor wir dann notwendige und wünschenswerte Maßnahmen bei uns im Westen, wo wir alles in
allem einen guten Standard haben, durchgesetzt haben.
Deswegen, lieber Kollege Haack: Wirken Sie in Ihrem
Amt nicht so parteipolitisch. Setzen Sie sich für Behinderte ein. Denken Sie aber daran, daß es Menschen, die
sich für Behinderte einsetzen, in allen Parteien, in allen
Fraktionen des Deutschen Bundestages und in allen
gesellschaftlichen Schichten unseres Landes gibt.
({6})
Hierzu will ich noch etwas sagen. Ich habe mir meine
heutige Rede etwas anders gedacht, aber auf Grund der
letzten Beiträge mußte ich sie anders halten. Ich habe in
meinem Bundestagswahlkampf viele Podiumsdiskussionen geführt und habe manchen von Ihnen, der hier sitzt,
bei diesen Podiumsdiskussionen getroffen. Mir hat damals Ihre beißende, Ihre ätzende Kritik an der Sozialund Behindertenpolitik der damaligen Bundesregierung
weh getan. Damals haben Sie den Leuten Leistungsgesetze versprochen.
({7})
Ich kann ein Jahr nach Ihrer Regierungsübernahme von
diesen Leistungsgesetzen nicht einmal im Ansatz, nicht
einmal mit einem Fernglas irgend etwas erkennen. Das
ist doch die Wahrheit.
({8})
Sie sollten hier nicht so vollmundig reden und den Menschen versprechen, was Sie bei der Pflegeversicherung
alles machen würden. Sie haben bei vielen Podiumsdiskussionen gesagt: Wenn wir an die Regierung kommen,
wird alles verändert. Was haben Sie gemacht? Bis jetzt
fast gar nichts. Sie haben der Pflegeversicherung
dadurch, daß Sie die Arbeitslosenhilfeempfänger im
Zusammenhang mit der Bemessungsgrundlage anders
bewerten - Herr Riester, dafür haben Sie die Verantwortung -, 500 Millionen DM entzogen und damit die
Grundlage für Leistungsverbesserungen in diesem
System für die nähere Zukunft zerstört.
({9})
Ich hätte mir, Herr Kollege Haack, gewünscht, daß der
Behindertenbeauftragte der Bundesregierung in dieser
Frage das Wort für die Behinderten ergriffen hätte.
({10})
Deswegen glaube ich, daß Sie den Einwand der Kollegin Schnieber-Jastram verstehen müssen. Einen Behindertenbeauftragten zu haben, macht nur Sinn, wenn
er gerade in einer solchen Frage sein Wort erhebt, auch
wenn es gegen die eigene Partei geht, und für die Behinderten einsteht. Ansonsten macht es keinen Sinn.
({11})
Zum Schluß möchte ich aus meiner ganz persönlichen Sicht ein Thema ansprechen, das wir im Deutschen
Bundestag als Gesetzgeber zu verantworten haben. Ich
weiß, daß es hier keine leichte Lösung gibt. Der Kollege
Hüppe hat das Thema mit einer Zwischenfrage angesprochen. Die Abtreibungsproblematik läßt eine Gesellschaft nie in Ruhe. Ich weiß das. Ich bin mir über die
Wege, wie man das ungeborene Kind am besten schützen kann, nicht sicher. Ich weiß auch nicht, wie man es
am besten macht. Ich bin bislang bei allen Abstimmungen im Bundestag dafür eingetreten, daß wir einen klaren rechtlichen Schutz haben. Ich war mit meiner Meinung immer in der Minderheit im Bundestag. Ich sehe
jetzt in meiner Kirche, wie schwer wir uns tun im Konflikt zwischen der grundsätzlichen Position und der
Frage, was man in der Seelsorge machen müßte. Das ist
die Frage, die in der katholischen Kirche zur Zeit diskutiert wird.
Aber ich kann folgendes nicht verstehen - das sage
ich ganz offen; darüber müssen wir als Abgeordnete reden können und ich möchte das in der Behindertendebatte sagen -: Wenn bei einer Untersuchung festgestellt
wird, daß ein ungeborenes Kind wahrscheinlich behindert ist, liegen die Fristen für eine Abtreibung nicht nur
in den ersten drei Monaten, sondern weit darüber hinaus.
Ich finde, das ist ein unerträglicher Zustand. Das ist
meine persönliche Meinung.
({12})
Es ist ein unerträglicher Zustand, daß eine andere
Rechtsnorm bei behinderten ungeborenen Kindern gilt
als bei anderen. Ich sage nur: Laßt uns in Ruhe überlegen, ob man in diesem Land mit diesem Unterschied in
der Rechtsnorm wirklich leben kann. Ich meine, man
kann damit nicht leben. Laßt uns das nicht zum parteipolitischen Streit machen, sondern laßt uns überlegen,
wie man eine Lösung finden kann, die unseren ethischen
Auffassungen gerecht wird, die aber auch unseren Auffassungen vom Bild der Frau gerecht wird, und laßt uns
die Fragen, die mit einer solchen Situation verbunden
sind, in einen verantwortbaren Zusammenhang bringen.
Mein abschließender Appell ist einfach nur, daß Sie
die weitere Debatte vielleicht nicht so parteipolitisch
führen und daß Sie, lieber Kollege Haack, demnächst Ihr
Amt für die Behinderten ausüben, aber nicht für die
Sozialdemokratische Partei Deutschlands.
Schönen Dank.
({13})
Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Karl-Hermann Haack,
SPD.
Herr Laumann, ich möchte auf Ihre Bemerkung eingehen, man
solle ein solches Amt nicht politisieren.
({0})
Als ich mein Amt angetreten habe, haben wir uns
darauf verständigt, zunächst einmal eine Bestandsaufnahme darüber zu machen, welche Konzepte die politischen Parteien für den Umgang mit Menschen mit Behinderung haben. Wir haben eine Synopse gemacht:
CDU, CSU, F.D.P, Grüne, PDS.
Wir sind dann in eine zweite Runde gegangen und haben eine Synopse zu der Frage gemacht, was Behindertenverbände von Politikern erwarten. Das waren die sogenannten Wahlprüfsteine für die Bundestagswahl 1998.
Wenn Sie diese Synopse betrachten, dann stellen Sie
fest, daß es signifikante Unteschiede gibt. Ich will dies
einmal an Hand eines Beispiels auf abstrakter Ebene
deutlich machen.
({1})
- Hören Sie doch einmal zu!
Es gibt in der Gesellschaft ein unterschiedliches Verständnis von Situationen, was dann auch seinen politischen Ausdruck findet. Das ist so. Ich will das an dem
Gebot deutlich machen, daß niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Wir haben einen
Diskussionsprozeß durchgeführt und haben gesagt: Dies
ist ein Bürgerrecht. Nach linker Verfassungstradition ist
es erst dann ein Bürgerrecht, das eingelöst werden kann,
wenn man dazu einen sozialpolitischen Instrumentenkasten hat. Das ist der qualitative Sprung, der auf unserer
Seite stattgefunden hat,
({2})
indem wir einen inhärenten Zusammenhang hergestellt
und gesagt haben: Ein Benachteiligungsverbot, ein
Gleichstellungsgebot als ein Bürgerrecht hat im Alltag
nur dann Sinn, wenn es sozialpolitisch ausgestaltet ist.
Das ist linke Verfassungstradition, und das nehme ich
für mich in Anspruch. Das habe ich bei Ihnen nie vorgefunden.
({3})
Ich erteile nunmehr
das Wort dem Kollegen Laumann zur Erwiderung.
Herr Kollege
Haack, ich wünschte wirklich, Sie hätten endlich begriffen,
({0})
daß man als Behindertenbeauftragter nicht in einer linken
Verfassungstradition stehen muß, sondern daß man Anwalt der Behinderten mit Herz und Verstand sein muß.
({1})
Ich habe mir noch einmal die ersten drei Artikel unseres Grundgesetzes angeschaut. Da heißt es in Art.1
Abs. 1:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu
achten und zu schützen ist Verpflichtung aller
staatlichen Gewalt.
In Art. 2 Abs. 1 steht:
Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner
Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer
verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige
Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
Das gilt alles auch für behinderte Menschen. In Art. 3
Abs. 3, neu eingefügt, der Satz:
Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Ich meine, treffender, als es in unserem Grundgesetz
steht, kann man das, wie man mit Menschen, auch mit
Menschen mit einer Behinderung umgehen muß, gar
nicht ausdrücken, zumal wenn Sie noch die Formulierung der Präambel „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“ hinzunehmen.
Ich bin mit dem Sozialausschuß einmal in Amerika
gewesen.
({2})
Dort gibt es ein Diskriminierungsverbot und all diese
Dinge. Man kann zwar, wenn man drei, vier Tage in
einem Land ist, nicht die gesamte Sozialpolitik des Landes beurteilen. Ich will den Amerikanern auch nicht unrecht tun. Aber mein Eindruck war schon - es waren ja
auch Kollegen der Sozialdemokratischen Partei dabei -,
daß es in Amerika zwar ein Diskriminierungsverbot
gibt, daß aber der sozialpolitische Instrumentenkatalog
und die Hilfen, die man dort hat, bei weitem nicht so gut
ausgebaut sind wie bei uns in der Bundesrepublik
Deutschland.
Ich finde, wir können schon stolz darauf sein, was
dieses Land, was diese Gesellschaft in den letzten
50 Jahren im Bereich der Sozialpolitik auch und gerade
für Behinderte gemacht hat.
Wir müssen uns neuen Aufgaben stellen. Das beinhaltet auch stärkere Eigenverantwortung der Behinderten. Ich finde die „Budgetidee“, die meine Kollegin
Nolte vertreten hat, toll. Wir müssen uns darüber Gedanken machen, wo Menschen, die ein Leben lang in
Behindertenwerkstätten gearbeitet haben, im Alter bleiben.
({3})
- Das haben wir ja gelöst: In der Regel bleiben sie in
den Wohnheimen der Behindertenwerkstätten, die für
diese Menschen nicht nur Arbeitsplatz, sondern Wohnort und Lebensumfeld sind.
({4})
Karl-Hermann Haack ({5})
Ich sage Ihnen ganz klar: Von der ethischen, von der
inneren Verfassung her und in bezug auf das Menschenbild, das die Christlich Demokratische Union und die
Christlich-Soziale Union haben, paßt zwischen uns und
die Behinderten nicht ein Blatt Papier. Wir sind da ganz
nah bei den Menschen. Sie können sich darauf verlassen, daß das auch in Zukunft so bleibt.
({6})
Ich erteile das Wort
der Bundesministerin Andrea Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geben Sie
mir Gelegenheit zu dem Versuch, das einzulösen, was
alle Seiten die ganze Zeit voneinander fordern: nicht in
Parteipolitik zu verfallen. Das war nämlich eigentlich
ein guter Anfang, den wir heute morgen gemacht haben.
Wenn man einmal von den üblichen parlamentarischen Scharmützeln absieht - ich werde jetzt jeder Versuchung widerstehen, mich daran zu beteiligen -, war
heute morgen erkennbar, was sich in der behindertenpolitischen Diskussion verändert hat. Ich selber habe erst
vor fünf Jahren aktiv mit Behindertenpolitik angefangen.
Damals war ich - weil ich von den Grünen komme und
mit einer anderen Art der Debatte vertraut war - schon
ziemlich überrascht darüber, wie paternalistisch und bevormundend über Menschen mit Behinderungen, für die
man etwas tun müsse, gesprochen wurde. Das entdecke
ich in den Reden hier überhaupt nicht mehr. Ich glaube,
man kann heute für alle Fraktionen, für alle Rednerinnen
und Redner reklamieren, daß dieser Paradigmenwechsel
vollzogen worden ist. Es geht allen Seiten um eine Politik auf gleicher Augenhöhe, die weiß, daß Menschen mit
Behinderungen für sich selber sprechen können, daß sie
ihre eigenen Interessen formulieren können, daß sie Expertinnen und Experten in eigener Sache sind, daß man
ihnen nichts gnädig zuweisen oder gar für sie sprechen
muß.
Ich glaube aber - das schien auch in den Beiträgen
des Kollegen Laumann und anderen auf -, daß in dieser
Debatte Ehrlichkeit dazugehört. Sie haben gesagt: Ihr
habt den Mund so voll genommen; deswegen sind wir
nicht mit dem wenigen, was seit einem Jahr geschieht,
zufrieden. - Das mag sein. Gleichwohl hat er selber zugegeben, daß vieles von dem, was die Behindertenpolitiker der Union gewollt haben, in den letzten Jahren
nicht gelungen ist, weil es finanzielle Restriktionen,
weil es aber auch systemische Restriktionen gibt. Ich
komme darauf im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung gleich noch zu sprechen. Deswegen wäre Ehrlichkeit von allen Seiten angebracht.
In gewisser Weise ist das bitter, für die Betroffenen,
die aus gutem Grund ungeduldig sind und sagen: „Es
langt uns, ihr sagt uns zu lange Gutes“, sowieso. Aber
auch für diejenigen, die - wie war die Forderung gerade? - „mit Herz und Verstand“ Behindertenpolitik machen - was nicht nur, aber auch der Behindertenbeauftragte tut -, ist das bitter. Denn sie alle kämpfen seit Jahr
und Tag in diesem Bereich.
({0})
Ich glaube, daß wir alle trotzdem nicht überheblich sein
sollten. Das liegt an finanziellen und anderen Restriktionen, und darüber müssen wir im einzelnen sprechen. Es
ist deswegen wichtig, festzustellen, daß sich der Ton
und der politische Stil ändert - das reklamiere ich, wie
gesagt, für alle Seiten hier im Haus -, weil ich glaube,
daß dies die Voraussetzungen der Behindertenpolitik
ändert.
Weil das schon die ganze Zeit Thema war, will ich
auf zwei Punkte, die in mein Ressort fallen, genauer
eingehen. Was die Pflegeversicherung in diesem Bereich
leistet, ist - das ist bei aller Kritik unbestritten - ein Erfolg. Wir stellen aber fest, daß gerade die Regelungen,
die man gemacht hat, weil man sie für eine Frage des
Bürgerrechts und der Gleichbehandlung hielt, zurückfielen auf die Behinderten. Das ist übrigens ein Problem,
das wir schon in der letzten Legislaturperiode festgestellt haben. Wir haben alle miteinander darüber gesprochen, und haben alle gesehen, wie schwer das zu regeln
ist. Ich will auch nicht verhehlen, daß auch ich finde,
daß wir längst weiter sein müßten.
({1})
Ich kann dazu nur sagen: Wir sind ein anderes Problem mit oberster Priorität angegangen, die Qualitätssicherung in der professionellen Pflege. Das ist das
Stichwort, das der Kollege Seifert vorhin schon aufgegriffen hat. Gerade angesichts der vielfältigen Kritik, die
Sie in den letzten Monaten daran geübt haben, daß wir
häufig zu schnell vorgehen, sollten Sie uns in diesem
Fall gestatten, Schritt für Schritt vorzugehen.
({2})
Ich will, daß wir diese Abgrenzungsproblematik lösen. Ich weiß, daß dieses Problem in der Opposition, die
es auch politisch mit zu verantworten hat, genauso gesehen wird wie bei uns. Alle Seiten wissen, wie schwierig
dies ist. Wir werden das Sozialhilferecht ändern müssen.
Wir werden dort viele Fragen klären. Sie wissen, daß
dies für die Kommunen unabhängig von der parteipolitischen Färbung der dortigen Führung schwierig ist. Es
wäre sehr wertvoll, wenn sämtliche Vertreter heute gemeinsam die Verabredung treffen, daß wir dies tun müssen.
Ich habe nicht sehr viel Redezeit, deswegen muß ich
im Parforceritt noch ein anderes Thema, das schon von
den Kollegen Laumann und Hüppe angesprochen wurde,
aufgreifen. Nicht zuletzt durch die Debatte, die in den
letzten Wochen in den Feuilletons anläßlich der Thesen
von Peter Sloterdijk geführt wurde, haben wir festgestellt, daß das Thema der biomedizinischen Entwicklung viele Menschen sehr bewegt. Wir sind durch die
Entwicklung, die die mo derne Biotechnologie bietet,
mit ganz neuen Möglichkeiten, auch Machbarkeiten
konfrontiert. Das, was wir bislang für möglich hielten,
wird täglich verändert und erweitert. Das bedeutet, daß
wir in allen Bereichen unseres Lebens viel stärker mit
ethischen Fragen beschäftigt sein werden. Diese stehen
meines Erachtens ganz weit oben auf der Tagesordnung.
Wir haben dazu sehr zwiespältige Positionen und Gefühle.
Gerade die immer weiter reichenden Möglichkeiten
der pränatalen Diagnostik bedeuten für viele Familien
ebenso eine Hilfe wie auch eine Bedrohung. Denn was
sollen sie tun, wenn ihnen ihr Arzt sagt, daß das Kind,
auf das sie sich auch gefreut haben, mit einer Behinderung zur Welt kommen wird, und auch manches Mal der
Rat zur Abtreibung gegeben wird? Das beschäftigt mich
sehr. Ich glaube, das Problem wird nicht durch eine Veränderung des § 218 des Strafgesetzbuches gelöst. Wir
werden, so glaube ich, eher das ärztliche Standesrecht
ändern müssen. Wir befinden uns zur Zeit in einer Diskussion über einen praktikablen Vorschlag hierzu.
Über diese Frage hinaus beschäftigt mich die Frage,
wie all diese neuen Möglichkeiten unsere Wahrnehmung
der Welt und des Lebens, unsere Wahrnehmung von
Leid und von Behinderung verändern. Ich frage mich,
ob durch diese Möglichkeiten nicht auch die Gefahr besteht, daß der Fortschritt, den wir im Hinblick auf das
gesellschaftliche Bewußtsein erreicht haben, wieder zurückgeht und wir wieder zu einer schleichenden Abwertung behinderten Lebens kommen. Das treibt mich
um, obwohl ich weiß, was auch die Eltern umtreibt, die
sich in einem solchen Fall gegen das Kind entscheiden.
({3})
Ich habe angekündigt, daß dies in den Gesetzgebungsprozeß eingebunden werden wird. Wir werden
die Diskussion darüber führen, und zwar über die Fraktionsgrenzen hinweg. Ich glaube, die am Ende dabei
herauskommenden Gesetze werden auf einem Konsens
beruhen. Entscheidend wird sein, daß wir uns darüber
klar werden, wie wir mit diesen Möglichkeiten umgehen, welche Perspektive es für ein Leben mit Krankheit
und Behinderung gibt. Ich will nicht verhehlen, daß ich
mich dazu bekenne, daß ich mir eine Gesellschaft wünsche, in der sich Eltern auf ein Kind mit Behinderung
genauso freuen wie auf ein Kind, das gesund geboren
wird.
({4})
Als
nächster Redner hat der Kollege Detlef Parr von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Ich möchte noch einige Bemerkungen zum
Änderungsantrag der PDS zur Pflegeversicherung machen. Der Kollege Laumann hat es schon angesprochen.
Wenn die PDS hinsichtlich der Pflegeversicherung aktiv
wird, stellt sie höchstens utopische Forderungen. Sie
hofft dabei auf den Beifall der Ahnungslosen und
kommt bisher zum Glück nicht in die Verlegenheit, ihre
Versprechungen einlösen zu müssen. Ihre Forderungen
laufen nämlich auf eine Leistungsausweitung hinaus, die
schlicht unbezahlbar ist.
Tatsache ist, daß die Pflegeversicherung seit ihrem
Bestehen für viele Menschen zu großen Verbesserungen
geführt hat. Im letzten Jahr konnten sie mehr als
1,7 Millionen Menschen in Anspruch nehmen. Dabei
war von Anfang an klar, daß die Leistungen wohl zu
einer wesentlichen Entlastung der finanziellen Situation
der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen führen
sollten. Eine vollständige Übernahme der Pflegekosten
war aber nie vorgesehen, meine Damen und Herren von
der PDS.
Schaut man sich die Zahlen an, dann wird sehr
schnell klar, wie unerfüllbar eine derartige Forderung
ist. Viel schlimmer: Das Bundesversicherungsamt befürchtet, daß es für die Pflegekassen wegen der Sparpolitik der Bundesregierung einerseits und der demographischen Entwicklung in den nächsten Jahren andererseits finanziell sehr eng werden könnte.
Herr
Kollege Parr, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert von der PDS?
Bitte schön.
Bitte
schön.
Herr Kollege Parr, sind Sie so
freundlich, den Zuschauerinnen und Zuschauern wenigstens zu sagen, daß unser Antrag überhaupt nicht auf
Ausweitung der Pflegeleistungen gerichtet ist, sondern
daß unser Antrag dahin geht, daß wir die Petition einer
Petentin ernster zu nehmen wünschen, als sie einfach
nur „zur Kenntnis“ zu nehmen?
Das ist die eine Seite Ihres
Antrages. Wenn man das aber in eine Novellierung des
Pflegeversicherungsgesetzes umsetzt, so wie Sie sie beabsichtigen, hätte das die Konsequenz einer entsprechenden Ausweitung, und diese können wir so nicht
akzeptieren.
Der Ausgleichsfonds der Pflegeversicherung wird
in vier Jahren aufgebraucht sein, wenn die Beitragseinnahmen etwa gleichbleiben, der Lohnzuwachs nur geringfügig ausfällt und die erwarteten Ausgabensteigerungen eintreffen. Durch das Sparpaket der Bundesregierung - auch das hat Herr Kollege Laumann angesprochen - entgehen der Pflegekasse rund 400 bis
500 Millionen DM pro Jahr, die Arbeitsminister Riester
im Gegenzug in seinem Etat einsparen kann. Wir haben
diesen ungenierten Eingriff des Arbeitsministers heftig
kritisiert, und wir bleiben auch bei unserer Kritik an dieser Selbstbedienung, meine Damen und Herren!
({0})
Hinzu kommen Mehrausgaben von 800 bis
900 Millionen DM pro Jahr, die auf die steigende Zahl
älterer Menschen zurückzuführen sind. Jedes Jahr werBundesministerin Andrea Fischer
den weitere 100 000 Menschen zum Pflegefall. Diese
Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Man braucht
kein Prophet zu sein, um vorherzusehen, daß wir bald
eine Diskussion um Beitragssatzerhöhungen haben werden, und das, obwohl wir uns alle einig sind, daß die
Lohnnebenkosten nicht weiter steigen dürfen.
Meine Damen und Herren, eine solide, an Sachargumenten orientierte Politik verbietet den Griff in die Pflegekasse für kurzfristige Spareffekte. Solch ein Verschiebebahnhof zwischen Sozialversicherungszweigen ist
ohnehin nur eine Buchung von der rechten Tasche in die
linke Tasche. Vermeintliche Überschüsse in öffentlichen
Kassen wecken jedoch regelmäßig Begehrlichkeiten.
Davor hat die F.D.P. immer wieder gewarnt, und es
macht heute überhaupt keinen Spaß festzustellen: Wir
hatten recht. Wir haben doch nicht aus purer Leichtfertigkeit immer wieder gefordert, die Überschüsse in der
Pflegeversicherung an die Zahler, also an die Arbeitnehmer und Arbeitgeber, zurückzuzahlen, sondern weil
wir wußten, daß gefüllte Kasse sinnlich macht.
Damit ist die Problematik der Pflegekasse allerdings
noch längst nicht hinreichend beschrieben. Zu der steigenden Zahl Pflegebedürftiger kommen nämlich die
enormen Schwierigkeiten, die bestimmte Krankheitsbilder verursachen. Ich denke dabei vor allem an die
Demenzkranken, deren Pflege enorm aufwendig ist und
deren spezielle Bedürfnisse oft bis heute noch nicht ausreichend berücksichtigt werden.
({1})
Der immer noch relativ enge, verrichtungsbezogene
Pflegebegriff der Pflegeversicherung erschwert gerade
bei psychischen Erkrankungen sachgerechte Hilfe. Ohne
Zweifel müssen wir da einiges besser machen, aber wir
müssen bei diesen Überlegungen, Frau Kollegin, immer
die Grenzen der Belastbarkeit der Beitragszahler und die
Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen im
Auge behalten. Leistungsausweitungen sind aus unserer
Sicht nur dort zulässig, wo es unbedingt notwendig ist
und wo wir entsprechende Deckungsvorschläge machen
können.
Die Zeichen der Zeit deuten längst auch in der Pflege
in Richtung stärkerer Eigenvorsorge. Wer es ehrlich
meint, der muß das klar und deutlich sagen. Es ist verantwortungslos, den Menschen vorzugaukeln, der Staat
könne für jedes Lebensrisiko zu 100 Prozent einstehen.
({2})
Wir wissen alle: Das ist nicht machbar, weder bei der
Pflege noch bei der Gesundheit. Die Forderung an den
Staat kann nur lauten: Sorgen wir für gute Rahmenbedingungen, geben wir dem einzelnen den finanziellen
Spielraum für eigenes Handeln. Deshalb brauchen wir
endlich eine konsequente Steuerreform, die Mittel für
Vorsorgemaßnahmen freischaufelt.
Letzte Bemerkung: Wir müssen gleichzeitig die
Qualitätsverbesserung in der Pflege vorantreiben. In
Baden-Württemberg hat der Medizinische Dienst der
Krankenversicherung vor kurzem im Rahmen einer
Wirtschaftlichkeitsprüfung festgestellt, daß wirtschaftlich arbeitende Pflegeeinrichtungen durchaus in der Lage sind, zu heutigen Pflegesätzen qualitativ hochwertige
Pflege zu leisten. In dieser Richtung sollten wir weiterarbeiten und entsprechende Anreize setzen. Schwarze
Schafe müssen konsequent verfolgt werden und von der
Anbieterseite verschwinden. Wie eine Gesellschaft mit
ihren Schwächsten umgeht - auch da hat der Kollege
Laumann recht - sagt viel über ihren inneren Zustand
aus. Das sollte uns täglicher Ansporn in der gemeinsamen Arbeit sein.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({3})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Regina SchmidtZadel von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich möchte auf den Ausgangspunkt der heutigen Debatte - den Internationalen
Tag der Behinderten, den wir morgen begehen - zurückkommen. Wenn in diesem Plenum zum erstenmal
eine Debatte zu diesem Thema stattfindet, dann will ich
auch einmal darauf hinweisen, daß dies auf Anregung
des hier eben gescholtenen Behindertenbeauftragten
geschieht. Er versteht sich als Anwalt der behinderten
Menschen in diesem Land.
({0})
- Herr Parr, von „parteipolitisch-polemisch“ sollten Sie
nicht sprechen. Ich denke, auch Behindertenpolitik ist
eine politische Frage, der wir heute morgen in einer
politischen Diskussion nachgehen.
Sie haben auf den Behindertenbeauftragten hingewiesen. Sie selbst hatten über 16 Jahre einen Behindertenbeauftragten - ein netter Mensch -; nur hat man sehr
wenig von ihm gehört. Er war nicht einmal bei allen
Verbänden bekannt. Das ist bei uns anders, und wir
werden eine andere Behindertenpolitik in diesem Lande
machen.
({1})
Wir sollten die Debatte heute nicht zu einer Debatte
über § 218 ummünzen. Herr Laumann, ich habe Achtung vor Ihrer Haltung; aber wir behandeln heute ein anderes Thema. Auf das, was Sie angesprochen haben,
werden wir in nächster Zeit eingehen, und wir werden
für Veränderungen sorgen.
Ich möchte auf den Kern der Debatte zurückkommen.
({2})
Vor 50 Jahren ist unsere Verfassung, das Grundgesetz, in
Kraft getreten. Das Grundgesetz hat ein beinahe umfassendes Benachteiligungsverbot enthalten. In der KomDetlef Parr
mission, die sich vor fünf Jahren mit der Aufnahme des
Benachteiligungsverbots Behinderter in das Grundgesetz
beschäftigte, gab es harte Auseinandersetzungen, auf die
ich heute nicht eingehen will. Was gesagt wurde - zum
Beispiel, daß man dann auch für Glatzköpfige ein Benachteiligungsverbot einführen müßte -, ist nachzulesen.
({3})
Wir sind stolz darauf, daß im Grundgesetz jetzt steht,
niemand dürfe wegen seiner Behinderung benachteiligt
werden.
Es hat 45 Jahre gedauert - diese Kritik richtet sich an
alle Seiten -, bis die Gleichstellung behinderter Menschen Verfassungsrecht erhielt. Es waren 45 Jahre, in
denen in der Behindertenpolitik viel erreicht wurde, in
denen die Gleichstellung vor allem im Vertrag von Amsterdam - auch darauf sollte man am Internationalen
Tag der Behinderten hinweisen - europaweit fixiert
wurde, in denen behinderten Menschen bisher aber noch
vieles verwehrt blieb.
Die Erfahrungen seit Aufnahme des Benachteiligungsverbotes für behinderte Menschen in das Grundgesetz vor fünf Jahren zeigen: Papier ist sehr geduldig.
Verfassungsrechtliche Theorie und gesellschaftliche
Wirklichkeit klaffen oftmals weit auseinander. Verbote
mit Verfassungsrang allein reichen nicht aus, wenn sich
in den Köpfen der Menschen - daran will ich erinnern nichts ändert.
Wer zum Beispiel die vielen unseligen Nachbarschaftsklagen kennt, in denen es um behinderte Menschen geht - ich erinnere an den Fall Düren, wo geistig
Behinderten quasi ein Maulkorb verpaßt wurde -, der
weiß genau, was in dieser Debatte heute und mit unserem Antrag gemeint ist.
({4})
Von einer wirklich gleichberechtigten Teilhabe behinderter Menschen in unserer Gesellschaft sind wir fünf
Jahre nach Aufnahme des Benachteiligungsverbots in
das Grundgesetz noch weit entfernt. Dazu hat sicherlich
beigetragen - selbst wenn das heute völlig anders dargestellt wird -, daß sich unsere Vorgängerregierung in dieser Frage nicht gerade übermäßig ins Zeug gelegt hat,
um das Benachteiligungsverbot durch die Vorlage entsprechender gesetzlicher Regelungen mit Leben zu erfüllen.
({5})
Es ist wichtig und anerkennenswert, wenn Sie, Frau
Nolte, darauf hinweisen, daß in den neuen Bundesländern sehr viel getan worden ist. Aber es geht auch um
die Situation bei uns und um das Benachteiligungsverbot. In dieser Frage hätten Sie eine Menge mehr tun
können, als Sie tatsächlich getan haben.
({6})
Auch wenn Sie sich noch soviel aufregen, sage ich: Im
Reformstau der letzten 16 Jahre sind auch Teile der Behindertenpolitik unter die Räder geraten. Dies muß heute
hier deutlich gemacht werden.
({7})
Ich möchte auch auf den Vorwurf eingehen, wir hätten in einem Jahr nicht genug getan. Ich möchte sehr
deutlich darauf hinweisen: Seit dem 27. September 1998
ist der Reformstau auch in der Behindertenpolitik beendet.
({8})
Wir haben in einem Jahr sehr viel erreicht, mehr als Sie
in 16 Jahren.
({9})
Wir werden Ihnen in den nächsten Jahren einen Gesetzentwurf vorlegen, mit dem Sie sich auseinandersetzen
müssen.
({10})
Ich hätte mich sehr gefreut, Frau Nolte, wenn es ein Angebot gegeben hätte und wenn wir dies gemeinsam gemacht hätten. Sie hätten unseren heutigen Antrag unterstützen können. Es wäre ein schönes Zeichen gewesen,
wenn wir heute einen gemeinsamen Antrag hätten verabschieden können.
({11})
Ich möchte darauf hinweisen, daß die beiden Koalitionsfraktionen und die federführenden Ministerien in
wenigen Monaten eine gemeinsame Plattform für die
Formulierung des SGB IX erarbeitet haben. Ich möchte
in diesem Zusammenhang auch die Einbeziehung der
Betroffenen - dies hören wir von allen Seiten -, ihrer
Organisationen und Verbände ausdrücklich herausstellen, die im Rahmen von Verbandsanhörungen, Werkstattgesprächen und weiteren Gesprächsforen an der Erarbeitung der Eckpunkte, die Ihnen vorliegen, beteiligt
wurden.
Frau
Kollegin Schmidt-Zadel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Laumann?
Bitte.
Herr
Laumann, bitte schön.
Frau Kollegin
Schmidt-Zadel, Sie haben in Ihrer Rede gerade darauf
hingewiesen, sie hätten in einem Jahr mehr für die Behinderten erreicht als wir in 16 Jahren. Wir haben in diesen 16 Jahren in Deutschland ein flächendeckendes Netz
von Berufsförderungswerken aufgebaut. Wir haben in
diesen 16 Jahren über 100 Projekte im Bereich der Integrationswerkstätten durchgeführt. Wir haben die Pflegeversicherung auf den Weg gebracht. Ich möchte Sie jetzt
bitten, drei Punkte zu nennen, die Sie in einem Jahr für
die Behinderten durchgesetzt haben.
({0})
Herr Kollege Laumann, ich lasse mich von Ihnen nicht auffordern, hier
Punkte zu nennen.
({0})
Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie sich die Eckpunkte,
die wir vorgelegt haben und die in das Gesetz aufgenommen werden, anschauen, dann müssen Sie zugeben,
daß wir mehr als drei Punkte vorgelegt haben. Wir haben eine ganze Menge vorgelegt. Sie werden sich in der
nächsten Debatte in einem Jahr wundern, welches Gesetz wir vorlegen werden und welche Veränderungen es
gegeben hat.
Ich möchte noch einmal auf das Sozialgesetzbuch IX
eingehen, das Sie nicht verabschiedet haben. Sie haben
ja selber darauf hingewiesen, daß Sie es nicht geschafft
haben, die Unübersichtlichkeit der bestehenden Systeme
zu beenden und die Entscheidungen für die Leistungserbringer, aber auch für die Leistungsträger und vor allem für die betroffenen Personen selbst transparenter zu
machen. Die behinderte Frau, der behinderte Mann und
auch die Eltern eines behinderten Kindes müssen wissen, welche medizinischen Leistungen, welche Leistungen der Eingliederung und welche Angebote der sozialen Rehabilitation für sie in Frage kommen. Im „Pflichtenheft“, so nennen wir es, des neuen Sozialgesetzbuchs
IX wird deshalb an erster Stelle stehen, wie die Inanspruchnahme und die Erbringung von Leistungen so
bürgernah wie möglich organisiert werden können.
({1})
Das SGB IX wird Regelungen schaffen, mit denen der
bereits bestehende, aber in der Realität nie zufriedenstellend gelöste Auftrag gemeinsamer Auskunfts- und
Beratungsstellen durch die Träger umgesetzt werden
kann. Wenn Sie heute mit behinderten Menschen reden,
dann sagen diese Ihnen, daß sie zuerst siebenmal ihre
Lebensgeschichte erzählen müssen, bevor sie eine vernünftige Auskunft bekommen. Weil wir behinderten
Menschen solche Auskünfte ersparen wollen, ändern wir
dies; denn die Auskunfts- und Beratungsstellen werden
so besetzt sein, daß die Behinderten über alle Leistungsarten - medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation - verbindlich informiert werden.
({2})
Der Mensch mit Behinderung oder auch der chronisch
Kranke sollen sich nicht primär mit der Frage auseinandersetzen müssen, welche Stelle in welcher Stadt für
seinen Antrag zuständig ist.
Wenn wir im nächsten Jahr die vorliegenden Eckpunkte in ein Gesetz überführen und die Arbeiten für ein
Gleichstellungsgesetz beginnen, dann gehören selbstverständlich auch andere Defizite in den bestehenden Sozialsystemen auf den Prüfstand.
Ich möchte auf die Pflegeversicherung eingehen und
verweise in diesem Zusammenhang auf die Debatte in
der letzten Legislaturperiode, als es um die Umwandlung von Einrichtungen der Behindertenhilfe in Pflegeeinrichtungen ging. Mit großer Mehrheit wurde im April
1998 ein Entschließungsantrag verabschiedet, in dem die
Sozialhilfeträger aufgefordert wurden, diese Umwandlung zu stoppen. Leider hat dieser damals verabschiedete Appell in der Praxis keine Wirkung gezeigt. Noch
immer - das finde ich nicht okay und mit mir auch viele
andere nicht - entlasten sich die Träger der Sozialhilfe
zu Lasten der Pflegeversicherung oder zu Lasten der
Behinderten. Wir werden auch hier Änderungen vornehmen. Vor allen Dingen werden wir sehr sorgfältig
die Schnittstellen zwischen dem Bundessozialhilfegesetz
und der Pflegeversicherung prüfen und bestehende Probleme im nächsten Jahr lösen.
Ihre Aussage, Herr Parr, in der Pflegeversicherung
habe es keine Veränderung gegeben, ist nicht richtig.
Wir haben in diesem Jahr Veränderungen vorgelegt und
durchgezogen,
({3})
die Sie in der letzten Legislaturperiode blockiert haben.
Das möchte ich heute einmal sehr deutlich sagen.
({4})
Sie, Herr Hüppe, sprachen eben die EnqueteKommission an: Es stimmt nicht, daß in unserer Fraktion über die Einsetzung einer Enquete-Kommission
nicht mehr nachgedacht wird. Das Gegenteil ist der Fall.
Wir denken darüber sehr ernsthaft nach. Auch ich würde
mich freuen, wenn sie eingesetzt würde. Ich kann da
aber nur für mich und nicht für die Fraktion reden.
Ich möchte noch einmal auf den morgigen Tag der
Behinderten eingehen, an dem weltweit auf die Belange
behinderter Menschen aufmerksam gemacht wird. Die
heutige Debatte hat gezeigt, daß es allerhöchste Zeit ist,
daß etwas geschieht.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zum Abschluß sagen: Die Interessen der behinderten Menschen
sind bei der rotgrünen Regierungskoalition in den besten
Händen. Das darf ich Ihnen heute versichern.
Vielen Dank.
({5})
Als
nächster Redner hat der Kollege Matthäus Strebl von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unter Führung
von CDU/CSU und F.D.P. wurde 1994 das Verbot der
Diskriminierung von Behinderten in Art. 3 des Grundgesetzes verankert - das wurde heute schon mehrfach
zitiert -:
Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
({0})
Uns geht es um Beteiligungsgerechtigkeit. Hierfür haben
wir wesentliche rechtliche Voraussetzungen geschaffen.
Im Rahmen der Umsetzung dieses Artikels ist es
sinnvoll, in einem neuen SGB IX die verschiedenen
Förderregelungen zu vereinheitlichen und auf weniger
Instanzen zu konzentrieren. Dies spart Verwaltungskosten und schafft für die Betroffenen und ihre Angehörigen mehr Übersicht. Die bisher vorliegenden Eckpunkte,
Frau Schmidt-Zadel, der Regierungskoalition sind sehr
allgemein, um nicht zu sagen: dürftig.
({1})
Natürlich geht es um die gesellschaftliche Umsetzung
eines Verfassungsrechtes. Unser Grundgesetz ist eine
Zusammenfassung der Werte und Grundhaltungen in
unserer Bevölkerung. Es schafft Rechtsbewußtsein. Es
befördert den Konsens gegen jede Diskriminierung. Die
Frage ist nur: Wie gehen Vermieter, Arbeitgeber, Nachbarn, Verwandte, soziale und kulturelle Einrichtungen
mit den Ansprüchen behinderter Mitbürger um? Der Gesetzgeber kann eine Bewußtseinsänderung fördern, er
kann sie jedoch nicht per Gesetz erzwingen. Die heutige
Debatte und die weitere politische Auseinandersetzung
um das SGB IX sind wichtig, werte Kolleginnen und
Kollegen, um das öffentliche Bewußtsein für die anstehenden Aufgaben zu schärfen.
Es ist bedauerlich - das sage ich klar und deutlich -,
daß die Schröder-Regierung erst eine einjährige Wartezeit, eine Warteschleife benötigt hat, bevor sie diese sehr
allgemeinen Eckpunkte vorlegen konnte.
({2})
Mein Vorwurf an die heutige Koalition ist: Wenn Sie
schon in der letzten Legislaturperiode, als Sie noch in
der Opposition waren, nicht nachgedacht haben, dann
hätten Sie doch wenigstens in den letzten zwölf Monaten Ihrer Regierungszeit detaillierte Vorstellungen entwickeln können.
({3})
Geld kann nicht ersetzen, was an gesellschaftlicher
Teilhabe tagtäglich neu gelebt werden muß. Es muß jedoch klar sein, daß es ohne ein Mehr an Geld auch nicht
gehen wird. Von daher ist der Finanzierungsvorbehalt
ein Stoppschild gegen alle gutgemeinten Eckpunkte der
Regierungsvorlage. Weil der Kanzler die Richtung angibt, sage ich in diesem Zusammenhang: Schröders weiße Salbe kleistert alles zu.
({4})
Gerade in dieser sensiblen Frage brauchen wir eine
neue Ehrlichkeit, Wahrheit und Klarheit. Das sind wir
den betroffenen Menschen schuldig. Wir sind zu einer
parteienübergreifenden Initiative bereit. Effizienz und
eine stärkere Vereinheitlichung des Förderrechts begrüßen wir vom Grundsatz her. So fordern wir wie die großen Fachverbände, daß die Eingliederungshilfe für Behinderte nicht mehr als Sozialhilfeleistung, sondern
durch ein Leistungsgesetz des Bundes organisiert wird.
Dieses würde die Nachrangigkeit der Sozialhilfe mit
Bedürftigkeitsprüfung durch einen allgemeinen Rechtsanspruch ablösen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das geht
nicht zum Nulltarif. Der Bund hat sich durch das sogenannte Sparpaket mit fast 5 Milliarden DM zu Lasten
der Länder und Kommunen finanziell entlastet. Streichen Sie den Finanzierungsvorbehalt, und geben Sie einen Teil des Ersparten an die Betroffenen weiter! Dies
wäre fair gegenüber den Behinderten und ihren Angehörigen, aber auch gegenüber den Kommunen und den
Ländern, die ohnehin sehr vieles zu schultern haben.
Es ist nicht einzusehen, daß nur Opfer von Krieg,
Verbrechen und Impfschäden ohne Rücksicht auf Einkommen und Vermögen staatliche Leistungen erhalten,
während von Geburt an behinderte Menschen mit ihren
Eltern auf Dauer von der Sozialhilfe abhängig sind.
({5})
Von daher wäre es sinnvoll, die Eingliederungshilfe für
Behinderte aus dem Bundessozialhilfegesetz herauszunehmen und als einkommens- und vermögensunabhängige Leistung in das SGB IX zu integrieren. Die bisherigen Koalitionseckpunkte sind in dieser Frage nicht aussagekräftig.
Der Grundsatz, wonach „Rehabilitation vor Rente
und vor Pflege“ geht, muß stärker betont werden. Dies
verhindert viele Sozialgerichtsprozesse zwischen den
verschiedenen Leistungskassen im Interesse der Betroffenen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir
müssen verhindern, daß ältere schwerbehinderte Menschen von der Eingliederungshilfe auf Hilfe zur Pflege
verwiesen werden. Hier müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um den Zustand des behinderten
Menschen zu verbessern. Dies darf nicht an finanziellen
Sachzwängen scheitern. Wir wollen keine Versorgungsmentalität; wir wollen Hilfe zur Selbsthilfe, soweit
es irgend möglich ist.
({6})
Nochmals: In den Koalitionseckpunkten kollidiert das
Ziel einer Besserstellung und Stärkung der Beratungsstellen für die Rehabilitation mit dem Vorbehalt der Finanzierbarkeit. Darauf weise ich eindringlich hin: Nachdem schon die Familienpolitik nicht von der Familien6952
ministerin gestaltet, sondern vom Finanzminister formuliert wird, sollte nicht auch das sensible Thema
„SGB IX und Behinderte“ unter rein fiskalischen Erwägungen abgehakt werden.
({7})
Die Koalitionsarbeitsgruppe möchte alle Träger der
Rehabilitation - ich zähle sie auf: Unfallversicherung,
Kranken- und Pflegeversicherung, Rentenversicherung,
Bundesanstalt für Arbeit, Jugendhilfe und Sozialhilfe gesetzlich verpflichten, umfassende Rehabilitationsberatungen durchzuführen.
Diese Beratung wird bereits sehr professionell von den
Kassen durchgeführt. Warum neue Bürokratien schaffen, wenn die bisherigen Anlauf- und Beratungsstellen
vorhanden sind? Wir sollten vielmehr dafür sorgen, daß
die vorhandenen Stellen in enger Zusammenarbeit mit
den Einrichtungen und Verbänden arbeiten. Auch dies
würde viele Wege verkürzen und die vorhandenen Mittel effizient nutzen.
Neben den staatlichen Einrichtungen sind auch die
freien Träger in den Beratungsdienst gleichberechtigt
zu integrieren. Dazu gehören auch länderübergreifend
geltende einheitliche Kriterien und Konditionen für die
Rehabilitation und den Beratungsdienst. Echte Teilhabechancen entstehen dann, wenn wir den Betroffenen ein
persönliches Budget einrichten, so daß sie als hilfeeinkaufende Kunden auftreten können. Statt Bittsteller
sollte der Betroffene Auftraggeber sein. Deshalb sollten
wir auch eine Verlagerung von der Objekt- zur Subjektförderung diskutieren. In den Niederlanden oder auch in
Großbritannien wird dies erfolgreich praktiziert. Laßt
uns gemeinsam eine Lösung anstreben, die sich auch an
den guten Erfahrungen unserer Nachbarländer und anderer EU-Länder orientiert!
Die Koalitions-Eckpunkte von SPD und Grünen sehen auch einen Rechtsanspruch zur Einstellung eines
Behinderten vor, wenn die Pflicht zur Beschäftigung
Behinderter von einem Arbeitgeber nicht voll erfüllt
wird und wenn der Bewerber im Vergleich zu allen anderen die gleiche Qualifikation nachweist. Dies, so meinen wir, wäre ein Eingriff in die Entscheidungsfreiheit
eines Unternehmens. Dieser Eingriff würde die Arbeitgeber, aber auch die Betriebs- und Personalräte betreffen. Es ist der Versuch, Bewußtseinsänderung per Gesetz zu erzwingen.
({8})
Bei 4 Millionen Arbeitslosen macht es keinen Sinn,
die Bereitstellung von Arbeitsplätzen unnötig zu erschweren. Würde die Schröder-Regierung durch eine
Investitionsbeschleunigung und durch eine durchgreifende Steuerreform die allgemeine Arbeitslosigkeit besser bekämpfen, dann wäre dies der beste Weg, auch die
Arbeitslosigkeit im Bereich der Behinderten abzubauen.
Doch auch hier setzt der Bundeskanzler weniger auf
eine konzeptionell durchdachte Politik als auf symbolische Gesten und ein Aussitzen der demographischen
Entwicklung. Ich sage klar und deutlich: Schröder setzt
darauf, daß die geburtenschwachen Jahrgänge den Arbeitsmarkt entlasten. Daher behaupte ich: Schröder setzt
auf die Pille statt auf die Politik.
({9})
Die Absichtserklärung, wonach in den betreuten
Werkstätten die Entgelte erhöht und die Mitbestimmung
verbessert werden sollen, kollidiert mit der Deckelung
der Kostensätze und mit dem Finanzierungsvorbehalt.
Wir brauchen mehr Brücken in den ersten Arbeitsmarkt.
Derzeit liegt die Arbeitslosenquote bei Behinderten mit
18 Prozent über der allgemeinen Arbeitslosenquote. Die
öffentlichen Arbeitgeber - ebenso die Arbeitgeber, die
sich stark aus öffentlichen Mitteln finanzieren - sind gefordert, Behinderte verstärkt einzustellen.
Das Koalitionspapier hat heute vormittag aber einen
Zweck erfüllt: nämlich die heute stattfindende und sich
weiter fortsetzende parteiübergreifende Diskussion zum
SGB IX. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, werden unsere
Positionen mit den Behindertenverbänden besprechen
und in das Gesetzgebungsverfahren einbringen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, schaffen
wir zügig ein SGB IX! Dies sind wir dem betroffenen
Personenkreis schuldig.
({10})
Als
nächster Rednerin gebe ich der Kollegin Irmingard
Schewe-Gerigk vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Gäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Geschlecht: behindert - besonderes Merkmal: Frau“: Noch heute trifft dieser Buchtitel
aus den 80er Jahren unverändert zu. Er macht deutlich,
daß Frauen mit Behinderung doppelt benachteiligt
sind: zum einen als Behinderte und zum anderen als
Frauen. Obwohl Frauen und Mädchen mit Behinderung
etwa 5 Prozent der Bevölkerung ausmachen - das sind
annähernd 4 Millionen Menschen -, sind sie noch weitgehend unsichtbar. Ich möchte an dieser Stelle meine
Enttäuschung darüber ausdrücken, daß Sie, Frau Kollegin Nolte, obwohl Sie bis vor einem Jahr Frauenministerin waren, in Ihrer 20minütigen Rede nicht einmal das
Wort „Frau“ erwähnt haben.
({0})
Krüppelfrauen, so nennen sich feministisch orientierte behinderte Frauen selbst. Sie greifen zu dieser
Provokation, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Denn behinderte Frauen hatten bisher keine ausreichende Lobby. Ihre besondere Situation wurde in der
Behindertenpolitik kaum beachtet, als Gebärende waren
sie in der Medizin nicht eingeplant und als Mütter nicht
vorgesehen. Das müssen wir jetzt ändern!
({1})
Ich freue mich, daß die Bundesregierung schon Ende
dieses Jahres eine Koordinierungsstelle einrichten wird,
bei der behinderte Frauen in der Bundesrepublik
Deutschland zentral ihre Probleme benennen können.
Ich komme zum Arbeitsmarkt. Obwohl über 80 Prozent der Frauen mit Behinderung eine qualifizierte Berufsausbildung haben, verfügt nicht einmal jede zweite
über einen Arbeitsplatz. Dagegen sind zwei Drittel der
behinderten Männer erwerbstätig. Dies ist eine Differenz, die ins Auge sticht. Dieser Zustand ist nicht akzeptabel, denn Ausbildung und Arbeit sind von großer
Bedeutung. Der eigene Verdienst fördert Unabhängigkeit und Selbstvertrauen. Die selbstbestimmte Teilhabe
behinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben ist
das Ziel, an dem wir uns parteiübergreifend orientieren
sollten. Die berufliche Rehabilitation ist eine notwendige Voraussetzung dafür.
Schauen wir uns allerdings den Frauenanteil bei den
Maßnahmen an, die auf Eingliederung in das Erwerbsleben und auf Absicherung der Erwerbstätigkeit abzielen,
stellen wir fest, daß die Politik auf diesem Auge bisher
blind war. Nur jede dritte Maßnahme galt einer Frau.
Bei den Berufsbildungswerken verschärft sich die
Situation. Hier ist lediglich jeder fünfte Platz mit einer
Frau besetzt. Was ist die Ursache? Die rechtlichen Voraussetzungen für den Erhalt einer Fördermaßnahme
orientieren sich bisher ausschließlich an einer für Männer typischen Erwerbsbiographie. Frauen, die als Hausfrauen gearbeitet und ihre Kinder betreut haben, haben
bisher kaum Chancen, eine Umschulung zu erhalten.
All diese Fakten sind nicht neu. Wissenschaftliche
Studien belegen sie seit den 80er Jahren. Hier besteht
politischer Handlungsbedarf. Diesem wird die rotgrüne
Koalition in einem neuen Sozialgesetzbuch IX nachkommen. Die Eckpunkte liegen bereits vor. Künftig
sollen spezifische Frauenförderprogramme den Anteil
der behinderten Frauen an allen Maßnahmen erhöhen.
Wohnortnahe und dezentrale Rehabilitation soll es auch
Müttern ermöglichen, sich daran zu beteiligen. Behinderte Mütter - sie machen immerhin 70 Prozent aller
behinderten Frauen aus - brauchen aber auch Maßnahmen in Teilzeitarbeit, verbunden mit Kinderbetreuung.
Aber auch Frauen, die weder am Erwerbsleben noch
an einer beruflichen Rehabilitation teilnehmen, benötigen Hilfen für die Kinderbetreuung. Sondervorrichtungen an Kinderwagen, Tragehilfen und Umbau eines
Pkws sind nur einige Stichwörter. Bisher sind derartige
Hilfen an die Erwerbstätigkeit gekoppelt. Ich empfinde
das als ungerecht.
In der Kürze der Zeit habe ich Ihnen nur einen kleinen Ausschnitt der notwendigen Maßnahmen aufzeigen
können, die eine gleichberechtigte Partizipation von behinderten Frauen erfordert. Die Grünen werden sich dafür einsetzen, daß das wenigstens am Anfang des dritten
Jahrtausends endlich erreicht werden kann.
Ich sehe, ich habe noch einige Sekunden Zeit. - Herr
Laumann, ich würde gerne noch auf Sie eingehen. Wir
haben vorhin von der medizinischen Indikation gesprochen. Sie haben gesagt, im Rahmen der medizinischen Indikation würden Kinder mit Behinderung abgetrieben.
({2})
Daran sehe ich, daß Sie nicht genau wissen, wie die medizinische Indikation definiert ist. Für diese reicht es
nicht aus, daß ein Embryo behindert ist. Hinzu kommen
muß das Leid der Mutter, hinzu kommen muß, daß ihr
Leben in Gefahr ist. Nur diese Koppelung ermöglicht
die Berufung auf die medizinische Indikation.
({3})
Ich weiß auch, daß es Probleme damit gegeben hat
und daß Mißbrauch stattgefunden hat. Wir müssen eine
Änderung in den ärztlichen Standesrichtlinien herbeiführen.
({4})
Eine Gesetzesänderung ist hierfür nicht notwendig.
Danke schön.
({5})
Als
letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt
die Kollegin Silvia Schmidt von der SPD-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe diese
lebhafte Diskussion verfolgt und möchte, bevor ich
direkt auf das Thema eingehe, auf die Frage von Herrn
Laumann zurückkommen, was die SPD-Fraktion bisher
geändert habe. Sie hat einiges geändert, zum Beispiel in
der Pflegeversicherung. Es bedeutet zum Beispiel für
Frauen sehr viel, wenn bei einer Scheidung das Kindergeld nicht mehr auf das Pflegegeld angerechnet wird.
({0})
- Herr Laumann, hören Sie bitte zu! Ich möchte Ihnen
das nur ganz kurz schildern. Ich bleibe ruhig, bleiben Sie
es auch.
Der Deutsche Bundestag hat bereits in seinem Familienförderungsgesetz festgehalten, daß Eltern und deren
Kinder, die vollstationär versorgt werden, ein Teilkindergeld oder einen Teilfreibetrag erhalten. Gleichzeitig
haben sie natürlich noch die Möglichkeit, andere Begünstigungen einzufordern. Das sind nur zwei Beispiele. Ich
könnte das jetzt weiter fortsetzen. Ich hatte mir noch
einiges aufgeschrieben. Zum Beispiel gibt es auch bei
der Urlaubsvertretung bei pflegebedürftigen Menschen
Erleichterungen. Es gibt Erleichterungen bei der Nachtpflege. Es sind nicht nur drei Punkte. Wir lassen das am
besten jetzt. Wir müssen uns nicht gegenseitig Vorhaltungen machen. Ich glaube, wir steigen jetzt einfach
einmal in die Debatte ein.
Schade, daß ich nicht mehr die Gäste hier im Haus
begrüßen kann. Denn ich wäre vor einem Jahr mit Sicherheit ebenfalls eine Vertreterin von Behinderten gewesen, die vielleicht dort oben Platz genommen hätte.
Ich bin jedenfalls sehr glücklich, daß wir heute in diesem Hohen Haus die Gelegenheit haben, über die Behindertenpolitik und die Rehabilitation zu debattieren.
Es besteht ein massiver Regelungsbedarf. Fortschritte
sind längst überfällig. Ich freue mich, daß die Rednerinnen und Redner aller Fraktionen eine gleichberechtigte
Teilhabe der Behinderten am Arbeitsleben und in der
Gesellschaft insgesamt einfordern. Ich freue mich insbesondere, daß die CDU/CSU-Fraktion in ihrem Antrag
unter Ziffer 6 die Regierung auffordert - ich zitiere -:
ihre im Koalitionsvertrag gegebenen Ankündigungen umzusetzen, nämlich
- die Selbstbestimmung und die gleichberechtigte
gesellschaftliche Teilhabe behinderter Menschen
zu fördern
- die Vermittlung von behinderten Menschen auf
den ersten Arbeitsmarkt voranzutreiben und bewährte wie neue Instrumente der Arbeitsmarktpolitik hierzu einzusetzen und auszubauen
- bravo! - und das im Grundgesetz verankerte Benachteiligungsverbot für behinderte Menschen nachhaltig
umzusetzen
Diese uneingeschränkte Zustimmung der CDU/CSU
zu den Zielen der neuen Bundesregierung begrüße ich
ausdrücklich. Diese Zustimmung zeigt aber auch ganz
deutlich, daß sich unsere Regierung auf dem richtigen
Weg befindet.
({1})
- Abwarten, Frau Nolte.
({2})
Ich muß mich bei Ihrer Fraktion natürlich fragen, was
sie in den letzten Jahren eigentlich getan hat.
({3})
- Wir lassen das jetzt einmal mit den Leiern.
Sie haben sehr viel Zeit gebraucht. Sie hatten sicherlich Ihre Gründe dafür. Wir sind ein Jahr dran und arbeiten mit dem Behindertenbeauftragten Karl-Hermann
Haack sehr intensiv an dieser Problematik in unserer
Arbeitsgruppe. Ich glaube, wir haben da schon sehr viel
erreicht.
Wenn wir nun an die Gesetzesformulierung herangehen, freue ich mich, daß wir in diesem Hohen Hause
gemeinsam an die Probleme, die mit Sicherheit auch
strittig sind, herangehen, um sie gemeinsam lösen zu
können. Denn, wie gesagt, zwischen allen Rednern und
Rednerinnen besteht ja ein Grundkonsens über den
Handlungsbedarf. Das ist positiv. Das ist wichtig. Vor
allen Dingen kann es die Menschen mit Behinderung
freuen. Es läßt auch auf sachkundige Diskussion, faire
Auseinandersetzungen bei der Novellierung des Rehabilitationsrechtes wie auf den Verzicht auf Polemik
schließen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich noch kurz etwas zur Legende über die angebliche
Progressivität der DDR-Behindertenpolitik sagen. Die
Politik der ehemaligen DDR ist entgegen allen rechtlichen Ansprüchen und sozialen Verlautbarungen weit
hinter dem Niveau der Bundesrepublik Deutschland zurückgeblieben. Das ist ein vernichtendes Urteil. Das
weiß ich. Ich bin mir sicher, daß nicht alle Abgeordneten
des Deutschen Bundestages diesen Satz mittragen. Ich
weiß aber sehr wohl, wovon ich rede; denn ich habe bereits zu DDR-Zeiten zunächst als Krankenpflegerin und
anschließend als Sozialarbeiterin im Behindertenbereich,
in einem Rehabilitationszentrum, einer Vorzeigeeinrichtung der DDR, gearbeitet.
Lassen Sie mich nur ein Beispiel nennen. In der früheren DDR entschieden Ärzte in den Kreisrehabilitationsstellen über das Wohl, das Schicksal und das Leben
von behinderten Menschen. Es wurde nur aus rein medizinischer Sicht geprüft und entschieden. Sozial- oder
Rehapädagogen und Therapeuten wurden dabei nicht
gefragt. Sie waren lediglich schmückendes Beiwerk.
Selbst in meinem Haus gab es einen ärztlichen Direktor.
Seit 1990 haben wir in der Reha-Politik mit großen
Anstrengungen und hohem finanziellen Aufwand einen
großen Schritt vorwärts getan.
({4})
In der Trägerlandschaft, bei der Enthospitalisierung und
dem Bau von sozial- und heilpädagogischen stationären,
teilstationären sowie ambulanten Einrichtungen wurde
die gesamte Qualität wesentlich verbessert. Mitarbeitern
stehen Fort- und Weiterbildungskurse zur Verfügung.
Neue Berufsbilder zeigen andere, bessere Wege. Gebaut
wurden neue Werkstattplätze. In Sachsen-Anhalt allein
kamen seit 1990 5 070 neue Plätze hinzu. Es gibt behindertengerechte Wohnungen, geschützte Wohnformen; es
entstand ein Netz von Beratungssystemen und -stellen.
Die Leistungen, die von den Ländern und den Kommunen erbracht wurden, waren enorm.
Ihren Anteil daran hat aber auch die alte Bundesregierung. Dafür spreche ich Ihnen meine Anerkennung aus.
Ich halte das für ein Gebot der politischen Fairneß.
({5})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung und der
Behindertenbeauftragte der Bundesregierung haben in
ihren Reden schon deutlich gemacht, daß der Schwerpunkt eines zukünftigen Behindertenrechts die rechtliche
Gleichstellung der behinderten und der nicht behinderten Menschen, die Beendigung der Divergenz und Unübersichtlichkeit des bestehenden Rehabilitationsrechtes
Silvia Schmidt ({6})
sowie die Verbesserung der Koordinierung und Kooperation sowie die Überwindung der teilweise unübersichtlichen Strukturen sein werden. Sie haben ebenfalls
klargestellt, daß Leistungen, Dienste und Einrichtungen
den Betroffenen einen möglichst weitgehenden Raum
zur eigenverantwortlichen Gestaltung geben sollen.
Ich fordere aber weiterhin: Man sollte sich dem Empowerment-Prinzip anschließen, denn Lebensziel kann
nur die Selbstbemächtigung eines Behinderten sein.
({7})
Weitere wesentliche Inhalte sind die rasche und
möglichst parallele Klärung der Rehabilitationsbedürftigkeit und der Kostenübernahme. Dafür streben wir die
Einrichtung gemeinsamer Auskunfts- und Beratungsstellen aller Rehabilitationsträger an. Sie sollten den
Antragsteller verbindlich, umfassend und trägerneutral
informieren. Selbstverwaltungen haben dabei für uns
Vorrang. Wir wollen, daß unterschiedliche Auffassungen der Leistungsträger nicht zu Lasten von Menschen
mit Behinderungen gehen. Es darf in Zukunft nicht mehr
sein, daß Jugend- und Sozialamt debattieren und durch
ständig neue Gutachten prüfen lassen, ob ein Kind eine
seelische oder eine geistige Behinderung hat, und damit
letztlich nur die Leistung zählt und nicht das Kind und
das Kind damit auch zum sekundären Faktor wird.
Wir wollen die Rehabilitationsträger zu einem gemeinsamen Handeln beim Reha-Zugang und RehaManagement verpflichten und eine bessere Verzahnung
des Leistungsgeschehens in der Rehabilitation erreichen. Dazu gehört die Koordinierung der Gesamtplanung.
Ich möchte noch ganz kurz auf Frauen mit Behinderungen eingehen; meine Redezeit ist nicht mehr allzu
lang. Frauen mit Behinderungen haben bei der Rehabilitation besondere Bedürfnisse und sehen sich speziellen
Problemen gegenüber. Diesem besonderen Hilfebedarf
von Frauen mit Behinderungen, insbesondere von
behinderten Müttern und Alleinerziehenden mit behinderten Kindern, gilt es Rechnung zu tragen. Varianten
dafür sind Teilzeitmöglichkeiten in Beruf und Qualifizierung, Hilfe bei der Schwangerschaft und bei der
Erziehung von Kindern, Koordinierungs- und Beratungsstellen für behinderte Frauen.
({8})
Beispielhaft für die Integration behinderter Menschen
ist die Arbeit in den Sportverbänden. Hier ist besonders
der Deutsche Behindertensportverband, der im übrigen von dieser Regierung im neuen Haushalt eine deutliche Aufstockung der Mittel erfahren hat,
({9})
aktiv dabei.
({10})
Nicht unerwähnt bleiben dürfen in diesem Zusammenhang die außergewöhnlichen Leistungen der behinderten Sportler selbst. Sie führen unsere Bundesrepublik
seit Jahren an die Leistungsspitze der Welt.
({11})
Meine Damen und Herren, es ist unbestritten noch ein
langer Weg, bis wir zu einem ausformulierten Gesetzentwurf kommen. Wir werden eine Vielzahl unterschiedlicher Interessen und Meinungen haben. Aber ich
glaube, daß diese Regierung auf einem richtig guten
Weg ist. Ich bitte Sie: Stimmen Sie diesem Antrag zu!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zunächst zu der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses. Das ist die Sammelübersicht 94 auf Drucksache 14/1982. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2244 vor. Wer stimmt
für den Änderungsantrag der PDS? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS
abgelehnt.
({0})
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 14/1982? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen,
der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der
PDS angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/2237 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Die Vorlage auf Drucksache 14/2234 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und
Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuß für
Wirtschaft und Technologie, den Ausschuß für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuß für Gesundheit und den Ausschuß für Angelegenheiten der
Europäischen Union überwiesen werden. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist auch diese Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 3 und 4 auf:
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Friedrich ({1}), Angelika Volquartz,
Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Eckpunkte für eine BAföG-Reform
- Drucksache 14/2031 Silvia Schmidt ({2})
ZP 4 Erste Beratung des von den Abgeordneten Cornelia Pieper, Jürgen W. Möllemann, Detlef Parr,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Bundesausbildungsförderungsgesetzes ({3})
- Drucksache 14/2253 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
die Kollegin Angelika Volquartz von der CDU/CSUFraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die Qualität von Bildung
und Ausbildung ist für die Chancen des einzelnen maßgeblich, und sie ist ein wesentlicher Faktor, wenn es um
die Entwicklung des Wettbewerbs in unseren Ländern
geht. Bildung und Forschung müssen deshalb in
Deutschland wirklich Priorität haben. Über den Zugang
zu dem weitgefächerten Bildungsangebot nach der
Grundschule dürfen nur Begabung und Neigung entscheiden. Die Forderung lautet deshalb: Chancengerechtigkeit für den Zugang zu allen weiterführenden
Bildungsgängen und für schulische bzw. hochschulische
Bildung einerseits und praktische Ausbildung andererseits. Das sind Grundsätze, über die in diesem Haus sicher Einigkeit besteht.
Meine Damen und Herren, wir sind aber in dieses
Parlament gewählt worden, um dafür Sorge zu tragen,
daß aus Grundsätzen praktische Entscheidungen werden,
die den Studierenden helfen. Wenn diese jungen Menschen fragen, was diese Bundesregierung der großen
Ankündigungen denn getan hat, dann sieht die Antwort
zum BAföG so aus: Mit der Verabschiedung der
20. BAföG-Novelle hat die Bundesregierung für Ende
1999 die notwendige BAföG-Reform zunächst vollmundig angekündigt. Zuletzt hat die Bildungsministerin am
25. November hier im Plenum ein Eckpunkteprogramm
für Ende des Jahres angekündigt. Ich finde, das Ende des
Jahres ist nicht mehr so schrecklich weit. Wir sind gespannt.
Aber anstatt diesen Versprechen nachzukommen, hat
der Bundesfinanzminister anläßlich der Vorlage des
Haushalts für das Jahr 2000 erklärt, daß die Bundesregierung erst im Jahre 2001 - also ein Jahr später als angekündigt - im Zusammenhang mit der nächsten Stufe
des Familienleistungsausgleichs über die Reform der
Ausbildungsförderung entscheiden will. Da der Familienleistungsausgleich nach dem Willen der Regierung
aber erst im Jahr 2002 in Kraft treten soll, ist die große
BAföG-Reform in sehr weite Ferne gerückt und damit
ein Wahlversprechen gebrochen.
({0})
Die BAföG-Reform ist nicht in der mittelfristigen
Finanzplanung vorgesehen. Wo bleibt da die Priorität
für Bildung, meine Damen und Herren? In diesem Zusammenhang, Herr Berninger von den Grünen, schaue
ich insbesondere Sie an, die Sie doch immer progressiv
sein und mit Druck agieren wollen. Es verstärkt sich der
ganz fatale Eindruck, daß der Finanzminister auch der
Bildungsminister ist. Es ist aber eines der größten Probleme, wenn nicht der für die Bildung Zuständige über
die Bildung entscheidet, sondern der Finanzminister der
Bestimmer ist.
({1})
- Es geht um Ihre Politik, verehrter Kollege.
({2})
Sie haben eine große BAföG-Reform angekündigt. Damit sind Sie in den Wahlkampf gezogen. Aber bis heute
liegt nichts dazu auf dem Tisch. Das sind die Fakten.
({3})
Weil es hier um die Vernachlässigung sozialer
Aspekte in der Bildungspolitik durch die derzeitige
Bundesregierung geht, setzen wir auf die Unterstützung
unserer Initiative durch die Mehrheitsfraktionen. Vielleicht können die ihrer eigenen Regierung ja einmal ein
bißchen Beine machen. Das wäre nicht gerade das
Schlechteste.
({4})
Wir fordern die Bundesregierung mit Nachdruck auf,
einen Gesetzentwurf zur Änderung des BAföG vorzulegen, der Mitte 2000 zum Schul- bzw. Semesterbeginn in
Kraft treten kann.
Sie müssen sich einmal die bildungs- und gesellschaftspolitisch untragbare Situation vor Augen führen,
daß lediglich acht von 100 Kindern aus einkommensschwachen Familien Hochschulen besuchen,
({5})
obwohl ihr Anteil in der gymnasialen Oberstufe bei
33 Prozent liegt.
Verehrte Kollegin, wenn Sie einen solchen Zwischenruf machen, müssen Sie daran denken, daß die Länder,
die im letzten Jahr noch überwiegend sozialdemokratisch regiert wurden, mit abgelehnt haben, daß es zu
einer Einigung kommt. Das muß man doch einmal ganz
deutlich sagen.
({6})
Unser Ziel muß also sein, daß diejenigen, die die Fähigkeit haben zu studieren, unabhängig von ihren sozialen Verhältnissen auch studieren können. Die Gefördertenquote - da sind wir uns alle einig - darf nicht weiter
sinken; sie muß steigen.
Aber, meine Damen und Herren, es reicht nicht, lediglich die Freibeträge und die Bedarfssätze anzuheben,
wenn wir das Hauptziel der BAföG-Reform erreichen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
wollen, nämlich eine deutliche Verbesserung der Gefördertenquote. Wir wollen, daß die Gefördertenquote
auf mindestens 25 Prozent aller dem Grunde nach Berechtigten angehoben wird. Dies kann erreicht werden,
wenn zukünftig bei der Prüfung für die Zulassung zur
Förderung auf eine Anrechnung des Kindergeldes und
gleichartiger Vergünstigungen, zum Beispiel der Kinderzulagen aus der gesetzlichen Unfallversicherung oder
der Kinderzuschüsse aus der gesetzlichen Rentenversicherung, verzichtet wird. Dadurch würde der Effekt
vermieden, daß der Staat mit der einen Hand gibt und
mit der anderen wieder nimmt. Genau dies haben Sie ja
gerade praktiziert. Die Kindergeldanhebung führt nämlich zu einer fiktiven Anhebung des Gehalts der Eltern
und dadurch zu weniger Antragsberechtigten. Durch die
Nichtanrechnung von Kindergeld und ähnlichen Leistungen aber würde es Leistungsverbesserungen in Höhe
von 450 bis 500 Millionen DM geben. Die monatlichen
Förderungsleistungen würden sich dadurch um durchschnittlich 150 DM erhöhen. - Das wäre schon etwas. Dies entspräche einer Freibetragserhöhung von durchschnittlich 15 Prozent. Auf diese Weise könnte das Ziel
sehr schnell erreicht werden, denn eine Steigerung um 1
Prozentpunkt bewirkt eine Zunahme von rund 3 900
geförderten Auszubildenden bzw. Studierenden. Verzichtet man auf die Kindergeldanrechnung, so bedeutet
dies eine Steigerung der Zahl der Geförderten um rund
59 000. Ich finde, das ist eine Zahl, über die wir gemeinsam nachdenken sollten.
({7})
Meine Damen und Herren, ein Weiteres: Viele Studierende scheuen sich, einen BAföG-Antrag zu stellen,
weil die Regelungen sehr unübersichtlich sind. Die derzeitige Situation, in der die Studierenden während des
Semesters eher einen Nebenjob wahrnehmen, als einen
BAföG-Antrag zu stellen, ist aus unserer Sicht nicht
länger hinnehmbar. Ich meine allerdings nicht die Studierenden, die nebenher arbeiten, weil sie Lebens- und
Berufserfahrung sammeln wollen. Die werden wir immer haben, und das soll auch so bleiben. Hier muß also
unterschieden werden.
({8})
Die rechtlichen Regelungen müssen im Interesse der
Auszubildenden und eines einfacheren Vollzugs gestrafft werden. Das erhöht die Akzeptanz des Gesetzes,
vor allem bei den Eltern, den Schülern und den Studierenden. Auch sollten die Vorschriften zur Ermittlung des
anzurechnenden Einkommens stärker den Regeln des
Einkommensteuerrechts angepaßt werden. Das würde
Vereinfachungen bringen.
Meine Damen und Herren, das Subsidiaritätsprinzip
bei der Förderung ist richtig. Es darf jedoch nicht dazu
führen, daß vollgeförderte Auszubildende nach Beendigung der Ausbildung vor einem Schuldenberg stehen.
Deshalb wollen wir die derzeitige Regelung von Darlehen und Zuschuß ändern. Die Ausbildungsförderung soll
- wie bisher - bis zu einem monatlichen Betrag von
800 DM als Darlehen und als Zuschuß geleistet werden.
Darüber hinaus soll - und das ist das Neue - die weitere
Förderung voll als Zuschuß erfolgen. Dadurch würden
die Auszubildenden stärker entlastet. Mit unserem heutigen Antrag würde die maximale Darlehensbelastung
bei einem Studium von Höchstbeträgen von über 30 000
DM auf 24 000 DM sinken. Das kann sich sehen lassen,
das sind 6 000 DM weniger Schulden. Damit müßten
jährlich etwa 82 Millionen DM, die heute als Darlehen
ausgegeben werden, durch Zuschüsse ersetzt werden.
Meine Damen und Herren, das bisherige BAföGSystem steht im Einklang mit der neuen Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts, nach der die Familie
zugleich eine Erziehungs- und Wirtschaftsgemeinschaft
ist. Deshalb wollen wir den bisherigen Familienleistungsausgleich beibehalten und so die Familie stärken.
Die Zahlung eines Ausbildungsgeldes direkt an die
Studierenden als Ersatz für Kindergeld, Kinderfreibetrag
und Ausbildungsfreibetrag halten wir jedoch nicht für
richtig. Hier muß man sich einmal klarmachen, daß das
Ausbildungsgeld allein nicht ausreicht, um studierende
Kinder von Unterhaltsleistungen ihrer Eltern unabhängig
zu machen. Es reicht einfach nicht!
Gegen dieses Ausbildungsgeld sprechen vor allen
Dingen auch verfassungsrechtliche Bedenken. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zum
Familienlastenausgleich müßte bei diesem von Frau
Bulmahn angekündigten Teil der BAföG-Eckpunkte der
Sockelbetrag deutlich über dem Kindergeld liegen. Eine
Begrenzung der Ausgaben für dieses Ausbildungsgeld
kann es nur geben, wenn die Auszahlung des Geldes von
BAföG-Kriterien abhängig gemacht wird. Damit würde
der Unterhaltsanspruch gegen die Eltern entfallen. Gegen dieses Ausbildungsgeld, für das sich nun auch die
Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P. stark machen,
spricht nach unserer Auffassung - neben den schon erwähnten verfassungsrechtlichen Bedenken - auch die
Ungleichbehandlung erwachsener Studierender und anderer Auszubildender. Was geschieht mit den Eltern, die
Unterhalt leisten? Wir müssen Ihnen, liebe Frau Pieper,
leider einen Korb geben, den vierten Korb, der sich zu
den drei anderen gesellt. Wir können aber darüber diskutieren, wie man gemeinsam verfahren kann.
Meine Damen und Herren, wir bitten Sie alle um
Unterstützung für unseren Antrag, weil wir damit gemeinsam drei wichtige Ziele erreichen wollen: Erstens.
Für einen großen Kreis Studierender und Auszubildender wird die materielle Situation deutlich verbessert und
damit auch die Chance für einen rascheren und qualifizierteren Studienabschluß deutlich erhöht. Zweitens.
Wir setzen ein klares Signal in der Bildungspolitik. Dieses Signal ist Ausdruck sozialer Verantwortung. Drittens
aber würde eine Regierung, die offenbar geneigt ist, die
Studienförderung auf die lange Bank zu schieben, auf
ein etwas zügigeres Tempo gebracht, gleichsam von der
Dampflok auf den Transrapid. Einige von Ihnen wollen
ihn ja durchaus.
Daran mitzuwirken, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Mehrheitsfraktionen, müßte doch für uns
alle ein Vergnügen sein - im Interesse der jungen Menschen.
Danke schön.
({9})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Brigitte
Wimmer von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Volquartz, um an Ihren letzten Satz anzuschließen: Die
Dampflok waren wohl Sie; denn Sie haben bisher regiert.
({0})
Ich möchte mit folgendem Satz beginnen:
1998 haben die Ausgaben von Bund und Ländern
für die Studienförderung einen Tiefstand erreicht.
Mit diesem Satz beginnt die Presseerklärung der CDUKolleginnen und -Kollegen zu ihrem eigenen Antrag.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ein vernichtenderes
Urteil hätte ich nicht fällen können.
({1})
Sie geben damit zu, daß Ihre Partei für den Tiefstand der
Studienförderung verantwortlich ist. 16 Jahre lang haben
Sie keine durchgreifende Reform des BAföG hingekriegt, im Gegenteil. Jetzt, drei Wochen vor Weihnachten, versuchen Sie, gewissermaßen als Weihnachtsmann
oder als Christkind, den Studierenden einen Gabenteller
zu präsentieren. Die Studierenden nehmen Ihnen Ihre
milde Gabe aber sicherlich nicht ab. Sie wissen nämlich
zu genau, daß es CDU/CSU und auch F.D.P., Frau Kollegin Pieper, waren, die die BAföG-Kasse leergeräumt
haben.
Frau Kollegin Pieper, bevor Sie sich zu einer Zwischenfrage melden,
({2})
rate ich Ihnen: Lesen Sie die Begründung zu Ihrem Gesetzentwurf. Mein Urteil darüber ist noch vernichtender.
Es gab ja irgendwann einmal einen Herrn Möllemann und
einen Herrn Ortleb, die hier als Minister verantwortlich
waren. Ich an Ihrer Stelle wäre einmal ganz ruhig.
Frau
Kollegin Wimmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Pieper?
Nein, ich erlaube keine Zwischenfrage.
({0})
- Regen Sie sich doch nicht auf! Sie haben Ihre vernichtende Bilanz schriftlich dargelegt. Das müssen Sie
nicht noch durch eine Zwischenfrage unterstreichen.
({1})
- Herr Singhammer, ganz ruhig.
Ich sage Ihnen noch einmal die Zahlen: 1992 waren
im BAföG-Topf noch 2,5 Milliarden DM, 1996 noch
ganze 1,5 Milliarden DM. Von 1993 bis 1997 sank die
Zahl der geförderten Studierenden von 408 000 auf
238 000.
Frau Kollegin Volquartz, weil Sie es vorhin angesprochen haben: 1982 war eine der ersten Maßnahmen
der neuen Regierung von CDU/CSU und F.D.P., das
BAföG in seinem Kern zu zerstören. Damals waren wir
schon bei einer Gefördertenquote von fast 35 Prozent.
({2})
Sie ist hinuntergerauscht bis auf 17 Prozent. Deswegen
schließe ich mich Ihrem Urteil ausdrücklich an: F.D.P.
und CDU/CSU haben dafür gesorgt, daß am Ende ihrer
Regierungszeit die Studienförderung einen Tiefpunkt erreicht hat.
({3})
Wir haben deshalb unmittelbar nach Regierungsübernahme mit der 20. BAföG-Novelle sehr schnell wenigstens Ihre schlimmsten Ungerechtigkeiten - um das
Wort „Schweinereien“ zu vermeiden - repariert. Wir
haben nicht nur geredet, sondern wir haben gehandelt.
({4})
Seit der 20. BAföG-Novelle werden 23 000 Studierende
zusätzlich gefördert. Ein Auslandsstudium bis zu einem
Jahr bleibt bei der Förderungshöchstdauer unberücksichtigt. Ausbildungsabbruch oder Fachrichtungswechsel aus wichtigem Grund werden bis zum vierten Fachsemester zugelassen.
Frau
Kollegin Wimmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Volquartz?
Wenn die Frau
Kollegin Volquartz das unbedingt will, bitte schön.
({0})
Bitte
schön, Frau Volquartz.
Frau Kollegin
Wimmer, können Sie mir den Unterschied zwischen der
20. BAföG-Novelle und der von uns verantworteten 19.
Novelle deutlich machen?
Ich habe es
gerade gesagt: Wir haben die Verschlechterungen beseitigt, Ihre Schweinereien repariert.
({0})
Zwei von ihnen habe ich benannt, eine dritte füge ich
hinzu: Studierende, bei denen sich die Studiendauer
durch eine Gremientätigkeit verlängert hat, erhalten für
diese Zeit auch nach der Förderungshöchstdauer wieder
Förderung. Zudem haben wir die Studienabschlußförderung bis zum 30. September 2001 verlängert. Dem haben Sie zugestimmt - zu Recht, das fand ich auch gut -,
aber wir waren es, die das in Angriff genommen haben.
({1})
Erlauben
Sie eine weitere Zwischenfrage von Frau Volquartz?
Wenn es der
Wahrheitsfindung dient, bitte schön.
Frau
Volquartz.
Frau Kollegin
Wimmer, können Sie mir einmal erklären, worin angesichts der Tatsache, daß Sie genau die gleiche Anhebung
vorgenommen haben wie wir, die „Schweinerei“ bestand?
Eine der
Schweinereien bestand zum Beispiel darin, daß Ihre
Partei den Studierenden immer vorgeworfen hat, sie seien immobil, sie würden nicht ins Ausland gehen, aber
gleichzeitig die Studienförderung in diesem Bereich verschlechtert bzw. gestrichen hat. Wir haben das repariert.
Das war eine der Schweinereien.
({0})
Jetzt zu dem, was uns in gewisser Weise verbindet.
Ihr Antrag enthält einige Anregungen, über die man
durchaus reden kann. Außerordentlich bedauerlich finde
ich aber, daß die Offenheit, die Ihr Kollege Mayer noch
bei der Debatte zum 20. BAföG-Änderungsgesetz eingefordert hat, anscheinend in Vergessenheit geraten ist. Ich
erinnere daran, daß der Kollege Mayer im Februar diesen Jahres gesagt hat:
Eine Strukturreform der Ausbildungsförderung des
Bundes, die diesen Namen wirklich verdient, wird
nur dann gelingen, wenn wir alle unsere fest eingefahrenen Positionen auch einmal verlassen.
Und weiter:
Es sind schon einige
- gemeint sind Modelle vorgelegt worden. Ich füge hinzu, daß wir bereit
sind, darüber nachzudenken, ob die finanzielle Leistung des Kindergeldes den erwachsenen Studierenden direkt oder - wie bisher - über die Eltern
gegeben wird.
Damals waren Sie noch offen; es ist außerordentlich bedauerlich, daß Sie heute nicht mehr bereit sind, auf diesem Wege weiterzugehen.
({1})
Ihr Antrag enthält aber auch einige Punkte, die von
uns klar abgelehnt werden. Ein Beispiel: Es gelten jetzt
schon Leistungsüberprüfungen als integraler Bestandteil
der jeweiligen Studienordnung. Neue, zusätzliche Hürden lehnen wir ab. - Schön finde ich Ihre Forderung,
den Verwaltungsaufwand so gering wie möglich zu
halten. Liebe Kollegen und Kolleginnen, das ist ebenso
wohlfeil wie selbstverständlich.
({2})
Konkreter werden Sie aber nicht. Man denke nur daran,
was für einen Berg an Verwaltungsaufwand Sie beim
Meister-BAföG aufgeschüttet haben; das müssen und
werden wir jetzt korrigieren. Ich verspreche, daß wir
dann, wenn die Ministerin die Eckpunkte für eine
Strukturreform vorgelegt hat, auch darauf achten werden, daß unnötige Bürokratie vermieden wird.
Wir werden die anstehende Strukturreform sorgfältig
erarbeiten und auf den Weg bringen. Im Gegensatz zur
früheren Regierung ist diese Reform für uns eine zentrale Frage. Sie reden von Chancengleichheit, wir arbeiten dafür.
({3})
Sie haben die Zahlen schon genannt, Frau Kollegin Volquartz: Von 100 Kindern aus einkommensschwachen
Familien erreichen mittlerweile 33 die gymnasiale Oberstufe. Den Sprung zur Hochschule wagen aber nur acht.
Ihr Anteil an den Studierenden sank in den letzten
15 Jahren von 23 Prozent auf 14 Prozent. Hier muß das
BAföG helfen. Es muß - gestützt auf eine solide Finanzbasis - Ängste abbauen.
Seit Jahren fehlen Verläßlichkeit und Planbarkeit. Die
Studierenden wußten nicht, was auf sie zukommt und ob
und wieviel Förderung sie erhalten. Wir wollen und wir
werden das ändern. Wir wollen den Generationenvertrag
im Bereich der Bildung auf eine neue, dauerhafte und
tragfähige Grundlage stellen.
({4})
Wir schaffen die Trendwende in der Ausbildungsförderung.
({5})
Wir schaffen die Trendwende hin zu mehr Chancengleichheit und Gerechtigkeit. Dabei gehen wir als SPDFraktion vom Drei-Körbe-Modell aus und wissen, daß
wir eine Reihe von rechtlichen Fragen klären müssen.
Das müssen wir sorgfältig tun. Gerade weil uns die
Strukturreform so wichtig ist - das haben wir immer
wieder betont -, wollen wir sicher sein, daß wir keine
Fehler machen.
Brigitte Wimmer ({6})
Frau Kollegin Pieper, die Schlampigkeit und Schludrigkeit, mit der Sie den von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf erarbeitet haben, darf sich nur eine Oppositionsfraktion erlauben, aber keine Regierungsfraktion.
({7})
Sie wären die ersten, die uns das hämisch präsentieren
und sagen würden: Ihr habt schlampig gearbeitet. Wir
machen es sorgfältig. Wir werden auf der Grundlage der
in Kürze vorliegenden Eckpunkte im neuen Jahr gemeinsam und gründlich über die Inhalte dieser Strukturreform diskutieren und dann entscheiden. Sie sind herzlich eingeladen, konstruktiv mitzuarbeiten.
({8})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Martin
Mayer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau
Kollegin Wimmer, Sie haben davon gesprochen, daß ich
vor einem Dreivierteljahr in der Debatte gesagt hätte,
wir wären offen für eine Diskussion darüber, den Studenten das BAföG direkt auszuzahlen. Wir sind immer
offen für eine sachliche Diskussion.
({0})
Insofern brauche ich dem nichts hinzuzufügen und auch
nichts wegzunehmen. Aber die Bundesregierung hat es
immer noch nicht geschafft, ein schlüssiges und klares
Konzept dafür vorzulegen, wie die direkte Auszahlung
des BAföG mit dem Unterhaltsrecht und anderen rechtlichen Vorschriften in Einklang gebracht werden kann.
Erst dann kann eine sachliche Debatte über dieses Thema stattfinden.
Die Bundesregierung hat in diesem Fall wie in vielen
anderen Fällen - die Koalition liebt die handwerkliche
Arbeit nicht - große Ankündigungen gemacht und letztlich Pfusch vorgelegt, so daß wir jedenfalls beim
gegenwärtigen Stand einer direkten Auszahlung des
BAföG nicht zustimmen können.
({1})
Frau
Wimmer, zur Erwiderung.
Herr Kollege
Mayer, es hilft erstens nichts, wenn Sie jetzt noch einmal Ihre Offenheit formulieren. Ihr Antrag spricht eine
andere Sprache; tut mir leid.
({0})
Zweitens. Die Frau Ministerin hat immer wieder angekündigt,
({1})
zuletzt in der Haushaltsdebatte, daß sie die Eckpunkte
vorlegen wird, und sie wird sie vorlegen.
({2})
Im Gegensatz zu vielen Damen und Herren im Haus,
Herr Kollege Mayer, habe ich eine handwerkliche Ausbildung. Deswegen lege ich großen Wert darauf, daß
dieser Gesetzentwurf sehr solide formuliert wird.
({3})
Als
nächster Rednerin gebe ich der Kollegin Pieper von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte eigentlich gehofft,
daß wir heute eine sachliche Diskussion über die Bundesausbildungsförderung führen.
({0})
Aber ich stelle fest, daß sich die Kollegin Wimmer von
der SPD-Fraktion hier in billiger Polemik zu diesem
Thema darstellt.
({1})
Es ist ein Skandal, daß die Bundesbildungsministerin,
die 1998 im Bundestagswahlkampf den Studenten versprochen hat, als erstes werde sie, wenn sie Bundesbildungsministerin sei, eine BAföG-Reform machen, bis
heute, bis zum Ende des Jahres 1999, keinen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Das halte ich für Wahlbetrug, das
halte ich für skandalös.
({2})
Das ist kennzeichnend für Ihre Regierung, fragen Sie die
Menschen auf der Straße. Halten Sie hier im Deutschen
Bundestag bitte nicht so billige Reden ohne Inhalt!
({3})
Ich habe schon einmal deutlich gemacht, daß Sie es lieber mit Erich Kästner halten sollten, der gesagt hat: Es
gibt nichts Gutes, außer man tut es.
({4})
Ich frage mich: Wo ist denn Ihr Gesetzentwurf?
({5})
Sie kündigen lediglich ein Dreikörbemodell an, während
wir einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, meine Damen
und Herren, den ich Ihnen noch einmal kurz vorstellen
und begründen möchte.
Brigitte Wimmer ({6})
Natürlich ist es so, sehr verehrte Frau Kollegin
Wimmer, daß die Anzahl der Anspruchsberechtigten
nach dem BAföG gewaltig gesunken ist. Wenn Sie den
neuen Bericht des Deutschen Studentenwerkes kennen,
so wissen Sie, daß es dramatisch ist, was sich da vollzieht.
({7})
Aber Sie wissen auch - vielleicht aber auch nicht, weil
Sie damals noch nicht im Bundestag waren -,
({8})
daß die F.D.P. bereits 1995 einen Antrag zur Reform der
Bundesausbildungsförderung im Deutschen Bundestag
eingebracht hat. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!
({9})
Ich frage Sie, warum Sie in der Debatte über das
20. Änderungsgesetz unseren Antrag, in dem es um die
Angleichung der Wohngeldzuschüsse für Studierende
in Ost und West ging, abgelehnt haben.
({10})
Das ist doch keine Politik, die man nach draußen darstellen kann. Das halte ich nicht für sozial gerecht, sondern für sozial ungerecht.
({11})
Verhindern Sie nicht die Beratung unseres Gesetzentwurfs im Bildungsausschuß! Nehmen Sie zur Kenntnis,
({12})
daß wir einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, der nicht
nur die Studierenden berücksichtigt, sondern auch diejenigen, die eine höhere Berufsausbildung anstreben und
aus einkommensschwachen Familien kommen. Wir sind
nämlich der Auffassung, daß es bei diesem Thema in der
Bildungspolitik mehr denn je um Chancengleichheit
geht. Wenn Sie sich die Zahlen ansehen, dann erkennen
Sie, daß eine Erhöhung der Anzahl der Studierenden, die
aus einkommensstarken Familien kommen, zu verzeichnen ist.
({13})
Ich denke, das ist eine Riesenungerechtigkeit. Dieses
Hohe Haus hat dafür zu sorgen, daß sich das sehr bald
ändert.
({14})
Wir schlagen ein Dreikörbemodell vor, das ich jetzt
noch einmal kurz erläutern möchte: Wir wollen im ersten Korb, daß ein ein Ausbildungsgeld, eine Grundförderung in Höhe von 500 DM monatlich einkommensunabhängig an jeden Auszubildenden gezahlt wird, ein
Ausbildungsgeld, in dem Kindergeld bzw. Kinderfreibetrag und Ausbildungsfreibetrag zusammengefaßt werden. Ich darf den Kolleginnen und Kollegen von der
Union ganz deutlich sagen: Es gibt zu diesem Thema
eindeutige Aussagen von Verfassungsrechtlern, von
Steuerrechtlern, die als Sachverständige für die zuständige Arbeitsgruppe der Bund-Länder-Kommission gearbeitet haben, zum Beispiel Professor Dr. Wieland von
der Universität Bielefeld. Er hat deutlich gesagt, daß die
Sockelförderung auch nach dem Urteil von Karlsruhe
rechtlich machbar ist, daß die neuen Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts dem nicht entgegenstehen
und das Bundesverfassungsgericht bereits das Kindergeld als einheitliche Unterstützung für die Familien ja
auch gebilligt hat. Daraufhin hat der Bundesfinanzhof in
einem Urteil klargestellt, daß sich die Höhe des Sockelbetrages möglichst an einem ziemlich hohen Steuersatz,
an einem Steuersatz von 45 Prozent, orientieren muß.
Ich denke, hier kommen wir nicht überein. Das muß
dringend im zuständigen Ausschuß geklärt werden; wir
sollten die Beratungen darüber nicht aufschieben.
Der zweite Korb sieht nach unseren Vorstellungen
einen Zuschuß in Höhe von 350 DM vor, der einkommensabhängig ist. Dieser Zuschuß sollte allerdings an
den Ausbildungserfolg und an den Abschluß gebunden
sein.
Der dritte Korb - so schlagen wir es vor - sieht ein
unverzinsliches Darlehen von bis zu 750 DM monatlich vor, das natürlich nach Ablauf von fünf Jahren zurückgezahlt werden muß.
Meine Damen und Herren, ich stelle nochmals fest:
Die Bundesregierung verzögert die Vorlage eines Gesetzentwurfes, hält die Auszubildenden und Studierenden in diesem Land hin, schiebt das Gesetz auf die lange
Bank. Im Jahr 2001 einen Gesetzentwurf vorzulegen
heißt, ein Jahr vor dem Bundestagswahlkampf zu versuchen, wieder auf Stimmenfang zu gehen und bis dahin
das Gesetz auf die lange Bank zu schieben.
({15})
Das halten wir für falsch. Deswegen wollen wir jetzt zu
diesem Thema eine Beratung im zuständigen Ausschuß
des Deutschen Bundestages. Deswegen haben wir diesen
Gesetzentwurf eingebracht, um Ihnen auf die Beine zu
helfen.
Meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, Sie können ja meinen, es sei nicht alles richtig, was
in dem Gesetzentwurf steht. Ich meine allerdings, er ist
eine gute Grundlage, auf der man diskutieren kann. In
unserem Gesetzentwurf sind viele Vorschläge des Deutschen Studentenwerkes eingeflossen. Wenn Sie den Bericht des Deutschen Studentenwerkes zur Kenntnis genommen haben und wenn Sie die Situation der Studierenden und Auszubildenden in diesem Land kennen,
dann kommen Sie nicht umhin, dieses Dreikörbemodell
zu unterstützen.
({16})
Deswegen sage ich als letztes: Entziehen Sie sich
nicht Ihrer Verantwortung. Tragen Sie dazu bei, daß wir
in diesem Hohen Haus endlich eine Mehrheit für die
BAföG-Reform zustande bringen.
Vielen Dank.
({17})
Als
nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Matthias Berninger, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit
beiden für die heutige Debatte eingebrachten Vorlagen
kommt zum Ausdruck, daß es im gesamten Haus ein
großes Interesse an der BAföG-Reform gibt. Bei allem
Streit möchte ich vorweg sagen: Ich halte das für eine
sehr gute Nachricht, weil die Reform des BAföG aus
meiner Sicht in den nächsten Jahren eines der zentralen
Reformvorhaben sein wird.
({0})
Warum? Es steht eigentlich überall geschrieben, daß
wir auf dem Weg in die Wissensgesellschaft sind.
Gleichzeitig beklagen diejenigen, die Wissenspolitik
betreiben, daß der Zugang zur Wissensgesellschaft in
unserem Land äußerst ungleich verteilt ist. Dieses Problem haben auch alle Vorredner dargestellt. Wir können
uns dafür gegenseitig die Schuld geben. Ich denke, für
dieses Problem sollte man niemandem die Schuld geben;
vielmehr muß man es aus der Welt schaffen.
({1})
Wenn uns das nicht gelingt, werden wir auf dem Weg
in die Wissensgesellschaft das zentrale Problem haben,
daß wir bestehende soziale Ungerechtigkeiten verstärken, neue soziale Ungerechtigkeiten erzeugen und gesellschaftliche Ressourcen in einer Größenordnung, die
wir uns nicht leisten können, verschwenden, weil wir
Menschen mit der Fähigkeit, in der Wissensgesellschaft
etwas zustande zu bringen, den Zugang zu den entsprechenden Institutionen verweigern.
({2})
Deswegen ist es das oberste Gebot, daß Fairneß beim
Zugang zu den entsprechenden Institutionen wiederhergestellt wird.
Alle Parteien streiten sich darüber, wie man das auf
den Weg bringt. Ich verstehe sehr gut, daß die Opposition sagt, ihr wäre es lieber, wenn die Bundesregierung
ihren Vorschlag bereits auf den Tisch gelegt hätte. Ich
verstehe es gut, wenn Sie darauf hinweisen, daß es bis
Ende des Jahres nicht mehr lange hin ist. Aber ich kann
Sie an dieser Stelle beruhigen: Die Koalitionsfraktionen
wollen die BAföG-Reform. Sie wollen sie deshalb, weil
sie für uns eine der zentralen Reformmaßnahmen ist.
({3})
Ich kann Sie an einer zweiten Stelle beruhigen: Mit
der Verabschiedung des Bundeshaushaltes, dem zu entnehmen ist, daß wir - obwohl wir überall sparen - in
den nächsten Jahren für Zukunftsinvestitionen 1 Milliarde DM mehr ausgeben und insgesamt ein Volumen
von 10 Milliarden DM für Reformen in Bildung und
Wissenschaft zur Verfügung stellen,
({4})
sind die Weichen für eine BAföG-Strukturreform in die
richtige Richtung gestellt.
({5})
Ein Streitpunkt kommt in beiden Vorlagen der Opposition zum Ausdruck: Gehen wir den Weg in den alten
Bahnen, wollen wir die Förderung der Studierenden
immer stärker an das Elternhaus koppeln, oder wollen
wir eine elternunabhängige Förderung? Darüber sind
Sie sich - übrigens auch innerhalb der CDU/CSUFraktion - nicht einig. Obwohl der Name des Kollegen
Jork auf dem Antrag der CDU/CSU steht, applaudierte
Herr Jork, als Frau Pieper Elternunabhängigkeit eingefordert hat.
Ich glaube, daß die CDU/CSU auf dem Holzweg ist,
wenn sie in ihrem Antrag schreibt:
Die Zahlung eines Ausbildungsgeldes ({6}) direkt an die Studierenden als Ersatz für Kindergeld, Kinderfreibetrag und Ausbildungsfreibetrag lehnen wir ab, ...
Ich halte das für einen Fehler, weil ich glaube, daß Elternunabhängigkeit der zentrale Bestandteil einer zeitgemäßen BAföG-Strukturreform ist.
({7})
Warum ist das so? Die Familie die Sie, Frau Volquartz, im Auge haben - in der die Eltern viel Geld für
das Studium ihrer Kinder aufbringen; meistens bringen
sie mehr auf, als von ihnen erwartet werden kann und als
der Gesetzgeber vorschreibt -, gibt es natürlich. Aber es
haben in Deutschland Veränderungen stattgefunden. Es
gibt nicht nur diese Familie. Es gibt viele Kinder, die in
Familien aufwachsen, die Scheidungen durchlebt haben.
Dort sind die Väter zwar noch verpflichtet, für ihre Kinder zu zahlen; aber sie tun es immer öfter nicht mehr. Es
geht also darum, dieser Tatsache mit Blick auf die Realität der Studierenden in Deutschland Rechnung zu tragen. Sie warten nicht auf die Politik, sondern flüchten
sich in Arbeit neben dem Studium. Sie arbeiten nicht,
um Lebenserfahrungen zu sammeln, sondern um ein
einigermaßen vernünftiges Auskommen während des
Studiums zu haben. Wir alle beklagen die Folge, nämlich daß in Deutschland viel länger studiert wird als in
jedem anderen Land. Auch dies ist ein Grund, warum
wir eine BAföG-Reform dringend brauchen. Wir wollen
die Studierenden wieder in die Lage versetzen, sich auf
das Wesentliche zu konzentrieren, nämlich auf das Studium.
({8})
Auch dies ist ein Grund, warum meine Fraktion gesagt hat: Wenn wir Wissenspolitik betreiben wollen,
dann ist es wichtig, Forschungsinstitutionen zu fördern
und in den Hochschulbau zu investieren. All dies haben
wir im Bundeshaushalt - für alle nachvollziehbar und
nachlesbar - erreicht. Aber es ist ebenso wichtig, daß
wir in die Menschen, in die Studierenden investieren
und ihnen den Zugang zu den Hochschulen erleichtern.
Wir stehen vor einer Prioritätenverschiebung, und
zwar zugunsten von Bildungsausgaben im Bundeshaushalt. Dies ist die Voraussetzung für eine BAföGStrukturreform. Damit bin ich bei einer Kernfrage auch
des Antrags der F.D.P.-Fraktion angelangt, nämlich bei
den Kosten. Sie machen in Ihrem Antrag einen Vorschlag, der Kosten verursacht. Sie behaupten, die Kosten
seien weitestgehend deckungsfähig - dann zählen Sie
alles mögliche auf.
In Wahrheit ist es so - dies gehört zur Redlichkeit dazu -: Ihr Gesetzentwurf würde 16 Milliarden DM Kosten verursachen, wenn er in diesem Hause eine Mehrheit fände. Aber auf der Habenseite stehen zur Deckung
nicht mehr als 10 Milliarden DM zur Verfügung. Kein
Finanzminister der Welt würde 6 Milliarden DM ausgeben wollen, um eine BAföG-Strukturreform zu finanzieren. Mit diesem Problem müssen wir uns alle redlich
auseinandersetzen.
({9})
Erlauben
Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?
Ja.
Bitte schön.
Herr Berninger, wissen
Sie, daß wir insbesondere mit dem ersten Korb eine Systemumstellung vorschlagen? Das heißt, wir wollen, daß
das Kindergeld, die Kinderfreibeträge und die Ausbildungsfreibeträge - zusammen sind das 14 Milliarden
DM - nicht mehr über das Finanzministerium und das
Familienministerium, sondern im Rahmen der Ausbildungsförderung direkt an die Anspruchsberechtigten, die
Studierenden und die Auszubildenden, ausgezahlt werden. Dadurch entstehen keine zusätzlichen Kosten in
Höhe von 14 Milliarden DM. Darauf haben wir in unserem Gesetzentwurf auch hingewiesen. Es handelt sich
vielmehr um eine Systemumstellung, das heißt, es wird
zwischen den Haushalten der verschiedenen Ressorts
zugunsten des Bundesbildungsministeriums umgeschichtet.
Frau Kollegin Pieper, Sie sprechen damit die
zentrale Frage an, die für das Gelingen der BAföG
Strukturreform von Bedeutung ist. Es ist mir überhaupt
nicht neu, daß wir bei der Beantwortung der Frage, wie
die Transfers in die Taschen der Studierenden fließen
sollen, verschiedene, heute gezahlte Transfers auf den
Prüfstand stellen müssen und daß die Transfers teilweise
zur Gegenfinanzierung eines anderen Vorschlags verwandt werden können. Wir haben in der letzten Legislaturperiode einen Gesetzentwurf eingebracht, mit dem
wir genau dies als eine zusätzliche finanzielle Ressource
für die BAföG-Reform mobilisieren wollten.
Nur - dies gehört zur Redlichkeit dazu -, es gibt,
wenn Sie von einem Grundförderungssockel in Höhe
von 500 DM ausgehen, eine Deckungslücke zwischen
dem Geld, das der Staat heute bereitstellt, und dem
Geld, das Sie ausgeben müssen. Dies ist - nebenbei gesagt - zur Zeit eines der zentralen Probleme im Rahmen
der Abstimmung der Ressorts über den Entwurf der
Bundesregierung.
Trotzdem, ich halte dies für einen wichtigen Punkt,
weil in der Öffentlichkeit nicht deutlich wird, daß wir
dann, wenn wir über das BAföG reden, immer nur über
das BAföG für die Armen sprechen, deren Studium eben
nicht durch Steuertransfers vom Staat begünstigt wird,
und daß wir gerade das BAföG für die Wohlhabenden
aus dem Blick verlieren. In Deutschland werden Kinder
aus Familien, die über ein einigermaßen hohes Einkommen verfügen, vom Staat finanziell mehr subventioniert als Kinder von geringverdienenden Eltern. Dies ist
ein sozialpolitischer Skandal, den wir mit unserer
BAföG-Reform bekämpfen wollen. Dies ist auch der
Unterschied zur CDU/CSU-Fraktion, die genau diese
Ungleichheit aufrechterhalten möchte. Eine Jahrhundertreform des BAföG muß diese Ungleichheit beseitigen.
Dies ist für mich ein zentraler Punkt.
({0})
Erlauben
Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Pieper?
Selbstverständlich.
Bitte
schön, Frau Pieper.
Herr Berninger, ist Ihnen
bekannt, daß wir gerade mit unserem Dreikörbemodell,
das wir in unserem Antrag vorgeschlagen haben - auch
wenn die Förderung im zweiten und dritten Korb einkommensabhängig ist -, das sogenannte MittelstandsMatthias Berninger
loch schließen wollen bzw. gerade auch Familien mit
mittleren Einkommen, die an der Schwelle zur Förderung sind, berücksichtigen? Sind Sie nicht mit mir der
Auffassung, daß wir dann, wenn wir uns in der politischen Frage, ob es eine Reform der Bundesausbildungsförderung geben soll, einig sind, die Details im Bildungsausschuß des Deutschen Bundestages diskutieren
sollten?
Ich habe die Zwischenfragen ja nicht gestellt. Sie
wollten hier die Details mit mir diskutieren. Ich finde es
vernünftig, daß man die Probleme sowohl im Plenum als
auch im Ausschuß klar anspricht. Ich bin völlig Ihrer
Meinung, daß wir im Bildungsausschuß über diese Reform reden müssen. Das größte Problem, Frau Pieper,
sehe ich aber darin, daß die CDU/CSU, obwohl alle
Fraktionen in diesem Hause eine grundlegende BAföGReform wollen, mit ihrem Antrag Abschied von dem
Vorhaben genommen hat, eine wirklich mutige Reform
auf den Weg zu bringen. Deswegen habe ich ein Problem mit dem CDU/CSU-Antrag.
({0})
Vor diesem Hintergrund bin ich gespannt, ob sich die
CDU/CSU im Bildungsausschuß noch in eine andere
Richtung bewegen wird.
Herr
Berninger, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Jork von der CDU/CSU-Fraktion?
Selbstverständlich.
Herr
Jork, bitte schön.
Danke. - Lieber
Kollege Berninger, wahrscheinlich liegt irgendwo ein
Mißverständnis vor. Mein Sohn hat studiert und voriges
Jahr sein Studium beendet. Halten Sie es nicht für angemessen, daß er kein BAföG bekam und ich sein Studium vollständig - und zwar gerne - finanziert habe?
({0})
Dieser Standpunkt ist mit Sicherheit kein Ausgangspunkt, um Differenzen zwischen unseren Fraktionen
auszumachen.
Herr Kollege Jork, Sie haben Ihre Steuererklärung wahrscheinlich nicht selber gemacht. Hätten Sie sie
nämlich selber gemacht, wüßten Sie, welche Steuervergünstigungen der Staat Ihnen bei Ihrem hohen Einkommen - ich habe ja in etwa das gleiche Einkommen - für
das Studium Ihres Sohnes gewährt hat.
({0})
Diese Förderung kommt Ihnen zugute und würde auch
mir zugute kommen, wenn ich noch, wenn mein Sohn
studiert, über ein solches Einkommen verfüge. Wer aber
nicht über ein solches Einkommen verfügt, hat keinen
Zugang zu dieser Form staatlicher Subvention für die
Wohlhabenden.
({1})
Diese Gerechtigkeitslücke zu schließen, ist ein zentrales
Anliegen unserer Reform.
({2})
Auch den zweiten von Ihnen angesprochenen Punkt
möchte ich ganz klar beantworten: Gerechtigkeitsfragen
spielen bei der anstehenden BAföG-Reform eine zentrale Rolle. Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft hat
der Staat die Aufgabe, die Möglichkeiten dafür zu schaffen, daß alle Anschluß an diese finden können.
({3})
Es zeigt sich allerdings auch, daß diejenigen, die ein
Hochschulstudium erfolgreich abgeschlossen haben,
später über wesentlich höhere Einkommen verfügen als
der Durchschnitt der Bevölkerung.
({4})
Meiner Einschätzung nach ist es zur Schließung einer
weiteren Gerechtigkeitslücke entscheidend, daß Akademiker, wenn sie später viel verdienen, einen höheren
Beitrag dafür bereitstellen, daß die nächste Generation
die Möglichkeit hat, in diesen Bildungsinstitutionen etwas zu lernen. Das ist noch eine offene Frage zwischen
den Koalitionspartnern und auch in der Gesellschaft.
Wir sollten über sie hier fair diskutieren, weil ansonsten
die Gesamtbevölkerung Privilegien für Leute finanziert,
die auf Grund des Besuches einer Hochschule später ein
sehr hohes Einkommen haben, während der Durchschnitt der Bevölkerung dieses nicht hat und höchstens
indirekten Nutzen aus dieser Ausbildung zieht. Das ist
eine wichtige Frage, über die wir reden müssen.
({5})
Herr
Kollege, erlauben Sie eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Dr. Jork?
Selbstverständlich.
Ihnen ist doch
sicherlich klar, Herr Berninger, daß ein Unterschied
zwischen steuerlicher Berücksichtigung von Ausbildungskosten und einer Grundförderung für Ausbildung
besteht. Könnten Sie mir einmal erklären, wie Sie die
von Ihnen vorgesehene Grundförderung durch eine Reduzierung der steuerlichen Berücksichtigung aufbauen
wollen? Vielleicht können Sie uns in diesem Zusammenhang auch sagen, wo Ihr BAFF-Modell geblieben
ist?
({0})
Das
waren jetzt eine ganze Reihe von Zusatzfragen. In der
Geschäftsordnung steht, daß nur eine Zusatzfrage zulässig ist und diese kurz und präzise zu stellen ist. Ebenso
ist diese kurz und präzise zu beantworten. Ich bitte, beides zu berücksichtigen.
Herr Präsident, ich werde mich bemühen.
Das Studium wird heute häufig in der Form finanziert, daß der Staat auf Einnahmen verzichtet, indem er
Eltern, deren Kinder studieren, Steuervergünstigungen
gewährt. Frau Pieper hat es schon angesprochen, daß es
gerechter wäre, wenn im Rahmen einer BAföGStrukturreform Transparenz in diese Form der Förderung gebracht würde und diese Steuervergünstigungen
nicht mehr gewährt würden, aber dafür alle Studierenden bezüglich der Transferzahlungen gleich behandelt
würden. Das wäre ein Schritt zu mehr Gerechtigkeit und
Transparenz; das wollen wir mit unserer BAföG-Reform
erreichen.
Auch Ihre zweite Frage beantworte ich der Fairneß
halber: Es gibt einen Unterschied zwischen der Position
meiner Fraktion und der der SPD-Fraktion bezüglich der
politischen Bewertung unseres BAföG-Vorschlages.
Ich persönlich glaube, daß es angemessen ist, eine
vernünftige BAföG-Reform damit zu verbinden, daß
die Gewinner dieser Reform - alle und nicht nur die
BAföG-Geförderten - einen Anteil an der Finanzierung
der Strukturreform erbringen, der höher liegt als das,
was etwa den Vorstellungen der F.D.P.-Fraktion oder
auch des Studentenwerks zugrunde gelegt worden ist.
Ich habe das immer wieder sehr deutlich gesagt und stehe auch dazu. Ich bin aber kompromißbereit, weil für
mich nicht entscheidend ist, daß wir hier eine akademische Debatte darüber führen, welcher Weg der beste ist.
Entscheidend ist vielmehr, daß diese Regierung einen
mutigen Schritt zur Strukturreform des BAföG in Gang
setzt.
({0})
Aufgrund meiner Kenntnis der Arbeit der Bundesregierung bin ich davon überzeugt, daß sie dieses Ziel erreichen wird.
Meine Damen und Herren, ich betone noch einmal:
Die Wissensgesellschaft wird keine Wissensgesellschaft
für alle werden, wenn wir mit der BAföG-Reform nicht
vorankommen. Mein Appell richtet sich vor allem an die
CDU/CSU, die in den Ländern eine Verantwortung für
diese BAföG-Reform hat und deren Landesfinanzminister stets kritisch überprüfen, ob es eine BAföGReform geben soll oder nicht. Die CDU/CSU sollte sich
überlegen, ob sie nicht auf denselben Zug aufspringt, auf
dem alle anderen Fraktionen in diesem Hause bereits
sitzen, und den Mut für eine umfassende Reform aufbringt. Sie sollte sich überlegen, ob sie die Opposition
gegen eine solche umfassende Reform aufgibt, da Bund
und Länder gemeinsam diese BAföG-Reform auf den
Weg bringen müssen. Es geht also nicht nur um die
Bundesregierung, sondern auch um die Haltung der
Länder. Ich weiß, daß sie in der Abstimmung sind. Ich
weiß auch, daß Sie die Positionen, die Sie diesem Antrag zugrunde gelegt haben, zur Position der Länder machen wollten. Damit könnten Sie eine BAföGStrukturreform, die für mehr Transparenz und mehr Gerechtigkeit sorgt, über die Länderseite blockieren. Mein
Wunsch ist, daß Sie so etwas nicht tun, sondern daß wir
eine offene Diskussion darüber führen und im Sinne der
Studierenden baldmöglichst eine BAföG-Reform auf
den Weg bringen, die diesen Namen verdient und nicht
nur eine Reparatur entlang des bestehenden und, wie ich
finde, völlig zu Recht von vielen Vertretern dieses Hauses kritisierten BAföG sein wird.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({1})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Maritta Böttcher von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! In der Haushaltsdebatte
wurde von der Ministerin zum wiederholten Male bestätigt, daß das Versprechen, zum Jahresende solide Eckpunkte für die BAföG-Reform vorzulegen, eingehalten
wird. Damit werden auch die Vorgaben der Koalitionsvereinbarung eingehalten, in der es hieß, daß ein in
Bundestag und Bundesrat zustimmungsfähiges Konzept
für eine grundlegende Reform der Ausbildungsförderung bis Ende 1999 vorliegen wird. Von Herrn Hilsberg
wurde darüber hinaus versprochen, daß eine einheitliche
Sockelförderung für alle Studenten durchgesetzt werden
soll. Das steht ebenfalls im Einklang mit der Koalitionsvereinbarung.
({0})
Das hört sich alles sehr gut an und könnte demzufolge
eigentlich nur noch am Veto des Finanzministers scheitern. Davon gehen offensichtlich CDU/CSU und F.D.P.
mit ihren Gegenvorschlägen aus.
Kurz nach dem Verfassungsgerichtsurteil zum Familienleistungsausgleich war ja bereits allerorten die Rede
davon, daß damit die Reform gescheitert sei, weil sie
unbezahlbar geworden ist. Dies ist aber erst einmal kein
Argument gegen Sockelmodelle, weil erhöhtes Kinder6966
geld bzw. entsprechende Freibeträge, in welcher Form
auch immer, ohnehin gezahlt werden müssen.
Die grundsätzliche Frage ist, ob am derzeitigen
System der Ausbildungsförderung festgehalten und mit
weiteren Novellen daran herumgebastelt werden soll
oder ob Auszubildende und Studierende endlich wie
Erwachsene behandelt werden sollen.
({1})
Die Gründe, die im CDU/CSU-Antrag gegen Sokkelmodelle vorgebracht werden, können genauso gegen
das bisherige BAföG-System insgesamt ins Feld geführt
werden. Sie sprechen also weniger gegen eine Umgestaltung und eher für die Abschaffung der bisherigen
Fördersystematik. Es gibt keinen Grund, erwachsene
Studierende - Herr Jork, um genau diesen Punkt geht
es - und andere Auszubildende ungleich zu behandeln.
Behandeln wir sie also gleich! Das Ausbildungsgeld in
der jetzigen Ausstattung würde nicht ausreichen, um
studierende Kinder wirtschaftlich unabhängig zu machen. Sorgen wir also dafür, daß es reicht!
({2})
Im Moment kommen Unterhalt leistenden Eltern die
Leistungen bzw. Steuervergünstigungen des Familienleistungsausgleichs zugute. Das wäre mit einer veränderten Fördersystematik anders. Die Eltern stünden dann
nämlich außen vor.
Schließlich dürfen Zahlungen des Ausbildungsgeldes
nicht von BAföG-Kriterien abhängig gemacht werden;
auch das haben wir immer wieder angemahnt. Leistungsnachweise haben in Sozialleistungsgesetzen nichts
zu suchen.
({3})
Wir sind uns wohl alle darüber einig, daß in der Ausbildungsförderung grundsätzlich und zugleich schleunigst etwas getan werden muß. Die jetzigen BAföGAusgaben entsprechen dem Stand von vor 20 Jahren mit dem kleinen Unterschied, daß es damals 900 000
Studierende gab und daß es heute 1,8 Millionen Studierende gibt.
Außerdem ist das BAföG trotz Reparatur-Novelle so
unzureichend ausgestattet, daß Studierende mitunter lieber jobben, als sich für einen minimalen Förderanspruch
den Restriktionen dieses Gesetzes zu unterwerfen.
({4})
Wer zum Beispiel mit einem Förderanspruch von
160 DM gerade einmal 380 DM dazuverdienen darf und
wer auch von den Eltern nicht viel erwarten kann, ist in
den großen Universitätsstädten nicht überlebensfähig.
Das wissen Sie alle.
({5})
Diese Lebensfremdheit muß endlich behoben werden,
wenn die Sprüche von Chancengleichheit für Studierende aus einkommensschwächeren Schichten ernst gemeint sind. Dafür müssen in ausreichendem Umfang
staatliche Mittel bereitgestellt und das BAföG grundlegend reformiert werden.
Wenn es nun schon um Eckpunkte für eine BAföGReform geht, so wäre vieles, was im Antrag der
CDU/CSU gefordert wird, eine erhebliche Verbesserung
im Vergleich zum jetzigen Zustand. Der Pferdefuß ist
für mich aber das Festhalten an der alten Struktur, die
erwachsene Kinder auf Gedeih und Verderb den unterhaltspflichtigen Eltern ausliefert.
({6})
In den Diskussionen um das Kindergeld wird die
Chance vertan, nicht nur über einen gerechten Lastenausgleich für Familien, sondern auch über ein Grundeinkommen der jungen Generation nachzudenken. Die
PDS fordert seit Jahren eine bedarfsgerechte und bedarfsdeckende elternunabhängige Grundsicherung
auch für Studierende. Sie befindet sich übrigens hier in
Übereinstimmung mit dem fzs, dem Dachverband der
Studierendenorganisationen. Auch diese sollten zu Rate
gezogen werden, wenn es um Kriterien für Gesetzesänderungen geht.
Die Forderungen lauten in Kurzform: Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit,
({7})
Orientierung der Studienfinanzierung an den tatsächlichen Biographien der Studenten, Bedarfsorientierung,
Elternunabhängigkeit und Transparenz.
({8})
Für uns werden alle Strukturveränderungen daran zu
messen sein.
Der Gesetzentwurf der F.D.P., der leider erst heute
morgen auf den Tisch kam,
({9})
ist zumindest eine Grundlage für die Diskussionen im
Ausschuß, auf die ich sehr gespannt bin. Ich bin im übrigen auch sehr gespannt darauf, ob wir uns endlich darauf verständigen können - ich wiederhole mich -,
Studierende wie erwachsene Menschen und nicht wie
elternabhängige Kinder im Alter bis zu 14 Jahren zu
behandeln.
({10})
Danke.
({11})
Als
nächster Redner hat der Kollege Thomas Rachel von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Das BAföG
ist ein wichtiges sozialpolitisches Gesetz, das Chancengerechtigkeit in der Ausbildung sicherstellen soll. Aber
es gibt Reformbedarf.
Die Aufwendungen von Bund und Ländern für die
Studenten haben im vergangenen Jahr 1,7 Milliarden DM betragen. Wir haben rund 225 000 BAföGgeförderte Studenten. Wir müssen aber feststellen, daß
dies ein Tiefststand bei der staatlichen Ausbildungsförderung ist.
({0})
Vor 20 Jahren hat es genauso viele Mittel gegeben.
Allerdings gab es damals nur 900 000 Studierende; heute
sind es doppelt so viele, nämlich 1,8 Millionen.
Ich denke, wir alle haben Fehler gemacht.
({1})
Die letzte unionsgeführte Bundesregierung hat beim
BAföG Fehler begangen; mit ihr haben aber auch alle
SPD-geführten Bundesländer Fehler begangen. Denn
das BAföG wird gemeinsam von Bund und Ländern finanziert. Insofern müssen auch Bund und Länder für die
Entwicklung gemeinsam geradestehen. Das Absinken
der Zahl der BAföG-Geförderten hätte nicht weiter zugelassen werden dürfen. Ich meine, das müßten wir
einmal öffentlich zugeben.
({2})
Wir dürfen aber bei der Problemanalyse nicht stehenbleiben. Wir müssen jetzt und nicht erst im Jahre 2001
Änderungen für die BAföG-Studierenden durchführen,
so daß die Änderungen im Jahr 2000 in Kraft treten
können.
Die letzte Regierung hat BAföG-Bedarfs- und Freibeträge angehoben. Frau Bulmahn hat ihre Reform als
Trendwende verkauft, obwohl im vergangenen Jahr nur
eine Erhöhung des BAföG um 15 DM auf den Weg gebracht wurde. Das ist keine deutliche Verbesserung der
BAföG-Gefördertenquote. Ich finde, das ist Schönreden,
aber kein Anpacken des Problems.
({3})
Nun hätte die Ministerin heute die Möglichkeit gehabt, vor dem versammelten Deutschen Bundestag ihren
Vorschlag für eine BAföG-Reform vorzulegen.
({4})
Sie, Rotgrün, haben auch in Ihrer Koalitionsvereinbarung angekündigt, bis Ende dieses Jahres Ihren Vorschlag vorzulegen. Wir haben in diesem Jahr noch drei
Plenartage im Deutschen Bundestag. Sie haben diese
Chance vertan, und das ist schade für diesen Studienstandort Deutschland.
({5})
Das von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte BAFFModell scheint sich erledigt zu haben. Es hätte 10 bis
15 Milliarden DM gekostet. In der Opposition fordert es
sich eben leichter, als wenn man selber Regierungsverantwortung übernommen hat.
Bei den betroffenen Studenten klingeln die Alarmglocken. Die Aussagen von Finanzminister Eichel hinsichtlich einer Verschiebung der Reform auf das Jahr
2002 klingen in allen Ohren. Das Studentenwerk hat bereits davon gesprochen, daß durch die Verschiebung der
BAföG-Reform ein politischer Skandal drohe.
({6})
Wenn das so weitergeht, haben wir die groteske
Situation, daß der Bund im nächsten Jahr durch die
Rückzahlung der BAföG-Geförderten mehr einnimmt,
als er für die BAföG-Förderung der aktiv studierenden
Generation ausgibt. Konkret: Der Bund, der 1999 durch
die BAföG-Rückzahlung an das Bundesverwaltungsamt
659 Millionen DM einnimmt, will im Jahr 2000 nur
627 Millionen DM für Zuschuß-BAföG und Zinsausfälle ausgeben. Das heißt, im nächsten Jahr hat der Bund
durch die Höhe der BAföG-Rückzahlungen keine
Kosten beim BAföG. Er gibt also keine eigene Mark
aus. Ich finde, das ist grotesk.
({7})
Hauptziel unserer BAföG-Reform soll es sein, den
Anteil der BAföG-Geförderten wieder nachhaltig zu erhöhen. Wir wollen, daß das Gesetz im Sommer nächsten
Jahres in Kraft tritt. Kernpunkt ist der Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes, die Familien zu stärken. Ich
empfinde es als himmelschreiende Ungerechtigkeit, daß
sich nach der heutigen Rechtslage Vergünstigungen für
Familien, zum Beispiel Kindergelderhöhungen, bei der
Bemessung des BAföGs unmittelbar negativ auswirken.
Mit jeder Erhöhung des Kindergeldes sinkt der Anteil
der BAföG-Berechtigten. Mit anderen Worten: Eine
Kindergelderhöhung ist eine fiktive Gehaltsanhebung
für die BAföG-Bezieher.
Allerdings nicht alle Familien haben das Problem;
denn diejenigen, die keine BAföG-geförderten Kinder
haben, profitieren voll von der Anhebung des Kindergeldes. Dies ist eine Ungerechtigkeit, die wir mit unserem Vorschlag beseitigen wollen.
({8})
In unserem BAföG-Reformmodell schlagen wir deshalb vor, das Kindergeld im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung beim BAföG nicht mehr als Einkommen anzurechnen. Damit werden die Freibeträge für die Studenten
um 15 Prozent erhöht. 60 000 Studenten mehr würden
BAföG bekommen. Die monatliche Förderleistung würde um 150 DM steigen. Das sind konkrete Fakten zum
Wohle der Studierenden in Deutschland.
({9})
Der zweite Kernpunkt unseres Vorschlages ist, daß
wir die Hemmschwelle für Kinder aus einkommensschwachen Familien bei der Aufnahme des Studiums
abbauen wollen. Deshalb schlagen wir vor, den Darlehensbeitrag in der Weise zu begrenzen, daß nur noch
bis zu einem monatlichen Betrag von 800 DM die eine
Hälfte als Darlehen und die andere Hälfte als Zuschuß
gezahlt wird. Eine darüber hinausgehende Leistung soll
voll als Zuschuß erfolgen. Damit sinkt die Darlehensbelastung für Studenten mit BAföG-Höchstförderung,
die ja gerade aus den sozial schwächeren Familien
kommen. Jugendlichen aus einkommensschwachen Familien soll so ein größerer Anreiz für ein Studium gegeben werden.
Unser BAföG-Reformmodell kostet 600 Millionen DM. Es ist damit, im Vergleich zu allen anderen
Vorschlägen hier im Hause, seriös, finanzierbar und in
kürzester Zeit zum Wohle der Studenten umsetzbar. Wir
freuen uns über die Reaktion der Hochschulrektorenkonferenz, die den Vorschlag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hinsichtlich einer schnellen BAföG-Reform
begrüßt hat.
Wie sehen die Alternativen aus? Die F.D.P. begeht
mit dem Vorschlag einer Sockelförderung einen Systembruch. Sie rechnet selber mit Kosten von
16 Milliarden DM für ihr Modell. Selbst wenn man die
bisherigen Ausgaben für Kindergeld und steuerlichen
Kinderfreibetrag in dieses Finanzvolumen mit einrechnet - das macht 6,5 Milliarden DM aus -, bleibt eine riesige Finanzierungslücke.
Auch die Vorschläge der SPD hinsichtlich eines Sokkelbetrages sind nicht viel besser. Denn das Studentengehalt wirft mehr Probleme auf, als es zur Lösung der
Herausforderungen beiträgt. Eine Art Studentengehalt
brächte eine Aufspaltung in Kinder, die einen akademischen Beruf anstreben, und solche, die einen anderen
Berufsweg einschlagen.
({10})
Dies verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz. Junge
Erwachsene - das sage ich an die SPD gewandt - sind
junge Erwachsene, egal ob sie eine Berufsfachschule,
eine Akademie oder eine Hochschule besuchen. Wir
sind gegen ein Sonderrecht für Studierende.
Sehr geehrte Damen und Herren, entweder machen
Sie die Zahlung des Sockelbetrags von BAföGKriterien, zum Beispiel dem Bestehen der Zwischenprüfung, abhängig - dann müßten Sie aber das Unterhaltsrecht ändern; viel Spaß mit den Rechtspolitikern! -,
oder Sie zahlen das Studentengehalt wie bisher das Kindergeld für jeden immatrikulierten Studenten bis zum
27. Lebensjahr, egal, ob er die Ernsthaftigkeit des Studiums durch Bestehen der Zwischenprüfung beweist oder
ob er nur flüchtiger Gast an der Uni ist.
Herr
Kollege Rachel, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Böttcher von der PDS-Fraktion?
Aber bitte.
Frau
Böttcher, bitte schön.
Herr Rachel, ich möchte
Ihnen gern eine kurze Zwischenfrage stellen, weil Sie
mich etwas irritiert haben. Ist Ihnen bekannt, daß es kein
Studentengehalt, ähnlich dem Lehrlingsentgelt, gibt?
Denn BAföG ist bekanntlich zu Teilen zurückzuzahlen,
und die Azubis können ihr Geld behalten.
Vielen Dank für Ihre
Frage, Frau Böttcher. Richtig ist, daß ein Ausbildungsgeld, wie es bei der SPD in der Diskussion ist, da es sich
nach den bisherigen Vorschlägen der SPD allein auf
Studierende bezieht, ein Studentengehalt ist. Hierzu sagen wir ganz klar, daß dann entweder BAföG-Kriterien
einbezogen werden müssen - dann müssen Sie aber das
Unterhaltsrecht ändern - oder die Studierenden bis zum
27. Lebensjahr Zahlungen erhalten; das hätte Milliardenausgaben zur Folge und würde dazu führen, daß die
BAföG-Reform nicht finanzierbar wäre und die Studenten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten müssen.
Das halten wir für falsch. Deswegen haben wir eine seriöse, finanzierbare BAföG-Reform vorgelegt.
Erlauben
Sie eine Zusatzfrage von Frau Böttcher?
Bitte.
Herr Rachel, nehmen Sie
auch zur Kenntnis, daß es um niemand anderen als Studierende gehen kann, weil sie die einzige Gruppe sind,
die kein Geld erhält? Über wen sollte die SPD-Fraktion,
die Sie genannt haben, sonst sprechen und schreiben?
Frau Böttcher, ich
schlage vor, daß Sie sich damit auseinandersetzen, daß
es auch junge Erwachsene gibt, die in einer beruflichen
Ausbildung sind und ebenfalls BAföG bekommen können. Wir möchten, daß eine Gleichbehandlung derjenigen, die in einer beruflichen Ausbildung sind, und derjenigen an den Universitäten stattfindet. Ein Zweiklassenrecht wird es mit uns nicht geben.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren, mit dem Sockelbetrag lösen Sie das eigentliche BAföG-Problem nicht.
Das eigentliche Problem besteht nämlich darin, daß die
Förderquote seit Jahren sinkt, weil die Freibeträge
nicht ausreichend an die gestiegenen Lebenshaltungskosten angepaßt wurden. Deshalb machen wir den
Vorschlag, die Leistungen innerhalb des bestehenden
Systems deutlich zu erhöhen. Wir machen das Angebot
einer zügigen Reform zum Wohle der Studierenden
ohne Änderungen im Steuerrecht, ohne Änderungen im
Unterhaltsrecht und ohne verfassungsrechtliche Risiken.
Für unser Modell spricht, daß alle Auszubildenden
gleichbehandelt werden, egal, ob sie eine schulische
Ausbildung oder eine Hochschulausbildung wahrnehThomas Rachel
men. Eine finanzielle Besserstellung allein der künftigen
Akademiker wird mit uns nicht stattfinden.
Unser BAföG-Vorschlag ist auch gerecht, weil er,
dem Subsidiaritätsprinzip folgend, Personen aus
finanziell bessergestellten Familien von einer Inanspruchnahme öffentlicher Gelder ausschließt.
Mein Fazit: Unser BAföG-Modell ist realisierbar. Es
hilft den Studierenden, die darauf angewiesen sind. Deshalb möchte ich Sie herzlich bitten, dem Vorschlag der
Unionsfraktion zuzustimmen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Als
letzten Redner zu diesem Tagesordnungspunkt gebe ich
dem Parlamentarischen Staatssekretär Wolf-Michael
Catenhusen das Wort.
({0})
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, ein
wichtiges Ergebnis hat diese Debatte gebracht: Es hat,
wenn ich das richtig mitverfolgt habe, von allen Fraktionen des Hauses Erklärungen dazu gegeben, daß sich
auch die Bildungspolitik des Bundes in dieser Legislaturperiode am Ziel der Chancengerechtigkeit und
Chancengleichheit orientieren soll. Es ist von allen
Rednern hervorgehoben worden, daß wir gerade in der
Wissensgesellschaft nach dem modernen Verständnis
eines Generationenvertrages Verantwortung dafür tragen, daß durch optimale Bildungsbeteiligung, durch
möglichst hochwertige Bildung und durch den Abbau
von Zugangsschranken, die aus sozialen Gründen bestehen könnten, dem Prinzip der Chancengerechtigkeit zum
Erfolg verholfen werden soll.
({0})
({1})
Ich denke, meine Damen und Herren, wenn man etwa
zwischen sozialdemokratisch geführten Bundesländern
und christdemokratisch geführten Bundesländern einmal
die Übergangsquoten vergleicht, kommt man zu einem
sehr eindeutigen Ergebnis, wie es denn mit der Chancengerechtigkeit, etwa in der Frage der weiterführenden
Schulen, aussieht - ein Thema, das Sie sich, Frau Volquartz, ja in Ihrer Schattenrede heute zu eigen gemacht
haben. Ich hoffe, daß Vertreter CDU-geführter Kultusressorts der Länder genau dieselbe Rede halten werden,
die Sie heute hier gehalten haben.
({2})
Ich stimme Frau Volquartz ausdrücklich in ihrer Feststellung zu, daß Bildung und Forschung in Deutschland
hohe Priorität haben müssen. Ich denke, es ist ein gutes
Zeichen, daß, ausgelöst durch Erklärungen der Bundesministerin Frau Bulmahn, alle Fraktionen dieses Hauses
einen Wettstreit um ein aus ihrer Sicht möglichst gutes
BAföG-Modell begonnen haben.
({3})
Das ist ein großer Fortschritt.
Es ist auch ein Fortschritt, daß zumindest die F.D.P.
die Position, die noch im Bericht des federführenden
Ausschusses für Bildung und Forschung aus dem Jahre
1997 zur 19. BAföG-Novelle zu lesen war, aufgegeben
hat, daß Sie nämlich gesagt haben, man könne sich nur
eine kostenneutrale Strukturreform des BAföG vorstellen. Es ist gut, daß die F.D.P. diese Position jetzt, nach
zwei Jahren, aufgibt. Überhaupt bin ich der Meinung,
daß es eine schöne Entwicklung sein könnte, wenn wir
zu einer BAföG-Strukturreform kämen, die diesen Namen verdient und von einer breiten Mehrheit in diesem
Hause getragen wird, weil dies auch die Chancen erhöht,
daß wir hier zu einer Lösung kommen, die dann auf der
Länderseite breite Zustimmung finden wird. Wir brauchen diese Zustimmung.
({4})
Natürlich müssen Sie Verständnis dafür haben, daß
Sie sich bei Ihrem sportlichen Ehrgeiz, jetzt in der Frage
des Tempomachens mit der Regierung sozusagen Kopf
an Kopf zu laufen, die Frage gefallen lassen müssen,
was denn die Gründe für Ihre plötzliche Temposteigerung sind. Gut, wir haben Sie mit einer Ankündigung
herausgefordert; das ist in Ordnung. Aber man kann natürlich die leise Frage aufwerfen, ob nicht vielleicht
auch das Verdrängen des eigenen Versagens bei der Sicherung des Studiums für junge Menschen unabhängig
vom Geldbeutel der Eltern ein unausgesprochenes
wichtiges Motiv Ihrer heutigen Eile und der Vorlage
Ihrer Anträge ist. Es ist vielleicht auch ein bißchen
Freud, wenn Sie den Deutschen Bundestag jetzt feststellen lassen wollen - ich zitiere -:
Schon seit einigen Jahren sprechen sich alle Fraktionen des Deutschen Bundestages für eine umfassende Reform der Ausbildungsförderung … aus.
Wer so seine eigene Vergangenheit zu kompensieren
versucht, meine Damen und Herren, darf sich nicht
wundern, wenn man dezent, aber erkennbar auf diese
interessante Entwicklung hinweist.
({5})
Ich denke Sie gehen in die richtige Richtung, und das
freut uns auch.
({6})
Frau Kollegin Pieper,
Ihre Frage, bitte.
Herr Catenhusen, ist Ihnen nicht bekannt, daß die F.D.P. in der Regierungskoalition mit der Union, damals aber eigenständig, mit
dem Drei-Körbe-Modell schon im Jahre 1995 einen
ähnlichen Antrag eingebracht hat?
Ja,
das weiß ich noch. Die Schwierigkeit ist nur, daß Sie
immer in dem Moment, wo Regierungsvorhaben zur
Abstimmung standen, den Ausschlag dafür gegeben haben, daß es in der Praxis zur Absage an weitergehende
Vorschläge gekommen ist. Und wenn ich Ihnen das
einmal vorsichtig sagen darf: Die Minister Möllemann
und Ortleb hatten ja beide zumindest einige Jahre Zeit,
das, was Sie dann im Jahre 1995 gefordert haben, in
Angriff zu nehmen. Aber ich respektiere die erkennbare
Bereitschaft der Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker aus CDU/CSU und F.D.P., mehr zu machen,
als die alte Regierung getan hat.
({0})
Frau Volquartz hat vorhin den kecken Satz formuliert, bei unserer Regierung sei der Finanzminister der
Bildungsminister. Das, liebe Frau Pieper, war offenkundig Ihr Problem. Sie haben 16 Jahre lang daran mitgewirkt, daß die Bildungsminister, ob von der F.D.P. oder
der CDU, objektiv den Auftrag hatten, mitzuhelfen, den
BAföG-Titel auszuplündern,
({1})
und zwar bei einem allgemeinen Anstieg des Bundesetats. Wir sind in einer ganz anderen Situation, um auch
das einmal deutlich zu machen. Wir haben das schwierige Unternehmen gestartet, eine Strukturreform des
BAföG in einer Situation vorzubereiten, in der der Bundeshaushalt real schrumpft.
({2})
Das ist ein ganz anderes Unternehmen, eine ganz andere Herausforderung als in den Jahren, in denen Sie
den Gesamtetat jährlich erhöht, gleichzeitig aber den
Bildungsetat gekürzt haben. Das ist doch die Entwicklung, mit der man sich - auch mit Würdigung Ihres Antrags, Frau Pieper, von 1995 - auseinandersetzen muß.
Herr Kollege Catenhusen, Frau Pieper hat eine zweite Frage.
Aber
gerne.
Frau Präsidentin, es handelt sich um eine Nachfrage. - Herr Staatssekretär, darf
ich Ihren Worten entnehmen, daß die Bundesregierung
bis Ende dieses Jahres noch eine BAföG-Reform in
Form eines Gesetzentwurfes vorlegen und nicht nur darüber reden wird?
Frau
Pieper, ich entnehme Ihrer Nachfrage, daß Sie glauben,
ich würde darauf in meinem vorbereiteten Redetext
nicht eingehen. Da ich dieser Erwartung nicht gerecht
werden will, verzichte ich an dieser Stelle darauf, Ihre
Frage zu beantworten, komme aber natürlich auf das
Thema zurück.
Die heutige Debatte ist - das ist wichtig - die Vorbereitung wichtiger Debatten im nächsten Jahr, in
denen bestimmte Ausgangspositionen beschrieben werden und in denen die Opposition die Chance sieht, zum
Thema strukturelle BAföG-Reform zum erstenmal nach
16 Jahren differenziert Stellung zu nehmen. Das ist in
Ordnung, und das begrüßen wir auch. Allerdings ist
- zumindest bei der Union - der Mut, was die Frage der
strukturellen Reformen angeht, offenkundig noch sehr
schwach entwickelt. Frau Kollegin Wimmer hat den
Beitrag im Plenum vom Herrn Kollegen Mayer vom Februar 1999 schon erwähnt. Ich will daraus einmal zitieren, denn er hat damals eine sehr begrüßenswerte Aussage getroffen:
Bei der Diskussion über die neue Struktur der Ausbildungsförderung sollten wir auch über unkonventionelle Modelle nachdenken. Es sind schon einige
vorgelegt worden. Ich füge hinzu, daß wir bereit
sind, darüber nachzudenken, ob die finanzielle Leistung des Kindergeldes den erwachsenen Studierenden direkt oder - wie bisher - über die Eltern
gegeben wird. Über diesen Punkt sollten wir durchaus einmal nachdenken.
({0})
Recht gebrüllt, Herr Kollege Mayer! Es wäre sehr
schön, wenn sich diese Ankündigungen auch im Gesetzentwurf der Union niedergeschlagen hätten.
({1})
Ich nehme auf Grund der Zwischenbemerkung von
Kollege Mayer zur Kenntnis, daß diese Absage nur vorläufig ist.
({2})
Das kann man zwar dem Text nicht entnehmen, aber es
wäre schön, wenn wir über die Frage eines Ausbildungsgeldes nicht nur gemeinsam mit der F.D.P. beraten
könnten, sondern wenn es auch die Bereitschaft der
Union gäbe, mit uns darüber konstruktiv zu reden.
({3})
Meine Damen und Herren, es gibt für die Bundesregierung keinen Anlaß, in der heutigen Debatte, die übrigens zirka eine Woche vor der Vorlage des nächsten
BAföG-Berichts liegt, die Eile der Opposition, die sich
nicht auf die Debatte, die nächste Woche in Kenntnis
dieses Berichtes gelaufen wäre, einlassen will, zu teilen.
Das ist Ihre Strategie; was Sie sich dabei gedacht haben,
ist nicht unser Problem. Wir hätten es für sinnvoll
gehalten, diese Debatte nächste Woche zu führen. Sie
gibt uns aber keinen Anlaß, von dem eingeschlagenen
Weg der gründlichen Vorbereitung einer strukturellen
BAföG-Reform abzugehen,
({4})
die in den Koalitionsfraktionen Unterstützung findet,
die, wie ich finde, für die Opposition diskussionsfähig
ist und die berechtigte Anliegen der Studierenden und
des Deutschen Studentenwerkes aufnimmt.
Es gibt nun einmal einen wichtigen Unterschied zwischen Regierungshandeln und Oppositionstun. Wir müssen mit der Bekanntgabe unserer Eckwerte auch die
Frage der Finanzierung beantworten können.
({5})
Da Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sich an Ihren
Finanzministern 16 Jahre lang die Zähne ausgebissen
haben, versuchen Sie jetzt, Ihre - ich nenne das einmal
so - Etappe des Dauerfrustes im Wettstreit um Wochen,
Monate und Tage zu kompensieren. Ich will Ihnen ganz
deutlich sagen: Wir haben den Ehrgeiz, unter schwierigen Umständen eine strukturelle Reform auf den Weg
zu bringen.
({6})
Wir sind in der Phase der Ressortabstimmung. An dieser
Stelle möchte ich Ihnen noch einmal die Grundprämissen, von denen wir uns bei unseren Reformüberlegungen
leiten lassen, deutlich machen.
({7})
- Wissen Sie, abstrakt ist das ja sehr überzeugend, von
einem Mitglied einer Regierungspartei, die selbst jahrelang die Bildungsminister gestellt hat, ist das aber eine
beschämende Aussage.
({8})
Es bleibt auch nach sozialdemokratischem Verständnis die staatliche Aufgabe, jedem jungen Menschen die
finanzielle Grundlage für eine den jeweiligen Fähigkeiten entsprechende qualifizierte Ausbildung zu sichern.
Das ist die subsidiäre Verpflichtung des Staates; sie
greift dort, wo die primär geforderte solidarische Verantwortung der Familiengemeinschaft finanziell überfordert ist.
Es ist nicht die Vorstellung der Bundesregierung, daß
diese Familienverantwortung mit der Volljährigkeit der
Kinder automatisch enden muß ({9})
Herr Kollege Catenhusen, es besteht der Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.
- ich
möchte zunächst diesen Gedanken zu Ende ausführen und daß, unabhängig von der finanziellen Leistungsfähigkeit der Eltern, ein bedarfsdeckender genereller
Zahlungsanspruch junger Auszubildender gegenüber der
staatlichen Gemeinschaft ein richtiger Weg ist. Dort
aber, wo die subsidiäre Pflicht des Staates mangels ausreichender finanzieller Leistungsfähigkeit der Familie
gefordert ist, muß der Staat gegebenenfalls mit einer der
Familie möglichen Teilleistung den vollen finanziellen
Bedarf eines jungen Menschen decken, der sich konzentriert und zielstrebig seiner Ausbildung widmen will
und soll.
Ich denke, wir haben als Gesellschaft ein bildungspolitisches Interesse daran, daß junge Menschen ihre
Ausbildung zügig durchlaufen können, ohne aus finanziellen Gründen zu studienzeitverlängernder Erwerbstätigkeit gezwungen zu sein.
Bitte, Frau Kollegin.
Ihre Frage, bitte,
Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär Catenhusen, Sie sind bislang die Aussage schuldig
geblieben, wann von Ihnen ein Konzept auf den Tisch
gelegt wird. Ich frage deshalb noch einmal: Wann wird
das der Fall sein?
Sie
müssen sich innerhalb Ihrer Fraktion einmal darauf verständigen, was Sie von mir wissen wollen. Die letzte
Frage lautete, ob wir Anfang des nächsten Jahres den
Gesetzentwurf vorlegen. Sie müssen das einmal im
Protokoll nachlesen. - Erlauben Sie mir, daß ich am
Schluß meiner Rede auf Ihre Frage eingehe.
Ein weiteres Prinzip sieht die Bundesregierung in der
sozial gerechten Verteilung staatlicher Förderleistungen.
Sie ist nicht allein durch das Subsidiaritätsprinzip gewährleistet. Zum einen nämlich gibt es im Rahmen des
Familienleistungsausgleichs die bekannte Diskussion
zur steuerrechtlichen Berücksichtigung: Wegen des progressiven Steuertarifs wirkt sich für die Gruppe der Einkommensstärkeren ein Freibetrag in absoluten Beträgen
stärker aus als bei Einkommensschwächeren; das hat
Herr Berninger in seinem Beitrag angesprochen. Zum
anderen gibt es auch innerhalb der Gruppe der Förderungsberechtigten in der Spreizung zwischen Teil- und
Vollförderung, je nach eigener finanzieller Leistungsfähigkeit, noch erhebliche Unterschiede hinsichtlich der
Folgen einer finanziellen Beteiligung der Studierenden
selbst durch die darlehensweise gewährten Förderungsanteile.
Hierzu hat Frau Ministerin Bulmahn bereits im
Frühjahr dieses Jahres deutlich gemacht, daß wir es
nicht für sozial ausgewogen halten, ausgerechnet die finanziell Schwächsten, die folglich den höchsten FörderParl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen
anteil erhalten, mit der höchsten Darlehensbelastung in
das Berufsleben zu entlassen.
({0})
Wir begrüßen es sehr, daß Sie in Ihren Anträgen die
Vorschläge von Frau Bulmahn aufgenommen haben.
({1})
Ich freue mich, heute feststellen zu können, daß ein
wichtiger Baustein unserer BAföG-Reform Ihre inhaltliche Unterstützung finden wird.
Zum Thema „Zusammenspiel staatlicher Transferleistungen“, das im Rahmen der Reform der Ausbildungsförderung unter dem Stichwort „Sockelmodell“ vielleicht etwas verkürzt diskutiert wird, hat Frau Bulmahn
schon im Sommer deutlich gemacht, daß für sie die
Chancengleichheit für Jugendliche von einkommensschwächeren Eltern im Vordergrund steht. Sie hält Verbesserungen sowohl hinsichtlich der Zahl der Förderberechtigten als auch hinsichtlich der Förderkonditionen
innerhalb der Gruppe der BAföG-Empfänger für unabdingbar.
Meine Damen und Herren, es gehört für uns zum modernen Generationenverständnis, daß künftig volljährige
junge Menschen in Ausbildung mit finanziell leistungsfähigen Eltern nicht ausschließlich auf den monatlichen
Wechsel der Eltern angewiesen sind.
({2})
Die Frage des Kollegen Rachel, ob dies allein auf BAföG-Empfänger begrenzt bleibt oder ob auf Grund der
Gleichheitsgrundsätze ein solches Ausbildungsgeld
nicht auch an alle jungen Menschen, die sich in der
Ausbildung befinden, gezahlt werden soll, ist berechtigt.
Aber das muß natürlich Auswirkungen auf das finanzielle Volumen dieser Strukturreform haben.
Es gibt deutliche Anhaltspunkte dafür, daß nicht alle
Eltern die für die Ausbildung ihrer Kinder zugedachten
staatlichen Leistungen in vollem Umfang oder überhaupt an ihre Kinder weitergeben. Die rechtlichen wie
auch finanziellen Fragen, die durch die verfassungsgerichtlichen Beschlüsse zum Familienleistungsausgleich
Ende des letzten Jahres aufgeworfen wurden, haben
einen umfangreichen Prüfungsbedarf ergeben, über den
sich die Oppositionsfraktionen mit einem eleganten
Sprung hinwegsetzen können. So ist im Gesetzentwurf
der F.D.P. die Formulierung zu finden:
Diese Kosten sind weitgehend deckungsfähig durch
die bisher in Form des Kindergeldes bzw. Kinderfreibetrages und Ausbildungsfreibetrages bereitgestellten Mittel.
Meine Damen und Herren, das Schöne dabei ist, daß
hinter dem Wort „weitgehend“ eine bestimmte Summe
steht. Vielleicht können Sie es selbst einmal sagen: Meinen Sie damit eine halbe Milliarde DM, 1 Milliarde DM,
2 Milliarden DM? Das ist eine spannende Frage. Oder
meinen Sie damit die 5 Milliarden DM, die Herr Berninger in den Raum stellt? Wir werden kein Papier vorlegen, in dem wir bei der Frage der Finanzierung von
„weitgehend“ sprechen, sondern wir werden auf Mark
und Pfennig gegenrechnen müssen.
({3})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß noch folgende Feststellung machen: Wir haben
einen umfangreichen Prüfungsbedarf. Er war größer, als
wir zu Jahresanfang vermuten konnten - durch das Verfassungsgerichtsurteil, durch das Zukunftsprogramm der
Bundesregierung. Dadurch wird uns nämlich zu der Investitionsmilliarde, die wir bekommen, ein solidarischer
Beitrag zur Abdeckung des Defizits im Bundeshaushalt
im Rahmen der Neuverschuldung auferlegt. Das sind
Herausforderungen, die wir bewältigen müssen. Wir
stehen bei der Aufstellung der Eckpunkte der Ausbildungsförderung jetzt in Zusammenarbeit mit den beteiligten Ressorts. Wir sind mit den Arbeiten in unserem
Ministerium fertig. Sie verstehen, daß wir in dieser Frage mit dem Familienministerium, dem Finanzministerium und dem Justizministerium gewisse Absprachen
herbeiführen müssen. Wir sind zuversichtlich, daß wir
bald zu einem guten Ergebnis kommen.
({4})
Ich sage Ihnen allerdings auch zu der wunderschönen
Frage der Opposition: 16 Jahre haben Sie an der Struktur
nichts geändert, aber die heutige Regierung wird daran
gemessen, ob sie morgen oder übermorgen handelt.
Meine Damen und Herren, bei dieser Meßlatte bleiben
wir heute sehr gelassen.
({5})
Wir stehen mit dieser BAföG-Reform im Wort gegenüber den Studierenden. Ich glaube, daß wir dieses Versprechen auch einlösen werden.
({6})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/2031 zu überweisen: zur federführenden
Beratung an den Ausschuß für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den
Rechtsausschuß, den Ausschuß für Arbeit und Sozial-
ordnung, den Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend und den Haushaltsausschuß. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht
der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/2253 zu überweisen: zur federführenden
Beratung an den Ausschuß für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den
Rechtsausschuß, den Finanzausschuß, den Ausschuß für
Arbeit und Sozialordnung, den Ausschuß für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend und den Haushaltsaus-
schuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung. Gibt es hierzu
anderweitige Vorschläge? - Auch das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16a bis 16d sowie
Zusatzpunkt 5 auf:
16. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Protokoll vom 29. November 1996 auf Grund
von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union betreffend die Auslegung des
Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Wege der
Vorabentscheidung ({0})
- Drucksache 14/2120 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({1})
Finanzausschuß
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Verlängerung der Geltungsdauer des Internationalen Kaffee-Übereinkommens von 1994
- Drucksache 14/2125 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({2})
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Rosel Neuhäuser, Petra Pau und der
Fraktion der PDS
Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis für lange in Deutschland lebende
Ausländerinnen und Ausländer ({3})
- Drucksache 14/2066 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({4})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 1999
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 12 26
Titel 732 01 - Baumaßnahmen zur Unterbringung der Bundesregierung außerhalb
des Parlamentsviertels in Berlin - in Höhe
von 105 Mio. DM und bei Kapitel 12 26 Titel 526 45 - Planungskosten für Baumaßnahmen außerhalb des Parlamentsviertels
in Berlin - in Höhe von 15 Mio. DM
- Drucksache 14/1809 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß ({5})
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP5 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Eigentumsfristengesetzes ({6})
- Drucksache 14/2250 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder ({7})
Rechtsausschuß
b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fortsetzung der Berichterstattung der Bundesregierung zum Stand der Deutschen
Einheit
- Drucksache 14/2238 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder ({8})
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuß
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen, wobei die Vorlage auf Drucksache 14/2125
zusätzlich an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten überwiesen werden soll.
Weiterhin wird interfraktionell vorgeschlagen, die
Vorlage auf Drucksache 14/2250 zu überweisen: zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder und zur Mitberatung an den
Rechtsausschuß.
Die Vorlage auf Drucksache 14/2238 soll überwiesen
werden: zur federführenden Beratung an den Ausschuß
für Angelegenheiten der neuen Länder und zur Mitberatung an den Finanzausschuß, Sportausschuß, Innenausschuß, den Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend, den Ausschuß für Gesundheit, den Ausschuß für Kultur und Medien, den Ausschuß für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuß für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten, den Ausschuß für Arbeit
und Sozialordnung und den Ausschuß für Verkehr, Bauund Wohnungswesen, den Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung und den Haushaltsausschuß. Gibt es hierzu anderweitige Vorschläge?
- Auch das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 17a bis
17i sowie Zusatzpunkt 6. Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache
vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 17a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung der Statistiken der Schifffahrt und des Güterkraftverkehrs
- Drucksache 14/1829 ({9})
Vizepräsidentin Petra Bläss
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({10})
- Drucksache 14/2251 Berichterstattung:
Abgeordneter Wilhelm-Josef Sebastian
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen?- Der Gesetzentwurf ist wieder einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 17b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Feststellung des Wirtschaftsplans des
ERP-Sondervermögens für das Jahr 2000 ({11})
- Drucksache 14/1929 ({12})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({13})
- Drucksache 14/2257 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Kutzmutz
Hierzu liegt der Antrag auf eine persönliche Erklärung des Kollegen Rolf Kutzmutz, PDS-Fraktion, vor.
Bitte, Kollege Kutzmutz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich halte das ERP-Sondervermögen
nach wie vor für das mit Abstand wichtigste Darlehensförderinstrument für Existenzgründer und Mittelständler.
Gerade deshalb möchte ich mein gegenüber den Vorjahren verändertes Abstimmungsverhalten begründen und
zugleich bedauern, daß sich nur PDS und CSU ursprünglich für eine Debatte im Plenum eingesetzt haben.
Ich lehne den Entwurf des ERP-Wirtschaftsplans
2000 ab, weil die Förderkulisse gegenüber dem Ansatz
von 1999 um 2,5 Milliarden DM reduziert werden soll.
Die Begründung, man bewege sich damit im Rahmen
der tatsächlichen Ausgaben dieses Jahres, ist für mich
nicht stichhaltig. Alle zugänglichen Geschäftszahlen der
beiden bundeseigenen Förderbanken belegen, daß deren
Eigenprogramme im Existenzgründungs-, Mittelstandsund Umweltbereich in diesem Jahr erheblich stärker in
Anspruch genommen wurden, also den Betroffenen offensichtlich die günstigeren, aber eben auch haushaltswirksamen ERP-Konditionen gezielt vorenthalten werden.
Ich lehne den Entwurf und die damit verbundene
Kürzung darüber hinaus deshalb ab, weil mit den gegenwärtig steigenden Marktzinsen erfahrungsgemäß
auch die gezielte Nachfrage nach ERP-Förderung anschwellen wird und so das geringe Fördervolumen sich
tatsächlich in weniger Arbeitsplätzen als eigentlich
möglich niederschlagen wird.
Ich lehne den ERP-Haushalt 2000 ab, weil die Bundesregierung - wie schon 1999 und anders als ihre Vorgängerin - keinerlei Zinszuschüsse aus dem Bundeshaushalt für Kredite für Investitionen in den neuen Bundesländern bereitstellen will, gerade durch diesen fehlenden dreistelligen Millionenbetrag aber die ERPFörderung als Ganzes, und zwar in Ost wie in West, verringert wird.
Ich lehne den ERP-Haushalt auch ab, weil die statt
dessen nun beginnende sogenannte konservative Anlage
von ERP-Vermögen an den Kapitalmärkten meines Erachtens Risiken für die Substanz und damit für die Förderkulisse als Ganzes in sich birgt, die von den vergleichsweise bescheidenen Mehreinnahmen nicht aufgewogen werden; denn wer einmal anfängt anzulegen,
der wird zwangsläufig immer kecker und spekuliert so
lange, bis er sich und damit das Vermögen verspekuliert
hat.
Ich lehne den ERP-Haushalt darüber hinaus ab, weil
die Bundesregierung im kommenden Jahr mindestens
ein halbe Milliarde DM weniger zur Refinanzierung des
alten Eigenkapitalhilfeprogramms als erforderlich bereitstellen will und damit absehbar nicht nur den Finanzrahmen der mit dessen Abwicklung betrauten Förderbank belastet. Sie führt zugleich das Hauptmotiv für die
Überführung dieses wichtigen Förderprogramms in das
ERP-Sondervermögen ad absurdum, die Eigenkapitalhilfe von der Kassenlage des jeweiligen Bundesfinanzministers unabhängiger zu gestalten.
({0})
Ich lehne den ERP-Haushalt 2000 nicht zuletzt deshalb ab, weil sich in der gestrigen Sitzung des federführenden Ausschusses herausstellte, daß von Parlamentariern - im konkreten Fall der CSU und F.D.P. - bereits
vor Monaten eingereichte Fragen bis gestern nicht
beantwortet waren. Schon aus diesem Grund ist die
Beschlußfassung heute eigentlich unzulässig.
({1})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, der Ausschuß für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/2257, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen, sich zu erheben. - Wer
Vizepräsidentin Petra Bläss
stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen
die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 17c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten
Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes
- Drucksache 14/2095 ({0})
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
- Drucksache 14/2252 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Arndt-Brauer
Jochen-Konrad Fromme
Klaus Wolfgang Müller ({2})
Carl-Ludwig Thiele
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17d auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({3}) zu
dem Änderungsantrag der Abgeordneten Monika Balt, Dr. Dietmar Bartsch, Petra Bläss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS zu
dem Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU,
BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN, F.D.P. und PDS
Weitergeltung von Geschäftsordnungsrecht
- Drucksache14/1, 14/3, 14/2008 Berichterstattung:
Abgeordnete Roland Claus
Joachim Hörster
Dr. Uwe Küster
Steffi Lemke
Der Ausschuß empfiehlt, den Änderungsantrag auf
Drucksache 14/3 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der
PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 17e auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({4}) zu der Unterrichtung durch die Präsidentin des Bundesrechnungshofes
Bericht des Bundesschuldenausschusses über
seine Tätigkeit sowie die Verwaltung der Bundesschuld im Jahre 1998
- Drucksachen 14/1430, 14/1616 Nr. 1.6,
14/2093 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael von Schmude
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Uwe-Jens Rössel
Der Ausschuß empfiehlt, den Bericht entsprechend
der Drucksache 14/1430 zur Kenntnis zu nehmen. Wer
stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen jetzt zu den Beschlußempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 17 f:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 98 zu Petitionen
- Drucksache 14/2193 Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht
98 ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 g:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 99 zu Petitionen
- Drucksache 14/2194 Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 99 ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion
und der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 h:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 100 zu Petitionen
- Drucksache 14/2195 Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 100 ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 i:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 101 zu Petitionen
- Drucksache 14/2196 Vizepräsidentin Petra Bläss
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 101 ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({9}) zu dem Entwurf
eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2000 ({10})
hier: Abstimmung einer Entschließung unter
Nr. 2 der Beschlußempfehlung
- Drucksachen 14/1400, 14/1680, 14/1923 Der Haushaltsausschuß empfiehlt unter Nr. 2 seiner
Beschlußempfehlung auf Drucksache 14/1923 die Annahme einer Entschließung. Es handelt sich um die Aufforderung der Bundesregierung, die sogenannte Ministerialzulage zu überprüfen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 und den Zusatzpunkt 7 auf:
5. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
- Drucksache 14/2139 ZP7 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Entbindung von der Schweigepflicht gegenüber dem Untersuchungsausschuß
- Drucksache 14/2236 Zu dem Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
F.D.P. vor, über den wir nach Schluß der Aussprache
namentlich abstimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPDFraktion hat der Kollege Frank Hofmann.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Die „Frankfurter Rundschau“ titelt heute: „Merkel sieht CDU in ‘schwieriger
Lage’“.
({0})
Mit dieser Aussage gesteht die Generalsekretärin nachträglich ein, daß das Konzept der CDU in der Aktuellen
Stunde vom 10. November nicht aufgegangen ist.
({1})
Sie, Frau Merkel, haben uns, der SPD, vorgeworfen, wir
würden nur ablenken wollen. Nur zwei Wochen später
läßt sich auf Grund der Eingeständnisse aus den Reihen
der CDU das Fazit ziehen: Sie haben ein Ablenkungsmanöver erster Güte inszeniert; gebracht hat es Ihnen
nichts.
({2})
Der Deutsche Bundestag wird heute die Einsetzung
des Untersuchungsausschusses beschließen. Der Ausschuß soll und wird aufklären, inwieweit Spenden, Provisionen und andere finanzielle Zuwendungen oder
Vorteile an die von CDU/CSU und F.D.P. geführte
Bundesregierung geflossen sind. Der Ausschuß soll und
wird aufklären, inwieweit diese dazu geeignet waren,
politische Entscheidungsprozesse zu beeinflussen bzw.
Entscheidungsprozesse beeinflußt haben.
Dem Hause liegt ein Änderungsantrag der F.D.P. vor,
der unseren Antrag zwar insgesamt übernimmt, ihn aber
auf die damaligen Oppositionsparteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS erweitert.
({3})
Dies halte ich - mit Verlaub - für geradezu lächerlich.
({4})
Wie konnten Spenden an die PDS die damals von
CDU/CSU und F.D.P. geführte Bundesregierung beeinflussen? Auf die Erklärung, wie das funktionieren soll,
Herr Gerhardt, bin ich gespannt.
({5})
Praktisch zielt der Antrag darauf ab, Zeugen der
SPD zu vernehmen. Das kann der Untersuchungsausschuß ohnehin. Dies ergibt sich bereits aus dem Antrag
der Regierungskoalition. Die F.D.P. will sich offenbar
mit ihrem Antrag ins Gespräch bringen. In Wahrheit gerät sie damit nur ins Gerede. Wir lehnen den Antrag ab.
({6})
Auf Vorschlag des Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion hat der geschäftsführende Vorstand heute
beschlossen, daß dem Ausschuß 15 Mitglieder angehören sollen.
({7})
Die SPD-Bundestagsfraktion beantragt hiermit, die Zahl
der Ausschußmitglieder auf 15 festzusetzen, die nach
dem System von Ste. Laguë/Schepers bestimmt werden.
({8})
Warum? - Wir lassen uns nicht auf Nebenkriegsschauplätze ein; wir wollen zur Sache kommen.
({9})
Vizepräsidentin Petra Bläss
In der CDU mangelt es noch immer an der Bereitschaft, die Karten auf den Tisch zu legen. Wo ist die
Koffermillion? Wie ist das mit den Konten in der
Schweiz? Heiner der Wissende, Volker der Ahnungslose? Wie paßt das zusammen?
({10})
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, wir geben Ihnen mit unserem Entschließungsantrag Gelegenheit, die Aufklärung zu beschleunigen.
Entbinden Sie Ihre Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, insbesondere Herrn Weyrauch, von der Schweigepflicht.
({11})
Helmut Kohl hat Spenden kassiert, versteckt, verschwiegen, verheimlicht und sich ein eigenes Finanzreich geschaffen. Woher kamen die Schwarzgelder? Von
wem kamen sie? Wo gingen die Gelder hin? Wofür haben die Spender Gelder gegeben? War das nur so zum
Spaß, um sich selbst eine Freude zu machen, oder haben
sie handfeste Interessen verfolgt und durchgesetzt? Wofür hat Kohl die Gelder ausgegeben? Hat er das nur so
getan, um sich selbst eine Freude zu bereiten, oder hat er
damit handfeste Interessen verfolgt und durchgesetzt?
Gab es einen Geheimbund Kohl/Kiep/Weyrauch/Lüthje?
Oder wußte die Parteispitze Bescheid?
Wie kommen Sie eigentlich, Frau Merkel und Herr
Schäuble, mit der Häme der CSU klar? Der Vorsitzende
der CSU-Landesgruppe behauptet stolz: Bei uns in der
CSU gibt es keinen patriarchalischen Führungsstil.
({12})
Der Generalsekretär der CSU will Ihnen, Frau Merkel,
ein bis zwei Tage Zeit lassen, dann werde die Koffermillion auftauchen. Ist das noch Ihre Schwesterpartei?
({13})
Helmut Kohl hat sich durch die Verteilung von Geldern seine Macht gesichert. Er habe es nicht zu seinem
eigenen persönlichen Vorteil gemacht, wie er in seiner
Mea-culpa-Erklärung behauptet, sondern für die CDU.
Diese Mea-culpa-Erklärung von Herrn Kohl enthält Entschuldigungsgründe, die ebenso der Gedankenwelt eines
Mario Puzo entsprungen sein könnten. Was ist das für
ein Verständnis von Parlamentarismus und Demokratie,
wenn Gesetze weniger wichtig sind als persönliches
Vertrauen?
({14})
Was hält so ein Parteivorsitzender eigentlich von uns,
vom Parlament, vom Gesetzgeber, von der Bevölkerung?
Helmut Kohl hat gewußt, welche Wirkung Geld hat,
als er die Schwarzgelder verteilte. Welche Wirkung
hatten die Schwarzgelder auf Helmut Kohl? Ist dies
nicht eine bestechende Logik?
({15})
Einen Neuanfang ohne vollständige Aufklärung kann
es nicht geben. Der Untersuchungsausschuß muß und
wird aufklären - aufklären bei der Schmierölspur von
Leuna, bei den Schmiergeldpanzern, die nach SaudiArabien geliefert wurden, sowie bei den Airbus- und
Hubschraubergeschäften mit Kanada und Thailand.
Der Untersuchungsausschuß muß und wird einen
wichtigen Beitrag für unsere Demokratie leisten.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt
der Vorsitzende der Fraktion der CDU/CSU, Wolfgang
Schäuble.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Um das Wichtigste zuerst zu sagen: Die CDU/CSUFraktion stimmt dem Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu.
({0})
Ich bin, Herr Kollege Hofmann, ein wenig überrascht,
wie man in einer Rede - das haben Sie gerade schön
gemacht - sagen kann, welchen riesigen Aufklärungsbedarf man hat, aber wenn man Ihnen zugehört hat, hatte
man zugleich den Eindruck, Sie wüßten schon alles,
denn Sie haben alle Wertungen schon vorgetragen.
({1})
Also, es ist ein schmaler Grat, und Sie waren doch ein
wenig in der Gefahr, mißverstanden zu werden, als würden Sie alles schon wissen und als würden Sie eine
Menge Behauptungen aufstellen. Das könnte ja den Eindruck erwecken, als ginge es Ihnen gar nicht um Aufklärung,
({2})
sondern darum, möglichst viele Verdächtigungen auszustreuen, so nach dem Motto, daß immer etwas hängenbleibt.
({3})
Wir stimmen dem Antrag auf Einsetzung des Untersuchungsausschusses zu, weil wir in der Tat der Meinung sind, daß, wenn der Verdacht besteht, Entscheidungen einer Bundesregierung, der Regierung von HelFrank Hofmann ({4})
mut Kohl oder irgendeiner anderen, aber hier geht es um
die Regierung von Helmut Kohl - ({5})
- Verehrte Kollegen, wir sind der Meinung, wenn der
Verdacht besteht, Entscheidungen einer Bundesregierung, in diesem Fall Entscheidungen der Regierung von
Helmut Kohl, seien durch Zahlungen von Geld beeinflußt worden, dann ist das ein so schwerwiegender Verdacht, daß er im Interesse unserer Demokratie so rasch,
vollständig, lückenlos und vorbehaltlos wie irgend möglich aufgeklärt werden muß. Deswegen stimmen wir
dem Antrag auf Einsetzung des Untersuchungsausschusses zu.
({6})
Ich sage Ihnen meine persönliche Meinung auch
gleich an dieser Stelle. Ich bin sehr sicher in meiner Einschätzung - ({7})
- Herr Kollege Ströbele, ich darf doch meine Meinung
sagen. Es gehört ja zu den ganz grundlegenden und fundamentalen Rechten einer freiheitlichen Demokratie,
daß man seine Meinung sagen kann.
Ich bin mir in der Einschätzung sicher, daß Entscheidungen der Regierung Kohl - ich vermute übrigens,
Entscheidungen jeder Bundesregierung, die wir in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hatten niemals käuflich gewesen sind, und ich hoffe, daß dies
auch in der Zukunft so bleiben wird. Ich werde alles,
was in meiner Möglichkeit steht, tun, damit auch in Zukunft sicher gestellt wird, daß niemals der Verdacht,
Entscheidungen einer frei gewählten Regierung der
Bundesrepublik Deutschland seien käuflich, Bestätigung
finden kann.
({8})
Wir leisten unseren Beitrag; die Sache ist für uns
nicht einfach, es schadet uns auch, niemand von uns hat
Freude daran. Daran gibt es doch gar keinen Zweifel.
Schadenfreude ist übrigens etwas, was ich verstehen
kann. Wir haben sie manchmal auch, aber meistens
währt sie nicht so furchtbar lange. Deswegen: Genießen
Sie sie, denn sie ist bald wieder vorbei.
Jetzt will ich noch eine zweite Bemerkung machen.
Ich hoffe, Sie halten sich an Ihren eigenen Antrag.
Ich bin übrigens froh, daß wir uns über die Anzahl
der Ausschußmitglieder und die Zusammensetzung des
Ausschusses nicht mehr streiten müssen. Es ist gut, daß
wir in diesem Punkt übereinstimmen.
Was den Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses anbetrifft, möchte ich, damit Sie
wissen, was Sie beantragen und wem wir zustimmen
sollen, folgendes sagen: Sie beantragen, zu prüfen, ob
Zahlungen
geflossen sind bzw. gewährt wurden, die dazu geeignet waren, politische Entscheidungsprozesse
dieser Bundesregierungen und/oder deren nachgeordnete Behörden zu beeinflussen …
({9})
- Ja, aber in diesem Zusammenhang. - Es kann also
nicht darum gehen, die Finanzpraxis einer Partei - in
diesem Fall der Christlich Demokratischen Union - mit
den Mitteln eines Untersuchungsausschusses aufzuklären.
({10})
- Bleiben Sie ganz ruhig. Mir liegt daran, daß wir es in
großer Ruhe klären. - Wir haben im Laufe der Jahre,
gelegentlich durch Urteile des Verfassungsgerichts zusätzlich veranlaßt, die Regeln für die Parteienfinanzierung generell, einschließlich der Rechnungslegung, verschärft. Diese Regeln gelten, an diese Regeln müssen
wir uns halten.
({11})
- Entschuldigung, ich rede gerade öffentlich, und jeder,
der es hören will und der ein Interesse daran hat, daß es
geklärt wird, soweit es geklärt werden kann, kann es hören. Sie erwarten doch von uns und im besonderen von
mir Beiträge zur Klärung. Nehmen Sie es doch so, wie
ich es sage. Sie können gar nichts dagegen einwenden.
Wir alle müssen uns an diese Regeln halten. Das hat
zweierlei Konsequenzen. Die Regeln über die Rechnungslegung und über die Veröffentlichung von Parteifinanzen sind abschließend. Es kann nicht sein, daß die
eine Partei strengeren Maßstäben oder anderen Mitteln,
zum Beispiel denen der Strafprozeßordnung oder denen
eines Untersuchungsausschusses,
({12})
anderen Regelungen von Transparenz, Öffentlichkeit und
Rechnungslegung als die anderen Parteien unterliegt. Die
Wettbewerbsgleichheit muß eingehalten werden.
({13})
Deswegen sage ich mit großer Ruhe und Klarheit: Wenn
der Untersuchungsausschuß dazu mißbraucht werden
sollte, dann würde er rechtswidrig handeln. Wir werden
genau diese Grenze mit aller Entschiedenheit einhalten.
Damit es auch klar ist: Die Angelegenheit hat eine
weitere Seite. Für uns selber besteht Anlaß - ich habe
das ja vor zwei Tagen der Öffentlichkeit gesagt -, zu
überprüfen - wir machen Sonderprüfungen, parteiintern
wie durch unabhängige Wirtschaftsprüfer -, ob wir, die
Christlich Demokratische Union, uns an die Regeln des
Parteienfinanzierungsgesetzes gehalten haben. Ich sage
vor dem Forum der Nation und vor der deutschen Öffentlichkeit: Die Christlich Demokratische Union wird
alles tun, damit auch für die Vergangenheit geklärt wird,
ob wir uns an das Parteienfinanzierungsgesetz gehalten
haben. Soweit wir uns daran nicht gehalten haben, werden wir das, was irgend möglich ist, nachholen. Wenn
sich daraus Konsequenzen ergeben, dann sind sie für uns
bitterer als für andere. Dazu stehen wir. Die Prüfung
muß aber nach den Regeln des Parteienfinanzierungsgesetzes und nicht nach anderen vonstatten gehen.
Herr Kollege Struck, ich bitte bei der Frage dieses
Antrags - er gehört eigentlich eher in den Untersuchungsausschuß als ins Plenum - zu berücksichtigen, ob
und inwieweit wir einen Menschen, der als Wirtschaftsprüfer für uns tätig war, von seiner Schweigepflicht entbinden müssen. Da ist die Grenze: Soweit es
zum Untersuchungsauftrag gehört: ja, soweit es um die
allgemeine Parteienfinanzierung geht: nein.
({14})
Sonst schafft man eine dauerhafte Ungleichheit der Bedingungen für den Wettbewerb zwischen den Parteien.
({15})
- Vielleicht mögen Sie nicht verstehen. - Diese Grenze
bitte ich einzuhalten.
({16})
Ich sage Ihnen: Wir werden alles, was in unseren
Möglichkeiten steht, zur Aufklärung dessen, was nach
dem Einsetzungsantrag zum Untersuchungsauftrag des
Untersuchungsausschusses gehört, beitragen. Wir werden das, was die Finanzierung der CDU angeht, was die
Finanzierung und das Finanzgebaren der CDU
Deutschlands anbetrifft, soweit es irgend möglich ist, in
Ordnung bringen. Auch wenn die Konsequenzen bitter
sind, werden wir sie tragen. Wir arbeiten mit Hochdruck
an der Aufklärung.
Ich möchte darauf hinweisen, wie leicht eine Aussage
mit einem Dunstschleier aus Verdächtigungen, Gerüchten und Andeutungen umgeben wird. Ich habe beispielsweise erlebt, wie eine große deutsche Tageszeitung
angesichts meiner Aussage - diese ist nach meiner sicheren Erinnerung noch immer wahr -: „Ich habe Herrn
Weyrauch noch nie in meinem Leben getroffen“ - man
muß wohl jetzt sagen: noch nicht getroffen; denn ich
werde ihn wahrscheinlich in absehbarer Zeit im Zuge
der Aufklärungsarbeit treffen - spekuliert hat, es sei
doch eigentlich ganz unwahrscheinlich, daß ich ihn nicht
getroffen habe. Eigentlich ist das eher nicht unwahrscheinlich. Es ist sofort gefragt worden: Wieso lügt der
Schäuble und sagt, daß er den gar nicht getroffen habe?
({17})
Ich hatte gesehen, daß Herr Kollege Struck das mißverstanden hat. Wenn ich anwesend gewesen wäre, hätte
ich ihm gleich gesagt, daß ihm wohl ein Irrtum unterlaufen sei; denn Sie haben aus meiner Aussage „Ich habe
Herrn Weyrauch nie getroffen“ geschlossen, daß ich
Herrn Schreiber nie getroffen hätte. Ich habe Herrn
Schreiber sehr wohl einmal getroffen.
({18})
- Ja, ich habe Herrn Schreiber getroffen. Ich sage Ihnen
auch, bei welcher Gelegenheit: Die damalige Schatzmeisterin der CDU Deutschlands, Brigitte Baumeister - eine
von mir hoch geschätzte Kollegin -, hatte im Wahlkampf - den genauen Zeitpunkt weiß ich nicht mehr; ich
glaube, es war 1994 - Persönlichkeiten, von denen wir
gehofft haben, daß sie uns durch Spenden helfen werden, unsere Wahlkampfkosten zu finanzieren, zu einem
Gesprächsabend eingeladen.
({19})
- Herr Ströbele, jetzt machen Sie mal langsam! Ich
erkläre es doch gerade. Welche Aufklärung wollen Sie
eigentlich, wenn Sie immer dann, wenn ich etwas sage,
dazwischenrufen? Sie bringen mich nicht aus der Ruhe.
Ich füge übrigens hinzu: Ich halte nach wie vor den
Einsatz von Mitgliedern, von Beitragszahlern, aber auch
von Menschen, die mit ihren Spenden die Arbeit demokratischer Parteien fördern, für demokratische Parteien
für verdienstvoll im Interesse unserer Demokratie. Ich
danke allen.
({20})
Aber die Regelungen des Parteiengesetzes müssen eingehalten werden. Wenn gegen sie verstoßen worden ist,
müssen die Konsequenzen getragen werden.
({21})
Wie gesagt: Brigitte Baumeister hat damals - dies
war irgendwann im Spätsommer oder im Frühherbst
1994 - Persönlichkeiten zu einem Gesprächsabend in
einem Hotel in Bonn eingeladen und sie mit dem Fraktionsvorsitzenden - dies war ich damals wie heute - zusammengebracht. Während dieses Gesprächsabends habe ich einen Herrn kennengelernt, der sich mir als ein
Mann vorgestellt hat, der ein Unternehmen leitet. Ich
habe später festgestellt, daß es dieser Herr Schreiber
war.
({22})
- Ich weiß nicht, verehrte Kolleginnen und Kollegen ich sage dies noch einmal mit großer Ruhe -, was Sie
eigentlich wollen: Wollen Sie nun, daß wir aufklären,
wie es war? Oder wollen Sie
({23})
jede wahre Erklärung durch Verdächtigungen und Verleumdungen immer gleich unmöglich machen? Überlegen Sie es sich!
({24})
Auf der damaligen Veranstaltung bin ich Herrn
Schreiber begegnet. Das war es.
({25})
- Ohne Koffer, das heißt: Ich habe vielleicht einen Aktenkoffer dabei gehabt. Ich weiß es nicht mehr genau. Es
ist jedenfalls im Spätsommer oder im Herbst 1994 weder von Panzern noch von ähnlichem die Rede gewesen.
Zum Abschluß möchte ich noch eine Bemerkung machen. Ich sage für die CDU Deutschlands als Parteivorsitzender und für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion als
Fraktionsvorsitzender: Wir werden alles dazu beitragen,
daß so rasch wie möglich und so vollständig wie möglich aufgeklärt wird, was Gegenstand des Untersuchungsausschusses ist. Wir werden alles aufklären, was
immer wir aufklären können. Wir werden das in Ordnung bringen, was - möglicherweise - nicht in Ordnung
gewesen ist, unabhängig von den Konsequenzen. Wir
werden dies insbesondere deswegen so schnell wie
möglich tun, weil es für unser Land notwendig ist, daß
wir wieder möglichst schnell über die Politik in diesem
Lande reden und nicht über Verdächtigungen und Affären. Die rotgrüne Regierung ist zu schwach. Unser Land
hat eine bessere Regierung verdient.
({26})
Deswegen brauchen wir eine starke Opposition. Diesem
Auftrag widmen wir uns weiterhin.
Genießen Sie in aller Ruhe die paar Tage, in denen
von den Schwächen, die Sie haben, abgelenkt wird!
Aber täuschen Sie sich nicht: In der deutschen Politik
ringen Mehrheit und Minderheit darum, welcher Weg
der richtige für die Zukunft unseres Landes ist. Unter
der Führung von Rotgrün war dieses Jahr ein verlorenes
Jahr für Deutschland.
({27})
Das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Christian Ströbele.
({0})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, daß der
Saaldienst den Besucher, der sich hier unzulässig verhalten hat, bereits abgeführt hat.
Es spricht jetzt der Kollege Christian Ströbele.
({1})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Das, was der Kollege Schäuble soeben gesagt
hat, hörte sich schon ganz anders an als das, was von der
rechten Seite des Hauses bei der Aktuellen Stunde vor
drei Wochen geäußert wurde. Damals wurden wir noch
beschimpft, daß wir ein Thema hochziehen und den
Deutschen Bundestag mit einer solchen Spendenaffäre
beschäftigen wollten.
Der Kollege Koppelin hat damals gesagt:
Ich habe auch den Eindruck, daß die CDU überhaupt nichts vertuscht.
Herr Kollege Koppelin, ich habe mich gewundert, warum Sie die CDU so in Schutz genommen haben.
({0})
Wenn ich aber heute im „Stern“ lese, daß Gelder an
Herrn Möllemann und an Herrn Genscher gezahlt worden sein sollen, dann kann ich das verstehen und auch
nachvollziehen, daß Sie sich so in die Bresche geworfen
haben.
({1})
Herr Kollege Ströbele, es gibt eine Frage des Kollegen Westerwelle. Lassen Sie diese zu?
Aber selbstverständlich, wir wollen doch
hier der Wahrheit dienen.
Herr Kollege
Ströbele, Sie haben hier soeben unter anderen den Ehrenvorsitzenden der Freien Demokratischen Partei HansDietrich Genscher beschuldigt, er habe Gelder bekommen, und gesagt, damit sei politisches Verhalten bewirkt
worden.
({0})
Dieses haben Sie ausdrücklich so erklärt. Sind Sie bereit,
eine solche haltlose Unterstellung zurückzunehmen, die
noch nicht einmal in diesem Artikel so erhoben wird? Es
ist eine Unverschämtheit, in welcher Art und Weise Sie
hier eine Persönlichkeit durch die Jauche ziehen!
({1})
Das ist eine unverschämte Art und Weise. Es zeigt, daß
Sie nicht Ihrem Berufsethos als Volljurist gerecht werden, sondern Wahlkampf betreiben und Diffamierungen
streuen. Das ist eine Unverschämtheit!
({2})
Herr Kollege Westerwelle, wenn ich den
Antrag, den Ihre Fraktion hier eingebracht hat, richtig
verstehe, gehen Sie dort von der Behauptung aus, daß
von der PDS über die SPD bis hin zum Bündnis 90/Die
Grünen alle Parteien an dieser Spendenaffäre beteiligt
sein sollen. Sonst macht dieser Antrag ja überhaupt keinen Sinn. Sie stellen solche Behauptungen in den Raum.
({0})
Ich habe nur eine Erklärung für diesen Reinwaschversuch des Kollegen Koppelin in der letzten Debatte des
Deutschen Bundestages zu diesem Thema zu finden versucht.
Kollege Ströbele, es
gibt eine weitere Frage des Kollegen Westerwelle.
Bitte, wenn Sie etwas Konkretes beizutragen
haben.
Sind Sie bereit,
Ihre eben aufgestellte Behauptung zurückzunehmen?
Sie haben ausdrücklich von Geldzahlungen an HansDietrich Genscher gesprochen.
({0})
Sind Sie ferner bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß im
Antrag der Freien Demokratischen Partei überhaupt keine Behauptungen aufgestellt wurden, sondern lediglich
von Fragen die Rede ist, die beantwortet werden müssen? Es ist ein Unterschied, ob man Fragen formuliert
oder Behauptungen aufstellt.
({1})
Herr Kollege Westerwelle, ich verstehe ja,
daß Sie sich ärgern, weil Sie nun zusammen mit der
CDU in dieser Affäre in einem Boot sitzen. Ich kann
aber nur zur Kenntnis nehmen, daß gestern in Tickermeldungen und heute im „Stern“ zu lesen ist, daß auch
Gelder in Richtung F.D.P. geflossen sein sollen. Das
wird man hier doch noch sagen dürfen. Oder darf die
ganze Bevölkerung darüber reden, nur wir im Deutschen
Bundestag nicht? Dieses müssen Sie doch einmal zur
Kenntnis nehmen.
({0})
Aber, Herr Kollege Westerwelle, ich bin sicher, daß wir
im Untersuchungsausschuß Gelegenheit haben, auch der
Frage nachzugehen, ob Gelder geflossen sind und, wenn
ja, warum, wohin, zu welchem Zweck und an wen.
({1})
Die Generalsekretärin der CDU, Frau Dr. Merkel, hat
in der letzten Debatte zu diesem Thema gemahnt, wir
sollten es mit der „gebührenden Wahrhaftigkeit“ behandeln. Frau Kollegin Merkel, Sie und Herr Kohl haben
sich an die Öffentlichkeit gewandt und erklärt, Sie hätten die Kassen der CDU überprüft, dort sei kein Geld
angekommen, dort sei die Million nicht angekommen.
Zugleich steht in der Presse und wird von Ihren Angestellten bestätigt, daß die Million zwar nicht angekommen, aber von der CDU-Spitze schon wieder ausgegeben worden sei, nämlich an ihre Angestellten: 370 000
DM an den einen und über 200 000 DM für Anwaltskosten an den ehemaligen Schatzmeister. Das müssen
Sie uns einmal erklären.
({2})
Erklären Sie uns nach der letzten Äußerung des Kollegen Kohl, daß er die Kassen geprüft habe und keinen
Eingang habe feststellen können, ferner einmal, ob er
denn auch die Kassen geprüft hat, die wir als schwarze
Kassen bezeichnen und von denen er wortschöpfend
sagt, das sei eine „von den üblichen Konten der Bundesschatzmeisterei praktizierte getrennte Kontenführung“!
So kann man versuchen, das zu umschreiben.
Aber es sind und bleiben schwarze Kassen, die man
anlegt, um zu verbergen, daß und woher man Geld bekommen hat, und um zu umgehen, daß das geschieht,
was im Parteiengesetz vorgeschrieben ist, daß man
nämlich das Geld deklariert und daß die Öffentlichkeit
und der Deutsche Bundestag davon erfahren und ihre
Kontrollrechte wahrnehmen können. Um diese Konten
geht es. Sind sie auch von Herrn Kohl überprüft worden? Ist da auch festgestellt worden, daß 1 Million DM
nicht eingegangen ist? Herr Weyrauch sagt als Zeuge
- immerhin vor einem Richter - etwas anderes, und Ihr
ehemaliger Bundesschatzmeister Leisler Kiep sagt auch,
daß er diese 1 Million DM dort eingezahlt habe.
({3})
Sagen Sie doch einmal etwas Konkretes. Schwafeln Sie
nicht herum und erzählen Sie nicht immer wieder, Sie
würden die Wahrheit ans Licht bringen und helfen. Das
tun Sie gerade nicht.
({4})
Der Abgeordnete Kohl hat vor zwei Tagen erklärt,
daß er von der Existenz dieser Konten gewußt und sie
für richtig gehalten habe. Er hat hinzugefügt, daß er,
falls es sich um ein Vergehen gegen das Parteiengesetz
handele, das „nicht gewollt“ habe. Wie kann uns Herr
Kohl, der heute leider nicht hier ist, erklären, daß er
schwarze Konten geführt habe, daß auf diesen schwarzen Konten Gelder eingegangen seien, daß er davon gewußt habe und daß er das Geld ausgegeben habe, aber
daß er nicht gewollt habe, daß das Parteiengesetz umgangen wird? Das paßt doch nicht zusammen. Wenn er
es gekannt und entsprechend gehandelt hat, dann hat er
es auch gewollt.
({5})
Wie kann er versuchen, uns und die Öffentlichkeit mit
solchen Haarspaltereien hinzuhalten? Die Wahrheit muß
hier auf den Tisch. Herumgerede reicht nicht.
({6})
Wir müssen jetzt Erklärungen Ihres damaligen Parteivorsitzenden sehr sorgfältig lesen. In dieser Erklärung
stand eben nicht, Entscheidungen der Bundesregierung
unter Leitung von Helmut Kohl seien niemals gekauft
worden. Vielmehr sagte er wörtlich, „von mir getroffene
politische Entscheidungen“ sollen nicht käuflich gewesen sein. Läßt das bewußt offen, daß vielleicht Entscheidungen von anderen Mitgliedern der damaligen Bundesregierung käuflich gewesen sind?
({7})
Ich rede nicht nur von dem damaligen Staatssekretär
im Verteidigungsministerium, dem inzwischen international mit Haftbefehl gesuchten Herrn Pfahls, sondern
ich rede auch von den anderen Mitgliedern der Bundesregierung, die an dem Panzergeschäft beteiligt gewesen
sind, weil sie ihm nach vorherigem Zögern und vorheriger Ablehnung zugestimmt haben. Gilt diese Erklärung
auch für diese Damen und Herren, oder gilt sie nur für
Helmut Kohl? Dieser Frage werden wir nachgehen.
Verzeihen Sie, nach dem, was wir von seiten der
CDU und des Helmut Kohl in der Flick-Spendenaffäre
an unwürdigem Spiel mit der Wahrheit und mit der aus
dem Sprachgebrauch nicht mehr wegzudenkenden Formulierung „Black out“ erlebt haben, können wir nicht
glauben, daß Helmut Kohl und die CDU-Spitze von
einem Koffer mit einer Million nichts gewußt haben,
ohne daß die ganze Wahrheit gesagt und nicht nur versichert wird, es seien keine Entscheidungen zu kaufen
gewesen. Immerhin hat der damalige Bundesschatzmeister der CDU diesen Koffer in einem Einkaufszentrum
am Bodensee in Empfang genommen.
Es steht nicht gut um die CDU. Sie können jeden Tag
die Zeitung aufschlagen - man kommt mit dem Lesen
überhaupt nicht nach - und etwas Neues erfahren. Heute
finden Sie in der „Welt“ wieder umfassende Erklärungen zu dem, was Sie, Herr Schäuble, hier zugegeben haben, nämlich daß Sie Herrn Schreiber getroffen und mit
ihm gesprochen haben. Das hat er selber in einem Interview erklärt.
({8})
Ich bin sicher: Das wird nicht die letzte Veröffentlichung sein; das wird nicht das letzte sein, was über
Ihre Konten, ihren Verwendungszweck und ihre Herkunft
herauskommt. Wir werden täglich neue Meldungen lesen
können. Ich frage mich: Wie wollen Sie der Bevölkerung
noch verkaufen, daß diese mageren Erklärungen, die Sie
heute gegeben haben, die volle Wahrheit sind?
({9})
Wir haben in diesem Land vor 30 Jahren eine Rebellion der Jugend, vor allen Dingen der studentischen Jugend, gegen die Verlogenheit und gegen das Verdrängen
von Wahrheiten des damaligen Establishments und der
damals herrschenden politischen Klasse gehabt. Wir finden heute bei den Wählerinnen und Wählern einen Politikverdruß vor, der sich durch die Weigerung, an
Wahlen teilzunehmen, politische Veranstaltungen zu besuchen und sich politisch zu artikulieren und zu engagieren, deutlich zeigt.
({10})
Sie tun alles, um diesen Frust der Bevölkerung, vor
allem den der Jungen, zu schüren, weil Sie ein gebrochenes Verhältnis zur Wahrheit haben.
({11})
Von Ihnen und den Funktionsträgern Ihrer Partei wird
immer nur gerade soviel zugegeben, wie ohnehin schon
bekannt ist, wie von der Staatsanwaltschaft schon ermittelt worden ist oder wie von Ihrem Dissidenten,
Herrn Geißler, schon durch Veröffentlichung in der
Zeitung bekanntgemacht worden ist. Nur das, aber nicht
die ganze Wahrheit wird zugegeben. So etwas erlebe ich
sonst nur - wenige Kilometer von hier entfernt - vor
dem Kriminalgericht in Moabit, vor dem sich kleine
Ganoven herausreden wollen.
({12})
Ich sage Ihnen: Wenn sich bewahrheiten sollte, daß
für die Entscheidung des Bundessicherheitsrates und
der Kohl-Regierung über den Verkauf der 36 FuchsPanzer an Saudi-Arabien Millionenbeträge an Regierungsmitglieder und an die CDU gezahlt wurden, dann
steht es ganz besonders schlecht um die CDU. Wenn
sich dann noch bewahrheiten sollte - in diesem Punkt
ermitteln die französischen Behörden, die in ihren Ermittlungen durch den Einbruch in das Büro der zuständigen Richterin und durch den Diebstahl eines großen
Teils der Akten behindert werden -, wenn dann noch
herauskommt, daß für den Verkauf von Minol und
Leuna an Elf Aquitaine Millionenbeträge auch an die
CDU geflossen sind, dann droht der CDU Deutschlands
das Schicksal ihrer Schwesterpartei in Italien.
({13})
Wenn Sie wirklich eine schnelle und schonungslose
Aufklärung - ohne Rücksicht auf das Ansehen von Personen - wollen und eine Staatskrise verhindern wollen,
dann sollte jeder, der Verantwortung getragen hat, vor
dem Deutschen Bundestag der deutschen Bevölkerung
mitteilen, was gewesen ist. Sagen Sie bei dieser Gelegenheit aber alles! Äußern Sie sich auch zu den Fragen,
ob die schwarzen Konten aus Immobiliengeschäften gefüttert worden sind und ob es auch im Norden Deutschlands Waffendeals gegeben hat! Legen Sie die Fakten
besser heute auf den Tisch, als daß sie übermorgen oder
nächste Woche in der Zeitung stehen!
Wenn Sie wirklich wollen, daß es nicht zu einer
Staatskrise kommt - wenn sich alles bewahrheiten
sollte, was heute über Korruptheit, Verflechtungen,
Schmiergeldzahlungen und Käuflichkeit bezüglich der
CDU und jetzt auch der F.D.P. in der Zeitung steht,
dann kommt es in der Tat zu einer Staatskrise -, dann
befreien Sie - und geben das zu Protkoll dieser heutigen
Bundestagssitzung - Ihren Steuerberater von der
Schweigepflicht.
Herr Kollege Ströbele, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Es geht um mehr. Es geht um die Erneuerungsfähigkeit und um die Glaubwürdigkeit der Politik
in diesem Lande, in Deutschland. Wenn es uns nicht gelingt, hier im Bundestag und im Untersuchungsausschuß
vollständig Klarheit zu schaffen, dann hat diese Republik durch Ihre Praktiken für immer einen Schaden erlitten.
({0})
Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt der Kollege Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Kollege Ströbele, Sie haben
mit Ihren haltlosen und unbewiesenen Behauptungen
und Unterstellungen gezeigt, daß Sie ganz offensichtlich
die Unschuldsvermutung des Rechtsstaates nicht kennen.
({0})
Ich hoffe, daß nach Ihrer skandalösen Rede die Grünen,
die Sie vorgeschickt haben, nie wieder behaupten werden, eine Rechtsstaatspartei zu sein.
({1})
Die F.D.P.-Fraktion sagt ein eindeutiges Ja zu dem
Untersuchungsausschuß. Wir sind für eine umfassende
Aufklärung und stehen zu der Verpflichtung des
Grundgesetzes, das in Art. 21 vorschreibt, daß Parteien
über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie
über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft ablegen
müssen. Schwarze Kassen sind damit ausgeschlossen,
und dies aus gutem Grunde. Für den Bürger muß nämlich nachvollziehbar sein, wer finanziellen Einfluß auf
die Parteien und ihre Funktionsträger hat, die in der
Politik entscheiden.
({2})
Aber nur, wenn von vornherein klar ist, daß mit völliger Offenheit aufgeklärt wird, werden wir den für die
Politik bereits eingetretenen Schaden begrenzen können.
({3})
Diese Offenheit sage ich für meine Fraktion und für
meine Partei zu.
Wir haben eine Erweiterung des Untersuchungsauftrages auf alle im Bundestag vertretenen Parteien
beantragt, um von vornherein zu verdeutlichen, daß es
keine Untersuchungshürden geben darf. Es hat mich
außerordentlich geärgert, daß es im Vorfeld nicht gelungen ist, zu einer einvernehmlichen Formulierung des
Untersuchungsauftrages zu kommen, was bisher nahezu
immer gelungen ist. Um so mehr freue ich mich über die
Unterstützung unseres Antrages durch die anderen
Oppositionsfraktionen.
Den Widerstand der Koalition kann ich mir nicht erklären. Wer nichts zu verbergen hat, muß doch für eine
völlige Offenheit sein!
({4})
Herr Kollege van
Essen, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Ströbele?
Nein. - Es darf keine
Auslegungstricks geben, ob die damaligen Oppositionsfraktionen zu den sonstigen Institutionen gehören, wie
sie der Antrag von SPD und Grünen aufführt. Man kann
nämlich mit gutem Grund der Auffassung sein, daß die
Beschränkung auf die damaligen Regierungsparteien
und -fraktionen
({0})
den Untersuchungsauftrag im Bereich der organisierten
Staatlichkeit, also Regierung und Parlament, ausdrücklich begrenzt.
({1})
Wie notwendig eine völlige Freiheit der Untersuchung ist, zeigt das Interview des Waffenhändlers
Schreiber im „Stern“.
({2})
- Hören Sie doch einmal zu. - Wenn er dort zu erkennen
gibt, daß er sich nicht nur eine gute Regierung, sondern
auch eine gute Opposition wünscht, und das dann durch
die Zahlung eines namhaften Geldbetrages unterstreicht,
({3})
dann macht das deutlich, daß er offensichtlich die gesamte politische Landschaft pflegen wollte, wie das immer so verharmlosend heißt.
Der vom „Spiegel“ abgedruckte Vermerk des damaligen Verteidigungsstaatssekretärs Pfahls, nach dem das
Interesse an der Lieferung der „Spürfüchse“ aus der
Mitte des Parlaments und damit des gesamten Bundestages kam, macht deutlich, daß hier eine Beschränkung
auf die damaligen Regierungsfraktionen nicht erfolgt ist.
({4})
Auch das kann nicht wegdiskutiert werden.
({5})
Wir freuen uns, daß auch der Druck der F.D.P. dazu
beigetragen hat,
({6})
daß wir zu einer verfassungsgemäßen Größe des Ausschusses kommen. Es war doch geradezu schäbig - und
kein Nebenkriegsschauplatz, wie es der Kollege Hofmann uns hier weismachen wollte -, daß der größten
Oppositionsfraktion nur drei Sitze zugestanden werden
sollten. Mit der nun gefundenen Größe ist nämlich
sichergestellt, daß auch die Opposition die Untersuchungsmaterie auf eine ausreichende Zahl von Berichterstattern verteilen kann. Das wird zu einer Beschleunigung der Untersuchung führen, an der wir sehr
interessiert sind.
Herr Kollege van Essen, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, erneut nicht. Nach
der skandalösen Rede von Herrn Ströbele gebe ich ihm
keine Gelegenheit zu einer Zwischenfrage.
({0})
Je schneller wir nämlich zu Ergebnissen kommen,
desto hilfreicher ist es für uns alle und für das Ansehen
der Politik.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird mit Max Stadler
und Hildebrecht Braun zwei in der Untersuchungsarbeit
erfahrene Kollegen als Mitglied und Stellvertreter in den
Ausschuß entsenden, um eine ergebnisorientierte und
zügige Arbeit zu sichern. Wir wollen, daß der Ausschuß
möglichst schnell seine Arbeit aufnimmt, und werden in
ihm konstruktiv mitarbeiten.
Vielen Dank.
({1})
Für die Fraktion der
PDS spricht jetzt die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Anlaß, der uns den heutigen Tagesordnungspunkt 5 beschert hat, ist besonders
unerfreulich, da er mit Unregelmäßigkeiten bei der
Parteienfinanzierung zusammenhängt. Seien Sie sich
sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß wir der Einsetzung dieses Ausschusses weder mit Schadenfreude
noch mit Genugtuung zustimmen! Dazu ist die Thematik
viel zu ernst, und zwar sowohl für das Ansehen des
Bundestages als auch für das Ansehen aller in ihm vertretenen Parteien und auch für die Glaubwürdigkeit der
Politik.
({0})
Wir halten die kurzfristige Einsetzung des von der
Regierungskoalition beantragten Untersuchungsausschusses für dringend geboten. Die bisherigen Äußerungen zur Spendenpraxis der CDU haben mehr Fragen
aufgeworfen als Antworten gegeben. Es ist unmöglich,
das gesamte Fragenspektrum an dieser Stelle aufzulisten. Im Kern geht es darum, das Spendenaufkommen
im Rahmen des Untersuchungsauftrages, insbesondere
im Zusammenhang mit den unter Ziffer II des Einsetzungsantrages genannten Geschäften und Verkäufen, zu
ermitteln. Auf dieser Grundlage muß dann festgestellt
werden, ob und, wenn ja, in welchem Umfang materielle
Zuwendungen unter Verstoß gegen das Parteiengesetz
verwaltet und verwendet wurden. Schließlich stellt sich
die komplizierteste Frage: ob mit solchen Spenden auf
die politische Willensbildung Einfluß genommen werden sollte und schlußendlich auch Einfluß genommen
wurde.
Nebenbei gesagt: Ich weiß nicht, was die CDU geritten hat, die jüngste Pressekonferenz mit dem Slogan
„Mitten im Leben“ im Rücken durchzuführen.
({1})
Ich bin mir sicher, daß die Mehrzahl der Bundesbürgerinnen und -bürger nicht über solche von Herrn Dr. Kohl
eingeräumten inoffiziellen Konten verfügt. Hier ist dringend eine systematische parlamentarische Klärung der
zugrundeliegenden Sachverhalte notwendig.
Die Reihenfolge kann für uns aber nur sein: erstens
Klärung des Sachverhalts durch umfassende Beweiserhebung, zweitens rechtliche und politische Würdigung
des erhobenen Beweismaterials und drittens gegebenenfalls Unterbreitung von Empfehlungen für das weitere
Vorgehen. Nach Beendigung der Arbeit des Untersuchungsausschusses wird das Plenum vor der Aufgabe
stehen, grundsätzlich über gesetzgeberische Konsequenzen in der Parteienfinanzierung nachzudenken.
Wir werden nicht Gleiches mit Gleichem vergelten,
auch wenn die CDU in der Vergangenheit mit der PDS
nicht immer fair umgegangen ist. Das ist nicht meine
Maxime und auch nicht die meiner Fraktion in diesem
Untersuchungsausschuß.
({2})
Um nicht mißverstanden zu werden: Es geht nicht um
falsche Rücksichtnahme. Auch in diesem Ausschuß wird
zu Recht niemandem etwas geschenkt werden.
Entschuldigung, Frau
Kollegin Kenzler, für die Unterbrechung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da mir jetzt mehrfach signalisiert worden ist, daß es ziemliche akustische
Probleme gibt,
({0})
möchte ich Ihnen versichern, daß ich das mehrfach nach
hinten weitergegeben habe. Es wird daran gearbeitet. Ich
bitte Sie aber auch im Interesse der Rednerin, dieser Rede mit etwas mehr Ruhe zu folgen.
({1})
Das gleiche gilt für die folgenden Reden vor der namentlichen Abstimmung.
({2})
Ich danke Ihnen; Entschuldigung, Frau Kollegin
Kenzler.
Trotz harter Auseinandersetzungen bei der Aufklärung der aufgeworfenen
Fragen und Unklarheiten dürfen jedoch nicht Sachlichkeit und Fairneß auf der Strecke bleiben.
Unsere grundsätzliche Zustimmung zum Einsetzungsantrag hatte ich bereits signalisiert. Was den Antrag der Regierungsfraktionen zur Entbindung von der
Schweigepflicht betrifft, so sollte dieser an den Untersuchungsausschuß überwiesen werden, da er das Procedere betrifft. Die Entbindung von der Schweigepflicht
sehe ich als Selbstverständlichkeit im Interesse einer
schnellstmöglichen Wahrheitsfindung an.
Auch dem Änderungsantrag der F.D.P.-Fraktion werden wir uns nicht verschließen. Wir haben keinen
Grund, diesen Antrag abzulehnen, auch wenn die Begründung nur sehr vage Anhaltspunkte für etwaige
Spendenunregelmäßigkeiten bei den damaligen Oppositionsparteien enthält.
Bemerkenswert ist, daß die Regierungsparteien Einsicht gezeigt haben und der Streit um die Ausschußgröße beigelegt werden konnte.
Auf eines möchte ich abschließend noch hinweisen.
Auch wenn die konkrete Prüfung von etwaigen Rechtsverstößen auf einfachgesetzlicher Grundlage, insbesondere des Parteiengesetzes, erfolgen muß, geht es hier
keinesfalls nur um die Einhaltung von Rechtsformalien
oder um innerparteiliche Entscheidungsstrukturen. Das
Gebot der Transparenz der Parteienfinanzierung hat
Verfassungsrang. Die Parteien müssen gemäß Art. 21
des Grundgesetzes „über die Herkunft und Verwendung
ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben“. Es geht also um nichts Geringeres als die
Verfassung, auf deren Einhaltung der Bundeskanzler
feierlich vereidigt wurde. Diesem Artikel liegt die Erwägung zugrunde,
daß die politische Willensbildung innerhalb einer
Partei von Personen oder Organisationen erheblich
beeinflußt werden kann, die den Parteien in größerem Umfang finanzielle Mittel zur Verfügung stellen. Eine derartige Verflechtung von politischen
und wirtschaftlichen Interessen soll offengelegt
werden.
Das hat das Bundesverfassungsgericht in seiner bekannten Entscheidung zur Parteienfinanzierung ausdrücklich betont.
Damit zeigt sich einmal mehr auch an diesem Beispiel, daß das Recht immer Form eines bestimmten Inhalts ist und unsere Untersuchungen nicht einfach nur
etwaige formale Rechtsverstöße zum Inhalt haben, sondern die Einhaltung eines wichtigen Verfassungsgrundsatzes auf dem Prüfstand steht. Das sollten wir deshalb
auch bei zukünftigen Auseinandersetzungen nicht aus
dem Auge verlieren.
Ich danke.
({0})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Christine Lambrecht für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In diesen Tagen werden Erinnerungen wach, Erinnerungen an den
Flick-Skandal Anfang der 80er Jahre und Erinnerungen
an die mittlerweile sprichwörtlichen Blackouts des damaligen Bundeskanzlers und an einen vorbestraften
Bundesminister. Der Flick-Skandal hat Auswirkungen
gehabt. 1984 wurde unter dem Eindruck der Affäre das
Verfahren der Parteienfinanzierung neu geregelt. Ziel
war, mehr Transparenz einzuführen, um so das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Parteiensystem wiederherzustellen.
Das seither geltende Drei-Säulen-System ist ein
sinnvolles und gutes System. Die Finanzierung von
Parteien durch Mitgliedsbeiträge, staatliche Zuwendungen und Spenden verhindert oder bietet zumindest eine
gewisse Sicherheit - seit den letzten Tagen kann man
sich da nicht mehr sicher sein -, daß Parteien nicht von
wirtschaftlichen Interessen abhängig werden.
Als Juristin weiß ich, daß jeder so lange als unschuldig gilt, bis seine Schuld voll und ganz erwiesen ist.
Dies gilt auch und ganz besonders für den Untersuchungsausschuß. Keine Vorverurteilung, keine Vorwürfe, die nicht auf Fakten beruhen! Und dennoch: Was bereits jetzt an Fakten bekannt ist, kann einen schon erschüttern.
({0})
Also ehrlich, meine Damen und Herren: Die Geschichte
mit dem in der Schweiz übergebenen Koffer mit einer
Million DM wäre jedem Krimiautor zu banal. Aber offensichtlich ist nichts so banal wie das richtige Leben.
({1})
Von wem stammt diese Million? Wer wußte davon?
Wirklich nur Herr Kiep? Oder hatten, wie wir heute lesen konnten, auch die Herren Schäuble und Rühe zumindest Kontakt zum Kofferträger Schreiber? Wo ist
das Geld geblieben? Hat es jemals Eingang in die Rechenschaftsberichte gefunden, und, wenn ja, warum ist
es dann nicht wie üblich überwiesen worden? Wieweit
sind solche Zahlungen geeignet, politische Entscheidungen zu beeinflussen?
Bisher haben Sie von der CDU nicht sonderlich zur
Aufklärung all dieser Fragen beigetragen. Helmut Kohl
hat nur das bestätigt, was bereits bekannt war. Was ich
gehört habe, hatte fast schon eine tragische Dimension:
Da erklärt ein gewesener Bundeskanzler, daß er sich
über demokratische Gebote wie die Transparenz der
Parteienfinanzierung hinwegsetzt, weil er das für seine
Partei für notwendig hält. Was ist das für ein Demokratieverständnis, muß ich Sie da fragen.
({2})
Haben Sie und insbesondere Herr Kohl wirklich
nichts aus der Flick-Affäre gelernt? Ist Ihnen das Vertrauen der Menschen in die Parteiendemokratie wirklich
so wenig wert? Herr Kohl hat den Grundsatz der KlarDr. Evelyn Kenzler
heit der Parteienfinanzierung mit Füßen getreten und für
unsere Demokratie kaum wiedergutzumachenden Schaden angerichtet.
({3})
Welches Bild entsteht bei den Bürgerinnen und Bürgern,
insbesondere bei jungen Menschen, wenn man den Eindruck hat, daß Gesetze verletzt, zumindest aber umgangen werden können, weil der Betroffene glaubt, es gebe
dafür eine höhere Legitimation? Jeder Politiker - ganz
besonders ein Bundeskanzler, wie Herr Kohl es damals
war - muß die Demokratie wahren und sich an Recht
und Gesetz halten. Da gibt es keine Sonderrechte. Das
muß ganz klar sein.
({4})
Herr Kohl wird vom Olymp der Geschichte herabsteigen
und uns, den Mitgliedern im Untersuchungsausschuß,
Rede und Antwort stehen müssen - nach Recht und Gesetz.
({5})
Die Kollegin Merkel und der Kollege Schäuble versuchen nun, den Eindruck zu erwecken, als hätten sie,
als hätte die neue CDU mit all dem nichts zu tun; gleiches gilt für Herrn Rühe. Gleichzeitig konnten wir aber
lesen, daß die Gehälter für CDU-Politiker von diesen
Ander-/Sonderkonten gezahlt wurden. Da frage ich
mich, ob der Herr Rühe nicht einmal auf seinem Bankkonto nachschaut, von welchem Konto denn sein Gehalt
kommt.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDUFraktion, der Rücktritt von Helmut Kohl als Parteivorsitzender war erst vor knapp einem Jahr. Jetzt werden
wir feststellen müssen, was in dieser kurzen Zeit alles
am Finanzgebaren der CDU geändert wurde. Wir werden auch herausfinden, ob politische Entscheidungen
von finanziellen Zuwendungen abhängig gemacht wurden. Schließlich werden wir Licht in die Affäre um den
Mineralölkonzern Elf Aquitaine, einen der größten Mineralölkonzerne der Welt, den Herr Schäuble angeblich
nicht einmal kennt, bringen.
({7})
Auf der Pressekonferenz der CDU am Dienstag war
von Helmut Kohl ein bemerkenswerter Satz zu hören. Er
erklärte wörtlich - das möchte ich zitieren -:
… dass für mich in meinem gesamten politischen
Leben persönliches Vertrauen wichtiger als rein
formale Überprüfung war und ist.
Da stellt sich jetzt die Frage, zu wem Helmut Kohl denn
Vertrauen hatte, wenn angeblich weder der damalige
Parteivorstand noch der Generalsekretär Rühe, noch der
heutige Vorsitzende der CDU von diesem Vorgehen
Kenntnis hatten.
({8})
Zu wem hat er denn dann dieses Vertrauen gehabt? Zu
Ihnen offensichtlich nicht, Herr Schäuble.
({9})
Mir würde es schon zu denken geben, wenn Ihr Ehrenvorsitzender zu Waffenhändlern und Finanzjongleuren
Vertrauen hat, zu Ihnen aber nicht.
({10})
Meine Damen und Herren, mir klingen noch die Redebeiträge und Zwischenrufe vom 10. November dieses
Jahres im Ohr, als dieses Thema auf Antrag meiner
Fraktion in einer Aktuellen Stunde behandelt wurde.
({11})
Das ist gerade einmal drei Wochen her. Frau Merkel hat
erklärt, daß sich der Bundestag mit den CDU-Finanzen
beschäftige, sei - jetzt zitiere ich wörtlich - „Psychogramm für den wirklich erbärmlichen Zustand der Regierungsfraktionen“
({12})
und wir würden das Thema nur absichtlich aufbauschen.
Frau Kollegin Merkel, ich glaube, angesichts der mittlerweile offen liegenden Sachverhalte wäre eine Entschuldigung angebracht.
({13})
Frau Kollegin Lambrecht, Sie müssen zum Schluß kommen.
Der Ausschuß wird
die Vorgänge lückenlos aufklären und die entsprechend
Schuldigen benennen - ohne Ansehen der Person, ohne
Ansehen ihrer gesellschaftlichen Stellung und ohne Ansehen ihrer Parteizugehörigkeit. Das sind wir nämlich
der Öffentlichkeit und der Demokratie schuldig.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist
der Kollege Gerd Höfer, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich war noch so in die Rede meiner VorredneChristine Lambrecht
rin vertieft, daß ich gar nicht mitbekommen habe, daß
ich jetzt reden kann.
({0})
- Herr Dr. Schäuble, Sie werden froh gewesen sein, daß
sie endlich aufgehört hat; denn das, was sie gesagt hat,
war nicht ganz ohne.
({1})
Da ich bestimmte Dinge weiß, will ich versuchen, in
dem kurzen Redebeitrag, den ich zu leisten habe, den
Konjunktiv zu vermeiden. Selbst der Konjunktiv sorgt
schon auf der rechten Seite des Hauses für Aufregung.
Herr van Essen, es hat mich wirklich geärgert, daß sie
versucht haben, an Hand von Sekundärliteratur Beweise
zu zimmern, obwohl doch der Kollege vor Ihnen nur den
Konjunktiv gebraucht hat. Er sagte: Das könnte vielleicht sein; oder: Das hätte sein können.
({2})
Das hat zu einer Aufregung geführt, die sonst nicht üblich ist.
Ich will mich nicht auf Sekundärliteratur beziehen.
Ich weiß auch nicht so genau, ob das, was geäußert wurde, auch in der „Welt“ von heute, in einem Interview mit
Herrn Schreiber, noch bestandsfest ist, wenn wir ihn ich hoffe, möglichst bald; wir werden hoffentlich nicht
bis zum Jahr 2003 warten müssen, also bis alles verjährt
ist - hören werden. Ich gehe einmal auf das ein, was
man schon heute handfest nachweisen kann.
Ich frage mich, wie es möglich ist, daß es zu einem
Geschäftsabschluß über den Spürpanzer Fuchs in
Höhe von 440 Millionen DM kommen konnte. Ich habe
mir erlaubt, einmal nachzufragen, was ein solcher Panzer 1991 gekostet hat. Bei einer Auftragssumme von
440 Millionen DM und einer Anzahl von 36 Panzern
- damit das Bild plastisch wird, möchte ich einmal primitiv vorgehen -, müßte ein Panzer über 10 Millionen
DM gekostet haben. Man hätte damals eigentlich wissen
müssen, daß er keine 10 Millionen DM kostet. Die kleine Ausführung dieses Panzers, also der Standardpanzer,
hat damals etwa 1,1 Millionen DM gekostet. Die Luxusausführung des Fuchs, der ABC-Fuchs, der Spürfuchs,
hat um die 2,2 Millionen DM gekostet. Wenn man das
mit 36 multipliziert, muß man doch fragen, wo der Rest
des Geldes geblieben ist.
({3})
Offen ist die Frage, ob das Geld in einem System verschwunden ist; denn einer allein wird diese Masse Geld
wohl nicht bekommen haben. Die Fragen, ob es ein solches System gegeben hat, ob dieses System mit Namen
belegt werden kann, mit einem oder auch mit mehreren,
werden sich hoffentlich klären lassen, wenn wir durch
den Untersuchungsausschuß, wird er endlich eingesetzt,
bestandskräftige Beweise bekommen. Man wird auch
klären müssen, ob noch heute führende Unionspolitiker,
aber auch F.D.P.-Politiker unter den Namen sind, die in
diesem Zusammenhang auftauchen werden. Welche
Rolle hat das Nichtwissen gespielt? Nichtwissen kann
nämlich auch zu Duldung führen. Auch diese Frage ist
zu klären.
Von daher bin ich froh, daß wir nun von der Sekundärliteratur wegkommen und endlich zu dem kommen,
was wir hören und auch beweisen können. Es kann doch
nicht sein, daß ein Geschäft abgeschlossen wird, daß also jemand ein Angebot zu überhöhten Preisen macht,
weil er weiß, daß er davon etwas abzweigen kann. Deshalb stellt sich nicht nur die Frage, ob Politik käuflich
ist, sondern auch, ob Politik solche Systeme ermöglicht
und duldet, wo solche Preisvorstellungen zustande
kommen.
({4})
Das müssen Sie sich fragen lassen.
Dazu gehört ein Apparat; ohne Apparat geht es nicht.
Diese Frage berührt mich insbesondere, weil ich als
Mitglied des Verteidigungsausschusses weiß, wie
schwierig manche Dinge zu „handlen“ sind. Aber das
sollte offen geschehen. Es sollte nicht dazu führen, daß
man sich daran noch bereichert.
({5})
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Rainer Wend, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Die Schlagzeile der
„Bild“-Zeitung vom 1. Dezember 1999 - wann kann ein
Sozialdemokrat schon mal mit einem gewissen Vergnügen eine Schlagzeile der „Bild“-Zeitung zitieren? - lautete wie folgt:
Kohls schwerer Gang. Schwarze CDU-Kassen. Er
gibt alles zu.
„Kohls schwerer Gang“ mag stimmen, „schwarze CDUKassen“ dürfte mit Sicherheit stimmen. Ich kann aber
bedauerlicherweise noch nicht erkennen, daß Herr Altkanzler Kohl bereits alles zugegeben hat.
({0})
Mir stellen sich nämlich nach wie vor folgende Fragen:
Wie viele der zugegebenen Schwarzkonten hat es gegeben? Um wieviel Geld geht es bei den verdeckten
Spenden? Wie viele Millionen wurden auf wie viele
Schwarzkonten eingezahlt? Wer waren die Spender?
Wofür wurden die Spenden verwendet? Vor allem aber,
meine Damen und Herren von der CDU: Wer wußte in
Ihrer Partei von den Methoden der Parteienfinanzierung
außer Altkanzler Kohl? Generalsekretär Geißler schien
Bescheid gewußt zu haben. Erwarten Sie, daß wir glauGerd Höfer
ben, daß sein Nachfolger als Generalsekretär, Herr Rühe, von gar nichts wußte?
({1})
War er denn - im Gegensatz zu seinem Vorgänger
Geißler - der depperte Generalsekretär, der keine Ahnung von gar nichts hatte? War er Ihr General, oder war
er Ihr Sekretär, meine Damen und Herren? Diese Frage
werden Sie auch beantworten müssen.
({2})
Vor allem aber: Warum um alles in der Welt, Herr
Schäuble, wurden die Spenden nicht auf ein normales
CDU-Konto eingezahlt? War es deshalb, weil die Spender anonym bleiben wollten? Wenn ja, warum wollten
Sie anonym bleiben? Kohl hat gesagt, er habe nur im
Interesse der CDU handeln wollen. Warum, Herr
Schäuble, war es im Interesse der CDU, daß die Spender
anonym blieben?
({3})
Warum war es im Interesse der CDU, daß die Verwendung der Spenden an den demokratisch gewählten Gremien der CDU vorbeilief? Bei all dem drängt sich die
entscheidende Frage auf: Sollten die Spenden dazu dienen, politische Entscheidungen zu beeinflussen?
Meine Damen und Herren, was ist Bestechung? Einfach stellen wir uns das wie folgt vor: Ein Geldlieferer
spendet die Summe x und verlangt, daß die Regierung
die Handlung y dafür vollzieht. Auf deutsch: Schreiber
gibt Millionen, die Bundesregierung liefert Panzer.
Meine Damen und Herren, ich wünsche mir, daß es
nicht so gewesen ist, daß es keine Einflußnahme in dieser direkten Form gab. Aufgrund der dubiosen Umstände - Herr Schäuble, das haben Sie eben selber eingeräumt - muß allerdings auch diese Frage im Untersuchungsausschuß geklärt werden.
Meine Sorge ist - darauf möchte ich eine Minute
verwenden - ein wenig tiefer gehend. Ich zitiere aus der
„Berliner Zeitung“ vom 30. November 1999:
Der Begriff „anfüttern“ stammt aus der Sprache der
Mafia und bedeutet, einem Beamten oder Amtsträger so lange kleine Geschenke ohne Verlangen
einer Gegenleistung zu machen, bis der Beschenkte
die Gegenleistung auch ohne Verlangen gewährt.
Es handelt sich im weitesten Sinn um die Pflege der
politischen Landschaft, um die sich Teile der deutschen Wirtschaft
- wie es ironisch heißt nicht erst seit der Flick-Affaire unbestreitbare Verdienste erworben haben.
Wurde also, meine Damen und Herren, durch Zahlungen an die CDU auf Schwarzkonten, die den Spender
und die Verwendung der Spenden im unklaren ließen,
ein Klima geschaffen, in dem zwangsläufig politische
Entscheidungen im Interesse der Geldgeber getroffen
wurden, ohne daß dieses von diesen Geldgebern immer
direkt und ausdrücklich verlangt wurde?
({4})
Je sicherer der Geldgeber weiß, daß er anonym bleibt,
je sicherer der Empfänger weiß, daß er beim Empfang
und bei Verwendung der Gelder nicht kontrolliert wird,
um so eher entsteht ein Klima der wechselseitigen Vorteilsnahme, der wechselseitigen Beeinflussung und der
wechselseitigen Inanspruchnahme. Deshalb muß der
Untersuchungsausschuß prüfen, ob das System Kohl in
diesem Sinne zur politischen Korruption geführt hat,
meine Damen und Herren.
({5})
Altbundeskanzler Kohl hat folgenden Amtseid geleistet:
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren,
Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die
Gesetze des Bundes wahren und verteidigen …
werde.
Art. 21 Abs. 1 des Grundgesetzes lautet:
Sie
- nämlich die politischen Parteien müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer
Mittel … öffentlich Rechenschaft geben.
Ich frage: Wurde durch die Schwarzkonten der CDU,
die Herkunft und Verwendung von Spendengeldern verschleiert haben, nicht gegen das Grundgesetz verstoßen?
Ich frage weiter: Hat Altbundeskanzler Kohl dann nicht
gegen seinen Amtseid verstoßen?
Meine Damen und Herren von der Union, ich glaube,
wir stehen heute erst am Anfang der Aufklärung einer
Affäre. Sie haben die Pflicht und die Schuldigkeit, hieran mitzuwirken. Helfen Sie dabei, diese aufzuklären!
Werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht! Entbinden Sie
Ihren Wirtschaftsprüfer Weyrauch von der Schweigepflicht, damit wir endlich weiterkommen!
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Es wird
getrennte Abstimmung gewünscht.
Wir stimmen zunächst über den ersten Absatz des
Antrages auf Drucksache 14/2139 mit der soeben in der
Debatte vom Kollegen Frank Hofmann vorgetragenen
Änderung ab, daß der Ausschuß 15 Mitglieder, nach
Schepers zusammengesetzt, haben soll. Der Änderungsantrag der CDU/CSU-Fraktion auf Drucksache 14/2232
ist damit gegenstandslos. Wer stimmt für den ersten Absatz des Antrages auf Drucksache 14/2139 in dieser Fassung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? Der erste Absatz ist damit einstimmig angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Abschnitt I des Antrages
auf Drucksache 14/2139 ab. Dieser Abschnitt betrifft die
Festlegung des Untersuchungsauftrages. Hierzu liegt ein
Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/2247 vor. Die Fraktion der F.D.P. verlangt
namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall.
Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer mit der Auszählung
zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
({0})
Die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie
höflichst darum, Ihre Plätze wieder einzunehmen. Da
wir im folgenden noch vier weitere Abstimmungen vom Platz aus durchführen, möchte ich gern
eine Übersicht über das Abstimmungsverhalten bekommen.
Ich gebe zunächst das von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der
Fraktion der F.D.P. zu Abschnitt I des Antrages auf
Drucksache 14/2139 bekannt: Abgegebene Stimmen
571. Mit Ja haben gestimmt 274, mit Nein haben gestimmt 297.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 571;
davon:
ja: 275
nein: 296
Ja
SPD
Reinhold Strobl ({0})
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Friedrich Bohl
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({1})
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Monika Brudlewsky
Hartmut Büttner
({2})
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({3})
Peter H. Carstensen
({4})
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Rainer Eppelmann
Anke Eymer
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({5})
Axel E. Fischer ({6})
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
({7})
Dr. Hans-Peter Friedrich
({8})
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler
Georg Girisch
Michael Glos
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Manfred Grund
Horst Günther ({9})
Gottfried Haschke
({10})
Gerda Hasselfeldt
Hansgeorg Hauser
({11})
Klaus-Jürgen Hedrich
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Ernst Hinsken
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Joachim Hörster
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr. Harald Kahl
Steffen Kampeter
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Dr. Martina Krogmann
Dr. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Karl A. Lamers
({12})
Dr. Paul Laufs
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({13})
Wolfgang Lohmann
({14})
Julius Louven
Dr. Michael Luther
Erwin Marschewski
({15})
({16})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Bernward Müller ({17})
Elmar Müller ({18})
Bernd Neumann ({19})
Günter Nooke
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Norbert Otto ({20})
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Christa Reichard ({21})
Katherina Reiche
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Dr. Klaus Rose
Kurt Rossmanith
Adolf Roth ({22})
Dr. Christian Ruck
Anita Schäfer
Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag
Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Dietmar Schlee
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({23})
Andreas Schmidt ({24})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt
Wolfgang Schulhoff
Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Wilhelm-Josef Sebastian
Horst Seehofer
Heinz Seiffert
Werner Siemann
Johannes Singhammer
Vizepräsidentin Petra Bläss
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Michael Stübgen
Dr. Susanne Tiemann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Andrea Voßhoff
Peter Weiß ({25})
Gerald Weiß ({26})
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({27})
Hans-Otto Wilhelm ({28})
Gert Willner
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({29})
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Aribert Wolf
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
F.D.P.
Hildebrecht Braun
({30})
Rainer Brüderle
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Gisela Frick
Horst Friedrich ({31})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther ({32})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Dr. Helmut Haussmann
Walter Hirche
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Klaus Kinkel
Gudrun Kopp
Ina Lenke
Günther Friedrich Nolting
({33})
Cornelia Pieper
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
PDS
Monika Balt
Dr. Dietmar Bartsch
Maritta Böttcher
Roland Claus
Dr. Heinrich Fink
Dr. Ruth Fuchs
Wolfgang Gehrcke
Dr. Klaus Grehn
Uwe Hiksch
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Gerhard Jüttemann
Dr. Heidi Knake-Werner
Heidi Lippmann-Kasten
Dr. Christa Luft
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Manfred Müller ({34})
Christine Ostrowski
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Nein
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({35})
Klaus Barthel ({36})
Ingrid Becker-Inglau
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({37})
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Dr. Eberhard Brecht
Rainer Brinkmann ({38})
Bernhard Brinkmann
({39})
Hans-Günter Bruckmann
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({40})
Marion Caspers-Merk
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Rudolf Dreßler
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Lothar Fischer ({41})
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({42})
Harald Friese
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({43})
Dieter Grasedieck
Wolfgang Grotthaus
Karl Hermann Haack
({44})
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({45})
Stephan Hilsberg
Jelena Hoffmann ({46})
Walter Hoffmann
({47})
Iris Hoffmann ({48})
Frank Hofmann ({49})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Barbara Imhof
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Brigitte Lange
Christian Lange ({50})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({51})
Dieter Maaß ({52})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer ({53})
Michael Müller ({54})
Jutta Müller ({55})
Christian Müller ({56})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann ({57})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Willfried Penner
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Andreas Pflug
Karin Rehbock-Zureich
Margot von Renesse
Vizepräsidentin Petra Bläss
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({58})
Birgit Roth ({59})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Horst Schmidbauer
({60})
Ulla Schmidt ({61})
Silvia Schmidt ({62})
Dagmar Schmidt ({63})
Heinz Schmitt ({64})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
({65})
Volkmar Schultz ({66})
Ilse Schumann
Ewald Schurer
Dr. R. Werner Schuster
Dr. Angelica Schwall-Düren
Ernst Schwanhold
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jella Teuchner
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({67})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({68})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({69})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Hans-Joachim Welt
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Jürgen Wieczorek ({70})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese ({71})
Klaus Wiesehügel
({72})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Hanna Wolf ({73})
Waltraud Wolff ({74})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({75})
Marieluise Beck ({76})
Volker Beck ({77})
Angelika Beer
Annelie Buntenbach
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({78})
Joseph Fischer ({79})
Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Kristin Heyne
Michaele Hustedt
Monika Knoche
Dr. Angelika Köster-Loßack
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Oswald Metzger
({80})
Kerstin Müller ({81})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Claudia Roth ({82})
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({83})
Christian Simmert
Christian Sterzing
Jürgen Trittin
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm ({84})
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen
des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete({85})
Adam, Ulrich, CDU/CSU Behrendt, Wolfgang, SPD Dr. Böhmer, Maria, Bühler ({86}), Klaus,
Dr. Hornhues, Jäger, Renate, SPD CDU/CSU CDU/CSU
CDU/CSU Lintner, Eduard, CDU/CSU Lörcher, Christa, SPD Lotz, Erika, SPD
Dr. Lucyga, Christine, SPD Maaß ({87}), Neumann ({88}), Schloten, Dieter, SPD
Schmitz ({89}), Erich, CDU/CSU Gerhard, SPD von Schmude, Michael,
Hans Peter, CDU/CSU Schütz ({90}), Siebert, Bernd, CDU/CSU CDU/CSU
Zierer, Benno, CDU/CSU Dietmar, SPD
Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über Abschnitt I des Antrags auf
Drucksache 14/2139 in der dort vorgesehenen Fassung
ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Abschnitt I ist bei Enthaltung der
F.D.P.-Fraktion angenommen.
Wir stimmen jetzt noch über die Abschnitte II bis IV
des Antrages auf Drucksache 14/2139 ab. Wer stimmt
dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Abschnitte II bis IV sind einstimmig angenommen.
Damit ist der Antrag auf Drucksache 14/2139 insgesamt angenommen.
Ich stelle damit fest, daß der Untersuchungsausschuß
gemäß Art. 44 Abs. 1 des Grundgesetzes eingesetzt ist.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 14/2236 zur Entbindung von der Schweigepflicht gegenüber dem Untersuchungsausschuß. Die
Fraktion der CDU/CSU wünscht Überweisung an den
soeben eingesetzten Untersuchungsausschuß. Die Koalitionsfraktionen wünschen Abstimmung in der Sache.
Nach ständiger Übung geht der Antrag auf Ausschußüberweisung vor. Wer stimmt für die von der CDU/CSU
beantragte Ausschußüberweisung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag auf AusschußüberVizepräsidentin Petra Bläss
weisung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU-, F.D.P.und PDS-Fraktion abgelehnt.
({91})
- Wir im Präsidium sind uns einig, daß das eine Mehrheit war.
({92})
Wir stimmen deshalb sogleich in der Sache ab. Wir
kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/2236.
Hierzu gibt es eine Erklärung zur Abstimmung des
Kollegen Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich möchte gern zu meinem Abstimmungsverhalten eine Erklärung abgeben.
Zunächst sind wir und bin auch ich selbstverständlich
dafür, daß der gesamte Sachverhalt aufgeklärt wird. Insofern hoffe ich sehr, daß die CDU den Wirtschaftsprüfer von der Schweigepflicht befreit, weil das eine der
wichtigsten Voraussetzungen ist, um etwas Licht in bestimmte dunkle Seiten dieser Angelegenheit bringen zu
können.
Ich füge hinzu, daß bei der Aufklärung auch noch andere wichtige Fragen eine Rolle spielen, die hier in
einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Ich erwähne nur eine Sache, die heute ansonsten überhaupt noch
keine Rolle gespielt hat und die für mein Abstimmungsverhalten wichtig ist.
Wenn nämlich rechtmäßige Spenden nicht deklariert
wurden, dann hat derjenige, der sie nicht deklariert hat,
zugleich in Kauf genommen, daß die staatlichen Zuwendungen an die CDU geringer ausfielen, als sie ausgefallen wären, wenn diese Spenden deklariert worden
wären. Das kommt einem Untreuetatbestand zum
Nachteil der CDU sehr nahe. Wenn jemand so etwas
macht, dann muß er schon sehr gute Gründe dafür haben, wenn er gleichzeitig behauptet, das Ganze sei zum
Nutzen der CDU gewesen. Insofern bedarf auch diese
Frage noch einer Aufklärung, und das wird, wie ich
meine, sehr interessant sein.
({0})
Wenn ich dennoch gegen diesen Antrag stimmen
werde, so will ich das begründen. Das hat zwei Gründe.
Erstens. Aus dem Antrag ergibt sich überhaupt nicht,
an wen er sich eigentlich richtet. Der Bundestag kann ja
wohl eine gesetzliche Schweigepflicht nicht aufheben.
({1})
Das kann nur der Mandant des Wirtschaftsprüfers.
({2})
Also soll wohl gemeint sein, auch wenn es so nicht in
dem Antrag steht, daß man den Mandanten des Wirtschaftsprüfers auffordert, den Wirtschaftsprüfer von der
Schweigepflicht zu befreien.
({3})
Ich habe ganz erhebliche rechtsstaatliche Bedenken
dagegen, einen solchen Beschluß des Bundestages zu
fassen, sosehr ich in der Sache dafür bin.
({4})
Das will ich Ihnen auch begründen. Wenn der Bundestag anfängt, Mandanten aufzufordern, ihre Anwälte,
Wirtschaftsprüfer oder wen auch immer von der
Schweigepflicht zu befreien, erzeugen wir einen öffentlichen Druck, der die gesetzliche Schweigepflicht selbst
ad absurdum führt.
({5})
- Nein, Herr Struck, hören Sie mir einen Moment zu! Ich habe das schon einmal erlebt. Damals betraf es Sie.
Ich habe einen ungeheuren öffentlichen Druck auf Engholm erlebt, bis er faktisch gezwungen war, seinen Anwalt von der Schweigepflicht zu befreien. Ich möchte
einen solchen öffentlichen Druck nicht haben. Ich
erwarte das in diesem Falle von dem Mandanten,
aber ich möchte keinen öffentlichen Druck gegen
irgendeinen Mandanten zur Aufhebung der Schweigepflicht haben.
Wenn der Mandant die Schweigepflicht nicht aufhebt, kann jeder seine Schlüsse daraus ziehen - das ist
etwas ganz anderes -,
({6})
aber einen öffentlichen Druck zur Aufhebung einer
Schweigepflicht zu erzeugen heißt, dieses damit verbundene Recht nicht mehr ernst zu nehmen. Damit entsteht
eine Situation wie damals für Engholm. Es war in Wirklichkeit nicht seine Entscheidung. Die Öffentlichkeit hat
ihn zu einer solchen Entscheidung gezwungen. Dann
gibt es das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und
Anwalt oder Wirtschaftsprüfer oder wem auch immer
nicht mehr.
Deshalb muß das eine Entscheidung der CDU bleiben. Wir können alle appellieren, aber wir sollten nicht
mit einem Beschluß des Bundestages, also des höchsten
Organs der Bundesrepublik Deutschland, einen Mandanten unter Druck setzen, denjenigen, der die Schweigepflicht hat, davon zu befreien. Das ist meines Erachtens rechtsstaatlich und auch verfassungsrechtlich höchst
bedenklich. Deswegen werde ich gegen diesen Antrag
stimmen, sosehr ich mir auch wünsche, daß die Schweigepflicht aufgehoben wird.
({7})
Wer stimmt für den
Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 14/2236 zur Entbindung von der
Schweigepflicht gegenüber dem Untersuchungsausschuß? ({0})
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Antrag ist
gegen die Stimmen von CDU/CSU, der F.D.P.-Fraktion,
Vizepräsidentin Petra Bläss
der PDS-Fraktion und einigen Stimmen aus der SPDFraktion angenommen.
({1})
- Enthaltungen? - Es gab einige Enthaltungen aus den
Reihen der SPD-Fraktion.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Sitzungsvorstand ist sich über das Ergebnis der Abstimmung auch
nach der Gegenprobe nicht einig. Wir kommen daher
zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der
SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
14/2236 zur Entbindung von der Schweigepflicht gegenüber dem Untersuchungsausschuß durch Zählung der
Stimmen. Ich bitte Sie, den Saal zu verlassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, recht
schnell den Saal zu verlassen, damit die Abstimmung
zügig erfolgen kann.
Ich bitte die beiden Schriftführer, die Kollegen Schur
und Schemken, ihre Plätze an den Türen einzunehmen.
Haben alle Schriftführerinnen und Schriftführer ihren
Platz an den Türen eingenommen? Könnte ich bitte ein
Zeichen bekommen? - Das ist der Fall. Ich bitte, die Türen zu schließen. Die Abstimmung ist eröffnet.
Könnte ich einen
Hinweis von den Schriftführern bekommen? Ich möchte
in Kürze die Abstimmung schließen.
({0})
Ich gebe einen Hinweis an die Schriftführerinnen und
Schriftführer, da ich feststelle, daß Kolleginnen und
Kollegen vor der Tür stehen, aber den Saal nicht betreten. Ich beabsichtige, in Kürze die Abstimmung zu
schließen, und bitte alle Kolleginnen und Kollegen, jetzt
sofort in den Plenarsaal zu kommen.
({1})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
keinen Kollegen mehr in das Plenum kommen zu lassen
und die Türen zu schließen.
({2})
Sollte ich feststellen, daß diese Anweisung nicht beachtet wird, werde ich die Sitzung unterbrechen. - Ich habe
die Abstimmung geschlossen. Ich bitte, die Türen zu
schließen.
({3})
Ich bitte Sie, Ihre Plätze einzunehmen, damit wir in
den Beratungen fortfahren können.
({4})
Bevor ich das Ergebnis des Hammelsprungs bekanntgebe, will ich sagen: Es gibt in diesem Hause parlamentarische Regeln.
({5})
Der amtierende Präsident muß darauf achten, daß Abstimmungen nicht verkürzt werden. Er muß aber auch
darauf achten, daß sie nicht verzögert werden.
({6})
Die Hinweise, die ich bekommen habe,
({7})
haben mich dazu veranlaßt, dreimal darauf hinzuweisen,
({8})
- ich bitte Sie, Ruhe zu bewahren -, daß ich beabsichtige, in Kürze die Abstimmung zu schließen. Darauf habe
ich die Schriftführer hingewiesen.
({9})
Ich gebe nunmehr das Ergebnis der Abstimmung bekannt: Mit Ja haben gestimmt 230 Kolleginnen und
Kollegen, mit Nein haben gestimmt 220, Enthaltungen 2. Der Antrag ist daher angenommen.
({10})
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 6 b auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Ein modernes Stiftungsrecht für das 21. Jahrhundert
- Drucksache 14/2029 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Kultur und Medien ({11})
Innenausschuß
Sportausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Frauen und Jugend
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache.
({12})
- Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte nicht folgen möchten, den Saal zu verlassen.
Ich gebe nunmehr das Wort dem Kollegen Dr. Norbert Lammert für die CDU/CSU-Fraktion.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es hat in den letzten
Jahren manche Anläufe zu einer gründlichen Modernisierung des deutschen Stiftungsrechts gegeben, die allesamt, aus welchen Gründen auch immer, auf der Hälfte
der Strecke steckengeblieben sind.
Die CDU/CSU-Fraktion bringt heute nach sehr sorgfältigen und intensiven Beratungen mit Sachverständigen innerhalb und außerhalb der Fraktion einen Antrag
in das parlamentarische Beratungsverfahren ein, mit
dem wir nicht nur unsere Absicht verdeutlichen, ein modernes Stiftungsrecht für das 21. Jahrhundert zu schaffen, sondern auch sehr konkrete Vorschläge und Hinweise für die Gesetzgebung geben.
Ich möchte mich zu Beginn bei allen Kolleginnen und
Kollegen in den verschiedenen Arbeitsgruppen der eigenen Fraktion für ihre Mitarbeit bedanken, insbesondere
aber bei den Sachverständigen aus Stiftungen und Verbänden, von denen ich einige auf der Besuchertribüne
begrüßen darf, die uns mit ihren Erfahrungen, Einschätzungen und Hinweisen in den vergangenen Monaten bei
der Erarbeitung unseres Antrags sehr behilflich gewesen
sind.
Die öffentliche Debatte über Stiftungen und das Stiftungsrecht in Deutschland ist weithin durch die Einstellung geprägt, Stiftungen seien eine erfreuliche Einrichtung und ein sympathisches Zeugnis bürgerschaftlichen
Engagements, deren rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen im allgemeinen bestens geregelt seien und
für die es allenfalls noch einzelne Verbesserungen geben
könnte.
Dem entspricht im übrigen aufs trefflichste die regelmäßige Einlassung zu diesem Thema, die man mal
von Innen- oder Justizministern und mal von Finanzministern hört. Beide Seiten pflegen dabei auf einen sehr
beschränkten Handlungsbedarf im deutschen Stiftungsrecht hinzuweisen, wobei sie diesen Handlungsbedarf
immer im jeweils anderen Ressort vermuten.
Tatsächlich brauchen wir einen grundsätzlich neuen
Stellenwert für die Arbeit von Stiftungen in unserem
Land als einer besonderen Form gesellschaftlichen
Engagements. Wir benötigen insofern nicht weniger als
einen Paradigmenwechsel in der Zuweisung von öffentlichen, jedenfalls gemeinwohlorientierten Aufgaben
zwischen dem Staat auf der einen Seite und gesellschaftlichen Institutionen und Personen auf der anderen
Seite.
({0})
Ich möchte deswegen gleich zu Beginn darauf hinweisen, daß der Kern des Antrages, den wir heute hier
auf den Weg bringen wollen, ist, zu einer solchen Neuorientierung beizutragen. Ich möchte das mit dem Hinweis verbinden, daß zu einer solchen grundsätzlichen
Neubestimmung des Stellenwertes von Stiftungen
zwei Entwicklungen beitragen, die sich nach unserem
Verständnis in einer sehr sinnvollen und wünschenswerten Weise miteinander verbinden lassen.
Wir haben ganz offensichtlich einen objektiven Bedarf an der Übernahme öffentlicher, jedenfalls gesamtgesellschaftlicher Aufgaben, die nicht mehr und schon
gar nicht komplett als staatliche Aufgaben wahrgenommen und erfüllt werden können. Trotz oder vielleicht gerade wegen einer Staatsquote, die nun seit Jahren relativ
stabil um die 50 Prozent pendelt, ist der Staat mit der
Wahrnehmung wichtiger gesamtgesellschaftlicher Aufgaben zunehmend überfordert. Es besteht die objektive
Notwendigkeit, darüber nachzudenken, wie diese Aufgaben anders wahrgenommen werden können, wenn der
Staat und die öffentlichen Körperschaften diese Aufgaben nicht wahrnehmen können.
Erfreulicherweise korrespondiert mit diesem objektiven Bedarf eine wachsende subjektive Bereitschaft vieler Bürgerinnen und Bürger, ihr eigenes erarbeitetes
Einkommen und Vermögen für gemeinwohlorientierte
Aktivitäten zur Verfügung zu stellen, wenn ihnen dieser
Staat dafür nur angemessene und faire Rahmenbedingungen anbietet. Genau die zu schaffen muß das zentrale
Anliegen des deutschen Gesetzgebers sein.
({1})
Deutschland braucht ein einfaches, ein übersichtliches, ein bürgerfreundliches Stiftungsrecht, das privates
Engagement ermutigt und zugleich das Gemeinwohl
fördert. Ein neuer Weg ist erforderlich, nicht weil die
alten Wege ganz offenkundig nichts taugten, sondern
weil sie nicht ausreichen. Ein neuer Weg ist erforderlich,
der Veränderungen in Staat und Gesellschaft ermöglicht,
die Vision der aktiven Bürgergesellschaft ernst nimmt
und dem Stiftungswesen den Stellenwert gibt, der an die
mehrere Jahrhunderte alte stolze Tradition privaten Engagements für das Gemeinwohl anknüpft.
Ich muß kaum erläutern, daß Stiftungen ein wichtiger, wahrscheinlich nicht verzichtbarer Baustein für den
Aufbau des dritten Sektors zwischen dem Staat und der
Wirtschaft sind, der für Bürgerengagement, Ehrenamtlichkeit und gesellschaftliche Mitwirkung steht. Der
Bürger soll für das Gemeinwohl tun können, was er selber tun und leisten will und was der Staat nicht leisten
kann. Der einzelne sollte auch mehr Gestaltungsspielraum und mehr Verfügungsgewalt über sein eigenes,
selbst erarbeitetes Einkommen und Vermögen haben. Je
mehr das Gemeinwohl von der Gesellschaft autonom,
über staatliche Verantwortung hinaus gefördert werden
soll, desto wichtiger wird die Entwicklung einer nachhaltigen Stiftungskultur, für die dann allerdings substantiell geänderte Rahmenbedingungen erforderlich sind.
Wir müssen uns alle gemeinsam dafür verantwortlich
fühlen, daß Stiftungen im Bewußtsein der Bürger - und
nicht nur einiger weniger Bürger, sondern möglichst
vieler Bürger - als Möglichkeit zur Gestaltung des Gemeinwohls jenseits von Staat und Markt verankert sind.
Daher ist es besonders wichtig, daß Stiftungen eine einfach zu handhabende Rechtsform sind. Davon kann bei
aller Sympathie für die gegenwärtige Situation ernsthaft
keine Rede sein.
({2})
Das geltende deutsche Stiftungsrecht wird trotz beachtlicher Bemühungen der Landesgesetzgeber, die ich ausdrücklich würdigen möchte, durch eine Vielzahl unterschiedlicher Rechtsnormen diesem Anspruch nicht gerecht.
({3})
Man muß in diesem Zusammenhang darauf verweisen dürfen, daß das deutsche Stiftungsprivatrecht gegenwärtig auf nicht weniger als zehn bundesgesetzlichen
Normen und 478 landesrechtlichen Vorschriften, Normen und Regelungen beruht. Dies spricht sehr dafür,
daß wir uns darum bemühen, einen vernünftigen, überschaubaren, nachvollziehbaren einheitlichen Rechtsrahmen zu schaffen, was nicht notwendigerweise bedeuten
muß, daß überall und ganz konkret in jedem Bundesland
präzise dieselbe Praxis und Struktur besteht. Aber für
jeden, der dem Gedanken einer Stiftung aufgeschlossen
ist, muß es eine nachvollziehbare und nicht an jeder
Stelle anders geregelte rechtliche Konstruktion geben.
Übrigens spricht für einen solchen einheitlichen
Rechtsrahmen auch, daß wir auf diese Weise für das
Stiftungsrecht eine ähnliche Klarheit gewinnen können,
wie sie für das Vereinsrecht, das Genossenschaftsrecht
und das Recht der Kapitalgesellschaften als schiere
Selbstverständlichkeit gilt. Wenn die Stiftungen die Bedeutung haben sollen, die wir in Festvorträgen gerne
immer wieder beschwören, dann müssen wir auch an
dieser Stelle dafür sorgen, daß sie rechtlich ähnlich gestellt sind, wie es für andere für selbstverständlich
gehalten wird.
({4})
Meine Damen und Herren, wir machen in unserem
Antrag eine ganze Reihe sehr konkreter Vorschläge dazu, wie sich sowohl der zivilrechtliche Rahmen für die
Arbeit von Stiftungen verändern und verbessern läßt als
auch die steuerlichen Rahmenbedingungen weiterentwickelt werden können. Ich muß sie hier ganz gewiß
nicht im einzelnen vortragen und will nur auf ganz wenige Punkte aufmerksam machen.
Wir wollen den Stiftungsbegriff bei Neugründungen
- ich weise ausdrücklich darauf hin: bei Neugründungen - auf gemeinwohlorientierte Vorhaben begrenzen
und damit schon in der Terminologie verdeutlichen, daß
es viele gute Gründe gibt, diese Form gemeinnützigen
gesellschaftlichen Engagements in einer besonderen
Weise hervorzuheben.
Wir wollen den Rechtsanspruch auf Stiftung, der in
vielen Landesstiftungsgesetzen entweder gar nicht oder
nur unbefriedigend geregelt ist, unmißverständlich klarstellen. Wir wollen die Gründung von Stiftungen erleichtern, durch Eintragung in ein Stiftungsregister vereinfachen. Wir wollen mehr Flexibilität schaffen, was
die Änderung von Stiftungszwecken zu Lebzeiten des
Stifters und die Möglichkeit betrifft, auch Stiftungen auf
Zeit einzurichten. Wir wollen - das ergibt sich zwangsläufig parallel zu dem veränderten Stellenwert - auch
die Rechenschaftspflichtigkeit von Stiftungen neu und
möglichst einheitlich regeln. Denn je größer die Gestaltungsspielräume sind, desto größer muß die Transparenz
sein, die sich damit verbindet.
Wir wollen selbstverständlich die verfassungsrechtlich garantierte Autonomie der kirchlichen Stiftungen
wahren, und wir wollen genauso ausdrücklich Bestandsschutz für alle existierenden Stiftungen sicherstellen übrigens einschließlich des Begriffs Stiftung, den sie
nach geltendem Recht völlig korrekt erworben haben.
Insbesondere geht es uns darum, die sogenannten
Bürger- und Gemeinschaftsstiftungen zu ermöglichen,
zu ermutigen und zu erleichtern, weil gerade dies ein Instrument ist, mit dem man nicht nur signalisieren kann,
daß die Gründung von Stiftungen kein Privileg vermeintlich weniger wirtschaftlich und finanziell besonders leistungsfähiger Mitbürger ist, sondern auch signalisieren kann, daß sich durch gemeinsame Aktivitäten
vieler Bürger manche bedeutenden Anliegen des Gemeinwohls befördern lassen.
({5})
Dies soll seinen Niederschlag im Rechtsrahmen, aber
auch im Steuerrecht finden.
Ich bin deswegen gerade den Kolleginnen und Kollegen aus den einschlägigen Finanz- und Haushaltsbereichen dankbar, daß sie sich angesichts der ungewöhnlich
delikaten Materie: „Wie geht man mit diesem Thema
des Steuerrechts und damit verbundener Einnahmeausfälle um?“ in einer bemerkenswert konstruktiven und
hilfreichen Weise an diesen Beratungen beteiligt haben.
Dabei haben wir uns in unserem Antrag aus guten Gründen und nach manchen Verirrungen - die ich gleich einräumen will - in unserem eigenen Beratungsgang ganz
darauf beschränkt, steuerrechtlich nur zwei Fragen - aber
die beiden wesentlichen Fragen - zu adressieren: Erstens. Wie muß der Steuergesetzgeber mit Stiftungen
umgehen, damit sie die ihnen zugedachte Aufgabe auch
wirklich angemessen erfüllen können? Zweitens: Was
ist die angemessene Behandlung, die Stifter bzw. Spender erfahren müssen? Jedenfalls müssen wir über ein
Stiftungsrecht nicht sämtliche offenen Fragen des deutschen Steuerrechts klären. Alle Versuche in der Vergangenheit, das - nicht als Zielsetzung, aber als Nebenwirkung - regeln zu wollen, haben mit in das Dickicht geführt, das einer Neuordnung des deutschen Stiftungsrechts in den vergangenen Jahren offenkundig im Wege
gestanden hat.
Ich möchte Sie auf einen Vorschlag aufmerksam machen, den wir Ihrer aufgeschlossenen Behandlung dringend anempfehlen möchten, nämlich den Gedanken, für
die Organisation der Gründung und der Beaufsichtigung
von Stiftungen auch die Möglichkeit der Selbstverwaltung ins Auge zu fassen. Wenn dies für wichtige Bereiche der Wirtschaft möglich ist, dann sollte es erst recht
für einen Bereich, in dem wir in besonderer Weise die
Bürger selbst Ziele verfolgen lassen wollen, möglich
sein, wenn es denn schon nicht - worauf wir ausdrücklich verzichtet haben - obligatorisch so vorgeschrieben
werden soll.
Ich möchte auch auf die Initiative des Landes BadenWürttemberg hinweisen, das vor einigen Wochen einen
entsprechenden Gesetzentwurf in den Bundesrat eingebracht hat, der mit vielen dort verankerten Vorschlägen
sehr zu meiner optimistischen Einschätzung beiträgt,
daß es jetzt gelingen könnte, in einem gemeinsamen
Anlauf des Deutschen Bundestages unter Mitwirkung
der Länder und des Bundesrates wirklich den großen
Wurf eines neuen Stiftungsrechts zu realisieren, um den
wir uns miteinander seit vielen Jahren bemühen.
Stiftungen sind keine Ersatzkasse der öffentlichen
Haushalte. Daran darf kein Zweifel sein.
({6})
Aber sie sind nicht nur eine willkommene, sondern eine
zunehmend notwendige Ergänzung öffentlicher Haushalte, was die Realisierung von Gemeinwohlinteressen
angeht. Insofern gehen manche Einwände mancher
Steuerabteilungen, mancher Ministerien an dem vorbei,
was politisch zur Debatte steht. Wir, die Unionsfraktionen, haben keinen Zweifel daran, daß der Nutzen des
gemeinwohlorientierten Einsatzes privater Einkommen
und Vermögen allemal höher ist als die damit verbundenen Steuerausfälle.
Nun wollten wir heute eigentlich neben unserem Antrag auch den vielfach angekündigten Gesetzentwurf der
Koalitionsfraktionen lesen. Das ist ein Phantom, von
dem ständig gesprochen wird, das aber noch niemand
gesehen hat. Nun liegt mir jede Polemik oder Häme
fern, weil ich sehr genau weiß, mit welchen Widerständen Sie da zu tun haben, und sehr vermute, daß es zum
Teil genau die gleichen Leute sind, die in den vergangenen Jahren auch unsere Bemühungen um die Realisierung eines ehrgeizigen Stiftungsrechts mit gutgemeinten
Ratschlägen aufgehalten haben. Dieses Parlament sollte
schon heute ({7})
- ich bin sofort fertig, Herr Präsident - keinen Zweifel
daran lassen, daß wir zwar auf die Beratung von Sachverständigen in den Steuerabteilungen allergrößten Wert
legen, daß aber die Steuerabteilung des Finanzministeriums nicht der deutsche Gesetzgeber ist.
({8})
Die Abwägung, was wir für den Paradigmenwechsel
brauchen, über dessen Notwendigkeit ich hier gesprochen habe, muß der Gesetzgeber treffen; sie kann nicht
im Ministerium getroffen werden.
Wir wollen jedenfalls unsere konstruktive Zusammenarbeit für den noch abzuwartenden, aber hoffentlich
bald vorliegenden Gesetzentwurf der Koalition ausdrücklich anbieten. Wir sind fest entschlossen, dazu beizutragen, daß wir als Regierung und Opposition gemeinsam die Neugestaltung des deutschen Stiftungsrechts
- als vielleicht erstes relevantes Projekt in dieser Legislaturperiode - in diesem Bundestag als ein Reformwerk
verabschieden können, das den Ansprüchen gerecht
wird, die ich vorhin habe vortragen dürfen.
({9})
Ich würde jetzt gerne dem Kollegen Ludwig Stiegler das Wort geben, aber
eine Fraktion dieses Hauses hat beantragt, die Sitzung zu
unterbrechen, damit alle Mitglieder des Ältestenrates an
der Sitzung des Ältestenrates teilnehmen können. Diesem Antrag ist stattzugeben. Die Wiedereröffnung der
Sitzung wird rechtzeitig bekanntgegeben.
Ich unterbreche die Sitzung.
({0})
Wir setzen die unterbrochene Sitzung fort.
Wir sind bei der Beratung des Antrages der Fraktion
der CDU/CSU zu einem modernen Stiftungsrecht für
das 21. Jahrhundert.
Ich gebe nunmehr für die SPD-Fraktion dem Kollegen Ludwig Stiegler das Wort. - Sie haben lange warten
müssen. Deswegen werden wir Ihre Rede mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU kümmert sich um das
21. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert hatte sie für das
Stiftungsrecht keine Zeit.
({0})
Ich würde beinahe sagen: Willkommen im Klub! Endlich sind Sie da und machen nun als letzte Fraktion eine
Vorlage, nachdem die anderen Fraktionen ihre Arbeit
bereits getan haben.
({1})
Aber es ist so wie im Weinberg des Herrn: Wer als letzter kommt, beansprucht natürlich auf Grund christlicher
Güte auch eine Anerkennung dafür. Insofern kann man
das gerade noch gelten lassen.
Die CDU/CSU kommt sehr spät. 16 Jahre haben Sie
regiert, wenn ich mich recht erinnere, und 16 Jahre ist
nichts geschehen, obwohl das Thema in allen Koalitionsvereinbarungen und Regierungserklärungen angesprochen war. Noch heute ist es so, daß die CDU/CSU
bei diesem Thema nicht einmal mit den von ihr regierten
Ländern abgestimmt ist. Es gibt einen einstimmigen Beschluß der Stiftungsreferenten auf der Innenministerkonferenz, also einschließlich der CDU-geführten Länder.
Das heißt, die CDU/CSU handelt hier im Grunde auf
eigene Rechnung. Nicht einmal im eigenen Hause
herrscht da Ordnung.
Herr Otto, Sie haben gefragt, wo wir sind. Wir sind
mit unserem Gesetzentwurf sehr weit. Ich sehe hier zum
Beispiel Frau Vollmer und Jörg Tauss; sie haben sich
mit diesem Thema beschäftigt. Es ist in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben. Die Koalition hat die
Entwürfe gemacht. Wir stehen sozusagen kurz vor der
Finalisierung der Arbeit,
({2})
und zwar nicht etwa mit einem an die Bundesregierung
gerichteten Antrag, endlich etwas zu tun, sondern mit
einem fertigen Gesetzentwurf.
({3})
Das ist der Unterschied. Die Verhandlungen werden
noch im Dezember abgeschlossen sein, so daß wir sehr
bald handlungsfähig sind und nicht warten müssen, bis
die Bundesregierung in Abstimmung mit den Ländern
einen Wunschkatalog der CDU/CSU abgearbeitet hat.
Wir werden uns auf die steuerliche Förderung konzentrieren und die anderen Bereiche nicht jetzt angehen.
Man könnte dafür gute Argumente bringen; das schließe
ich gar nicht aus. Aber wenn jetzt beides zusammengefaßt würde, der zivilrechtliche Teil und der steuerliche
Teil, dann führte das nur dazu, daß auch für den steuerlichen Teil eine unendlich lange Zeit benötigt würde.
Wenn ich die beteiligten Kreise höre, stelle ich fest, daß
sie eher daran interessiert sind, daß der materielle Teil
erledigt wird und daß es vorangeht.
({4})
Ich will hier nicht verhehlen, daß wir auch in der
SPD-Fraktion eine durchaus ernste Diskussion über das
Thema hatten.
({5})
Es gibt bei uns die Kulturpolitiker, zum Beispiel Monika
Griefahn und Jörg Tauss, die das federführend betreiben
und sehr stark pushen. Es gibt aber auch bei uns Finanz-,
Wirtschafts- und Kommunalpolitiker, die sehen, daß
Steuerausfälle eine geringere Gestaltungsmöglichkeit
etwa der Kommunen bedeuten und daß die Destinatäre
keinen Anspruch haben. Diese Fragen werden durchaus
erörtert, also demokratische Gestaltung einerseits versus
private Gestaltung andererseits. Das ist bei uns ernsthaft
behandelt worden. Dennoch sind wir durch lange Diskussionen zu der Überzeugung gelangt, daß der Grundsatz der Bürgergesellschaft seine Unterstützung verdient. Wir haben uns insgesamt dahin bewegt. Wir unterstützen die Bemühungen, in Deutschland eine Stiftungskultur zu pflegen.
({6})
Wir sagen aber in gleicher Weise - damit das klar ist,
was die Liberalen, aber auch Teile der Union betrifft -:
Das Stiftungsrecht ist kein Ersatz für den Sozialstaat.
Man kann nicht sagen, daß man in Zukunft soziale
Sicherheit mit Rechtsansprüchen hintanstellt und sagt:
Ihr habt ja die Möglichkeit, euch an Stiftungen zu wenden. - Das ist nicht die Alternative.
({7})
Das Stiftungsrecht muß es zusätzlich und unterstützend
geben. Natürlich ist das Stiftungsrecht für uns auch kein
Steuersparmodell; das ist klar.
({8})
Die Vorstellungen der CDU/CSU bedeuten meiner
Ansicht nach keinen großen Fortschritt. Ich gehe sie
einmal durch.
Das Bundesstiftungsgesetz. Sie werden wegen der
Bundeszuständigkeit Probleme mit den eigenen Ländern
bekommen. Wir haben heute, was etwa das Stiftungsrecht betrifft, die Situation, daß das Konzessionssystem
ein gebundenes System ist und daß deshalb zwischen
dem Normativsystem und dem Konzessionssystem faktisch kein großer Unterschied mehr besteht. Ich stimme
Ihnen zu, wenn Sie sagen, wir müßten das Genehmigungsverfahren und ähnliches beschleunigen. Aber das
ist - das sagen alle Fachleute, auch der Bundesverband
Deutscher Stiftungen - nicht das eigentliche Problem.
Ich habe auch Zweifel, ob es möglich ist, daß wir die
Stiftung als solche plötzlich nur noch gemeinnützigen
Zwecken vorbehalten. Wir haben heute ein umfassendes
Stiftungsrecht. Wir haben im Bürgerlichen Gesetzbuch
die juristische Person Stiftung. Wir können die Gemeinnützigkeit in den Steuergesetzen bestimmen. Ich glaube
nicht, daß wir diesen tiefen Eingriff in das Recht der juristischen Personen vornehmen sollten. Die Bestandsschutzprobleme würden jahrelang Verwirrung stiften.
Wer von Ihnen Registererfahrungen hat - die Juristen
unter Ihnen werden sie haben -, der weiß, daß es auch
Registerverfahren geben kann, die kein Zuckerschlecken
sind. Auch in Registerverfahren gibt es Ärger. Dazu
kann man die Vereine und andere befragen. Denn auch
für das Register muß geprüft werden, ob die Ansprüche
gegeben sind. Eine reine Eintragung wird nicht genügen.
Ich habe mit Amüsement gelesen, daß Sie Rechenschaft über die Verwendung der Stiftungserträge verlangen, daß also die CDU/CSU Transparenz verlangt.
Wenn ich mir das vor dem aktuellen Hintergrund des
vorherigen Tagesordnungspunktes anschaue, muß ich
sagen: Das ist ein bemerkenswerter Fortschritt.
({9})
Manchmal hat man das Gefühl, als würde der Wolf
plötzlich sagen: Wir werden alle Vegetarier. - Da habe
ich meine Probleme.
({10})
Diese Bosheit muß nach dem Vorherigen sein. Die müssen Sie ertragen.
({11})
Meine Damen und Herren, schon nach dem geltenden
Recht werden die Stiftungen steuerlich gefördert. Wir
wollen die gemeinnützigen Stiftungen zusätzlich fördern. Wir können das wegen des besonderen Auftrages
und wegen der Nachhaltigkeit der Verwendung und der
Förderzwecke auch vor dem Gleichheitsgrundsatz begründen.
Bei uns geht die Diskussion momentan um zwei
Dinge.
Zum einen: die Förderhöhe. Da muß ich sehen, daß
der Finanzminister bei dem zerrütteten Haushalt, den Sie
den Herrschaften, die hier sitzen, und Frau Hendricks
hinterlassen haben, scharf hingeschaut. Das gilt auch für
die Länderfinanzminister. Es sind nur die beglückt, die
keinen Landesfinanzminister in ihren eigenen Reihen
haben. Es gibt nichts Schwierigeres, als Finanzminister
zu sein. Aber die Finanzminister haben eben ihre besondere Aufgabe. Dafür, daß sie nicht mit der Spendierhose
über Land gehen können, muß man Verständnis haben.
Sonst würden sie ihre Rolle verkennen.
Zum anderen: die Breite der Förderung. Unser
Ausgangspunkt war: Wir wollen die ganze Breite der
gemeinnützigen Zwecke einbeziehen. Das führt natürlich zu Steuerausfällen und zu entsprechenden Folgen
für die Länder, was die Erbschaftsteuer, und für Bund
und Länder, was die Einkommensteuer betrifft. Das muß
man wissen. Also diskutieren wir: Kann man die Zwekke etwas enger fassen? Aber wie? - Da sind wir noch
nicht fertig, aber kurz vor dem Abschluß. Der Finanzminister sagt: Je breiter die Zwecke, desto geringer der
Förderbetrag. Die Sicht des Finanzministers begeistert
uns da zwar nicht und überzeugt uns nicht, aber das Argument ist durchaus da.
Herr Lammert, wir denken, daß Ihr Vorschlag, die
Förderung prozentual auf den Gesamtbetrag der Einkünfte zu beziehen, nicht zielführend ist. Wir denken
eher, daß wir absolute Beträge nennen sollten, damit
auch Leute, deren Gesamtbetrag der Einkünfte nicht so
hoch liegt und die sich dennoch aus irgendeinem Grunde
entschließen, etwas zu tun, an den Segnungen des Stiftungssteuerrechts teilhaben können. Wir denken an den
Sonderfreibetrag von 50 000 DM, über den wir aber insgesamt mit dem Finanzminister noch nicht einig sind.
Das wird aber in den nächsten Tagen geschehen. Dann
werden wir einen Kompromiß zwischen Breite und Höhe des Anspruches finden müssen. Denn daß wir nicht
ins Uferlose gehen können, ist auch uns klar. Auch
Ihnen müßte das nach dem Haushalt, den Sie hinterlassen haben, klar sein.
Herr Kollege
Stiegler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Lammert?
Selbstverständlich.
Ich möchte Sie,
Herr Kollege Stiegler, da wir über viele Fragen möglichst ruhig und möglichst sachlich reden wollen, auf
unsere vorhin ausdrücklich vorgetragene Auffassung
hinweisen. Ich stutze nur ein bißchen bei Ihren Bemerkungen zu den steuerrechtlichen Fragen. Auch diese
wird man abwägen müssen: absolute Beträge, relative
Beträge von der Steuerschuld. Die Argumentation, die
Sie vortragen, entspricht nach meinem Eindruck noch
genau der traditionellen Vorstellung von der Behandlung von Stiftungen, als handele es sich um die Großzügigkeit des Staates, den Bürgern einen Teil ihrer Steuerschulden zu erlassen.
In Wahrheit geht es darum, daß wir die Bürger in die
Lage versetzen müssen, über die von ihnen erarbeiteten
Einkommen und Vermögen zum größeren Teil selber
disponieren zu können, und daß es ein ganz selbstverständliches Gebot auch für den Steuergesetzgeber sein
muß, demjenigen, der Geld für gemeinwohlorientierte
Zwecke zur Verfügung stellen will, dafür eine faire
Möglichkeit zu geben. Wir dürfen uns aus der Perspektive einer Modernisierung des Steuerrechts auf die Argumentation gar nicht einlassen, als sei hier die Großzügigkeit des Staates gegenüber der Gesellschaft gefordert.
Es geht darum,
Herr Kollege, Sie
müssen eine Frage stellen.
- der Großzügigkeit von Bürgern gegenüber staatlichen Aufgaben
Raum zu geben.
({0})
Ich kann diese Schalmei
durchaus hören. Wir haben aber auch Staatsaufgaben.
Wir haben auch Grundprobleme. Wir haben soeben um
ein Sparpaket von 30 Milliarden DM gekämpft, und Sie
haben uns weiß Gott das Geschäft nicht erleichtert. Vor
zehn Jahren wären die Staatskassen noch in einer anderen Verfassung gewesen; da hätte man das ohne Bedenken großzügig machen können. Wir haben aber einen
Finanzminister, der momentan mühselig Ihre Hinterlassenschaft, Ihr Erbe, sozusagen Ihre Stiftung
({0})
gegenüber dem Bundeshaushalt in Ordnung bringen
will. Vor diesem Hintergrund muß man das sehen. Herr
Tauss oder Frau Vollmer sagen mit großer Begeisterung:
Wir wollen dem Bürger die Möglichkeit geben, sich für
seine Zwecke zu engagieren. Wir sehen aber auf der anderen Seite, daß der Finanzminister sagt: Die Steuerverzichte haben eben auch Konsequenzen für unser allgemeines Handeln, und nun müssen wir uns eben auf einen
Kompromiß hin bewegen. Begeisterung hilft weder der
Staatskasse noch dem Stiftungswesen, vielmehr wird
uns hier nur eine realitätsbezogene Gesetzgebung, die
wir miteinander hinbringen, insgesamt weiterführen.
({1})
Herr Kollege
Stiegler, Ihr Fraktionskollege Urbaniak möchte eine
Frage an Sie richten.
Hans immer; das ist eine
Ehre.
Herr Kollege
Stiegler, man kann es ja wenden, wie man will. Sie haben Gott sei Dank die Bedeutung und Aufgabe des Sozialstaates herausgestellt. Er ist ja gegenüber der gesamten
Bevölkerung und, wenn Menschen in Schwierigkeiten
kommen, für alle Lebenslagen verpflichtet. Wenn wir
dieses Stiftungsrecht so, wie es entwickelt wird, vorantreiben, dann bedeutet das selbstverständlich auch, weil
ja Steuerausfälle verkraftet werden müssen, Leistungen
des Staates bereitzustellen, um bei einer verworrenen
Finanzlage, die uns hinterlassen worden ist, klarzukommen. Und es ist doch klar, daß der Finanzminister auf
seinen Haushaltsausschuß, dem ich angehöre, achten
muß. Die Mitglieder des Haushaltsausschusses sagen:
Leute, überzieht das nicht! - Dennoch kommt man in
der Frage des Stiftungsrechts voran.
Was meinen Sie denn, in welcher Größenordnung
Steuerausfälle zu erwarten sind?
Die Einschätzungen gehen
weit auseinander, aber wenn ich jetzt einmal alles zusammenfasse, dann schätzt der Finanzminister bei der
Vorlage, die wir da haben, eine gute Milliarde DM bei
Bund, Ländern und Gemeinden. Das ist die Größenordnung.
({0})
- Das wird bestritten. Teilweise wäre das nur dann der
Fall, wenn die Leute jetzt alle wie bei der Bausparkasse
am Jahresende sagen würden: „Jetzt rennen, schnell
noch stiften!“ Also stiften statt Steuern. Das würde also
nur dann gelten, wenn es so käme. Diese Einschätzung
ist sicher nicht zwingend, aber es handelt sich jedenfalls
um einen spürbaren Betrag bei Bund und Ländern.
Ich sage einmal: Wenn es 1 Milliarde DM wäre, hätten wir für die gemeinnützigen Zwecke 3 Milliarden
DM zur Verfügung. Man muß ja sehen: Das Stiftungsrecht ist im Normalfall kein Steuersparmodell,
({1})
weil der Stifter aus seinem Vermögen endgültig Geld
weggibt. Er leistet also selber etwas, während die anderen Steuersparmodelle der Vermögensbildung dienen.
({2})
Insofern kann man es rechtfertigen, wenn ich diese Volumina für den Sozialstaat und das Volumen sehe, das
man für Stiftungen hat. In der Richtung, denke ich, können wir uns aufeinander zubewegen.
({3})
Ich glaube, daß ich auch mit ihnen arbeiten kann.
Herr Kollege
Stiegler, Frau Kollegin Süssmuth möchte sich als Dritte
im Bunde auch noch an Sie wenden.
Ich bin für jede Verlängerung meiner Redezeit dankbar.
Das wird nicht angerechnet.
Herr Stiegler, gerade haben Sie selbst erklärt, es gehe nicht um Steuersparmodelle, sondern um bürgerschaftliches Engagement und damit um Aufgaben, die die Bürger selbst
übernehmen und die der Staat - wie eben schon einmal
gesagt wurde - überhaupt nicht in gleicher Weise leisten
kann. Wenn ich einen Paradigmenwechsel einleiten will,
muß ich von der Betrachtung „Was entgeht mir?“ wegund zu der Betrachtung „Was wird geleistet, was ich
selbst gar nicht leisten kann?“ hinkommen. Wenn ich
das sehe, dann müßte es im Stiftungsrecht doch nicht
nur auf der steuerlichen Ebene, sondern auch auf der
von Ihnen kritisierten Ebene, bei der man es nach Ihrer
Ansicht alles beim alten belassen sollte, einen grundsätzlichen Reformansatz geben. Da Sie das für den
steuerrechtlichen Teil eben schon selbst anerkannt haben, ist meine Frage: Warum gibt es nicht entsprechend
einem veränderten bürgerschaftlichen Engagement auch
ein grundlegend neues Stiftungsrecht?
Wer bisher das Zivilrecht
vorspannen wollte, der wollte immer nur Verzögerung.
({0})
Wir haben nun einmal zur Kenntnis zu nehmen, daß die
Länder wirklich Aktien haben.
({1})
Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, daß das Grundgesetz in den Regelungen zur konkurrierenden Gesetzgebung 1994 geändert worden ist. Das heißt, der Begründungszwang für bundeseinheitliche Regelungen ist wesentlich schärfer geworden. Wenn wir uns jetzt auf eine
Diskussion mit den Ländern einlassen würden, würden
wir für den steuerrechtlichen Teil sehr viel Zeit verlieren.
({2})
Frau Süssmuth, Sie sprachen vom Paradigmenwechsel. Ich hätte mir gewünscht, daß Sie diesen Paradigmenwechsel dem Theo Waigel oder seinen Vorgängern
beigebracht hätten.
({3})
Das ist wie bei den Mauern von Jericho: Man muß sie
häufig umkreisen, bevor sie stürzen. Insofern versuchen
wir, das Verständnis für das Ganze in geduldiger und
solidarischer Arbeit zu wecken. Ich sage es noch einmal:
Ein Drittel Steuerverzicht führt zu einem Plus von zwei
Dritteln bei den Mitteln für die Stiftungszwecke - was
man sonst nicht hätte. Das ist eine gemeinsame Aufgabe, die wir zu erledigen haben.
({4})
- Nein! Aber wir sind erst im ersten Jahr. Es ist immer
toll, daß manche erst in der letzten Minute kommen und
fragen: Wieso seid ihr nicht schon da? Das ist fast wie
bei Igel und Hase.
({5})
Herr Kollege
Stiegler, nun hat auch noch die Kollegin Griefahn den
Wunsch, mit Ihnen zu reden.
Lieber Ludwig Stiegler,
ich habe noch eine Frage zum Ausfall in Höhe von
1 Milliarde DM. Diese Zahl beruht ja auf der Grundlage von sehr komplizierten Berechnungen. Wenn ich
mir anschaue, wer hohe Beträge für gemeinnützige
Zwecke, die auch jetzt schon steuerabzugsfähig sind,
spendet und mir dann einmal überlege, daß man, wenn
man 5 000 neue Leute für eine Zustiftung oder eine
Bürgerstiftung fände, 50 Millionen DM an Verlust
hätte, und wenn ich schließlich bedenke, wie wenig
Stiftungskultur es bislang in Deutschland gibt, dann
frage ich Sie: Sind diese 50 Millionen DM nicht eine
viel realistischere Summe als die 1 Milliarde DM, die
im Raum steht?
Jetzt ist Barbara Hendricks
nicht mehr da. Ich hätte diesen Beitrag gern an den Bundesminister der Finanzen weitergeleitet. Wir beide bemühen uns ja gemeinsam, ein realistisches Bild zu
zeichnen. Dazu muß ich allerdings sagen, daß nicht der
Bundesfinanzminister, sondern die Länderfinanzminister
das Hauptproblem sind. Im steuerrechtlichen Teil sind
mit dem Buchwertprivileg, mit der Rücklagenbildung,
mit der Zustiftung, mit der Spendenabzugsregelung und
der ganzen Breite der Erbschaftsteuerregelungen doch
eine Reihe von Tatbeständen vorhanden, die wir bedenken müssen. Ich glaube aber, wir werden mit dem
Finanzminister in dieser Woche noch im einzelnen einig
werden.
Meine Damen und Herren, in einem Punkt möchte
ich dem Finanzminister helfen. Ich meine die mißbräuchlichen Gestaltungsformen - ich meine Doppelstiftungen, das Stichwort Hertie-Stiftung und was auch
immer -, bei denen man wirklich sehen kann, daß die
Kautelarjurisprudenz Gestaltungsformen schafft, die
weniger dem gemeinnützigen Zweck als dem Zweck
von bestimmten Stifterfamilien dienen. In diesem Punkt
sollten wir den Finanzminister parallel zum Gesetzgebungsverfahren begleiten und heute schon ankündigen,
daß rückwirkend alle Gestaltungsformen beseitigt werden, bei denen man erkennen kann, daß sie mehr den
Stiftern als den Destinatären dienen. Ich glaube, insoweit sollten wir uns einig sein.
({0})
Im Mittelalter war die „pia causa“ Grundlage der
Stiftungen. Die „pia causa“ der Moderne ist die Gemeinnützigkeit, die Gemeinwohlorientierung, aber nicht
das Steuersparmodell. Darüber sind wir uns alle einig.
Deshalb sage ich Ihnen: Die CDU/CSU ist im Klub
willkommen. Wir nehmen auch diejenigen, die in der
letzten Stunde kommen, im Weinberg der Stiftungsarbeiter auf.
Vielen Dank.
({1})
Ich gebe nunmehr
für die F.D.P.-Fraktion dem Kollegen Hans-Joachim
Otto das Wort.
Lieber
Herr Kollege Stiegler, vorweg bestätige ich Ihnen gerne,
daß auch frühere Regierungskoalitionen ihre liebe Not
mit den jeweiligen Finanzministern hatten.
({0})
Es gibt allerdings einen Unterschied: Die damaligen
Koalitionen haben es unterlassen, ständig in der Öffentlichkeit anzukündigen, sie würden in der nächsten
Woche eine Reform des Stiftungsrechts vorlegen.
({1})
Ich habe einmal nachgezählt: Diese Koalition hat
zwölfmal angekündigt, sie werde in der nächsten Woche
damit überkommen. Das ist nicht erfolgt.
({2})
Herr Kollege Otto,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Antje
Vollmer?
Ich habe
von Herrn Stiegler gelernt, daß man so zu mehr Redezeit
kommen kann. Gerne, Frau Kollegin Vollmer.
Meine Frage ist auch ganz kurz. Lieber Herr Kollege
Otto, ist Ihnen bekannt, daß - jedenfalls meiner Erinnerung nach - die damaligen Koalitionen in vier Koalitionsvereinbarungen festgeschrieben haben, sie wollten
das Stiftungsrecht reformieren? Sie haben es viermal erklärt und viermal nicht gehalten. Ist Ihnen das bekannt?
Ich danke
Ihnen ausdrücklich für diesen Hinweis. Ich bestätige
Ihnen, daß sich die F.D.P. beharrlich darum bemüht hat,
Dinge voranzubringen.
({0})
Da wir aber keinen Finanzminister, leider auch keinen
Länderfinanzminister gestellt haben, war es uns nicht
beschieden, diese Dinge auf den Weg zu bringen.
({1})
Nachdem wir aber gehört haben, daß diese Regierungskoalition hier auf einem guten Weg ist, bin ich der Hoffnung, daß wir vielleicht sogar noch vor Weihnachten
gemeinsam ein Stück des Weges gehen können.
Da bald Weihnachten ist, will ich vorab feststellen:
Ich glaube, davon ausgehen zu dürfen, daß sich alle
Fraktionen dieses Hauses für mehr privates, bürgerschaftliches Engagement zur Lösung von Gemeinschaftsaufgaben aussprechen werden.
Ich will Ihnen ohne jedes Wenn und Aber zubilligen,
Herr Stiegler, daß eine Belebung der Stiftungskultur
den Sozialstaat in keiner Weise überflüssig macht. Das
ist überhaupt keine Frage; darum geht es nicht. Im übrigen geht es nicht nur um sozialstaatliche Ziele, sondern
auch um kulturpolitische Ziele, um den Umweltschutz,
den Denkmalschutz etc.
Wir sind uns auch darin einig, Herr Kollege Stiegler,
daß in Deutschland ein großer Nachholbedarf besteht.
Dies verdeutlicht die Situation in den USA, in Großbritannien, aber auch in der Schweiz. Betrachten wir auch
einmal die Situation um die letzte Jahrhundertwende in
Deutschland! Damals gab es rund 100 000 Stiftungen.
Im Moment sind es aber nur zirka 8 000. Ich kann deshalb mit Freude feststellen, daß in diesem Haus Übereinstimmung darüber besteht, daß wir eine Renaissance
der Stiftungskultur brauchen. Das halte ich für eine sehr
wichtige Aussage. Darauf sollten wir in den weiteren
Beratungen Wert legen.
({2})
Wir brauchen aber über alle Fraktionsgrenzen hinweg
ein klares, deutlich vernehmbares Signal an die Gesellschaft, an potentielle Stifter. Die Psychologie ist hier
sehr wichtig. Deswegen darf die Reform nicht in mehrere kleine Reförmchen aufgespalten werden; denn diese
würde eigentlich niemand so richtig wahrnehmen.
Herr Kollege Stiegler, wenn Sie der Auffassung sein
sollten, bei uns sei irgend jemand daran interessiert, diese gemeinsame Reform zu verzögern, dann sage ich
Ihnen: Dies kann falscher nicht sein. Wir als F.D.P.Fraktion drängen nachweislich darauf, daß wir hier vorankommen.
Sie weisen auch immer auf den Bundesrat hin. Ich
muß Ihnen entgegnen: Sie haben sich in der letzten Woche bei der Gesundheitsreform auch nicht von den Ländern aufhalten lassen. Sie haben das hier im Bundestag
verabschiedet.
({3})
Lieber Herr Stiegler, in aller Klarheit: Der steuerrechtliche Teil bedarf der Zustimmung des Bundesrates.
Es überzeugt mich überhaupt nicht, den zivilrechtlichen Teil herauszunehmen. Das ist meines Erachtens
eine Chimäre, die Sie hier aufbauen.
({4})
Das zweite, meine Damen und Herren, was wir nicht
tun dürfen, ist, Neidkomplexe zu schüren, wenn wir dieses klare Signal haben wollen. So wichtig die breite
Stiftungskultur ist, die Sie eben angesprochen haben,
Frau Kollegin Griefahn, so sollten wir uns über eines
nicht täuschen: Gerade die von Ihnen so oft geschmähten Reichen, Wohlhabenden, Erfolgreichen in der Gesellschaft, sind es, die etwas - und ich sage: mehr - für
die Gemeinschaft tun können und sollen. Wenn wir wissen, daß das Durchschnittsvermögen der Stiftungen in
Deutschland 5 Millionen DM beträgt, dann wissen wir
auch, daß jede Deckelung von Steuerfreibeträgen auf
die von Ihnen vorgeschlagenen 50 000 DM oder 40 000
DM von Übel sind. Sie sind kontraproduktiv.
({5})
Mit 50 000 DM, Herr Kollege Stiegler, können Sie keine
neue Stiftung gründen. Darüber sind wir uns einig. Sie
können allenfalls zustiften.
({6})
- Ich bin für die Bürgerstiftung, Herr Kollege Stiegler.
Ich bin für sie, um das ganz klar zu sagen. Aber Bürgerstiftungen sind nicht alles. Wir brauchen auch Mäzenatentum, große Taten, Stiftungen, die mit einem Millionenvermögen ausgestattet sind und wichtige Ziele verfolgen. Das würde man mit Ihrem Vorschlag konterkarieren.
Meine Damen und Herren, in der heutigen Presse
konnte man lesen, daß das Stiftungsrecht, die Erbschaftsteuer und die Besteuerung der Kapitaleinkünfte
einen Dreiklang bilden sollen und nunmehr als Chefsache von Gerhard Schröder darüber entschieden werden
soll.
({7})
Nun denn, das finde ich gut. Gerhard Schröder wartet
sicher sehnsüchtig auf unseren Rat. Deshalb will ich ihn
nicht länger warten lassen.
Herr
Kollege Otto, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Tauss?
Kollege
Tauss darf bei mir immer Fragen stellen.
Herr Kollege Otto, ich bin fast
gerührt. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß die
Zahl von 50 000 DM den seitherigen Satz, der möglich
ist, nicht ersetzt und daß wir vielleicht doch darüber
nachdenken sollten? Insofern bitte ich Sie, Ihre Kritik zu
überprüfen. Sind Sie bereit, daran mitzuwirken, daß wir
uns, wenn es um eine Unternehmensteuerreform geht,
die wir mit großer Sorgfalt vorbereiten und die wir
machen wollen, und im Zusammenhang mit weiteren
Reformschritten im Steuerbereich Gedanken machen, ob
nicht auch etwas für Stiftungen getan werden kann, so
daß es sinnvoll wäre, darüber zu diskutieren, endlich
einen ersten Schritt folgen zu lassen?
Lieber
Herr Kollege Tauss, ich möchte Ihnen zunächst einmal
sagen: Dieser von Ihnen erwähnte Freibetrag ist ein
Phantom. Wenn wir wenigstens einmal Ihren Gesetzentwurf vor uns sehen könnten, dann wüßten wir mehr.
In der Presse liest man immer von einer kompletten
Deckelung. Wenn es so ist, daß es ein zusätzlicher Freibetrag ist, dann antworte ich Ihnen: Jede Form von Dekkelung ist vor dem Hintergrund, ein psychologisches Signal zu setzen, nicht gut. Deswegen empfehle ich Ihnen,
auf jede Art von Deckelung in diesem Bereich zu verzichten. Aber wir können uns darüber einmal in Ruhe
unterhalten, wenn Ihr zwölfmal angekündigter Gesetzentwurf vor uns auf dem Tisch liegt.
({0})
Zu dem Thema Stiftung als angebliches Steuersparmodell hat Herr Stiegler - das will ich ausdrücklich sagen - gute Worte gefunden. Ich hoffe, Sie werden es bei
der weiteren Beratung noch im Auge behalten. Wir
sollten uns vor Augen halten, daß jeder Stifter der Gesellschaft, der Gemeinschaft aus seinem erarbeiteten
Privatvermögen mindestens doppelt soviel gibt, wie er
als Steuervorteil zurückbekommt, und zwar endgültig
und unwiderruflich. Deswegen ist die Bilanz der Stiftungsrechtsreform für die Gesellschaft in jedem Fall
positiv, nicht nur wegen des Geldes, sondern auch wegen privater Mitarbeit, denn wir wissen doch, daß rund
90 Prozent aller Stiftungen in Deutschland ehrenamtlich
geführt werden, so daß die Stifter nicht nur Geld geben,
sondern sich sinnvollerweise auch privat für die Zwecke
engagieren, für die sie gestiftet haben.
({1})
Meine Damen und Herren, man fragt sich also: Was
hält uns bei der großen Übereinstimmung, die hier zum
Ausdruck kommt, davon ab, den großen Wurf zu wagen? Hier bin ich dem Kollegen Jörg-Otto Spiller dankbar, der vor kurzem die Schlüsselfrage in dankenswerter
Klarheit formuliert hat. Ich zitiere den Kollegen Spiller:
„Es kann nicht sein, daß jeder, statt Steuern zu zahlen,
selbst darüber entscheiden kann, was mit seinem Geld
passiert.“
Meine Damen und Herren, hier sehen Sie anschaulich
den Unterschied zwischen freiheitlichen und staatsgläubigen Politikern.
({2})
Während der freiheitliche möglichst viel bürgerschaftliche Verantwortung anstrebt, versucht der staatsgläubige,
dem Bürger möglichst viel wegzunehmen und es dann
nach seinem Gusto wieder umzuverteilen und unter die
Menschen zu bringen.
Es stellt sich hierbei eine gewisse Machtfrage: Wieviel Verantwortung will ich dem einzelnen Bürger geben
und wieviel Verantwortung dem Staat? Deswegen freue
ich mich sehr, daß Herr Schröder das zur Chefsache gemacht hat.
({3})
Wir stehen vor einer interessanten Weichenstellung. Die
Stiftungsrechtsreform ist sicherlich nicht der Nabel der
Welt und auch nicht ein allmächtiger Problemlöser.
Aber die Frage, wie wir mit der Stiftungsrechtsreform
umgehen, ist ein Lackmustest für die Freiheitlichkeit unserer Gesellschaftsordnung.
Da stehen wir vor einer sehr wichtigen Weggabelung:
Wollen wir mehr Neid, oder wollen wir mehr Bürgersinn haben? Unsere Antwort als Liberale ist sehr klar.
({4})
Ich habe leider nicht die Zeit, auf den Gesetzentwurf
der F.D.P. und den Änderungsantrag näher einzugehen.
Unser Gesetzentwurf - ich lege Wert darauf, dies deutlich zu machen - ist bisher der einzige Gesetzentwurf,
der ordnungsgemäß eingebracht worden ist.
({5})
Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen, insbesondere für die verehrten Kolleginnen und Kollegen von
Rot und Grün: Wir betrachten unseren Gesetzentwurf als
ein Angebot an die anderen Fraktionen. Deswegen haben wir einen Änderungsantrag eingebracht, mit dem
wir uns auf das zubewegen, was die CDU in ihrem - wie
ich finde - insgesamt sehr sinnvollen Antrag gemacht
hat und was die Grünen in der letzten Legislaturperiode
gemacht haben, Stichwort: Registrierungsverfahren als
Entstehungstatbestand. Das ist von uns ein Angebot in
vielfältiger Hinsicht, damit wir uns aufeinander zubewegen.
Deshalb abschließend mein Appell an die Kollegen
von SPD und Grünen: Werfen Sie Ihr Herz über die
Hans-Joachim Otto ({6})
Hürde, geben Sie dem Bürgersinn mehr Raum, trauen
Sie sich, eine mutige Stiftungsrechtsreform durchzuführen.
({7})
In diesem Sinne werden wir mit Ihnen konstruktiv und
fair in den nächsten Wochen und Monaten hoffentlich
zu einer erfolgreichen Stiftungsrechtsreform kommen.
({8})
- Das hoffe ich doch sehr.
Danke schön.
({9})
Als
nächster Rednerin gebe ich das Wort der Kollegin Antje
Vollmer von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist
für niemanden ein Geheimnis: Ich mag Stiftungsdebatten; ich kann davon gar nicht genug haben. Erstens meine ich, daß da tatsächlich neue Ideen auftauchen, nämlich die Ideen einer Bürgergesellschaft. Zweitens entstehen neue Gemeinsamkeiten über die Fraktionen hinweg, was neue Ideen wirklich brauchen.
({0})
- Drittens wird auch die Opposition kreativ. Was die
Opposition angeht, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU, so habe ich auf Grund Ihrer Beiträge zwei Sachen begriffen: Einmal haben Sie 16 Jahre lang ganz
intensiv über das Stiftungsrecht meditiert.
({1})
Das begrüße ich; denn auch ich habe das getan. Aber
ich hätte es noch mehr begrüßt, wenn heute endlich der
Gesetzentwurf vorgelegt worden wäre, von dem ich damals immer vermutet habe, Sie hätten ihn in der Schublade.
({2})
Es wäre für Sie als Opposition heute eine völlig gefahrlose Möglichkeit gewesen, ihn einmal vorzulegen.
({3})
- Darauf komme ich gleich noch.
Im Jahre 1997 hat es nur einen Gesetzentwurf von
Bündnis 90/Die Grünen gegeben, mit dem das, was die
F.D.P. heute auf den Tisch gelegt hat, und auch der Antrag der CDU/CSU sehr viele Ähnlichkeiten haben, was
ich ja nur begrüßen kann.
({4})
Es fehlte Ihnen offensichtlich nicht daran, in eine ähnliche Richtung zu denken. Aber es fehlte Ihnen trotz der
mächtigen politischen Kaliber, die Sie in Ihren Reihen
hatten, doch wohl an der Kraft, es gegenüber dem
Finanzminister umzusetzen, oder vielleicht an der Kraft
des früheren Finanzministers, es gegenüber seinem
Ministerium durchzusetzen.
({5})
- Das ist ein schönes offenes Wort. Ich finde überhaupt,
diese Debatte verläuft erfreulich offen.
Damals war es so, daß wir gerne eine Anhörung auf
der Basis unseres Gesetzentwurfes durchführen wollten. Unser Gesetzentwurf liegt jetzt zwar noch nicht
vor, aber weil wir die Sache beschleunigen wollen, haben wir für den 15. Dezember eine Anhörung beschlossen. Damals war die Anhörung leider eher eine
Art Winkelmesse; sie durfte nicht öffentlich stattfinden. Der damalige und heutige CDU-Fraktionsvorsitzende, Herr Dr. Schäuble, hat an den Bundesverband
Deutscher Stiftungen, Professor von Campenhausen,
einen Brief geschrieben - den habe ich nicht geheim
bekommen, sondern der wurde in der Dokumentation
des damaligen Expertengespräches abgedruckt -, in
dem es hieß:
Die Änderungen des Privatrechts sind weder erforderlich noch geeignet, um die Situation privater
Stiftungen zu verbessern und zur Gründung neuer
Stiftungen zu ermutigen.
Offensichtlich war das damals falsch. Das zeigt auch
Ihr heutiger Antrag. Ich begrüße diese Einsicht. Sie haben nachgedacht, und wir können jetzt gemeinsam agieren. Wie schon Ludwig Stiegler gesagt hat: Willkommen im Klub der Stiftungsfreunde, die wir hier offensichtlich alle sind!
({6})
Ich habe auch schon auf die erfreulichen Ähnlichkeiten unserer Vorstellungen hingewiesen. Allerdings hätten Sie sich in manchem noch etwas genauer an unser
Vorbild halten sollen, dann wären Ihnen einige Ungereimtheiten nicht unterlaufen. Damit komme ich jetzt zu
Ihrem Antrag.
So schreiben Sie in der Problemdarstellung, daß das
Besondere des Instituts der Stiftung darin besteht - ich
zitiere -,
daß das vom Stifter eingebrachte Vermögen auf
Dauer an den von ihm festgelegten Zweck gebunden ist ... Damit bietet die Stiftung neben der Verläßlichkeit der Mittelvergabe eine einzigartige Gestaltungsfreiheit ...
Hans-Joachim Otto ({7})
Dem kann ich nur voll zustimmen. Nur, Sie widersprechen sich selbst, wenn Sie dann fordern, der Stifter solle
zu Lebzeiten den Stiftungszweck wieder ändern können, und zulassen, daß eine Stiftung nur auf Zeit besteht.
Ich habe in meiner langen Beschäftigung mit dem
Stiftungsrecht gelernt, daß das gerade dem Sinn und
dem Ernst einer Stiftung widerspricht.
({8})
Denn nur wenn der Stifter weiß, daß er auf Dauer für
den Stiftungszweck, den er gewählt hat, als Person geradestehen muß - sogar über seine Lebenszeit hinaus -,
werden mit Ernst gute Zwecke auf Dauer gewählt. Eben
diesen Ernst wollen wir. Das sei übrigens auch dem
Finanzminister gesagt.
({9})
Sie wollen des weiteren, daß der Begriff „Stiftung“
nur noch verwendet werden darf, wenn ein gemeinwohlorientiertes Vorhaben verfolgt wird. Das ist in die
richtige Richtung gedacht; da stimme ich Ihnen zu. Aber
Sie verschweigen, was das in der Konsequenz ihres Gedankens bedeutet: nämlich daß Familienstiftungen, die
ausschließlich für den Unterhalt gewisser Familienangehöriger bestimmt sind, also nicht dem Gemeinwohl dienen, oder Stiftungen, die den Zweck haben, Unternehmen zu führen, nicht mehr möglich wären.
Ich gestehe: Auch wir haben überlegt, die Bezeichnung „Stiftung“ als eine Art Gütesiegel zu schützen und
nur auf gemeinwohlorientierte Institutionen anzuwenden. Doch mußten wir akzeptieren, daß dies ein zu großer Einschnitt in die Rechtstradition unseres Landes
dargestellt hätte. Das habe ich in langen, langen Diskussionen mit dem Bundesverband Deutscher Stiftungen
begriffen. So haben wir einen anderen Weg eingeschlagen, der, so glaube ich, besser ist und dennoch in die
Richtung dessen geht, was Sie wahrscheinlich wollen,
nämlich die Gemeinnützigkeit wesenhaft mit den Stiftungen zu verbinden. Wir werden die Gründung von
Familienstiftungen, die ausschließlich den Sinn haben,
einen bestimmten Teil von Familienangehörigen ohne
jede gemeinnützige Tätigkeit zu unterstützen, erschweren, genauso wie wir vor allen Dingen darauf achten
werden - dafür brauchen wir noch eine gewisse Zeit -,
daß auch Stiftungsgründungen aus wirtschaftlichen
Zwecken erheblich erschwert werden.
({10})
- Bitte schön.
Sie erlauben eine Zwischenfrage des Kollegen Otto. - Bitte,
Herr Otto.
Frau
Kollegin Dr. Vollmer, kann ich Ihren Worten in einer
offenen Debatte, die wir jetzt führen, entnehmen, daß
Sie das Institut der Stiftung als ein ganz normales, nicht
gemeinnütziges Rechtsinstitut ablehnen? Andersherum
gefragt: Warum eigentlich wollen Sie die Stiftung nicht,
wie in den vergangenen Hunderten von Jahren, als ein
spezifisches Rechtsinstrument anerkennen, das auch für
nicht gemeinnützige Zwecke Verwendung finden kann?
({0})
Sie haben mich exakt falsch verstanden. Was Sie gesagt
haben, war eben meine Kritik an dem Antrag der
CDU/CSU. Ich habe gelernt, daß man den Begriff nicht
so eng als Gütesiegel fassen kann, wie ich das wollte.
Um so mehr muß ich sorgfältig darauf achten, daß nur
das Gemeinnützige gefördert
({0})
und daß der Mißbrauch des Stiftungsbegriffs zum Beispiel durch das Institut von Doppelstiftungen zu rein
wirtschaftlichen Zwecken unterbunden wird. Hierzu gibt
es eine breite Zustimmung - wie ich sehe, auch hier im
Haus - selbst unter den großen Stiftern, weil auch ihnen
an einer Klärung sehr gelegen ist. Das ist die Lehre, die
wir aus den Erfahrungen, die in den USA gemacht worden sind, ziehen können, die genau diese Trennung später vorgenommen haben. Sie ahnen wohl, daß es hier um
die Interessen großer Stiftungen geht. Um das sorgfältig
zu machen, brauchen wir den Dialog mit dem Justizministerium und auch mit den Ländern über den zivilrechtlichen Teil. - Damit wäre die Frage beantwortet.
An dieser Stelle möchte ich auch die Frage, die Sie
vorhin in der Debatte gestellt haben, beantworten, nämlich warum wir die Reform in zwei Schritten machen.
Das machen wir genau aus dem erwähnten Grund. Jeder,
der sich so lange wie ich mit dem Stiftungsrecht beschäftigt hat, weiß, daß der steuerrechtliche Teil der mit
Abstand schwierigste Teil ist. Damit fangen wir jetzt an.
Wir sind redlich stolz darauf - es hat vieler Debatten
und großer Anstrengungen bedurft -, daß wir das hinbekommen. Dies ist der materielle Durchbruch. Das ist der
magische Punkt, über den wir hinweg mußten.
({1})
Auf Ihre Frage, ob die Tatsache, daß wir hier noch
keinen Gesetzentwurf vorliegen haben, ein gutes oder
ein schlechtes Zeichen ist, sage ich Ihnen - und das sehen Sie an unseren Mienen -: Es ist ein gutes Zeichen.
({2})
Ich bitte Sie, noch so kurz zu warten, bis wir gemeinsam
unsere Vorstellungen in der Anhörung miteinander vergleichen können.
Der steuerrechtliche Teil ist der materiell sehr viel
schwierigere. Das war auch der Grund, warum Sie dies
in der Vergangenheit nicht hinbekommen haben. Aber
der zivilrechtliche Teil gehört dazu. Das wissen wir alle,
das weiß auch die Regierung. Mit den Gesprächen dazu
haben wir bereits begonnen. Die Justizministerin ist
nicht zufällig hier, sondern genau aus diesem Grunde.
Vor allen Dingen wegen der Länder brauchen wir dafür
noch eine gewisse Zeit. Der Gesetzentwurf wird aber
kommen. Die einzige sinnvolle Trennung, die man vornehmen kann, ist die zwischen dem Steuerrecht und dem
Zivilrecht. Beides wird folgen. Das Versprechen haben
wir gegeben, und wir werden es einhalten.
Frau
Kollegin Vollmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lammert?
Ja, gern.
Bitte,
Herr Lammert.
Frau Kollegin
Vollmer, habe ich Ihre Bemerkung mit den freudigen
Mienen ob des noch nicht vorgelegten Gesetzentwurfs
richtig verstanden, daß die Aussichten auf ein wirklich
gründliches, modernes Stiftungsrecht um so größer sind,
je länger der Gesetzentwurf nicht vorliegt?
({0})
Nein. Lieber Herr Kollege Lammert, auch Sie wissen,
daß ich schon damals, als wir die Mehrheit noch nicht
hatten, den Versuch gemacht habe, im Stiftungsrecht
mittels der mir sehr wohl bekannten Bereitschaft in der
CDU/CSU und in der F.D.P. sogar mit Hilfe des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl etwas zu bewegen.
Sie wissen auch, was Helmut Kohl damals gesagt hat.
Ich habe erklärt: Man kann doch schon den zivilrechtlichen Teil ändern. Er hat geantwortet: Nein, man kann
nur etwas im Rahmen der großen Steuerreform machen.
Er hat schon damals gewußt, was wir jetzt erfahren
haben, nämlich daß man den steuerrechtlichen und den
zivilrechtlichen Teil im Zusammenhang sehen muß. Aus
diesem Grunde haben wir in den letzten Monaten so
viele ernste und druckvolle Debatten geführt.
({0})
Unsere fröhlichen Mienen zeigen Ihnen, daß wir in
diesem zentralen Punkt sehr dicht an einer Lösung sind.
Ich glaube, damit kann man sich dann auch sehen lassen.
Das wird in den nächsten Tagen erfolgen.
({1})
Ich möchte nur noch ein letztes Argument nennen,
weil immer wieder gefragt worden ist: Warum denn diese 50 000 DM? Dazu gab es immer Mißverständnisse.
Wir behalten die Abzugsfähigkeit von Spenden bis zu
einer Höhe von 5 bis 10 Prozent des steuerpflichtigen
Einkommens bei. Es geht um die zusätzlichen 50 000
DM ausschließlich für den Zweck von Stiftungen.
Dazu haben Sie gesagt: So kommen Sie nicht an das
ganz große Geld heran. Nun zeigt aber die Erfahrung,
daß die Stiftungskultur in Deutschland so arm geworden
ist, daß sogar diejenigen mit den ganz hohen privaten
Einkommen nicht einmal diese 10-Prozent-Grenze ausschöpfen. Für diese müssen wir also nichts tun. Für diese müssen wir eine Atmosphäre schaffen, damit auch sie
endlich das ihre zum Gemeinwesen beitragen.
Wir wollen an diejenigen appellieren, die kleinere
Einkommen haben, die mit den 5 oder 10 Prozent niemals an eine Steuerschuld in Höhe von 50 000 DM herankommen würden, die aber trotzdem bereit sind, dieses dem Gemeinwesen zur Verfügung zu stellen. Wir
haben schon gesagt: Das ist kein Steuerschlupfloch, man
häuft damit kein privates Vermögen an, sondern man
gibt das endgültig, definitiv dem Gemeinwesen, und die
meisten der Stifter tun noch viel mehr. Das ist ja die erstaunliche Erfahrung bei den Stiftern, daß sie nicht nur
ihr Geld dafür geben, sondern daß sie darin ihr zweites
Lebenswerk und meistens ihr schöneres Lebenswerk sehen.
({2})
Dafür brauchen sie eine gewisse öffentliche Akzeptanz. Diese Akzeptanz schaffen wir. Das ist auch Gegenstand der Debatte, die jetzt in den Kommunen läuft.
Die Kommunen werden davon ungeheuer profitieren.
Darum setze ich auch darauf, daß die Länder nicht widersprechen werden. Sie handelten nämlich gegen ihre
eigenen Interessen, wenn sie das tun würden. Das Geld,
das sich sonst irgendwo weltweit anonymisieren würde,
landet bei ihnen. Ich hoffe, daß wir das alle unterstützen
und damit diesen Stiftungsfrühling auch erreichen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Als
nächster Redner hat Kollege Dr. Heinrich Fink von der
PDS-Fraktion das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist natürlich
unvermeidlich, daß bei der ersten Lesung des vorliegenden Antrags der CDU/CSU-Fraktion die bekannten und
die angekündigten Gesetzentwürfe der anderen Parteien
zu diesem Gegenstand mitgedacht werden. Deshalb
werde ich mich in dieser knappen Redezeit darauf beschränken, mich vor allem zum für uns Grundsätzlichen
zu äußern.
Wie bereits bei verschiedenen Gelegenheiten betont,
unterstützt die PDS-Fraktion die angestrebte Reform des
Stiftungswesens, soweit sie darauf gerichtet ist, für eine
breite Palette eindeutig gemeinnütziger Zwecke privates
Vermögen heranzuziehen. Sie haben also auch die PDS
mit im Boot.
({0})
Frau Vollmer hat eben von dem zweiten Lebenswerk
gesprochen. Ich kenne viele ältere Leute, die nicht viel
Geld haben, aber dieses Geld gern so einsetzen möchten,
daß es auch noch einen Sinn hat. Diese Menschen
möchten der Gesellschaft gern das zurückgeben, was sie
von ihr gewonnen haben.
Über die vor allem von den Kulturpolitikern mit
dem Reformprojekt verbundenen Hoffnungen und Wünsche ist in den Begründungen der erwähnten parlamentarischen Initiativen, in Anhörungen, in Stellungnahmen
involvierter Verbände und in unzähligen Expertisen sowie in den eben so eloquent vorgetragenen Reden viel
zu lesen und zu hören gewesen. Diesen Wünschen und
Hoffnungen schließen wir uns an.
Es gehört aber, glaube ich, zu den Aufgaben einer
linken Oppositionspartei, auf ein paar grundlegende
Voraussetzungen und Begleiterscheinungen aufmerksam
zu machen, die aus unserer Sicht darüber entscheiden
werden, ob diese Erwartungen auch in Erfüllung gehen
werden.
Erstens. Die über die Institution der Stiftung für das
Gemeinwohl zu erschließenden finanziellen Mittel müssen Mittel sein, die der Kultur, der Wissenschaft, dem
sozialen Bereich zusätzlich zur jetzigen Versorgung dieser Bereiche durch den Staat zur Verfügung stehen. Sie
dürfen nicht gegenwärtiges Engagement des Staates
ersetzen - da stimme ich Herrn Stiegler voll und ganz
zu ({1})
oder gar dessen weiterem Zurückziehen aus diesen Bereichen Vorschub leisten.
In der mehr oder weniger unverbindlichen öffentlichen Debatte herrscht weitgehend Konsens zu diesem
Punkt. Es fehlt aber nach wie vor an überzeugenden
Nachweisen dafür, wie diese Zusätzlichkeit der von den
Stiftungen erwarteten Mittel wirklich abgesichert werden kann. Diese Frage sollte auf jeden Fall den Experten
bei der Anhörung im Kulturausschuß am 15. Dezember
1999 vorgelegt werden.
In diesem Sinne bedarf auch der steuerrechtliche Teil
des vorliegenden Antrags, der bis hin zur Bonusregelung
im Rahmen der Erbschaftsteuer von den kursierenden
Vorschlägen die am weitesten reichenden vereint, einer
weiteren Aufhellung.
Zweitens. Das für die Stiftungsrenaissance herangezogene Argument der leeren Staatskassen läßt die PDS
nicht gelten. Im Zuge der vor kurzem geführten Haushaltsdebatte haben wir eine ganze Reihe von Einnahmeund Einsparmöglichkeiten aufgezeigt, mit denen ganz
sicher einiges von dem zu realisieren wäre, was nun
möglicherweise über den Ausbau des Stiftungswesens
erreicht werden kann.
Drittens. Auch das der schlechten Kassenlage zur
Seite gestellte konstruktive Argument, wonach mit dem
Stiftungsboom ein Schritt in Richtung auf eine sich
selbst verwaltende Bürgergesellschaft gegangen wird,
liegt nicht so ohne weiteres auf der Hand. Selbst unter
Einbeziehung der Idee von Bürger- und Gemeinschaftsstiftungen dürfte klar sein, daß an einer solchen Bürgergesellschaft der überwiegende Teil der Bevölkerung
nicht teilhaben könnte.
Es bedarf noch vieler Überlegungen und praktischer
Schritte, um auch denjenigen die Möglichkeit zu direkterer und umfassender Teilnahme an den gesellschaftlichen Prozessen einzuräumen, die das nicht über einen
bemerkenswerten freiwilligen finanziellen Beitrag tun
können. Die allein über Stiftungen und ähnliche Instrumentarien erreichte Bürgergesellschaft wäre also bestenfalls eine privilegierte Teilgesellschaft.
Obwohl ich noch weitere drei Punkte habe, ist meine
Zeit leider schon zu Ende. Herr Stiegler, die Pia causa
hat uns viel Kunst geschaffen. Heute kommt es darauf
an, sie zu erhalten. Das wäre für mich in diesem Moment wirklich die Causa politica, auf die wir uns mit der
Stiftung einlassen.
Schönen Dank.
({2})
Als
nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Norbert Röttgen von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die entscheidende Frage, die zu
diesem Thema gestellt werden muß, lautet: Wird es in
dieser Legislaturperiode eine wirkliche Reform des
Stiftungsrechts geben, eine Reform, die den grundlegenden gesellschaftspolitischen und staatspolitischen Begründungen, die hier im wesentlichen vorgetragen worden sind, gerecht wird? Oder wird es irgendein Reförmchen geben, wird nur an einer Schraube gedreht? Oder
wird es einen Durchbruch geben, wie er allerdings nicht
im allgemeinen Konsens gefordert worden ist? Es gehört
zur Ehrlichkeit der Debatte, festzustellen, daß es unterschiedliche Akzente gab. Aber die Mehrheit in diesem
Hause sagt: Wir brauchen einen Durchbruch.
Stiftungen sind eine Strategie zur Bewältigung von
zwei großen Trends - sie sind zum Teil Krankheiten unserer Gesellschaft und unseres Staates -, mit denen wir
uns herumschlagen. Der eine große Trend besteht in der
Erosion der Gesellschaft. Die beiden großen Trends sind
zum einen der Pol der individuellen Selbstentfaltung,
der Selbstbestimmung - das ist ein wichtiger Bereich -,
und zum anderen der Pol der Erwartung staatlicher Problemlösung. Innerhalb dieser beiden Blöcke wird das
Gesellschaftliche zerrieben und ausgezehrt. Ob es die
Krise der Parteien, der Vereine, der Bürgerinitiativen
oder der Familie ist: Wir haben einen Mangel an Gesellschaft.
Der zweite Trend ist die Überforderung des Staates.
Der Staat ist in einem Maße überfordert, daß er selbst
dort, wo er unersetzbar ist, nicht mehr effizient genug
handelt. Eine Strategie für die Legitimation von Stiftungen besteht darin, für eine Entlastung des Staates - wo
es die Bürger leisten können - und für mehr Bürgergesellschaft einzutreten. Dies steht im Zentrum der Debatte über moderne Gesellschaftspolitik und über modernes Staatsverständnis.
({0})
Darüber besteht kein allgemeiner Konsens. Die entscheidende Frage ist, ob wir eine Reform zustande bringen, die der Dimension dieser Erwartungen gerecht
wird, oder ob wir dieses Ziel verfehlen.
Ich will frank und frei einräumen, daß die vorherige
Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. diese Reform nicht
zuwege gebracht hat. Das können wir alle, die wir in
dem Wunsch nach Erreichen dieses Ziels vereint sind,
nur feststellen und bedauern. Wir haben diese Kraft
nicht aufgebracht. Sie, Frau Dr. Vollmer, haben Ende
der letzten Legislaturperiode - das war begrüßenswert eine Initiative ergriffen, die der Sache Dynamik verliehen hat. Die CDU/CSU-Fraktion hat heute erstmals eine
Konzeption zu dem gesamten Thema vorgelegt.
Die Frage aber ist: Was wird die rotgrüne Regierung
tun? Herr Stiegler und Frau Vollmer, ich muß sagen: Ihre heutigen Einlassungen nähren die Erwartung, daß es
erneut eine Absage an eine wirkliche Reform des Stiftungsrechts in Deutschland geben wird. Das ist die enttäuschende Zwischenbilanz, die ich aus der heutigen
Debatte ziehen muß.
({1})
Was Sie vorhaben, ist ein kleines Schräubchen. Sie
können doch nicht behaupten, es gebe einen Durchbruch
beim Stiftungsrecht, wenn jetzt diese 50 000-DMRegelung eingeführt wird. Dies ist eine einzige Regelung. Sie drehen nur an einem Schräubchen. Selbst damit tun Sie sich so schwer, daß Sie noch nicht einmal
heute dazu etwas vorlegen können. Wenn diese Debatte
einen Sinn machen soll, dann muß man die Frage an die
Koalition stellen, ob sie bereit ist, in der Auseinandersetzung mit allen Fraktionen dieses Hauses an einer
wirklichen Stiftungsrechtsreform mitzuarbeiten. Dies
ist die politische Frage, die Sie beantworten müssen,
({2})
übrigens auch Sie persönlich, Frau Vollmer. Das, was
sich hier abzeichnet und was die Koalition Gesetz werden lassen möchte, ist meilenweit von Ihrem eigenen
Gesetzentwurf entfernt.
({3})
Wenn Sie auch noch diesen in der Schublade lassen,
dann haben auch Sie persönlich ein Glaubwürdigkeitsproblem. Deshalb appelliere ich an die Koalitionsfraktionen, das Thema jetzt nicht dadurch totzumachen, daß
man ein Reförmchen macht. Wir haben nichts gemacht.
Ich beschönige dies mit keinem Wort. Aber dadurch ist
die Chance auf eine vernünftige Reform erhalten geblieben.
({4})
- Ja, natürlich! Wenn Sie jetzt angesichts dieses komplizierten Themas verkünden würden, dies sei die große
Reform und in der Sache wäre sie es tatsächlich nicht dies können Sie angesichts Ihrer eigenen Vorstellungen,
die Sie in Form des Gesetzentwurfs publiziert haben, gar
nicht bestreiten -, dann wäre dieses Thema auf Jahre
hinweg tot und damit wäre eine große Chance vertan.
Ich kann nur für unsere Fraktionen appellieren - das gilt
auch für die F.D.P.-Fraktion; Sie, Herr Otto, haben es
auch getan -: Sie haben die Mehrheit in diesem Hause.
Sie können entscheiden: Wir wollen nicht zusammenwirken; wir machen unsere Minimallösung; wir versuchen, irgend etwas auf den Weg zu bringen. Wenn Sie
dies machen, dann heißt das, daß es in dieser Legislaturperiode keine Reform des Stiftungsrechts gibt, die diesen Namen auch verdient und die die Erwartungen, die
die Mehrheit in eine solche Reform setzt, erfüllt. Dies
wäre dann das traurige Ergebnis Ihrer Bemühungen.
({5})
- Herr Stiegler, warum weigern Sie sich denn?
({6})
Was haben Sie denn so Großartiges zu verlieren? Wenn
es wirklich stimmt, daß es keine Lippenbekenntnisse
sind, die Sie, Frau Vollmer, die Grünen und die SPD abgegeben haben, dann gibt es für Sie keinen Grund, sich
dieser gemeinsamen Anstrengung zu entziehen. Wir
appellieren: Tun Sie dies nicht! Wirken Sie mit uns
zusammen!
({7})
- Was heißt hier „kleine Schritte“? Das sind Alibischritte. Wir fordern: Wirken wir zusammen! Nehmen
Sie uns beim Wort und bei dem, was wir schriftlich vorgelegt haben! Machen Sie es!
({8})
- Spät, aber es kommt!
({9})
Wenn wir es so machen wie Sie, dann wird es erst gar
nicht kommen.
Drei Gedanken, die wir für wichtig halten:
Erstens. Wir brauchen das Zivilrecht, ohne jede Frage. Es gibt eine Vielfalt, die unüberschaubar geworden
ist. Fragen Sie doch einmal einen Bürger, den wir für
eine Spende für eine Stiftung gewinnen wollen: Was ist
eigentlich eine Stiftung? Es gibt privatrechtliche Stiftungen, öffentlich-rechtliche Stiftungen, rechtsfähige
und nicht rechtsfähige Stiftungen. Wir brauchen Klarheit
und Schutz für die Marke Stiftung. Dies müssen wir fördern!
Zweitens. Wenn Stiftungen gesellschaftliche Selbstverwaltung initiieren sollen: Drängt es sich dann nicht geradezu auf, daß wir die Stiftungen aus der staatlichen
Stiftungsaufsicht entlassen und eine Stiftungsselbstverwaltung einführen? Es ist ein geradezu faszinierender
Gedanke, daß wir dann auch das, was die Stiftung individuell tun soll, in eine institutionelle Form überführen.
Drittens. Wir brauchen die Förderung eines Leitbildes. Das Zivilrecht hat die Funktion, ein Leitbild zu etablieren, nämlich die rechtsfähige, gemeinwohlfördernde
Stiftung. Dafür können wir werben.
Herr
Kollege Röttgen, erlauben Sie abschließend noch eine
Zwischenfrage der Kollegin Vollmer?
Sehr gerne.
Sie haben Ihre Redezeit schon eine halbe Minute überschritten.
Ich habe das Minus
nicht gesehen. Ich hatte mich schon über die wundersame Vermehrung der Sekunden gefreut.
({0})
Trotzdem haben Sie noch die Gelegenheit, eine Zwischenfrage zu beantworten.
Bitte, Frau Vollmer.
Herr Kollege Röttgen, Sie haben eben den Gedanken
aufgegriffen, mit dem auch ich sehr sympathisiere,
nämlich daß wir die staatliche Stiftungskonzession im
Sinne eines Rechtes auf Stiftung auflösen sollten. Wären
Sie bereit, die Mehrheit der CDU-geführten Bundesländer für diesen Gedanken zu gewinnen?
({0})
Entweder haben Sie
mich mißverstanden, oder ich habe mich nicht klar genug ausgedrückt. Ich bin der gleichen Auffassung wie
Sie,
({0})
daß die bisher geltende Regelung, die vom Begriff Konzession ausgeht, abgeschafft werden sollte und daß das
verfassungsrechtlich begründete Recht auf Stiftung
- das ist ja herrschende Meinung - auch positivrechtlich
fixiert wird. Ich teile ebenso die Auffassung des Kollegen Stiegler, daß dieser Punkt, weil in verfassungskonformer Auslegung des heutigen Rechts dies die schon
heute gültige - zwar nicht geschriebene - Rechtslage ist,
nicht wirklich wichtig ist. Dennoch teile ich Ihre Auffassung, daß wir es aufschreiben sollten.
({1})
- Wir werben dafür. Auch die CDU/CSU-Fraktion ist
dafür.
Ich habe allerdings nicht diesen Punkt angesprochen,
sondern unser Vorschlag geht viel weiter. Wir wollen
nicht nur vom Konzessionssystem wegkommen, sondern
gehen in unserem Vorschlag so weit, daß wir sagen, daß
Stiftungen sich selber verwalten sollen. Wir wollen keine staatliche Aufsicht, sondern wollen, daß die Stiftungen eigenverantwortlich handeln. In anderen Bereichen
funktioniert das doch hervorragend. Das ist einer unserer
innovativen Vorschläge. Versperren Sie sich nicht, diskutieren Sie mit uns! Diesen Appell richte ich abschließend an Sie.
Wir sollten unsere eigenen Worte ernst nehmen - Sie
die Ihren, wir die unsrigen -, zusammenwirken, die gegenseitigen Vorschläge anhören und nicht abblocken.
Dann kann in dieser Legislaturperiode etwas beim Stiftungsrecht herauskommen. Ansonsten werden wir nur
ein mageres Ergebnis erreichen und eine große Chance
vertun. So lautet unser Appell an Sie.
Danke sehr.
({2})
Abschließend hat das Wort der Staatsminister Michael
Naumann.
Herr Abgeordneter Röttgen, vor fast zwei
Jahrhunderten hat Schelling die berühmte theologische
Frage gestellt: Warum ist nicht Nichts, sondern Etwas?
Ich hätte mir nie vorgestellt, daß ich hier darauf eine
politologische Antwort bekomme.
({0})
Ihre Idee der creatio ex nihilo „Wir machen überhaupt nichts, dann wird es schon irgendwie werden“, hat
natürlich eine Voraussetzung: Das war der Regierungswechsel nach der Bundestagswahl. Der nächste Schritt
in Fragen des Stiftungsrechtes, also der Schritt hin zu
dem Etwas, den Sie jetzt schon wieder in Frage stellen,
wird uns in der Tat vorwärtsbringen und zu dem Etwas
führen. Dieses Etwas ist dann logischerweise wesentlich
mehr als nichts.
({1})
Herr Abgeordneter Lammert, Sie haben die Frage gestellt, warum die Novellierung des Stiftungsrechts, das
man jetzt plötzlich so emphatisch wünscht, 16 Jahre lang
gescheitert sei. Sie haben dann gesagt: Sie ist gescheitert
- ich zitiere Sie jetzt wörtlich, weil Sie oft das Gefühl
haben, ich hätte Sie falsch zitiert -, „aus welchen Gründen auch immer“. Ich lese Ihnen den einzigen und wesentlichen Grund mit Erlaubnis des Präsidenten vor. Es
handelt sich um einen Brief des Finanzministers Theo
Waigel vom 29. Juni 1995 an den Kulturkreis der deutschen Wirtschaft, der ja Ihrer Partei nicht sehr fern steht,
wie man jetzt zugleich befürchten muß, wie auch hoffen
darf. Da heißt es:
Ziel der Bundesregierung bei der Steuerpolitik ist
es, neben der Entlastung der Bürger und Unternehmen auch eine Vereinfachung des Steuerrechts zu
erreichen. Entsprechend bitte ich um Verständnis,
wenn ich Vorschlägen für weitere Differenzierungen in Fragen des Stiftungs- und Spendenrechts im
Steuerrecht nicht folgen möchte.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Theo Waigel
Das war der Grund dafür, daß es mit dem Spenden- und
Stiftungsrecht nicht vorwärtsgegangen ist.
({2})
- Ich komme gleich darauf, Herr Abgeordneter.
Meine Damen und Herren, die Reform des Stiftungsrechtes ist ein vorrangiges Ziel dieser Koalition.
Ich stehe auch nicht an, darauf hinzuweisen, daß es auch
ein vorrangiges Ziel der Vizepräsidentin dieses Hohen
Hauses, Antje Vollmers, ist. Mit ihr zusammen wird dieses Projekt vorwärtsgetrieben.
({3})
Sie sagen ja jetzt schon in der Opposition, Sie würden
mit Vergnügen in den Speisewagen der Reform mit
einsteigen wollen. Wir müssen ihn aber erst einmal auf
die Schienen setzen. Dabei sind wir.
Wir wollen einer aktiven Stiftungskultur in unserem
Lande Vorschub leisten und neue Möglichkeiten für
Mäzene, Mäzenatentum, Stifter und Kultursponsoren
eröffnen. Uns werden ja immer Ankündigungen vorgehalten. Wenn sie dann eingelöst worden sind, heißt es
bedauerlicherweise nicht, daß wieder einmal eine Ankündigung eingelöst worden sei. Aber Sie müssen sich
leider darauf einstellen, daß wir auch diese Ankündigung umsetzen werden. Gestatten Sie mir, noch einmal
den Grund dieser Ankündigung, den wir alle gemeinsam
schätzen, nämlich die Beförderung einer mäzenatischen Gesellschaft, darzustellen. Dazu zitiere ich den
Bundeskanzler aus seiner Rede auf der Berliner Museumsinsel vom 4. Oktober:
Mit ersten Schritten zur Reform des Stiftungsrechts
wird unsere Regierung den Weg ebnen zu einer
mäzenatisch eingestimmten Bürgergesellschaft ({4})
nicht, weil sich der Staat aus seiner kulturpolitischen Verantwortung trollen will, sondern, im Gegenteil, weil die großen Aufgaben der Restauration
von Museen und Kulturdenkmälern in ganz
Deutschland sich uns allen stellen, in gemeinsamer
Verantwortung. …
Kulturelles mäzenatisches Engagement des einzelnen gilt in manchen anderen Nationen als heitere, ja
stolze Teilnahme an jenem Gespräch, in dem eine
Gesellschaft darüber nachdenkt, was sie ist,
- Sie hatten recht, Herr Röttgen, darüber müssen wir
nachdenken ({5})
was sie will, was sie ordnet und was sie in Zweifel
zieht. Und immer waren es die Künste, die in dieser
Diskussion die interessantesten und manchmal auch
die schönsten Akzente setzten. Ohne sie würden
wir verstummen.
Es ist erwähnt worden, daß es vor der Jahrhundertwende über 100 000 Stiftungen in Deutschland gab.
Meine Herren von der Opposition, damit hat sich das
numerisch kleine Bürgertum einen Freiraum der Selbstdarstellung in jener verkrusteten Gesellschaft der Aristokratie, der Bürokratie und des Militärs geschaffen.
Dieser Freiraum der Selbstdarstellung hat uns das kulturelle Erbe beschert, das wir heute alle pflegen.
({6})
Man muß nur zur Museumsinsel hinübergehen und sich
das anschauen. Dieses Erbe aufzunehmen ist nicht mehr
parteipolitisch besetzt. Lassen Sie mich das einmal ganz
offen sagen: Der Stiftungsgedanke ist ein Gedanke der
Neuen Mitte.
({7})
- Dazu zählen Sie auch, Herr Otto.
({8})
Herr
Staatsminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Otto?
Ja, gerne.
Bitte
schön, Herr Otto.
Angesichts der großen Gemeinsamkeit, die Sie eben
beschworen haben, und angesichts der salbungsvollen
Worte des Herrn Bundeskanzlers frage ich Sie, Herr
Staatsminister: Sind Sie wirklich der Auffassung, daß
Sie einen solchen großen Wurf, eine Renaissance der
Stiftungskultur, hinbekommen, wenn Sie schlicht und
einfach einen Steuerfreibetrag von 50 000 DM einrichten?
Ich hatte Ihnen schon gesagt, die Frage
„Warum ist nicht Nichts, sondern Etwas“ ist der erste
Schritt. Das heißt, es muß etwas dasein.
({0})
Herr Michelbach, Sie können nicht, wie 16 Jahre lang
praktiziert, über den großen Wurf nachdenken und dann
sagen: Wir haben nichts geschafft; das ist die Chance für
den großen Wurf. Das geht nicht. Das ist logisch nicht
schlüssig und auch historisch falsch.
({1})
Herr Abgeordneter, ich vertraue auch auf Ihre Kooperation. Im übrigen ist es ja nicht so, daß es einzig und
allein bei diesen 50 000 DM geblieben ist und bleiben
wird; im Gegenteil.
({2})
- Ja, ich bin dankbar.
({3})
Wir legen endlich etwas Neues vor.
Ich begrüße es, daß die Innenminister der Länder auf
ihrer Konferenz in Görlitz Mitte November die Einrichtung einer Arbeitsgruppe von Bund und Ländern zur Reform des Stiftungsprivatrechts angeregt haben. In dieser Arbeitsgruppe sollen alle Vorschläge ohne Vorbehalte geprüft und beraten werden. Das heißt, wir sind auf
einem gemeinsamen Weg auch zu dem ersehnten großen
Wurf. Wenn es nicht unbedingt Ihrer sein sollte, Herr
Abgeordneter Lammert, so werden doch viele Ihrer Gedanken in diesem Entwurf wieder auftauchen.
Wichtigste steuerrechtliche Neuerung im Koalitionsentwurf wird, wie gesagt, ein Sonderausgabenabzug
für Spenden an gemeinnützige Stiftungen sein. Dies
trägt dem Umstand Rechnung, daß Stiftungen im Gegensatz zu anderen gemeinnützigen Organisationen zunächst einen Grundstock an Kapital aufbauen müssen.
Daraus kann sich dann eine stetigere und besser berechenbare Förderung ergeben, als dies bei gemeinnützigen Organisationen der Fall ist, die vom jährlichen
Spendenaufkommen leben. Spenden an Stiftungen bis zu
einer bestimmten Höhe sollen künftig zu 100 Prozent
von der Steuer abgesetzt werden können. Dadurch werden vor allem kleinere und mittlere Stiftungsgründungen
und Zustiftungen begünstigt. Durch dieses neue Gesetz
wird also genau jener bürgergesellschaftliche Impuls gefördert, den Herr Röttgen sich wünscht.
Für denjenigen, der höhere Beiträge stiftet - das ist
ganz wichtig, um keine Verwirrung im Lande aufkommen zu lassen -, bleibt es bei der Grundsatzregelung,
daß der Stifter diese Beträge bis zu einer Höchstgrenze
von 5 Prozent und im Bereich von Bildung und Kultur
von 10 Prozent seines Einkommens jährlich steuerlich
geltend machen kann, und zwar über einen Zeitraum von
sieben Jahren.
Eindeutig verbessern werden wir auch die Rücklagenbildung der Stiftungen. Diese Forderung aus dem
Stiftungsbereich ist alt. Wer, so wie ich, für eine Stiftung gearbeitet hat, erlebt es oft genug, daß Rücklagenbildungen - ich möchte es einmal so ausdrücken - durch
phantasielose Staatskanzleien verhindert werden. Es
wird in Deutschland von den Stiftungsleitungen erwartet, daß sie finanziell phantasielos und kameralistisch
operieren und dadurch das Stiftungskapital mittelfristig
vernichten. Dieses wollen wir in Zukunft verhindern.
Nicht kleinreden sollte man, Herr Lammert, auch die
Erweiterung des Buchwertprivilegs, das heißt die
steuerfreie Einbringung von Betriebsvermögen in Stiftungen;
({4})
- das haben Sie zwar nicht gesagt; aber Sie haben gesagt, daß nichts weiter da ist; dies ist ja auch schon da ({5})
- Geduld, es wird schon etwas dasein ({6})
sowie die Ausdehnung der Befreiung von der Erbschaftund Schenkungsteuer über den Bereich der Bildungsund Kulturstiftungen hinaus auf weitere förderungswürdige Zwecke.
Neben den Verbesserungen zum Stiftungssteuerrecht
hat die Bundesregierung bereits wichtige steuerliche
Erleichterungen zugunsten von mehr Bürgerengagement in der Kultur umgesetzt. Das werden Sie doch hoffentlich bemerkt haben. Sie haben nämlich im Bundesrat
zugestimmt. Hierzu zähle ich insbesondere die Neuregelung des Spendenrechts.
({7})
Die seit Jahren - Herr Abgeordneter Lammert, noch
so ein kleines Ding ex nihilo - nicht zuletzt vom Bundesverband Deutscher Stiftungen geforderte und jetzt
erst vorgenommene Abschaffung des sogenannten
Durchlaufspendenverfahrens - für den Laien: des
Verfahrens, in dem sich der Staat die Hände an Stiftungsgeldern wärmte, die monatelang in irgendwelchen
behördlichen Kassen lagen, ehe sie weitergereicht wurden - haben wir gemeinsam mit dem Bundesrat durchgesetzt. Spenden an kulturelle Einrichtungen waren bisher nur auf einem verwaltungs- und zeitaufwendigen
Weg als Durchlaufspende über eine juristische Person
des öffentlichen Rechts möglich. Das ist vorbei.
Ab 1. Januar 2000 wird dies anders. Gemeinnützige
Organisationen sind dann außerdem berechtigt, Spendenbescheinigungen selbst auszustellen. Damit gilt
erstmalig: Auch Kulturstiftungen und Fördervereine, deren Mitglieder keine besondere Gegenleistung für ihren
Mitgliedsbeitrag erhalten, können darüber hinaus auch
Spendenquittungen über Mitgliedsbeiträge ausstellen.
Das hört sich alles komplizierter an, als es ist. Dies sind
genau die kleinen Schritte, die eben zu jener mäzenatischen und neuen gesellschaftlich engagierten und partizipatorischen Bürgergesellschaft beitragen, von der hier
die Rede ist.
({8})
Um eine neue Stiftungskultur in Deutschland zu
schaffen, reicht es nicht aus, daß der Bundestag einige
vernünftige Gesetze beschließt.
({9})
Die Bedeutung und die Leistungen von Stiftern und
Stiftungen müssen mehr als bisher ins öffentliche Bewußtsein gerückt werden. Der pietistische Grundton,
dem Sie zum Beispiel in Schwaben, einem höchst stiftungsfreudigen Landstrich unserer Nation, begegnen, ist
nicht mehr zeitgemäß. Stiftern, die anonym bleiben
wollen, weil sie sich von den Nachreden und dem Neid
der Nachbarn hüten möchten, muß man zurufen: Tretet
nach vorn! Zeigt euren Nachbarn und den Bürgern des
Landes, daß ihr engagiert seid und mitmachen wollt!
Wenn dann noch ein wenig altrömische Fama abfällt,
dann ist das so schlecht nicht.
({10})
Im Zuge der Novellierung des Stiftungsrechts wird
man auch über das Thema Vermögensverwaltung diskutieren müssen, ohne daß es hierbei sofort um Änderungen gesetzlicher Regelungen geht. Eine vorrangige
Aufgabe wird darin bestehen, auch aus diesem Haus auf
ein modernes Vermögensmanagement hinzuwirken. Im
Unterschied zu den USA wird bei uns die ungeschmälerte Vermögenserhaltung überbetont. Ein in Maßen risikofreudigeres und professionelleres Anlageverhalten
könnte auch in Deutschland nicht schaden.
({11})
- Selbstverständlich auch in Stiftungen.
Es ist unverkennbar: Der angewachsene und stetig
anwachsende Vermögensberg in Deutschland ist, so
sollte man hoffen, ein Nährboden für Stiftungen. Die
deutschen Privathaushalte verfügen nach Berechnungen
des Bundesverbandes der Deutschen Volksbanken und
Raiffeisenbanken am Ende dieses Jahres über ein geschätztes Geldvermögen von fast 6 Billionen DM. Nach
einer Studie des Deutschen Instituts für Altersvorsorge
in Köln aus diesem Jahr wird die Aufbaugeneration der
nachfolgenden Generation bis zum Jahre 2004 rund
1 Billion DM Geldvermögen, rund 700 Milliarden DM
aus Immobilienwerten und rund 300 Milliarden DM
aus fälligen Lebensversicherungen vererben. Experten
schätzen die künftige jährliche Erbmasse in Deutschland
auf 250 Milliarden DM.
({12})
Diesem stetig anwachsenden privaten Reichtum steht
ein Staat gegenüber, der - das ist ganz klar - seit Jahren
von Haushaltsnöten geplagt wird.
({13})
Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen: Der Staat
soll nicht aus seinen kulturellen Verpflichtungen entlassen werden. Dies ist absolut nicht gewollt. Es ist aber
sehr wohl klar, daß dieser Staat, wenn ich der Analyse
von Herrn Röttgen folgen soll - und auch möchte; wir
lesen beide Beck -, nicht im luftleeren Raum existieren
kann, sondern für die Bürger und die Gesellschaft da ist.
({14})
Die Gesellschaft selbst wird sich in ihrer Selbstordnung
und in ihrem kulturellen Selbstverständnis ohne die Hilfe des Staates ebenfalls nicht artikulieren können.
({15})
In dieses Spannungsverhältnis soll ein renoviertes
Stiftungsrecht ordnend und fördernd eingreifen. Ein
solches modernes Stiftungsrecht hat - ich wiederhole
es - 16 Jahre lang auf seine creatio ex nihilo gewartet.
Danke schön.
({16})
Ich
schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2029 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Gisela Frick, Hildebrecht Braun
({0}), weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes
- Drucksache 14/1731 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({1})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. fünf Minuten erhalten soll. Gibt es Widerspruch?
- Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort zur Einführung
hat der Kollege Ernst Burgbacher von der F.D.P.Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Der Übergang zu
meiner Rede ist eigentlich fließend. Wir haben jetzt eine
gute Stunde über Stiftungen diskutiert und kommen jetzt
zur Schenkung. Denn nichts anderes ist im Grunde genommen das Trinkgeld, und genau darum geht es uns
heute.
({0})
Die sozialste Politik, die wir uns überhaupt vorstellen
können, ist die Unterstützung der Schaffung neuer Arbeitsplätze.
({1})
Das ist unser Leitbild. Im Rahmen dieses Leitbildes
bringen wir heute den Gesetzentwurf zur Abschaffung
der Trinkgeldbesteuerung ein.
Neue Arbeitsplätze - ich denke, hierüber besteht im
Hause Einigkeit - werden vor allem im Dienstleistungsbereich entstehen. Allein für den Bereich des
Tourismus geht man von einem Potential von 400 000
Arbeitsplätzen aus. Die Frage ist: Schöpfen wir dieses
Potential aus, oder vernichten wir eher noch bestehende
Arbeitsplätze? Wir reden vom Jobmotor Tourismus. Ein
Motor läuft dann, wenn gutes Öl verwendet wird, das,
auf unser Beispiel bezogen, bestehen müßte aus Eigeninitiative, Selbstverantwortung und Leistungsbereitschaft; ein Motor läuft nicht, wenn das verfaulte Wasser
alter Ideologien eingefüllt wird. Dann stottert dieser
Motor.
({2})
Wir müssen wieder durchstarten, und deshalb bringen
wir heute diesen Gesetzentwurf ein.
({3})
- Er hat sehr viel damit zu tun. Das Problem ist, daß Sie,
Herr Kollege Müller, das nicht begreifen wollen.
({4})
Welche Situation haben wir denn heute in der
Dienstleistungsgesellschaft? Ich gebe Trinkgeld, wenn
ich mit einer Leistung zufrieden bin, wenn ich gut bedient werde. Ich schiele dann doch nicht auf den Unternehmer, sondern ich gebe es demjenigen, der mich bedient, der die Dienstleistung erbringt. Deshalb handelt es
sich hier nicht um ein Einkommen, sondern es handelt
sich um eine Schenkung von dritter Seite.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe die Bundesregierung gefragt, wie hoch eigentlich das Aufkommen aus der Trinkgeldbesteuerung ist. - Lapidare Antwort: Das ist nicht zu beziffern.
Ich habe die Bundesregierung gefragt, wie hoch
eigentlich die Verwaltungskosten sind. - Lapidare Antwort: Das ist nicht zu beziffern.
({6})
Kann es eigentlich sinnvoll sein, Steuern zu erheben,
wenn ich weder den Ertrag noch den Verwaltungsaufwand kenne?
Ich habe die Bundesregierung gefragt, wie das in anderen Ländern geregelt ist. - Die Bundesregierung hat
geantwortet: Zum Beispiel in Frankreich gibt es die
Trinkgeldbesteuerung.
Ich habe mich informiert. Ich habe auch ein Gesetz
gefunden. Das gibt es tatsächlich. Nur habe ich keinen
einzigen Betroffenen gefunden, der von der Existenz
dieses Gesetzes wußte. Jeder in der Gastronomie, egal,
wo ich gefragt habe, hat mir gesagt: Bei uns werden
freiwillig gezahlte Trinkgelder - nur um die geht es nicht besteuert. Das ist die Tatsache.
Ich habe natürlich auf die Frage gewartet: Warum
habt ihr das nicht schon längst gemacht? Meine Damen
und Herren, wir sind in einem gigantischen Wandel begriffen. Wir müssen bei manchem umdenken. Deswegen
fordere ich alle Steuerpolitiker auf, hier über ihren
Schatten zu springen. Wenn die einen Arbeitszeitverkürzung haben und das Wochenende für sie am Freitag um
12 Uhr beginnt und andere abends und am Wochenende
arbeiten müssen, dann müssen wir Anreize bieten, um
das zu fördern.
Fragen Sie doch heute abend einmal eine Bedienung:
Wie versteuern Sie das Trinkgeld? Sie wird Ihnen sagen:
Bin ich eigentlich total besteuert?
({7})
Meine Damen und Herren, die SPD - ich appelliere
jetzt an sie - hat vor der Bundestagswahl klar versprochen, die Trinkgeldbesteuerung abzuschaffen. Bundeskanzler Schröder hat dies klar versprochen. Ich sage an
die Adresse der Grünen: Ihr Außenminister, Joschka
Fischer, hat gesagt, man könne sich vorstellen, was pasVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
siert wäre, wenn ihm als Taxifahrer jemand ans Trinkgeld gegangen wäre.
({8})
Deswegen frage ich Sie jetzt: Wo bleibt die Erfüllung
Ihrer Versprechungen?
Ich kann nur Matthäus 23, Kap. I, zitieren, wo es
heißt: Sie reden aber nur und handeln nicht danach.
({9})
Das ist ein Prinzip, das wir leider immer wieder feststellen müssen.
({10})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir bringen
hier einen Gesetzentwurf ein, auf den die Branche wartet. Niemand von denen, die die ganze Woche, auch
abends und an Wochenenden, ihre Freundlichkeit, ihre
Servicebereitschaft und ihr Lächeln einsetzen, um uns
das Leben ein Stück leichter zu machen, würde verstehen, wenn die Mehrheit des Hauses diesen Gesetzentwurf gegen die eigene Überzeugung ablehnte.
({11})
Ich weiß, daß es in allen Fraktionen sehr viele gibt, die
eigentlich inhaltlich mit uns übereinstimmen. Dann kann
man doch vielleicht einmal über den Schatten springen
und einem Gesetzentwurf, der richtig ist, zustimmen,
auch wenn er von der Opposition kommt.
Deshalb sage ich Ihnen: Sagen Sie ja zu unserem Gesetzentwurf! Sagen Sie ja zu mehr Dienstleistungsbereitschaft! Sagen Sie damit ja zu mehr Arbeitsplätzen in unserem Land!
({12})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Horst Schild.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Burgbacher, wir können
natürlich auch an eine frühere Debatte von heute anknüpfen, wo es auch um Schenkungen ging.
({0})
Man muß sich, wenn man über Schenkungen redet, zumindest darüber im klaren sein, in welchem Umfang
man Schenkungen - - Bei Trinkgeldern sind es erst
einmal kleinere Geschenke; wir haben sie im Einkommensteuerrecht begrenzt.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Burgbacher?
Ja, gut.
Bitte.
({0})
Herr Kollege, wären
Sie bereit, diesen - ich gebrauche das Wort bewußt billigen und dem Thema überhaupt nicht angemessenen
Vergleich zurückzunehmen? Ich finde, das paßt nun
überhaupt nicht hierher.
({0})
Herr Kollege Burgbacher, so,
wie das Thema hier vorgetragen wird, wird es nach meiner Einschätzung dem Ernst des Anliegens nicht gerecht.
({0})
Steuerrecht ist nicht etwas, was man so einfach so mit
allgemeinen Bemerkungen wegwischt, sondern das ist
eine ernste Angelegenheit.
({1})
Bei jeder Änderung des Steuerrechts müssen wir uns
ganz ernsthaft überlegen, welche Folgen und Konsequenzen sie hat. Es ist doch nicht einfach so, als hätte
man, wenn man eine Regelung aus dem Steuerrecht
streicht, alle Probleme gelöst.
({2})
Ich will einmal eines sagen: Sie haben ein Herzensanliegen entdeckt, offensichtlich ein ganz dringliches.
Wenn ich mir den Gesetzentwurf anschaue, sehe ich,
daß es ja so dringlich sein soll, daß die Neuregelung
möglichst noch rückwirkend zum 1. Oktober dieses Jahres in Kraft tritt. Da darf dann in der Tat mal die Frage
erlaubt sein - es ist vielleicht unangemessen, sie an Sie
zu richten, Herr Kollege Burgbacher -: Wieso sind eigentlich die letzten 16 Jahre, die Sie Gelegenheit hatten,
({3})
diesem Anliegen Rechnung zu tragen, nicht genutzt
worden? Diese Frage darf doch erlaubt sein. Offensichtlich hat doch erst die Muße der Oppositionszeit zu dieser
Erkenntnis und zu der Gewißheit verholfen, daß man in
der Opposition durchaus Populäres fordern kann, ohne
unbedingt für die Konsequenzen eintreten zu müssen.
({4})
Sie begründen Ihren Antrag damit, daß die Versteuerung dieser freiwillig gezahlten Trinkgelder nicht mehr
zeitgemäß sei. Was ist denn daran so unzeitgemäß? Wer
bereit ist, für die in der Gastronomie üblichen Stundenlöhne zu arbeiten, tut das in der Regel deshalb, weil er
weiß, daß Trinkgelder hinzukommen.
({5})
Das ist also kein zufälliges und unerwartet erlangtes Geschenk, sondern fester Bestandteil der Erwartungen, mit
denen die Ausübung einer in der Regel geringbezahlten
Tätigkeit verbunden ist.
({6})
Trinkgelder sind auch durchaus realistisch als Arbeitslohn zu bezeichnen, da sie als Entgelt für die
Dienstleistung eines Arbeitnehmers gewährt werden. In
der Regel werden Trinkgelder ja auch beim Barlohn
einkalkuliert. Auch das spricht dafür, zumindest ernsthaft darüber nachzudenken, ob nicht Trinkgelder auch
weiterhin zum Arbeitslohn zählen.
({7})
- Darauf komme ich auch noch zu sprechen.
({8})
Eines muß man auch bedenken: Das Ausklammern
von Trinkgeldern - nur das wollte ich vorhin mit meiner
Eingangsbemerkung andeuten - aus dem Arbeitslohn
birgt eindeutig die Gefahr von Mißbräuchen. Darüber
haben wir uns in der Vergangenheit häufig genug beklagt. Im übrigen hat darauf auch die BareisKommission, die von der früheren Bundesregierung eingesetzte Einkommensteuerreformkommission, hingewiesen. Sie hat zwar angesichts des Prüfungsaufwands
dafür plädiert, freiwillig gezahlte Trinkgelder steuerfrei
zu lassen, aber ausdrücklich auch darauf hingewiesen,
daß man dann den Mißbrauch durch Umwandlung von
Trinkgeldern in Lohnbestandteile unterbinden müsse.
Ich finde in Ihrem Gesetzentwurf keinen Hinweis darauf, wie denn Vorkehrungen getroffen werden sollen,
um den Mißbrauch durch Umwandlung von Trinkgeldern in Lohnbestandteile zu verhindern.
({9})
Die gegenwärtige Regelung in § 3 Nr. 51 des Einkommensteuergesetzes mit der Freigrenze von 2 400
DM ist im übrigen eine Barriere. Das muß man deutlich
sehen. Unabhängig von den Auswirkungen, die Sie vorhin im Hinblick auf Verwaltungsaufwand und auch Ertrag dieser Steuer genannt haben, ist das eine Barriere
dagegen, daß freiwillige Zuweisungen oder Geschenke
für erwiesene Dienste zu einer unkontrollierten steuerfreien Oase werden. Das müssen wir bedenken. Mit der
völligen Freigabe einer solchen Barriere wird eindeutig
ein neues Tor für Mißbrauch geöffnet.
Wie hoch darf denn in Zukunft dieses Geschenk sein?
({10})
- Das ist nicht unrealistisch.
({11})
Wir haben in der Vergangenheit immer wieder feststellen müssen: Wenn wir im Einkommensteuergesetz ein
Tor öffnen, wird auch Mißbrauch eine der möglichen
Folgen sein. Das gilt es zumindest zu bedenken.
({12})
Eines ergibt sich daraus auch: Wenn Sie meinen, ein
bestimmtes Problem auf diese Art und Weise lösen zu
können, dann bekommen wir neue ungeklärte Fragen.
Auch darauf muß man eine Antwort geben. Was ist denn
mit den Prinzipien der Gleichmäßigkeit der Besteuerung
und der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, wenn wir das einfach streichen?
({13})
Diese Prinzipien galten aber im Steuerrecht bis jetzt als
tragend und ich hatte immer gedacht, wir alle würden sie
ernst nehmen.
In der Begründung des Entwurfs findet sich ein Argument der Interessenvertreter des Gastronomiegewerbes, zu dem ich einige kritische Anmerkungen machen
möchte. Es heißt, die Gleichheit der Besteuerung könne nicht sichergestellt werden, da die Trinkgeldbesteuerung von den Angaben des Trinkgeldempfängers abhänge und auch die Schätzungen des Finanzamts, die im
Zweifelsfalle durchgeführt würden, nicht genau seien.
Der Bundesfinanzhof - das wissen Sie so gut wie ich hat sich dieser Auffassung im übrigen nicht angeschlossen. Er sieht in der einkommensteuerlichen Erfassung
von Trinkgeldern keinen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes. Im übrigen verliert
eine Vorschrift des Einkommensteuergesetzes oder sonstiger Gesetze ihre Bedeutung nicht einfach dadurch,
daß es im praktischen Vollzug Probleme gibt.
Meine Damen und Herren, ich will gerne einräumen,
daß die genaue Feststellung der Trinkgeldhöhe
schwierig ist. Das ist aber nicht nur in diesem Fall so; in
vielen Teilen des Einkommensteuerrechts bereitet die
exakte Feststellung der Höhe des Einkommens Schwierigkeiten. Das kann also kein überzeugendes Argument
sein. Wer also - wie das in der Begründung des Gesetzentwurfes anklingt - die Gleichheit der Besteuerung
verletzt sieht, der muß bedenken, daß der Gesetzentwurf, so wie er jetzt vorgelegt wird, auch den Anspruch
auf Gleichbehandlung derjenigen Beschäftigten berührt,
die ihren Arbeitslohn bei gleicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit voll versteuern müssen. Das gilt auch für
Beschäftigte im Gastronomiegewerbe. Im Bereich der
Gaststätten gibt es Küchenpersonal.
({14})
- Ja, das gibt es auch. - Diesen Beschäftigten ist ohnehin nicht so ohne weiteres verständlich, daß sie keine
steuerfreien Einkommensbestandteile haben.
Lassen Sie mich eines sagen, meine Damen und Herren. Wir treten grundsätzlich dafür ein, daß jedes Einkommen gegebenenfalls unter Berücksichtigung angemessener Pauschalen - das haben wir bei § 3 Nr. 51 des
Einkommensteuergesetzes - der Einkommenbesteuerung unterzogen wird und daß zum Ausgleich dafür die
Steuersätze für alle gesenkt werden.
({15})
Dem Grundsatz „Senkung der Steuersätze bei Verbreiterung der Bemessungsgrundlage“ ist bislang jedes halbwegs ernstzunehmende Steuerkonzept gefolgt. Ich denke, das hat letztlich auch bei dem von Ihnen vorgestellten Drei-Stufen-Konzept eine Rolle gespielt. Wie hätten
Sie denn sonst die 100 Millionen DM, die da unter dem
Strich fehlten, ausgleichen können, wenn Sie nicht die
Bemessungsgrundlage verbreitert hätten?
({16})
- Na gut. - Es erstaunt zumindest, daß die F.D.P. einzelnen Interessengruppen weitergehende Begünstigungen - ({17})
- Nein, das ist kein Unsinn.
({18})
- Natürlich sind das Begünstigungen für bestimmte
Branchen, obwohl Ihr Steuerkonzept nun wirklich verlangt hätte, daß man die Bemessungsgrundlage verbreitert.
Natürlich ergibt sich - das ist eben durch einen Zwischenruf angedeutet worden - auch bei den Sozialversicherungen ein Problem. Mit zusätzlicher Steuerfreistellung würden auch der Sozialversicherung Beiträge
entzogen, zumindest dann, wenn man dem Mißbrauch,
daß aus Einkommensbestandteilen zukünftig Geschenke
oder Trinkgelder werden, nicht vorbeugt. Das steht natürlich dem Grundsatz der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme auf verläßlicher Basis entgegen.
({19})
Meine Damen und Herren, das Ziel der Bundesregierung und auch der Koalition ist die steuerliche Entlastung für alle Steuerpflichtigen.
({20})
- Sie dürfen gerne eine Zwischenfrage stellen. - Diesem
Ziel sind wir beim Steuerentlastungsgesetz gefolgt, diesem Ziel sind wir bei der Familienentlastung gefolgt,
und diesem Ziel werden wir auch bei der Unternehmensteuer Rechnung tragen. Diese Entlastung kommt
allen zugute - den Trinkgeldempfägern direkt oder indirekt über die Lohnsteuerabsenkung und über die Kindergeldbeträge.
({21})
Aber auch die Betriebe des Hotel- und Gaststättengewerbes - das ist ja Ihr Anliegen ({22})
werden durch die Unternehmensteuerreform und auch
im Rahmen der Förderung der Existenzgründer sowie im
Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur“ profitieren. Im übrigen
hat der Bundeswirtschaftsminister im Juni im Tourismusausschuß vorgestellt, welche Leistungen insofern
erbracht werden.
({23})
- Es ist doch unstrittig: Es waren 46 Millionen DM an
Krediten für Existenzgründer im Hotel- und Gaststättengewerbe. Ein Drittel aller geförderten Objekte bei den
Gemeinschaftsaufgaben sind dem Tourismusbereich zuzuordnen.
Es ist doch nicht so, als sei hier nichts getan worden
und als müsse man über eine solche Regelung im Einkommensteuergesetz diese Branche besonders berücksichtigen und hunderttausend neue Arbeitsplätze schaffen.
Meine Damen und Herren, dieser Antrag trägt zwar
einem populären Anliegen der Tourismusbranche und
des Hotel- und Gaststättengewerbes Rechnung. Aber ich
denke, er ist nicht bis zum Ende durchdacht. Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben würden, sollten wir
ausreichend im Rahmen der Ausschußberatung diskutieren.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
({24})
Noch bin ich
diejenige, die das Wort erteilt. Das Wort hat jetzt der
Abgeordnete Hans Michelbach.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn
dem F.D.P.-Antrag Populismus nachgesagt wird, dann
muß ich mich natürlich fragen, warum der Bundeskanzler ausgerechnet vor den Bundestagswahlen dem Hotelund Gaststättenverband genau dies versprochen hat.
({0})
Aber daß Sie jetzt versuchen zurückzurudern und „versprochen, gebrochen“ nicht ernst nehmen, nehmen wir
gerne zur Kenntnis.
Wenn man über Steuern redet, muß man die politische Ausgangslage und natürlich auch die Rechtslage
kennen und prüfen. Die politische Ausgangslage wird
durch eine aktuelle Umfrage bei 2 500 mittelständischen
Betrieben deutlich:
({1})
90 Prozent halten die Politik derzeit für absolut mittelstandsfeindlich. Für 86 Prozent sind die Standortbedingungen nach dem Rücktritt von Oskar Lafontaine
nicht besser geworden. Das macht die Unzufriedenheit
der Betriebe deutlich.
({2})
Fazit: Die wirtschaftliche Erholung in Europa schlägt
sich eben nicht im deutschen Mittelstand nieder. Kein
Wunder; denn in keinem europäischen Land müssen
Betriebe und Arbeitnehmer so hohe Steuern zahlen wie
in Deutschland. Das ist Tatsache.
({3})
Insbesondere für die Dienstleistungswirtschaft handelt
es sich durch die Verschlechterung der Rahmenbedingungen um ein verlorenes Jahr.
({4})
Die allgemeine Verunsicherung hat zu Wachstumseinbruch, Konsumzurückhaltung, zum Rückgang der Nettoumsatzrentabilität und zu Investitionshemmnissen geführt. In Deutschland - nehmen Sie das bitte ernst! - haben viele Mittelständler immer weniger Gewinn und
viele Arbeitnehmer immer weniger Nettolohn. Das haben Sie zu verantworten.
({5})
Das ist das Kennzeichen rotgrüner Wirtschafts- und
Finanzpolitik.
Insbesondere die mittelständischen Betriebe und ihre
Mitarbeiter sind durch die Steuer- und Abgabenpolitik
stark belastet worden. Zusätzlich haben Sie bürokratische Überreglementierungen vorgenommen. Rotgrüne
Politik führt unsere mittelständisch geprägte Dienstleistungswirtschaft geradezu in die Servicewüste. Leistung
wird nicht belohnt, sondern immer mehr belastet. Folgende Steuer- und Abgabenerhöhungen sind festzuhalten: die Einführung der Ökosteuer mit Mehreinnahmen
von 51 Milliarden DM bis zum Jahr 2002, die Neuregelung der 630-DM-Jobs, durch die Sie im Mittelstand
700 000 Arbeitsplätze vernichtet haben, die Scheingewinnbesteuerung durch das sogenannte Steuerentlastungsgesetz, die Steuerwillkür, zum Beispiel bezüglich
der Erschwerung der Teilwertabschreibung, die eine
wirtschaftsfeindliche Regelung darstellt, die Zusatzbelastungen durch das sogenannte Steuerbereinigungsgesetz
1999, zum Beispiel die Verschärfung der Abgabenordnung, die Verschiebung der versprochenen Betriebssteuerreform auf das Jahr 2001, jetzt die Planung zur
Abschaffung des Bankgeheimnisses und auch die Erbschaftsteuererhöhung, die morgen beschlossen werden
soll.
Meine Damen und Herren, mit diesem Zickzackkurs
und Belastungsszenario haben Sie bisher mehr Arbeitsplätze in Deutschland vernichtet, als geschaffen wurden.
Diese Situation müssen wir beklagen.
({6})
Unser Konzept hingegen ist eine Steuerreform für
alle Steuerzahler mit Niedrigsteuersätzen, Vereinfachung und Nettoentlastung. Wenn der Eingangssteuersatz niedrig ist, kommt dies natürlich jedem Arbeitnehmer zugute. Daraus kann sich steuerrechtlich vieles ergeben.
({7})
Natürlich, meine Damen und Herren, könnte eine spezielle Lösung beim Trinkgeld als Ausnahmetatbestand
die Dienstleistungsbetriebe, die Hotels und Gaststättenbetriebe mit ihren Arbeitnehmern gezielt entlasten und
vielleicht auch weiter motivieren, weil wir Dienstleistung
fördern müssen. Das ist genau der richtige Ansatz.
({8})
Zur steuerrechtlichen Lage: Hier muß es sicher eine
steuerrechtliche Klärung im Rahmen dieses Antrags geben. Eine spezielle Trinkgeldsteuer, wie es immer wieder in der letzten Legislaturperiode von Ihnen verkündet
wurde, gibt es nach unserer Auffassung nicht.
({9})
Sie haben immer wieder vertreten, es gebe in Deutschland eine Trinkgeldbesteuerung, und haben zusammen
mit Gewerkschaften des Hotel- und Gaststättengewerbes
die Bürger erheblich verketzert. Wir sollten hier Klarheit
schaffen. Arbeitnehmer müssen derzeit Trinkgelder als
Arbeitseinkommen versteuern, weil diese gemäß
Rechtsprechung und Steuerverwaltung im wirtschaftlichen Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis zufließen. Sie haben jedoch keinen Rechtsanspruch darauf.
Während auf das Trinkgeld Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden müssen - das ist ein
wesentlicher Punkt -, wird es auf der anderen Seite bei
Zahlungen der Sozialkassen an die Versicherten, also
beim Rücklauf, zum Beispiel beim Arbeitslosengeld,
nicht berücksichtigt. Das ist nicht in Ordnung. Darüber
müssen wir anhand dieses Antrages grundsätzlich reden.
Meine Damen und Herren, entscheidend für die Frage
der Besteuerung ist, ob es sich hier tatsächlich um
Arbeitslohn handelt oder ob man nicht von einer freiwilligen Zuwendung in Form einer Schenkung bzw.
einem Ausnahmetatbestand ausgehen muß.
({10})
Es gibt dafür durchaus Argumente. Dafür spricht zum
Beispiel, daß der Gast grundsätzlich nicht immer Trinkgeld zahlt, sondern nur dann, wenn er sich gut bedient
gefühlt hat. Er honoriert mit seinem Trinkgeld als freiwillige Zuwendung die Qualität der Dienstleistung, die
an die Person des Dienstleistenden gebunden ist. Sie
steht, meine Damen und Herren, daher grundsätzlich
nicht mit dem unmittelbaren Dienstverhältnis des
Arbeitgebers im Zusammenhang. Diese Argumentation
ist durchaus schlüssig.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion
wird die Frage, um welche rechtliche Form der Zahlung
es sich beim Trinkgeld tatsächlich handelt, im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf und dem Antrag
wohlwollend prüfen und zu diesem Thema auch Anhörungen mit Sachverständigen durchführen. Wir sind
offen, uns dieser Debatte zu stellen. Grundsätzlich wollen wir aber eine Entlastung aller Steuerzahler und vor
allem Vereinfachungen im Steuerrecht.
Die Trinkgeldbesteuerung verursacht zum einen
einen extrem hohen Verwaltungsaufwand bei Arbeitnehmern, Arbeitgebern und auch bei der Finanzverwaltung. Sie müssen letzten Endes den Steuererfolg durch
die Ehrlichkeit der Arbeitgeber erklären. Der Arbeitgeber haftet dafür. Es gibt hier sehr viele Probleme. Zudem sind die geltenden Haftungsregelungen für die
Abführung der Sozialversicherungsbeiträge durch den
Arbeitgeber in dem Fall, daß ihm die Höhe der Trinkgelder seiner Arbeitnehmer nicht bekannt sind, veränderungsbedürftig. Denn letzten Endes ist der Besteuerungserfolg, der auch dem Grundsatz der gleichmäßigen
Besteuerung unterliegt, bisher einfach sehr unterschiedlich, weil es hier keine klare Bemessungsgrundlage gibt,
wenn es keine Ehrlichkeit gibt.
Daneben möchte die CDU/CSU-Fraktion, daß die
Dienstleistungen in Deutschland generell - das geht über
diesen Antrag hinaus; es ist wichtig, daß wir hierüber
eine Debatte führen - besser gewürdigt und gefördert
werden. Sollte sich nach der intensiven rechtlichen Prüfung ergeben, daß die Trinkgelder Arbeitslohn darstellen, sind wir durchaus für eine beträchtliche Anhebung
des Freibetrages, um damit Vereinfachungen im Prozeß
der Besteuerung zu erhalten.
({11})
Ich glaube, man sollte hier nicht grundsätzlich nein
sagen, sondern sollte alle Argumente prüfen, insbesondere auch den Fragen des Ausnahmetatbestandes oder
der Anhebung des Freibetrages Rechnung tragen. Sicher
ist das der Weg, eine Servicewüste Deutschland zu verhindern und Dienstleistungen attraktiver zu gestalten.
Denn der Dienstleistungssektor muß besser erschlossen
werden, wenn die Arbeitslosigkeit in Deutschland nachhaltig bekämpft werden soll. Wir müssen uns insbesondere bei den Dienstleistungsarbeitsplätzen etwas einfallen lassen. Genau das ist der richtige Weg.
Meine Damen und Herren, kommen Sie in der Steuerpolitik zur Vernunft - insbesondere was die Belastung
der Wirtschaft betrifft -, indem Sie eine Steuerreform
für alle Steuerzahler beschließen: Lassen Sie uns Gespräche über eine echte Steuerreform führen! Nehmen
Sie Abstand von Teillösungen und neuen Komplizierungen, wie etwa einem reinen Betriebssteuerkonzept zu
Lasten von Personengesellschaften, Einzelunternehmen
und Arbeitnehmern!
({12})
Unser Ziel muß sein, eine Steuerentlastung für alle Steuerzahler zu schaffen, um mehr Wachstum, Investitionen,
Konsum und Beschäftigung zu erreichen.
Wenn Sie jetzt - wie wir das in wenigen Wochen von
Bundesfinanzminister Eichel erwarten dürfen - ein reines Betriebssteuerkonzept mit einer lächerlichen Nettoentlastung von 8 Milliarden DM auf den Weg bringen,
muß ich sagen: Das ist der falsche Weg. Sie müssen alle
Steuerzahler entlasten, um auch im Konsumbereich und
im Investitionsbereich weitere Fortschritte zu erzielen.
Ich hoffe, daß das gelingt und daß jetzt nicht eine einseitige Betriebssteuerkonzeption, sondern eine Steuerreform für alle Steuerzahler stattfindet, die letzten Endes
auch diese Aspekte der Dienstleistungswirtschaft positiv
gestaltet.
Vielen Dank.
({13})
Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Klaus Müller.
Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Michelbach, ich mag Ihre Rede:
Man kennt sie; es kommt nämlich in der ersten Hälfte
immer wieder das gleiche darin vor. Ich gebe zu, in
Zeiten von Textbausteinen ist das auch kein Problem.
({0})
Ich will aber einräumen, daß Sie nach der Hälfte der Zeit
tatsächlich zur Sache gesprochen haben. Wenn ich Ihre
Rede zusammenfassen darf, dann würde ich das unter
dem Motto tun: Trinkgeld für alle!
({1})
Sie wollen tatsächlich durch mehr Trinkgeld bzw. durch
geringere Besteuerung des Trinkgeldes den Dienstleistungsbereich stärken, Arbeitsplätze schaffen und die
Wirtschaft fördern. Bei aller Liebe - das gilt leider auch
für den Kollegen Burgbacher -: Glauben Sie im Ernst,
daß auch nur ein einziger Arbeitsplatz mehr geschaffen
würde, wenn wir die Trinkgeldbesteuerung in Deutschland aufheben würden? Das ist doch nicht Ihr Ernst. Das
glauben Sie selber nicht.
({2})
Das glaubt Ihnen auch niemand im Lande. Zweifelsohne
wäre das schön für jeden Betroffenen, der kellnert, Taxi
fährt oder sonst etwas tut, wofür er Trinkgeld erhält.
({3})
Das ist gar keine Frage, Herr Michelbach. Wenn Sie das
mit Freundlichkeit begründet hätten, dann hätte ich
Ihnen auch noch folgen können. Nur, mit Ihrer Argumentation hat das leider nichts zu tun.
({4})
Verehrte Kollegen von CDU/CSU und F.D.P., Sie
kommen nicht um den Vorwurf herum: Das, was Sie an
dieser Stelle machen, ist heuchlerisch.
({5})
Sie hatten nun mal 16 Jahre lang Zeit, etwas daran zu
ändern. Wenn Sie jetzt Stücklein für Stücklein nichts als
populistische Wohltaten verteilen wollen, dann ist das
unredlich von Ihnen. Das finde ich extrem schade.
({6})
Ich möchte auf einen interessanten Widerspruch auf
seiten der F.D.P. zu sprechen kommen: Sie haben Ihren
Vorschlag auf der einen Seite damit begründet, es handele sich ja um Schenkungen. Ich will einmal versuchen, diesen Gedankengang einen Moment lang nachzuvollziehen: Es handelt sich um Schenkungen. Gleichzeitig begründen Sie damit, daß Arbeitsplätze geschaffen
würden. Das ist doch ein Widerspruch in sich. Wenn wir
davon ausgehen, daß es Schenkungen sind, dann hat das
mit einem persönlichen Verhältnis zu tun, aber doch
überhaupt nichts mit der Schaffung von Arbeitsplätzen.
Ich finde, daß Sie da im weiteren Verfahren in den Ausschußberatungen noch einiges besser zu erklären hätten.
Zweite Bemerkung. Ich bin etwas enttäuscht gewesen, weil ich auf der Tagesordnung gelesen habe: Beratung des von „der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes“.
Ich dachte - ich lese immer Ihre Internetwerbung -: Super, jetzt kommt das Konzept - 15, 25 und 35 Prozent und die Erklärung, wie Sie das finanzieren wollen. Dann
schlage ich das auf, und es ist eine mickrige DIN-A3Seite zu einem einzigen Punkt. Daß Sie noch nicht einmal so ehrlich waren, es „Aufhebung der Trinkgeldbesteuerung“ zu nennen, sondern den pompösen Titel
„Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes“ verwenden, ist, so finde ich, eigentlich unter Niveau. Zudem hat hier von seiten der F.D.P.
nicht ein einziger Steuerpolitiker geredet; es ist nicht
einmal mehr einer anwesend. Wo sind denn Ihre Kolleginnen und Kollegen,
({7})
die sonst immer das große Wort von der Senkung der
Steuersätze und der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage schwingen? Mit diesem Entwurf verfolgen
Sie genau das Gegenteil.
({8})
Herr Michelbach, Sie sagen, Rotgrün habe nur Teillösungen, es bedürfe einer Gesamtlösung. Ich sage:
d'accord, haben wir schon längst gemacht!
({9})
Bei uns sinken die Steuersätze, bei uns werden alle
Leute entlastet. Was Sie hier unterstützen, ist eine Teillösung. Das ist leider - bei allem Respekt für die Gastwirtschaft - nichts als Klientelpolitik.
({10})
Ich will noch etwas zu dem konkreten Sachverhalt
sagen. Sie haben uns darauf angesprochen, was denn
wäre, wenn das Trinkgeld - so wie das zur Zeit eigentlich der Fall sein müßte - tatsächlich besteuert werden
würde. Ich habe mich einmal erkundigt, wie das bei denen ist, die kellnern. Sie geben ganz ungeniert zu, daß
sie zwischen 30 und 50 Prozent ihres Nettoeinkommens
aus Trinkgeldern bekommen.
({11})
Ich empfehle Ihnen: Sprechen Sie, wenn Sie nachher mit
dem Taxi nach Hause fahren, einmal ganz in Ruhe mit
dem Fahrer. Wenn Sie Glück haben, bekommen Sie das
offen und ehrlich gesagt. Angesichts solcher Tatbestände hat das nichts mehr mit Schenkung zu tun.
Ein anderes Beispiel: Ich weiß nicht, ob Sie einmal
das Vergnügen hatten, in einem Betrieb zu kellnern.
({12})
- Auch ich habe studiert. - Es ist gang und gäbe, daß
das Trinkgeld zwischen denen, die kellnern, und denen,
die hinten in der Küche arbeiten, geteilt wird. Denn beide machen ihren Teil der Arbeit. Fragen Sie einmal in
den Restaurants, in den Kneipen nach! Das ist gängige
Praxis und, so finde ich, ein sehr fairer Ansatz. Dies widerspricht diametral Ihrer These, daß es sich dabei um
eine individuelle Schenkung handelt. Das hat leider
nichts mit der Realität zu tun.
Ich weiß, daß es manchmal für Sie schwierig ist, das
anzuerkennen. Aber ich glaube, daß uns ein bißchen
mehr Redlichkeit in der Diskussion guttäte. Wir werden
das in der Finanzausschußberatung intensiv mit Ihnen
diskutieren, aber Ihre Argumentation müssen Sie noch
etwas schärfen.
Vielen Dank.
({13})
Klaus Wolfgang Müller ({14})
Das Wort zu
einer Kurzintervention hat der Kollege Burgbacher.
Lieber Herr Müller,
einiges kann man wirklich so nicht stehenlassen. Deshalb habe ich mich zu einer Kurzintervention gemeldet.
Erster Punkt. Ich selber bin vorsichtig, Begriffe wie
„unredlich“, „unehrenhaft“ und ähnliches zu gebrauchen. Tatsache ist, daß die SPD, Ihr großer Koalitionspartner, vor der Wahl klipp und klar versprochen hat, die
Trinkgeldbesteuerung abzuschaffen.
({0})
Dies hat Bundeskanzler Schröder versprochen. Fragen
Sie Herrn Fischer, wie er dazu steht! Ich kann Ihnen diese Äußerung übrigens nachher belegen, wenn Sie dies
wollen.
Zweiter Punkt. Eines haben Sie nicht begriffen oder
wollen Sie nicht begreifen - wahrscheinlich eher ersteres -: Es geht darum, daß wir auf die umfassenden
Strukturveränderungen, die wir in unserer Gesellschaft
und unserer Wirtschaft haben, angemessen reagieren.
Die alte Koalition hat darauf reagiert, indem sie eine
große Steuerreform beschlossen hat. Darüber, ob wir
damit zu spät dran waren, diskutieren wir heute überhaupt nicht. Tatsache ist: Sie war in diesem Hohen Hause beschlossen und ist dann gescheitert.
Das schafft neue Voraussetzungen: Sie haben eine
solche Steuerreform eben nicht gemacht. Sie haben die
Betriebe, von denen wir heute reden, in nicht geringem
Maße belastet. Ich habe einmal an einem konkreten Beispiel ausgerechnet - die Frau Staatssekretärin kennt diese Rechnung und hat sie bestätigt -, was bei einer Aufrechnung der Belastung durch die Ökosteuer mit der
Ermäßigung des Rentenversicherungsbeitrags herauskommt. Was Sie sagen, stimmt eben nicht. Sie haben
diese Betriebe stärker belastet. Jetzt geht es darum, daraus Konsequenzen zu ziehen.
Noch einmal ganz konkret zu dem, was Sie angesprochen haben: Es geht überhaupt nicht nur um die Gastronomie, sondern um viele Bereiche. Allerdings ist es fast
ausschließlich in der Gastronomie so, daß das Finanzamt
im Rahmen der Betriebsprüfung Prozentsätze für Trinkgelder ansetzt, die, soweit mir bekannt ist, zwischen 0,5
und 3,3 Prozent - eher am oberen Ende dieser Spanne liegen, und auf diesen Betrag dann Trinkgeldsteuer erhebt.
Meine Damen und Herren, wenn wir so vorgehen ich habe mich bei Finanzämtern nach genügend konkreten Fällen erkundigt, ich kann Ihnen das auch gern
nachweisen -, verletzen wir erstens den Grundsatz der
Gleichheit der Besteuerung, und wir schaffen zweitens
ein System, das immer am Rande der Legalität ist. Auf
Grund der fundamentalen Veränderungen, die es gibt,
und weil wir Arbeitsplätze schaffen wollen - das ist sehr
wohl der Zusammenhang - müssen wir endlich umdenken. Das haben auch Sie früher besprochen. Das haben
auch wir in der Fraktion heftig diskutiert, das gebe ich
gern zu. Aber wir sind zu einem Ergebnis gekommen.
Ich bitte Sie, das ein Stück weit ernster zu behandeln
und nicht einfach so nebenher abzutun.
({1})
Zur Antwort
der Kollege Müller.
Verehrter Kollege, ich nehme Ihr Anliegen
sehr ernst. Auch bei uns in der Fraktion gibt es darüber
Diskussionen. Das will ich gar nicht verhehlen. Aber bei
uns gibt es eine gewisse Stringenz in der Politik.
({0})
- Ich weiß, daß dies Ihnen von der CDU weh tut. Aber
- das gilt auch für Sie, Herr Michelbach - man kann
nicht gleichzeitig eine große Einkommensteuerreform
machen, Steuersätze senken, Bemessungsgrundlagen
verbreitern und sich bei den Punkten, bei denen dies opportun wäre - ich hätte mich auch im Wahlkampf hinstellen können und hätte zum Beispiel beim DEHOGA
viel Applaus bekommen; andere Kollegen haben ihn bekommen -, hinstellen und Punkt für Punkt die Dinge
verkaufen, die - angepaßt an das jeweilige Umfeld - angenehm, opportun, populistisch und schön sind. Das ist
gar keine Frage.
({1})
Herr Kollege, ich stimme Ihnen absolut zu, daß wir
uns auf die Dienstleistungsgesellschaft einstellen müssen. Die wird kommen. Das ist gar keine Frage. Aber
wir beide haben sehr unterschiedliche Vorstellungen
darüber, wie die Dienstleistungsgesellschaft entsteht.
Unsere Antwort darauf ist die ökologische Steuerreform,
({2})
nämlich die Lohnnebenkosten zu senken und die Energiebelastung langsam, sukzessiv, berechenbar zu erhöhen. Das hilft der Dienstleistungsgesellschaft. Das Problem sind die Lohnnebenkosten und wahrlich nicht die
Trinkgeldbesteuerung. Sie können mir nicht erzählen,
daß Ihre Vision einer Dienstleistungsgesellschaft etwas
mit der Frage nach der Besteuerung von Trinkgeldern zu
tun hat.
({3})
Wenn Sie davon ausgehen, daß in der Dienstleistungsgesellschaft zukünftig dadurch Arbeitsplätze entstehen, daß es höhere Trinkgelder gibt, haben wir einen
massiven politischen Dissens, und dann kann ich Ihnen
nur sagen, daß Sie leider auf einem Holzweg sind.
({4})
Nun erteile ich
der Kollegin Heidemarie Ehlert das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Trinkgelder gehören heute schon
zum Alltag, ob beim Friseur, in der Gaststätte oder im
Taxi. Ein gewisser Obolus wird einfach erwartet. Trinkgelder sind für manche Berufsgruppen fast schon überlebensnotwendig, weil die Löhne so niedrig sind bzw.
weil von den Arbeitgebern, also der eigentlichen Klientel der F.D.P., das Trinkgeld bei der Lohnfestlegung mit
eingeplant wird.
({0})
Allerdings ist das Trinkgeld eine freiwillige Leistung
des Kunden gegenüber dem Arbeitnehmer. Jeder kann,
aber keiner muß ein Trinkgeld geben. Insofern ist die
bisherige Regelung, die letztmalig 1990 geändert wurde,
die freiwillig gezahlten Trinkgelder bis auf einen Freibetrag in Höhe von 2 400 DM zu besteuern, zwar steuersystematisch korrekt, aber dennoch sehr fragwürdig.
({1})
Auch der Verfahrensweg, die freiwillige Meldung der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über das erhaltene
Trinkgeld an den Arbeitgeber oder die Schätzung von
Trinkgeldeinkünften durch das Finanzamt - das sind übrigens 3,5 Prozent des Umsatzes; das sollten Sie wissen,
wenn Sie einen solchen Antrag einbringen -, dient bestimmt nicht der Steuergerechtigkeit.
Mehr als fraglich ist allerdings, ob das Problem mit
dem Gesetzentwurf der F.D.P. gelöst wird. Viele Arbeitgeber zahlen so niedrige Löhne, weil sie meinen,
durch die Trinkgelder werden diese ja - zum Teil sogar
erheblich - aufgestockt. Es entspräche also der Steuergerechtigkeit, wenn sie besteuert würden.
Andererseits kann natürlich keine Friseuse, kein
Kellner und auch keine Krankenschwester mit einem festen Trinkgeld rechnen, weil sie sich ihre Kunden bzw.
Patienten nicht aussuchen kann. Deshalb gibt es an manchen Tagen eben kein Trinkgeld.
Aus unserer Sicht sollte man besser über eine Erhöhung der Freibeträge für bestimmte Berufsgruppen
verhandeln, anstatt sie abzuschaffen. Daß das machbar
ist, zeigt die jüngste Anhebung der Freibeträge für
Übungsleiter. Noch besser allerdings wäre eine Anhebung der Löhne, damit keine und keiner auf Trinkgeld
angewiesen ist,
({2})
sondern mit dem Arbeitslohn die Arbeitsleistung auch
entsprechend honoriert wird.
Das, meine Damen und Herren, ist kein Populismus,
wie man ihn uns immer vorwirft, sondern einfach sozial
gerecht.
({3})
Populistisch sind in diesem Fall die Kolleginnen und
Kollegen der F.D.P., die nun sogar von ihrem Strategiekongreß aus in die Wirtshäuser ziehen wollen, um bei
Wirten und Kellnerinnen und Kellnern Pluspunkte zu
sammeln - siehe „Frankfurter Rundschau“ vom
29. November 1999.
({4})
- Kollege Burgbacher, ich gebe Ihnen recht: Trinkgelder
sind ein persönlicher Dank für eine freundliche Dienstleistung. Aber manche Dienstleistungen werden verdammt schlecht bezahlt, und dagegen sollten Sie auftreten.
({5})
Ich schließe
damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/1731 ({0}) an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf.
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte
- Drucksache 14/1958 ({1})
- Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte
und der Patentanwälte
- Drucksache 14/1661 ({2})
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
({3})
- Drucksache 14/2213 Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Rainer Funke
Zu dem Gesetzentwurf der Regierungskoalition liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Widerspruch
dagegen höre ich nicht. Dann ist es auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Christine Lambrecht.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben
heute hier über einen Gesetzentwurf zu beschließen,
dessen maßgebliche praktische Folge ist, daß es ab dem
1. Januar 2000 für jeden Anwalt möglich sein wird, im
Anwaltsprozeß vor jedem Amts- und jedem Landgericht
im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufzutreten.
Dies kann dann unabhängig davon geschehen, in welchem Landgerichtsbezirk er oder sie zugelassen ist.
Meine Damen und Herren, als Anwältin kann ich wie
sicherlich viele meiner Kolleginnen und Kollegen feststellen, daß dies ein längst überfälliger Schritt ist. Ich
darf vielleicht einmal aus der Praxis berichten: Ich habe
eine Kanzlei in Viernheim. Ich bin am Landgericht
Darmstadt zugelassen. Das ist etwa 45 Kilometer entfernt. Ich darf am Landgericht Darmstadt derzeit als
Anwältin auftreten, aber am Landgericht Mannheim, das
nur 7 Kilometer entfernt ist, ist mir das verwehrt, weil es
eben nicht in den entsprechenden Landgerichtsbezirk
fällt.
Sie sehen, das ist eine absurde Situation. Das empfinden nicht nur die Kolleginnen und Kollegen so, sondern
eben auch viele Mandantinnen und Mandanten. Es geht
darum, daß sich der Mandant einen Anwalt aussuchen
kann, zu dem er Vertrauen hat, und darum, daß er dann
auch sicher sein kann, daß er sich von diesem Anwalt in
einem Anwaltsprozeß bei dem entsprechenden Gericht
vertreten lassen kann und daß nicht erst ein zusätzlicher
Korrespondenzanwalt bzw. Unterbevollmächtigter beauftragt werden muß.
Derzeit besteht hinsichtlich der sogenannten Postulationsfähigkeit eine in den alten und den neuen Bundesländern unterschiedliche Rechtslage. In den alten Bundesländern einschließlich Gesamtberlins darf bis dato
ein Rechtsanwalt, wie schon beschrieben, nur vor demjenigen Landgericht auftreten, in dessen Bezirk er oder
sie zugelassen ist. Eine solche Beschränkung der Zulassung war in der DDR unbekannt, so daß dort jeder
Rechtsanwalt vor jedem Gericht postulationsfähig war.
Diese Regelung wurde nach der Wiedervereinigung für
das Gebiet der ehemaligen DDR befristet bis zum Ende
des Jahres 1994 beibehalten. Eine Ausnahme hiervon
bildet Gesamtberlin.
Der Deutsche Bundestag beschloß 1994, daß die uneingeschränkte Postulationsfähigkeit der Anwälte in den
alten Bundesländern zum 1. Januar 2000 und in den
neuen Bundesländern zum 1. Januar 2005 eingeführt
werden sollte. Der Grundgedanke dieser gespaltenen
Lösung war, die damals im Aufbau befindlichen
Rechtsanwaltskanzleien in den neuen Bundesländern
vor Konkurrenz aus den alten Bundesländern zu schützen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte 1995 diese
Regelung für teilweise verfassungswidrig. Es wurde eine
Übergangsregelung eingeführt. Aus dieser Regelung ließ
sich aber nicht mit Sicherheit entnehmen, ob Anwälte
mit Sitz in den neuen Bundesländern ab dem 1. Januar
2000 auch vor Gerichten in den alten Bundesländern
auftreten dürfen. Das hätte natürlich die Folge, daß Anwälte aus den neuen Bundesländern auch in den alten
auftreten dürften; umgekehrt wäre das aber nicht der
Fall gewesen. Diese Unklarheit galt es zu beseitigen, da
ansonsten keine klare Rechtslage besteht. Für Anwälte
wie Mandanten wäre unsicher, wo die Anwälte auftreten
dürften. Deswegen ist eine unverzügliche Klärung erforderlich. Bereits jetzt gibt es ein entsprechendes Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht.
Wir haben uns im Rechtsausschuß zum Zwecke der
Klarstellung mit großer Einmütigkeit für die vorliegende
bundeseinheitliche Regelung entschieden. Jetzt liegt
eine befriedigende und Rechtssicherheit schaffende Regelung vor. Wir brauchen heute, zehn Jahre nach der
Wiedervereinigung, nicht mehr nach Ost und West, nach
neuen und alten Bundesländern, zu unterscheiden.
Gerade am Beispiel Berlin kann man sehr schön sehen, daß Anwälte aus dem ehemaligen Ostteil keineswegs vor der Konkurrenz aus dem Westteil geschützt
werden müssen; vielmehr hat sich genau hier herausgestellt, daß dieser Konkurrenzschutz auf Grund der Qualifikation überhaupt nicht mehr erforderlich ist. Die Anwaltskanzleien haben sich der Konkurrenz gestellt und
ihr standgehalten.
Ich möchte noch kurz etwas zu dem Entschließungsantrag sagen. Die Forderung wurde laut, im Zusammenhang mit dieser Neuregelung nunmehr auch die Gebühren im Osten auf 100 Prozent anzuheben. Für meine
Fraktion kann ich sagen, daß es grundsätzlich anstrebenswert ist, auch hier zu einer einheitlichen Regelung
zu kommen. Solange allerdings eine unterschiedliche
Einkommenssituation in den alten und in den neuen
Bundesländern gegeben ist, ist eine einheitliche Regelung noch verfrüht; momentan wäre eine gesamtdeutsche 100prozentige Gebührenregelung noch nicht sachgerecht.
Wir sollten auch an die Mandantinnen und Mandanten denken, die diese 100 Prozent der Gebühren zu zahlen hätten. Das würde in den neuen Bundesländern zu
Problemen bei der Entscheidung über das Einreichen
einer Klage führen. Ich denke, eine solche Entscheidung
darf nicht vom Geldbeutel abhängen. Darüber hinaus
würde es in dieser Frage momentan kein Einverständnis
mit den Ländern geben. Eine einheitliche Regelung hätte
ja auch zur Folge, daß Gerichtskosten und Prozeßkostenhilfe höher wären, was zu Lasten der Länderhaushalte ginge.
Grundsätzlich werden wir sicherlich zu einer einheitlichen Gebührenregelung kommen müssen.
({0})
- Herr Funke, das wird sicherlich dann der Fall sein,
wenn sich die Einkommenssituation im Osten der im
Wegen angenähert hat. Für mich ist das eine der Grundvoraussetzungen.
Wir haben heute einen großen Schritt in der tatsächlichen Umsetzung der deutschen Einheit getan. Es handelt
sich um einen großen rechtspolitischen Erfolg. Ich
möchte mich bei allen Kolleginnen und Kollegen im
Rechtsausschuß für die sehr sachliche und qualifizierte
Zusammenarbeit bedanken.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Manfred Kanther.
Ich bedanke mich
für die Promotion, Frau Präsidentin.
Auch ich war
erstaunt; aber so steht Ihr Name auf meinem Zettel.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Es geht um die Frage, ob wir
Rechtsunklarheit bestehen lassen dürfen, wenn ein westdeutscher Anwalt vor einem Gericht in den neuen Bundesländern auftritt. Es geht darum, ob wir es den rechtsuchenden Bürgern zumuten können, daß sie mit einem
gut begründeten materiellen Anspruch nach Schwerin,
Erfurt oder Gera ziehen, wo ihnen dann möglicherweise
gesagt wird: Du hast einen westdeutschen Anwalt, der
kann hier nicht auftreten. Irgendwann bündelt der Bundesgerichtshof die Frage, wer wo auftreten darf.
Es ist nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts völlig ausgeschlossen - egal, für welche
Auffassung in diesem Streit mehr oder weniger spricht -,
daß man so mit den rechtsuchenden Bürgern umgeht.
Deshalb war es notwendig, daß wir diese Sache aufgreifen. Das haben wir auch getan. Wir haben glücklicherweise eine einvernehmliche Lösung gefunden, so wie es
die Frau Kollegin vorgetragen hat. Deshalb möchte ich
dies nicht ein zweites Mal tun. Rechtssicherheit ist ein
wichtiger Aspekt des Rechtsstaates.
Mit der Gebührenfrage hat die Sache - dies wurde
richtig ausgeführt - nichts zu tun. Viele Aspekte lassen
eine Angleichung der Einkommen in den neuen Bundesländern an die in den westlichen Bundesländern
wünschenswert erscheinen. Trotzdem kann sie erst
schrittweise erreicht werden. Das ist im Anwaltsbereich
ähnlich. Eine solche Angleichung werden wir in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft erreichen. Aber
glücklicherweise hat die Anwaltschaft in den neuen
Bundesländern eine eigene respektable Position entwikkelt und kann Konkurrenzdruck aushalten, auch aus dem
Westen. Das Beispiel Berlin zeigt dies. Ich glaube deshalb, daß wir eine notwendige Rechtsvereinheitlichung
bewirken können.
Danke sehr.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Wir erleben jetzt eine etwas verspätete Anwaltsstunde. Ich möchte zuerst ein paar kritische Worte
sagen, bevor ich auf das Gesetz zu sprechen komme. Ich
bin seit über 30 Jahren als Anwalt tätig und habe festgestellt, daß sich das Berufsbild des Rechtsanwalts in
Deutschland vor allen Dingen in den letzten fünf bis
zehn Jahren sehr stark verändert hat, und zwar für mein
Gefühl und für meine Begriffe nicht nur zum Vorteil.
Anwälte dürfen jetzt auch werben. Bald wird in Werbespots für Anwaltskanzleien und für Anwaltsfirmen geworben werden. Anwälte dürfen sich Fachanwälte nennen, das heißt, sie dürfen sagen: Ich bin Fachanwalt für
Strafrecht oder für Arbeitsrecht. Sie dürfen sich also von
den anderen abheben. Das Dramatischste ist: Anwälte
dürfen jetzt auch Firmen gründen, so wie es in den USA
schon seit langem gang und gäbe ist. Riesige Anwaltsfirmen entstehen in der Bundesrepublik, die nahezu alle
Großstädte abdecken und den kleinen, gemütlichen Anwaltspraxen, die ganz nahe am Mandanten agieren, das
Wasser abgraben. Dies ist ein Problem. Aber diese Entwicklung können wir - von meinem Standpunkt aus betrachtet: leider - nicht zurückdrehen. Es gibt auch im
Anwaltsbereich eine Markt- und Konkurrenzwirtschaft.
Es geht darum, wer sich auf dem Markt mit seinen materiellen und finanziellen Mitteln am besten durchsetzt.
Die Anwälte, die Einzelpraxen oder kleine Praxen haben, werden zumindest in den Großstädten langfristig
auf der Strecke bleiben. Ich finde diese Entwicklung
nicht besonders begrüßenswert.
Das heutige Gesetz bringt in diesem Bereich eine
Vervollständigung. Ich glaube, es wäre falsch, zu sagen,
wir können und wollen diese Entwicklung zurückdrehen. Wir müssen natürlich auch zur Kenntnis nehmen,
daß auch die Anwälte, die Anwaltsvereinigungen und
die Anwaltskammern diese Entwicklung sehr stark forciert haben, zum Beispiel weil in den entsprechenden
Vereinigungen die großen Anwaltsfirmen das Sagen haben oder aus praktischen oder irgendwelchen anderen
Gründen. Jedenfalls durfte bis vor einigen Jahren ein
Anwalt nur vor einem Landgericht oder einem Familiengericht, zum Beispiel in Berlin, in Stuttgart oder in
Tübingen, auftreten. Dadurch wurde erreicht, daß die
großen Firmen auch Platz für die kleinen Anwälte lassen
mußten. Dies ist bereits aufgeweicht, und mit diesem
Gesetz soll diese Entwicklung weitergeführt und die
Ungerechtigkeiten beseitigt werden, die durch diese
Aufweichung entstanden sind. In Zukunft soll jeder
Anwalt - darauf ist schon richtig hingewiesen worden an jedem deutschen Landgericht und an jedem deutschen Familiengericht tätig werden können. Dies wird
natürlich bedeuten, daß ein Anwalt aus München, Hamburg oder Berlin in Zukunft in Erfurt, Leipzig, Essen,
Düsseldorf oder Köln engagiert werden kann und vor
dem entsprechenden Landgericht auftreten kann.
Das halte ich - auch vor dem Hintergrund meiner Berufserfahrungen als Anwalt - für außerordentlich problematisch, aber es ist nicht mehr zurückzudrehen. Es
geht uns jetzt darum, einheitliches Recht für ganz
Deutschland zu schaffen. Dazu ist dieses Gesetz sicherlich der richtige Weg. Es schafft Ungerechtigkeiten, die
bisher zwischen alten und neuen Bundesländern bestanden haben, ab und vereinheitlicht das Recht. Das ist
richtig; ich wollte trotzdem einige kritische Anmerkungen zu dieser Entwicklung nicht unterlassen.
In der Frage, ob Anwälte aus Stuttgart, Berlin ({0})
oder München, die in Erfurt oder Leipzig tätig werden,
dasselbe verdienen sollen, was sie in Stuttgart oder Köln
verdienen, teile ich die Auffassung meiner Vorredner,
daß das völlig unvertretbar wäre. Ich bin zwar selber
Anwalt und weiß, daß die Kollegen auf mich schauen
und viele von ihnen dieses fordern. Sie sehen nämlich
nicht ein, daß sie für dieselbe Arbeit in einem der östlichen Länder weniger Geld bekommen, da sie, wenn sie
in Köln oder Berlin wohnen, auch höhere Lebenshaltungskosten bestreiten müssen. Dabei treten jetzt sicherlich Ungerechtigkeiten auf.
Eine andere Überlegung halte ich aber für wichtiger
und durchschlagender: Solange die Gehälter und Einkommen, auch die der Arbeiter, Angestellten und Beamten im öffentlichen Dienst, im Osten geringer sind als
im Westen, wäre es überhaupt nicht zu vertreten und zu
vermitteln, daß die Menschen für Anwaltstätigkeiten in
Zukunft das gleiche wie bei Anwälten im Westen zahlen
sollen. Das kann erst dann kommen, wenn auch die
Löhne und Gehälter angeglichen werden.
Wir tragen also die Änderung des § 78 der Zivilprozeßordnung mit, lehnen aber alle Bestrebungen ab, die
dahin gehen, daß die Anwälte im Osten die gleichen
Sätze wie die im Westen erhalten. Das wäre ungerecht;
deshalb müssen wir den Antrag der F.D.P. ablehnen.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Herr Kollege Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Frau Kollegin Lambrecht hat die
grundlegenden Fragen angesprochen, so daß ich mir
vieles ersparen kann.
Eine Novellierung des § 78 ZPO ist ja einmal durch die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und die
unterschiedlichen Meinungen im Schrifttum notwendig
geworden. Aber auch die vielleicht nicht ganz richtige
Antwort der Bundesregierung auf meine parlamentarische
Anfrage schuf neue Unsicherheiten. Jetzt wird durch die
Novellierung des § 78 ZPO Rechtssicherheit geschaffen.
Das heißt, daß alle bei einem Amts- und Landgericht in
Deutschland zugelassenen Rechtsanwälte ab 1. Januar
2000 bei allen Land- und Familiengerichten auftreten dürfen. Damit dient diese Novellierung auch der Herstellung
der Rechtseinheit in Deutschland. Es macht keinen
Sinn, zehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung
zwei geteilte Rechtskreise hinsichtlich der Postulationsfähigkeit aufrechtzuerhalten.
Es gibt jetzt - damit komme ich zu dem Antrag der
F.D.P. - nur noch in einem Punkt eine unterschiedliche
und, wie ich meine, nicht vertretbare Regelung. Es handelt sich um den 10prozentigen Abschlag bei den
Rechtsanwaltsgebühren. Wir fordern mit diesem Antrag, daß die Bundesregierung diesen Gebührenabschlag
unverzüglich aufhebt. Für gleiche Leistungen müssen
Anwälte in Ost und West auch die gleichen Gebühren
erhalten.
({0})
Schließlich sind ja die Kostenbelastungen - das wissen
Sie, Herr Kollege Ströbele, und haben es auch ehrlicherweise gesagt - der Kanzleien in Ost und West auch
vergleichbar. Sie bestrafen also bislang die Anwälte im
Osten, wo zudem in der Regel auch noch die Gegenstands- bzw. Streitwerte niedriger liegen.
Die Fortgeltung eines 10prozentigen Gebührenabschlages führt im übrigen zu einer nicht vertretbaren Justizbelastung, denn der Rechtspfleger muß jetzt immer
sorgfältig prüfen, ob Anwälte aus dem Westen oder dem
Osten aufgetreten sind; bei den Kostenfestsetzungsbeschlüssen wird das ja evident.
Auch unter dem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt der Gleichbehandlung der Anwälte in Ost und
West plädiere ich daher für eine sofortige Aufhebung
des 10prozentigen Gebührenabschlags. Das wäre, Frau
Ministerin, ja auch jederzeit durch eine entsprechende
Rechtsverordnung der Bundesjustizministerin möglich.
Sie haben ja auch bereits genauso wie die Kollegin
Lambrecht angekündigt, daß das bald geschehen könnte.
Ich sehe nicht ein, warum Sie es, wenn Sie das im
Frühjahr nächsten Jahres sowieso machen wollen, nicht
gleich machen.
({1})
- Das ist nicht ungerecht, Herr Kollege Ströbele.
Mit der Novellierung des § 78 ZPO und der Abschaffung des Gebührenabschlags wäre die Rechtseinheit in
Deutschland wieder hergestellt. Das wäre nur zu begrüßen.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Evelyn Kenzler.
({0})
Für mich gibt es heute
sozusagen einen Sitzungsmarathon.
Wenn Sie
heute Geburtstag haben, möchte ich Ihnen gerne im
Namen des ganzen Hauses gratulieren.
({0})
Ich danke Ihnen für die
freundliche Gratulation. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da unser Abstimmungsverhalten hinsichtlich des Regierungsentwurfes von dem der
anderen Parteien abweichen wird, habe ich die Möglichkeit, noch einige andere Aspekte einzubringen.
„Anwälte aus Ost und West bald gleichgestellt“, lautet eine Meldung in der Presse zur Anhörung über die
Postulation. Der mit der Sache nicht näher Vertraute
dürfte diese Nachricht mit Genugtuung aufgenommen
haben: wieder ein kleiner Schritt zur Angleichung der
Arbeits- und Lebensverhältnisse. Wie schön, wenn es da
nicht ein Problem mit der Gerechtigkeit gäbe. Danach ist
die gleiche Behandlung von wesentlich Ungleichem
schlichtweg ungerecht. In einem solchen Falle wird bekanntlich die Gleichheit als ein Verbot an den Gesetzgeber verstanden, Ungleiches gleichzubehandeln.
Ungleich sind die Verhältnisse für die Rechtsanwälte
nachweislich noch immer. Es ist einfach nicht wahr,
wenn behauptet wird, der Schutz der Kanzleien in den
neuen Bundesländern sei nicht mehr notwendig, wie es
im Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen heißt.
({0})
Die Struktur der Anwaltschaft ist im neuen Bundesgebiet nach wie vor völlig anders als im alten. Ich verweise nur auf die deutlich kleineren Kanzleien, die sich
zum Teil noch in der Aufbauphase befinden, auf die viel
geringere Zahl von Fachanwälten, die auch eine fehlende anwaltliche Spezialisierung signalisiert, auf schlechtere Weiterbildungsmöglichkeiten und nicht zuletzt auf
die niedrigeren Gebühren. Kurzum: Für ostdeutsche
Anwälte ist die Situation im Vergleich zu ihren westdeutschen Kollegen eindeutig ungünstiger. Man darf
hier nicht nur den Vergleich zu Ostberlin nehmen; man
muß ihn zu allen neuen Bundesländern ziehen.
({1})
Sie wird durch den Gesetzentwurf nicht etwa verbessert,
sondern weiter verschlechtert.
Die Befristung der Ungleichbehandlung von Anwälten in Ost und West bis zum 31. Dezember 2004 war
bekanntlich als Schonzeit für die Ost-Anwälte bis zur
erwarteten Konsolidierung der wirtschaftlichen und
rechtlichen Verhältnisse in den neuen Bundesländern
gedacht. Wenn nunmehr völlig unvorbereitet dieser
Konkurrenzschutz zum Januar 2000 aufgehoben wird,
auf den die Anwälte im Glauben an den Bestandsschutz
vertraut haben, dann sähen sich ihre Kanzleien einem
überraschenden wirtschaftlichen Druck ausgesetzt, dem
sie nach Einschätzung der Sachverständigen aus den
neuen Bundesländern nicht gewachsen wären.
Auf der Anhörung hat ein Vertreter der Anwaltschaft
Ost in Abstimmung mit den Anwaltskammern geradezu
flehentlich um die Beibehaltung der Konkurrenzschutzklausel bis 2004 gebeten; ansonsten seien ein Kanzleisterben größeren Ausmaßes sowie der Verlust von Arbeits- und Ausbildungsplätzen zu befürchten. Dem
Sekretariat des Rechtsausschusses liegen deshalb
Schreiben über Schreiben ostdeutscher Anwälte zur
Beibehaltung der Konkurrenzschutzklausel vor; ich kann
das aus meinem eigenen Büro bestätigen. Auch die ostdeutschen Justizminister haben einstimmig befunden,
daß das vorgezogene Inkrafttreten des neugefaßten
§ 78 ZPO in allen Bundesländern nicht im Interesse der
Entwicklung der Rechtspflege in den neuen Bundesländern liegt.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Die PDS ist
selbstverständlich für eine schnellere Rechtsangleichung
und eine Gleichstellung der Bürger in unserem Lande,
zu der auch die Angleichung der Arbeitsbedingungen für
die einzelnen Berufsgruppen gehört. Doch ich frage
mich, was - außer einer klarstellenden Regelung - das
rechtspolitische Anliegen des Gesetzentwurfs sein soll.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lambrecht?
Ja.
Frau Kollegin, würden
Sie mir zustimmen, daß die Neuregelung des Berufsrechts insbesondere für die Kanzleien in den neuen
Bundesländern auch die Möglichkeit eröffnet - hier
werden zusätzliche Betätigungsfelder geschaffen -,
nunmehr in den alten Bundesländern aufzutreten?
Diese Feststellung ist
durchaus zutreffend. Aber man muß natürlich sehen, daß
auf Grund der ungünstigeren wirtschaftlichen Situation
viele Rechtsanwälte in den neuen Bundesländern gar
nicht die logistischen Voraussetzungen haben, um von
dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen.
Erlauben Sie
eine zweite Zwischenfrage?
Ja.
Ich denke, daß insbesondere für Kanzleien, die in den Randgebieten zu den
alten Bundesländern liegen, diese Logistikprobleme
nicht sonderlich schwer zu lösen sein werden. Würden
Sie mir zustimmen, daß die unterschiedliche Gebührenregelung - die Gebühren in den neuen Bundesländern
liegen bei 90 Prozent - für Rechtsanwälte in den Randgebieten unter Umständen sogar ein Wettbewerbsvorteil
gegenüber Rechtsanwälten aus den alten Bundesländern
sein könnte?
Ja, das könnte sein. Aber
man muß natürlich die durchschnittlichen Verhältnisse
der Anwaltskanzleien in den neuen Bundesländern sehen. Dann kommt man zu der Feststellung, daß es kein
Wettbewerbsvorteil ist, weil die Masse dieser Kanzleien
eben nicht in den Randgebieten liegt.
({0})
Ich möchte wiederholen: Die PDS ist selbstverständlich für eine schnelle Rechtsangleichung und für eine
Gleichstellung der Bürger in unsrem Land auch der BeDr. Evelyn Kenzler
rufsgruppen. Doch ich frage mich, was - außer einer
klarstellenden Regelung - Ihr Anliegen ist. Die Gleichstellung der Rechtsanwälte ist es offenbar nicht, denn
dann müßte parallel dazu zumindest die Aufhebung des
10prozentigen Gebührenabschlages für die Rechtsanwälte der neuen Bundesländer erfolgen.
({1})
Wenn sie nämlich jetzt in den alten Bundesländern tätig
sein können, ist diese Differenz nicht mehr nachzuvollziehen.
({2})
Ich appelliere deshalb insbesondere an meine Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten aus den neuen Bundesländern, gegen die Aufhebung der Sonderregelung zu
stimmen. Die Schaffung von Rechtsgleichheit produziert
hier Chancenungleichheit und damit letztlich auch Ungerechtigkeit.
({3})
Frau Kollegin
Kenzler, es ist etwas ungewöhnlich, trotz des Geburtstages fast den ganzen Tag im Parlament zu verbringen.
Wie auch immer: Ich möchte Ihnen an dieser Stelle im
Namen des ganzen Hauses zum Geburtstag gratulieren.
({0})
Ich erteile jetzt für die Bundesregierung dem Parlamentarischen Staatssekretär Eckhart Pick das Wort.
Ich möchte Ihnen, Frau Kenzler, ganz persönlich gratulieren. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstag! Dreifach hält ganz besonders gut.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Bundesregierung begrüßt den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen. Sie bedankt sich beim Rechtsausschuß
für die hervorragende und zügige Arbeit. Es freut uns
vor allen Dingen, daß die Beratungen auf Basis eines
breiten Konsenses stattgefunden haben. Wir halten die
Neuordnung des anwaltlichen Berufsrechts von 1994 in
einem wichtigen Punkt für klärungsbedürftig; denn - das
ist schon gesagt worden - die Rechtslage ist alles andere
als eindeutig. Auch der Spruch des Bundesverfassungsgerichtes hat in dieser Frage leider nicht zu mehr
Rechtsklarheit geführt.
Der vorliegende Gesetzentwurf führt also zu mehr
Rechtsklarheit und zu mehr Rechtssicherheit. Vor allen Dingen wird dadurch ein Zustand aufgehoben, der
heute eigentlich nicht mehr angemessen ist, nämlich daß
wir zwei getrennte Zulassungsgebiete, Ost und West,
haben. Dieser Zustand wird am 31. Dezember dieses
Jahres voraussichtlich enden. Ein erneuter Anlauf, um
dieses Gesetz auf den Weg zu bringen, war notwendig.
Die Schaffung eines einheitlichen Zulassungsgebietes ist
die richtige Lösung.
Frau Kenzler, ich habe sehr viel Verständnis für Ihre
Bemerkungen, die Sie bezüglich der ostdeutschen Anwältinnen und Anwälte gemacht haben. Aber ich denke,
daß es 10 Jahre nach der Einheit zumutbar ist, daß wir
für gleichartige Verhältnisse sorgen und - auf diesen
Punkt ist schon hingewiesen worden - durch diesen Gesetzentwurf den Anwälten die Möglichkeit eröffnen, an
allen Gerichten postulieren zu können. Ich denke, dies
ist für die Kolleginnen und Kollegen aus den neuen
Bundesländern ein großer Vorteil. Es handelt sich also
um eine sinnvolle Regelung. Im übrigen haben wir festzustellen, daß sich die Verhältnisse insofern normalisiert
haben, als die Anwaltsdichte in den neuen Bundesländern der in den vergleichbaren Flächenländern im alten
Bundesgebiet durchaus entspricht. Insoweit ist der Stand
in den entsprechenden Oberlandesgerichtsbezirken
schon sehr stark angenähert. Von daher bedarf das
Dienstleistungsangebot der Kanzleien in den neuen Bundesländern nicht mehr eines besonderen Schutzes. Das
sehen die Anwaltsverbände genauso. Ich habe allerdings
auch viel Verständnis für die, die diesen neuen Rechtszustand für sich selber nicht so eindeutig als vorteilhaft
sehen. Ich meine allerdings, zehn Jahre nach der Wiedervereinigung ist es an der Zeit, hier für einheitliche
Rechtsvoraussetzungen zu sorgen.
Ich möchte noch eine Bemerkung zum Entschließungsantrag der F.D.P. machen. Der Abschlag, der
durch den Einigungsvertrag eingeführt worden ist, bezieht sich auf die Anwaltsgebühren sowie die Gebühren und Entschädigungssätze nach den übrigen Kostengesetzen. Wir haben hier eine ganze Reihe von gesetzlichen Regelungen, in denen dieser Abschlag noch gültig ist. Ich darf für die Bundesregierung sagen, daß wir
alle Bestrebungen unterstützen, die zur Herstellung gleicher Lebensbedingungen in Ost und West führen. Deswegen, Herr Funke, haben wir für das Anliegen des Antrags großes Verständnis. Trotzdem kann die Bundesregierung diesem Vorschlag derzeit noch nicht entsprechen. Sie wissen, daß das Bundesministerium der Justiz
durch den Einigungsvertrag ermächtigt ist, diese Ermäßigungssätze zur Anpassung an die wirtschaftlichen
Verhältnisse neu festzusetzen oder aufzuheben. Ein wesentlicher Parameter zur Beurteilung der wirtschaftlichen Verhältnisse sind die Einkommensverhältnisse.
Diese sind bekanntlich noch nicht so weit angenähert.
Insofern haben wir auch nicht die Ermächtigung, jetzt
schon zu handeln. Aber wir werden die Entwicklung genau im Auge behalten. Das ist auf die Dauer kein tragbarer Zustand; das wird auch von uns so gesehen. Wir
wollen hier in Zukunft zu einer Annäherung kommen.
Allerdings - das ist die letzte Bemerkung - wollen wir
das nicht wider die neuen Bundesländer tun, die uns gebeten haben, mit einer entsprechenden Anhebung noch
zu warten. Aber ich denke, aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte
und der Patentanwälte auf den Drucksachen 14/1958
und 14/2213 Buchstabe a. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Gesetzentwurf gegen die Stimmen der PDS-Fraktion
angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/2256. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Regierungsmehrheit abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung des
Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte auf Drucksache 14/1661.
Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/2213
unter Buchstabe b, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit allen
Stimmen des Hauses angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kersten Naumann, Eva-Maria Bulling-Schröter,
Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Die Rolle der deutschen Landwirtschaft in der
europäischen Agrarpolitik und die Strategie
der Bundesregierung bei der Mitgestaltung
der Agenda 2000
- Drucksachen 14/353, 14/1122 Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie der
Fraktion der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
PDS-Fraktion die Kollegin Kersten Naumann.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Als die PDS-Fraktion im zeitigen
Frühjahr eine Große Anfrage zur Rolle der Bundesrepublik bei der Mitgestaltung der Agenda 2000 stellte, in
der sie verlangte, die Spezifika der einzelnen Länder zu
analysieren, um davon Initiativen abzuleiten, ging sie
davon aus, daß die Antwort schnell kommt. Denn wir
wollten im Interesse der Bäuerinnen und Bauern konstruktiv an der Gestaltung der Agenda mitarbeiten. Doch
was geschah? Die Bundesregierung zögerte diese Antwort hinaus. Ich kann dabei nicht an Zufall oder an
überlastete Beamte glauben.
({0})
Nichtsdestotrotz hat das Thema nicht an Aktualität
verloren. Der Agrarminister servierte uns nach der
Haushaltsdebatte goldene Worte von einer „verantwortbaren“ Balance im Agrarhaushalt zwischen großen und
kleinen Betrieben, zwischen sozialer Stabilität und
Wettbewerbsfähigkeit, zwischen Ost- und Westdeutschland. Diese goldenen Worte und der Entschließungsantrag der SPD sind die Fortsetzung der Antworten der Bundesregierung auf die Große Anfrage der
PDS. Von Politikwechsel also keine Spur.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es den Bauern mit der Agenda 2000 und den Einsparungen im
Agrarhaushalt so gut geht, wie Minister Funke Eigenlob
austeilt, dann steht die Landwirtschaft vor einem Boom
von Arbeitsplatzangeboten, und der ländliche Raum
steht nicht nur vor „blühenden Landschaften“, sondern
vor dem Paradies auf Erden.
({1})
Der Clou ist aber, daß der Minister bereits jetzt laut darüber nachdenkt, ob und inwieweit die steuerlichen Sonderregelungen für die Landwirtschaft heute noch ihren
Zweck erfüllen.
({2})
Wie weit will er die Landwirte eigentlich noch knebeln?
Wenn sich die Agrarpolitik der klassischen Mittel der
Politik der Marktwirtschaft bedient, dann könnte die
Landwirtschaft gleich von anderen Ministerien und von
Institutionen der Wirtschaft verwaltet werden, und wieder könnte Minister Funke wahnsinnig einsparen - angefangen bei seinem Ministerium.
Defizite in der Wettbewerbsfähigkeit, wie sie auch
im Entschließungsantrag der SPD beschrieben werden,
sind historisch begründet. Die Bundesregierung kann
doch nicht innerhalb weniger Jahre das Leitbild der
Landwirtschaft wechseln wie andere ihr Hemd.
({3})
Wenn es im SPD-Antrag heißt: „Chancen der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft auf den Märkten
verbessern“, dann steht dahinter doch die Sicherung von
Marktanteilen auf Kosten anderer Länder und nicht
wettbewerbsfähiger Betriebe - und das bei einer Regierung, die für sich in Anspruch nimmt, europafreundlich
und gerechtigkeitsliebend zu sein. Und wenn es im Antrag der SPD weiter heißt, daß „Voraussetzungen für die
positive Entwicklung der landwirtschaftlichen Einkommen geschaffen werden“, dann ist das angesichts des
brachialen Agenda- und Sparprozesses reine Makulatur.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Liebe Kolleginnen und Kollegen, spätestens seit Seattle müßten Sie, meine Damen und Herren von der Regierung, doch wissen, daß sich die Benachteiligten zur
Wehr setzen. Noch ist nicht abzusehen, ob ein tragfähiger Kompromiß überhaupt möglich ist. Wenn die Bundesregierung in ihrer Antwort darauf verweist, daß die
„weitere Liberalisierung der Weltagrarmärkte ... nur akzeptabel ({4}), wenn faire Wettbewerbsbedingungen
herrschen“, dann ist das politische Blindheit oder
Volksverdummung.
({5})
Wir haben in unserer Großen Anfrage bewußt nach
den verschiedenen Produktionsbedingungen für die
Landwirtschaft in Europa gefragt. Es zeigt sich, wie
differenziert die Bedingungen in den einzelnen europäischen Ländern und Regionen sind und wie sich die
Wettbewerbschancen verteilen. Diese Differenziertheit
konnte auch nicht durch die Kohäsionsfonds und die
Agrarstrukturpolitik verringert werden. Noch immer ist
das Jahreseinkommen einer bäuerlichen Familie in Belgien viermal so hoch wie in Griechenland. Es beträgt in
Italien in Betrieben mit 4 bis 8 Hektar nur etwa ein
Zehntel von dem in Betrieben mit über 100 Hektar. Allein mit Marktinstrumenten, Umwelt- und Sozialstandards sind keine gleichen Wettbewerbsbedingungen
realisierbar.
Die Entwicklungsländer befürchten zu Recht, daß
diese Instrumente vor allem dazu dienen sollen, Wettbewerbsvorteile für die Industrieländer zu schaffen. Aus
den Antworten der Bundesregierung ergibt sich, daß sie
mit einer zunehmenden „Abhängigkeit der Entwicklungsländer von Nahrungsmittelimporten aus Industrieländern“ und „steigenden Weltmarktpreisen“ für Nahrungsgüter rechnet. Diese neue Form des Kolonialismus
wird gegenwärtig schon praktiziert, wenn zum Beispiel
mit Nahrungsmittel- und Ölhilfen politisches Wohlverhalten erzwungen wird. Dies hat aber immer zu neuen
scharfen Konflikten geführt und ist gegen die Völker
gewandt.
({6})
Was wir brauchen, ist eine Weltwirtschaft, die es den
Völkern ermöglicht, ihre eigenen Potenzen zu entwikkeln und unabhängig zu werden.
Die vorhergesagten steigenden Weltmarktpreise werden den Hunger nicht besiegen, sondern noch vergrößern. Und wenn in den Hungerländern die Kaufkraft
fehlt, dann werden auch die Preise einbrechen und auf
die Produzenten zurückfallen. Sie fordern deshalb zu
Recht die Verwirklichung eines „europäischen Landwirtschaftsmodells“. Dieses hat der Wirtschafts- und
Sozialausschuß der EU erarbeitet, das wird sicher auch
Ihnen von der SPD bekannt sein.
Die PDS hat ihre Position im vorliegenden Entschließungsantrag vorgelegt. Er enthält die Grundrichtungen
der Vorstellungen des EU-Ausschusses.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Regierung, Ihre Verantwortung für Chancengleichheit für alle
Bäuerinnen und Bauern in Europa ernst nehmen, dann
können Sie gar nicht anders, als unserem Antrag zuzustimmen.
Danke schön.
({7})
Für die SPDFraktion spricht jetzt der Kollege Karsten Schönfeld.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Seit den Anfängen der europäischen
Integration ist die gemeinsame Agrarpolitik der wichtigste Politikbereich des geeinten Europas. Die Landwirtschaft war in den letzten 40 Jahren mit großem Erfolg
ein zentrales Element der europäischen Einigung. Die
gemeinsame Agrarpolitik muß weiter reformiert werden,
um die langfristigen Perspektiven der europäischen und
der deutschen Landwirtschaft zu verbessern. Nur so
können die Wettbewerbsfähigkeit gesteigert und gleichzeitig die ländlichen Räume weiterentwickelt werden.
Wir verfolgen in der europäischen Agrarpolitik vor
allem drei Ziele: erstens die Schaffung einer wettbewerbsfähigen Landwirtschaft, die in der Lage ist, sich
auf die Anforderungen des Weltmarktes einzustellen
und den Landwirten einen angemessenen Lebensstandard zu sichern; zweitens die Verwirklichung einer
nachhaltigen und qualitätsorientierten Landwirtschaft,
die mit gesunden, umweltfreundlichen und tiergerechten
Produktionsmethoden qualitativ hochwertige Erzeugnisse herstellt und damit die Verbrauchererwartungen erfüllt; und schließlich drittens die Förderung lebendiger
ländlicher Räume und einer Landwirtschaft, die auch die
Lebensqualität auf dem Lande erhält und die Landschaft
bewahrt.
({0})
- Machen wir!
Die Bundesregierung hat in den Verhandlungen zur
Agenda 2000 substantielle Verbesserungen für die Landwirtschaft in Deutschland erreicht, auch wenn das von der
Opposition immer wieder in Abrede gestellt wird.
({1})
Negative Auswirkungen auf die Einkommen konnten
deutlich verringert werden. Die Benachteiligung größerer landwirtschaftlicher Betriebe durch eine Begrenzung
der direkten Einkommensübertragungen haben wir verhindert. - Ich hätte mir gewünscht, daß die Kollegin von
der PDS das auch einmal gewürdigt hätte. - Durch die
schrittweise Umsetzung der Beschlüsse und die zeitliche
Streckung der notwendigen Neuregelungen wird die
Anpassung der Betriebe an die neuen Rahmenbedingungen erleichtert.
Der Bundesregierung sei an dieser Stelle nochmals
für die kluge Führung der Verhandlungen um die Agenda 2000 gedankt.
({2})
Als Thüringer, liebe Kolleginnen und Kollegen, habe ich
in vielen Gesprächs- und Diskussionsrunden mit Landwirten erlebt, wie wichtig diese Verhandlungserfolge für
die Landwirte sind, vor allem auch für die Landwirte in
den neuen Ländern.
({3})
Trotzdem: Die Wettbewerbssituation der Landwirtschaft ist weiterhin schwierig. Es bestehen nach wie
vor Defizite hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe. Es bestehen strukturelle Schwächen sowohl
in der Agrarstruktur als auch in der Verarbeitungs- und
Vermarktungsstruktur. Im europäischen Vergleich sind
die Betriebsgrößen in Deutschland klein, der Anteil des
Betriebseinkommens aus dem Absatz von Agrarprodukten ist bei uns geringer als in vielen Nachbarländern,
genauso wie die Wertschöpfung in der Landwirtschaft.
Wir brauchen faire Wettbewerbsbedingungen für unsere
Landwirtschaft im internationalen Vergleich. Deshalb
treten wir in Europa für die Vereinheitlichung von gesetzlichen Regelungen ein. Das gilt etwa für die Fortentwicklung der Vorschriften zur Definition der guten
fachlichen Praxis und ihre praktische Anwendung und
Kontrolle. Außerdem setzen wir uns für die Schaffung
von EU-weit geltenden Tierhaltungsvorschriften und
eine weitergehende Harmonisierung des Tierarzneimittelrechts sowie für den Einstieg in eine Harmonisierung
der Energiebesteuerung ein.
({4})
Faire Wettbewerbsbedingungen müssen auch im
Rahmen der WTO-Verhandlungen durchgesetzt werden. Forderungen anderer Länder im Hinblick auf eine
stärkere Liberalisierung der Agrarmärkte sind für uns
nur akzeptabel, wenn unsere hohen Standards im Umwelt- und Tierschutzbereich Berücksichtigung finden.
({5})
Unter diesen Voraussetzungen können die anstehenden
Verhandlungen im Rahmen der WTO und zur Osterweiterung der EU die Chancen der deutschen Land- und
Ernährungswirtschaft auf den Märkten verbessern. Wir
wollen einen fairen Wettbewerb schaffen, damit unsere
Landwirtschaft ihre Marktchancen nutzen, gleichzeitig
ihren Beitrag zu intakten ländlichen Räumen leisten und
nach hohen Standards zum Schutz der Verbraucher und
der Umwelt produzieren kann.
({6})
Die Integration der Agrarwirtschaften der mittelund osteuropäischen Länder in den gemeinsamen
Binnen- und Agrarmarkt ist eine weitere wichtige Aufgabe bei der Verwirklichung der Europäischen Union.
Probleme bestehen vor allem auf Grund der schwachen
Wirtschaft in einigen dieser Beitrittsländer. In der Förderperiode ab dem Jahr 2000 bis 2006 leistet die Europäische Union deshalb Vorbeitrittshilfen in Höhe von
zusammen rund 3 Milliarden Euro, davon 520 Millionen
Euro für die Landwirtschaft. Um die gemeinsame europäische Agrarpolitik zu festigen und um die Rolle der
deutschen Land- und Ernährungswirtschaft in Europa zu
stärken, sind Reformen in diesen drei Politikfeldern Umsetzung der Agenda 2000, Osterweiterung der Europäischen Union und WTO-Verhandlungen - notwendig.
Wir haben in unserem vorliegenden Entschließungsantrag die Bundesregierung aufgefordert, die Umsetzung der Agenda 2000 weiterhin so vorzunehmen, daß
einseitige Nachteile für die Betriebe in bestimmten Regionen - insbesondere in den neuen Ländern - vermieden werden.
({7})
Ostdeutschland hat sehr von den Verhandlungsergebnissen der Agenda 2000 profitiert. Die Vermeidung von
Obergrenzen bei Direktzahlungen und die endgültige
Ausweisung von Grundflächen sind nur zwei wichtige
Resultate für unsere Betriebe.
Bei der weiteren Liberalisierung der Weltagrarmärkte wird sich die Bundesregierung für faire Wettbewerbsbedingungen einsetzen. Auf europäischer Ebene
müssen wir dafür Sorge tragen, daß durch die WTOVerhandlungen die hohen Umwelt- und Verbraucherstandards, Lebensmittelsicherheit und -qualität und Tierschutzbestimmungen des europäischen Landwirtschaftsmodells abgesichert werden.
({8})
Ich bin sicher, daß die anstehenden großen Aufgaben
deutscher und europäischer Agrarpolitik bei unserer
Bundesregierung in besten Händen sind.
Vielen Dank.
({9})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Meinolf Michels.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Schönfeld, Schönreden
sollte nicht zum Markenzeichen deutscher Agrarpolitik
werden. Daß dies aber zunehmend der Fall ist, spiegelt
sich in den Antworten der Bundesregierung auf die Große Anfrage zur Agrarpolitik wider. Da definiert die
Bundesregierung das europäische Agrarmodell unter anderem als eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft, die in
der Lage sein sollte, sich auf die Anforderungen des
Weltmarktes einzustellen und den Landwirten einen angemessenen Lebensstandard zu sichern. Durch die Entscheidungen der letzten Wochen - und gerade der letzten Woche - bewirken Sie aber genau das Gegenteil.
({0})
Allein die Folgen der nationalen Politikbeschlüsse
bis heute - darunter das sogenannte Steuerentlastungsgesetz, die erste und zweite Stufe der Ökosteuer sowie
das Haushaltssanierungsgesetz - belasten die deutsche
Landwirtschaft zusätzlich mit 3,5 Milliarden DM.
({1})
Davon sind die kleinen und mittleren Betriebe besonders
betroffen. Kollege Schönfeld, wir sollten immer das
ganze Deutschland sehen und nicht nur - wegen einer
besonderen Struktur - einen Teil.
({2})
Meine Damen und Herren, es ist Ihnen sicher nicht
entgangen: In der Landwirtschaft haben wir im letzten
Jahr in großen Teilen unseres Landes die beste Ernte, aber
die schlechteste Ertragslage seit vielen Jahren gehabt.
({3})
Hinzu kommen die Auswirkungen der Berliner Beschlüsse zur Agenda 2000 mit einer Belastung für die
Landwirtschaft in Höhe von nochmals 1,5 Milliarden
DM. Alles in allem sind es 5 Milliarden DM mehr bis
zum Jahr 2006.
({4})
Dies bedeutet 20 bis 25 Prozent weniger Einkommen
für die Landwirte. Keiner anderen Berufsgruppe ist
auch nur im Ansatz Vergleichbares zugemutet worden.
Meine Damen und Herren von der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen, wissen Sie wirklich, was auf unseren
Höfen los ist?
({5})
Ich habe am Montag an einer Tagung des Wirtschaftsausschusses der Landwirtschaftskammer in Münster teilgenommen. Das Ergebnis war niederschmetternd: 25 Prozent der Betriebe sind in ihrer Existenz auf
das äußerste gefährdet.
({6})
- Das sage ich gleich. - Es handelt sich im wesentlichen
um Betriebe, die in den letzten Jahren ihre Produktionsstruktur auf die Zukunft ausgerichtet haben. Heute werden
gerade sie durch die von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen wie von einem Keulenschlag in ihrer
Existenz getroffen. Bei steigenden Kosten und ruinösen
Preisen führt die gestiegene Produktion geradezu in die
Ausweglosigkeit. Ich könnte dies detailliert darlegen.
Ich möchte Ihnen einmal in Erinnerung rufen, daß
auch ein landwirtschaftlicher Betrieb laufende Kosten zu
bedienen hat. Ist ihm dies nicht möglich, lebt er von seiner Substanz. Dies bedeutet dann das Ende. Das Ergebnis eines Strukturwandels ohne kostendeckende Preise
ist nicht die Veränderung der Struktur, sondern letztendlich die Vernichtung der Existenz.
({7})
Meine Damen und Herren, Sie geben hinter vorgehaltener Hand selber zu, wie hart und überproportional
die Einschnitte bei der Landwirtschaft ausgefallen
sind. Sie haben für Mitte Februar nächsten Jahres eine
Korrektur angekündigt. Damit bestätigen Sie zum einen,
daß unsere Kritik an Ihren Beschlüssen der letzten Woche richtig war. Zum anderen bitte ich Sie herzlich, so
schnell wie möglich mit uns bezüglich Ihrer Verbesserungsabsichten in Verbindung zu treten.
Wenn Sie es wirklich wollen, müssen Sie jetzt in die
Offensive gehen. Das heißt: Von der Steuergesetzgebung über den Haushalt und die Gemeinschaftsaufgabe
bis zur Gasölbetriebsbeihilfe müssen Sie unverzüglich
helfende Korrekturen einleiten, damit unsere Betriebe
im europäischen und internationalen Vergleich wieder
wettbewerbsfähig werden.
Die reale Situation der Landwirtschaft verlangt geradezu nach der sofortigen Einführung einer Vorruhestandsregelung. Für die Betriebe aber, die sich dem
Strukturprozeß gestellt haben, muß es sofort einen zinsgünstigen Überbrückungskredit geben. Denn die
Schweinepreise sind so niedrig, daß die Betriebe alleine
nicht mehr überleben können.
Ich bedanke mich für Ihr Zuhören.
({8})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Ulrike Höfken
das Wort.
Frau
Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Weil die
Redner der Opposition ihre Haltung in jeder Rede stereotyp wiederholen, möchte ich eines betonen: Sie beklagen, der deutschen Landwirtschaft gehe es nicht besonders gut. Es ist richtig, sie hat eine Reihe von Problemen. Die Tatsache, daß Sie dies jetzt beklagen, muß
aber doch auf Ihre verfehlte Agrarpolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte zurückgeführt werden.
({0})
Ich denke gar nicht daran, Sie ungestraft dieses Seemannsgarn spinnen zu lassen: Sie waren es, die die Mineralölsteuer um 50 Pfennig erhöht haben.
({1})
Dazu haben Sie keinen Ton gesagt; Sie alle haben diesbezüglich unter dem Sofa gesessen. Die Situation ist
letztendlich deshalb so schlecht, weil Sie versäumt haben, die Landwirtschaft, einen durchaus bedeutenden
Wirtschaftszweig, in die Innovation zu führen und wettbewerbsfähig zu machen.
Die Agenda 2000 ist 1992 im Rahmen der Agrarreform geschaffen worden. Ich bin immer ein bißchen
platt, wenn die PDS die Agenda 2000 mit dem Begriff
„neoliberal“ versieht. Bei aller Liebe, die Agenda 2000
trägt deutliche Züge einer Staatswirtschaft. Beide mögen
miteinander zu tun haben, aber diese Staatsorientierung
ist ganz gewiß nicht von den Landwirten so gewollt
worden. Die Orientierung auf Interventions- und Subventionspolitik ist von der Vorgängerregierung intendiert worden und ist auch so vereinbart worden.
Die neue Bundesregierung hat in der kurzen Zeit seit
der Regierungsübernahme entscheidende Verbesserungen in den Agenda-Verhandlungen durchgesetzt.
({2})
Die Einkommensrückgänge, die 1998 prognostiziert
worden sind, haben sich mehr als halbiert, und auch die
Nettozahlerposition ist besser geworden. Gerade auch
für die neuen Länder - das sage ich in Richtung PDS hat sich der Rückfluß aus den Strukturfonds deutlich
verbessert. Es gibt 500 Millionen Euro mehr pro Jahr.
Das kommt besonders den neuen Ländern zugute. Auch
die Betriebe sind weiter unterstützt worden.
({3})
Es hat einen Ausgleich im Fleischbereich gegeben, der
ganz vernünftig ist.
Ich will gar nicht verhehlen, daß es auch negative
Seiten gibt. Die Milchpolitik ist so nicht von uns gewollt worden. Den Preisdruck würde ich immer als negativ bezeichnen. Auch die Finanzausstattung halte ich
nach wie vor für problematisch. Aber all das war weit
vorher angelegt.
({4})
Es geht mit der Agenda 2000 ja weiter. Wir sind noch
in der Phase der Ausgestaltung. Ich denke, hier gilt der
Satz, den wir in unseren Änderungsantrag hineingeschrieben haben: Es gibt keine Intentionen, Politik einseitig zur Belastung von bestimmten Betrieben und Regionen zu betreiben. Ganz im Gegenteil. Wir möchten
die Gebiete, in denen es etwas zu unterstützen gibt, auch
weiter unterstützen.
Ich wundere mich sehr, Kolleginnen von der PDS,
warum Sie die Frage von arbeitsplatzbezogenen Förderungen überhaupt nicht aufnehmen. Das ist doch eine
Diskussion wert. Ich halte es für notwendig, die Modulation unter solchen Gesichtspunkten zu diskutieren wie es in Frankreich gemacht wird -, und zwar ganz klar
nicht zu Lasten der ostdeutschen Betriebe.
({5})
Die Agenda 2000 - um das zu betonen - ist die notwendige Basis und die Voraussetzung für die Osterweiterung und vor allem für die WTO-Verhandlungen.
Auch das muß man ganz deutlich sagen. Würde es die
Agenda 2000 nicht geben, würde man mit einem Blumenstrauß von möglichen Forderungen in diese schwierigen Verhandlungen hineingehen, dann hätte Europa
gar keine Chance, hier etwas durchzusetzen.
Ich finde auch - das gilt für den Entschließungsantrag -, die Bundesregierung und die Europäische Union
gehen mit einer Vielzahl von positiven Ausrichtungen in
die WTO-Verhandlungen, die sich deutlich von denen
der Vergangenheit unterscheiden, nämlich in Richtung
Stärkung der Entwicklungsländer, in Richtung Sicherung der Ernährung, in Richtung Umweltstandards, Sozialstandards. Das allein sind schon positive Merkmale.
Das ist übrigens der Grund, warum viele Leute auf die
Straße gehen, weil sie befürchten, gerade diese Bereiche
könnten zu kurz kommen.
Noch ein letztes, kurzes Wort zum Wettbewerb.
Auch das ist ein Thema der Debatte.
({6})
- Ja, natürlich. - Wettbewerb braucht neue Kriterien.
Das sage ich in fast jeder Rede. Sehen Sie sich doch
einmal an, was in anderen Ländern passiert. Es gibt neue
Ökosteuern oder neue Besteuerungsforderungen oder
-formulierungen, die sich an ganz anderen Kriterien
orientieren.
({7})
Frankreich und Großbritannien besteuern Pflanzenschutzmittel, Dänemark besteuert Düngemittel, neun
Länder haben Ökosteuern.
({8})
Was Sie schildern, ist eine Welt von gestern, die sich an
Wettbewerbskriterien orientiert, die nicht mehr auf der
Höhe der Zeit sind.
({9})
Auch bei der Energiebetrachtung müssen Sie einen Gesamtzusammenhang herstellen, zum Beispiel auch die
Stromverbilligung in Höhe von 330 Millionen DM mit
einbeziehen.
Ich will nicht sagen, daß es keine Probleme gibt, aber
es gibt auch neue Perspektiven bei den erneuerbaren
Energien. Wir möchten auch als Koalition - SPD und
Bündnis 90/Die Grünen - dazu beitragen, daß die
Landwirtschaft von einer Neuausrichtung profitiert.
Vielen Dank.
({10})
Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt der Kollege Ulrich Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich frage mich
schon: Wo bin ich eigentlich? Wird hier Adam Riese
außer Kraft gesetzt? Wenn ich in die landwirtschaftlichen Betriebe hineingehe, dann erfahre ich genau das
Gegenteil. Sie predigen, die Wettbewerbsfähigkeit
wird verstärkt.
({0})
Das Gegenteil wird gemacht. Wir stehen mit einer
Agenda 2000 unter Belastungen, die die Landwirte in
ihren Einkommen zusätzlich trifft. Wir stehen am Anfang einer WTO-Runde, die zusätzliche Belastungen
für die Landwirtschaft bringt. Sie kommen hierher und
sagen, wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirte erhöhen. Was tun Sie? Sie tun genau das Gegenteil. Das ist nicht mehr nachvollziehbar. Es macht einem
auch schon gar keinen Spaß mehr, hier im Plenum immer wieder das gleiche sagen zu müssen, weil Sie nicht
in der Lage sind, das einfache Einmaleins anzuerkennen.
({1})
Sie kürzen rigoros im Bereich der Umsatzsteuer um
ein Prozent. Wo bleibt denn da die Wettbewerbsfähigkeit? Sie kürzen rigoros bei Betriebshilfsmitteln, wie
Dieselöl, bei denen es einen berechtigten Anspruch auf
eine Rückvergütung gibt; Sie ignorieren diesen Anspruch einfach. Sie machen eine Differenzierung, wonach Großbetriebe und Lohnunternehmer schlechter
gestellt sind. Sie sind permanent dabei, der Landwirtschaft zusätzlich Prügel zwischen die Beine zu werfen.
({2})
Dann kommen Sie hierher und sagen: Wir wollen die
Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Dann kommen Sie hierher und sagen: Die Nachhaltigkeit der Land- und Forstwirtschaft muß erhöht werden. Wie paßt denn so etwas
zusammen? Wie können wir denn erwarten, daß Landwirte wirklich nachhaltig und umweltgerecht produzieren, wenn Sie ihnen mit Ihrer Art und Weise der Politik
die Existenz unter den Füßen wegziehen? Wir werden
eine Landwirtschaft bekommen, die nicht mehr die
Landwirtschaft der Vergangenheit sein wird; die Kulturlandschaft wird nicht mehr gepflegt werden. Unter
Ihrer Regierung wird es einen Kahlschlag geben, der
seinesgleichen sucht.
({3})
Um das zu erkennen, brauchen Sie meine Rede
eigentlich gar nicht zu hören. Sie brauchen nur einmal
selber in die Bücher der Landwirte hineinzusehen. Bei
mir in Baden-Württemberg hatten wir im vergangenen
Jahr ein Minus von 12 Prozent beim Einkommen der
Landwirte.
({4})
Schauen Sie mal, was daraus jetzt resultiert und was
passiert, wenn Ihre Beschlüsse - die haben wir jetzt erst
diskutiert; die wenigsten sind bisher umgesetzt worden,
das geschieht erst noch - umgesetzt werden.
({5})
Wir können doch nicht die Augen vor der Realität verschließen und sagen: Was jetzt ist, haben die Alten zu
verantworten, und was neu ist, das brauchen wir noch
nicht zu betrachten. Das ist völliger Quatsch. Wir als
Politiker haben die Aufgabe, die Maßnahmen, die wir
hier ergreifen, auch entsprechend auf die Praxis zu
übertragen. Wir müssen uns fragen: Wie wirken sie sich
denn aus? Sie wirken sich katastrophal aus!
({6})
Ich bin wirklich der Meinung, daß von der Regierung
genau das Gegenteil von dem gemacht wird, was sie
eigentlich tun sollte, nämlich die Herausforderungen der
Agenda 2000 und der WTO entsprechend zu begleiten
und der Landwirtschaft zu helfen, die Herausforderungen im Wettbewerb, in der Marktwirtschaft zu bestehen.
Wir dürfen nicht das Gegenteil tun, indem wir sie beschränken und zusätzlich belasten.
Dann sagt der Bundeslandwirtschaftsminister auch
noch fast höhnisch: Die Bauern sollen sich mehr um den
Markt kümmern. Ich möchte einmal irgendeine Branche
in dieser Republik sehen, die diesen Wettbewerb bei
solch unterschiedlichen Wettbewerbsvoraussetzungen
bestehen kann.
Herzlichen Dank.
({7})
Es spricht jetzt der
Parlamentarische Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Hier
ist eingangs kritisiert worden, daß zuviel Zeit zwischen
der Beantwortung der Großen Anfrage und der Diskussion verstrichen sei. Offensichtlich hat die Zeit immer
noch nicht ausgereicht, sich mit dem Problem zu beschäftigen und es zu verstehen. Zumindest muß man zu
dem Ergebnis kommen, wenn man diese Debatte verfolgt.
Die Bundesregierung hat mit der Agenda-2000Entscheidung eine entscheidende Weichenstellung für
die Zukunft der Landwirtschaft in Deutschland und in
der Europäischen Union vorgenommen. Diese Entscheidung - das ist hier von keinem der Redner angesprochen
worden - ist alternativlos.
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Naumann?
Ja, bitte.
Herr Thalheim, ich habe
vorhin nicht den Mangel an Zeit zwischen der Beantwortung und der Diskussion beklagt, sondern ich habe
bemängelt, daß zwischen der Anfragestellung und der
Beantwortung durch die Bundesregierung soviel Zeit
verstrichen ist. Es ist nicht so, wie Sie es hier jetzt darstellen.
Frau Kollegin, meine Zeit reicht leider nicht dazu
aus, all Ihre unsinnigen Vorwürfe zu behandeln. Der
unsinnigste ist, daß wir als Bundesregierung die Problematik im Zusammenhang mit der Agenda 2000 nicht
ausreichend diskutiert hätten. Wir haben das im Ausschuß mehrfach getan - der Bundesminister war dabei
anwesend. Wir haben das hier im Plenum getan.
({0})
Der Vorwurf, daß wir keine Zeit gehabt hätten, das zu
diskutieren, ist weiß Gott aus der Luft gegriffen.
Noch einmal zu den Alternativen. Man stelle sich
einmal vor, die Europäische Union wäre in die Verhandlungen in Seattle ohne eine solche Reform gegangen. Man hätte uns ausgelacht. Insofern ist mit der
Agenda 2000 eine ganz entscheidende Voraussetzung
dafür geschaffen worden, mit den Amerikanern, mit der
Cairns-Gruppe, mit den Entwicklungsländern auf einer
Augenhöhe zu verhandeln. Man stelle sich einmal vor,
wir hätten die Reform nicht gemacht. Was hätte Ludolf
von Wartenberg dann wohl geschrieben
({1})
- Siegfried Hornung, hör jetzt mal zu! -, der jetzt trotz
Agenda 2000 behauptet, die Industrie nehme die Landwirtschaft als Geisel? Das ist die Haltung in der Wirtschaft. Die Reform war notwendig, und sie war alternativlos.
({2})
Die Strategie, die Sie uns immer vorgehalten haben
- wir müssen warten, keine Vorleistungen -, war genau
der falsche Weg. So etwas behauptet heute nicht einmal
mehr der Bauernverband. Auch Sie sollten sehr vorsichtig sein, das immer wieder zu behaupten. Sie können
sich an dieser Stelle selbst betrügen - es gibt ja aktuell
viel darüber zu diskutieren -, aber Sie haben den Fehler
gemacht, auch die Bauern zu betrügen. Die Agenda
2000 war keineswegs eine Vorleistung; sie war die Voraussetzung für erfolgreiche Verhandlungen in der WTO.
({3})
- Du kannst doch nicht bestreiten, Siegfried Hornung,
daß Reformen überfällig waren.
Schauen wir uns die Problematik im Rindfleischbereich an: Es gab eine enorme Lagerhaltung, und keiner
wußte, was damit gemacht wird. Die Intervention bei
den Rindfleischpreisen hat sich zur schieren Geldvernichtung entwickelt. Hier mußte doch reformiert werden.
({4})
- Über was denn sonst? Wollen wir neben der unsäglichen Milchkühekontingentierung noch eine Rinderkontingentierung? Das ist doch keine Alternative.
Mit der Agenda 2000 ist eine klare Finanzperspektive
geschaffen worden. Vergegenwärtigen wir uns - das
sage ich an die Adresse der PDS, die uns soziale Kälte
und zuwenig Leistungen für die Landwirtschaft vorwirft
-, daß von der Europäischen Union immerhin 12 Milliarden DM an die Bauern zurückfließen.
Herr Kollege Thalheim, es besteht der Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage. Lassen Sie diese zu?
Selbstverständlich.
Herr Staatssekretär,
ich gebe Ihnen ja recht, daß die Verhandlungen auf
europäischer Ebene und bei der WTO sehr schwierig
sind. Darüber können wir ganz offen reden. Aber wieso
haben Sie in dieser ohnehin schwierigen Situation die
Landwirtschaft mit 4,6 Prozent zusätzlich belastet, was
für einen Bauernhof mittlerer Größe zwischen 10 000
und 15 000 DM pro Jahr netto ausmacht?
Herr Kollege Michels, als erstes wäre die Zahl zu
hinterfragen.
({0})
- Da können Sie ruhig lachen.
Sie haben das Thema Schweine in die Debatte eingebracht. Gerade der Schweinemarkt wird zum Glück in
keiner Weise politisch beeinflußt. Wer heute von den
Verlusten in diesem Bereich spricht, der muß über die
Gewinne reden, als der Preis für Schweinefleisch bei
4 DM pro Kilo lag. Erst wenn man den Durchschnitt
bildet, kommt man zu dem richtigen Ergebnis bei der
Schweineproduktion.
Ihre Diskussion ist auch in anderen Bereichen verlogen; die Kollegin Höfken hat das hier dargestellt. Alleine zu Ihrer Zeit ist die Mineralölsteuer um 17 Pfennig
erhöht worden, während die Gasölrückerstattung in
derselben Zeit auf gleicher Höhe geblieben ist. Das
heißt, auch Sie haben den Bauern in die Tasche gegriffen. Sie hatten nur den Vorteil, daß der Bauernverband
in der Allianz ruhig geblieben ist und das nicht zum öffentlichen Thema gemacht hat.
({1})
Insofern trifft der Vorwurf der Unehrlichkeit nicht nur
Sie, sondern auch den Deutschen Bauernverband.
Herr Kollege Thalheim, es besteht der Wunsch nach einer zweiten Zwischenfrage des Kollegen Michels.
Aber gerne, ich bin gerade in der Übung.
Herr Staatssekretär,
es ist richtig: Selbstverständlich hat es über die Zeit gesehen immer einen Wandel gegeben. Aber Sie regieren
erst ein Jahr. In diesem einen Jahr haben Sie in einer
Weise zugeschlagen, die sich in meinem Beispiel auf die
Größenordnung summiert, die ich eben genannt habe und dies in einer Zeit, wo es der Landwirtschaft auf
Grund der Preissituation so schlecht geht, wie es noch
nie der Fall war. Da ist von Hilfe, von Einfühlungsvermögen, von Rücksichtnahme wirklich überhaupt nichts
zu spüren.
({0})
Herr Kollege Michels, ich müßte Ihnen jetzt
eigentlich wieder die ganze Litanei zu dem Schuldenberg, den Sie uns hinterlassen haben, herunterbeten.
({0})
Sie können da ruhig die Hände heben. Mir war es sowieso schon immer ein Bedürfnis, zu den Schulden - wenn
Sie die schon ansprechen - in einem Punkt Stellung zu
nehmen.
Ich finde es unseriös, so zu tun, als wären die Schulden bis 1982 die ganz schlechten Schulden gewesen.
Dann kommen bis zum Jahre 1990 schon bessere Schulden. Dann kommen von 1990 bis 1998 sehr gute und
dann wieder schlechtere Schulden. Das haben wir hier in
der letzten Haushaltswoche Tag für Tag gehört. Aber
was Sie vergessen - auch wenn es um die Schulden
durch die deutsche Einheit geht -, ist die Frage, wo diejenigen sitzen - das geht vor allen Dingen in Richtung
der F.D.P. -, die die Vorteile durch die Steuersparmodelle hatten, und welche Schulden allein durch die verfehlte Treuhandpolitik aufgelaufen sind. Alles das haben
wir jetzt als Bundesregierung mit den vollen Konsequenzen zu tragen.
({1})
Insofern ist es völlig unseriös, jetzt hier uns gegenüber
den Vorwurf zu erheben, daß wir auf dem Rücken der
Bauern sparen würden.
({2})
Aber ich möchte Ihnen gern noch alles das aufzählen,
was an Positivem für die Landwirtschaft gemacht wurde.
Mit der Agenda 2000 sind die Voraussetzungen für eine
erfolgreiche WTO-Verhandlung geschaffen worden.
Wir hatten bei der Agenda 2000 die Strategie, die Benachteiligungen Ostdeutschlands abzuschaffen. Darauf
ist schon mehrfach Bezug genommen worden. Aber,
Siegfried Hornung, auch hier noch einmal zum Mitschreiben: Karl-Heinz Funke hatte sich vorgenommen,
die Benachteiligung insbesondere der Rinderhalter durch
die Kiechle-Reform zu korrigieren. Auch das ist ein
Punkt, über den man nicht gern redet. Bei einem Produktionsanteil im Rindfleischbereich in Höhe von 19 Prozent
sind nach Kiechle ganze 9 Prozent Prämienanteile geblieben. Wenn die Agenda 2000 umgesetzt ist, werden es 14
Prozent sein. Dies ist eine erhebliche Leistung.
({3})
Nächster Punkt: Wir sind gegenwärtig dabei, die katastrophale Situation bei der Milchquote zumindest im
System ein wenig zu verbessern. Die Voraussetzungen
dafür sind mit der Agenda 2000 geschaffen worden. Wir
haben mit der Reform - ohne in ideologische Grabenkämpfe zu verfallen - eine deutliche Marktorientierung
vorgenommen, indem die Intervention zurückgeführt,
aber ein breites Spektrum eröffnet wird, wo die Bauern
auch in Zukunft Geld verdienen, wo sie ihre Chancen
nutzen können. Auch wir wollen die Exportchancen nutzen. Wir wollen aber auch die regionalen Märkte nutzen.
Wir setzen auf herkömmliche, aber auch auf ökologische Produktion. Wir haben in diesem Bereich vor allen
Dingen nicht nur geredet, sondern auch gehandelt.
Stichwort Richtlinie über die künftige Legehennenhaltung, Stichwort Ökorichtlinie im Tierbereich: Das ist
eine ganz wichtige Voraussetzung, um auch im Tierbereich die Einkommenschancen zu erweitern. Hier sei
auch das Öko-Label genannt. Das gleiche gilt für die
Umweltorientierung, eine umweltgerechte Landwirtschaft, indem wir in der Zukunft die gute fachliche Praxis zum Maßstab machen. Auch hier könnte noch viel
erwähnt werden.
Zum Abschluß noch eine Bemerkung, Frau Kollegin
Naumann, zu Ihrer Anfrage. Ich habe kürzlich in der Zeitung gelesen, daß sich zumindest der Vorstand der PDS
um eine mehr an der Wirklichkeit orientierte Politik bemüht. In Ihrer Großen Anfrage war davon in der Tat wenig zu spüren, vor allen Dingen bei Ihrer Kritik an der Kapitalverzinsung. Ich würde Ihnen empfehlen, nicht nur
diejenigen zu befragen, die Ihnen das in Ihren Antrag geschrieben haben. Reden Sie vielmehr einmal mit Ihren
Bauern in Thüringen, und fragen Sie sie, wie hoch bei den
Anteilseignern in der Landwirtschaft die Kapitalverzinsung ist. Dann werden Sie feststellen, daß diese sehr gering ist. Angesichts dessen ist Ihre Kritik nicht angebracht.
Auch Sie müssen sich in der Zukunft entscheiden,
was Sie eigentlich wollen. Wenn man für die Marktchancen der osteuropäischen Länder oder der Entwicklungsländer eintritt, bedeutet das, daß wir denen die
Märkte öffnen müssen, damit sie stärker in die Europäische Union liefern können. Das ist aber eine Zeile weiter
bei Ihnen schon wieder Liberalisierung.
Es tut mir leid, ich komme an der Stelle nicht klar.
Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich, wenn Sie ernst genommen werden wollen, stärker an der Wirklichkeit zu
orientieren. Das, meine Damen und Herren von der anderen Seite der Opposition, gilt natürlich für Sie ebenso.
Vielen Dank.
({4})
Letzter Redner in
dieser Debatte ist Kollege Albert Deß für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen! In diesem ersten Jahr rotgrüner Bundesregierung mußte die Landwirtschaft Veränderungen über
sich ergehen lassen, die Anlaß zu tiefer Sorge geben.
Ich habe bei einem Erntedankfest in Abwandlung
eines Zitats gesagt: Stell dir vor, es gibt Äcker und Wiesen, und keiner bewirtschaftet sie mehr. Diese Horrorvorstellung könnte zumindest für viele Flächen in unserem Land, in unserer Kulturlandschaft Wirklichkeit
werden, wenn Rotgrün diese Agrarpolitik so fortsetzt,
wie sie im ersten Regierungsjahr begonnen wurde.
({0})
Daß anscheinend im Bundeslandwirtschaftsministerium in dieser Richtung gedacht wird, zeigt die Aussage
eines Spitzenbeamten, der da gesagt hat - ich zitiere -:
Wir müssen uns darauf einstellen, daß die mit der
Agenda 2000 beschlossene Orientierung auf dem
Weltmarkt auf Dauer Änderungen der heutigen
Kulturlandschaft mit sich bringt.
Ich bin sehr dankbar, daß ein Beamter so deutlich
ausspricht, was im Bundeslandwirtschaftsministerium
gedacht wird. Ich glaube, es ist ein parteiübergreifender
Konsens notwendig, damit auch in Zukunft in Deutschland, in Europa flächendeckend Landbewirtschaftung
möglich ist.
Wenn einige glauben, Herr Staatssekretär Thalheim,
daß die deutsche Landwirtschaft am Weltmarkt wettbewerbsfähig ist, dann wird man sich darin gewaltig täuschen. Es gibt ein Gutachten über die Zuckerwirtschaft. Darin ist vor kurzem festgestellt worden, daß bei
einer totalen Liberalisierung die europäische Zuckerwirtschaft nicht weltmarktfähig ist. Dabei haben wir in
der Zuckerwirtschaft die besten Strukturen, die besten
Verarbeitungs- und Vertriebsstrukturen, und trotzdem ist
dort eindeutig festgestellt worden, daß wir in Europa
nicht fähig sind, zu Weltmarktkosten zu produzieren.
({1})
Wer glaubt, daß durch einen Strukturwandel die Einkommensproblematik gelöst werden kann, der muß
ebenfalls eines Besseren belehrt werden.
({2})
Wenn durch größere Agrarbetriebe die Einkommensproblematik gelöst werden könnte, dann wären in Amerika nicht über 41 Milliarden DM Agrarsubventionen
notwendig. Selbst die amerikanischen Großbetriebe wären zu einem großen Teil in ihrer Existenz gefährdet,
wenn der amerikanische Staat seine Leistungen einstellen würde.
Wenn Großbetriebe in der Lage wären, zu Weltmarktbedingungen zu produzieren, dann müßten ja in
den neuen Bundesländern die Agrargroßbetriebe mit
1 000, 2 000 und 5 000 Hektar in der Lage sein, ohne
Ausgleichszahlungen zu produzieren. Sie sind es aber
nicht. Die Ausgleichszahlungen sind auch dort notwendig, sonst würden diese Betriebe nicht überleben.
Damit ist auch der Beweis erbracht, daß Agrarbewirtschaftung in Europa und auch in anderen Teilen in
der Welt zu sogenannten Weltmarktagrarpreisen nicht
möglich ist. Das müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen.
Was jetzt national geschieht, wie man mit den Bauern
in diesem Land umgeht, ist meiner Ansicht nach schon
eine Abstrafaktion, meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen.
({3})
Das ist genau das, was sich der Bundeskanzler in Vilshofen und in Cottbus erlaubt hat. Das waren doch Aussagen, die an Arroganz gegenüber unserem Berufsstand
nicht mehr zu überbieten waren.
({4})
Wie die Auswirkungen sind, Herr Kollege Thalheim,
sieht man an einem Leserbrief - ich kann es aus Zeitgründen jetzt nicht detailliert ausführen, aber ich reiche
es Ihnen dann gern herüber -, der vor kurzem in einer
Fachzeitschrift veröffentlicht wurde. Dort hat ein Landwirt, der 47,5 Hektar bewirtschaftet und bisher ein Jahreseinkommen von 49 900 DM - wohlgemerkt als Familieneinkommen - hat, exakt vorgerechnet, daß er
durch diese Beschlüsse der Bundesregierung mit einem
Einkommensverlust von über 9 000 DM pro Jahr rechnen muß. Dazu kommen weitere 9 000 DM durch die
Agenda 2000. Sein Einkommen wird um 18 000 DM
niedriger sein. Das ist über ein Drittel seines bisherigen
Einkommens. In unserem Lande wird keine Berufsgruppe in dem Maße wie die bäuerliche belastet. Das muß
hier einmal klar und deutlich festgestellt werden.
({5})
Niemand in der SPD kann behaupten, das nicht zu
wissen. Mein von mir sehr geschätzter Kollege Matthias
Weisheit - ich meine es so, wie ich es sage; er hat es
nicht leicht in seiner Fraktion - hat vor kurzem, am
10. November, einen Brief an seine Fraktion geschrieben, aus dem ich zitieren darf:
Liebe Genossinnen und Genossen, die Auswirkungen der Beschlüsse zur Haushaltssanierung und zur
Ökosteuer auf die Landwirtschaft sind beträchtlich.
Die meisten landwirtschaftlichen Familien werden
mehr oder minder deutliche Einkommenseinbußen
haben.
Recht hat er, der Matthias.
({6})
Daß seine Fraktion - genauso wenig wie die Bundesregierung - das nicht zur Kenntnis nehmen will, ist das
eigentlliche Problem.
Mich stört, daß die Würde unserer Bäuerinnen und
Bauern von dieser Bundesregierung mit Füßen getreten
wird.
({7})
Ein Berufsstand wird mit Füßen getreten
Herr Kollege Deß,
Sie müssen bitte zum Schluß kommen.
- ich komme zum Schluß -,
der dazu beiträgt, daß wir in unserem Land eine hohe
gesellschaftliche Stabilität haben, und der die Kulturlandschaft prägt.
Wo ist unser Bundeslandwirtschaftsminister? Er ist
mehr Tiefseetaucher als Landwirtschaftsminister: Er
taucht vor den Problemen, die unsere Bäuerinnen und
Bauern haben, weg. In der langen Zeit, in der ich diesem
Parlament angehören darf, habe ich noch keinen Minister erlebt, der sich so wenig wie dieser Landwirtschaftsminister um die Sorgen unserer Bäuerinnen und
Bauern kümmert.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Zunächst kommen wir zur Abstimmung über den
Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/2249. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen
von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2255. Wer stimmt
dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der PDSFraktion abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Norbert Barthle, Wolfgang Behrendt sowie weiterer Abgeordneter aus allen Fraktionen
Stärkung der freien Rede im Deutschen Bundestag
- Drucksache 14/1949 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erstem erteile ich
dem Kollegen Dirk Niebel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, daß dieser
Gruppenantrag tatsächlich - wenn auch nur in Teilen das Interesse aller Fraktionen gefunden hat. Durch diesen Gruppenantrag bringen Mitglieder aller Fraktionen
zum Ausdruck, daß sie mit der Darstellung, die wir in
diesem Parlament für die Öffentlichkeit teilweise abgeben, nicht zufrieden sind.
Ich bin im Vorfeld von dem einen oder anderen Kollegen angesprochen worden, ob ich nicht eine Rede
schreiben wolle, um sie dann langsam und schlecht vorzulesen, oder ob ich diese Rede vielleicht besser gleich
zu Protokoll geben möchte. Nein, ich möchte das nicht;
({0})
denn - auch wenn Frau Kollegin Rennebach das nie
glauben wird - dieser Antrag hat nicht das Ziel, hier eine
kabarettistische Veranstaltung aufzuziehen. Er verfolgt
vielmehr ein ernsthaftes Anliegen: Die Plenardebatten
des Deutschen Bundestages sind ein ganz wesentliches
Element, um der Öffentlichkeit Politik zu vermitteln und
um der Bevölkerung die Gründe unserer politischen Entscheidungen deutlich zu machen.
Wir sollten dieses wesentliche Mittel, das uns in der
parlamentarischen Demokratie zur Verfügung steht,
stärken, und wir sollten versuchen, soviel und so interessant wie möglich mit den Bürgerinnen und Bürgern in
diesem Land in Kontakt zu treten.
({1})
Schon die Debatten in der 11. Legislaturperiode,
1988, haben gezeigt - meine Kollegin Dr. Hildegard
Hamm-Brücher hat sich damals mit der freien Rede im
Parlament auseinandergesetzt -, daß dieses Thema ganz
wesentlich ist. Sie können in den Protokollen über die
Debatten von damals nachlesen, was wir in diesem Parlament alles bewegen wollten, um der Öffentlichkeit
klarzumachen, daß dieses Haus ein lebendiges Parlament ist, ein Parlament, das seine Entscheidungsfindung
an die Bürgerinnen und Bürger weitergeben kann.
({2})
Wir sollten versuchen, mit Blickkontakt zu den Zuhörerinnen und Zuhörern
({3})
- auch auf Zurufe, Frau Hendricks, und den Vorredner
eingehend - die Debatten interessant zu gestalten und zu
verhindern, daß im wesentlichen Langeweile, Trägheit
und Zähigkeit die Debatten bestimmen.
({4})
Der vorliegende Antrag hat schon etwas bewirkt.
Wenn Sie den heutigen Tag im Parlament verfolgt haben, dann werden Sie festgestellt haben, daß die meisten
Kolleginnen und Kollegen sehr an sich gearbeitet haben,
daß sie unsere Anregung, ihr eigenes Verhalten auf den
Prüfstand zu stellen, aufgenommen haben und daß sie
im wesentlichen vom Ablesen vorgefertigter Manuskripte abgegangen sind. Genau diesen Weg wollen wir
beschreiten. Wir wollen niemanden vorführen. Aber jeder von uns, der hier an dieses Pult tritt, weiß doch im
Grunde, was er sagen möchte. Vielleicht gibt es den
einen oder anderen, der das nicht weiß; aber der redet
dann trotzdem.
({5})
Selbst, wenn die Formulierungen nicht ganz so rund
sind wie dann, wenn sie vorher aufgeschrieben worden
wären, ist es manchmal interessanter zuzuhören, als
dann, wenn man einer langweilig abgelesenen Rede folgen muß. Wir alle wissen, daß dies so ist.
Lassen Sie mich zum Schluß einen Vergleich bringen: Mit der freien Rede ist es ein bißchen so wie mit
dem Fallschirmspringen.
Herr Kollege Niebel,
ich schaue in dieser Debatte etwas strenger auf die Einhaltung der Redezeit. Sie haben jetzt Ihre Redezeit überschritten.
({0})
Ich komme zum Schluß. - Man
muß sich immer wieder überwinden und Mut fassen. Ich
kann Ihnen versprechen, da ich mich in beiden Bereichen auskenne: Hinterher hat es eine Menge Spaß gemacht.
Vielen Dank.
({0})
Es spricht jetzt der
Kollege Christian Lange, SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mein Gott,
haben wir eigentlich nicht andere Probleme? Diese Frage drängt sich mir wirklich auf.
({0})
Im ersten Satz des § 33 unserer Geschäftsordnung
steht, daß wir frei sprechen sollen. Im zweiten Satz steht
in der Tat, daß wir unsere Aufzeichnungen benutzen
dürfen.
({1})
Bemerkenswert ist, Herr Kollege Niebel, daß Sie sich
als Liberaler hier für weitere Regulierungen aussprechen. Dies finde ich besonders interessant.
({2})
Ansonsten führen Sie immer das Wort von der Deregulierung im Munde und fordern weniger Gesetze. Jetzt
wollen Sie die Kolleginnen und Kollegen zwingen, auf
ihren Notizzettel zu verzichten. Verdammt noch mal,
das kann doch nicht der Sinn und Zweck sein!
({3})
Statt dessen müssen Sie die Eigenverantwortung der
Kolleginnen und Kollegen stärken, für lebhafte Debatten
zu sorgen. Dies bedeutet: Der eine kann eine gute Rede
mit Skript halten; der andere kann eine gute Rede ohne
Skript halten, und ein noch anderer kann überhaupt keine gute Rede halten. Dies ist auch wahr.
({4})
Außerdem gibt es eine ganze Reihe von interessanten
Instrumenten, wie zum Beispiel die Zwischenfrage oder
die Kurzintervention. In der letzten Sitzungswoche gab
es doch ein beredtes Beispiel dafür, wie man so etwas
machen kann. Ich erinnere an die Debatte über den
Kanzlerhaushalt und an die Rede unseres Fraktionsvorsitzenden. Dies war eine klassische Haushaltsrede, zum
Teil vom Skript vorgetragen, zum Teil frei gesprochen.
Es gab sogar zwei Zwischenfragen des Abgeordneten
Kohl. Dies hat doch zu einer lebhaften Debatte, ich behaupte: in der ganzen Bundesrepublik beigetragen. Dies
ist doch eine Tatsache!
({5})
- Doch, den nehme ich sehr ernst. - Deshalb kommt es
auf die Frage an: Wird die Debatte durch eine freie Rede
interessanter, ja oder nein? Ich denke, es kommt darauf
an, ob man etwas zu sagen hat und wie man es sagt.
Dies muß dem einzelnen Kollegen überlassen bleiben.
Hier geht es nicht um Entertainment und auch nicht um
eine Polit-Talk-Show,
({6})
vielmehr geht es darum, das Pro und Kontra eines Gesetzesvorhabens abzuwägen. Dies bleibt jedem frei gewählten Abgeordneten selbst überlassen. Deshalb gilt in
jedem Fall - ob nun mit Skript oder ohne Skript - ein
Satz des ehemaligen Stuttgarter Oberbürgermeisters, den
ich zitieren und sogar vorlesen möchte; denn auch das
Zitat ist eine rhetorische Figur, die man meines Erachtens nicht zerstören darf. Für ein Zitat braucht man ein
Skript, wenn man genau sein möchte. Auch Genauigkeit
ist ein Instrument in der politischen Debatte. Deshalb
gilt in jedem Fall das, was Manfred Rommel einmal
sagte:
Auch denke ich, es schadet nicht, wenn man denkt,
bevor man spricht.
Ich glaube, ein Manuskript hilft dabei.
({7})
Ich freue mich über die tollen Beiträge, die heute
abend noch gehalten werden und die zeigen werden, ob
die Forderung nach freier Rede berechtigt ist. Ich meine:
nein. Ich glaube, es kommt darauf an, die Eigenverantwortung der Kolleginnen und Kollegen für eine inhaltlich fundierte Rede zu stärken. Der eine macht es so, der
andere so. Ich denke, wir sollten es jedem einzelnen
überlassen, was er macht. Wir sollten deshalb den Gruppenantrag ablehnen.
Herzlichen Dank.
({8})
Es spricht jetzt der
Kollege Norbert Barthle, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorlesen
aus der Geschäftsordnung gilt. Deshalb habe ich sie dabei.
Wir sollten den Antrag zur Stärkung der freien Rede
in dieser Debatte heute nicht lächerlich machen und auf
die Schippe nehmen, denn es geht um ein ganz ernsthaftes Anliegen. Selbstverständlich ist es, wenn man den
§ 33 der Geschäftsordnung ernst nimmt - er besagt, daß
Reden grundsätzlich frei vorgetragen werden sollen -,
erlaubt, auf Zitate, Verordnungen und Textstellen zurückzugreifen, die man zitieren oder auf die man verweisen muß. Das ist doch gar keine Frage; dagegen ist
niemand. Insofern stimmt Ihre Argumentation nicht,
Herr Lange; sie war unlogisch. Eine frei vorgetragene
Rede ist noch lange nicht eine schlecht vorbereitete Rede. Das ist ein großer Unterschied.
({0})
Wir sollten uns einmal erinnern: Ein großer Prozentsatz
der guten Reden wurde frei vorgetragen. Diesen Eindruck kann man nicht bestreiten.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auf den Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein rekurrieren. Er sagte
einmal: Was ich weiß, kann ich auch sagen. Der Mann
sprach von „sagen“ und nicht von „ablesen“. Hier ist
auch der logische Umkehrschluß, der ja nicht immer
gilt, gültig: Was ich sage, das weiß ich auch. Was ich
frei vortragen kann, das habe ich verarbeitet und
gedanklich in mir getragen. Dazu stehe ich. Das kann
ich dann auch mit der nötigen Überzeugungskraft
vortragen. Darum geht es letztendlich. Das heißt, eine
frei vorgetragene Rede ist in jedem Fall glaubwürdiger.
({1})
Es muß unser Anliegen sein, die Glaubwürdigkeit dieses
Hohen Hauses zu stärken. Wir haben erst vor einigen
Stunden ein schönes Beispiel erlebt, als unser Fraktionsvorsitzender Wolfgang Schäuble zu einem so sensiblen
Thema wie dem des Untersuchungsausschusses frei gesprochen hat. Das macht Reden glaubwürdig.
({2})
Ich möchte noch einen zweiten Aspekt anführen: Neben der Glaubwürdigkeit geht es um die Verständlichkeit. Die Wählerinnen und Wähler, die Bürger, die uns
als Abgeordnete hierher geschickt haben, haben kein
Verständnis dafür, wenn wir uns in einer Debatte über
die Ökosteuer damit auseinandersetzen, ob der Wirkungsfaktor von GuD-Kraftwerken 57,5 Prozent oder
wieviel auch immer beträgt. Sie wollen wissen, welche
Auswirkungen ein Gesetz hat, wer etwas davon hat und
wer nicht.
({3})
Diese politische Interpretation kann man wesentlich besser vornehmen, wenn man sich von der Form einer
Fachauseinandersetzung wie in den Ausschüssen löst
und hier tatsächlich politisch argumentiert und diskutiert.
({4})
Hierzu sollten wir wieder stärker zurückfinden.
10 000 Reden werden innerhalb einer Wahlperiode
hier gehalten. Wenn es uns durch diesen Antrag auch
nur gelingt, einen kleinen Teil dieser Reden qualitativ
Christian Lange ({5})
besser - weil frei vorgetragen - zu machen, dann haben
wir einen großen Erfolg errungen.
({6})
Neben der Verständlichkeit geht es auch noch um die
Unabhängigkeit. Ich beobachte mit etwas Sorge - gerade die angesprochene Haushaltsdebatte hat es gezeigt -,
daß sich so manche Rede in der Aneinanderreihung von
Zitaten aus Zeitungsberichten und -kommentaren sowie
von Zuschriften von Interessengruppen erschöpft.
Kollege Barthle, ob
mit oder ohne Zettel, ich muß Sie trotzdem an die Redezeit erinnern.
Das sollten wir uns
nicht antun, meine Damen und Herren. Als Politiker haben wir die Aufgabe, unser eigenes Gehirnschmalz anzustrengen, nicht Vorgedachtes nachzuplappern, sondern selbst zu argumentieren und selbst Stellung zu beziehen. Das ist unsere Aufgabe; dafür wurden wir gewählt.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube nicht, daß es irgend jemanden in diesem Haus
gibt, der oder die sich gegen eine freie Rede aussprechen
würde. Wir sind doch wirklich alle bemüht, in diesem
Raum immer wieder ein Klima von Gesprächskultur und
von Öffentlichkeitsarbeit herzustellen. Dies führt dazu,
daß auch Zuschauer und Zuschauerinnen oder die Leute,
die Debatten über das Radio verfolgen, nicht das Gefühl
haben, daß der Bundestag eine Vorlesung veranstaltet,
sondern den Eindruck gewinnen, daß dies ein Haus mit
demokratischer Kultur, mit Debattenkultur ist, in dem es
manchmal hoch hergeht, gelegentlich auch einmal etwas
heftiger zugeht, wie wir alle wissen.
Es werden bei uns aber auch manchmal Reden - das
möchte ich Ihnen zu bedenken geben - von neuen Kollegen und Kolleginnen gehalten, die zu Recht eine gewisse Stütze beanspruchen,
({0})
um an Sicherheit zu gewinnen und hier in diesem Hause mit Überzeugung auftreten zu können. Diese Sicherheit wird über die Jahre größer. Manche tun sich
dabei leichter, was auch davon abhängt, aus welchem
Beruf man kommt. Wenn man aus der Schule oder von
der Universität kommt, ist man es gewohnt, frei zu reden. Bei anderen Berufsbildern ist dies nicht so gegeben.
Aus diesem Grunde sollte es den einzelnen Kolleginnen und Kollegen überlassen bleiben, wie sie ihre Überzeugungen und ihre Argumente vortragen wollen.
Schließlich müssen sie selbst einschätzen, wie sie wahrgenommen werden wollen.
Ein weiterer Punkt: Ich halte es für ein bißchen eigenartig, daß man Debatten mit freier Rede als AhaErlebnis kurz vor Weihnachten kreiert. Entweder
möchte man, daß die freie Rede gestärkt wird, dann tut
man auch alles dafür, übrigens auch unter Kollegen und
Kolleginnen, diejenigen zu stärken, die hier noch etwas
„Hilfestellung“ in Form von Tips brauchen. Das gilt
dann aber bitte schön für das ganze Jahr und die ganze
Legislaturperiode und darf nicht nur ein Just-for-funErlebnis sein,
({1})
bei dem einzelne vielleicht frei reden dürfen oder müssen, weil zufälligerweise Themen auf der Tagesordnung
sind, zu denen Personen reden, die sonst diese Möglichkeit nicht haben.
Deswegen geht es aus unserer Sicht auf der einen
Seite um Entscheidungsfreiheit, aber zugleich auch um
die Möglichkeit, die freie Rede zu pflegen. Abgeordnete, die dies tun, gibt es in allen Fraktionen; das wissen
Sie. Es gibt in den letzten Jahren ja einige Mitglieder der
grünen Fraktion, die sich ohne einen einzigen Zettel ans
Rednerpult stellen.
({2})
Das gibt es in anderen Fraktionen genauso; das ist wunderbar.
Noch ein Argument - meine Redezeit ist zu Ende zum Schluß:
({3})
Wir alle wissen doch, woran es liegt, ob eine Debatte lebendig oder weniger lebendig ist. Das liegt zum Teil an
der Tageszeit,
({4})
teilweise auch am Thema. Letztlich liegt es daran, wie
öffentlichkeitswirksam ein Thema in der Außendarstellung „abgefeiert“, also besprochen wird. Die Lebendigkeit besteht natürlich auch darin, daß man auf Zwischenrufe und Zwischenfragen eingehen kann.
Frau Kollegin
Scheel, jetzt müssen Sie aber wirklich zum Schluß
kommen.
Das mache ich sofort. - Das Eingehen auf Zwischenfragen hat doch wirklich nichts damit zu tun, ob man eine
Redestruktur vor sich liegen hat oder nicht. Es ist doch
jedem selbst überlassen, Zwischenfragen zuzulassen. Ich
habe auch schon Kollegen erlebt, die hier ohne Manuskript standen und keine Lust hatten, auf irgendwelche
Zwischenfragen einzugehen, weil sie wußten, daß es bei
den Zwischenfragen bestimmter Kollegen immer derselbe Schmarren ist.
({0})
Es spricht jetzt die
Kollegin Christine Ostrowski, PDS.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe den Antrag freudig unterschrieben und war hinterher ein bißchen erschrocken,
weil ich damit eine Art Selbstverpflichtung eingegangen
bin. Ich habe mir dann gedacht: Mein Gott, wie sollst du
jemals eine Haushaltsrede ohne Manuskript halten?
({0})
Dabei rede ich lieber frei. Aber hier tue ich es eigentlich
nicht, und ich sage Ihnen, woran das bei mir liegt. Ich
habe nämlich Angst: Ich habe Angst vor Peinlichkeiten,
Angst davor, daß ich mich beispielsweise verspreche
und verheddere und mir hinterher womöglich ein Wähler schreibt: Frau Ostrowski, ich hatte aber angenommen, daß Sie flüssig sprechen können, wenigstens fünf
Minuten lang.
({1})
Ich habe Angst, daß ich den Faden verliere, einen Gedanken anfange und nicht zu Ende bringe, mich dann
aber ein schadenfroher Zwischenruf ereilt. Ich habe auch
Angst davor, daß ich etwas ganz Wichtiges vergesse und
meine Fraktion mich hinterher kritisiert, weil ich das
Entscheidende nicht gesagt habe. Ich vermute einmal,
daß es auch vielen anderen von Ihnen so gehen wird,
auch wenn Sie es nicht zugeben.
({2})
Wenn ich aber im Saal sitze und mir stundenlang die
Debatten anhöre, dann geht es mir wiederum so: Bei
Reden, die vom Blatt abgelesen werden, oder bei Reden,
bei denen der Redner nicht aufblickt, bei denen also kein
Blickkontakt vorhanden ist - was denken Sie, wie ich
mich dann fühle? -, geht mir nicht nur die Rednerin und
der Redner aus dem Gedächtnis, sondern mir geht der
ganze Inhalt der Rede verloren, weil mich nichts an dieser Rede anregt und aufregt.
({3})
Das heißt: Der Inhalt ist für die Katz, wenn die Form
der Vermittlung nicht mit dem Inhalt übereinstimmt. Ich
vermute einmal, daß es auch vielen von Ihnen ähnlich
ergeht, wenn Sie sich diese Art von Reden anhören müssen.
Wir sind Politiker. Unsere Aufgabe ist es, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Für diese Aufgabe
haben wir nur ein einziges Arbeitsinstrument. Das ist die
Sprache. Ein anderes Instrument haben wir nicht.
({4})
Jeder Handwerksmeister pflegt sein Arbeitsinstrument.
Gerade weil die Sprache der Politik in den letzten Jahren
verlottert ist, haben wir die verdammte Pflicht und
Schuldigkeit, dieses Arbeitsinstrument zu hegen und zu
pflegen. Das heißt für uns als Politiker, daß wir die
Selbstüberwindung aufbringen müssen. Man muß die
Courage haben, ans Pult zu gehen und darauf zu vertrauen - vielleicht fällt der schadenfrohe Zwischenruf ja
aus -, daß ein kleines Maß an Solidarität vorhanden ist.
Man muß dieses Training machen. Drei Tage Rhetorikkurs reichen nicht aus. Wir brauchen diese Alltagsübung. Wenn wir diesen Schritt der Selbstüberwindung
nicht schaffen, dann schätzen wir den Zuhörer geringer
ein als unsere eigene Befürchtung, hier etwas Peinliches
zu sagen. Ich denke, das darf nicht sein.
Danke.
({5})
Jetzt spricht der
Kollege Jürgen Koppelin, F.D.P.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir den Antrag
noch einmal durchgelesen. Ich glaube, daß nur die Kollegin Scheel auf den Antrag richtig eingegangen ist. Der
Antrag besagt, Kollege Niebel, daß ja nur in der letzten
Plenarwoche, die noch um den Freitag gekürzt ist, die
freie Rede gepflegt werden soll.
({0})
Warum stellen Sie den Antrag nur für diese Woche und
nicht grundsätzlich?
({1})
Ich habe mir einmal angeschaut, wer alles den Antrag
unterschrieben hat, und habe mich kundig gemacht, was
in der letzen Plenarwoche an Themen auf der Tagesordnung steht. Ich vermute, daß all diejenigen, die diesen
Antrag gestellt haben, in der letzten Plenarwoche mit
Redebeiträgen wahrscheinlich gar nicht zum Zuge
kommen werden. Das ist jedenfalls mein Eindruck.
({2})
Kollege Niebel, was hindert eigentlich den einzelnen
daran - Frau Kollegin Scheel hat schon darauf aufmerksam gemacht -, frei zu sprechen, wenn er es will? Ich
akzeptiere aber, daß es Kolleginnen und Kollegen gibt,
die ein Manuskript oder Stichworte benutzen möchten.
Jeder soll es so machen, wie er will. Das finde ich völlig
in Ordnung. Das Entscheidende ist doch, was der Inhalt
der Rede ist und ob man sich damit auseinandersetzen
kann.
Lassen Sie uns die Praxis ansehen! Ich gebe zu, daß
ich meine Manuskripte hin und wieder mit zum Rednerpult nehme. Warum? Als Mitglied einer kleinen Fraktion hat man nur kurze Redezeiten. Mit Hilfe des Manuskriptes weiß ich aber - eine DIN-A4-Seite entspricht
etwa anderthalb Minuten Redezeit -, daß ich mit meinen
fünf Minuten hinkomme.
({3})
Mir wäre es ja viel lieber, wir würden uns einmal
darüber unterhalten, warum die kleinen Fraktionen nur
so wenig Redezeit und die großen so viel Redezeit haben.
({4})
Der dritte und vierte Redner einer großen Fraktion erzählt ja doch immer nur das gleiche. Angesichts des Beifalls der Grünen will ich Ihnen von meiner F.D.P.Erfahrung berichten. Ich würde mir niemals von einem
Sozialdemokraten Redezeit schenken lassen - niemals.
Das tun Sie aber laufend.
({5})
Ich kann mit Schiller nur sagen:
Wenn gute Reden sie begleiten,
Dann fließt die Arbeit munter fort.
Wer hindert uns daran, gute Reden zu halten? Schiller
hat nicht von der freien Rede oder von der vom Manuskript abgelesenen Rede gesprochen. Er hat nur von der
guten Rede gesprochen. Diesbezüglich könnten wir uns
alle anstrengen. Wir könnten auch einmal darüber nachdenken, ob zu manchen Themen so viel Redezeit notwendig ist. Natürlich weiß ich, daß bei den großen
Fraktionen jeder einmal zu Wort kommen soll.
Nun kommt ein weiteres Beispiel aus der Praxis - ich
habe es heute wieder erlebt -: Um etwa 14 Uhr bekommen Sie Anrufe von Vertretern der Medien, die fragen:
Was werden Sie heute sagen? Haben Sie einen Text?
Wir haben um 15 Uhr Redaktionsschluß und würden
dieses Thema gerne einbringen.
({6})
Um diese Zeit sind die Redakteure längst zu Hause und
bekommen nicht mehr mit, was wir hier reden.
({7})
- Ausnahmen gibt es immer. - Sie sind alle längst zu
Hause und haben ihre Beiträge geschrieben. Wir können
am nächsten Morgen in der Zeitung nur deshalb nachlesen, was wir hier diskutiert haben, weil sie unsere Manuskripte gehabt haben, Herr Kollege Niebel. Insofern
ist das praktisch.
Und stellen Sie sich einmal vor, in der Fragestunde
müßten die Parlamentarischen Staatssekretäre die Antworten auf unsere Fragen plötzlich frei geben. Das wäre
ja entsetzlich!
({8})
Deswegen ist die Regierungsbank ja auch so schlecht
besetzt.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Mir ist es völlig
egal, wie jemand seine Rede gehalten hat, wenn sie vernünftig ist. Aber, Kollege Niebel, der Sie für die freie
Rede sind: Vielleicht werden Sie einmal in eine Situation kommen, in die ein englischer Politiker gekommen
ist - damit will ich schließen -, der eigentlich nur freie
Reden gehalten hat. Irgendwann war er doch einmal in
der Verlegenheit, die Rede zu halten, die ihm seine Mitarbeiter aufgeschrieben hatten und die er dabei hatte. Da
passierte folgendes: Er las Seite 1 vor, er las Seite 2 und
3 vor, und auf Seite 4 hatten ihm seine Mitarbeiter geschrieben: Da du noch nie unsere Reden gehalten hast,
sieh jetzt zu, wie du weiterkommst.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Es spricht jetzt die
Kollegin Birgit Roth.
Guten Abend, Frau
Vorsitzende! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Interessierte! Lassen Sie mich mit einem Zitat von Albinius beginnen: „Das Schwert schmerzt den Körper, die
Rede jedoch den Geist.“ Das wußten auch schon die alten Griechen. Sie sagten: Die freie Rede, das ist die
Macht des Wortes, das ist die hohe Kunst, das ist die
höchste Wissenschaft schlechthin.
Denken Sie nur an Plato. Denken Sie an Cicero. Cicero war sicherlich einer der brillantesten Redner, die wir
je hatten. Cicero stand zum Beispiel nachts im Kerzenschein vor dem Spiegel und übte seine Gestik und seine
Mimik für den nächsten Tag, für das Publikum, um es
zu fesseln durch seine Art und Weise, durch seine SpraJürgen Koppelin
che, um es mitzureißen und vor allem um es zu überzeugen.
({0})
- Aber sicherlich war dieses Publikum ein bißchen leiser.
({1})
Vor allem denken Sie an Aristoteles, an seine Verteidigungsrede. Denken Sie an das, was er gesagt hat, mit
welchem Wortwitz, mit welcher Dramaturgie, mit welchem Engagement. Trotz allem: Gerade diese Rede besiegelte damals sein Todesurteil.
({2})
- Ablenken, daß ich den roten Faden verliere, gilt nicht.
Denken wir zurück an Aristoteles und an das, was er tat,
und vor allem daran, wofür er stand.
Ich denke, die Formulierungen der alten Griechen
sind heute noch so aktuell wie damals. Unsere eigentliche Waffe ist das Wort. Dessen Bedeutung sollten wir
nicht unterschätzen. In diesem Sinne bitte ich um Unterstützung für den Antrag von der F.D.P. - ohne Ansehen
der Person.
Danke schön.
({3})
Es spricht jetzt der
Kollege Axel Fischer, CDU/CSU.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Kollegin Roth, sehr beeindruckend, muß ich sagen! Sie
haben das gut geübt. Jetzt frage ich mich nur: Was machen Sie denn, wenn Sie länger sprechen müssen, wenn
Sie am Dienstag erfahren, Sie sollen am Donnerstag eine
halbe Stunde reden? Stehen Sie dann auch vor dem
Spiegel und üben, oder wie machen Sie das dann?
({0})
Ich möchte Ihnen eine wahre Geschichte erzählen.
Als ich am Wochenende zu Hause war, habe ich meiner
Frau erzählt, daß wir heute den Antrag debattieren werden, den der Kollege Niebel gestellt hat
({1})
- den der Herr Kollege Niebel initiiert hat - und in dem es
darum geht, daß wir hier eine Woche lang ohne Manuskript sprechen sollen. Was glauben Sie, was meine Frau
dazu gesagt hat? Sie sagte: Wie bitte? Was macht ihr da?
Das kann ja wohl nicht wahr sein! Müßt ihr euch jetzt
schon vorschreiben lassen, wie ihr sprecht? Seid ihr nicht
alt genug, selbst zu entscheiden? Gibt es nicht schon genügend Regeln auf dieser Welt, die unnötig sind?
({2})
Gerade von der F.D.P. kommt so ein Antrag! Einen
solchen Antrag hätte ich ehrlich gesagt eher von der anderen Seite des Hauses erwartet. Dort sitzen doch die,
die normalerweise Regelungen vorschreiben und meinen, anderen sagen zu müssen, wo es langgeht!
({3})
Lassen Sie uns uns weiter über dieses Thema unterhalten, lassen Sie uns überlegen, was es bedeutet, eine
kurze Rede zu halten. Daß Redner, die hier schon sehr
häufig gesprochen haben, sich hinstellen und frei reden
können, erwarte ich schon. Aber es kam vorhin die Frage: Was machen wir mit jemandem, der zum erstenmal
hier spricht, der Angst hat und seinen Zettel als Stütze
mitnimmt?
Was machen Sie, wenn Sie eine längere Rede halten
müssen und den roten Faden nicht verlieren wollen?
Lange reden und labern kann man schon, aber wir wollen doch zur Sache kommen! Wir wollen doch deutlich
machen, um welche Positionen es uns geht.
({4})
- Den Vorschlag aus dem Zwischenruf muß ich gleich
aufgreifen, weil er eine gute Idee ist: Am Schluß stellt
man oben zu den Besuchern oder hinten in den Saal
Leute, die Schilder mit den Stichworten hochhalten.
Auch das kann nicht der Sinn der Sache sein.
({5})
Als ich diesen Antrag zum erstenmal gesehen habe,
habe ich zum Kollegen Niebel gesagt: Das kann doch
wohl nicht wahr sein! Wir haben doch keinen Karneval!
Wir wollen doch ernsthaft arbeiten. Wir müssen diesen
Antrag ablehnen, damit wir hier vernünftige Reden haben. Herr Kollege Niebel, ich sage Ihnen: Eine gute Rede - ({6})
Herr Kollege Fischer, es gibt eine Frage. Gestatten Sie die?
Ich
führe den Gedanken eben zu Ende. Gleich dürfen Sie
fragen.
Kollege Niebel, eine gute Rede hat nichts damit zu
tun, ob man sie abliest oder nicht. Eine freie Rede ist
nicht automatisch eine gute Rede.
({0})
Jetzt die Zwischenfrage, bitte.
Birgit Roth ({1})
Herr Kollege, ich bin
jetzt seit gut einem Jahr in diesem Hause. Dies ist die erste Debatte, die wirklich spannend ist,
({0})
bei der alle, auch die, die gegen den Antrag sind, frei
sprechen. Würden Sie mir nicht zustimmen, daß die Debatte heute gezeigt hat, daß der Antrag schon Wirkung
zeigt?
({1})
Herr
Kollege, ich stimme Ihnen insoweit zu, als ich eine Redezeit von drei Minuten habe, und bei drei Minuten
kann ich das machen. Hätte ich eine Redezeit von zehn
Minuten oder einer Viertelstunde, dann hätte ich - das
garantiere ich Ihnen - ein Konzept, auf dem steht, was
ich ungefähr sagen will, oder eine ausformulierte Rede.
Bei so kurzen Reden und bei Themen, bei denen es nicht
ganz so relevant ist, ob man sich hundertprozentig korrekt ausgedrückt hat, ist es eine andere Sache.
({0})
Herr Kollege Fischer, es gibt noch eine Frage des Kollegen Bürsch.
Ja,
gerne. - Es macht Spaß.
Herr Kollege Fischer,
ist Ihnen Gustav Heinemann bekannt?
({0})
Ist Ihnen bekannt, daß Gustav Heinemann einmal gesagt
hat: „Wohl dem Politiker, der nichts zu sagen hat und
trotzdem schweigt.“? Stimmen Sie mir zu, daß diese
Marschroute jedes Manuskript entbehrlich macht und
wir insofern den Antrag von Herrn Niebel gar nicht
brauchen?
({1})
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Wenn einer hier eine längere, inhaltlich fundierte Rede halten will, möchte er die
Möglichkeit haben, Zitate zu bringen. Dann kommt er
ohne Manuskript nicht aus. Genau deshalb werden wir
diesen Antrag des Kollegen Niebel ablehnen.
({0})
Es gibt eine weitere
Frage vom Kollegen Michelbach.
Kollege Fischer, bei
mir zu Hause sagt man: Du mußt so reden, wie dir der
Schnabel gewachsen ist. - Aber ist es nicht für viele
Kollegen eine Reglementierung und etwas hochmütig,
wenn man in dieser Form jemandem vorschreiben will,
was er persönlich, kreativ ausdrücken will?
Früher in Bonn hatten wir einen parlamentarischen
Rednerwettbewerb. Vielleicht sollte man den wieder
einführen. Denn es heißt: Wisset, daß man nichts Herrliches aus Wetteifer, nichts Edles aus Hochmut schaffen
kann. Vielleicht sollten wir uns das merken, Herr Fischer.
({0})
Herr
Kollege Michelbach, ich muß Ihnen komplett recht geben. Das ist genau der Punkt, um den es geht.
({0})
Wir wollen, daß die Leute, die hier stehen und ihre Position beziehen, frei entscheiden können, wie sie sprechen: ob mit Manuskript oder ohne. Deshalb bitte ich,
den Antrag abzulehnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen Sie sich
einmal vor, welches Regierungsprogramm der Bundeskanzler hier vorstellen sollte, wenn es ihm nicht jemand
aufschriebe.
({1})
Es spricht jetzt die
Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es hat durchaus etwas,
ordnungspolitischen Anträgen der F.D.P. zuzustimmen.
({0})
Das hat gerade für Grüne eine Faszination, der auch ich
mich nicht entziehen konnte.
Der Leidensdruck ist schon ganz enorm. Wenn wir
12, 15, 17 Stunden hier sitzen, Ausschuß hinter Ausschuß, Plenardebatte hinter Plenardebatte - auch dann
gewinnt dieser Antrag eine gewisse Faszination. Man
muß gerechterweise einmal sagen: Es handelt sich hier
um die Stärkung der freien Rede und nicht um den
Zwang zur ununterbrochenen Fortsetzung einer solchen.
({1})
Ich fühle mich ja durchaus immer zuständig auch für
die kabarettistischen Seiten dieses Bundestages, der die
Vorlagen am besten immer live liefert. Man muß sich ja
auch einmal auf das beziehen, was man in den Ausschüssen und im Plenum so vorgetragen bekommt. Ich
möchte verdeutlichen, wie es halt so ist und wie Sie es
empfinden, wenn man folgendes erzählt:
Die vorliegende Verordnung, über die wir heute
debattieren, sehr geehrte Damen und Herren, soll
zusammen mit Änderungen in der ChemikalienVerbotsverordnung und der Gefahrstoffverordnung
die Richtlinie 96/59/EG des Rates vom 16. September 1996 über die Beseitigung polychlorierter
Biphenyle und polychlorierter Terphenyle ({2}) vollständig umsetzen.
({3})
Meinen Sie wirklich, so geht das auf Dauer, ohne daß
man ständig einschläft?
Es handelt sich hier also um einen Vorschlag zur
Stärkung der freien Rede, nicht der Freien Demokraten,
auch nicht des Kollegen Niebel, wie man meinen könnte,
({4})
auch nicht der Selbstverpflichtungserklärung. Ich finde,
zwei Tage kann man das einmal machen. Ich finde es
auch gut, daß man eine solche Debatte führt, die dann zu
einer Stärkung der freien Rede führt.
Danke.
({5})
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Carsten Hübner, PDS.
({0})
Als einziger bekennender
Gegner des Antrags bin ich hier mit Zetteln aufgetaucht;
ich finde, das ist zumindest folgerichtig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Ich lese das natürlich vor. Das ist ja nun eben mein
Standpunkt.
({1})
- Mit Betonung.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als ich den Antrag zur freien Rede das erste Mal in der
Hand hielt und zunächst nur die Überschrift gelesen
hatte, fand ich die Idee gut. Ich dachte nämlich, es handelt sich um etwas Substantielles. „Die Stärkung der
freien Rede im Deutschen Bundestag“ - der Titel macht
ja echt was her. Ich habe gedacht, es geht in Richtung
Freiheit der Rede, in Richtung Unabhängigkeit, gegen
Fraktionszwänge oder -drücke, gegen die Dominanz von
Parteilinien und das alle Debatten durchziehende
zwangsläufige Regierungs-Oppositions-Hickhack.
Aber weit gefehlt! Darum geht es gar nicht. Statt dessen kreist das Interesse der interfraktionellen Antragstellerinnen und Antragsteller allein um die Frage, ob
die Rede vom Blatt, unter Zuhilfenahme von Notizen
oder gänzlich ohne Aufgeschriebenes dem Plenum dargeboten wird. Und das ist, mit Verlaub, entweder recht
dürftig und populistisch, oder es ist schlicht ein Witz.
Als hätten wir nichts Besseres zu tun!
Eine bestimmte Parteinahme wird natürlich gleich
mitgeliefert: Frei gehaltene Reden ermöglichen Spontaneität und Flexibilität und fördern gleichzeitig auch noch
kreative Assoziationen.
({2})
Die vorgelesenen oder sonstwie bekrückten Beiträge
hingegen seien monoton, schwächten die Konzentration
des Plenums und ließen nicht zuletzt auch die Rednerinnen und Redner selbst in ihren rhetorischen Fähigkeiten
verkümmern; außerhalb des Bundestages entstünde gerade auch deshalb der Eindruck, die Abgeordneten seien
nicht genügend engagiert und motiviert.
({3})
Mal abgesehen davon, daß einer solchen Argumentation gerade noch das Sahnehäubchen in dem Sinne fehlt,
daß die mit Manuskript versehenen Kolleginnen und
Kollegen die Verursacher von Politik- und Politikerverdrossenheit seien und daß Spannung und Dynamik in
diesem Haus von der Art des Vortrags und nicht etwa
von dessen inhaltlicher Schärfe und schlüssiger Positionierung abhängig seien, geht der Antrag auch an der tatsächlichen Wahrnehmung unserer Arbeit in der Öffentlichkeit vorbei. Denn der politikfrustrierte oder zumindest kritische Volksmund sagt nicht selten: „Reden können sie ja, die Politiker, aber mehr auch nicht.“
({4})
Wir bekennenden Vorleserinnen und Vorleser hingegen beweisen regelmäßig, daß wir nicht nur reden, sondern auch schreiben und lesen, sogar vorlesen können.
Und das ist doch schon mal was. Unterschätzen Sie das
nicht!
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen Antragsteller, worum ich Sie zum Abschluß noch bitten möchte, ist: Haben Sie Geduld mit uns Vorlesern, schlafen Sie bitte
nicht ein und erhalten Sie sich Ihre Spontaneität und
Flexibilität!
({6})
Und denken Sie bitte nur einen Moment über die
Worte des ehemaligen SPD-Abgeordneten Lattmann aus
einer Plenardebatte vom Mai 1980 - das ist also schon
lange her - nach, die ich als jemand zitieren möchte, der
für jeden seiner Beiträge bisher immer höchstens fünf
Minuten Zeit hatte:
Ich habe nur eine Viertelstunde Zeit. Inhaltlich ist
eine Menge zu sagen. Das bringe ich nur zu Ende,
wenn ich mich nicht auf die freie Rede einlasse.
Er war Schriftsteller.
Zitatende! Aufwachen! Danke!
({7})
Ich schließe die
zweifellos außergewöhnliche und sehr temperamentvolle Debatte.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag zur
Stärkung der freien Rede auf Drucksache 14/1949. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen?
- Der Antrag ist bei einer Enthaltung und bei einer Minderheit von Gegenstimmen abgelehnt. Das war ein eindeutiges Ergebnis; die Mehrheit hat sich gegen diesen
Antrag ausgesprochen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Wolfgang Gerhardt, Dr. Günter Rexrodt, Dr.
Edzard Schmidt-Jortzig, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.
Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses
- Drucksache 14/1752 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Kultur und Medien ({0})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P.-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die F.D.P.Fraktion hat der Kollege Dr. Günter Rexrodt.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Die F.D.P.-Fraktion bittet
darum, ihrem Antrag zuzustimmen, daß der Bundestag
dafür eintritt, daß das Berliner Stadtschloß wieder errichtet wird. Das Thema Stadtschloß wird in Berlin seit
vielen Jahren rauf- und runterdiskutiert. Im Sinne meines Vorredners habe ich nun die Schwierigkeit, in fünf
Minuten das Wesentliche und das Wichtigste dazu sagen
zu müssen.
Das Thema Stadtschloß ist nicht allein ein Berliner
Thema; das ist kein kommunalpolitisches Thema. Vielmehr ist das ein Thema, das durchaus der Befassung im
Bundestag bedarf - schon vor dem Hintergrund, daß der
Berliner Senat in dieser Frage wie bei anderen Fragen
eiert, keine richtige Position findet und ein so wichtiges
Projekt, dessen Realisierung möglicherweise ein Jahrzehnt und länger dauert, nicht zum richtigen Zeitpunkt
auf die Schiene bringt.
({0})
Daß auf diesem Platz - dem Schloßplatz in Berlin etwas geschehen muß, daß das Ensemble auf der Museumsinsel, daß die Achse zwischen Brandenburger Tor
und eben diesem Platz abgerundet und integriert werden
muß, daß die Gestaltung nach Süden über das Staatsratsgebäude hinausgehen muß, weiß jeder und empfindet
jeder so.
Nun kann man sagen, das stünde derzeit gar nicht auf
der Tagesordnung, wir sollten das verschieben. Ich bin
da anderer Auffassung. Dieses Projekt bedarf der rechtzeitigen Befassung und des rechtzeitigen Auf-dieSchiene-Bringens, damit es etwas werden kann.
Der Knackpunkt in diesem Bereich ist immer der
Palast der Republik gewesen. Wir haben, auch innerhalb dieser Stadt, lange Diskussionen geführt - mit
durchaus unterschiedlichen Gewichtungen. Wir haben
diskutiert, ob man ein historisierendes Gebäude in der
äußeren Gestalt des Stadtschlosses wieder errichten soll
oder nicht. Wir haben darüber diskutiert, ob ein Gebäude, das dem Zeitgeist entspricht, entstehen soll oder
nicht.
Ich sage für meine Fraktion: Wir möchten, daß der
Kubus des Stadtschlosses wieder entsteht, daß die Fassade im wesentlichen wieder hergestellt wird und daß
dieses große Projekt möglichst eine Rekonstruktion der
alten Räume - auch in ihrer Dimension - mit sich bringt
und die Möglichkeit eröffnet, diese Räume je nach Bedarf wieder herzurichten.
Ich füge dazu: Man muß auch architektonisch zu seiner Geschichte stehen. Die deutsche Geschichte umfaßt
auch die Existenz der DDR. Wenn - aus welchen Gründen auch immer - ein Teil des Palastes der Republik in
diesen neuen Kubus integriert werden soll - meinetwegen mit einer modernen Ostfront -, dann werden wir uns
nicht dagegen wehren. Das ist nicht der entscheidende
Punkt. Der entscheidende Punkt ist, daß dieses große
Projekt aus privaten Mitteln finanziert wird. Deshalb
wollen wir dieses Thema auch heute im Bundestag behandeln.
Dieses Projekt mit privaten Mitteln zu realisieren bedarf langer Vorbereitung. Wenn dieses Projekt entsteht,
dann ist es notwendig, daß der Berliner Senat, unterstützt durch unser Votum, bald einen Investorenwettbewerb auf die Schiene bringt.
Ich bin fest davon überzeugt, daß nicht nur private
Investoren zur Verfügung stehen werden, sondern daß
es in Deutschland auch - wenn man es richtig anlegt eine enorme Zahl von Spendern, von privaten Mäzenen geben wird, um dieses Projekt, das eine Brücke
schlagen soll zwischen der preußischen Vergangenheit,
der deutschen Vergangenheit und der Zukunft, zu realisieren.
Ich könnte mir vorstellen bzw. wir könnten uns vorstellen, daß der Eigentümer dieses Grundstücks es dem
Investor im Wege der Erbpacht für eine bestimmte
Zahl von Jahren oder Jahrzehnten kostenlos zur Verfügung stellt und daß nach Ablauf dieser Zeit das gesamte Gebäude, so wie es steht, an die Bundesrepublik
Deutschland und/oder den Senat zurückfällt, je nachdem, wie man die Eigentumsverhältnisse vor Realisierung des Projektes festgelegt.
Meine Damen und Herren, in der Nutzung könnte
dieses Stadtschloß bzw. der Kubus des ehemaligen
Stadtschlosses Möglichkeiten bieten für Staatsempfänge
und für internationale Konferenzen - denken Sie an die
Hofburg - sowie sonstige öffentliche Zwecke erfüllen.
Daneben gäbe es eine private Nutzung im Hotel-, im
Wissenschaftsbereich und in vielen anderen Bereichen.
Das alles wäre zu machen. Darüber haben wir hier nicht
zu befinden.
Wir haben darüber zu befinden, daß es vorangeht.
Denn wir sind in die Stadt Berlin, in unsere Hauptstadt,
umgezogen. Und es ist unser Anliegen und unsere Aufgabe, daß wir uns darum kümmern, daß dieses Projekt
und diese wichtige Aufgabe in einer sinnvollen und
würdigen Weise vollendet werden.
Kollege Rexrodt, ich
muß Sie bitten, zum Ende zu kommen.
- Ich komme zum
Ende, Frau Präsidentin. - Es geht darum, Verbindung
herzustellen mit dem, was war. Die deutsche Geschichte
kann sich nicht auf zwölf Jahre reduzieren, und die
preußische Geschichte schon lange nicht. Der große
Baumeister Schlüter verdient, im Herzen Berlins mit
diesem großen Bauwerk weiter präsent zu sein, eine
Brücke zu schlagen zwischen dem, was war, dem, was
ist, und dem, was in dieser Stadt sein wird. Das ist Aufgabe des Bundestags. Dafür werben wir.
({0})
Für die SPDFraktion spricht jetzt der Kollege Eckhardt Barthel.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine lieben Damen
und Herren vom Berliner Abgeordnetenhaus - denn dort
gehört dieses Thema in erster Linie hin und nicht hierher!
({0})
Ich habe ein bißchen Probleme damit, daß man ein
komplexes Thema auf eine Einzelfrage reduziert, zu der
man dann ja oder nein sagen soll. Es geht hier um mehr
als um die Fassade des Stadtschlosses von Berlin. Ich
glaube, man kann die Frage des Stadtschlosses nicht
isoliert von dem Gesamtkomplex betrachten und bewerten.
({1})
Wir führen die Diskussion um das Schloß in dieser
Stadt seit sieben Jahren - übrigens nicht nur in dieser
Stadt; insofern ist es richtig, daß dies nicht nur die Stadt
betrifft. In allen überregionalen Zeitungen haben wir
diese Diskussion ebenfalls geführt, denn es ist ja auch
eine wichtige Diskussion. Wir haben diese Diskussion jedenfalls teilweise - im Berliner Abgeordnetenhaus geführt, und diese Diskussion wurde - erlauben Sie mir,
daß ich dies sage - vor allen Dingen an Stammtischen
geführt, weil es so wunderschön ist, daß man so einfach ja oder nein sagen kann, ohne weiterdenken zu
müssen.
Ich halte dies für bedenklich, weil das Gesamtensemble, von dem Sie gesprochen haben - diesen Aspekt
teile ich -, zu wichtig ist, als daß man diese Diskussion
darauf reduzieren darf.
Was mich erstaunt, ist, daß die F.D.P. dazu eine so
geschlossene Meinung hat, nämlich: ja, Rekonstruktion
des Stadtschlosses. Ich habe bisher in allen Parteien meine eigene übrigens vollkommen eingeschlossen - die
unterschiedlichsten Positionen zu dieser Frage gehört.
Ich kenne leidenschaftliche Befürworter des Wiederaufbaus des Berliner Schlosses, und ich kenne genauso
viele, die dies leidenschaftlich ablehnen. Beide Meinungen gibt es. Ich weiß, es gibt sie auch bei den Grünen.
Bei der PDS weiß ich es nicht, weil dort eher die Frage
des Palastes der Republik im Vordergrund steht. Bei der
CDU weiß ich es auch, jedenfalls von Berliner Kollegen. Bei der F.D.P. ist das anders. Bei einer solchen
Frage wundert mich das, weil sie eigentlich keine parteipolitische Frage ist. Das ist sehr erstaunlich. Aber Sie
haben sich darauf offensichtlich festgelegt.
Meine Damen und Herren, bei dieser Diskussion muß
man sich folgendes durchaus bewußt machen: Am Anfang stand die Sünde des Abrisses. Diese Sünde basiert
auf einer Ideologie und nicht auf der Bausubstanz des
Schlosses. Wir haben diese Sünden häufiger. Ich denke
hier an die Leipziger Universitätskirche und auch an
Beispiele aus den alten Bundesländern. Das muß man
erst einmal wissen. Ich kenne keinen Menschen, der bisher gesagt hat, es ist ein Glück, daß es abgerissen wurde.
Darin sind sich alle einig.
Wenn das Schloß nach dem Krieg eine gute Substanz
gehabt hätte, hätte es heute bestimmt keine Diskussion
gegeben, dieses wieder aufzubauen. Das ist mir vollkommen klar. Zur Zeit ist diese Situation eine andere.
Weil die räumliche Situation so schlecht war, war es
klar, daß nach der Wende die Diskussion über diese
Raumwüste wieder begann: Was machen wir mit dem
Platz? Was machen wir mit dem ehemaligen Schloß?
Dies war eine Debatte, die teilweise die Form von Glaubenskriegen angenommen hatte. Eines muß man sagen:
Bis heute liegt noch keine städtebauliche und architektonisch akzeptierte, finanziell fundierte Konzeption des
Ortes vor, die der historischen und gegenwärtigen Bedeutung des Ortes angemessen ist.
({2})
Das ist die Situation, vor der wir heute stehen.
Nun kommt die F.D.P. mit diesem Antrag zur Wiederherstellung des Schlosses und will damit den gordischen Knoten durchschlagen. Meine Damen und Herren,
Sie machen es sich ein bißchen zu leicht. Denn am
Anfang der Diskussion darf meines Erachtens nicht die
Frage ja oder nein zur Rekonstruktion stehen, sondern
am Anfang muß meines Erachtens die Frage stehen,
welche Funktion von diesem Haus eigentlich wahrgenommen werden soll. Das ist die erste Frage, die wir uns
stellen müssen.
({3})
- Ja, Sie haben es aber sehr eingeschränkt. Ich beziehe
mich gleich auf Ihren Antragstext. Es gibt bei Befürwortern wie Gegnern eine Klarheit: Dieser Ort muß ein
Ort der Bürgerinnen und Bürger sein. Es muß ein Ort
sein, zu dem nicht nur Berliner, sondern auch auswärtige
Besucher gehen. Dieser Platz muß von den Menschen,
die dort hingehen, leben. Da genügt es nicht, zu sagen,
wie Sie es in Ihrem Antragstext formuliert haben, er
muß für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Wenn ich
jetzt ironisch werden würde, so kenne ich Orte und Örtchen, die der Öffentlichkeit zugänglich sind. Dies ist mir
ein bißchen zu wenig.
({4})
- Entschuldigung, das ist Ihre Formulierung, Herr Rexroth. Das steht in Ihrem Antrag. Es muß ein Ort sein,
wohin möglichst viele Menschen kommen, um teilzunehmen, um sich einzumischen und um sich zu vergnügen.
({5})
- Nein, ich bin es nicht. Ich bin auch kein Berliner Senator gewesen.
Dieser Ort muß sowohl tagsüber als auch nachts für
die Menschen an Attraktivität gewinnen.
Wir hatten in Berlin eine Diskussion, die mir sehr gefallen hat, die Sie eigentlich kennen müßten, ob wir an
diesem Platz die große Bibliothek bauen. Vielleicht erinnern Sie sich noch an diese Debatte. Dies war eine
tolle Sache.
Ich glaube, es ist eine Vielfalt von Angeboten notwendig: kulturelle Angebote, Ausstellungsflächen, Bibliotheken, Theater, Restaurants, Kongreßzentrum mit
Hotel, aber kein reines Kongreßhotel, repräsentative
Räume, die vielleicht auch die Bundesregierung nutzen
kann. Ich glaube, viele sind sich über die erforderliche
Vielfalt im klaren. Vor der Frage Rekonstruktion oder
Bau von etwas Neuem muß vorab die Funktion geklärt
werden. Das ist das Entscheidende.
Herr Rexroth, ich stimme Ihnen zu: Die Kubatur des
alten Schlosses muß wieder bebaut werden.
({6})
- Auch das ist nicht mehr strittig. Herr von Boddin hat
vor zwei oder drei Jahren eine Attrappe aufgebaut.
({7})
Selbst Gegner des Wiederaufbaus des Schlosses haben
gesagt, der Mann hat sich Verdienste erworben. Ich sage
das auch. Ich habe mich auf die Treppe des Alten Museums gestellt und habe mir das angesehen. Plötzlich
nahmen die Räume Gestalt an. Es ist wichtig, daß die
Fläche, die bebaut war, wieder bebaut wird, nicht nur
wegen des Gebäudes, sondern wegen der Struktur der
umliegenden Plätze. Insofern war es gut, dies einmal zu
sehen, was nicht heißt, daß das, was damals aus Stoff
war, jetzt aus Stein gefertigt werden muß.
Zur Finanzierung, meine Damen und Herren: Der
Bund und das Land Berlin sind bereit, das Konzept in
öffentlicher und privater Partnerschaft zu finanzieren.
Sie sind auch bereit, Grundstücke in das Projekt einzubringen. Das brauchen wir also nicht mehr zu fordern.
Ich glaube, hier gibt es schon eine Zustimmung. Hierzu
bedarf es keiner Anträge.
({8})
Es gibt aber auch Probleme. 1997, 1998 hat es einmal
ein Interessenbekundungsverfahren gegeben. Ich möchte
die Bundesregierung zitieren, um deutlich zu machen, zu
welchem Ergebnis man gekommen ist. Ich zitiere:
Die eingegangenen Angebote sehen in der Regel
einen zu hohen öffentlichen Nutzungsanteil vor, für
den der Bund keinen Bedarf hat, und fordern zur
Finanzierung zusätzliche öffentliche Mittel.
Sie sehen also, das rein privat zu machen, scheint
sehr problematisch zu sein. Es ist fraglich, ob das überhaupt möglich ist. Zumindest aber besteht in diesem
Bereich noch Handlungsbedarf.
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zu der Frage:
Rekonstruktion, ja oder nein. Ich meine, daraus sollte
man kein Dogma machen.
({9})
- Dann haben Sie nicht zugehört. Ich sprach vor allem
über die Funktion, die noch geklärt werden muß.
Es gibt Beispiele für erfolgreiche Rekonstruktionen,
und es gibt Beispiele für erfolgreiche Nichtrekonstruktionen, indem man Neubauten errichtet hat.
Eines scheint mir in den Köpfen ein bißchen querzuliegen. Beim Wiederaufbau - wie Sie es ja nennen - des
Schlosses denkt man womöglich an die Dresdner Frauenkirche. Bei dieser ist der Begriff in der Tat richtig.
Aber worum geht es hier? Die Nord-, West- und Südseite sollen die Fassade des alten Schlosses erhalten.
Dann soll es eine Kuppel geben und einen Schlüterhof.
Das ist es dann auch. Das heißt dann „Wiederaufbau des
Berliner Schlosses“.
Eckhardt Barthel ({10})
Ich sage als alter Berliner oder Berufsberliner: Wir
haben eine wunderschöne Kongreßhalle. Der Berliner
Volksmund hat sie sofort in „schwangere Auster“ umgetauft. Wenn wir allein die Fassaden rekonstruieren,
dann werden die Berliner auch eine treffende Bezeichnung finden, meinetwegen „Potemkinsches Schloß“,
was auch immer; sie sind sicherlich kreativer. Man muß
also ein bißchen aufpassen, wenn man den Begriff
„Wiederaufbau“ oder „Wiederherstellung“ verwendet,
aber im Grunde nur die Fassade rekonstruiert.
Daß die Fläche bebaut werden muß, daß die Achsen
sichtbar sind - völlig d‘accord. Das ist überhaupt nicht
das Problem. Ich glaube, hinter dem Wunsch nach
einem Wiederaufbau steht auch ein Mißtrauen gegenüber der heutigen Architektur. Es gibt ja auch Gründe,
weshalb man dieses Mißtrauen haben kann. Es gibt aber
auch andere Beispiele.
Gestatten Sie mir, da die Debatte schon so lange dauert, ein Zitat aus der Anfangszeit der Debatte um das
Schloß anzuführen. Die „Frankfurter Rundschau“
schrieb damals:
Kann sich die Architektur der Gegenwart trotz ihrer
Niederlagen - aber es gab doch auch das Gelingen
- wirklich damit bescheiden, eine Bauaufgabe wie
die Berliner Mitte ratlos den Rekonstrukteuren zu
überlassen?
Zumindest sollte man einmal darüber nachdenken, ob
es nicht auch heute etwas anderes gibt. Ich meine, die
heutige Architektur sollte zumindest eine Chance haben.
({11})
Ich meine, wenn die Nutzung und die Finanzierung
dieses Projektes - so will ich es einmal nennen - geklärt
sind, dann sollten in einem - so hoffe ich - letzten
Wettbewerb Gestaltungsvorschläge unterbreitet werden.
Ich bin auch der Meinung, weil ich das nicht dogmatisch
sehe, daß sich auch Andreas Schlüter an diesem Wettbewerb beteiligen sollte.
({12})
Ich möchte dann entscheiden, wenn wir die Gestaltungsentwürfe auf dem Tisch haben, aber nicht am grünen Tisch und auf Grund einer Ideologie des doch etwas
Nach-rückwärts-Schauenden.
Ich danke Ihnen.
({13})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Bernd Neumann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Barthel, als Nichtberliner wundert mich doch ein wenig, wie
lapidar Sie dieses Thema behandeln,
({0})
so, als wäre es nicht relevant und als wäre es völlig unangemessen, daß die F.D.P. einen solchen Antrag stellt.
({1})
- Daß die Beteiligung in bezug auf den zu behandelnden
Gegenstand häufig nicht angemessen ist, darüber sind
wir uns sicherlich einig; denn sonst wären Sie ja nicht
hier.
Lieber Herr Kollege Barthel, immerhin hat es sich die
neue Koalition in Berlin zum Ziel gesetzt, das ehemalige
Erscheinungsbild wiederentstehen zu lassen. Ich erinnere daran, daß sich Staatsminister Naumann - er ist jetzt
nicht hier - im Bundestagswahlkampf im letzten Jahr
sehr deutlich für den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses ausgesprochen hat. Ich erinnere daran - auch
wenn das für Sie nicht relevant sein mag -, daß der
Bundeskanzler noch im Februar in einem Interview
sehr deutlich gemacht hat, daß er sich massiv für die
Wiedererstellung des Berliner Stadtschlosses, zumindest
in seinen Fassaden, auszusprechen gedenkt. Deshalb habe ich das ganz ernstgenommen, auch den Antrag der
F.D.P.
Ich finde, das ist nicht nur - wie Sie es sagen - eine
Angelegenheit des Abgeordnetenhauses. Berlin ist die
Hauptstadt Deutschlands, und der Schloßplatz liegt im
Herzen dieser Hauptstadt. Die Rekonstruktion dieses
Areals ist in der Tat eine Frage nationalen kulturellen
Erbes. Dieses Thema verdient es, unabhängig von
dem Antrag der F.D.P. - ich begrüße dessen Zielsetzung -, hier behandelt zu werden. Im übrigen ist der
Bund Miteigentümer. Schon insofern muß er Position
beziehen.
Ich finde, daß die Debatte über dieses Thema in
Teilen sehr ideologisch geführt wird. Es geht hier nicht
darum - zumindest aus meiner Sicht nicht -, Preußens
Gloria wieder hochleben zu lassen. Man kann sich
auch darüber streiten, ob das Berliner Stadtschloß
wirklich ein bedeutendes Symbol der deutschen Geschichte ist
({2})
- sicherlich der preußischen, aber zu der Zeit war Preußen ja außerhalb des Deutschen Reiches. Das will ich
gar nicht tun. Wir wollen, wenn wir uns für die Zielrichtung des F.D.P.-Antrages aussprechen, auch nicht,
wie manche meinen, das alte Hohenzollernschloß aufbauen und schon gar nicht dafür öffentliche Gelder in
Milliardenhöhe ausgeben.
Es geht darum - wem sage ich das: Ihnen als Berliner -, auf dem Schloßplatz im Herzen Berlins, heute,
wie man sehen muß, eine öde Stadtbrache, ein Gebäude
zu errichten, das sich in seinen äußeren Maßen, in seiner
Kubatur, an dem früheren Schloß orientiert und mit den
Fassaden des genialen Baumeisters Schlüter das historische Ensemble auf der Museumsinsel ergänzen und krönen könnte. Ein solches Gebäude würde, in Verbindung
mit dem Alten Museum, Lustgarten, Berliner Dom,
Marstall, Schloßbrücke - Sie kennen das als Berliner,
Herr Kollege Rexrodt, viel besser -, Zeughaus, Schinkelplatz sowie der Rekonstruktion von Bauakademie
und Kommandantur, die ja vorgesehen ist, dazu beitragen, daß ein zusammenhängender Komplex klassischer
Architektur entsteht, der, das kann man wohl so sagen,
Eckhardt Barthel ({3})
weltweit einmalig ist. Deswegen hat dies, so finde ich,
auch unsere Aufmerksamkeit verdient.
Im übrigen haben Sie selbst gesagt, Herr Kollege
Barthel: Unabhängig von der Zielsetzung - ob Schloß
oder nicht - müssen wir ohnehin über die weitere Verwendung dieses heute sehr unattraktiven Platzes diskutieren. Ein totaler Schloßwiederaufbau kommt - da sind
sich alle Fachleute einig - nicht in Frage; das ist illusorisch. Deshalb unterstützt die CDU/CSU-Fraktion die
Zielsetzung, ein Gebäude zu errichten, das zumindest
die Kubatur des alten Stadtschlosses umfaßt, um die
historische Fassade, also das äußere Erscheinungsbild
- so wie es die Koalition des neuen Berliner Senats vorsieht -, wiederherzustellen.
Zur Nutzung - hier zitiere ich eine Bundestagsdrucksache -:
Ziel des am 31. Mai 1996 vom Gemeinsamen Ausschuß Bund/Berlin verabschiedeten Nutzungskonzepts ist ein ausgewogenes Verhältnis von öffentlicher und kommerzieller Nutzung auf hohem Niveau. Bund und Berlin haben im Rahmen des Interessenbekundungsverfahrens daher besonderen Wert
auf Lösungen mit einem möglichst hohen Anteil an
öffentlicher Nutzung gelegt, durch die der herausragenden Stellung des Ortes Rechnung getragen
wird.
Ich will einfügen - weil Sie gesagt haben, die Diskussion sei doch noch jung, das müsse noch viel intensiver
diskutiert werden -: Wahr ist, daß das schon seit vielen
Jahren diskutiert wird, daß es viele Pläne gibt und daß es
einen Gemeinsamen Ausschuß Bund/Berlin gibt, der
dies alles schon vorangetrieben hat. Deshalb ist die aus
den Reihen der F.D.P. gestellte Frage berechtigt, was
denn nun passiert.
Ich sage: Der wiedererrichtete Schloßkomplex sollte
der Öffentlichkeit zugänglich sein und auch privat genutzt werden können. Diese Nutzung muß zeitgemäß
und dem Orte entsprechend würdig, das heißt niveauvoll, sein. Das unterstützen wir so, wie es dort formuliert
ist.
Zu den Finanzen; das ist ja die entscheidende Frage.
Ich habe der Äußerung einer Kollegin der Grünen aus
dem Abgeordnetenhaus folgendes Zitat entnommen:
Es ist besser, sich endlich um den Erhalt der bestehenden Schlösser in den ostdeutschen Bundesländern zu kümmern, anstatt sich in milliardenschweren Schloßphantasien in Berlin zu verlieren.
Das ist aus meiner Sicht nicht die Alternative. Es
kann beides sein. Natürlich sind dem finanziellen Spielraum insbesondere des Bundes, aber wohl auch des
Landes Berlin Grenzen gesetzt. Der Bund muß vor allem
das Interesse haben, daß der Bau kein dauerhaftes Zuschußgeschäft wird.
Ich glaube, daß wir von der Aussage des Bundes und
des Landes Berlin in dem Gemeinsamen Ausschuß ausgehen sollten, daß der Bund und das Land Berlin bereit
sind, die Grundstücke in dieses Projekt einzubringen.
Das wäre schon ein Anfang. Auch Spenden, gegebenenfalls über eine Stiftung Berliner Stadtschloß - der Kollege Rexrodt hat das angesprochen -, könnten zur Finanzierung vielleicht der Schloßfassade herangezogen
werden. Frau Kollegin Griefahn, wenn Sie schneller und
konkreter bei dem neuen Stiftungsrecht vorangehen und
sich durchsetzen würden, könnten hier wahrlich Anstöße
gegeben werden.
Die Realisierung steht und fällt aber mit der Beteiligung eines privaten Investors. Alles andere wäre Utopie. Die Finanzierung kann im wesentlichen nur aus privaten Mitteln erfolgen. Was folgt daraus? Hier bin ich
etwas anderer Auffassung als Sie, lieber Kollege Barthel. Wir sollten nicht weiter lange diskutieren, sondern
den Schluß ziehen: Es muß etwas passieren und vorangetrieben werden.
({4})
Das Interessenbekundungsverfahren - Sie haben es
zitiert - im Hinblick auf potentielle Investoren hat
1997/98 stattgefunden. Eine gemeinsame Auswertung
von Bund und Ländern gibt es bisher nicht. Daraus folgt
die Forderung an beide: Die Vorlage eines abschließenden, ganz konkreten Nutzungskonzepts vom Land Berlin und dem Bund ist die unverzichtbare Voraussetzung
für weitere Entscheidungen auch hier im Deutschen
Bundestag.
({5})
- Ich widerspreche Ihnen ja nicht in allem.
Dazu gehört auch die Antwort auf die Frage - insofern geht mir der F.D.P.-Antrag in den Einzelheiten,
nicht in der Zielrichtung, Herr Kollege Rexrodt, etwas
zu weit -, welche Position Bund und das Land Berlin
künftig zu folgenden Punkten einnehmen: weiterhin
Erbbaurecht - kostenlos oder mit Zinsen? -, Veräußerung des Grundstücks, Leasing-Modell oder eine eigene Bauherrenschaft mit Konzession für private Nutzung? Dies alles sind Vorschläge, die innerhalb dieses
sogenannten Interessenbekundungsverfahrens gemacht
worden sind. Solange es hierzu keine konkreten Vorlagen gibt, sollte der Bundestag auch nicht abschließend
entscheiden. Deswegen ist es richtig, die Zielsetzung
des Antrags zu verfolgen, ihn an den Ausschuß zu
überweisen und die Bundesregierung in Verbindung
mit dem Berliner Senat um konkrete Stellungnahme zu
bitten.
Zum Schluß habe ich eine Frage - besonders an
Herrn Fink und die PDS gerichtet, denn das wird diese
Kollegen besonders interessieren -: Was wird aus dem
Palast der Republik?
({6})
Auch hier gibt es Vorarbeiten. Ich zitiere wiederum
den Gemeinsamen Ausschuß, der in seiner Sitzung am
23. März 1993 feststellt,
daß nach gutachterlichen Erkenntnissen eine volle
Entfernung des Spritzasbestes an allen zugänglichen Konstruktionsteilen nur durch Rückführung
Bernd Neumann ({7})
auf den Rohbauzustand möglich ist. Eine Verwendung dieses Rohbaus für die vorgesehene Nutzung
dieses Geländes erscheint aus städtebaulichen,
funktionalen und wirtschaftlichen Gründen nicht
zweckmäßig. Am 31. Mai 1996 hat dann der
Gemeinsame Ausschuß Bund/Berlin bekräftigt,
daß sich das in Aussicht genommene Nutzungskonzept
- das betrifft also die Kubatur des alten Stadtschlosses in seiner Gesamtheit nicht in der gegenwärtigen
Form und Gestalt des Palastes der Republik umsetzen läßt.
Was heißt dies? Das heißt: entweder das Stadtschloß
mit seiner historischen Fassade oder Wiederaufbau - das
wird es nach der Asbestsanierung sein - des Palastes der
Republik mit einem anderen Nutzungskonzept.
Meine Damen und Herren - auch an die PDS gerichtet -, für mich ist das keine ideologische Frage. Natürlich gibt es Argumente dafür, die ehemalige Volkskammer zu erhalten. Aber das sind mehr politische Gründe.
Wir wollen die DDR-Vergangenheit nicht verdrängen,
obwohl es für Deutschland besser gewesen wäre, wir
hätten sie nie gehabt. Aber der Palast der Republik ist
kein typisches Signum der DDR-Bauweise. Er ist in
einem modernen Stil gebaut, eher westlich geprägt.
Aus meiner Sicht ist er häßlich. Typische DDR-Bauten finden Sie in der Frankfurter Allee, in der KarlMarx-Allee, die alle auch deshalb erhalten werden
sollen.
({8})
Jetzt habe ich Sie wachgerüttelt. Deswegen sage ich
Ihnen zum Schluß, meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen von der PDS: Sie sollten sich als Nachfolgepartei der SED bei diesem Thema sehr zurückhalten.
Ihre politischen Ziehväter, an der Spitze der SEDGenosse Ulbricht, haben in einem Akt kultureller Barbarei das zwar durch den Krieg schwer beschädigte, aber
durchaus restaurierbare, schöne Stadtschloß abgerissen,
nur um einen Aufmarschplatz für die Kolonnen der SPD
zu bekommen.
({9})
Kollege Neumann,
Sie müssen bitte zum Schluß kommen.
Sie sollten
sich, lieber Herr Kollege Fink, im Hinblick auf Ihre
Ziehväter noch nachträglich dafür schämen.
Vielen Dank.
({0})
Es spricht jetzt Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig für die Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
({0})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich
hoffe, Sie kommen jetzt zur Ruhe.
Ich denke, wir sind uns in einem Punkt alle einig,
darin, daß dieser Ort von zentraler Bedeutung nicht nur
für Berlins Entwicklung ist, sondern daß er auch ein
Stück Symbolkraft für die künftige Entwicklung unseres
inzwischen wiedervereinigten Landes hat und daß er
deswegen gerade auch für die Vereinigung von besonderer Bedeutung ist, und zwar politisch-geschichtlich,
städtebaulich-architektonisch und kulturell.
Aus meiner Sicht - deswegen haben für mich die
Diskussionsbeiträge meiner Vorredner etwas zu schnelle
Lösungen vorgesehen - muß deswegen die Entscheidungsfindung ein würdiger Akt demokratischer Kultur
sein.
({0})
Ich betone das deswegen so, weil ich nicht nur eben
in dem letzten Redebeitrag, sondern auch in den letzten
Jahren die Erfahrung gemacht habe, daß die Frage „Palast oder Schloß“ eigentlich sehr stark als West-OstMachtkampf behandelt worden ist: Wem soll denn die
Mitte Berlins gehören, den Ostdeutschen und Ostberlinern als Palast oder den Westdeutschen und Westberlinern als Schloß? Das hielt und halte ich für eine sehr
unglückselige Machtkampf- und Frontstellung.
({1})
Meiner Meinung nach müssen wir deswegen erneut
mit der Entscheidungsfindung beginnen, um eine neue,
gemeinsame, der Vereinigung wirklich konstruktiv dienende Basis für diese Entscheidung zu finden und das
nicht in der Form von Machtkampf weiterzuführen, wie
Sie es gerade eben hier demonstriert haben.
Aus meiner Sicht - ich sage das für mich persönlich;
wir haben keine Fraktionsdiskussion dazu gehabt - sind
folgende Punkte von ganz entscheidender Bedeutung.
Bernd Neumann ({2})
Erstens. Ich möchte, daß dies ein öffentlicher Ort ist
und bleibt. Er darf nicht privatisiert werden. Dazu muß
ich ganz deutlich sagen: Ich habe nichts dagegen, daß
wir dafür privates Geld sammeln, aber ich möchte nicht
- anders als es Kollege Barthel eben gesagt hat -, daß es
ein Ort des privaten Kapitals und der privaten Immobilienrenditen wird, sondern es soll ein öffentlicher, demokratischer Ort bleiben und auch in Zukunft wieder
werden,
({3})
auch wenn wir Schwierigkeiten haben, dafür die finanziellen Mittel zu sammeln.
Ich muß auch sagen: Das Investorenauswahlverfahren hat ja gezeigt, daß es nicht funktioniert. Selbst wenn
eine Wahnsinnsnutzfläche von 140 000 Quadratmetern
zu verwertender Renditefläche in diese Schloßfassade
hineingepreßt würde, rechnete es sich nicht, wenn die
öffentliche Hand nicht einerseits beim Kapital zur Miete
gehen und andererseits auch noch die Grundstücke gratis
zur Verfügung stellen würde.
({4})
- Ja, das muß man sich einmal klarmachen. Hier geht es
um eine grundsätzliche Entscheidung, was eigentlich öffentliche Orte sind. Aus meiner Sicht sind sie nach wie
vor etwas anderes als eine privatwirtschaftlich funktionierende Immobilie.
({5})
Der zweite Punkt, der mir wichtig ist, ist auch schon
von Kollegen Barthel angesprochen worden, nämlich
daß es erst noch einmal eine sehr intensive Diskussion
um die angemessene und würdige demokratische Nutzung gehen muß; denn der öffentliche Ort definiert sich
zuallererst durch die Nutzung.
Der dritte mir sehr wichtige Punkt ist, daß es nicht
um einen Machtkampf der einen Geschichte gegen die
andere Geschichte gehen darf. Auch das gehört mit dazu. Es darf nicht so sein, daß die eine Geschichte entsorgt wird, um der anderen Raum zu geben; denn dann
wird es ein geschichtsloser Ort, und all die Widersprüchlichkeit, auch die Tatsache - an dieser Stelle
stimme ich Ihnen, Herr Naumann, wieder zu -, in welcher Form Ulbricht dieses Schloß demontieren und abreißen ließ, war - so kann ich es fast nur sagen - absolut
kriminell: kulturell, städtebaulich, historisch. Dennoch
bin ich der Meinung, daß dieser Ort diese beiden Facetten seine Geschichte weiterhin in der Zukunft transportieren muß und sie unseren Kindern und Kindeskindern
zur Geltung und zur Darstellung bringen muß, auch in
seiner Architektur. Es gibt eine Reihe von Beispielen,
die das positiv transportieren.
({6})
- Ja, ich kann es erklären. Es gibt sehr viele konstruktive
Beispiele für Entwürfe, die ein Spannungsfeld zwischen
dem Palast oder einem Teilpalast und einem Teilwiederaufbau des Schlosses vorsehen. Darüber haben sich Architekten schon Gedanken gemacht. Das kann man auch
weiterhin tun.
Ein weiterer Punkt, der mir sehr wichtig ist. Ich habe
mit Ihrem Modell große Probleme, nicht nur weil es sich
um ein Immobilienmodell handelt, sondern auch, weil
es eine Schloßfassade über einer Tiefgarage vorsieht.
Diese Schloßfassade soll außen an Beton, womöglich
noch mit Wärmedämmung nach den neuen Bestimmungen zur Energieeinsparung - für die ich mich ansonsten
enorm einsetze -, angeklebt werden. Damit wäre für
mich Herr Schlüter wirklich total entwürdigt.
Auch wenn meine Zeit abläuft, möchte ich den Berliner Landeskonservator, Herrn Engel, zitieren, der dazu
einen sehr guten Beitrag geschrieben hat. Er sagt ganz
deutlich:
Es darf nicht um Kulisse gehen. Weder das Schloß
kann auf seine Außenfassade reduziert werden, noch
ist die in manchen Gesprächsäußerungen spürbare
„Großzügigkeit“ zulässig, dem Palast der Republik
durch Beibehalten von Fassade entlang der Spreefront ein gewisses Überleben zuzugestehen.
Insofern müssen wir wirklich in die Debatte noch einmal
grundsätzlich einsteigen.
Mein letzter Punkt. Ich wünsche mir, daß das Verfahren noch einmal neu und solide eröffnet wird; denn die
Entscheidungen des Gemeinsamen Ausschusses fanden
hinter verschlossenen Türen statt. Sie sind nicht in
einem demokratischen Prozeß gefällt worden. Von daher
wünsche ich mir, daß Bund und Berlin gemeinsam ein
Gremium von öffentlich wirklich angesehen Persönlichkeiten zusammenrufen, die dieses Verfahren Schritt für
Schritt entwickeln und zur Entscheidung bringen.
Die gesellschaftliche Bedeutung des Ortes, die politische und symbolische Bedeutung der künftigen Gebäude, die öffentliche oder private Trägerschaft - es geht
nicht darum, daß ich oder Sie recht behalten, sondern
darum, daß in dieser Angelegenheit eine Entscheidung
getroffen wird -,
Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, Sie müssen zum Schluß kommen, bitte.
- die Zeitabläufe für die Entscheidungen,
die Vorgaben für das Nutzungskonzept, die tatsächliche
Entscheidung über Abriß oder Erhaltung des Palastes,
die Entscheidung über den Umgang mit Schloßfassaden,
vielleicht sogar ein teilweiser Wiederaufbau, finanziert
aus Spenden, wie es bei der Frauenkirche in einer sehr
ernsthaften Form geschieht - all dies sind Punkte, zu
denen in unserer Gesellschaft intensive Diskussionen
geführt werden müssen. Auf der Grundlage eines solchen Prozesses - egal, zu welcher Entscheidung er führt
- kann sich unsere ganze Gesellschaft mit diesem Ort in
einer neuen Form im nächsten Jahrhundert wieder identifizieren.
({0})
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Dr. Heinrich Fink, PDS.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei diesem
Antrag der F.D.P. - ich nehme ihn sehr wörtlich und
ernst - geht es um die zukünftige Architektur der historischen Mitte Berlins und - was nach unserer Meinung
noch bedeutsamer ist - um den wichtigsten öffentlichen
Raum der Hauptstadt. Das sollte für alle diesbezüglichen
Überlegungen bestimmend sein. Dazu bedarf es zuallererst eines detaillierten und schlüssigen Nutzungskonzeptes für die gesamte Spree-Insel.
({0})
Solange sich aber der Bund und Berlin darauf nicht
geeinigt haben, sind nach Auffassung der PDS jegliche
Bebauungsvorschläge grundsätzlich abzulehnen. Daß
dieses Konzept noch immer nicht vorliegt und daß das
Areal auch im zehnten Jahr nach der Herstellung der
deutschen Einheit alles andere als eine Zierde der
Stadtmitte darstellt, das wissen und das sehen wir.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der
F.D.P., ich habe in Ihrem Antrag vergeblich den Palast
der Republik gesucht. Sie haben ihn zwar eben mündlich hinzugefügt; aber in Ihrem Antrag haben Sie ihn offensichtlich bereits beerdigt. Dagegen wende ich mich
ganz entschieden.
({1})
Den Standpunkt der PDS in dieser Frage kennen Sie
gut. Wenn Sie sich mit der Materie beschäftigt haben,
dann wissen Sie auch, daß die PDS in dieser Stadt keineswegs allein für den Erhalt des Palastes nach einer
Asbestsanierung eintritt. Ihn einfach abzureißen wäre
ebenso ein Zeichen von Arroganz und Siegermentalität
wie der seinerzeitige Abriß des Schlosses durch die
DDR-Führung.
({2})
Herr Naumann, ich möchte Sie wirklich freundlich
bitten, auf die Menschen, die Sie anreden, auch zu gukken. Ich bin kein Kind von Ulbricht. Er hat mich nicht
erzogen.
({3})
Ich sage hier öffentlich: Der damalige Abriß des
Schlosses war ein Zeichen der Arroganz der Macht;
denn das Schloß war nur teilweise zerstört. Ich habe als
Student im Nordflügel des Schlosses eine PicassoAusstellung gesehen. Man bringt Bilder von Picasso ja
wohl nicht in eine Ruine, die einer solchen Ausstellung
nicht mehr würdig wäre.
Der Abriß des Palastes wäre aber auch ein kaum geringerer architektonischer Frevel; denn er ist durchaus
als zeitgenössisches bauliches Denkmal anzusehen. Ich
darf Sie daran erinnern, daß auch Mitglieder der F.D.P.Fraktion im letzten Berliner Abgeordnetenhaus dies
schon zum Ausdruck gebracht haben.
Wenn wir für die Erhaltung des Palastes eintreten ob in der jetzigen Form oder im Ensemble mit dem
Schloß oder mit Teilen von ihm; je nachdem, wie es ein
Gesamtnutzungskonzept einmal vorsieht -, dann tun wir
das weit weniger aus nostalgischen Gründen, als uns
dies bisweilen unterstellt wird. Der Palast war ein
hochmodernes, multifunktionales Gebäude, und er war
- dies möchte ich noch einmal betonen - ein öffentlicher Raum. Dies sollte er auch bleiben bzw. wieder
werden.
({4})
Jegliche private oder staatliche Nutzung auf dem
Areal Spree-Insel - ob mit einem Hotel oder gar mit
einem Gästehaus der Regierung - wäre ein Affront gegen die Interessen der Berlinerinnen und Berliner.
Nicht nur die Ostberliner möchten diesen Palast stehen
lassen.
Um zusammenzufassen: In jedem Fall muß die gesamte Spree-Insel ein öffentlicher Raum für öffentliche
Aktivitäten bleiben. Erst dann, wenn ein Gesamtkonzept
vorliegt, sollte entschieden werden, welches der Gebäude dort Dominanz erlangt und in welcher architektonischen Form.
({5})
Aus den genannten Gründen kann dies kaum ohne den
Palast gedacht werden.
Herr Kollege Fink,
Sie müssen zum Schluß kommen, bitte.
Ich möchte nicht unerwähnt lassen, daß auch nach der jetzigen Asbestsanierung eine Instandhaltung und Nutzung des Palastes
({0})
im beschriebenen Sinne um ein Vielfaches kostengünstiger wäre als jeder Neubau.
Die PDS betrachtet den vorliegenden Antrag, so wie
er von der F.D.P. - ich betone: wörtlich - vorgelegt
worden ist, als nicht sachgerecht.
Herr Kollege Fink,
Sie müssen jetzt zum Schluß kommen.
Er führt in die falsche
Richtung. Deswegen müssen wir den Antrag ablehnen.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/1752 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Finanzausschusses ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Christine
Ostrowski, Dr. Ilja Seifert, Dr. Winfried Wolf
und der Fraktion der PDS
Novellierung des Eigenheimzulagengesetzes
- Drucksachen 14/471, 14/1999 Berichterstattung:
Abgeordnete
Elke Wülfing
Dr. Barbara Höll
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für
die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kolleginnen und Kollegen Dieter Grasedieck, Dr. Michael
Meister, Franziska Eichstädt-Bohlig, Horst Friedrich
({1}) und Christine Ostrowski möchten ihre Reden
zu Protokoll geben.*) Sind Sie damit einverstanden? Ich sehe, das Haus ist damit einverstanden.
Damit kommen wir zur Beschlußempfehlung des
Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der
PDS zur Novellierung des Eigenheimzulagengesetzes auf Drucksache 14/1999. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/471 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 3. Dezember 1999,
9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.